Theologische Realenzyklopädie: Band 35 Vernunft III - Wiederbringung aller [Reprint 2020 ed.] 9783110898750, 9783110177817

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German Pages 820 [832] Year 2003

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Theologische Realenzyklopädie: Band 35 Vernunft III - Wiederbringung aller [Reprint 2020 ed.]
 9783110898750, 9783110177817

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Theologische Realenzyklopädie Band XXXV

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Theologische Realenzyidopädie In G e m e i n s c h a f t mit Horst Balz • J a m e s K. Cameron Christian Grethlein • Stuart G. Hall Brian L. H e b b l e t h w a i t e • Karl Hoheisel W o l f g a n g J a n k e • Volker L e p p i n Knut Schäferdiek • G o t t f r i e d Seebaß H e r m a n n Spieckermann • Günter Stemberger Konrad S t o c k herausgegeben v o n Gerhard M ü l l e r

Band XXXV Vernunft III - Wiederbringung aller

Walter de Gruyter • Berlin • New York

2003

Redaktion: D r . Albrecht Döhnert Lieferung 1 / 2 Vernunft III - Vorsehung I M ä r z 2 0 0 3 Lieferung 3 / 4 Vorsehung I - Werke, Gute IV Juni 2 0 0 3 Lieferung 5 Werke, Gute IV - Wiederbringung aller O k t o b e r 2 0 0 3

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017781-1

Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vernunft III

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III. Systematisch-theologisch 1. Vorbemerkung 2. Vernunft als Thema der Fundamentaltheologie 3. Vernunft als Thema der theologischen Ethik 4. Vernunft als Thema der theologischen Anthropologie 5. Ausblick (Literatur S. 14)

1.

Vorbemerkung

Insofern es Menschen um die denkende Erfassung des -»Glaubens zu tun ist, steht die Theologie vor der Aufgabe, die „endliche Vernunft" (Baumgartner) als Komplex von verschieden gestuften Rationalitäten zu entfalten. Z u m Thema wird die Vernunft in der Systematischen Theologie in ihrem Verhältnis zur -»Offenbarung und damit zum Glauben, insofern sich dieser der Offenbarung verdankt. Dabei ist die Theologie durch die neuzeitlichen Theorien der Subjektivität, durch den —•Positivismus und die -»Wissenschaftstheorie herausgefordert, insofern diese die Vernünftigkeit des Glaubens bestreiten. Das Verhältnis von Glaube und Vernunft findet seine Erörterung in der Theologie innerhalb der —•Fundamentaltheologie (2.), der -»Ethik (3.) und der Anthropologie (4.), wobei die Reduktion auf die Differenz von Vernunft und Glaube aufgrund der lebensweltlichen Relevanz von Rationalität auf ihre Gültigkeit zu befragen ist. 2. Vernunft als Thema der 2.1. Die Konfessionsdifferenz Offenbarung und Vernunft

Fundamentaltheologie hinsichtlich

der Verhältnisbestimmung

von

Glaube/

Besteht der Gegenstand der Fundamentaltheologie darin, die Aufgabe der Theologie zu erfassen, indem sie die Konstitutionsbedingungen des Glaubens und die Möglichkeiten seiner theoretischen Erfassung bestimmt, so ist die Fundamentaltheologie selbstverständlich der Ort, an dem die Konfessionsdifferenz offen zutage tritt und diskutiert wird. Hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube bzw. Offenbarung ergibt sich die Konfessionsdifferenz durch die unterschiedlichen Denkmodelle, durch das Zwei-Stufen-Schema von —»Natur und Ubernatur auf der einen und die Fundamentalunterscheidung von Glaube und -»Sünde auf der anderen Seite. Ist das römischkatholische Denkmodell der Unterscheidung zwischen natürlicher Vernunft und übernatürlicher Gnadengabe verpflichtet, so unterscheidet es zwischen Sachverhalten, die durch die natürliche Vernunft erkennbar sind, weil sie als solche evident sind, und Dingen, die aufgrund der Offenbarung das Vermögen der Vernunft übersteigen und damit im -»Gehorsam aufzunehmen sind. Demgegenüber ist das Denkmodell M . -»Luthers der Unterscheidung zwischen Sünde und Glaube verpflichtet. Damit gibt es keine Unterscheidung zwischen einer durch die Vernunft gewirkten Evidenz und einem auf Autorität verpflichteten Gehorsam, sondern von wahrer und trügerischer Gewißheit. In der Lehrentscheidung de fidei catholica trägt das Erste Vatikanum (-»Vatikanum I und II) die Begründung des Glaubens mit Hilfe eines systematischen Offenbarungsdenkens vor, in dem sich die Kirche mit einer „fast positivistischen Betonung der kirchlichen Autorität" (Pottmeyer 23) Halt zu geben versucht: Ausgangspunkt des Offenbarungsgeschehens ist der dreifaltige -»Gott, der sich selbst aus der Tiefe erkennt und nur von sich selbst, aus seiner Weisheit und Güte heraus, beschließt, sich dem Menschen als das sich ihm frei schenkende Gut zu öffnen und die Wege zu ihm bekannt zu geben (vgl. DS 3004). Weil der Mensch „ganz von Gott als seinem Schöpfer und Herrn abhängt und die geschaffene Vernunft der ungeschaffenen Wahrheit völlig unterworfen ist", ist der Mensch verpflichtet, „dem offenbarenden Gott im Glauben vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens zu leisten". Dieser Glaube - so betont die Lehrentscheidung - ist eine „übernatürliche Tugend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben, daß das von ihm Geoffenbarte wahr ist". Der - mit Hilfe der göttlichen Gnade zustande gekommene Glaube gründet sich daher nicht auf Evidenz, sondern auf Autorität: Wir glauben - so formuliert das Dekret — „nicht (etwa) wegen der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern wegen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen k a n n " (DS 3008). Dennoch versucht das Erste Vatikanum zwischen Vernunft und Offenbarung keine Spannung zu behaupten: zum einen wird betont, daß auch die Vernunft

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gewisse Geheimnisse Gottes zu erkennen vermag (vgl. DS 3016), die Offenbarung jedoch über die Vernunft hinaus etwas biete, was nicht erkannt werden könne, wenn es nicht offenbart wäre (vgl. DS 3015). So wird in der einen Ordnung mit der natürlichen Vernunft, in der anderen Ordnung mit Hilfe der göttlichen Gnade erkannt, d.h. es gibt eine begrenzte natürliche Gotteserkenntnis (durch die Vernunft) und eine weiterreichende, das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigende Gotteserkenntnis. Damit bietet die Vernunft die „Grundlagen" (DS 3019) der Offenbarung. Zum andern wird die Offenbarungswahrheit durch die Vernunft in der Weise unterstützt, „daß ... äußere Beweise seiner [Gottes] Offenbarung verbunden werden, nämlich göttliche Taten und vor allem Wunder und Weissagungen, die, da sie Gottes Allmacht und unendliches Wissen klar und deutlich zeigen, ganz sichere und dem Erkenntnisvermögen aller angepaßte Zeichen der göttlichen Offenbarung sind" (DS 3009). Obwohl so das Erste Vatikanum nicht ganz auf Evidenz verzichten möchte, versucht es prinzipiell den Glauben auf Autorität zu gründen. Dabei gilt grundsätzlich, daß es „eine Vernunftevidenz des im übernatürlichen Glauben Geglaubten nicht gibt" (Seils 430); der Glaube unterwirft sich der Autorität der Offenbarung und ist daher wesentlich als Gehorsam zu begreifen. Das römisch-katholische Stufenmodell von Vernunft, die eine natürliche Gotteserkenntnis durch Evidenz vermittelt, und Offenbarung, die eine übernatürliche Gotteserkenntnis durch Autorität vermittelt, wird von Martin Luther bestritten. Luther ersetzt die römisch-katholische Fundamentalunterscheidung zwischen Natur und Übernatur durch die Fundamentalunterscheidung von Sünde und Glaube. In diese Fundamentalunterscheidung wird die Vernunft eingespannt: die Vernunft so kann Luther in seiner Disputatio de homine sagen - ist das Hauptunterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier (These 6). Doch auch als solches unterliegt die Vernunft der Alternative, durch den Glauben oder die Sünde bestimmt zu sein. Unter den Bedingungen der Sünde ist nach Luther auch die Vernunft unter der Macht der Sünde gefangen (These 24). Sie ist nach dem Fall keinesfalls unversehrt geblieben (These 21), sondern verkehrt; die Vernunft richtet sich unter den Bedingungen der Sünde daher in der Tiefe nicht auf das Beste (These 28), sondern ist in ihrer Tiefe von einem Abgott beherrscht. Aufgrund dieser Tatsache kann Luther die Vernunft als „die höchste hur" (WA 51,126,9) bezeichnen. Wenn Luther daher behauptet, Ratio non potest ad invisibilia se transferre (WA 40/3,51,8), dann gilt dies, weil die Vernunft der sündigen Verblendung unterworfen ist. Ist die Vernunft unter der Macht der Sünde verblendet, so wird nach Luther die Vernunft durch das Wort wiedergeboren: die Vernunft wird keinesfalls zerstört, aber auch nicht erhöht, sondern bekehrt und erleuchtet. Sie ist nun Werkzeug des heiligen Geistes (vgl. WA.TR 3 Nr. 2938). Mit der Ersetzung der Fundamentalunterscheidung von Vernunft und Gnade durch die Fundamentalunterscheidung von Sünde und Glaube wird auch die Alternative zwischen Vernunft und Evidenz auf der einen Seite und zwischen Offenbarung und Autorität auf der anderen Seite zerbrochen: die Alternative lautet nicht, Evidenz niederer Dinge durch die Vernunft oder Autorität durch die Offenbarung im Glauben, sondern wahre oder falsche Evidenz. Daher ist für Luther der Glaube selbstverständlich auf Evidenz gegründet, nicht auf Autorität: der Mensch glaubt nicht auf Autorität hin, etwa weil er sich einer Autorität „blind" unterwirft, sondern der Mensch „fühlt", daß das Wort wahr ist (vgl. WA 10/1,1,130,1 ff.): Nicht einmal die Person Jesu ist Grund des Glaubens an das Wort, sondern ,,[d]as wortt für sich selbs, on alles auffsehen der Person, muß dem hertzen gnugthun, den menschen beschliessen, und begreyffen, das er gleych drynn gefangen fulet, wie wahr und recht es sey, wenn gleych alle wellt, alle engel, alle fursten der hell anderß sagten, ya, wenn gott selb anderß sagt" (WA 10/1,1,130,14ff.). Damit wendet sich Luther nicht nur gegen einen Glauben, der aufgrund der Autorität der Kirche glaubt, sondern er lehnt die Gründung des Glaubens auf Autorität in grundsätzlicher Weise ab. Grund des Glaubens ist das Erlebnis der Evidenz des Wortes vom Evangelium, „Darumb das wort das mich got lert, da laß ich mich nit von dringen, als wenn man spricht, drei und zwey machen fuenffe, das ist gewiß und öffentlich, Wenn alle Concilia anders beschluessen, so weiß ich dennocht das sie liegen. Ein eele ist lenger denn ein halbe, ob schon alle weit dawider were, so weiß ich dennocht das unrecht ist. Wer beschleußt mir das? kein mensch, sondern die warheyt, die gantz und gar gewiß ist" (WA 10/3,260,22ff.).

Luthers Polarisierung verwischt in der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption indes, daß die Struktur der Vernunft auch theologisch artikuliert werden muß, um die kognitiven Prozesse des Glaubens transparent zu machen. Dem widerspricht die mit rhetorischer Kraft vorgetragene soteriologische Definition der Disputatio de homine zwar nicht; sie erzielt aber auch keine Klärung hinsichtlich der fundamentalanthropologischen Relevanz von Vernunft überhaupt.

Vernunft III 2.2. Das Verhältnis von Glaube!Offenbarung

und

3 Vernunft

H a t die Fundamentaltheologie in ihrer apologetischen Funktion über den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens vor einem externen Forum Rechenschaft abzulegen, so sieht sie sich in der Neuzeit gerade konfrontiert durch den Anspruch auf eine autonome Vernunft, die ein auf vorgegebene Autoritäten gestütztes und insofern unkritisches Denken überwunden zu haben beansprucht (s.o. II). Eine Synthese von Glauben und Denken, Vernunft und Offenbarung ist nicht mehr ohne weiteres möglich (s.o. I). Vier Verhältnisbestimmungen lassen sich in der systematischen Theologie des 20. Jh. erkennen. 2.2.1. Der Glaube wird als Gehorsam gegenüber der Autorität der Offenbarung dem menschlichen Denken und Erkennen entgegengesetzt. K. -»Barths Theologie kann verstanden werden als das Bemühen, die spätneuzeitliche Situation einer atheistisch gewordenen Vernunft theologisch zu verarbeiten (Joest). Barth sieht sie als Beleg für die Unfähigkeit des menschlichen Selbstbewußtseins, von sich aus zu Gott zu kommen (vgl. Gestrich 268). Da im menschlichen Selbstbewußtsein Gott notwendigerweise negiert wird, wird in der Offenbarung die „göttliche Selbstkundgebung" (KD III/l, 399) dem menschlichen Bewußtsein entgegengesetzt. Somit gilt: nicht „weitere Setzung unseres Bewußtseins, sondern ... eine unserem Bewußtsein widerfahrende Entgegensetzung" (ebd.)! Gerade damit will Barth die Glaubenserkenntnis nicht auf das der Täuschung und der Illusion ausgesetzte menschliche Selbstbewußtsein gründen, sondern auf die Objektivität der göttlichen Offenbarung und damit auf die Autorität Gottes. Konsequenterweise wird die durch Gott bestimmte Selbstbestimmung von Barth als Anerkennung bezeichnet und diese als Unterwerfung ausgelegt: „Anerkennung des Wortes Gottes durch den Menschen ist ... nicht ein Gutheißen wie es auf Grund von Überredung zwischen Gleichstehenden, sondern ein Gutheißen, wie es auf Grund von Gehorsam, von Unterwerfung zwischen völlig Ungleichstehenden zustandekommt" (ebd. 1/1, 215). Anerkennung geschieht somit nicht aufgrund von Evidenz des der Illusion und der Täuschung ausgesetzten menschlichen Selbstbewußtseins, sondern aufgrund von Unterwerfung, in der der Mensch von der Frage der Evidenz absieht und sich einer Autorität unterwirft. Insofern diese Anerkennung durch den Glauben in Kraft gesetzt wird, wird der Glaube - wie auch die im Glauben stattfindende Erkenntnis - wesentlich als Gehorsam begriffen, als die „folg- und fügsame, eine sich beugende, sich unterordnende Kenntnisnahme" (ebd. IV/1, 848). Begründet Luther die Geltung des göttlichen Handelns durch die menschliche Gewißheit und den Glauben, so wird dies von Barth streng negiert. „Aber nicht daß er vom Menschen geglaubt wird, nicht das Vertrauen seines Herzens ... macht ihn zum rechten Gott, sondern das macht ihn zum rechten Gott, daß er im rechten Glauben geglaubt wird" (ebd. 1/1, 245). Gerade die Bezeichnung des Glaubens als Akt des Gehorsams und der Unterwerfung sollen den Glauben auf die Autorität Gottes gründen, nicht auf die Autorität der menschlichen Einsicht. Auf diese Weise ignoriert Barth die Differenz von Erkenntnismethode und Erkenntnisgegenstand (Rendtorff, Theologie 138); es ist unverkennbar, daß Barths Verständnis des Glaubens als Akt des Gehorsams gegenüber der Autorität der göttlichen Offenbarung dem katholischen Denkmodell nahe verwandt ist (s.o. 2.1.). Indem Barth aber - anders als das katholische Denkmodell - der Vernunft die Fähigkeit abspricht, Einsicht in die Grundlagen des Glaubens und die Einsicht in die äußeren Beweise für den Glauben zu gewähren, hat er den Eindruck entstehen lassen, als sei nach protestantischem Verständnis der Glaube ein Sprung ins Ungewisse, der keiner Begründung fähig sei. 2.2.2. Der Gegenstand der Offenbarung wird als Postulat (E. -»Hirsch) oder Tiefe (P. -*'Tillich) der Vernunft verstanden und so der methodische Atheismus der Vernunft bestritten. 2.2.2.1. Die Unterscheidung von Vernunft und Offenbarung bzw. Vernunft und Glaube wird von E. Hirsch vorgetragen als Unterscheidung zwischen dem „allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtsein" und „dem christlichen Glaubensbewußtsein" (vgl. Hirsch, Rechenschaft I). Kennzeichnend für das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein ist nach Hirsch seine Lösung von den Einsichten des Glaubens. So ist das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein nach Hirsch in der Neuzeit frei geworden, dem christlichen Glauben eignet im Unterschied zu früheren Zeiten keine allgemeine Anerkennung mehr. Die autonome Vernunft „hält es für des Menschen freies Königsrecht, selbständig, rein nach den Regeln natürlich-verständigen Wahrheitsernstes, über Sinn und Aufgabe des Menschen in der Welt zu urteilen" (ders., Wahrheitsbewußtsein 18). Hirsch beabsichtigt jedoch keine Abgrenzung gegen das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein, d.h.

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die aus der (autonomen) Vernunft des Menschen stammende Selbst- und Welterkenntnis, sondern fordert, die Rechenschaft des Glaubens auf dem Boden des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins zu vollziehen. Schon in der Vorrede seiner Christlichen Rechenschaft stellt Hirsch programmatisch fest: „Diese Rechenschaft stellt sich ohne Vorbehalt auf die gegenwärtige Geisteswirklichkeit" (ders., Rechenschaft I, 4). Eine Explikation des christlichen Glaubensbewußtseins auf dem Boden des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins bedeutet für Hirsch, daß das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein die Bedingungen vorgibt, unter denen der christliche Glaube überhaupt Geltung beanspruchen kann. Gefordert wird somit von Hirsch nicht weniger als eine Religion innerhalb der Grenzen des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins, genauer, innerhalb der Grenzen der autonomen Vernunft. Hirsch geht von der inhaltlichen Identität von christlichem Glaubensbewußtsein und allgemeinmenschlichen Wahrheitsbewußtsein aus. In seiner höchsten Form postuliert bereits das allgemeinmenschliche Wahrheitsbewußtsein Gott als die vergebende Liebe. Das Spezifikum des christlichen Glaubensbewußtseins erblickt Hirsch lediglich in der Erkenntnisart: Die dem allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtsein in seiner Tiefe aufgegangene Einsicht, daß Gott die vergebende Liebe sein muß, vermag innerhalb des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins nicht zur religiösen Gewißheit zu werden, weil es die Herzen der Menschen nicht zu ergreifen vermag. Genau an diesem Punkt zeigt sich nach Hirsch der leere Platz, den das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein für den Glauben gelassen hat. Er besteht gerade darin, daß die höchste Einsicht der allgemein-menschlichen Vernunft nur kraft des Glaubens zur persönlichen Gewißheit zu werden vermag. In der Begegnung mit dem Menschen Jesus von Nazareth wird die Ahnung des allgemeinmenschlichen Wahrheitsbewußtseins zur Gewissensmacht, weil hier in einer menschlich-persönlichen Begegnung das Herz der Person ergriffen wird. Liegt somit der Inhalt des christlichen Glaubensbewußtseins dem allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtsein bereits als sein höchstes Postulat zugrunde, so vermag dieses Postulat des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins erst im christlichen Glaubensbewußtsein zur religiösen Gewißheit zu werden; genuin ist dem christlichen Wahrheitsbewußtsein ausschließlich seine Form, d.h. die persönliche Gewißheit (vgl. Hentschel 240f.). Mit der Anerkennung der Autonomie des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins ist - im Unterschied zu Barth - allerdings keine Anerkennung der spätneuzeitlichen Situation einer atheistisch gewordenen Vernunft verbunden. Soll das christliche Glaubensbewußtsein nämlich mit dem allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtsein verbunden werden, so kann das allgemeinmenschliche Wahrheitsbewußtsein nicht in der Weise nivelliert werden, daß man ihm einen nichtreligiösen Charakter beilegt und ihm seine Tiefe abspricht (Hirsch, Wahrheitsbewußtsein 22). Eine solche „Diffamierung" des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins, die den Atheismus als inneren Wesenszug des allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtseins und logische Konsequenz der autonomen Vernunft betrachtet, ist nach Hirsch völlig verfehlt. Das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein ist nicht notwendig atheistisch, vielmehr nur in seiner atheistischen Entartung und Verflachung; denn in seiner Tiefe kann sich das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein gar nicht begreifen, ohne in Gott seinen Grund und seine Grenze zu erkennen (ders., Rechenschaft I, 209). Somit gilt: „Auch dem freien menschlichen Weltbewußtsein liegt ... ein echtes Gottesbewußtsein zugrunde" (ders., Wahrheitsbewußtsein 27). Gerade in dem dem allgemein-menschlichen Wahrheitsbewußtsein zugrundeliegenden Gottesverhältnis liegt für Hirsch auch die particula veri des Gottesbeweises: die Vernunft muß über sich hinausgehen und ein Unbedingtes setzen (ders., Hauptfragen 16). Die Vereinigung von christlichem Glaubensbewußtsein und allgemein-menschlichem Wahrheitsbewußtsein verlangt somit, daß das allgemein-menschliche Wahrheitsbewußtsein bis in jene Tiefe geführt wird, die sich dem christlichen Glaubensbewußtsein zu öffnen vermag. Gott muß zunächst daher als Schöpfer gesehen werden, ehe er als Erlöser ans Licht treten kann (ders., Schöpfung 7). Der christliche Glaube widerstreitet daher dem allgemein-menschlichen Bewußtsein nicht, sondern er bewahrt und lichtet es auf. 2.2.2.2. Von einer „Identitätsprämisse" (Bayer, Theologie 238) von Vernunft und Offenbarung ist auch P. Tillichs „Methode der Korrelation" fundiert, die beansprucht, existentielle Fragen und theologische Antworten wechselseitig aufeinander zu beziehen. Tillich unterscheidet zwischen der ontologischen und der technischen Vernunft. Die ontologische Vernunft befähigt den Menschen, die Wirklichkeit zu ergreifen und umzuformen, insofern sie die Struktur und den Sinn von Wirklichkeit im Ganzen bedenkt, während die technische Vernunft die „Fähigkeit des Berechnens und Argumentierens" (Tillich I, 89) verleiht, insofern sie die zweckrationale Frage nach den Mitteln, ein Ziel zu erreichen, bedenkt. Hinsichtlich der ontologischen Vernunft differenziert Tillich zwischen der ontologischen Vernunft in ihrer essentiellen Vollkommenheit und in ihrer entfremdeten Form, in der Terminologie Tillichs, unter den Bedingungen der Existenz. Dabei begreift Tillich die entfremdete Form der Vernunft als eine solche, der ihre eigene Tiefe verborgen ist. Ist ,,[i]hrer essentiellen Natur nach ... die Vernunft in jedem ihrer Akte und Prozesse auf ihre eigene Tiefe

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hin transparent", d.h. ist ,,[d]ie Tiefe der Vernunft ... essentiell in der Vernunft offenbar", so ist sie unter den Bedingungen der Existenz „verborgen" (ebd. 97). Sie wird unter den Bedingungen der Existenz in „symbolischen Formen" oder im -»Mythos und Kultus artikuliert. Dabei betont Tillich, daß die Tiefe der Vernunft „das Essentielle aller Vernunftfunktionen" ist, die Tiefe der Vernunft ist „essentiell in der Vernunft offenbar"; ,,[i]hrer essentiellen Natur nach ist die Vernunft in jedem ihrer Akte und Prozesse auf ihre eigene Tiefe hin transparent" (ebd. 97f.). Damit teilt Tillich die Prämisse von Hirsch, daß die Offenbarung eine der Vernunft ewig zugrunde liegende Tiefe zum Gegenstand hat. Im Unterschied zu Hirsch geht Tillich zwar davon aus, daß der Vernunft unter den Bedingungen der sündhaften Entfremdung ihre eigene Tiefe nicht mehr transparent ist, doch schafft sich die Tiefe der Vernunft nach Tillich verdeckt in Kultus und Mythos Ausdruck. So bringt die Offenbarung nur ans Licht, was sich in Mythos und Kultus immer schon verdeckt Ausdruck verschafft, d.h. die Offenbarung bringt ein ewiges Prinzip zur Klarheit. Damit muß allerdings Tillich - wie auch Hirsch - die -»Versöhnung von der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth auf ein ewig-zeitloses Prinzip transponieren. 2.2.3. Der Gegenstand der Offenbarung wird als Hypothese verstanden, die sich vor der Vernunft zu bewähren hat. W. Pannenbergs offenbarungstheologisches Programm hat seine Pointe darin, daß sich Offenbarung nicht nur in der Geschichte, sondern als Geschichte eignet, insofern Gott sich in der Geschichte indirekt zu erkennen gibt (Pannenberg, Thesen). Zwar ist Gott erst am Ende der Geschichte in seiner Gottheit zu erkennen, doch hat sich in Christus das Ende aller Geschichte „im voraus, als Vorwegnahme ereignet" (ebd. 98), Gott hat „im Geschick Jesu endgültig seine Gottheit erwiesen und ist als der eine Gott aller Menschen offenbar" (ebd. 105). Insofern diese Erkenntnis das Ergebnis angemessener historischer Betrachtung und Beurteilung ist, ist die Theologie verpflichtet, „die schlichte und keineswegs übernatürliche Wahrheit der Offenbarung Gottes im Geschick Jesu Christi zu behaupten und aufzuweisen" (ebd. 100). Während sich die These, daß theologische Aussagen den Status von Behauptungssätzen hätten, der wissenschaftstheoretischen Debatte verdankt, gelingt Pannenberg eine schöpfungstheologische Übertragung seiner Antizipationsthese. In dem Phänomen der Selbsterhaltung wird ein Menschenbild favorisiert, das die cooperaiio mit dem Schöpfer zum Inhalt hat und dessen Leben daraus seine Bestimmung bezieht (Pannenberg, Metaphysik 48). Indem so dem Einzelleben seine Bedeutung beigemessen ist, wird auch die je eigene Alltagswirklichkeit metaphysisch relevant, insofern der „Standort metaphysischer Reflexion" (ebd. 67) in sie eingetragen werden muß. Diese Problemstellung verweist auf ein Konzept, das die schlichte Gegenüberstellung von Vernunft und Offenbarung überwindet, indem es den Wahrheitsbegriff zur Darstellung der Strittigkeit des christlichen Glaubens heranzieht (Pannenberg, Theologie I, 58ff.). 2.2.4. Die Rede von der Einheit der Vernunft wird bestritten durch den Hinweis auf ihre psychologische Motivation (E. Herms), auf ihre Geschichtlichkeit bzw. auf die konstitutive Bezogenheit auf Sprache (O. Bayer). 2.2.4.1. Bezeichnet der Begriff Offenbarung nach E. Herms „dasjenige Geschehen, durch das der Glaube zu seinem Gegenstand kommt" (Herms, Offenbarung 249), so wird das Offenbarungsgeschehen als ein Erschließungsgeschehen begriffen, das durch sechs Aspekte ausgezeichnet ist: erstens hat jedes Erschließungsgeschehen einen Inhalt, zweitens einen Urheber, drittens einen Empfänger, dem sich etwas erschließt, viertens einen situativen Anlaß, in dem etwas erschlossen wird, fünftens eine sinnliche Affektion des Empfängers und eine Provokation zu leibhafter Eigenaktivität und schließlich sechstens eine Wirkung auf den Empfänger; es erfüllt den Empfänger mit Gewißheit (vgl. ebd. 176f.). Ist unser Alltag durchsetzt von Erschließungsvorgängen, so bezeichnet Herms diejenigen Erschließungsvorgänge als „echte Offenbarungen", in die der Empfänger passiv einbezogen ist. Für „echte Offenbarungen" gilt somit zweierlei: erstens liegen sie „jenseits dessen, was uns bisher als Umkreis der Bedingungen und Möglichkeiten unseres eigenen Handelns gegenwärtig war" und zweitens treten sie „kraft ihres Erschlossenseins in den Umkreis der absolut verbindlichen Bedingungen unseres Handelns ein, die uns so gewiß sind, daß wir sie nicht bezweifeln" (ebd. 179). Ist die Wirkung eines Erschließungsvorgangs Gewißheit, so wirkt der religiöse Erschließungsvorgang, weil er den transzendenten Ursprung zum Inhalt hat, „diejenigen Gewißheiten ..., aus denen das handlungsbestimmende Selbst- und Wirklichkeitsverständnis einer Person besteht". So sind in der religiösen Offenbarung der Inhalt und der Urheber der Offenbarung identisch. Indem Herms die religiöse Offenbarung als einen spezifischen Fall eines Erschließungsvorgangs zu verstehen lehrt, der grundsätzlich den Zugang eines Subjektes zu den Erkenntnisgegenständen beschreibt, zeigt er nicht nur, daß menschliches Erkennen überhaupt auf passive Erschließung und damit auf Offenbarung angewiesen ist (so daß das Nebeneinander von Vernunft und Offenbarung als problematisch erscheint), sondern damit auch, daß der verpflichtende Charakter der religiösen

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Offenbarung - wie überhaupt der menschlichen Erkenntnis - in deren Evidenz liegt. Dies impliziert die fundamentalanthropologische These, daß es für den Menschen wesentlich ist, d.h. zur Verfassung seiner personalen Existenz gehört, „daß alle denkbaren bestimmten Gestalten seines jeweiligen individuellen Personseins ihren konkreten Charakter gewinnen durch eine grundlegende Gewißheitserfahrung" (ders., Auslegung 66). Diesen Sachverhalt bedenkt Herms auch in bezug auf die Rede von -»Wahrheit. Wahrheit kann nach Herms grundsätzlich nicht unabhängig von ihrem Erschlossensein für uns und unseresgleichen thematisiert werden. Damit wird von Herms die in der (philosophischen) Erkenntnistheorie beheimatete Anschauung von dem Primat der Frage nach dem Wesen der Wahrheit vor der Erkennbarkeit der Wahrheit zurückgewiesen. So sind nach Herms die Werdebedingungen des christlichen Wahrheitsbewußtseins nicht nur im Zusammenhang mit den Werdebedingungen des menschlichen Wahrheitsbewußtseins überhaupt zu erörtern, sondern auch zu zeigen, daß die Werdebedingungen des christlichen Wahrheitsbewußtseins die gleichen Bedingungen aufweist wie die Werdebedingungen des menschlichen Wahrheitsbewußtseins überhaupt (ders., Offenbarung). 2.2.4.2. Gegen die Annahme der Einheit der Vernunft und im Widerstreit zu dem neuzeitlichen Denken, das „durch den Willen zum Purismus geprägt" ist in dem Willen, „sich von allen Vorurteilen und damit von den Zufälligkeiten überlieferter Sprache und Geschichte [zu] reinigen, damit die Sprache nicht das Denken verführe" (Bayer, Vernunft 1), betont O. Bayer in Aufnahme der Einsichten von J.G. -»Hamann und seiner Metakritik programmatisch: „Es gibt keine Vernunft; es gibt nur Vernünfte" (Bayer, Autorität 39). Es gilt somit zu bedenken, daß die Vernunft abhängig ist von geschichtlichen Überlieferungen, Erfahrungen und damit konstitutiv bezogen ist auf -•Sprache (ebd. 69); Vernunft ist somit „nicht Sache der Natur, sondern Sache der Sprache" (ebd. 41). Sprache aber gibt es nicht nur als eine „einzige Sprache, als Universalsprache", vielmehr ist Sprache nur gegenwärtig „in verschiedenen Sprachen, in deren Konflikten, in der Überschneidung der jeweils verschiedenene Perspektiven" (ebd. 41). Als „gewalttätig" ist daher das Drängen der Vernunft auf „Reinheit von allem Zufälligen und Besonderen, auf Allgemeinheit und Notwendigkeit" anzusehen. Die Vernunft darf ihre Abhängigkeit und Endlichkeit nicht verleugnen, ohne „autoritär und despotisch" (ebd. 69) zu werden. Von daher fordert Bayer, dem Konflikt der Sprachen nicht auszuweichen, indem man ihn reduktionistisch stillstellt oder transzendental hintergeht, sondern sich auf den jeweiligen Sprachgebrauch einzulassen und sich damit der „Aufgabe, die sich aus der Konkurrenz verschiedener .Vernünfte'" (ebd. 11) ergibt, zu stellen. Vernunft ist nicht ewig und zeitlos, vielmehr gilt: „Die Geschichten der Vernunft sind ... die Kritik ihrer Reinheit" (ebd. 69). Nimmt man die Geschichtlichkeit der Vernunft und die konstitutive Bezogenheit der Vernunft auf Sprache ernst, dann kann es konsequenterweise nicht die Aufgabe sein, den Glauben vor einer Vernunft zu legitimieren, die ihre Geschichtlichkeit und ihre Bezogenheit auf Sprache verleugnet. Vielmehr ist der Glaube ernst zu nehmen in seiner Bezogenheit auf die elementaren Sprachhandlungen, in denen Gesetz und Evangelium konkret geschehen (Bayer, Theologie 412) und damit als eine solche Gestalt der Vernunft zur Sprache, die Vernunft von „Absolutismen" (ders., Gott 262) befreit und den Menschen dazu befähigt, sich von Gott selbst - als den Autor seiner Lebensgeschichte - auslegen zu lassen. 2.3. Wissenschaftstheoretischer

Diskurs

Verbunden mit ihrer epistemologischen Aufgabe hat die Fundamentaltheologie eine Wissenschaftstheorie der Theologie zu entwerfen, indem sie an der Teilnahme am wissenschaftstheoretischen Diskurs die Rationalität der Theologie zeigt (-»Wissenschaft/ Wissenschaftstheorie; -»Theologie III). Dabei wird für die Theologie die Wissenschaftlichkeit insofern zu einem Problem, als das Postulat einer prinzipiell unbegrenzten Vernunftautonomie der Theologie (als ein „vom christlichen Glauben inaugurierte [s] Denken" [Ebeling, Dogmatik 1,18]) ihre Wissenschaftlichkeit abspricht. In den unterschiedlichen Versuchen der evangelischen Theologie im 20. Jh. zeigt sich, daß die jeweilige theologische Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube bzw. Vernunft und Offenbarung auch das jeweilige Verständnis der Wissenschaftlichkeit der Theologie prägt. 2.3.1. Wenig interessiert an einer Erörterung der Rationalität der Theologie ist K. Barth. Insofern für Barth das bewußte Bekenntnis zur Autorität der Offenbarung die Voraussetzung des theologischen Denkens ist, setzt er an die Stelle der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie die Frage nach der Sachlichkeit der Theologie. Insofern die Sachlichkeit der Theologie aber gerade darin besteht, daß sie Gottes Wort entspricht, kann sie nicht Postulaten entsprechen wollen, die an sie von Seiten der anderen Wissenschaften herangetragen werden. Von daher ist es für Barth

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in prinzipieller Hinsicht nicht möglich, auch nur den Minimalbestimmungen für Wissenschaftlichkeit von H. —»Scholz zu entsprechen. 2.3.2. Insofern für E. Hirsch (s.o. 2.2.2.1.) der Glaube nichts anderes ist als das zur persönlichen Gewißheit gewordene Postulat der autonomen Vernunft, stellt sich für ihn ebenso wenig das Problem der Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft wie die Aufgabe der Verantwortung der Rationalität der Theologie. Die Rationalität der Theologie sieht Hirsch begründet in ihrem reflektierenden Vollzug (Hirsch, Rechenschaft I, 16f.). Obwohl die Vernunft nicht die Quelle der Theologie ist, und so der rationale Charakter des Gegenstandes der Theologie „ungelöst" (Tillich I, 67) bleiben muß, sieht auch Tillich den rationalen Charakter in ihrer Darlegung begründet (s.o. 2.2.2.2.). So ist die Theologie der „semantischen Rationalität" verpflichtet, insofern sie Rechenschaft über ihre Begrifflichkeit ablegt (vgl. ebd. 67f.), der „logischen Rationalität", insofern sie wie andere Wissenschaften von der formalen Logik abhängt (vgl. ebd. 69f.), und schließlich der methodischen Rationalität, insofern sie „einer Methode zu folgen hat, d.h. einem bestimmten Weg, ihre Behauptungen abzuleiten und darzulegen" (ebd. 71). 2.3.3. In der Absicht, die Rationalität der Theologie durch Teilnahme am wissenschaftstheoretischen Diskurs zu zeigen, hält W. Pannenberg es nicht für möglich, in der Theologie von der Offenbarung als unhinterfragbarer Autorität auszugehen. Vielmehr betrachtet er in wissenschaftstheoretischer Hinsicht den Glauben als eine Hypothese, die sich vor dem Forum der Vernunft zu bewähren hat (vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie 302). 2.3.4. Insofern E. Herms (s.o. 2.2.4.1.) wie auch O. Bayer (s.o. 2.2.4.2.) die Rede von der Einheit der Vernunft bestritten haben durch den Hinweis auf die Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der Vernunft (Bayer) bzw. auf ihre Abhängigkeit von passiver Erschließung einer existenzbestimmenden Gewißheit (Herms), befähigen sie die Theologie, selbstbewußt am wissenschaftstheoretischen Diskurs teilzunehmen; denn durch die Bestreitung der Autonomie der Vernunft wird auch die Behauptung der Voraussetzungslosigkeit der anderen Wissenschaften und ihrer Rationalitätsformen bestritten. Damit wird es weder der Theologie zur Aufgabe gemacht, von dem philosophischen Vernunftdiskurs der Gegenwart diejenige Rationalitätsform bestimmen zu lassen, vor der sich die Theologie zu verantworten hat (im Unterschied zu Pannenberg), noch auch wird die Theologie dazu gezwungen, die Frage nach der Wissenschaftlichkeit und Rationalität der Theologie zu ersetzen durch die Frage nach der Sache der Theologie (im Unterschied zu Barth). Vielmehr bringt die Theologie im wissenschaftstheoretischen Diskurs die Verschiedenheit der Rationalitätsformen zur Sprache und leitet dazu an, die Voraussetzungshaftigkeit als Element jeder Wissenschaft zu erkennen. Gerade weil die Vernunft ihre Abhängigkeit vom Endlichen und damit von Sprache und Geschichte nicht verleugnen kann, ohne despotisch zu werden, ist Geschichte für O. Bayer nicht nur Kriterium „vom Menschen und von der Welt, sondern auch für die Rede von Gott. Denn Gott selbst hat seine Ewigkeit mit der Zeit verschränkt - nicht nur in seiner Menschwerdung und seinem Tod am Kreuz, sondern ebenso als der Schöpfer, der die Kreatur durch die Kreatur anredet, und als der Geist, der durch unansehnlich partikulare, zeitliche Begebenheiten und Erzählungen tötet und lebendig macht" (Bayer, Autorität 185). Damit ist für Bayer der Verzicht verbunden, „ein dieser Geschichte zuvor und voraus gedachtes Allgemeines zu suchen, um sie von ihm her verständlich zu machen oder gar zu rechtfertigen" (ebd.). Vielmehr bedenkt die Theologie als Sprachlehre die sprachlichen Formen wie Lob und Klage (vgl. ebd. 187). Sie ist daher wesentlich als Wortlehre zu verstehen und zu entfalten (vgl. ebd. 167f.). 3. Vernunft

als Thema

der theologischen

Ethik

Die Frage nach der Bedeutung der Vernunft für die ethische Urteilsbildung wird unzulässig vereinfacht, wenn sie auf das Scheinproblem eines vermeintlichen Gegensatzes von Vernunft versus Offenbarung reduziert wird, weil die Unterscheidung von Vernunfthandlung und Handeln aus Glauben empirisch und epistomologisch schwerlich zu verifizieren ist. Das Verhältnis von Vernunft und Glaube bzw. Offenbarung wird neben der fundamentalen lebensweltlichen Differenz von Kognition und Emotion auch in den fundamentalethischen Verhältnisbestimmungen von Dogmatik und Ethik, philosophischer und theologischer Ethik, Schöpfung und Erlösung, „ W o h l " und „Heil" des menschlichen Daseins zum Thema. Grundsätzlich lassen sich vier Positionen voneinander abgrenzen. 3.1. Zum einen wird das moralische Handeln als Entsprechung zum als Gehorsam gegenüber der Autorität der Offenbarung verstandenen Glauben begriffen.

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Vernunft III

Im Widerspruch zu einer neuprotestantischen Sicht postuliert K. Barth programmatisch „Dogmatik als Ethik" (KD 1/2, 875-890). Gegen eine Überführung der Dogmatik in die Ethik, die für Barth Kennzeichen einer zu verwerfenden Anthropologisierung der Theologie ist, kann menschliches Handeln nur den in der Dogmatik generierten Aussagen über Gottes Handeln entsprechen. Dies bedeutet nun zweierlei: Zum einen kann es Ethik als selbständig reflektierende Disziplin nicht geben, sie ist vielmehr als „Hilfswissenschaft" durchzuführen. Zum anderen wird damit aber auch die Unterscheidung zwischen Vernunft und Evidenz, Offenbarung und Gehorsam in das ethische Programm Barths eingefügt. Wird der Glaube verstanden als Gehorsam gegen die Autorität der Offenbarung Gottes, so gilt dies auch für das menschliche Handeln, insofern dies verstanden wird als im Handeln vollzogene Entsprechung des Menschen zu seinem Gehorsam gegenüber der Autorität der göttlichen Offenbarung. Auch Barths Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Um zu wissen, was die Forderung Gottes an den Menschen ist, müssen wir „allererst um das Evangelium wissen, und nicht umgekehrt" (Barth, Evangelium 5). Insofern Christus für Barth auch der Grund des geschöpflichen Seins ist, ist auch die staatliche Gewalt von der Gewalt Christi her zu begründen. Die Glaubenden, die um den Grund der staatlichen Ordnung wissen, haben eine Informationspflicht dem Staat und der Gesellschaft gegenüber: Die Christengemeinde „weiß" (ders., Christengemeinde 1), wessen der Staat bedarf. Die Garantie, die die Kirche dem Staat gibt, besteht somit in ihrer exklusiven Stellung als der Wissenden. Weil die staatliche Ordnung Abbild des Urbildes des himmlischen Staates ist, ist das politische Wesen gleichnisfähig und gleichnisbedürftig. 3.2. Mit Hilfe der Idee der Schöpfungsordnungen wird die Möglichkeit des Erkennens des Guten und von Gott Gewollten durch die Vernunft in den Blick genommen. In seiner Ethik Das Gebot und die Ordnungen macht es sich E. Brunner zur Aufgabe, die natürliche Sittlichkeit zu deuten und damit „das natürliche Verständnis des Guten" (Brunner, Gebot 48) freizulegen. Aufgabe der Ethik ist es daher, die Auseinandersetzung zwischen der christlichen und der „natürlichen" Erkenntnis des Guten zu führen. Dies geschieht, indem Brunner die Schöpfungsordnungen seiner Betrachtung unterzieht - d.h. die Gemeinschaftsformen Ehe und Familie, Arbeit und Wirtschaft, Staat und Kulturgemeinschaft (Wissenschaft und Kunst) - , in denen die Begegnung mit dem Nächsten stattfindet und der Mensch so in den Dienst des Nächsten gestellt wird. Werden die Schöpfungsordnungen auch zuallererst im Glauben als „Mittel der göttlichen Weisheit" (ebd. 194) erkannt, die Menschen zur Gemeinschaft zu zwingen und dadurch menschliches Leben zu ermöglichen, so sind sie doch insofern bereits Gegenstand des vernünftigen Erkennens, als jeder Mensch etwas vom „Lebenssinn" dieser Ordnungen weiß (vgl. ebd. 204). Damit gilt für Brunner zweierlei: zum einen, daß die Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen Gegenstand des natürlichen Erkennens sind, zum anderen, daß die Erhaltung dieser Ordnung nicht den Glauben des Menschen, sondern die menschliche Vernunft in Anspruch nimmt: „Gott gebraucht die menschlich zwecksetzende Vernunft, im Verein mit dem natürlichen Instinkt, im Dienst seiner Welterhaltung. ... Darum gehorchen diese Ordnungen nicht der Logik des Glaubens oder der Liebe, sondern der Logik menschlich-vernünftiger - und das heißt immer auch sündiger - Zwecksetzung" (ebd. 207). So ist „die Schaffung, Erhaltung und Verbesserung der Ordnungen ... als solche nicht direkt, sondern nur indirekt Sache des Glaubensgehorsams, direkt aber Sache der menschlichen Vernunft, zu der auch die natürliche Sittlichkeit gehört" (ebd. 216). Der Glaubende arbeitet daher „Schulter an Schulter mit dem Nichtglaubenden" (ebd. 215); denn es bedarf nicht der Glaubenserkenntnis, um der Gerechtigkeit widersprechende Ordnungen als solche zu erkennen. Auch dem Glaubenden ist es zur Aufgabe gemacht, diese Ordnungen zu schützen. In den Schöpfungsordnungen geht es somit um „sachgemäßes Handeln" (ebd. 246). 3.3. Gegen Barths Verständnis der Ethik als Lehre von der gehorsamen Entsprechung des menschlichen Handelns zum göttlichen Handeln wird versucht, die Ethik als eine „allgemein-menschliche" Aufgabe in den Blick zu nehmen und daher die Bedeutung der Vernunft für die ethische Urteilsbildung hervorzuheben. 3.3.1. Wenn G. Ebeling für einen „Vorrang des Ethischen" plädiert, so will er damit keinesfalls die weltanschauliche Voraussetzung der Ethik negieren. Der Vorrang des Ethischen bleibt nach Ebeling jedoch trotz der weltanschaulichen Voraussetzungen im Recht, da sich ,,[d]ie ethischen Probleme ... nicht aufschieben [lassen], bis Einigkeit über jene Grundfragen besteht" (Ebeling, Evidenz 10). So muß es in der Ethik, insofern sie es mit dem „verantwortlichen Handeln" zu tun hat, auch um das gehen, „was in vorläufiger Weise geschehen kann und muß, unabhängig vom Glauben als der Erfassung des Letztgültigen". Dabei betont Ebeling ausdrücklich, daß auch das Vorläufige in rechter Weise nicht unabhängig vom Glauben geschehen kann, doch hat es die Ethik auch mit dem zu tun, „dessen Geltungsanspruch nicht aufhebbar ist bis zu einer Verständigung

Vernunft III

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über das Letztgültige (ders., Erwägungen 437). Von daher besitzt die Ethik die „Aufgabe der ersten Hilfe" (ders., Evidenz 10). Zwar eignet dem Ethischen auch außerhalb des Glaubens Evidenz, insofern hier eine „gemeinmenschliche Problematik" in Erscheinung tritt und uns damit vor das „Problem des Allgemeinverbindlichen" (ders., Krise 47) stellt, doch meint Ebeling damit keine „eine jedem ohne weiteres bewußte oder sofort einleuchtende Evidenz". Zum Phänomen des Ethischen gehört auch die „Blindheit gegenüber dem Evidenten" (ebd. 50). Aufgrund der Blindheit für das Evidente, das als solches jedoch zum Menschsein des Menschen selbst gehört, muß sich die Theologie des Evidenten annehmen. „Eben darum muß sich die Macht des Glaubens bewähren, daß es auch zu solchem Dienst frei macht". Die ethische Verantwortung der Theologie besteht nicht nur darin, die Früchte des Glaubens einzuschärfen und damit auf das zu beschränken „was allein den Christen angeht und was nur unter Voraussetzung des christlichen Glaubens als wahr und verbindlich einleuchtet", vielmehr geht es darum, das Menschliche freizulegen, also „auf die Fragen, die Christen und Nichtchristen miteinander bewegen und bedrängen", einzugehen. Gerade in diesen Fragen muß eine gewisse vorläufige Verständigung erzielt werden, d.h. eine Verständigung, die unabhängig ist von den Differenzen in bezug auf den Glauben (ders., Evidenz 10f.). 3.3.2. M. Honecker erörtert „das spezifisch Christliche im Horizont der Ethik", indem er die „Frage nach der Zuständigkeit und Aufgabe der Vernunft in der Ethik" in den Blick nimmt; denn diese Frage schließt die grundsätzliche Frage ein, „inwieweit vernünftige und rationale Argumentation für die Ethik möglich und unerläßlich ist" (Honecker, Vernunft 328). Honecker unterbreitet den Vorschlag, die Vernunft als „Prinzip diskursiver Verständigung" zu verstehen. Als Prinzip der diskursiven Verständigung nennt die Vernunft nur „die Bedingungen, welche es ermöglichen, Normen auf ihre Vernünftigkeit hin zu überprüfen" und ist so „auf Voraussetzungen angewiesen, welche Geschichte, Tradition und Erfahrung vermitteln" (ebd. 330). Damit ist die Vernunft allein noch kein zureichender Beweggrund für konkretes Handeln, vielmehr bedarf sie einer Motivation. „Motivation meint ... nicht die Beliebigkeit und Auswechselbarkeit von Motiven, sondern eine Grundeinstellung, die nicht im Rationalen, sondern im Emotionalen, im Bereich von Willen und Gefühl zu lokalisieren ist" (ebd. 334). Die Motivation ist daher nach Honecker der „Bereich des Affektiven". Ihm sind auch Gewissen und Liebe zuzuordnen. Auch Gewissen und Liebe sind jedoch keine „christlichen Specifica oder Propria", vielmehr sind sie als „allgemein-menschliche Phänomene" (ebd. 334f.) zu betrachten. Der Mensch kann als Mensch - nicht erst als Glaubender bei seiner Vernunft und Humanität behaftet werden. Und insofern es die Aufgabe der ethischen Reflexion ist, den Menschen als Menschen bei seiner Vernunft und Humanität zu behaften, hat die theologische Ethik keine „andere Ethik inhaltlich zu vertreten ... als eine „ .menschliche' Ethik" (ders., Thesen 139). Hier hat die bekannte Behauptung Honeckers ihren Ort, der Glaube bringe für eine theologische Ethik keinen Zuwachs an ethischer Erkenntnis (ders., Vernunft 339). Der Glaube ist daher nach Honecker „nicht Norm des Handelns, sondern Ermächtigung, Vollmacht zum verantwortlichen Leben". Er „ermutigt ..., gegen Unvernunft, Gewissenlosigkeit und Unmenschlichkeit am Recht und der Verpflichtung des Humanen festzuhalten" (ebd. 340). Damit plädiert Honecker für eine Unterscheidung von Theologischem und Ethischem. Insofern auch die theologische Ethik nach dem Wohl des Menschen fragt, verzichtet sie, „von der Ethik mehr zu verlangen, als daß sie sich am Maßstab der Menschlichkeit ausrichtet" (ders., Thesen 138). „Es geht vielmehr fundamental und grundsätzlich um die Frage der Zuordnung von Menschlichem und Christlichem, von Schöpfung und Erlösung" (ders., Einführung 24). 3.4. Gegen die Loslösung der Ethik von der Dogmatik und den Versuch, eine Ethik ausschließlich mit Hilfe der Vernunft zu gewinnen, wird an die weltanschauliche Voraussetzungshaftigkeit der Ethik, die Bedeutung des Affektiven für das menschliche Handeln und schließlich an die Bedeutung der Unterscheidung von -»Gesetz und Evangelium für die Wahrnehmung des ethischen Feldes erinnert. 3.4.1. Nach W. Härle hat die theologische Ethik zu bedenken, daß jede normative Ethik weltanschauliche Voraussetzungen besitzt. Eine normative Ethik aufgrund eines formal-logischen Prinzips (und damit ausschließlich durch die Vernunft) zu gewinnen, ist nach Härle deshalb nicht möglich, weil es kein formal-logisches Prinzip gibt, „bei dessen Anwendung bestimmte Handlungsmaximen als ethisch vorzüglich ... erwiesen werden können" (Härle 33). Daher folgert Härle, daß „alle nicht formal-logischen Prinzipien, die für die Begründung normativ-ethischer Urteile in Betracht kommen, notwendigerweise inhaltliche Elemente enthalten oder voraussetzen, die als solche wiederum notwendigerweise den Charakter einer Weltanschauung oder des Teils einer Weltanschauung haben" (ebd. 33f.). 3.4.2. In vergleichbarer Weise hat E. Herms die Notwendigkeit der ethisch-weltanschaulichen Gewißheit für die Zielsetzung menschlichen Handelns behauptet. Herms geht aus von der funda-

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mentalanthropologischen Einsicht, daß menschliches Handeln - sei es symbolisierender oder organisierender Natur - auf die Erschließung einer existenzbestimmenden Gewißheit angewiesen ist, die den Menschen zu einer leibhaften Eigenaktivität provoziert (vgl. Herms, Offenbarung 176). Versuchen somit in der Situation des weltanschaulichen Pluralismus ,,[e]ine Vielzahl von inhaltlich verschiedenen weltanschaulich-ethischen Uberzeugungen und Gewißheiten mit ihrer jeweils ganzheitlichen Motivationskraft und Steuerungsfunktion ..., bestimmenden Einfluß zu nehmen auf die Politik selbst - auf ihre Theorie und Praxis" (ders., Theologie 99), so besitzt diese Situation nach Herms ausschließlich unter der Bedingung Stabilität, daß die an dem gemeinsamen Gestaltungsprozeß der Gesellschaft beteiligten Personen zwar aus Gründen handeln, die aus ihrer je eigenen weltanschaulichen Gewißheit stammen, die sie in ethischer Hinsicht orientiert, jedoch - trotz ihrer Differenz in bezug auf die weltanschauliche Orientierung - an der „Erhaltung eines nichttotalitären, prinzipiell pluralistischen Zustandes" (ebd. 101) arbeiten. Gerade dies gilt nach Herms für den christlichen Glauben, insofern der christliche Glaube nicht nur aufgrund seiner spezifisch ethisch orientierten Gewißheit an der Politik teilnimmt, sondern dabei auch „für die politische (also rechtliche) Respektierung und Absicherung auch nichtchristlicher Überzeugungen und Gewißheiten eintritt" (ders., Theologie 102). Der Glaubende hat an der Gestaltung der Gesellschaft teilzunehmen und dabei gerade einzutreten „für eine pluralistische Ordnung, die offen ist für Teilnahme, Einfluß und Mitarbeit aller weltanschaulich-ethischen Positionen, die diese Offenheit nicht verneinen" (ebd.). 3.4.3. Ausgehend von der Feststellung, daß in der evangelischen Theologie des 20. Jh. „eine normen- oder pflichtentheoretische Leitperspektive im Verständnis des Ethischen vorherrscht" (Stock, Grundlegung 14), die ihre Ursache gerade darin hat, daß ein „Begriff von Personalität vorherrscht, der die leib-seelische Einheit des Menschen als selbstbewußt-freies und darum denkend und handelnd zu vollziehendes Leben bestimmt", dabei jedoch „Fühlen und Empfinden und damit die Erscheinungen des affektiven Lebens" (ebd. 15) vernachlässigt hat, benennt K. Stock als fundamentalanthropologische Prämisse, daß die „ichhaften, selbstbewußt freien Tätigkeiten unseres personalen Lebens einem .Erleiden' von affektiver Qualität und Tragweite Ausdruck geben" (ebd. 17). So wird nach Stock die Handlungsfähigkeit der Person wesentlich durch eine affektive Komponente bestimmt, insofern die die Identität der Person bestimmende Lebensgewißheit „als eine unwillkürliche Bereitschaft in der Tiefe des Selbstgefühls der Person verwurzelt ist" (ebd. 134). Der Mensch wird „unwillkürlich, nämlich in der Tiefe des Gemüts und des affektiven Lebens, von der Güte eines bestimmten Zieles ergriffen und erfüllt" (ders., Konstitutionsbedingungen 41f.): „Wir interagieren als fühlende Personen" (ders., Grundlegung 45). Das gesamte Handeln der Person muß daher von der „grundlegenden Bestimmtheit der handelnden Personen durch das ihnen gewisse Gute" (ders., Gegenwartsdeutung 81) begriffen werden, insofern es nämlich seine einzelnen Handlungsvollzüge an einer „besonderen Auslegung eines universellen Guten" (ders., Grundlegung 70) orientiert. 3.4.4. Schließlich bedenkt O. Bayer die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für das ethische Feld. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium lehrt, daß es für die Wahrnehmung des ethischen Feldes entscheidend ist, ob dieses aus der Güte der göttlichen Gabe oder der Güte der göttlichen Forderung in den Blick kommt (Bayer, Freiheit 100). Damit wird die Bedeutsamkeit der Frage nach der Bedeutung der Vernunft oder des Glaubens für die Gewinnung sittlicher Forderungen von Bayer eingeschränkt, insofern nämlich die eigentliche Aufgabe der christlichen Ethik darin liegt, das ethische Feld aus der Perspektive des göttlichen Freispruchs zu bedenken und damit die Möglichkeiten menschlicher Interaktionen als das von Gott Erlaubte wahrzunehmen. 4. Vernunft als Thema

der theologischen

Anthropologie

4.1. Gegenüber einem Verständnis der Autonomie der Vernunft, das die religiöse Dimension zu einem bloß kontingenten Moment des Daseins erklärt, macht die Theologie des 20. Jh. die Anthropologie als den Ort namhaft, an dem sie sich apologetisch mit dem Anspruch einer sich selbst behauptenden Subjektivität auseinandersetzt. 4.1.1. Nach W. Pannenberg bedarf die Theologie der Anthropologie, weil die neuzeitliche Theologiegeschichte gerade dadurch gekennzeichnet ist, „daß die Grundlegung der Theologie immer stärker auf das Verständnis des Menschen verlagert worden ist" (Pannenberg, Anthropologie [1983] 11). Der neuzeitlichen „Anthropologisierung der Gottesidee" (ders., Anthropologie [1972] 20) entspricht die Bestreitung des Gottesglaubens insofern, als auch diese auf dem Boden der Anthropologie vollzogen wird. Es bedarf daher der Auseinandersetzung mit der atheistischen —»Religionskritik auf dem Felde der Anthropologie; die Verteidigung der Wahrheit des christlichen Glaubens muß

Vernunft III

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sich „auf dem Boden der Deutung des Menschseins" (ders., Anthropologie [1983] 15) vollziehen. Durch die „Anthropologisierung der Gottesidee und die entsprechende anthropologische Konzentration ihrer atheistischen Bestreitung" (ders., Anthropologie [1972] 20) stellt sich für Pannenberg die Anthropologie daher dar als „Kampfplatz, auf dem die Theologie die Gültigkeit ihrer universalen Ansprüche darlegen muß" (Schwöbel, Wolfhart Pannenberg 247). Stellt sich ,,[d]em öffentlichen Bewußtsein der Moderne ... mit zunehmender Entschiedenheit die Religion als ein sekundäres Bedürfnis dar, das nicht zu den konstitutiven Zügen des Menschseins gehört" (Pannenberg, Anthropologie [1983] 7), so ist es Pannenbergs Interesse, gerade zu zeigen, „daß die spezifische Eigenart des menschlichen Daseins ... ohne ihre religiöse Dimension nicht adäquat beschrieben werden kann" (Stock, Bestimmung 297). 4.1.2. Schon E. Brunner hatte die Anthropologie als den Ort namhaft gemacht, an dem die Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Glauben und den ihm widersprechenden Deutungen des Daseins zu geschehen hat. Weil nach Brunner der größte Dissens zwischen der sündigen Verblendung der Vernunft und der Offenbarung in der Lehre vom Menschen besteht (vgl. Brunner, Dogmatik 45), ist diese der Ort, an dem die Apologetik des Glaubens einzusetzen hat.

4.2. Die Vernunft wird aber auch zum internen Thema der theologischen Anthropologie, insofern diese sich nicht darauf beschränkt, ausschließlich die Signaturen der christlichen Existenz zu bedenken, sondern auch nach den auf Gottes schöpferischem Handeln beruhenden formal-anthropologischen Strukturen humaner Personalität fragt, sowohl als Möglichkeitsbedingung für eine Gott in der Sünde widersprechende und von Gott im Gesetz widersprochener Existenz als auch für eine durch Gott im Evangelium freigesprochene und diesem Freispruch im Glauben antwortende Existenz. Von hier aus bestimmt die Theologie die Vernunft als geschöpfliche Vernunft (4.2.1.), als die durch die Sünde beeinträchtigte Vernunft (4.2.2.) und schließlich als die durch Gottes Geist erleuchtete Vernunft (4.2.3.). 4.2.1. Insofern die Vernunft als geschöpfliche Vernunft sich dem schöpferischen Wirken Gottes verdankt, wird sie in der theologischen Anthropologie als Strukturmerkmal humaner Personalität zur Geltung gebracht. So verdankt sich die Vernunft nach O. Bayer der schöpferischen Anrede Gottes, durch die Gott den Menschen seine Schöpferherrlichkeit erkennen lassen will (vgl. Bayer, Schöpfung 20-24). Damit kann aber die Vernunft ihre Abhängigkeit und Endlichkeit nicht verleugnen (Bayer, Autorität 70). Auch E. Brunner begreift die Vernunft als Moment der formalen imago, die das Menschsein des Menschen ausmacht (Brunner, Natur). Allerdings wird auch darauf aufmerksam gemacht, daß die theologische Anthropologie damit keine hinreichende Beschreibung der im Glauben implizierten Sicht der humanen Personalität erreicht, weil auch die Wortmächtigkeit des Menschen (ebd.), seine Sprachfähigkeit (Bayer, Wort), das Gewissen (Ebeling; Honecker; s.o. 3.3.1. und 3.3.2.) zu den konstitutiven Merkmalen humaner Personalität gehören. Auch die affektive Bestimmtheit des menschlichen Daseins wird in den neueren Entwürfen wieder in den Blickpunkt der Erörterung der conditio humana gestellt (Pannenberg, Anthropologie [1983] 236ff; Stock, Grundlegung 31ff.).

Die kognitiven Anforderungen von -»Religion werden deutlich, wenn Akteure dabei sind, an religiösen Zeichensystemen (Texte, -»Kommunikation, Ritual [-»Ritus]) teilzuhaben, sie mitzugestalten, zu beurteilen und zu verändern (Rendtorff, Ethik I, 18ff.). Wie die Beteiligung an anderen Segmenten von Gesellschaft (Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur usw.) nimmt die religiöse Wirklichkeitsdeutung als kognitiver und emotionaler Prozeß für sich in Anspruch, daß sie auf verschiedene Ebenen des Personseins abhebt, auf die Bereitstellung von Aufmerksamkeit, die Strukturierung von Wahrnehmungen, die Ordnung von Erfahrungen, das Erinnern, Formen der Mitteilung und des Verstehens, der diskursiven und strategischen Einigung, der Planung und der Bewertung. Die Gegenüberstellung von Vernunft und Glaube bzw. Vernunft und Offenbarung erweist sich fundamentalanthropologisch als unzureichend, weil die Beschreibung der Konstitution von Wahrnehmung überhaupt erstens den Schein des Objektiven enthüllt (Fischer 115), dessen Anmaßung eine voreilige theologische Neuzeitkritik einem vermeintlich einheitlichen Vernunftdiskurs unterstellt, um ihn sogleich - in Gestalt von Barths Offenbarungsverständnis - theologisch zu legitimieren. Zweitens beruht auch das religiöse Ver-

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Vernunft III

stehen auf der Fähigkeit, das Übliche angesichts eines unverständlichen Neuen auf die Legitimität seines Unbefragtseins kognitiv und emotiv zu überprüfen. Die „ethische Wahrnehmung" (Harbeck-Pingel 57ff.) als Ausdruck einer Strukturierungsleistung von Akteuren setzt approximativ verstehbare Interpretationsrahmen voraus, deren Semantiken auf religiöses Material zurückgreifen, um die Strukturierung zu gewährleisten und sie in verschiedenen Beobachterpositionen kognitiv zugänglich zu machen. Die Verstehbarkeit bzw. die Mitteilbarkeit ist Kennzeichen von Religion als sozialer Form; daher wird Religiosität, als unzugängliche Alterität begriffen, entweder schlicht unverständlich sein oder ihre Unverfügbarkeit aus strategischen Gründen postulieren. Die divergierenden Ebenen von Gestaltung und Veränderung (Lange 367ff.) erfahren eine Erweiterung, wenn die Form des religiösen Austauschs durch alternative religiöse Deutungsmuster ergänzt wird, sei es durch Formen anderer empirischer Religionen, sei es durch Verknüpfung oder Vermischung von Deutungsverfahren. Es liegt auf der Hand, daß die Frage nach der Gültigkeit einzelner Deutungen oder Deutungsverfahren nicht auf der Ebene einer gemeinsamen Vernunft oder einer intuitiv erfaßten oder akzeptierten Logik beendet werden kann. Beispielsweise konkurrieren Textinterpretationsverfahren und Rituale, die sich auf religiöse Bilder beziehen, miteinander. Die soziokulturelle Plazierung dieser Zeichenprozesse läßt eine Sublimierung des Besonderen zum Zweck eines Austausches oder einer Verständigung nicht erwarten, weil die Logik der Handlung ihre je eigene Wahrheit besitzt. Dieser Umstand schließt Religionskritik nicht aus. Es wird jedoch deutlich, daß Ebenen des Vernunftgebrauchs für die Beschreibung von Religion einzufordern sind und nicht zum Zweck einer vereinheitlichenden Beschreibung eingezogen werden dürfen.

4.2.2. Hinsichtlich der Sünde fragt es sich, in welcher Weise die Sünde die zur geschöpflichen Natur des Menschen gehörende Vernunft beeinträchtigt. Insofern die Vernunft zur geschöpflichen Natur des Menschen gehört, ist die Bestimmung der Sünde als Veinunhgebrauch zu Recht keine ernsthaft diskutierte These im 20. Jh. Die Art und die Auswirkung der Sünde auf die Vernunft wird jedoch unterschiedlich beantwortet. Wird auf der einen Seite versucht, die sündhafte Entfremdung als bloße Verdunkelung der Vernunft zu verstehen, so wird auf der anderen Seite die Sünde als radikale Verkehrung der Vernunft zur Sprache gebracht. Nach Tillich ist unter den Bedingungen der sündhaften Entfremdung die Vernunft ihrer eigenen Tiefe nicht mehr gewahr, so daß diese sich nur noch im Kultus und Mythos Ausdruck verschafft (s.o. 2.2.2.2.). Damit ist die Vernunft nach Tillich auch unter den Bedingungen der Sünde nicht grundsätzlich verkehrt, vielmehr gilt: in der Tiefe ist Wahrheit. Demgegenüber wird von O. Bayer die Sünde als „blinde Vernunft" dem Glauben als der „sehenden Vernunft" gegenübergestellt (vgl. Bayer, Schöpfung 58f.). Unter den Bedingungen der sündhaften Entfremdung ist so in der Tiefe der Vernunft keine Wahrheit, sondern Unwahrheit und Lüge. In dieser Weise unterscheidet auch E. Herms zwischen Wahrheit und gespenstischem Trug als den beiden Grundmöglichkeiten, durch die die Vernunft bestimmt sein kann (vgl. Herms, Offenbarung 115).

4.2.3. Schließlich wird auch das Verhältnis des göttlichen Geistes zu der menschlichen Vernunft erörtert. Anders als im römisch-katholischen Zwei-Stufen-Schema wird das Wirken des Geistes nicht als Vervollkommnung der geschöpflichen Vernunft verstanden (s.o. 2.1.), sondern im Anschluß an Luthers Fundamentalunterscheidung von Glaube und Sünde als Bekehrung und Erleuchtung der Vernunft. Insofern die Vernunft zur geschöpflichen Personalität des Menschen gehört, muß diese gedacht werden als „offen ... für das Geschehen der Selbstmitteilung Gottes" (Stock, Grundlegung 32). Insofern der Geist gerade die Wahrheit des Vaters vom Kreuz erschließt und damit Glauben wirkt, kehren in der Verhältnisbestimmung von Geistwirken und Vernunft die Fragestellungen der Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft bzw. Offenbarung und Glaube wieder. Es zeigte sich bereits, daß sich nicht in allen theologischen Verhältnisbestimmungen die reformatorische Einsicht Geltung verschaffen konnte.

Vernunft III 5.

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Ausblick

5.1. Ethik Die Differenz von Mißlingen und Gelingen in bezug auf die Gottesbeziehung und deren Ausdruck in der Lebensführung erweist sich als ungenau gegenüber der kognitiven Lagerung von religiöser -»Erfahrung in ihrem lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Sie reduziert vielfältige Formen der Partizipation an sozialen Systemen und Situationen auf die kognitive und emotionale Bestimmtheit derjenigen Relation, die christlich-theologischer Auffassung zufolge die Konstitution, Kontinuität und gelingende Vollendung der endlichen Existenz anzeigt. Der binäre Code vereinfacht indes die möglicherweise kognitive Undurchsichtigkeit der Bestimmtheit der Gottesbeziehung. Denn die Unübersichtlichkeit der je eigenen Situation bezieht sich nicht allein auf die Grenzen des Verstehens von wirtschaftlichen Prozessen, Bildungschancen, Gesundheitszustand oder sozialer Anerkennung (die ja nur eine gespiegelte ist), sondern auch auf den Schein der Wahrheit, der jeder Situation anhaftet. Diese wird nicht als beklagenswert zu interpretieren sein, sondern als notwendigerweise unbestimmt, weil die Undurchsichtigkeit des Weltverhältnisses die eschatische Bedürftigkeit von Wahrheit überhaupt ersichtlich werden läßt. Insofern zeigt sich die Vernunft - theologisch gesprochen - in ihrer Bedeutung als vorläufig. Die Beschreibung der Lebensführung als mißlingend oder gelingend erfordert aktualisierbares Wissen über eine mögliche Verfaßtheit der Person in ihrer gelingenden Existenz; darin wird die kognitive Kompetenz religiöser Erfahrung ersichtlich. Mehr aber noch als die intersubjektive oder soziale Verständigung darüber werden Akteure Formen religiöser Kommunikation suchen, die das Verfaßtsein und die Bestimmtheit der Gottesbeziehung auf adäquate Weise, und damit lebensweltlich anschlußfähig wie emotional und kognitiv sichernd, zum Ausdruck bringen. Diese Formen sind der -»Gottesdienst und insbesondere das -»Gebet. Die Differenz zu Alltagsbezügen oder zu als irrelevant oder ideologisch erscheinenden Zielen wird dabei nicht als Fehlen von Sicherung überhaupt, sondern als emotionale und epistemische Sicherung derjenigen Verfaßtheit der Person benannt werden können, die sich im Glauben als Vertrauen, Wissen und Zustimmung äußert. Insofern es sich dabei um eine konstruierende Leistung von Personen handelt, werden auch kognitive Anteile des Prozesses deutlich. Auch unter den Bedingungen eines konsequenten Schweigens von Gott muß die mögliche Versprachlichung, z. B. anläßlich einer als bedrückend oder erfreulich erfahrenen Lebenssituation, als kognitive Kompetenz verstanden werden. Nicht also die einfache Differenz von Vernunft und Glaube, sondern die unweigerlich vernünftige Aneignung des Gelingens ist theologisch hervorzuheben. Die Aufwertung des Vernunftbegriffs wird theologisch möglich aufgrund seiner Depotenzierung durch den philosophischen Diskurs, der in Reaktion auf übertriebene Erwartungen hinsichtlich der Selbstbestimmtheit und Selbstmacht der Lebensführung als Gestaltung und Veränderung aufzufassen ist. Die emotionale und kognitive Zugänglichkeit von Welt überhaupt wird ethisch darum nicht in Maximalforderungen bezüglich Selbstkontrolle und Gestaltungsmacht ausgelegt werden, sondern die Praxis des Alternierens zwischen Gestalten und Hinnehmen sowie Einpassung und Veränderung beachten. Dazu gehört es auch, die kognitive Entwicklung von Kindern (-»Kind 5.) einzubeziehen, die Reduzierung und den Verlust vernünftigen Weltumgangs im Alter anzuerkennen sowie die Begrenzungen und spezifischen Formen von Vernunft zu berücksichtigen, die sich aus Behinderung oder psychischen Krankheiten (-»Krankheit) ergeben. 5.2.

Gotteslehre

Wie jede andere Kommunikation auch ist die Rede von Gott lebensweltlich der Erwartung ausgesetzt, vernünftig zu sein. Es versteht sich von selbst, daß zwischen der Plausibilität mit Blick auf konkrete Lebenssituationen und der wissenschaftlichen Ver-

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Vernunft III

tretung oder sonstigen diskursiven Mitteilungen zu unterscheiden ist, weswegen die Fokussierung der Wahrheitsfrage auf Probleme der Wissenschaftstheorie nur ein Teilgebiet des Redens von Gott betrifft. Für die Gotteslehre ist zunächst zu erörtern, wie Vernünftigkeit des Redens von Gott in ihren Möglichkeitsbedingungen gedacht werden muß: Zum einen wird dabei ein nicht-kognitivistisches Menschenbild vorausgesetzt, das die Vernunft als unverzichtbares, aber nicht vorrangiges Mittel zum Verstehen der Welt als Gottes Welt expliziert. Aus der Kognition ist demnach auch keine Vorrangstellung des Menschen im Verhältnis zu anderen Geschöpfen abzuleiten, da deren Sein vor Gott, nicht aber deren Selbsterfassung dieses Seins Kriterium dafür ist, sie als Geschöpf auszumachen. Die Bestimmung des Menschen als verantwortliches Geschöpf (-*'Verantwortung) nimmt demgegenüber komplexere Formen der Vernunft auf, da sie auf die Selbstreflexion gemäß einer vorgegebenen Erwartung im Horizont einer gelingenden Gottesbeziehung abhebt. Die Möglichkeit des Gelingens bzw. des Mißlingens wird als Zuschreibungsalternative wie auch die Antizipation (Pannenberg, Metaphysik 66ff.) der vollendeten Welt in den emotionalen und kognitiven Weltumgang insgesamt eingezeichnet. Die traditionellen Auswege der Verwendung von Gottesprädikaten (—»Gott) zur Vermeidung einer Identifizierung Gottes mit seiner Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung) berühren in ihrer Vagheit auch das Problem eines vernünftigen Zugangs zur Wirklichkeit Gottes. Da der Glaube als durch Gott ermöglicht und begleitet gedacht wird, erscheint in der Rede vom Heiligen -»Geist die Figur eines kognitiv verfügbaren und unverfügbaren Moments, das die Konstitution religiöser Erfahrung vom Vorwurf der Imagination, nicht aber von ihrer Strittigkeit entlastet. Die Wahrheitsfrage ist dabei von der Vernunft als Prozeß des Erscheinens von Wahrheit zu unterscheiden. Ob Gott Vernunft zugeschrieben werden muß, ist eine nachrangige Frage. Weitaus größere Bedeutung gewinnt aus der pneumatologischen Konstruktion der Gottesbeziehung das Problem, wie die Ansprechbarkeit des Menschen auf Gott mit der Anwesenheit und Abwesenheit Gottes zusammenzudenken ist. Die fragmentarische Erfassung der göttlichen Wirklichkeit (I Kor 13) führt weg von der praktischen Vernunft zur Aufgabe, Gott mittels kognitiver Prozesse darzustellen. Während der Gottesdienst darauf mit der Inszenierung des Außeralltäglichen als -»Ekstase, Wunderbares, Metaphorisches reagiert, bindet der theologische Diskurs - sei es in Wissenschaft oder lebenspraktischer Reflexion - um den Preis der Reduktion diese Redundanz zu Zwecken des Streits oder der Verständigung zurück. Literatur Karl Barth, KD, 1/1 1932; 1/2 1938; III/2 1948; IV/1 1953. - Ders., Christengemeinde u. Bürgergemeinde: ders., Rechtfertigung u. Recht - Christengemeinde u. Bürgergemeinde, 1970 41989 (ThSt[B] 104) 4 9 - 82. - Ders., Evangelium u. Gesetz: Gesetz u. Evangelium. Beitr. zur gegenwärtigen theol. Diskussion, hg. v. Ernst Kinder/Klaus Haendler, 1968 (WdF 142) 1 - 2 9 . - Hans M. Baumgartner, Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Phil, über sich selbst, Bonn 1991. - Oswald Bayer, Was ist das, Theol.? Eine Skizze, Stuttgart 1973. - Ders., Zugesagte Freiheit. Zur Grundlegung theol. Ethik, Gütersloh 1980. - Ders., Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986 '1990. - Ders., Autorität u. Kritik. Zur Hermeneutik u. Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991. - Ders., Leibliches Wort. Reformation u. Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. - Ders., Theol., 1994 (HST 1). - Ders., Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theol., Tübingen 1999. - Ders., Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Unter Mitarb. v. Benjamin Gleede/Ulrich Moustakas, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation u. Erfahrung, Abt. 2 [Unters.] 50). - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen. Entwurf einer prot.-theol. Ethik, Tübingen 1932. - Ders., Natur u. Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen 1934 21935. - Ders., Offenbarung u. Vernunft. Die Lehre v. der christl. Glaubenserkenntnis, Zürich 1941 Darmstadt 21961. - Ders., Dogmatik. II. Die christl. Lehre v. der Schöpfung u. der Erlösung, Zürich 1950 J1972. - Gerhard Ebeling, Theol. Erwägungen über das Gewissen: ders., Wort u. Glaube, Tübingen, I 1960 11962, 429-446. - Ders., Die Evidenz des Ethischen u. die Theol.: ebd. II 1969, 1 - 4 1 . - Ders., Die Krise des Ethischen u. die Theol. Erwiderung auf W. Pannenbergs Kritik: ebd. 42-55. - Ders., Dogmatik des christl. Glaubens. I. Prolegomena. Der Glaube an Gott, den Schöpfer

Vernunft III

15

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Bernd Harbeck-Pingel/Michael Roth

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Versöhnung I

Versöhnung I. Altes Testament II. Neues Testament III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch IV. Ethisch

S. 18 S. 22 S. 40

I. Altes Testament 1. Terminologie 2. Zwischenmenschliche Versöhnung in Erzählungen 4. Versöhnlichkeit Gottes (Literatur S. 17) liche Versöhnung im Recht

3. Zwischenmensch-

1. Terminologie „Versöhnen" und Ableitungen sind semantisch am nächsten mit kpr, Verb und Nomina, verwandt (-»Sühne). Im Alten Testament kommt Versöhnung aber auch ohne spezifische Terminologie zur Sprache, z.B. Gen 45; Ps 103,9 usw. 2. Zwischenmenschliche

Versöhnung in Erzählungen

Die -»Josephnovelle (Gen 37.39-45.50) hat als ein Hauptthema Bruderzwist und Versöhnung. Ebenso erzählt der Jakobszyklus Entzweiung und Versöhnung zwischen Brüdern (Gen 27.32f.) und Verwandten (Gen 31). Liest man die Josephsgeschichte als narrative Einheit, stellt sich die Versöhnung als von Gottes -»Vorsehung herbeigeführte Begegnung von Brüdern dar (Gen 42-44), die einem von ihnen ein todeswürdiges Unrecht zugefügt hatten (Ex 21,16). Joseph, der das Unrecht erlitten hatte, befand sich dabei in der überlegenen Machtposition, die ihm sofortige Rache erlaubt hätte. Statt dessen inszenierte er eine zweiphasige Strategie, in deren erstem Akt er die Brüder in dasselbe Entsetzen stürzte, in das sie ihn zuvor als ihr Opfer versetzt hatten (Gen 37.42), während er sie im zweiten der Bewährungsprobe unterwarf, sich eines beneideten und verhaßten Rivalen - diesmal sogar ohne Verbrechen - entledigen zu können (Gen 43f.). Erst nach bestandener Probe versöhnte sich Joseph mit seinen Brüdern (Gen 45.50). Narrativ ergeben sich daraus die wesentlichen Bedingungen aller Versöhnung: Versöhnlichkeit, d.h. Verzicht auf -»Rache oder -»Strafe auf Seiten dessen, dem ein Unrecht geschah, Einsicht in das verübte Unrecht und Bewährung („Umkehr", d.h. Verzicht auf Eliminierung des Nebenbuhlers) auf Seiten der Schuldigen. Solche gleichnishafte Konstruktion der Versöhnung als Versöhnlichkeit und als Reue und Bewährung ist ein Argument für literarische Einheitlichkeit der Josephsgeschichte. Versöhnlichkeit des Geschädigten ist Esaus Vorzug (Gen 33), während Jakob, um Vergebung bittend, mit Geschenken sein Unrecht wiedergutmachen bzw. kompensieren will (die Herden, die Jakob Esau gibt, sind Teil des Segens, den er ihm entwunden hatte, 32,21). In den Versöhnungen zwischen Brüdern, zwischen Laban und Jakob (Gen 31,24-32,1) und bei Isaak in Gerar (Gen 26,19-33) ermöglicht Gott die Versöhnung. Er verpflichtet dazu; Jakob, Laban und Isaak garantieren sie durch Schwur und -»Bund (b'rit). Prov 16,14 bezeugt für die -»Weisheit das gleiche Ethos der bei Mächtigen geschätzten Versöhnlichkeit, die auf Wut und Strafe verzichten. Prov 16,6 zeigt den Gesinnungswandel (Umkehr und Bewährung) als Bedingung der Versöhnung. Im Neuen Testament erzählt das Winzergleichnis Mk 12,1-9 par., wie Versöhnung an verweigertem Einlenken scheitert, obwohl die Sendung des Sohnes anstatt der Polizei Zeichen von Versöhnlichkeit war. 3. Zwischenmenschliche

Versöhnung im Recht

Das israelitische -»Recht ist ein Schlichtungs- und Kompositionsrecht, das Prozessen und Verurteilungen den Vergleich vorzieht, wie besonders die Sektionen Körperverletzungen und Depositenrecht im -»Bundesbuch (Ex 21,18-22,16) dartun. Terminologisch kann gütlicher Ausgleich anstatt Verurteilung von Schuldigen mit kpr bezeichnet werden (kofcer als für Schlichtung zu bezahlender Kompensationspreis, Ex 21,29). Vergleiche

Versöhnung I

17

befriedigen die Ansprüche beider Konfliktparteien wenigstens teilweise und hinterlassen keine Risse im sozialen Gewebe. Nur für Mord ist anders als in den meisten antiken Rechten kein Vergleich durch Kompensationsleistung erlaubt (Num 35,31 (•)• Das diesem Recht entsprechende Ethos ist Mäßigung der Ansprüche auf Vergeltung (Strafrecht) und Schadenersatz (Zivilrecht) im Interesse friedlichen Zusammenlebens in Familien und „in der Stadt", d.h. in kleinräumigen Gesellschaften, die auf gutes Einvernehmen ihrer Glieder vital angewiesen sind. Rachsucht ist gefährlich (Lev 19,17f., w o Versöhnlichkeit „Nächstenliebe" heißt!). Vergleiche bewirken Aussöhnung dank Rationalität, die Leidenschaften wie Wut, Groll usw. mäßigt. Versöhnlichkeit im Strafrecht führt zu bedingter Strafe, die zwar nicht in Rechtstexten, aber klar im Prinzip von Gottes Ahndung erst nach vier Generationen formuliert ist (Ex 20,6 par. Dtn 5,10; Ex 34,7), denn die Dauer der vier Generationen entspricht der Idee der Bewährungsfrist. 4. Versöhnlichkeit

Gottes

Der hohe Wert der Versöhnlichkeit und Großmut in Erzählungen, in der Weisheit und im Recht des Alten Testaments spiegelt sich im Attribut der Versöhnlichkeit Gottes, das terminologisch mannigfaltig gefaßt ist: Gen 8,21; Ex 34,8f.; Hos 11,8f.; Am 7,3.6; Mi 6 , 1 - 5 ; Jon 4,10f.; Jes 3 0 , 1 5 - 1 8 ; Jer 31,20; Ez 18,31f.; Ps 65,3f.; 86,5 usw. Sündenvergebung erscheint oft als Versöhnung zwischen Gott und Sündern, vgl. die kultische -•Sühne, deren Terminologie (kpr Verb, N o m e n nur Ex 2 9 , 1 1 - 1 6 ) derjenigen der zwischenmenschlichen Versöhnung entspricht (Gen 32,21; Prov 16,6.14). Literatur Allgemein: Gianni Barbiero, L'asino del nemico. Rinuncia alla Vendetta e amore del nemico nella legislazione dell'Antico Testamente (Es 23,4-5; Dt 22,1-4; Lv 19,17-18), 1991 (AnBib 128). - Gerhard Friedrich, Literaturnachtr.: ThWNT 10/2 (1979) 968. - Joze Krasovec, Reward, Punishment and Forgiveness. The Thinking and Beliefs of Ancient Israel in the Light of Greek and Modern Views, 1999 (VT.S 78). - Gerhard Sauter, Versöhnung als Thema der Theol., 1997 (ThB 92). - Adrian Schenker, Versöhnung u. Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im AT, 1981 (BiBe 15). - Ders., Versöhnung u. Widerstand. Bibeltheol. Unters, zum Strafen Gottes u. der Menschen, bes. im Lichte v. Exodus 21-22, 1990 (SBS 131). - Helmut Steindl, Genugtuung. Bibl. Versöhnungsdenken — eine Quelle f. Anselms Satisfaktionstheorie?, 1989 (SF NF 71). - Theo Sundermeier, Erlösung oder Versöhnung? Religionsgesch. Anstöße: EvTh 53 (1993) 124-146. Zu 1.: Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Stud. zur Sühnetheol. der P u. zur Wurzel KPR im Alten Orient u. im AT, 1982 22000 (WMANT 55). - Adrian Schenker, Köper et expiation: ders., Text u. Sinn im AT. Textgesch. u. bibeltheol. Stud., 1991 (OBO 103) 120-135. Zu 2.: Neben Kommentaren zu Gen, Ex, Prov: George W. Coats, From Canaan to Egypt. Structural and Theol. Context for the Joseph Story, 1976 (CBQ.MS 4). - Frank Crüsemann, Dominion, Guilt, and Reconciliation. The Contribution of the Jacob Narrative in Genesis to Political Ethics: Semeia 66 (1994) 67-77. - Herbert Donner, Die literarische Gestalt der atl. Josephsgesch., 1976 (SHAW.PH 2). - Jakob Horovitz, Die Josephserzählung, Frankfurt a.M. 1921. - Adrian Schenker, Gleichnis eines gescheiterten Vergleichs? Mk 12,1-9 par.: ders., Text u. Sinn im AT (s.o. zu 1.) 263 - 271. - Claus Westermann, Die Joseph-Erzählung (1. Buch Mose), 1977 (CPH 5) 11-118.

Zu 3.: Neben Kommentaren zu Ex: Pietro Bovati, Ristabilire la giustizia. Procedure, vocabolario, orientamenti, 1986 (AnBib 110). - Frank Crüsemann, Die Tora. Theol. u. Sozialgesch, des atl. Gesetzes, München 1991. - Cornelis Houtman, Das Bundesbuch. Ein Komm., 1997 (OMOA 24). - R. Walter L. Moberly, At the Mountain of God. Story and Theology in Exodus 32-34, 1983 (JSOT.SS 22). - Eckart Otto, Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftsgesch. des antiken Israel. Eine Rechtsgesch. des „Bundesbuches" Ex XX 22 - XXIII 13, 1988 (StB 3). - Ders., Theol. Ethik des AT, 1994 (ThW 3/2). - Ders., Gewaltvermeidung u. -Überwindung in Recht u. Religion Israels: ders., Kontinuum u. Proprium. Stud. zur Sozial- u. Rechtsgesch. des Alten Orients u. des AT, 1996 (OBC 8) 246-264. - Shalom M. Paul, Studies in the Book of Covenant in the Light of Cuneiform and Biblical Law, 1970 (VT.S 18). - Ralf Rothenbusch, Die kasuistische Rechtssammlung im „Bundesbuch" (Ex 21,2-11.18-22,16) u. ihr literarischer Kontext im Licht altorient. Parallelen, 2000 (AOAT 259). - Josef Scharbert, Formgesch. u. Exegese v. Ex 34,6 u. seiner Parallelen: Bib.

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Versöhnung II

38 (1959) 1 3 0 - 1 5 0 . - Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 2 0 , 2 2 - 23,33), 1999 (BZAW 188). Zu 4.: Thomas B. Dozeman, Inner-Biblical Interpretation of Yahweh's Gracious and Compassionate Character: J B L 108 (1989) 2 0 7 - 2 2 3 . - Jörg Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte atl. Gottesvorstellung, 1975 (BSt 65). - Hermann Spieckermann, „Barmherzig u. gnädig ist der Herr . . . " : Z A W 102 (1990) 1 - 1 8 .

Adrian Schenker

II. Neues Testament 1. Begriff und Terminologie 2. Paulus 3. Der Christushymnus Kol 1,15 - 2 0 und Epheserbrief 5. Theologische Relevanz (Literatur S. 21)

1. Begriff und

4. Kolosser-

Terminologie

Das im Kreuzestod -»Jesu Christi (-»Kreuz) beschlossene Heil wird von -»Paulus wie auch von den seiner Theologie verpflichteten Verfassern des —» Kolosser- und des -»Epheserbriefes in gewichtigen Aussagen als dem Menschen gewährte „Versöhnung" mit Gott beschrieben. Während Paulus dabei die Worte KaxaXXäaaeiv bzw. KaxaXXayfi verwendet (Rom 5,10f.; 11,15a; II Kor 5,18-20), erscheint in den beiden Deuteropaulinen das Bikompositum änoKaxaXXdaaeiv (Kol 1,22; Eph 2,16), das offensichtlich dem in Kol 1,15-20 zitierten Christushymnus (V. 20a) entlehnt ist. In dem Hymnus selbst bezieht sich das Verbum allerdings nicht auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (s. u. 3.); dem paulinischen KaxaXXäaaeiv entspricht hier vielmehr die Rede von der „Friedensstiftung" Gottes (eiptjvonoieTv Kol 1,20b). In allen genannten Zeugnissen sind die Aussagen über die Versöhnung fest mit dem Gedanken der in Christi Tod und Auferstehung vollzogenen Sühne verbunden (—»Sühne IV). 2. Paulus 2.1. Paulus, der die gesamte Menschheit aufgrund ihrer Gottlosigkeit dem Zorngericht Gottes verfallen weiß (Rom 1,18-3,20; -»Gericht Gottes), bezeichnet den gottlosen Menschen ausdrücklich als „Feind" Gottes (Rom 5,10), und er setzt voraus, daß die „Feindschaft gegen Gott" (Rom 8,7) vom Menschen her unaufhebbar ist. 2.2. Dem zentralen Sühne- und Versöhnungstext II Kor 5,14-21 zufolge hat Gott von sich aus den in Feindschaft gegen ihn verschlossenen sündigen Menschen mit sich selbst versöhnt und ihm die nur als Neuschöpfung (V. 17) zu begreifende -»Vergebung der Sünden gewährt. Diese Versöhnung gilt über die christliche Gemeinde hinaus in universaler Weite dem KÖa^ioq, d.h. der gesamten Menschenwelt (V. 18f.). Das Versöhnungshandeln selbst begreift Paulus als den differenzierten Zusammenhang von Tat und -»Wort Gottes. Im Christusgeschehen als der Versöhnungstaf hat Gott für die ganze gottfeindliche Menschenwelt die Versöhnung verwirklicht, indem er den sündlosen Jesus mit den Sündern identifizierte und ihnen durch sein Sterben und Auferstehen den Zugang zu sich selbst eröffnete (V. 18b.19a.21). Zugleich mit dieser Versöhnungstat hat Gott das Versöhnungswort „aufgerichtet": das Evangelium, das die apostolischen Zeugen durch die Selbsterschließung des auferstandenen Christus empfangen haben (V. 19b). In der Verkündigung dieses Wortes besteht der „Dienst der Versöhnung" (V. 18c), den die Botschafter Christi in Gottes Auftrag und somit in einzigartiger Vollmacht wahrnehmen (V. 20). Weil das gepredigte „Wort von der Versöhnung" Gottes eigenes Wort ist, deshalb erschließt Gott in ihm, was er im Christusgeschehen getan hat. Eben damit führt er selbst die Hinwendung des versöhnten Menschen zu seinem Versöhner wirksam — d. h. Erkenntnis und Glauben wirkend — herauf. Die in Jesu Tod und Auferstehung geschehene Versöhnungstat erweist darin ihre Kraft und Wirklichkeit, daß der Ruf „Laßt euch versöhnen mit Gott!" (V. 20) als göttlicher und somit schöpferischer Imperativ

Versöhnung II

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den Menschen dazu befreit, nicht länger unter der Macht der Sünde und damit als Gottes Feind, sondern unter der Herrschaft Jesu Christi im Stand des „Friedens mit G o t t " für Gott zu leben (vgl. Rom 5,1; 6,11). 2.3. Im Rahmen des Abschnitts Rom 5 , 1 - 1 1 spricht Paulus in parallelen Aussagen von der „-»Rechtfertigung" als dem den Sündern gewährten Freispruch (V. 9) und von der „Versöhnung" der Feinde Gottes mit Gott (V. 10). Die im Sühnetod Jesu Christi geschehene Rechtfertigung bzw. Versöhnung ist der Erweis der Liebe Gottes zu den Gottlosen (V. 6ff.) und als solcher, wie in den beiden Schlüssen a maiore ad minus V. 8f. und V. 10 ausdrücklich gesagt wird, ein Ereignis von eschatologischer Gültigkeit, das mit innerer Notwendigkeit die Rettung vor dem kommenden Zorngericht und die Gewährung des ewigen Lebens zur Folge hat. 2.4. Der Sinn des äußerst knapp formulierten Satzes Rom 11,15a ergibt sich aus dem Kontext der Kapitel Rom 9—11: Die von Gott gewollte Abweisung des Evangeliums durch -»Israel führt dazu, daß das Versöhnungswort zunächst an die Heiden weit ergeht, der so die ihr im Kreuzestod Jesu Christi gewährte Versöhnung erschlossen und zugeeignet wird. 2.5. Für den paulinischen Versöhnungsgedanken insgesamt ist konstitutiv, daß Gott selbst und er allein das Subjekt sowohl der Versöhnungstai wie auch des Versöhnungswortes ist. Die unter 2.2. notierten Bestimmungen implizieren dabei zwei negative Abgrenzungen: Die Versöhnungstat besteht nicht darin, daß Gott als der Feind des Sünders unter Aufgabe seines Zorns sich selbst mit dem Menschen versöhnt hat; und das Versöhnungst^ort ist keineswegs nur ein bloßer Appell an den Menschen, sich nun auch seinerseits mit dem versöhnungsbereiten Gott zu versöhnen. 2.6. Mit der Rede von der „Versöhnung" dürfte Paulus terminologisch an einen religiösen Sprachgebrauch anknüpfen, der ihm im antiken Judentum vorgegeben war. In sachlicher Hinsicht allerdings besteht kein Zusammenhang mit den Anschauungen des zeitgenössischen Judentums. Die jüdischen Texte sprechen durchweg davon, daß der zuvor zürnende Gott - insbesondere durch -»Gebet, -»Buße oder Fürbitte umgestimmt - sich selbst mit dem sündigen Menschen versöhnt bzw. sich mit ihm versöhnen läßt (s. etwa II Makk 1,5; 5,20; 7,33; 8,29; JosAs 11,18; LibAnt 12,4; 30,4; 49,2; Philo, VitMos 2,166; Josephus, Ant 3,315; 6,143.151; 7,153; Bell 5,415). Daß der paulinische Versöhnungsgedanke nicht einfach als eine Modifizierung dieser Sicht beurteilt werden kann, steht außer Frage. Keineswegs überzeugend ist auch die These, daß Paulus sich in seinen Versöhnungsaussagen der Diplomatensprache des hellenistischen und kaiserlichen Zeitalters bediene, um sich selbst als den „Gesandten" Gottes darzustellen, der in seiner Verkündigung das Versöhnungsangebot Gottes übermittelt und den Appell zur Annahme der im Christusgeschehen von Gott ermöglichten Versöhnung laut werden läßt (Breytenbach, Versöhnung; zur Kritik s. O.Hofius: T h L Z 115 [1990] 741-745). Der Xoyot; zrjc, KaxaXlayfjq ist kein „Versöhnungsangebot", und die SiaKOvia zfjq KaxaXXayrjQ besteht nicht in Verhandlungen, die mit dem Ziel der Annahme eines derartigen Angebotes geführt werden. 2.7. Z u dem paulinischen Versöhnungsgedanken läßt sich nur eine einzige sachliche Entsprechung namhaft machen: das alttestamentliche Zeugnis von dem Gott, der seinem in Sünde verlorenen und zur Umkehr gänzlich unfähigen Volk durch die Gewährung der Vergebung das Heil der Gottesgemeinschaft schenkt und ihm dieses Heil im prophetischen "Wort gültig und wirkmächtig zuspricht. Der differenzierte Zusammenhang von Versöhnungstat und Versöhnungs«/ort hat seine nächste Parallele in dem Nebenund Miteinander von Jes 52,13-53,12 und Jes 52,6-10. Was in diesen beiden Texten über die im Tod des Gottesknechts begründete und im Wort des Freudenboten (eoayyekiCöfievoQ) proklamierte upt]vr\ gesagt wird (Jes 53,5 LXX/Jes 52,7 LXX), ist

20

Versöhnung II

mit der paulinischen Rede von der „Versöhnung" durchaus sachgemäß auf den Begriff gebracht. 3. Der Christushymnus

Kol

1,15-20

In dem Christushymnus Kol 1,15-20 erscheint erstmals das vorher nicht belegte Bikompositum änoKaTakXäaaew (V. 20a), das hier die Bedeutung „wieder [miteinander] aussöhnen" = „wieder zu einer Einheit verbinden" hat und dabei nicht die Versöhnung mit Gott, sondern eine Versöhnung innerhalb der Schöpfung (—• Schöpfer/Schöpfung) bezeichnet. Die Aussage des V. 20 ist in der Exegese lebhaft umstritten. Am wahrscheinlichsten dürfte die Deutung sein, daß der Hymnus einen in der Sünde der Menschen begründeten Bruch zwischen der irdischen Welt und der himmlischen Welt der —»Engel voraussetzt. Im Christusgeschehen hat Gott selbst als der in Christus präsente Schöpfer (V. 19) die beiden zuvor getrennten Bereiche des Alls wieder zu einer Einheit zusammengeschlossen und sie für immer der Herrschaft des Auferstandenen unterstellt (V. 20a.c). Der Partizipialsatz „Frieden stiftend durch sein Kreuzesblut" (V. 20b) erläutert dies durch den Hinweis, daß Gott durch den Sühnetod Christi die ihm feindlichen Menschen mit sich selbst versöhnt hat. 4. Kolosser-

und

Epheserbrief

Der Verfasser des Kolosserbriefes und ihm folgend auch der des Epheserbriefes haben aus dem in Kol 1,15-20 zitierten Hymnus das Verbum anoKazakXÖLOOEiv übernommen, verwenden es jedoch im Sinne des paulinischen Kaxakkäaaew. In Aufnahme und Weiterführung der Versöhnungsaussagen des Apostels sprechen beide Verfasser von der Überwindung der gegen Gott gerichteten Feindschaft der Menschen. Der Verfasser des Kolosserbriefes wendet sich in direkter Anrede an seine heidenchristlichen Adressaten und weist sie auf das Wunder hin, daß Gott auch ihnen durch den Tod Christi die Versöhnung gewährt hat (1,21 f. [das Subjekt der Aussage dürfte nicht Christus, sondern von V. 19f. her Gott sein]). Der Epheserbrief erklärt im Kontext der Darlegungen von 2,11-22, daß Christus in seinem Sühnetod am Kreuz Juden wie Heiden mit Gott versöhnt und damit zugleich auch die zuvor zwischen beiden bestehende Trennung aufgehoben hat (Eph 2,16). Wird hier Christus selbst als das Subjekt der Versöhnung bezeichnet, so kommt darin jene Handlungseinheit zwischen Gott und dem Sohn Gottes zum Ausdruck, die auch bereits bei Paulus vorausgesetzt ist. Daß den Verfassern des Kolosserund des Epheserbriefs die paulinische Unterscheidung von Tat- und Wortaspekt der Versöhnung präsent war, zeigt der ausdrückliche Hinweis auf das Evangelium in Kol 1,23 bzw. Eph 2,17. 5. Theologische

Relevanz

Die paulinischen und nachpaulinischen Versöhnungsaussagen gehören ebenso wie der Gedanke der in Christi Tod und Auferstehung vollzogenen Sühne in das Zentrum der neutestamentlichen Christologie (-»Jesus Christus) und Soteriologie. Sie kennzeichnen das die ganze Menschheit umfassende Christusgeschehen als Tat der Liebe Gottes und des in der Seins- und Handlungseinheit mit dem Vater stehenden Sohnes Gottes (Rom 5,5.8; II Kor 5,14). Die theologische Rezeption der neutestamentlichen Versöhnungsaussagen hat vor allem zwei Einsichten festzuhalten: 1) Daß ausschließlich Gott bzw. Christus das Subjekt des Versöhnungsgeschehens und die Versöhnung für den Menschen mithin reines Widerfahrnis ist, gilt nicht nur für den Aspekt der Versöhnungstat, sondern in gleicher Weise auch für den Aspekt des VersöhnungsWortes. Das bedeutet: Das Christusgeschehen ist die von Gott vollzogene und verwirklichte Versöhnung der Sünder mit Gott, das verkündigte Evangelium die wirkmächtige Erschließung dieser Versöhnung durch Gott und der Glaube die durch das Wort Gottes gewirkte und zum dankbaren Leben für

21

V e r s ö h n u n g II

G o t t befreiende Erkenntnis der Versöhnung. D a s neutestamentliche Zeugnis wird desh a l b d o r t f u n d a m e n t a l verfehlt, w o m a n im C h r i s t u s g e s c h e h e n lediglich die v o n G o t t gewährte Ermöglichung der Versöhnung, im verkündigten Evangelium bloß das Angebot d e r V e r s ö h n u n g u n d a l l e r e r s t in d e m d i e V e r s ö h n u n g a n n e h m e n d e n G l a u b e n d i e V e r w i r k l i c h u n g der V e r s ö h n u n g erblickt. 2) Weil G o t t u n d Christus im Versöhnungsgescheh e n e i n s s i n d u n d d i e V e r s ö h n u n g s t a t d e r E r w e i s i h r e r L i e b e ist, d e s h a l b k a n n k e i n e R e d e d a v o n sein, d a ß C h r i s t u s d u r c h seinen T o d G o t t „ g n ä d i g g e s t i m m t und m i t d e r W e l t v e r s ö h n t h a t " ( s o b e r e i t s d i e s o g . Klementinische

Liturgie

ConstAp

VIII,12,31).

E i n e m s o l c h e n M i ß v e r s t ä n d n i s , d a s d a n n a u c h in B e k e n n t n i s t e x t e n u n d i m L i e d g u t d e r abendländischen Kirche begegnet, m u ß v o n d e m s o w o h l einhelligen wie a u c h eindeutigen neutestamentlichen Befund her nachdrücklich widersprochen

werden.

Literatur V g l . auch die Lit. im Art. - » S ü h n e IV. Weiterhin: T h W N T 1 0 / 2 (1979) 9 6 8 . - Bernd J a n o w s k i , Lit. zur Bibl. T h e o l . 1 9 8 2 - 1 9 8 5 : J B T h 1 (1986) 2 3 8 f. - D w i g h t R . D a n i e l s / B e r n d J a n o w s k i , Lit. zur B i b l . T h e o l . : J B T h 4 (1989) 3 4 3 f . R e i m u n d Bieringer, „ L a ß t euch mit G o t t v e r s ö h n e n " . Eine exegetische Unters, zu 2 K o r 5 , 1 4 - 2 1 in seinem K o n t e x t , Diss. Leuven 1986. - D e r s . / J a n L a m b r e c h t , Studies on 2 C o r i n t h i a n s , 1 9 9 4 ( B E T h L 112). - H e r m a n n Binder, Versöhnung als die g r o ß e Wende: T h Z 2 9 (1973) 3 0 5 - 3 1 2 . Cilliers B r e y t e n b a c h , Versöhnung. E i n e Stud, zur paulinischen Soteriologie, 1 9 8 9 ( W M A N T 6 0 ) . - D e r s . , Versöhnung, Stellvertretung u. Sühne. S e m a n t i s c h e u. traditionsgesch. 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22

Versöhnung III

H. Young, Reconciliation in Philo, Josephus and Paul: T o understand the Scriptures. FS William H. Shea, hg. v. David Merling, Berrien Springs, Mich. 1997, 233 - 2 4 4 .

Otfried Hofius

III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch 2. Versöhnung als Thema der Dogmatik 3. Systematische 1. Der Begriff der Versöhnung Konstellationen der Lehre von der Versöhnung in der Geschichte 4. Die Gegenwart und die Zukunft der Versöhnung (Quellen und Literatur S. 38)

1. Der Begriff der

Versöhnung

Der Begriff der Versöhnung meint die erneute gegenseitige Anerkennung nach einer Verweigerung derselben und einem dadurch eingetretenen Zerwürfnis. Versöhnung setzt daher Verzeihung voraus, also den Verzicht auf Wiedergutmachung, der über eine mögliche Rekompensation hinausgeht und sich zugleich von einer auch möglichen Vergeltung unterscheidet. Verzeihung aber ist von vornherein ein moralischer Begriff, in dem gewußt wird, daß -»-Schuld nicht „rückerstattet" werden kann - anders als Schulden. Dementsprechend kann Verzeihung nur von einem selbstbewußten Wesen gewährt werden, das sich aufgrund seines Selbstbewußtseins von dem (der Physik nachempfundenen) Gesetz des quantitativen Ausgleichs ebenso wie von einem (der Biologie entlehnten) Reiz-Reaktions-Schema zu unterscheiden weiß. Im Hintergrund dieser Unterscheidung liegt die Einsicht, daß weder die materiell-berechenbaren Tauschverhältnisse noch auch die moralisch-spontanen Anerkennungsverhältnisse als solche der konstitutive und damit letzte Auslegungshorizont selbstbewußten Lebens sind. Nur wenn eine personkonstitutive Dimension je eigenen Anerkanntseins (und daraus folgender Selbstanerkennung) gedacht wird, ist Verzeihung als Anerkennung erneuter Anerkennungsfähigkeit einer mir fremden oder feindlichen anderen Person möglich. Daraus folgt aber sogleich, daß Verzeihung in Versöhnung überzugehen sucht und sich erst in der wechselseitigen Anerkennung vollendet, durch die lebendige neue Interaktionen möglich werden. Aus dieser Argumentation läßt sich die Einsicht gewinnen, daß der entfaltete Begriff der Versöhnung der Sache nach vermöge der Unbedingtheit des eigenen und fremden Anerkanntseins, welches erneute gegenseitige Anerkennung ermöglicht, eine religiöse Dimension besitzt. Die Struktur dieses Begriffs der Versöhnung liegt auch da vor, wo der religiösen Dimension der Versöhnung eigens besondere Handlungen und Aufmerksamkeiten gewidmet werden, wie etwa im Vollzug des -»Opfers oder im Verständnis von -»Sühne. Aufgrund der konstitutiven religiösen Bedeutung von Versöhnung ist es einerseits nicht verwunderlich, daß der Ausdruck zu den Worten gehört, mit denen im Christentum das Heil (-»Heil und Erlösung) beschrieben wird. Andererseits aber hat „Versöhnung" im Christentum eine eigentümliche und mit anderen Religionen unvergleichliche Bestimmtheit und Ausdehnung erfahren, indem das Gottesverhältnis als Anerkennungsverhältnis verstanden wird, das gerade durch die Versöhnung nach eingetretener -»Sünde seine letzte theologische und anthropologische Tiefe erfahren hat. 2. Versöhnung 2.1. „Heil"

als Thema

und

der

Dogmatik

„Versöhnung"

In der Folge von -»Luthers Ubersetzung von R o m 5,10 und II Kor 5,18ff. rücken „Versöhnung" und „Sühne" eng zusammen. Darum führt eine etymologische Erschließung der deutschen Ausdrucksformen nicht zu einer hinreichend präzisen Begriffsbestimmung. Der Sachbezug der Redeweisen zeigt, daß mit „Versöhnung" das Zentrum des Heilsgeschehens im christlichen Sinne gemeint ist, die Neuordnung des Verhältnisses von - » G o t t und -»Mensch; und zwar sowohl dessen Gesamtprozeß als auch dessen zentrales Ereignis, der Tod -»Jesu Christi im Licht seiner Auferweckung (-»Auferstehung). Allerdings ist „Versöhnung" keineswegs der einzige Ausdruck für das soterio-

23

Versöhnung III

logische Geschehen. Neben ihm und seinen Derivaten stehen etwa „Heil" (oantjpia, salus: Rom 1,16), „Erlösung" (anoXinpcoauredemptio: Rom 3,24), „-»Rechtfertigung" (SiKaiovaOai, iustificatio: Rom 3,26) (vgl. zum systematischen Zusammenhang in vorzüglicher Dichte und Präzision -•Heil und Erlösung IV). Wie M. Seils dort bemerkt hat (TRE 14,624,4ff.), sind zu verschiedenen Zeiten der christlichen -»Verkündigung und Lehrbildung unterschiedliche Begriffe bevorzugt worden. Insbesondere haben sich dabei die Begriffe „Erlösung" und „Versöhnung" als Angelpunkte herausgestellt. 2.2. „Versöhnung"

und

„Erlösung"

Diese beide Grundworte christlichen Heilsverständnisses repräsentieren zwei begrifflich deutlich voneinander zu unterscheidende Vorstellungszusammenhänge oder Idealtypen (vgl. Baur 1 - 8 ) . Beide gehen zunächst von einem - mythisch als Sündenfall vorgestellten - Gegensatz von Gott und Mensch aus. Nach dem Muster der Erlösung kann der Mensch den Ausweg aus der Sklaverei der Sünde in die ihm als Gegenüber Gottes zugedachte Freiheit nur durch Gott allein erlangen. Die Menschwerdung und das Geschick Jesu Christi sind der Ort dieser Erlösung, in der sich der allmächtige Gott der unter der Sünde ohnmächtigen Menschen erbarmt. In diesem Gedankengang spielt die menschliche Existenz Jesu eine zentrale Rolle, aber Jesu Tod besitzt hier keine exklusive Heilsbedeutung. Vielmehr kann schon durch die Inkarnation des Gottessohnes das erlösende Heil dem Menschen zugewendet werden. Im Vorstellungszusammenhang der Versöhnung sind die Akzente anders gesetzt. Denn schon begrifflich setzt Versöhnung eine Beziehung voraus, die durch Schuld zerstört ist. Eine Wiederherstellung dieses Verhältnisses muß selbst den Ort des Zerwürfnisses in sich aufnehmen. Darum besitzt das Sprachfeld der Versöhnung eine besondere Affinität zum Tod Jesu als dem Zielpunkt seines Lebensgeschicks. Macht die Bildwelt der Erlösung von einer prinzipiell invarianten asymmetrischen Relation zwischen Gott und Mensch Gebrauch, die sich vor allem durch eine unermeßliche Differenz der Macht (und dann auch der Güte) auszeichnet, so arbeitet das Sprachmuster der Versöhnung zwar auch mit einer primären Asymmetrie, schreibt dieser aber das Verhältnis der Gegenseitigkeit der Anerkennung ein. Realisiert sich die Erlösung durch Machtspruch und Statusverwandlung, so setzt die Versöhnung auf neue Anerkennung und Einverständnis. Spiegelt sich in der Erlösung ein religiös konnotiertes Machtgefälle, so arbeitet die Versöhnung mit einem sozialen Vorstellungsmuster des Ausgleichs und der Gleichwertigkeit. In der Geschichte der christlichen Lehre haben sich lange Zeit Kombinationen von Erlösung und Versöhnung nahegelegt. Die unterschiedlichen Grundintentionen dieser beiden Konzeptionen sind erst spät erkannt worden. Darum ist die Geschichte der Versöhnungslehre ein Schlüssel zu ihrem dogmatischen Verständnis. 2.3. Die Geschichte

der Versöhnungslehre

als Weg zum dogmatischen

Begriff

Bei F. C. -»Baur wird in Die christliche Lehre von der Versöhnung im Anschluß an G.W.F. - » H e g e l der Versöhnungsbegriff im M e d i u m der D o g m e n g e s c h i c h t e zur Leitkategorie nicht nur des protestantischen Christentums, sondern der Religion überhaupt. Die Geschichte selbst führt zur Klarheit dieser Idee: v o n einem „Standpunkt der unmittelbaren Objektivität" in der Alten Kirche und im Mittelalter, der sich mit der Vorausgesetztheit des Heils beschäftigte, über den „Standpunkt der Subjektivität" seit der Reformation, der den Akzent auf der Aneignung des Heils setzte, zum „Standpunkt der durch die Subjektivität vermittelten Objektivität" (so Baurs Gliederung) in der N a c h folge I. -»Kants, der die göttliche und die menschliche Seite zur sachgemäßen Einheit führt. Die frühe urchristliche Vorstellung k o m m t also erst durch die Geschichte z u m Begriff ihrer selbst und zur möglichen allgemeinen Anerkennung. Diese Konstruktion des Versöhnungsbegriffs hat Baur häufig Kritik eingetragen, die ihrerseits meist ein substantielles Verständnis v o n Versöhnung voraussetzte — w o m i t sie das von Baur beschriebene Resultat der Geschichte jedoch nur unausgesprochen in Gebrauch nahm. Z u m Zentralbegriff wird die Versöhnung in der N e u z e i t darum, weil die damit unterstellte - » E n t f r e m d u n g als universell verbreitet und als tief innerlich verankert zugleich erfahren wird. N u r w e n n die Einheit des Göttlichen und Menschlichen erreicht wird, wenn also die Aneignung des Göttlichen durch den M e n s c h e n der Selbsthingabe Gottes für den M e n s c h e n entspricht, kann es in dieser Situation zur allgemeinen und gesellschaftlich wirksamen Versöhnung k o m m e n . D i e religiöse Anlage des Christentums über-

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Versöhnung III

schreitet sich damit ins Weltgeschichtliche hinein; das Christentum realisiert sich als Versöhnung. Im Begriff der Versöhnung stellt sich die unbedingte Zeitgenossenschaft der christlichen Religion und Theologie dar. Trotz der Kritik an seinem Lehrer Baur hat A. -•Ritsehl in seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung dessen Periodeneinteilung mit anderen Vorzeichen übernommen. Nach seinem Verständnis des christlichen Begriffs der Versöhnung „als Aufhebung des einseitigen oder gegenseitigen Widerspruchs zwischen göttlichem und menschlichem Willen" (Ritschl 2-3 1, 22) gehört die in physischen Kategorien sich auslegende Versöhnungslehre der Alten Kirche noch gar nicht zum engeren Bestand der Lehre. Auch die mittelalterliche Fassung erreicht die Stufe des -»Willens nicht, sondern bleibt in einer äußerlichen Gesetzförmigkeit stecken. Erst in der Neuzeit, seit der -»Reformation, kommt es zur religiös erforderlichen und gedanklich schlüssigen Deutung der Versöhnung, die göttlichen und menschlichen Willen zusammenbringt. Dies geschieht nun aber nicht im Modus einer allgemeinen Metaphysik des Göttlichen und Menschlichen (wie, in Hegels Spuren, bei Baur), sondern auf dem Feld des sittlich zu verantwortenden Lebens. Die ethische Zielsetzung der Willenseinigung hat dann Ritsehl auch dazu bewogen, die Versöhnung als Konsequenzgestalt der Rechtfertigung aufzufassen und diese (darin F.D.E. -*Schleiermacher folgend) als Darstellung und Vollendung des christlichen Heils aufzufassen. In Ritschis Konzeption spricht sich einerseits die Notwendigkeit aus, die religiöse Kraft der Versöhnung im Inneren der Menschen zur Geltung zu bringen; andererseits nimmt er doch wieder Abstand von der durch die Hegelschule auf den Weg gebrachten strukturell-weltgeschichtlichen Verallgemeinerung der Versöhnung. Sie kann nur noch als Leitlinie sittlichen Lebens auf religiösem Grund ausgelegt werden. G. -»Aulen hat gegen Ritschis religiös-moralische Auffassung der Versöhnung massiven Widerspruch eingelegt (Aulen, Haupttypen) und ihn einer Akkommodation an die Neuzeit geziehen. Dabei wendet sich sein Vorwurf freilich sogleich gegen sich selbst. Denn das Schema, nach dem ein urchristlich-klassischer (von Luther wiederaufgenommener), originär-kraftvoller, in den Begriffen von Kampf und Sieg geformter Typus gegenüber den beiden anderen Gestaltungen, einem lateinisch-legalistischen und einem neuzeitlich-moralistischen Typus, zu bevorzugen sei, verdankt sich sichtlich der Semantik einer Epoche, die Macht gegen Recht und Moral auszuspielen bereit war. Immerhin kann Aulens Typologie gelesen werden als Versuch, das Eigenrecht des Religiösen gegen sein Verschwinden in der ethischen Praxis zu betonen. Daß dies aber selbst nur polemisch gegen die Neuzeit vorgeführt werden kann, zeigt an, wie wenig dem Aufstieg der Versöhnung als theologische Leitkategorie seit 1830 das Vermögen entspricht, sie angesichts der sozialen Konflikte in den Modernisierungsprozessen der Neuzeit durchschlagend zur Geltung zu bringen. Auf diese Situation reagiert die Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit von G. Wenz. Wenz hat die Basis der neuzeitlichen Zentralstellung der Versöhnung exakt registriert (und damit Baurs Einsicht ratifiziert), wenn er „Subjektivität als Epochenindex der Neuzeit" herausstellt (Wenz I, 33ff.). Darauf hat sich eine gegenwärtige Versöhnungslehre aber so zu beziehen, daß sie, in ihrer religiösen Durchführung, eine Grundlegungsfunktion für das Bewußtsein übernimmt. Die Situation der gesellschaftlichen Unversöhntheit spiegelt sich im neuzeitlichen Bewußtsein; sie kann nicht allgemein-gesellschaftlich aufgehoben werden (Baur), sie kann sich weder auf sittliche Darstellung beschränken (Ritsehl) noch in antineuzeitlichem Rückzug religiös symbolisiert werden (Aulen). Versöhnung gehört in die Mitte des Diskurses über die Art und Weise, den Grund und die Auslegung menschlichen Lebens vor und mit Gott. Nur so läßt sich Versöhnung als zentrale Kategorie des christlichen Heils, als Ausdruck für das Wesen des Christentums, verantworten. Daß diese religiöse und theologische Verantwortung auch ethisch zu erfolgen hat, liegt in der Natur der Sache. Die scheinbare, in der politischen Rhetorik der Gegenwart

Versöhnung III

25

dominante „Verweltlichung" des Begriffs der Versöhnung ist demnach nicht als solche zu beklagen (Sauter, Versöhnung [1996]), sondern muß aus ihrem religiösen Sinn heraus verstanden werden. Die Karriere der Versöhnungslehre in der Neuzeit ist selbst Indiz eines Formwandels des Christentums, der noch nicht abgeschlossen ist. Von dieser systematischen Einsicht ist die folgende Darstellung geleitet. 3. Systematische

Konstellationen

3.1. Die neutestamentlichen Kirche

der Lehre von der Versöhnung in der

Ausgangsbedingungen

der Versöhnungslehre

Geschichte und die Alte

Vor dem Hintergrund der Verkündigung Jesu, die sich religiös artikuliert, aber auch politische Implikationen besitzt, legt sein öffentlicher Tod Deutungen nahe, die sich rechtlich-politischen und kultisch-religiösen Vorstellungszusammenhängen zugleich verdanken. Dabei tritt der eigentümliche Sachverhalt vor Augen, daß diese Deutungskategorien die Kritik Jesu an Tendenzen des zeitgenössischen Judentums und des imperialen Herrschaftsverständnisses Roms so aufnehmen, daß sie die Metaphoriken von „Opfer" und „Herrschaft" subversiv einvernehmen, umwenden und dann miteinander kombinieren. Ein klassisches Beispiel für diese Überkreuzung von Sprachmustern, mit deren Hilfe die umfassende und letztgültige Bedeutung von Jesu Leben und Sterben ausgesagt werden soll, stellt das semantische Feld KaxaXX&aaco KXX. dar. Seiner griechischen Herkunft nach einem politisch gefärbten Bedeutungsspektrum entstammend, in dem es um rechtlich verbindliche Ubereinkunft zwischen Zerstrittenen geht (Breytenbach, Versöhnung [1989]), lagert sich zugleich kultische Redeweise an, sofern ja auch der Vollzug des Opfers als Wiederherstellung der geordneten Gottesbeziehung eine Neubegründung sozialer Verhältnisse unter den Menschen mit sich bringt (Stuhlmacher; Hofius). Insbesondere die Transformation des jüdischen Opfergedankens im frühen Christentum, die - darin durchaus den Spuren der Predigt und des Verhaltens Jesu folgend - das Tempelopfer aufgrund der in Jesus sich ereignenden Gottesnähe überwindet, bringt den Zusammenhang von religiöser und sozialer Funktion ans Licht: Das „Opfer der Leiber" als „vernünftiger Gottesdienst" (Rom 12,1) stellt sich dar als Konstitution der Gemeinde in der Verbindung mit dem „ - » Abendmahl des H e r r n " (I Kor 11,20). Die Auslegung der Geschichte Jesu Christi ist der objektive Raum für die Symbolisierung der Rettung menschlichen Lebens durch Gott. Daß dabei das Erlösungsmodell die Vorstellung prägt, ist zweifelsfrei.

In welcher Weise dieses Grundmotiv aufgenommen, ausgedrückt und gedanklich begriffen wurde, das hängt von wechselnden Kontexten ab. An die Stelle einer durchgängigen Geschichte der Versöhnungslehre müßte daher eine Typik von Konstellationen treten, in denen dann die jeweilige Rolle des Ausdrucks „Versöhnung" zu analysieren wäre. Das ist der Idee nach bei B. Studer für die Alte Kirche durchgeführt. In der Alten Kirche wird die religiöse Bedeutung der Christusgeschichte wesentlich als Rettung menschlichen Lebens durch die Erlösung der menschlichen Natur verstanden. Allerdings bleibt die Rolle der Schuld für den Begriff der Sünde relativ unbestimmt (-»Sünde V). Die Zuordnung von gottmenschlicher Natur Christi und seinem Kreuzestod bildet die offene Flanke der altkirchlichen Soteriologie. In dieser Unbestimmtheit spiegelt sich das noch ungeklärte Verhältnis zwischen menschlichem Sein und menschlichem Handeln (und entsprechend göttlichem Sein und göttlicher Geschichte). Den Versuch, vom Sein her das Handeln zu verstehen, unternehmen vor allem die griechischen Traditionen der Alten Kirche, die damit auch das Verständnis der Versöhnung präjudizieren. Für —»Irenaus von Lyon wirkt die gottmenschliche Natur Christi die reconciliatio (haer. V, 14,1—4). —»Origenes kennt zwei unterschiedliche Argumentationslinien. Für die Starken kommt Christus in Betracht als der inkarnierte -»Logos, der sie auf seinem Weg durch die Welt den widergöttlichen -»Dämonen entreißt, sie mitnimmt und zu Gott führt. Für die Schwachen dagegen, die Psychiker, ist die Vorstellung nötig, daß sich der Logos so weit herabgelassen hat, daß er - um der Anschaulichkeit der Schwere der Sünde willen - den -»Tod als Zeichen dafür auf sich nimmt,

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daß nun die Macht der Dämonen und vor allem des -•Teufels zerstört ist. In diesem Zusammenhang macht Origenes von der schon früher bekannten Auffassung Gebrauch, daß der Tod Jesu notwendig gewesen sei, um auf sichtbare Weise das Recht des Teufels auf die sündige Menschheit zu brechen. An diese Vorstellung lagern sich andere Bilder an: vom Tod als Sühnopfer, als - » Stellvertretung, als Lösegeld sowie von Christus als Hoherpriester und Mittler (Cels. VII,17; vgl. Harnack I, 683f.; vgl. T R E 2 5 , 4 1 0 , 2 0 - 4 1 1 , 4 2 ) . Die Theologie im lateinischen Westen setzt seit dem Juristen —»Tertullian (bapt. V,20; pud. 9) und dem Kirchenführer -»Cyprian von Karthago (ep. 63) bei dem im Handeln zu verantwortenden Verhältnis der Menschen zu G o t t an. Hier gilt als erstes der Gedanke der Verpflichtung, die aber von den sündigen Menschen nicht eingehalten wird; darum können eigene Leistungen Gott gegenüber nicht genügen. Erst der Tod Christi stellt das Opfer dar, das den Zorn Gottes wirklich besänftigt und ein neues, positives Gehorsamsverhältnis schafft. Hier bildet der Tod Christi den Ausgangspunkt der Lehrbildung. Aufgrund des Verpflichtungsgedankens vermag diese Auffassung Sünde als Schuld zu erkennen. In diesem Zusammenhang k o m m t dann auch dem Opfergedanken eine neue und tragende Rolle zu. „Versöhnung" wird als „ S ü h n e " verstanden, die Christus dem Vater um der Menschen willen leistet. Dabei ist freilich die Frage der Heilszueignung, also die einsichtige Verbindung zwischen dem Tod Christi und dem Leben der Menschen, noch wenig ausgearbeitet; wesentlich und immer stärker wird das Meßopfer im -»Abendmahl zum zentralen Punkt der kirchlichen Heilsereignung (Harnack II, 1 7 9 - 1 8 4 ) . -»Augustin (conf. X , 6 8 f . ; trin. XIII,13) sammelt die ihm vorliegenden Traditionen, ohne sie freilich konsequent miteinander zu verbinden oder durch Neubildungen zu überwinden. Das hat damit zu tun, daß er den Gedanken der Versöhnung lediglich als Hintergrund braucht für die Frage nach der Bewältigung der Sünde als Schuld, die immer mehr ins Zentrum rückt. Für die Alte Kirche gilt also zusammenfassend, daß der Gedanke der Versöhnung weder rein gefaßt noch zentral verwendet wurde. Kritisch muß man überdies festhalten, daß die Rede von einem (wie immer beschränkten) Recht des Teufels auf die Menschen einen schwer beherrschbaren Dualismus in den gesamten Vorstellungskomplex einträgt, der es schließlich verhindert, Gottes Wesen, die Erscheinung Christi und das Heil der Menschen in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. 3.2.

Mittelalter

Der markante Unterschied der Satisfaktionslehre -»Anselms von Canterbury zu den älteren Gestalten der Versöhnungslehre besteht in der Einführung des Gedankens der Notwendigkeit in den Ablauf des Heilsgeschehens (Cur Deus homo 1,25; 11,17). Anselm entfaltet diesen Gedanken zunächst durch eine Verschärfung der Sündenvorstellung: Weil Gott alles vom Menschen fordert, kann für die noch so geringste Sünde gegen Gott nichts aufgeboten werden, was als Kompensation des Unrechts in Betracht käme. Weil aber durch die Sünde das Verpflichtungsverhältnis gegenüber Gott nicht aufgelöst wird, bleibt jeder Mensch, der sündigt, kompensationspflichtig, muß Satisfaktion leisten. Damit entsteht der Zwiespalt, daß der Mensch seine Sünde wiedergutmachen muß, aber genau das nicht vermag. Die zweite Argumentationslinie Anselms führt auf die Wiedererstattung durch den Tod des Gottmenschen, Jesus Christus. Der Mensch muß für die Sünde genugtun, ohne es zu können. Soll es eine Lösung dieser Aporie geben, dann muß ein Mensch gedacht werden, der mehr tut, als Gott fordern kann. Das kann nur ein Mensch sein, von dem gilt, daß er zugleich Gott ist; in ihm müssen der Fordernde und der Geforderte koexistieren. Nun steht aber das ganze Leben dieses Menschen wie das aller anderen unter dem reinen und ganzen Anspruch Gottes. Insofern ist auch durch ein sündloses Leben dieses Menschen noch keine Kompensation geleistet. Sie erfolgt allein durch das, was nicht mehr gefordert werden kann, nämlich die Selbsthingabe in den Tod als der Sünde Sold. Allein und nur der freiwillige Tod des Gottmenschen Jesus Christus also kann die Schuld der Sünde wiedergutmachen. (Insofern ist also gerade infolge des Satisfaktionsgedankens der Tod Jesu nicht von Gott gefordert.) Wenn aber der Gottmensch freiwillig stirbt, dann ist mit dieser einen Tat der Hingabe allerdings jede Schuld und Sünde kompensiert, denn sein Tod überwiegt alle Schuld aller Menschen.

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Die dritte Argumentationslinie Anselms befaßt sich mit der Frage, wie denn das vom Gottmenschen erworbene Heil der Kompensation für die Sünde den Sündern zugewendet wird. Hier ist die Begründung weitaus weniger klar. Sie läuft auf die rhetorische Frage hinaus, wozu denn das ganze Unternehmen der Wiedergutmachung geschehen sein soll, wenn nicht zu dem Zweck, seinen Effekt den betroffenen Menschen zukommen zu lassen. So tritt bei Anselm de facto das Institut der kirchlichen Heilsverwaltung in die Funktion der Zueignung der Versöhnung.

Mit diesem (dialogisch entwickelten) Gedankengang interpretiert Anselm das Verhältnis von Gott und Mensch als ein soziales Verantwortungsverhältnis in Begriffen des Rechts. Erst dadurch wird ein genaues Aufeinanderbezogensein von Gott und Mensch ohne naturalistische und mythologische Einsprengsel („Recht des Teufels") denkbar, das zu dem strengen Sündenbegriff führt. Erst dadurch wird auch die Bedeutung des Todes Jesu konsequent anders aussagbar als durch den Begriff des Opfers; die Selbsthingabe des Lebens als satisfactio Dei gehört nicht in einen kultischen, sondern einen rechtlichen Aussagezusammenhang. Die Stärken dieser Lehrbildung liegen einmal in der Einsicht in die Notwendigkeit des Todes des Gottmenschen - für Gott, sodann in dem Verständnis des unendlichen Wertes dieses Todes. Es ist erstens die Konstanz der Rechtsordnung selbst, die den Modus der Versöhnung im Tod Jesu verlangt. Und es wird zweitens eingesehen, warum — im Unterschied zu dem im Leben geübten Gehorsam Jesu - gerade sein Tod als der Verzicht aufs Leben dasjenige Geschehen ist, das alle Sünde und Schuld überwiegt. Uber den Gedanken der Notwendigkeit des Todes für Gott hat Anselm das Gottsein Gottes mit dem Tod Jesu verknüpft — dafür steht der Gedanke des Rechts als Ausdruck einer das Gottsein Gottes zum Ausdruck bringenden Weltordnung. Die Kritik an Anselms Satisfaktionslehre ist vielfältig gewesen. Vor allem hat sie sich auf das Rechtsverhältnis bezogen, durch das sich Gott der Welt verbunden weiß und das er scheinbar nicht zu ändern willens oder in der Lage ist. Diese Kritik geht, wie neuere Forschungen zeigen (Kessler; Greshake; Steindl; Plasger), in die Irre. Gott ist nicht als unendlich mächtiger, aber auch willkürlicher Privatmann gedacht, sondern das Rechtsverhältnis Gottes zum Menschen ist ein öffentliches und weltumspannendes, also nicht beliebig zu veränderndes. Allerdings führt gerade diese Rechtfertigung Anselms auf die Forderung einer Erhöhung der Schlüssigkeit seiner Konzeption. Denn es stellt sich die Frage, wie das Verhältnis Gottes zu der Rechtsordnung gedacht wird, die den Gedankengang leitet. Ist Gott selbst noch einmal unabhängig davon zu denken? Dann trifft der Einwand einer höheren Willkür dennoch zu. Oder ist diese Rechtsordnung mit seinem Gottsein selbst verbunden? Dann muß ihre Zugehörigkeit zum inneren Leben Gottes weiter begründet werden, dann muß die durch die Figur des Rechts gedachte Notwendigkeit des Todes des Gottmenschen als Notwendigkeit für Gott selbst expliziert werden. Es stellt sich auf der anderen Seite die Frage, ob der unendliche Wert des Todes Jesu nicht noch strenger an das Menschsein des Menschen gebunden werden muß. Die Vermittlung des Effekts seines Todes durch die Kirche erscheint als eine unzulässige Einschränkung. Der Einspruch des Petrus Abaelard gegen Anselm (Exposit. ep. Rom. c. 3,5; Sermo V.X.XII) nimmt die nicht zu Ende geführten Konsequenzen Anselms als Ausgangspunkte eines Gegenentwurfs. Zum einen verwendet er die nicht vollständige Verbindung zwischen Gott selbst und der Rechtsordnung als Argument dafür, Gott nach dem Modell eines verständigen Menschen vorzustellen, der aus Güte, jenseits der Rechtsansprüche, zu vergeben in der Lage ist. Jesus wird dann das humane Vorbild für die Weise, wie die Güte Gottes das menschliche Leben zurechtbringt; der Tod Jesu ist als Letztgestalt dieser Güte im Horizont seines Lebens zu sehen. Entsprechend gilt für die Aneignung der Versöhnung, daß sie im sittlich-religiösen Leben der Menschen erfolgt - in dem Maße, wie sich im eigenen Reden und Handeln das göttliche Vorbild Jesu durchsetzt. Die Kontroverse zwischen Anselm und Abaelard ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal zeigt sich in ihr als Gemeinsamkeit, daß die Kategorie der Versöhnung

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mit ihren sozialen Vorstellungskontexten ins Zentrum rückt, ohne freilich bereits gegenüber einem Erlösungsmodell abgegrenzt zu werden. Hier könnte die Verinnerlichung des Büßwesens (-»Buße) seit der Jahrtausendwende ihre Spuren in der Christologie und Versöhnungslehre hinterlassen haben. Sodann aber präfiguriert die Auseinandersetzung des hohen Mittelalters eine spätere systematische Alternative, die nur vordergründig als Streit um die Priorität von Sittlichkeit oder Recht verstanden wird. Es geht nämlich um die Frage, ob Gott wesentlich als (Begründer und) Restaurator menschlicher Sittlichkeit in Betracht kommt (Abaelard) - oder ob er als grundlegend für menschliche Subjektivität überhaupt gedacht werden muß, die allein in der Gottesgegenwart ihre Begründung und Erfüllung findet (Anselm). Anselms Begriff der satisfactio ist in der späteren Lehrbildung des Mittelalters aufgenommen, aber, wie auch danach, durchaus mit Vorstellungen aus dem Metaphernfeld „Opfer" verbunden worden. Vor allem hat Anselms entscheidende These von der (göttlichen) Notwendigkeit des Todes Jesu keinen Widerhall gefunden. Statt dessen hat man die abstrakte Überlegenheit Gottes (die Anselm ja durchaus auch kennt, aber nicht nutzt) festgehalten und den Modus der Versöhnung im Tod Jesu mehr oder minder inkonsequent festgehalten (Gottschick). Diese Inkonsequenz ist, wie bei Anselm selbst, deshalb um so leichter zu ertragen, als die Heilsübermittlung in der Kirche durch die Sakramente nicht in Frage gestellt ist. 3.3. Reformation

und frühe

Neuzeit

Die Eigentümlichkeit der Reformation als entscheidende Übergangsperiode der Versöhnungslehre erschließt sich nur, wenn man der Betrachtung die Umstellung im Heilsverständnis zugrunde legt. Beim frühen Luther geht es um eine Neubestimmung des menschlichen Gottesverhältnisses im Ausgang von einer vertieften Bußlehre. Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist danach als ein elementarer Zwiespalt zu verstehen, der durch die existential-hermeneutischen Kategorien -»Gesetz und Evangelium beschrieben wird. Mit Gesetz ist dabei ein solches Beziehungsmuster von Gott und Mensch gemeint, aufgrund dessen der Mensch sich durch seine primäre Beziehung auf sich selbst im Handeln bestimmt, dadurch aber in einen unaufhebbaren Gegensatz zu Gottes Schöpfersein gerät, dessen Maßgeblichkeit für das allem Handeln zugrundeliegende Selbstsein damit negiert und dessen Anerkennung als Gott damit verweigert wird. Das Evangelium dagegen ist die von Gott angebotene Verzeihung dieser verweigerten Anerkennung, die im geistgewirkten Glauben als unmittelbarem Gottesverhältnis (d.h. als wahrer Gottesgewißheit) zu ihrem Ziel kommt. Weil mittels der Kategorien Gesetz und Evangelium ein im Medium des Rechts und der Forderung vorgestelltes Gottesverhältnis durch ein Gottesverhältnis intersubjektiver Unmittelbarkeit abgelöst wird, kann der zentrale Vorgang treffend mit dem Begriff der Versöhnung bezeichnet werden. Damit wird einerseits klar, daß und inwiefern Gottes -*• Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit der Menschen im Verhältnis gegenseitiger Anerkennung im Modus der Versöhnung koexistieren; andererseits, daß und warum es gerade der —»Glaube ist, in dem sich die Versöhnung realisiert: Glaube ist nichts anderes als die unverstellte Anerkennung dessen, der die Verzeihung gewährt. Dieses dynamische Verständnis von Versöhnung, das durch die Sprache des Gesetzes und die Sprache des Evangeliums am Ort des Menschseins identifizierbar wird, verlangt nun freilich einige Erläuterungen, wie es auch eine Reihe von Problemen in sich trägt. Das reformatorische Modell Luthers, nach dem Gott im Akt der Versöhnung, welcher sich im Glauben darstellt, und in den Formen seiner Vergegenwärtigung (Verkündigung und Sakramente) selbst präsent ist, muß allen Wert darauf legen, daß der Übergang von der Sünde (dem Sein unter dem Gesetz) zur Gerechtigkeit (dem Sein unter dem Evangelium) eindeutig und gewiß ist. Dieser Gewinn des Heils als Versöhnung darf folglich nicht bloß subjektiv produziert, er muß objektiv begründet sein. Die Christologie, die im Medium der dogmatischen Tradition von dieser Objektivität anhand der

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Person Jesu Christi redet, ist insofern die Voraussetzung der Versöhnungslehre, insbesondere die Deutung des Todes Jesu im Licht seiner Auferweckung. Auf der anderen Seite aber sind die Vorstellungen, unter denen die Person Jesu Christi beschrieben und verstanden wird, von vornherein auf ihren Zweck, den Gewinn der Heilsgewißheit der Menschen, bezogen. Dieser doppelte Umstand ist in Rechnung zu stellen, wenn man sich die Aneignung und Modifikation der herkömmlichen Aussageformen der Christologie und Versöhnungslehre bei Luther vor Augen führt. Dann erscheint nämlich die große Variationsbreite dieses Umgangs mit den traditionellen Vorgaben als ebensowenig überraschend wie die mangelnde gedankliche Kohärenz der aufgenommenen Bilder untereinander. Luther kann sich durchaus des Satisfaktionsgedankens bedienen; er kennt auch das Bild vom duellum mirabile zwischen Gott und Teufel - ohne sich der damit jeweils vorgegebenen Logik zu überlassen. Vor allem aber wird nur aus dieser Perspektive die Fülle an originellen Aussagen Luthers selbst verständlich, mit denen er über die hergebrachten Schemata hinauszugehen vermag. Dazu zählt vor allem der „Tausch der Person" zwischen Christus und den Gläubigen, etwa in De libertate cbristiana (1520, WA 7,12-38) und in der GalaterbriefVorlesung (1531/35, WA 40/1).

Allerdings verbindet sich mit dieser Verknüpfung von anschaulichen Bildern und unanschaulicher Absicht auch ein nicht geringes Problem, das auf die Schwierigkeit zurückführt, Evangeliumsoffenbarung und Gottes Selbstsein zu vereinbaren. Die Gewißheit des Heils bindet sich einerseits an die völlige Präsenz Gottes in der Gestalt Jesu von Nazareth; nur wenn Gott selbst hier zu finden ist, teilt sich seine Verzeihung als eine seine eigene Identität betreffende uns Menschen mit. Auf der anderen Seite aber muß doch Gott auch als Urheber des Gesetzes — und als Richter nach dem Gesetz gedacht werden, wenn anders das Gesetz in eine — vermittelte - Konfrontation mit Gott führt. Dieser Zwiespalt bestimmt zwei markante Lehrbildungen der Theologie Luthers: seine Christologie einerseits, die auf das Menschsein Jesu als Ort des Göttlichen alles Gewicht legt, seine Lehre von der Verborgenheit Gottes (und der damit zusammenhängenden -»Prädestination) andererseits. Beide Vorstellungsreihen sind nicht miteinander ausgeglichen; vor allem die Lehre von der Prädestination hat sich als Einfallstor eines „abstrakten" Gottesbegriffes erwiesen (anders: Beiner). Allerdings hat Luther selbst im seelsorgerlichen und theologisch-rhetorischen Umgang ein durchaus differenziertes und sachgemäßes, dem Zweck des Gewinns der Heilsgewißheit entsprechendes Verfahren an den Tag gelegt. Ph. —»Melanchthon hat die zu Widersprüchen führende Lehre Luthers rational geglättet. Er ordnet die göttliche Rechtfertigung des Sünders Gottes freisprechendem Wort zu, hinter dem die benevolentia Dei erga nos steht — eine reine, freie, verzeihende Willensregung. Auf die Frage, woher dieser Wille motiviert ist, antwortet Melanchthon mit der Anselmischen Theorie: es ist das Satisfaktionswerk Christi gewesen, das Gott zur Verzeihung bewegt hat (CA IV; vgl. ApolCA IV,53). Damit ist einerseits der forensisch-kommunikative Charakter der Versöhnung festgehalten und unterstrichen, andererseits freilich ist die Verbindung zwischen dem Werk Christi und dem Willen Gottes ganz in die Unbestimmtheit des Willens Gottes gelegt; der von Anselm auf den Weg gebrachte Gedanke der Notwendigkeit der Versöhnung kann so gerade nicht aufrechterhalten werden. Zur anderen Seite hin hat A. —»Oslander (Baur 316-331) die Komplexion Luthers aufgelöst, indem er die ganze Kraft des Göttlichen mit Jesus verbindet, um so nicht nur zu einer Gerechtsprechung durch Gott propter Christum, sondern zu einer effizienten Gerechtmachung des Menschen durch die Einwohnung in ihm zu kommen. Allerdings wird dadurch wiederum die Spannung der Differenz getilgt, in die das Gesetz Gott und Mensch zueinander setzte, und am Ende erscheint die Einwohnung der göttlichen Gerechtigkeit und nicht die Vergebung der Sünden als das für den Menschen zentrale Ereignis des Heils. J. -»Calvins Versöhnungslehre findet sich konstruktiv in seine Christologie eingelagert. Er bemüht sich darum, die für das Heil unerläßliche Gewißheit der Gottesgegenwart

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in Christus selbst mit der zeitlichen Erstreckung des Heils durch die Entwicklung der Lehre von den drei Ämtern zu verbinden. Dem prophetischen Amt des irdischen Jesus folgt, als Verdichtung und Inbegriff seiner Existenz, das priesterliche Amt nach, in dem er sich selbst dahingibt, um sodann aufgrund des ihm dadurch zukommenden königlichen Amtes seine gegenwärtige Herrschaft auszuüben. Diese der verlaufsförmigen Betrachtung offene Sichtweise wird jedoch am Punkt der erfolgreichen Heilszueignung durch den Prädestinationsgedanken, der auf eine unerfaßliche Herrschersubjektivität Gottes hinausläuft, überschattet. Auch bei Calvin liegt ein abstrakter Gottesgedanke mit der als Versöhnung verstandenen Offenbarung in Christus im Widerstreit (McCormack). Die in diesem Kontext aufscheinenden Probleme der reformatorischen Lehrbildung fußen alle gemeinsam auf der Einsicht, daß es bei der Versöhnung um eine solche subjektive Aneignung des Heils gehen muß, die den Menschen unmittelbar Gott gegenüber stellt. Die vermittelnden Größen sowohl einer umfassenden göttlichen Rechtsordnung einerseits als auch einer individualisierenden kirchlichen Heilszueignung andererseits fallen aus. In diesem Zusammenhang kommt einer zuerst in der —• Konkordienformel von 1577 greifbaren, scheinbar geringfügigen Veränderung der lutherischen Versöhnungslehre eine eigentümlich weitreichende und aufschlußkräftige Bedeutung zu: der Einfügung des Gedankens, daß Gott die menschliche Sünde nicht allein um willen des leidenden, sondern mit ihm zusammen auch des tätigen Gehorsams Christi vergibt (FC SD III, 15f.: BSLK 919; vgl. Baur 2 9 7 - 3 1 6 ) . Damit wird einerseits das Augenmerk abgelenkt von dem isoliert vorgestellten Tod Christi als satisfaktorischem Werk; an dessen Stelle tritt die Einheit der Lebensgeschichte Jesu mit dem Tod als deren Ende. Auf der anderen Seite aber bekommt der im Leben Jesu betätigte aktive Gehorsam, der nichts anderes ist als die vollständige Erfüllung des Gesetzes, gerade aufgrund der Einheit des Lebens Jesu Anteil an dem stellvertretenden Charakter seiner Existenz überhaupt. Damit aber eröffnet sich folgende schlechte Alternative: Entweder ist der aktive Gehorsam Jesu auch schon die Erfüllung des Gesetzes an unserer Statt, so daß uns Menschen die Möglichkeit eigenaktiven Handelns auf dem Boden der Versöhnung versagt ist - oder aber der aktive Gehorsam Jesu ist das Muster und Vorbild unseres Handelns, dann ist aber auch die Versöhnung durch seinen Tod nur ein Handlungsimpuls, dem erst durch unser eigenes Handeln vollendete Realität zukommt. Die prinzipielle Ausschaltung von versöhnten Menschen als Handelnde oder die tendenzielle Zurücknahme der Vollständigkeit der Versöhnung: das sind die beiden desaströsen Folgen des Versuches, die Geltung der Versöhnung für die Menschen über den Gedanken eines aktiven Gehorsams Jesu Christi zum Zuge zu bringen. Im Grunde rückt damit der Mensch Jesus in die Rolle des Heilsvermittlers ein, und das göttliche Gegenüber verschwindet. Diese Lehrbildung, um die in der altprotestantischen -»Orthodoxie gestritten wurde, die sich aber mehrheitlich durchsetzen konnte, ist darum so aufschlußreich, weil sie von orthodoxer Seite genau dasselbe Anliegen aufnimmt, das auch aus den harten Kritikern der Versöhnungslehre spricht: die Wahrung der sittlichen -»Autonomie des Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Diese Position dokumentiert sich am klarsten und am eindrücklichsten bei F. ->Sozzini, für den es - darin stoische Elemente aufgreifend - das moralische Selbstbewußtsein des Menschen ist, das allein als Ort seiner Gottesbeziehung in Frage kommt. Aus dieser Perspektive ergibt sich nicht nur eine Kritik am trinitarischen Dogma als widersprüchliche Vermenschlichung Gottes; auch die kirchliche Versöhnungslehre gerät ins Visier {De Jesu Christo Servatore). Zunächst wird in rationalistischer Argumentation der Gegensatz von Gerechtigkeit und -»Barmherzigkeit in Gott selbst als unüberwindlich erklärt. Muß Gott notwendig gerecht sein, so unterliegt er einer von ihm selbst gesetzten Beschränkung. Ist er aber barmherzig, dann kann er die Sünde aus reiner Großmut erlassen. Das heißt: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind höchste Ausflüsse von Gottes unendlichem, aber auch unbestimmtem Willen. Dieser Widerspruch in der Vorstellung

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von Gott pflanzt sich fort in die Unbrauchbarkeit des Satisfaktionsgedankens im objektiven Sinn und in die Unschlüssigkeit des Imputationsgedankens im subjektiven Verstände. Weder können Satisfaktion und Sündenerlaß miteinander bestehen (entweder —»•Strafe oder Verzeihung, nicht beides zugleich), noch können der aktive oder der passive Gehorsam Jesu - nicht je für sich und auch nicht gemeinsam - als Ersatz für irgend etwas in Betracht kommen. Genauso wenig kann das Verhältnis der als objektiv geschehen vorgestellten Versöhnung zur subjektiven Aneignung befriedigend geklärt werden: Entweder ist die Versöhnung unabhängig vom Menschen wirklich (dann bedarf es aber weder des Glaubens noch auch einer sittlichen Aktivität) oder sie bedarf des Glaubens, dann ist sie nicht objektiv und unabhängig. Alles läuft darum - das ist die positive Seite der sozinianischen Lehre - darauf hinaus, das sittliche Selbstbewußtsein in seiner Spontaneität als Grundlage festzuhalten; Versöhnung mit Gott heißt dann, daß der Mensch aus seinem freien Willen heraus der Sünde entsagt und sich entsprechend verhält. Als Muster und Vorbild dieses Verhaltens — bis zur Konsequenz des Todes kommt dann freilich durchaus Jesus in Betracht; es kann ihm dafür auch das symbolische Prädikat der Göttlichkeit beigelegt werden. In dieser sozinianischen Konzeption bündeln sich antike Impulse und reformatorisch gestärktes frühneuzeitliches Selbstbewußtsein. Sie ist als Prüfstein der theologischen Theorien über die Versöhnung von unschätzbarem Wert, weil sie deren Unschlüssigkeit unnachgiebig aufdeckt. Wenn denn der Gedanke einer reinen schöpferischen Souveränität Gottes mit dem Gedanken geschaffener Subjektivität verbunden werden soll, dann kann das nicht nach dem Verfahren eines willkürlichen und äußerlichen Erwerbs der Sündenvergebung und einer nachträglichen und zufälligen Zurechnung derselben vorgestellt werden. Entweder ist der reformatorische Impuls nichts anderes als eine neue Gestalt der alten Selbständigkeitsbehauptung menschlichen Seins unter veränderten Bedingungen (dann muß er sich von seinen religiösen Entstehungsbedingungen auch wieder losmachen) - oder es muß die Lehre von der Versöhnung vertieft werden zu einer Sichtweise, nach der die Versöhnung ein entscheidendes Moment im Leben sowohl Gottes als der Menschen ausmacht (so daß auf die Äußerlichkeit des Erwerbs der Sündenvergebung und die Nachrangigkeit ihrer Zueignung verzichtet werden kann). Diese Alternative prägt in unterschiedlichen Konstellationen das Verständnis von Versöhnung bis in die -»Aufklärung hinein. 3.4. Aufklärung

und

Idealismus

Die vermeintliche Alternative zwischen der kirchlichen Lehre und der rationalen Kritik ist unvollständig. Denn auch die orthodox protestantische Auffassung will die Selbständigkeit bewußten Lebens keineswegs ausschließen. Dementsprechend verdanken sich auch die Uberwindungsversuche dieses ungleichgewichtigen Gegensatzes der Identität des subjektiven Prinzips. Das gilt sowohl für rationale Verteidiger der kirchlichen Lehre als auch für fromme Bestreiter derselben. H. -»-Grotius hat in der Defensio fidei catbolicae der orthodoxen Lehre zur Hilfe kommen wollen durch den Hinweis darauf, daß es sich bei Gott nicht um einen Privatmann handle, der beliebig verzeihen könne, weil es nur um seine eigenen Angelegenheiten gehe, sondern um den Garanten der Rechtsordnung selbst, die gewahrt werden müsse. Ist darum Strafe für Schuld unerläßlich, so muß der Tod Jesu — angesichts seiner eigenen Sündlosigkeit - nicht so sehr auf ein willkürliches göttliches Strafmaß, sondern auf den Bestand des Rechts überhaupt bezogen werden. Er stellt die Strafe dar, angesichts derer Menschen vor zukünftiger Sünde zurückschrecken sollen. Es ist klar, daß damit auch wieder ein rechtlich-moralischer Besserungszweck dem Ganzen unterlegt ist. J. G. Toellner (1724—1774) hat in seinem Werk Die Leiden des Erlösers aus der inneren Konsequenz der Subjektivität heraus die Lehre vom aktiven Gehorsam Christi bestritten. Wo Christus als handelndes Subjekt seinerseits das Gesetz an unserer Stelle erfüllt, bleibt menschlichem Handeln kein Raum mehr. Er hat damit zugleich die entscheidende Funk-

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tion der oboedientia passiva restituieren wollen. Weil er sich aber genötigt sah, am Gedanken der Einheit der Person Christi in Tun und Leiden festzuhalten, kann er de facto auch die Satisfaktion durch den Tod nur in der Weise auffassen, daß sich in ihm wie in einem Brennglas das Resultat des Lebens Jesu bündelt; auch die Sündenvergebung durch Jesu Tod ist damit nur so zu verstehen, daß den Menschen, die ihr Leben führen müssen, ein wirksamer Anstoß und ein vorbildliches Maß für die eigene Lebensführung gegeben wird. Es zeigt sich: in dem Umfang, in dem das humane Selbstsein - auch da, wo es sich erst durch den Zuspruch der Sündenvergebung ermächtigt findet - zugleich der Vorstellung von der Person Jesu unterlegt wird, verliert die Vorstellung der Versöhnung ihre für die Gewißheit des Glaubens konstitutive Externität. Da aber, wo, wie in den natürlich immer noch vertretenen kirchlichen Lehren, diese Externität behauptet wird, bleibt es bei einer äußerlichen Abhängigkeit des Lebens, die es nicht zu einem sich als einheitlich begreifenden Selbstsein kommen läßt. Schon F.C. Baur (412 Anm. 1) hat darauf hingewiesen, daß sich die sozinianische Ausgangsstellung noch bei Kant findet - aber nun doch entscheidend vertieft. Denn Kant hat die abstrakt-unmittelbare Voraussetzung eines sittlichen Selbstbewußtseins und die daraus resultierende ebenso abstrakte Gegenübersetzung von Gott und Mensch durch eine genaue und realitätsgerechte Beschreibung der Subjektivität abgelöst. Dadurch wird nicht nur die Dialektik des humanen Selbstbewußtseins entdeckt, sondern auch die Subjektivität als Bezugsbasis der Versöhnungslehre definitiv fixiert. Selbstbewußtsein bestimmt sich nicht durch einen Bezug zu irgend etwas in der Welt, sondern durch seinen Bezug auf das Sittengesetz als die Regel seiner Pflicht. Die Selbstbestimmung „aus Pflicht" kann aber immer nur als eine Absetzung von der stets schon gegebenen Bestimmung durch Elemente der gegenständlichen Welt erfolgen, also im Gegensatz zur Neigung. Diese Grundeinsicht seiner Philosophie bildet Kant in seiner Religionsschrift (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Frankfurt 1793) auf das der Versöhnungslehre zugrundeliegende Schema von Sünde und -»Gnade ab. Der theologische Begriff der Sünde meint die Unergründlichkeit der Tatsache, daß wir immer schon Weltliches sinnenvermittelt und triebhaft in unsere Selbstbestimmung aufgenommen haben: das radikale -»Böse. Auf der anderen Seite aber empfinden wir nicht nur die Pflicht, sondern handeln auch ihr entsprechend; die Kraft und Möglichkeit dazu kommen aber aus nichts Weltlichem, sondern entsprechen in ihrer Überweltlichkeit der reinen Gnade. Sofern es nun zur Religion gehört, diese begrifflichen Verhältnisse anschaulich zu machen, wird auch dieser Übergang versinnbildlicht — in der Person des Gottmenschen. Er ist das Symbol der Pflichterfüllung, und das zeigt sich bis in seinen Tod hinein, in dem von der Sinnlichkeit des Lebens Abschied genommen wird. Wer nun überhaupt seiner eigenen Pflicht folgt, steht im Zusammenhang des von dem Gottmenschen gegründeten Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes), das abermals als Sinnbild das Ideal vollkommener Pflichterfüllung repräsentiert. Dieses Reich erweist schon im jetzigen Rechttun seine Macht, es ist aber selbst zeitlos. Daher lassen sich durchaus die Unsterblichkeit der -»Seele und die Existenz Gottes als Postulate der praktischen Vernunft mit diesem Gedanken des Reiches Gottes verbinden. Sie resultieren beide aus dem Gedanken und der Realität der Freiheit, sofern die sittliche Selbstbestimmung nach dem Gesetz sich in der stets mitlaufenden Abgrenzung von der Sinnlichkeit als Triebfeder des Handelns darstellt, also in sich selbst dialektisch verfaßt ist. Die vorstellungshafte Gegenständlichkeit der kirchlichen Versöhnungslehre ist hier ganz und gar in die Struktur des Selbstbewußtseins und seiner ursprünglichen Selbsterfassung hineingedacht worden. Insofern hat sich in Kants Religionsphilosophie die Tendenz der Versöhnungslehre zur Subjektivität hin vollendet.

Noch unbefriedigend allerdings ist der Gedanke der Repräsentation oder der Symbolisierung der sittlichen Idee in der Religion, wenn darin die Objektivität der Versöhnung zum Ausdruck gebracht werden soll. Soll diese Symbolisierung nicht überflüssig sein — wodurch die Kantische Position auf die sozinianische zurückfiele —, gilt folgende Alternative: Entweder ist die im Medium von Religion vorgestellte Versöhnung wesentlich für den Begriff des Menschen selbst und damit für das Verhältnis von Gott und Mensch überhaupt, oder der Gedanke der Repräsentation wird durch ein anders begründetes Gottesverhältnis gerechtfertigt, so daß Versöhnung als anschauliche Erschlie-

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ßungsweise von dessen Wirklichkeit aufgefaßt werden kann, nicht aber als elementare Kategorie. Es ist diese durch Kant heraufgeführte Problemstellung, die die Geschichte der Versöhnungslehre im 19. und 20. Jh. prägt und die sich im Anschluß an Kant in den Konzeptionen Hegels und Schleiermachers darstellt. Nachdem Hegel zunächst eine der Kantischen ähnliche Vernunftreligion vertreten hatte, die die Lehre von der Versöhnung als Inbegriff der Vernunftfeindschaft bezeichnete, hat er später eine Liebesreligion konzipiert, die Jesus als Muster und M a ß der Überwindung von Feindschaft verstehen lehrte, seinen Tod aber für unbedeutend erachtete. Aus dem Begriff der Liebe freilich wachsen, durch Wahrnehmung und Akzentuierung der in ihr überwundenen Gegensätze, der Begriff des Lebens und der Begriff des Geistes hervor. Hegels reife Philosophie des Geistes seit 1807 kann als eine grundbegrifflich durchgeführte Theorie der Versöhnung gedeutet werden, in der der Versöhnung von Gott und Mensch die zentrale Stelle zukommt; die Verknüpfung der Wahrheit der Religion mit der in der Philosophie erkannten Wahrheit des Geistes überhaupt macht dabei das Spezifikum aus. Bereits das allerelementarste logische Verfahren der Bestimmung von etwas als etwas nimmt eine Abgrenzung (Negation) und eine Verbindung (Affirmation) zugleich wahr; ein Verfahren, das die Begriffsbildung immer weiter treibt bis zur Einsicht in dessen Unüberwindlichkeit. Entsprechendes zeigt sich in der Intersubjektivität. Das Verhältnis von Menschen zueinander ist durch Herrschaft und deren Umwälzung gekennzeichnet; es findet erst einigermaßen zur Ruhe, wenn die Einsicht in die Notwendigkeit der Verzeihung die andauernden Herrschaftskämpfe wenn nicht mildert, so doch relativiert. Die Einsicht in die Möglichkeit der Verzeihung aber läßt sich nun nicht wiederum aus der - herrschaftsförmig verzerrten — Intersubjektivität herleiten, sondern nur als unbedingt, also göttlich, verstehen. Eben damit aber wird das Verhältnis von Entzweiung und Versöhnung strukturell auf Dauer gestellt; Logik, Moral und Religion hängen unverbrüchlich zusammen. Diese Erkenntnis ermöglicht dann auch eine kritische Rekonstruktion der Religionsgeschichte. Denn es wird erkennbar, daß in allen Formen und auf allen Stufen der Religion eben diese letztgültige Bearbeitung von Differenz hin zur Einheit stattfindet. Das Christentum nimmt in dieser Religionsgeschichte eine vorzügliche Stellung ein als „vollendete Religion". Die Vollendung zeigt sich darin, daß im Christentum die Idee der Versöhnung nicht mehr durch die herrschaftsförmige (und insofern anthropomorphe) Asymmetrie von übermächtiger Gottheit und ohnmächtigem Menschen vorgeführt wird, sondern durch Gottes Selbstentäußerung im Tod des Gottessohnes eine schlechthin universale Gestalt gewinnt. Gott erweist seine Gottheit gerade im Verzicht auf eine substantiell separate Sonderexistenz; dadurch aber wird der Mensch der letzten Tiefe der Versöhnung teilhaftig. Genau diesen Gedanken hat die spekulative Philosophie entdeckt, wenn sie im Begriff des Geistes von dem dauernden und unüberholbaren, darin auch allen Gegensatz zugleich setzenden und überwindenden Sein des Absoluten zu reden weiß. Die Religion - und mit ihr alle Realwissenschaften - sind Teilhaber und Erben dieses alles Sein und Denken umfassenden Gedankens.

In Hegels Konzept hat die Dynamik der Versöhnung zweifellos einen Höhepunkt erreicht. Der göttliche Ursprung und das göttliche Gegenüber der Versöhnung haben sich mit dem Zielpunkt im Menschen vereint, ohne ihre absolute Bedeutung aufzugeben; das menschliche Leben hat, ohne seine Selbständigkeit zu verlieren, Anteil am göttlichen Wesen gewonnen. Dieses Verständnis von Versöhnung, so sehr es auch durch die Religion gefördert wurde, treibt über alle religiös gesetzten Grenzen hinaus. Die hier entdeckte Versöhnung strebt ihrer eigenen Tendenz zufolge ins Universale von Geist und Welt, von Wissenschaft und Gesellschaft. Infolgedessen ist gerade in der Nachfolge Hegels der Begriff der Versöhnung säkularisiert worden, wie sich vor allem bei den sog. Junghegelianern (D.F. -»•Strauß; B. -»-Bauer; L. -»Feuerbach; K. - » M a r x ) zeigt. Diesem universalen Konzept der Versöhnung hat Friedrich Schleiermacher widersprochen und die Versöhnung als Konsequenz der Erlösung, d.h. als Darstellung und Vollendung, nicht aber als Grundlegung des Gottesverhältnisses zu verstehen gelehrt. Einerseits hat Schleiermacher die Kantische Kritik als maßgeblich empfunden; andererseits hat er eine Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Moral behauptet.

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Diese gründet in der Einsicht, daß unseren rezipierenden oder tätigen Umgangsweisen mit der Welt eine durch den Ausdruck „Gefühl" angezeigte Selbstvertrautheit zugrunde liegt, die von nichts in der Welt, auch nicht von der Welt im ganzen, herstammen kann. Diese nicht mehr kausal vorzustellende „Abhängigkeit" ist der Sachverhalt, auf den sich der religiöse Ausdruck „ G o t t " bezieht. Nun ist es aber angesichts der dauernden Weltvermitteltheit unseres Wahrnehmens, Denkens und Handelns nicht unmittelbar möglich, dieser die eigene Selbstvertrautheit begründenden Sinndimension des Lebens innezuwerden. Vielmehr baut sich die Reinheit des Gottesbewußtseins nur so auf, daß die Dominanz des Weltbewußtseins prinzipiell negiert und im Leben stufenweise reduziert wird.

Daß die Reinheit des Gottesbewußtseins überhaupt in aller Grundsätzlichkeit der Geltung hervorgetreten ist, macht die religionsgeschichtliche Leistung des Christentums aus. Die historische Gestalt Jesu hat in ihrem Leben die durchgängige Bestimmtheit alles weltlichen Lebens durch das Gottesbewußtsein zum Vorschein gebracht - und das heißt: unter den allgemeinen humanen Bedingungen des weltverhafteten Lebens die Erlösung realisiert. In der Nachfolge Jesu und der von ihm ausgehenden, sozial in der Kirche repräsentierten Lebenskraft wird diese erlösende Grundorientierung in die Lebensführung selbst übernommen — wodurch die Zerrissenheit des Lebens zwischen unbedingtem Gottesbewußtsein und vielfältig bedingter Weltabhängigkeit zur Versöhnung gelangt, so daß es möglich ist, in der Welt mit zunehmender Genauigkeit der Erlösung entsprechend zu leben. Das gilt für das individuelle wie das soziale Leben: unerträgliche Gegensätze werden zu fruchtbaren Spannungen ermäßigt, die Gestaltung und Entwicklung erlauben. Durch solche Versöhnung wird die Erlösung als geschichtlich wirksame Potenz erkennbar und bezeugt; ja, ohne Versöhnung ist auch die Erlösung gar nicht ergriffen und verwirklicht. Allerdings weigert sich Schleiermacher beharrlich, die Uberwindung des Gegensatzes von reinem Gottesverhältnis und faktischer Weltabhängigkeit selbst in den Gottesgedanken zu übernehmen. Das wäre ihm als eine Anthropomorphisierung Gottes vorgekommen, der gegenüber die Unbedingtheit des Gottesverhältnisses sich nicht mehr behaupten ließe. Mit dem Verzicht auf eine Vergegenständlichung Gottes unterscheidet sich Schleiermacher so sehr von der traditionellen Erlösungslehre, wie er umgekehrt den Kantischen Prinzipien die Treue hält. Schleiermacher hat damit für die Erlösungslehre eine neue Erörterungsbasis geschaffen, angesichts derer der schlichte Vorwurf einer autoritär-herrschaftsförmigen Abhängigkeit nicht mehr trifft. Zugleich hat Schleiermacher jedoch mit seinem Akzent auf der Leitfunktion von „Erlösung" gegenüber „Versöhnung" die kategoriale Unauflöslichkeit von Religion und ihrer sozialen Gestalt der Kirche in die Gesellschaft festgehalten, ohne an der Bedeutung der Religion für die Gesellschaft etwas abzustreichen. 3.5. Das 19. und 20.

Jahrhundert

Die bei Hegel und Schleiermacher erreichte Konstellation von Versöhnung und Erlösung bestimmt die Konturen für den konstruktiven Umgang mit dem Problem in allen nachfolgenden Debatten. Daneben freilich findet sich - durchaus in großer Breite - ein modifizierter Anschluß an die orthodoxen Fassungen der Versöhnungslehre. Dieser speist sich nun aus pietistischen bzw. erwecklichen Motiven der unmittelbaren Aneignung Jesu einerseits, aus dem Verlangen eines inzwischen durch die Bildungsmächte angegriffenen Kirchenglaubens nach subjektunabhängiger Objektivität andererseits. Es läßt sich aber zeigen, daß diese scheinbar orthodoxen Varianten der Versöhnungslehre, die vor allem das Motiv des Zornes Gottes, einer als Strafe verstandenen Satisfaktion und einer äußerlichen Stellvertretung betonen, ihrerseits nur wieder Reaktionen auf die Subjektivitätsproblematik darstellen und insofern alles andere als traditionell sind. Das hat G. Wenz für so unterschiedliche und eigenständige Theologen wie E A . G . -»Tholuck, J . C . K , von -»Hofmann, M . -»Kahler u.a. gezeigt; und ebenso, daß mit der Repristination alten Formelgutes den neuen, nicht nur auf die interne kirchliche Kommunikation

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beschränkten Anforderungen auf Schlüssigkeit nicht zu genügen ist (Wenz I, § 12; II, §13.15). In diese Situation tritt die Versöhnungslehre Albrecht Ritschis mit einer eigentümlichen Kombination von Motiven Schleiermachers, Hegels und Luthers vor einem antiorthodox-kantianisierenden Horizont. Indem der dogmatischen Entfaltung im dritten Band von Rechtfertigung und Versöhnung die Geschichte der Versöhnungslehre im ersten und die Grundlegung der Versöhnungslehre im Neuen Testament im zweiten vorangehen, wird die geschichtliche Darstellung auf eine normative Basis zurückgeführt, die dann eine zeitgerechte Lehre ermöglicht, welche die hergebrachte Orthodoxie mit ihrer Insistenz auf Gottes Zorn und dem Konzept einer exklusiven Stellvertretung hinter sich läßt, sich aber zugleich von einer spekulativen Aufgipfelung des Gottesgedankens unterscheidet. Der Widerspruch gegen Hegel und der Anschluß an Schleiermacher zeigt sich darin, daß nicht die Versöhnung die erste Stelle einnimmt. Daß dort nun freilich die Rechtfertigung und nicht die Erlösung steht, dokumentiert den Versuch eines Rückgriffs auf Luther. Rechtfertigung meint für Ritsehl - im Unterschied zur hergebrachten Auffassung - die vermöge der Einführung des Gottesreiches durch Jesus erfolgende Aufklärung über die faktische Sünde der Menschen, durch welche das Sündenbewußtsein geschärft, zugleich aber auch verändert und hin zu neuer sittlicher Aktivität befreit wird. Versöhnung bedeutet, dieser Rechtfertigung nachfolgend, daß sich das sittliche Leben auf dem religiösen Grund und Ziel des Reiches Gottes vollendet, und zwar in der paradigmatisch-vorlaufenden Gestalt der Gemeinde, die genau darin ihre weltgeschichtliche Bedeutung besitzt. Dem Typus nach stellt Ritschis Versöhnungslehre eine über die Sittlichkeit sich artikulierende Lehre von der Erlösung dar, der mit der Rechtfertigung ein anfängliches Moment der DifferenzÜberwindung eingepflanzt ist. Aber einerseits ist dieses nicht in prinzipieller Schärfe gefaßt, die auf den Gottesbegriff selbst zurückwirken müßte, andererseits wird der Erfolg der Rechtfertigung in der Versöhnung von ihrer sittlich-weltlichen Ausübung abhängig gemacht. Das Ritschlsche Konzept einer Erlösung als Versöhnung hinkt auf beiden Seiten; die Selbständigkeit der Religion wird behauptet, aber nicht argumentativ theo-logisch begründet; die gesellschaftliche Rolle der Kirche wird beansprucht, geht aber in einem allgemeinen Ziel der Sittlichkeit auf.

K. -»Barths Kirchliche Dogmatik wählt, aus der Perspektive des Gegensatzes von Hegel und Schleiermacher betrachtet, den alternativen Weg: Versöhnung als Erlösung auszulegen. Zweifellos bildet die Versöhnungslehre (KD IV) das Zentrum der Kirchlichen Dogmatik. Die Nomenklatur (Kap. 14: Jesus Christus, der Herr als Knecht; Kap. 15: Jesus Christus, der Knecht als Herr; Kap. 16: Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge) zeigt die an Hegels Phänomenologie des Geistes angelehnte Dialektik der Anerkennung ebenso wie die Unterscheidung von ihr. Einerseits nämlich kommt die gegenseitige Anerkennung von Gott und Mensch nur durch eine „Erniedrigung des Sohnes Gottes" zustande, die als solche die „Erhöhung des Menschensohnes" darstellt (KD IV/1; IV/2); das ist, in theologischer Sprache, eine genaue Aufnahme des Begriffs der Versöhnung. Nun wird allerdings, um den Fortgang zum absoluten Geist zu verhindern, dieser Dialektik dadurch ein retardierendes Moment eingeschrieben, daß die Versöhnung unter dem Titel der „Herrlichkeit des Mittlers" ganz auf die Gestalt Jesu Christi konzentriert bleibt, die nur darin ihre Allgemeinheit gewinnt, daß sie sich individuell bezeugt - wodurch dann, im Sinne eines nachlaufenden Anerkennungsverhältnisses, eine humane Individualität in sozialen Zusammenhängen der vom Zeugnis Jesu Christi berührten Menschen sich aufbaut. Dieses Modell versucht die der Versöhnungslehre in der Neuzeit eigene Einsicht von der gemeinsamen Verwirklichung von Gott und Mensch zur Geltung zu bringen: die Versöhnung ist für Gott so wesentlich wie für den Menschen nötig. Zugleich aber soll eine letzte Ungeschuldetheit der Versöhnung dadurch festgehalten werden, daß das Verhältnis Gottes zum Menschen als „Erwählung" gedacht wird. Nun besitzt die Kirchliche Dogmatik Barths darin ihre - ihr selbst bewußte - Grenze, daß sie sich explizit auf die Kirche bezieht; so wenig dieses dogmatische Konstrukt ipso facto mit den

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empirischen Kirchen identisch ist, sondern den gesamten Bereich „wahrer Religion" mit einschließt. Das bedeutet einerseits, daß die Kirche im Gefälle des Selbstzeugnisses Jesu Christi vorlaufend, aber nicht vorbildlich auf die „Welt" als Inbegriff der Universalität bezogen ist. Das bedeutet andererseits, daß es nur dieser religiös vermittelte Zusammenhang „Kirche" ist, an dem um die Realität der Versöhnung so zuverlässig gewußt wird, daß ihre Wahrheit behauptet werden kann. Insofern ist der Kirchlichen Dogmatik auch eine identitätsstiftende Funktion eigen, die sich vor allem in einer - nicht zu Unrecht als autoritär kritisierten - trinitarisch gefaßten Herrschaftsmetaphorik ausspricht. Darin kommt, durch die Partikularität des Kirchengedankens unweigerlich induziert, das Motiv der Erlösung zur Geltung. Auch Barths Theologie kann die Spannung von Versöhnung und Erlösung, den Gegensatz von Hegel und Schleiermacher nicht zum Ausgleich bringen. Ihre durchgreifende Konstruktion der Versöhnung wird vor der Selbstauflösung nur durch die religiöse Partikularität der Kirche gebremst. Darin reflektieren sich natürlich auch die Funktionsveränderung und der Funktionsverlust der Kirche in der modernen Gesellschaft.

Die Entfaltungen des Versöhnungsgedankens aus dem späteren 20. Jh. arbeiten sich vor allem an Barths Versöhnungslehre ab. Dabei unterscheiden sich in der deutschsprachigen protestantischen Theologie ein integralistischer Typ (W. Pannenberg), ein progressistischer Typ (J. Moltmann), ein hermeneutischer Typ (E. Jüngel) und ein differenztheoretischer Typ (H.-G. Geyer). Bei Pannenberg dominiert die Perspektive der Unerläßlichkeit von Religion und Kirche für die Gestaltung der Gesellschaft; sie verbindet sich insofern mit starken „realistischen" Vorstellungsformen religiöser Sachverhalte. Das gilt auch für die Versöhnungslehre. Sie gehört als Vollendungsfigur auf den Weg der Vervollkommnung hin zum - ebenfalls realistisch vorgestellten - Eschaton. Moltmanns prophetisch-politische Auslegung des christlichen Glaubens kann auf der einen Seite die in die Versöhnung eingelagerte Entzweiung bis auf den Gottesbegriff zurückverfolgen. Allerdings wird auf der anderen Seite die bleibende Eigenart der Religion (den Schwierigkeiten der Linkshegelianer analog) nicht mehr begrifflich, sondern nur noch kirchlich-praktisch vertreten. Jüngels hermeneutische Pointierungen der Versöhnungslehre (Tod als Vollendung der Verhältnislosigkeit der Sünde, Versöhnung als Gewährung eines dauerhaften Verhältnisses) haben sich als kirchlich in hohem Maße anschlußfähig erwiesen, ohne einen eigenen Explikationsrahmen schaffen zu wollen. Geyers Fortschreibung der Versöhnungslehre Karl Barths hält die anerkennungstheoretisch offene Dialektik gegen die identitätstheoretischen Versuche einer Überführung der Versöhnung in universelle Vermittlung fest; der linkshegelianischen Versuchung soll durch religiöse Eindringlichkeit und geschärftes Unterschieds- und Beziehungsbewußtsein zu politischen Versöhnungsvorgängen zugleich widerstanden werden. In der angelsächsischen Theologie ist — schon aufgrund der sprachlich erhalten gebliebenen Differenz von atonement und reconciliation und nicht ohne Grund in den (staats-)kirchlichen Verhältnissen - die aneignende Wiederholung der orthodoxen Formeln verbreitet (Baillie). Davon unterscheiden sich neuere Versuche, die Theorie der Versöhnung in nichtkontinentalen religionsphilosophischen Kontexten zur Aussage zu bringen. Insbesondere die Prozeßphilosophie (-» Prozeß theologie/Prozeßphilosophie) A. N. -»Whiteheads hat hier die Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Wheeler). Allerdings ist die Tragfähigkeit dieser Versöhnungslehren dann auch wiederum stark abhängig von der Zustimmungsfähigkeit zu den integrativ konzipierten Basisannahmen der Prozeßphilosophie. Daß hier ein ausgeprägtes Bewußtsein für die theologie- und kirchengeschichtliche Bestimmtheit der Versöhnungslehre entwickelt werden kann, ist noch nicht zu erkennen. 4. Die Gegenwart und die Zukunft

der Versöhnung

Die Geschichte der Versöhnungslehre zeigt, daß das Geschick der Versöhnungslehre aufs engste mit der religiösen Ausbildung moralischer Subjektivität verbunden ist, wie sie sich in der Zentralität der Schuldfrage für das Christentum ausspricht. Diese Konstellation hat sich seit der Alten Kirche im Westen vorbereitet, in der Reformation eine

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deutliche Beförderung erfahren, um auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters um 1800 vollends zum Ausdruck zu gelangen. Die Geschichte Jesu Christi wurde in zunehmendem Maße als die Urgeschichte entfaltet, die die Geschichte der Menschen als moralische Wesen bestimmt. Allerdings hat es sich ebenso gezeigt, daß mit der moralischen Subjektivität der Menschen der Gedanke der Autonomie untrennbar verbunden ist, zu deren Selbstbestimmungmöglichkeiten es eben auch gehört, sich als frei von Religion zu verstehen bzw. sich von der religiösen Herkunft zu emanzipieren. Insofern stand und steht die christliche Versöhnungslehre in einem Konkurrenzverhältnis zu einer teils selbst beförderten, teils aus antiken Quellen stammenden Selbständigkeit des moralischen Selbstbewußtseins. Die Unübertragbarkeit von Schuld und die Unmöglichkeit einer externen Stellvertretung sind die Argumente, derer sich dieses Bewußtsein bedient. Die Versöhnungslehren des 19. und 20. Jh. haben sich an diesem Problem einer Vereinbarung von subjektiv-humaner Schuld und objektiv-göttlicher Vergebung abgearbeitet, indem sie die Partikularität der religiösen Konstitution moralischen Selbstbewußtseins und die Universalität ihres Richtungssinnes zu vereinbaren suchten. Nun hat es sich gezeigt, daß die Option einer reinen, areligiös gedachten moralischen Subjektivität zwar theoretisch vertreten wird und Zustimmung findet, daß ein solches Selbstbewußtsein empirisch aber kaum je zustandekommt und sich schon gar nicht als gesellschaftlich verallgemeinerungsfähig erweist, wie dies das Scheitern des gesellschaftlich-universalen Versöhnungs-Projektes im sozialistischen Nachhegelianismus zu erkennen gibt (Adorno). Daraus speist sich einerseits eine Tendenz, sich von der Schuldfrage - im Anschein ihrer Unlösbarkeit — als Zentralfrage des Menschseins überhaupt zu verabschieden. Andererseits erfährt das religiös-christliche Motiv der Erlösung eine neue Stärkung. Dieses Motiv kann, neuzeitlichen Überzeugungen entsprechend (etwa im Anschluß an Schleiermacher), mit einem apersonalen Gottesgedanken verbunden und ungegenständlich gedacht werden, woraus sich Verbindungen zu esoterischen Religionsformationen herstellen lassen; es kann aber auch - wenngleich anachronistisch — personal-objektiv vorgestellt werden, womit sich manchmal Tendenzen sozialer Selbstabschließungen (—•Fundamentalismus) verbinden. In diesem Zusammenhang erhält die Beobachtung, daß der Terminus „Versöhnung" in die politische Sprache ausgewandert ist (s. u. IV), jenseits ihrer Beklagung einen neuen Sinn. In diesem Sprachgebrauch, der sich in der Tat häufig auf scheinbar ausweglose Verstrickungen angewendet findet (Schwarze und Weiße in -»Südafrika; Israel und die Palästinenser; Deutsche und Polen), klingt noch ein Stück der universalen Versöhnungserwartung des frühen 19. Jh. nach. Freilich ist der religiöse Ursprung der Kategorie, ohne den ihre Karriere nicht stattgefunden hätte, weitgehend ausgeblendet. Die Zukunft der Versöhnung als einer zentralen Kategorie des christlichen Glaubens für die Bestimmung des Heilsgeschehens hängt davon ab, wie sich die religiöse Deutung der Herkunft humaner Subjektivität mit einer gesellschaftlich bedeutsamen Verantwortung individueller Subjekte verbinden läßt. Ohne eine Stärkung von Subjektivität gegen überwältigende Systemzusammenhänge dürfte das gesellschaftliche Potential der Versöhnung nicht erhalten werden können und das Christentum in Regression verfallen. Der Anknüpfungspunkt für eine gegenwärtige Lehre von der Versöhnung kann mit G. Wenz - und in Anschluß an H.-G. Geyer - in einer solchen Deutung des Todes Jesu am Kreuz gesucht werden, die diesen als Inbegriff der göttlichen Grundlegung humaner Subjektivität überhaupt versteht, welche nur individuell angeeignet werden kann, um sozial verantwortet werden zu können. Dieser Grundgedanke läßt sich folgendermaßen entfalten. Einerseits ist an der Besonderung von Religion als Deutungshorizont menschlichen Selbstseins festzuhalten. Dies schließt bewußte religiöse Bildung ein, zu der auch moralische Bildung im Sinne einer Sensibilität für Schuld gehört. Im Horizont von Religion, die in ->Sprache, -»Ritus und Kultus zum Ausdruck kommt, kann die eigentümliche Doppelperspektive gelernt werden, die für die humane Lebensführung unerläßlich ist:

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daß unser ganzes Leben historisch ist und doch Anspruch auf Unbedingtheit erhebt. Entsprechend wird der Tod Jesu einerseits als geschichtliches Faktum verstanden, andererseits als prinzipielle Grundlegung und Darstellung eines neuen Gottesverhältnisses. Die traditionelle Alternative zwischen abstrakt-prinzipiellem und historisch-kontingentem Geschehen wird durch das Bewußtsein verabschiedet, daß Religion die Einheit beider Seiten intendiert. Auf diese Weise wird (analog zu Barth) das Motiv der Erlösung wahrgenommen, aber nicht auf die Kirche beschränkt. Das Gottesverhältnis, wie es Jesu Tod verstehen läßt, ist so zu bestimmen, daß sich Gott gerade da als Gott erweist, wo die menschliche Setzung und Verobjektivierung des Gottesgedankens nicht mehr möglich ist. Gott kommt vielmehr genau da zur Geltung, wo im Vertrauen auf ihn Verzeihung gewährt wird. Es ist die Unbedingtheit der Verzeihung, die auch nur unbedingt, also ohne Absicherung, gewährt und angenommen werden kann, in welcher Gottes Wirklichkeit erfahren wird. Es ist dann nicht die Perfektibilität moralischen Verhaltens, sondern die Unbeständigkeit moralischer Subjektivität selbst, an der die Versöhnung zur Anschauung kommt. So ist - im menschlichen Verzeihen - die Versöhnung präsent. Sie bleibt unter diesen Konstitutionsbedingungen immer partikulare Aktion - aber von stets zu wiederholender Geltung und Zuverlässigkeit. Genau in dieser Funktion ist die Versöhnung eine unverzichtbare Kategorie, die ins Zentrum des christlichen Glaubens gehört. Ob sich diese tastende Perspektive in die Zukunft bestätigt, kann kein Mensch wissen. Sie wird sich freilich durch das Phänomen der Schuld immer wieder nahelegen, und das wird solange nicht verschwunden sein, solange Menschen auf Selbstbewußtsein Anspruch erheben. Quellen und Literatur Zur Geschichte der Versöhnungslehre: Gustaf Aulén, Den kristna försoningstanken, Stockholm 1930; engl.: Christus Victor. An Hist. Study of the Three Main Types of the Idea of the Atonement, London 1931 4 1980. - Ders., Die drei Haupttypen des christl. Versöhnungsgedankens: ZSTh 8 (1931) 501-538. - Ferdinand Christian Baur, Die christl. Lehre v. der Versöhnung in ihrer gesch. Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. - Johannes Gottschick, Stud. zur Versöhnungslehre des MA: ZKG 22 (1901) 378 - 4 3 8 ; 23 (1902) 35-67.191-222.321-375. Ders., Propter Christum. Ein Beitt. zum Verständnis der Versöhnungslehre Luthers: ZThK 7 (1897) 352-384. - Adolf v. Harnack, Lb. der DG, 3 Bde., 1886-1890 «1909 Nachdr. 1990 (SThL). - Martin Kähler, Dogm. Zeitfragen. II. Zur Lehre v. der Versöhnung, Leipzig 1898 Gütersloh 2 1937. - Otto Kim, Art. Versöhnung: RE 3 20 (1908) 552-578. - Albrecht Ritsehl, Die christl. Lehre v. der Rechtfertigung u. Versöhnung, Bonn; I. Die Gesch. der Lehre, 1870 3 1889; II. Der bibl. Stoff der Lehre, 1874 J 1889; III. Die positive Entwicklung der Lehre, 1874 J 1888. - Bernhard Seiger, Versöhnung - Gabe u. Aufgabe. Eine Unters, zur neueren Bedeutungsentwicklung eines theol. Begriffs, 1996 (EHS.T 563). - Basil Studer, Soteriologie in der Sehr. u. Patristik, 1978 (HDG 3/2a). - Gunther Wenz, Gesch. der Versöhnungslehre in der ev. Theol. der Neuzeit, 2 Bde., 1984-1986 (MMHST 9.11).-Boniface A. Willems, Soteriologie, v. der Reformation bis zur Gegenwart, 1972 (HDG3/2c). Zu 2.-4.: Theodor W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin 1951 Nachdr. Frankfurt a.M. 2001. - Harm Alpers, Die Versöhnung durch Christus. Zur Typologie der Schule v. Lund, 1964 (FSÖTh 13). - Hermann Altmeyer, Schuld, Umkehr u. Versöhnung im Christentum: Schuld u. Versöhnung in verschiedenen Religionen, hg. v. Bernhard Mensen, 1986 (VAVK 9) 91-112. - Günter Altner u.a., Manifest zur Versöhnung mit der Natur. Die Pflicht der Kirchen in der Umweltkrise, Neukirchen-Vluyn 1 _ 2 1984. - Apostolisches Schreiben im Anschluß an die Bischofssynode Reconciliatio et paenitentia v. Johannes Paul II, 1984 (VApS 60). - Donald Macpherson Baillie, God was in Christ. An Essay on Incarnation and Atonement, London 1947 4 1951; dt.: Gott war in Christus. Eine Stud. über Inkarnation u. Versöhnung, 1959 (Thö 7). - Karl Barth, KD. - Melanie Beiner, Intentionalität u. Geschöpflichkeit. Die Bedeutung v. Martin Luthers Sehr. „Vom unfreien Willen" f. die theol. Anthropologie, 2000 (MThSt 66). - J.L. Blair, The Relation of the Incarnation to the Atonement: SJTh 16 (1963) 6 8 - 7 7 . - Josef Blank, Weißt du, was Versöhnung heißt? Der Kreuzestod Jesu als Sühne u. Versöhnung: ders./Jürgen Werbick (Hg.), Sühne u. Versöhnung, 1986 (TzZ 1) 2 1 - 9 1 . - Cilliers Breytenbach, Versöhnung. Eine Stud. zur paulinischen Soteriologie, 1989 (WMANT 60). - Ders., Versöhnung, Stellvertretung u. Sühne. Semantische u. traditionsgesch. Bemerkungen am Beispiel der Paulinischen Briefe: NTS 39 (1993)

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IV. Ethisch 1. Begriff 1•

2. Theologische Problematik

3. Politik der Versöhnung

(Literatur S. 43)

Begriff

Versöhnung bezeichnet den Vorgang der Wiederherstellung eines durch -»Schuld, Feindschaft und Haß zerstörten Verhältnisses zwischen Personen und Gruppen. Das Wort ist als nomen actionis etymologisch abgeleitet von -»Sühne als einem Terminus der Rechtssprache (althochdeutsch suona, Gericht, Urteil, Strafe); mittelhochdeutsch versüenen bedeutet einerseits die Streitbeilegung, den Friedensschluß der Parteien, andererseits aber auch den Akt der Wiedergutmachung seitens des Missetäters. -»Luthers Übersetzung des Neues Testaments unterschied den Aspekt der Schuldtilgung (versüenen) von versönen als dem dadurch erzielten Effekt. In der Folgezeit wurde das objektive Moment der wiedergutmachenden Ersatzleistung weitgehend zugunsten des personalen Moments innerer Veränderung sowie des intersubjektiven Aspekts sozialer (Re-) Integration zurückgedrängt. Im deutschen Wort Versöhnung treffen ursprünglich die beiden Bedeutungen zusammen, die in anderen Sprachen durch verschiedene Termini für Aussöhnung (griech. KaxakXäooav, lat. reconciliatio, engl, reconciliation) und Sühnung (griech. iXdoKr/oOcu, lat. expiatio, engl, atonement) klar unterschieden sind. Die semantische Absorption von Sühne durch Versöhnung betont den Prozeß und das Ziel des neuen, intakten Gemeinschaftsverhältnisses, während mit dem Sühnegedanken die Mittel bzw. Voraussetzungen der Versöhnung im Blick waren. 2. Theologische

Problematik

Die Bedeutungsverschiebung, die dazu verleitet, den Begriff sozialpragmatisch auf Konfliktregulierung und Friedensschluß zu reduzieren, greift aus theologischer Sicht zu kurz; ebenso ein Verständnis von Versöhnung als spekulatives Prinzip, durch das die Probleme des Umgangs mit (konkreter) Schuld übersprungen werden. Berechtigte Vorbehalte gegenüber beiden Varianten einer Moralisierung des Versöhnungsgedankens dürfen aber nicht dazu führen, ihn als ein genuines Thema christlicher Ethik zu verabschieden. Im Neuen Testament wird die profane, auf die zwischenmenschliche Aussöhnung (Mt 5,24; I Kor 7,11) bezogene Terminologie (KaxaXXayrj) auch auf das Gottesverhältnis der der -»Sünde verfallenen Menschheit angewandt (II Kor 5,16ff.; Rom 5,10f.; Eph 2,14ff.; Kol l,15ff.). Diese Versöhnung mit Gott läßt sich niemals durch menschliche Aktivität erwirken, sondern ist ein für allemal durch sein Handeln in -»Jesus Christus vollzogen. Die mit der Deutung des Todes Jesu verknüpfte kultische (Rom 3,25; Hebr 9f.) und juridische (II Kor 5,21) Metaphorik gibt zu verstehen: In seiner rückhaltlosen Hingabe an die tödlichen Konflikte der Welt hat Gott das Gesetz vergeltender -»Gerechtigkeit durchbrochen, sich selbst das Gericht zugezogen und allen Menschen - der Verfehlung ihrer Bestimmung zum Trotz - Lebensrecht und Würde zugesprochen. Die von Gott gewährte Versöhnung mit ihm ermöglicht zugleich ein entsprechendes neues Verhältnis der Menschen untereinander, das sich anfänglich in der christlichen Gemeinde realisiert und ihr als umfassender Dienst der Versöhnung (II Kor 5,18) aufgetragen ist. Der Ausdruck „Dienst" (öidKOvia) weist darauf hin, daß es sich dabei um eine kommunikative Praxis handelt, deren Erfolg unverfügbar ist. Als Überwindung

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einer schuldbelasteten Vergangenheit erfordert Versöhnung von den Konfliktparteien die Bereitschaft, -+Vergebung zu erbitten und zu gewähren. Versöhnung hat somit auf beiden Seiten eine tiefgreifende Veränderung von innen her zur Voraussetzung: seitens der Täter die Abkehr von der Gesinnung, in der die Tat erfolgte (-»Reue), seitens der Opfer den Verzicht auf Rache sowie darauf, die Täter mit ihrer Tat zu identifizieren (Verzeihung). Versöhnung kann erst dann gelingen, wenn die Täter durch Schuldeinsicht und Reue zum Bekenntnis der Schuld und (soweit möglich) zu Akten der Wiedergutmachung geführt werden, und wenn sich andererseits die Opfer bereit finden, das ihnen zugefügte Unrecht nicht zu vergelten und nachzutragen, sondern zu vergeben. Dabei ist die Frage nach dem Bedingungszusammenhang von Schuldbekenntnis und -Vergebung nicht situationsunabhängig zu beantworten. Zwar zeigt Jesu Zuwendung zu den Sündern, daß Gottes Versöhnungshandeln bedingungslos geschieht - jedoch nicht, ohne gerade so zur Erkenntnis der Sünde und zur Umkehr zu provozieren (Joh 8,11). Umgekehrt ist klar, daß die menschliche Entscheidungsmacht darüber, ob und wann Vergebung möglich ist, allein den Opfern zusteht; auch sie dürfen aber die Schuld der Täter nicht als Herrschaftsmittel mißbrauchen. Weil Versöhnungsprozesse durch das Spekulieren auf billige -»Gnade ebenso blockiert werden können wie durch die Instrumentalisierung fremder Schuld, und weil angesichts geschichtlicher Schuldverstrickungen die klare Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern dem menschlichen Urteil nicht selten entzogen ist, sehen sich Christen in ihrer Versöhnungshoffnung zuerst und zuletzt auf Gottes Vergebung angewiesen (Mt 6,12). 3. Politik der Versöhnung 3.1. Der politische Gebrauch des Begriffs wirft die Frage auf, inwieweit ein personales Interaktionsmuster auf Nationen oder Staaten übertragen werden kann. Gegensätzliche Antworten aus Theologie und Sozialphilosophie bieten eine Problemanzeige: Für D. —•Bonhoeffer (Ethik 125ff.) ist allein die -»Kirche der Ort der Sündenvergebung für den einzelnen und damit des völligen Bruchs mit der Schuld. Im Verhältnis der Völker jedoch bleibe die Kontinuität der Schuld erhalten; hier könne strenggenommen nur von ihrer „Vernarbung" in einem allmählichen Heilungsprozeß die Rede sein, der erfordert, daß „aus Gewalt Recht, aus Willkür Ordnung, aus Krieg Frieden" geworden ist. Problematischerweise schreibt Bonhoeffer der Kirche die Aufgabe zu, vor Gott die „ganze Schuld der Welt" zu übernehmen, obwohl er von einem kirchlichen Schuldbekenntnis zugleich größtmögliche Konkretion verlangt. Demgegenüber beschreibt H. Arendt „Verzeihen" und „Versprechen" als Modi politischen Handelns (231 ff.). Während die Fähigkeit zum Verzeihen das Heilmittel gegen die „Unwiderruflichkeit des Getanen" sei, begrenze das korrespondierende Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, die Unabsehbarkeit künftiger Taten (pacta sunt servanda). Von politischer Relevanz seien Verzeihen und Versprechen deshalb, weil damit Vermögen des Miteinanderhandelns und -sprechens benannt sind, die das Zusammenleben von Freien und Gleichen überhaupt erst ermöglichen. Damit bleibt Arendt allerdings einem substantiellen Begriff des Politischen (im Sinne der Polis-Sittlichkeit) verhaftet, der von dessen institutionellen und instrumenteilen Aspekten absieht. Außerdem beschränkt sie das Verzeihen auf nichtintentionale, alltägliche „Verfehlungen", die aus der Natur kommunikativen Handelns folgen; „Verbrechen" dagegen könne nur Gott vergeben oder richten. An den jeweiligen Stärken und Schwächen beider Konzeptionen wird deutlich: Die den Versöhnungsprozeß tragenden Momente von Schuldübernahme und Verzeihung sind weder schlechthin apolitisch, noch darf die theologische Kategorie der Sündenvergebung mit politischen Akten einfach identifiziert werden. In der Sphäre des Politischen lautet die Frage, wie Versöhnung in Gerechtigkeit möglich ist, d. h. wie der Geist der Verzeihung die Rechtsidee (-»Recht) modifizieren kann, ohne sie aufzuheben.

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3.2. Die Aufgabe der Versöhnung zwischen Völkern und Staaten wurde in großem Stil nach den beiden Weltkriegen akut. Die Last der geschichtlichen Schuld übersteigt hier die moralische oder strafrechtliche Veranwortlichkeit individueller Täter; sie umfaßt das politische Versagen, für das es auf Grund der Mitverantwortung aller Staatsbürger eine korporative, generationenübergreifende Haftung gibt. Die auf Seiten der Opfer notwendige „Vernarbung" der Unrechtsfolgen bedeutet nicht, daß Zeit alle Wunden heilt. Dem steht schon das kollektive Gedächtnis der Völker entgegen, das dazu neigt, die Traumata von Zerstörung und Gewalt sowie das Erleben von Sieg und Niederlage selektiv zu speichern und im Interesse nationaler Selbstbehauptung zu deuten. Seitens des für vergangenes Unrecht politisch verantwortlichen Volkes können (neben Akten kompensatorischer Gerechtigkeit wie materiellen Entschädigungsleistungen und dem Verzicht auf Rechtsansprüche) unterschiedliche Aktivitäten dem Aussöhnungsziel dienen, z.B. Jugendaustausch und zivilgesellschaftliche Aufbauhilfen (Aktion Sühnezeichen) , Annäherung divergierender historischer Deutungsperspektiven (Schulbücher etc.), Umbesetzung der Symbolik nationaler Gedenkrituale im Interesse internationaler Verständigung. Die mögliche Initialfunktion der Kirchen bei der Vorbereitung einer auf Verträge gestützten Politik der Entspannung und Aussöhnung belegen auf unterschiedliche Weise die Ostdenkschrift (-»Denkschriften) der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie der Briefwechsel der polnischen und deutschen katholischen Bischöfe von 1965. Der Versöhnungswille, ja sogar die Vergebungsbitte können auf symbolpolitischer Ebene auch im internationalen Staatenverkehr Relevanz gewinnen, wenn sie durch herausgehobene politische Repräsentanten authentisch und sensibel eingebracht werden. 3.3. Die innergesellschaftliche Versöhnungsaufgabe stellt sich vor allem im Übergang von einem Zustand der Rechtlosigkeit oder des Systemunrechts zu Rechtsstaat und —•Demokratie. Steht bereits vor der Aufrichtung des Rechtszustands alles darauf zielende Handeln unter dem ethischen Imperativ, den Kampf gegen das Unrecht nach Grundsätzen zu führen, die eine spätere Koexistenz unter der Herrschaft des Rechts nicht ausschließen, so lautet die weitergehende Frage, wie nach einem Systemwechsel die innere Einheit einer Gesellschaft wiederhergestellt werden kann. Wenn der Neuaufbau der politischen Ordnung - wie in der ehemaligen DDR nach 1989 - ohne die alten Machthaber erfolgen kann, liegt es nahe, dem Gerechtigkeitspostulat mit juristischen Mitteln zu entsprechen. Das Strafrecht kann allerdings nicht politische, sondern (in engen rechtsstaatlichen Grenzen) nur individuelle kriminelle Schuld ahnden. Es setzt einen Gesinnungswandel der Täter weder voraus noch sind Zwangsmittel geeignet, ihn zu bewirken. Die Rechtsstrafe bleibt ein äußerer Sanktionsmodus, dessen Beitrag zur Sozialintegration sich darauf beschränkt, das Rechtsvertrauen (auch der Opfer) zu stärken und die Resozialisierung der Täter zu ermöglichen, im übrigen aber auch deren Menschenwürde gegen Rachebedürfnisse zu schützen. In Fällen der „ausgehandelten Revolution", also des historischen Kompromisses zwischen alten und neuen Eliten, ist eine strafrechtliche Verfolgung von Systemunrecht meist politisch unpraktikabel. Es bietet sich deshalb an, die Vergangenheitsaufarbeitung auf die Offenlegung der Wahrheit ohne Rechtsfolgen zu konzentrieren. So wird in postdiktatorischen (und Nachkriegs-) Gesellschaften verstärkt das Instrument der „Wahrheitskommission" eingesetzt und die Gerechtigkeitsforderung zugunsten einer (General-) Amnestie weitgehend suspendiert. Eine Schlußstrichpolitik ohne Aufarbeitung der Schuld mag im Interesse „nationaler Einheit" liegen, verfehlt aber das anspruchsvolle Ziel der Versöhnung. Einen mittleren Weg hat unter maßgeblicher Beteiligung von Kirchenvertretern nach dem Ende des Apartheidsregimes -»-Südafrika beschritten. Die dortige Truth and Reconciliation Commission sollte in öffentlichen Verhandlungen schwerste Menschenrechtsverletzungen aufklären, aussagebereiten politisch motivierten Tätern Straffreiheit

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anbieten und darüber hinaus die W ü r d e der Opfer wiederherstellen, indem ihnen nicht nur Entschädigung g e w ä h r t , sondern Gelegenheit zur Darstellung ihrer Leidensgeschichten gegeben wurde. Diese Konzeption stellt z w a r die Amnestie in den Dienst der W a h r heitsfindung, sie läuft aber Gefahr, auch minimale retributive Gerechtigkeitserwartungen der Opfer zu enttäuschen, wenn die T ä t e r die Offenlegung der Fakten zur Erlangung von Straffreiheit funktionalisieren, ohne R e u e zu zeigen. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit können, richtig abgestimmt, Rechtsprechung und staatlich regulierte Wahrheitsfindung Rahmenbedingungen für Versöhnung in Gerechtigkeit schaffen. Weitere Schritte müssen aber der öffentlich ausgetragenen politischethischen Selbstverständigung sowie der religiösen und therapeutischen Kommunikation vorbehalten bleiben; auf diesen (differenzierten) Handlungsebenen hat auch der Beitrag der Kirchen seinen O r t . Literatur Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 München 4 1985. - Michael Beintker, Schulderinnerung als gesellschaftliches Projekt: B T h Z 17 (2000) 3 - 2 7 . - Gerhard Beestermöller/Hans-Richard Reuter (Hg.), Politik der Versöhnung, Stuttgart 2002. - Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 1992 (DBW 6). - Frieden, Versöhnung u. Menschenrechte, 1978 (DEKD1/1). - Emily Hahn-Godeffroy, Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission, Baden-Baden 1998. - Jürgen Habermas, Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit heute?: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt a.M. 1995. - Theodor Herr, Versöhnung statt Konflikt, Paderborn 1991. - Wolfgang Huber (Hg.), Schuld u. Versöhnung in politischer Perspektive, 1996 (IBF 10). Ders./Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart 1990. - Thomas Otto Hermann Kaiser, Versöhnung in Gerechtigkeit. Das Konzept der Versöhnung u. seine Kritik im Kontext Südafrika (1993), Neukirchen-Vluyn 1996. - Arnold Köpcke-Duttler (Hg.), Schuld - Strafe - Versöhnung. Ein interdisziplinäres Gespräch, Mainz 1990. - Jens Kreuter, Staatskriminalität u. die Grenzen des Strafrechts, Gütersloh 1997 (öffentliche Theol. 9). - Ludger Merkel, Menschenrechtsverbrechen u. Versöhnung: Z M R W 79 (1995) 305 - 3 1 2 . - Geiko Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, Frankfurt a.M. 1996. - Detlef Nolte, Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt a.M. 1996. - Otto B. Roegele (Hg.), Der Briefwechsel der Bischöfe Polens u. Deutschlands u. seine Folgen, Osnabrück 1966. - Gesine Schwan, Politik u. Schuld, Frankfurt a.M. 1997. - Bernhard Seiger, Versöhnung - Gabe u. Aufgabe, 1996 (EHS.T 563). - Donald W. Shriver, An Ethic for Enemies. Forgiveness in Politics, New York 1995. - Gary Smith/Avishai Margalit (Hg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt a.M. 1997. - Karl Gerhard Steck/Dieter Schellong, Umstrittene Versöhnung, 1977 (TEH NF 196). - Strafe. Tor zur Versöhnung? Eine Denkschr. der EKD zum Strafvollzug, Gütersloh 1990. - Versöhnung. Gabe Gottes u. Quelle neuen Lebens. Dokumente der Zweiten Europ. ö k u m . Versammlung in Graz, hg. vom Rat der Europ. Bischofskonferenzen u. der Konferenz Europ. Kirchen durch Rüdiger Noll, Graz 1998. - Wahrheits- u. Versöhnungskommission Südafrika. Das Schweigen gebrochen, Frankfurt a.M. 2000. - Ralf Wüstenberg (Hg.), Wahrheit, Recht u. Versöhnung. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach den politischen Umbrüchen in Südafrika u. Deutschland, 1998 (Kontexte 24). - Joachim Zehner, Das Forum der Vergebung in der Kirche. Stud. zum Verhältnis v. Sündenvergebung u. Recht, Gütersloh 1998 (öffentliche Theol. 10). H a n s - R i c h a r d Reuter

Versöhnungstag - » F e s t e und Feiertage

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Versuchung I. Altes Testament II. Neues Testament . . . III. Kirchengeschichtlich IV. Systematisch-theologisch V. Praktisch-theologisch

S.47 S.52 S.64 S.68

I. Altes Testament 1. Terminologie 2. Die Versuchung Israels durch Gott 3. Die Versuchung Gottes durch Israel 4. Die Versuchung des Gerechten 5. Die Versuchung des Menschen (Literatur S.47)

1.

Terminologie

Dem deutschen Verb „versuchen" entspricht relativ genau das hebräische nsh (vgl. Gerleman; Helfmeyer), das im Alten Testament 36mal, im Lachisch-Ostrakon KAI 193,9 (-»Lachisch) und in 1 Q H 2,14 (-»Qumran) begegnet, immer im Piel, nissäh. Das Substantiv massäh, „ ( O r t der) Versuchung", ist für einen Ortsnamen (Ex 17 u.a.), im Plural für die ägyptischen Plagen (Dtn 4,34; 7,19; 29,2) reserviert. In Jesus Sirach und den Qumranschriften finden sich die Ableitungen ttissüj und nissajön, „Versuchung". Die Wurzel nsh ist im Aramäischen, Syrischen und Äthiopischen, aber nicht in den älteren semitischen Sprachen belegt. Ebensowenig lassen sich in den altorientalischen Religionen Analogien zu den mit nsh verbundenen religiösen Vorstellungen nachweisen.

Die Septuaginta übersetzt konsequent mit dem Wortstamm ntip-(neipä(a), mipaaßÖQ etc.; s.u.

D.I.).

Nissäh bedeutet gelegentlich „etwas versuchen, (aus)probieren" (KAI 193; I Sam 17,39; Koh 2,1 u.a.) wie häufiger napöJifi) (I/II M a k k ; in Weisheit Salomos [-»Salomo/Salomoschriften III] und Jesus Sirach auch „erfahren") , mit personalem Objekt „jemanden versuchen, prüfen, auf die Probe stellen" (Menschen untereinander I Reg 10,1 par. II Cht 9,1; Dan 1,12.14; Weish 2,17; Sir 6,7 u.a.; 1 Q H 2,14). In der Regel (24mal) umschreibt nissäh einen Vorgang zwischen Gott und Menschen: eine Belastungsprobe, die die Gesinnung des Versuchten enthüllen soll. Das Verb steht bis auf Ps 26,2; 95,9 nie zusammen mit bähan, „prüfen", oder särap, „läutern"; das ändert sich erst in der Septuaginta (s.u. 4.2.). Die alttestamentlichen Vorstellungen von Versuchung erschließen sich daher vor allem aus dem Gebrauch des Verbes nissäh (bzw. jietpäCw etc.). Sie sind einerseits auf spätdeuteronomistische Texte, andererseits auf Jesus Sirach und die Weisheit Salomos konzentriert.

2. Die Versuchung Israels durch Gott Die durch Gott Versuchten sind stets seine Erwählten: einzelne (s.u. 4.) oder das Volk. Im zweiten Fall sind die Belege (außer Dtn 33,8; Jdt 8,25; Weish 11,9) verwandter, namentlich spät- bis nachdeuteronomistischer Herkunft (vgl. Lohfink). Hier ist wahrscheinlich der Ursprung der theologischen Versuchungsvorstellung zu suchen, vielleicht genauer in Jdc 2,22; denn hier ergibt sie sich ungezwungen aus dem vorgegebenen Zusammenhang als eine Weiterentwicklung bereits vorliegender Gedanken. Die im -> Deuteronomistischen Geschichtswerk dominierende Erklärung des Unglücks des Gottesvolkes bis hin zum Untergang 587 v. Chr. besteht darin, daß das Volk wegen des Abfalls von J H W H bestraft wird (z.B. Jdc 2,llff.). So erklärt ein Späterer in Jdc 2,20f. auch das Wohnen fremder Völker im gelobten Land. Der noch spätere Zusatz 2,22 fügt aber hinzu: durch die Völker (mit ihren Göttern) wolle J H W H Israel versuchen, ob es ihm treu bleibt oder nicht. Der Gedanke ist in Jos 2 3 , 6 - 8 vorbereitet, aber er wird erst in Jdc 2,22 (und 3,1.4) auf den Begriff nsh gebracht (vgl. Smend, Land). Der Text ist transparent für die nachexilische Gegenwart: als Warnung, aber auch als Trost, eine sinngebende Deutung negativer Verhältnisse. Ebenfalls als Prüfung der Treue zu J H W H erklärt Dtn 13,4 das Auftreten von Propheten, die von J H W H wegführen, aber sich durch Zeichen legitimieren und deshalb nicht nach dem Kriterium von Dtn 18,21 f. zu entlarven sind. Dtn 8 deutet dem nachexilischen Israel die Wüstenwanderung als Prüfung. In V. 16 hat die Prüfung das einfache Ziel, „um dir am Ende wohlzutun" (diese Stelle ist die Konkurrentin zu Jdc 2,22 als

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ältester Beleg der theologischen Versuchungsvorstellung), in V. 2 - 6 geschieht sie, „um dein Herz zu erkennen, ob du seine Gebote hältst oder nicht"; Israel soll seinerseits erkennen, daß der Mensch (!) auf JHWH und sein Wort angewiesen ist, daß JHWH sein Volk erzieht und daß es auf seinen Wegen gehen und ihn fürchten soll (mit Erziehung wird Versuchung sonst erst in der hellenistischen Zeit verbunden, s.u.). Die im Zusatz zur Mannaerzählung Ex 16,4bß angekündigte Prüfung gilt dem Sabbatgebot: geprüft wird das Vertrauen auf JHWHs Fürsorge, auch wenn man am -»Sabbat ruht. Dem Wortlaut nach geht es aber um „mein Gesetz" schlechthin, obwohl Israel das Sinaigesetz noch nicht kennt. Das mag den nachdeuteronomistischen (Lohfink) Einschub Ex 15,25b— 26 mit veranlaßt haben (Ruprecht), nach welchem Israel schon in Mara „Satzung und Recht" bekam - und (so) auf die Probe gestellt wurde. Hier wird aus Dtn 8 die Deutung der Wüstenwanderung als Gehorsamsprobe in die erste Wüstenerzählung eingeschrieben. Ex 20,20, einer der letzten Nachträge in Ex 20, nennt Prüfung (vgl. Dtn 8,2) und Gottesfurcht (vgl. 8,6) als Zweck des „Kommens" Gottes in Theophanie und Gesetzgebung (vgl. Oswald), wohl ebenfalls unter Einfluß von Dtn 8. Der dunkle Hinweis in Dtn 33,8 auf eine Versuchung -»Levis durch Gott in Massa und Meriba ist kein alter Beleg für JHWH als Versucher (gegen Ruppert; Beyerle), sondern setzt Ex 17,1-7 (s.u. 3.) voraus (vgl. Kittel; Reichert). Nach V.9 hat sich Levi dadurch bewährt, daß ihm die Gottesbeziehung wichtiger war als menschliche Beziehungen. Entsprechendes wird über die Leviten am Sinai erzählt, Ex 32,26-29 (unter Einfluß von Dtn 13,7-12; vgl. Veijola, Wahrheit), und Dtn 33,8f. mutet als eine Zusammenschau von Ex 17,1-7 und 32,26-29 an: in Massa und Meriba, „Versuchung und Streit", wurde Levi auf seine Treue zu JHWH hin geprüft und hat sich bewährt.

Neu an den jüngsten Stellen Jdt 8,25-27; Weish 11,9 ist, daß sie (mit Hinweisen auf Abraham, Isaak und Jakob [!] bzw. die Wüsten wanderung) den Unterschied zwischen dem Leiden betonen, das Gott den Seinen als Versuchung und Erziehung (und Läuterung, Jdt) gewährt, und dem Leiden, das die Feinde als gnadenlose Strafe trifft. 3. Die Versuchung Gottes durch Israel Hier handelt es sich im Grunde nur um einen Text, auf den sich die anderen direkt oder indirekt (über das Verbot Dtn 6,16) beziehen: die Erzählung vom Wasserwunder in Massa und Meriba Ex 17,1—7. Sie ist eine Steigerung der Erzählung vom Wasserwunder in Mara Ex 15,22-25a (vgl. Reichert; Aurelius), weil das Volk nicht nur gegen Mose „murrt" (lün 15,24), sondern mit ihm „streitet" und dadurch auch JHWH „versucht" (rib bzw. nsh 17,2.7). Diese Deutung des Streitens erklärt sich als eine Umkehrung von Ex 16,4, wo JHWH das Volk versucht; auch die charakteristische Form der Doppelfrage kehrt wieder: „ob JHWH in unserer Mitte ist oder nicht" (Ex 17,7; vgl. 16,4; Dtn 8,2; Jdc 2,22). Gott zu versuchen, heißt demnach, Zweifel an seinem Beistand zeigen; das hat Israel durch den Streit mit Mose getan. Der Ortsname „Massa und Meriba" ist vom erzählten Vorgang her gebildet worden, um diesen dem Gedächtnis des Gottesvolkes einzuprägen (vgl. u. H.2.). Das ist gut gelungen. Obwohl das Verb nsh in keiner anderen Wüstenerzählung begegnet, ist es zum Stichwort für Israels Verhalten in der Wüste geworden. Nach dem Rückblick Num 14,22 hat Israel JHWH zehnmal „versucht" und ihm „nicht gehorcht". Nach Ps 78 hat es ihn nicht nur in der Wüste (V. 18.41; s.a. Ps 95,8f.; 106,14), sondern auch weiterhin versucht (V. 56): durch Höhenkult und Bilderdienst. Interessant ist, daß in V.18 das Versuchen im Verlangen (sä'al) nach Essen besteht, während dasselbe Verlangen in Ps 105,40 gar nicht verurteilt wird. In Dtn 6,16 wird mit Hinweis auf Massa verboten, JHWH zu versuchen; er ist durchaus „in deiner Mitte" (vgl. Ex 17,7; Dtn 31,17; Jer 14,9; Mi 3,11), aber als ein „eifernder Gott", dessen Zorn entbrennt, wenn man anderen Göttern nachfolgt (6,14f.). Wenn König ->Ahas in Jes 7,12 kein Zeichen des Beistands von JHWH verlangen will, scheint der Text nicht nur das Verbot in Dtn 6, sondern auch die sonst nicht begegnende Gleichstellung von „verlangen" mit „versuchen" in Ps 78 zu kennen: „Ich verlange {sä'al) nicht und versuche JHWH nicht". Um

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den Schein der Frömmigkeit bemüht, verleugnet Ahas das Gottvertrauen. Gott nicht zu vertrauen, heißt aber, ihn zu versuchen (und insofern die Prüfung nicht zu bestehen, vgl. Ps 81,8), am klarsten im ältesten und jüngsten der einschlägigen Texte, Ex 1 7 , 1 - 7 bzw. Weish 1,2, und am ausführlichsten erläutert in Jdt 8 , 1 1 - 1 6 (vgl. noch Sir 18,23). 4. Die Versuchung des

Gerechten

4.1. Die Erzählung über die Versuchung -»-Abrahams in Gen 22 (Forschungsüberblicke bei Neef; Steins) ist eine einmalige Zuspitzung und Vertiefung des Themas, die dessen Anwendung auf ganz Israel voraussetzt (von Rad) und daher nachdeuteronomistisch (Van Seters) und nachexilisch ist (Veijola, Opfer; Steins). Hier beherrscht das Thema eine ganze Erzählung. Es ist auf einen einzelnen zugespitzt, der zudem nicht wie Israel (in deuteronomistischer Sicht) ein notorischer Sünder, sondern ein Gerechter ist, dessen Treue Gott nicht zu prüfen brauchte. Und die Belastungsprobe übertrifft bei weitem alle Versuchungen Israels: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort als Brandopfer" (V. 2). Abraham gehorcht, im letzten Augenblick hindert ihn Gott, „denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest" (V. 12), Abraham findet einen Widder zum Opfer und nennt erleichtert die Stätte „ J H W H (er)sieht" (V. 14). Seine dunkle Antwort an Isaak (V. 8) hat sich im guten Sinn als wahr erwiesen. Nun hat Gott erkannt, daß Abraham bereit ist, ihm alles zurückzugeben, daß er auch in der schwersten Versuchung seinem "Wort folgt (vgl. Dtn 8,2.6); er verkörpert, was die deuteronomistische Paränese verlangt (Van Seters). Und Abraham hat erkannt, daß man Gott, auch wenn er seiner Verheißung widerspricht und in die tiefste Finsternis führt, vertrauen und gehorchen kann. 4.2. Nach (und durch) Gen 22 werden die Versuchungen gerade der Gerechten zum Hauptthema. Auf Abraham als Vorbild der Gottestreue in der Versuchung verweisen Sir 44,20; I Makk 2,52: eöpedt] IIIOTÖQ, in I Makk durch Gen 15,6 fortgesetzt: „das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet" (zur Übertragung des Themas auf sein ganzes Leben und auf andere biblischen Gestalten im -*Jubiläenbuch und später, s.u. II.2; -»Abraham; -»Isaak; Korn 4 8 - 7 0 ; Kundert I, 8 3 - 1 0 7 ; ders. II). Der Versuchungsgedanke verbindet sich allmählich mit dem Gedanken an Gott als Richter, der die Unschuld des Gerechten prüft (bähan), sowie mit dem Läuterungs- und Erziehungsgedanken und verliert so seine Prägnanz. Ein erstes Beispiel ist Ps 26,2, wo bähan, „prüfen", aber seltsamerweise auch ntssäh, „versuchen", und särap, „läutern", in einer Bitte stehen. Nach Sir 4,17 erzieht und versucht die Weisheit ihre Söhne durch Gebote. Sir 2 deutet hingegen alle Leiden der Erwählten als Läuterung (V. 5) und Versuchung (V. 1, aus der Gott stets rettet, 33,1); so auch Weish 3: die Gerechten, deren Seelen in Gottes Hand sind, wurden durch ihr irdisches Leiden nicht bestraft, sondern ein wenig gezüchtigt, versucht und wie Gold geprüft (V.5f.; zu Hi 7,1; 10,17; 16,10; 19,12; 25,3 L X X vgl. Korn 1 0 - 1 7 ; zu Dan 12,10 L X X s.u. II.2.) 4.3. Nach dem verbleibenden «s/j-Beleg II Chr 32,31 „verließ" Gott -»Hiskia, um ihn zu versuchen. Das mag eine aufkommende Scheu andeuten, Versuchung als ein unmittelbares göttliches Handeln zu bezeichnen; Jesus Sirach und Weisheit Salomos verwenden gerne Passivformen und Substantive. Deutlich zeigt sich diese Tendenz schon in Hi 1 - 2 (-»Hiob/Hiobbuch), der nächsten Sachparallele zu Gen 22, obwohl ohne Versuchungstermini. Ähnlich wie Abraham ist Hiob ein Gottesfürchtiger, der aufs äußerste geprüft wird und sich bewährt. Die Initiative aber kommt vom Satan (-»Teufel); er ist hier die Antwort auf die Frage, wie Gott überhaupt auf die unheimliche Idee der Prüfung gekommen ist (dieselbe Rolle spielt Mastema in der Nacherzählung von Gen 22 in Jub 17f.). Versuchungsgeschichten ohne Versuchungstermini mag man auch Dan 3 (die drei Männer im Feuerofen) und 6 (Daniel in der Löwengrube; -»Daniel/Danielbuch) und Märtyrergeschichten überhaupt nennen. Wie in Jdc 2f. wird die Treue zu

V e r s u c h u n g II

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G o t t d u r c h F r e m d e a u f die P r o b e gestellt; a b e r a n d e r s als im —•Richterbuch h e i ß t es n i c h t , d a ß die P r ü f u n g von G o t t k o m m t . 5. Die

Versuchung

des

Menschen

D i e E r z ä h l u n g v o m Sündenfall G e n 3 , 1 - 6 ( - » S c h ö p f e r / S c h ö p f u n g I I . 5 . 2 . ) k o m m t e b e n f a l l s o h n e V e r s u c h u n g s t e r m i n i aus. D o c h e r z ä h l t sie e b e n s o wie die d e u t e r o n o m i s t i s c h e n V e r s u c h u n g s t e x t e von der P r ü f u n g des G e h o r s a m s gegen ein göttliches G e b o t . S a g t s c h o n D t n 8 , 3 , d a ß „der M e n s c h " v o n J H W H s W o r t l e b t , ist diese p u n k t u e l l e Universalisierung der d e u t e r o n o m i s t i s c h e n V e r k ü n d i g u n g s p ä t e r in G e n 3 voll d u r c h g e f ü h r t . D i e e l e m e n t a r e T r a g i k des M e n s c h e n l e b e n s wird a u f die N i e d e r l a g e in einer G e h o r s a m s p r o b e , a u f einen Verlust des e l e m e n t a r e n G o t t v e r t r a u e n s z u r ü c k g e f ü h r t . Vers u c h e r ist weder G o t t n o c h T e u f e l , s o n d e r n eines der T i e r e , die G o t t g e m a c h t h a t t e ; w e r die V e r s u c h u n g v e r a n l a ß t , w i r d also in der S c h w e b e g e h a l t e n . D a s A n g e b o t , wie G o t t zu w e r d e n und zu wissen, w a s gut und b ö s e ist, in allem H e r r seines L e b e n s zu sein, ist kein Z w a n g — die M e n s c h e n bleiben v e r a n t w o r t l i c h - , a b e r es erweist sich als u n w i d e r s t e h l i c h . D e r F a l l erscheint n i c h t als ein prinzipiell, a b e r p r a k t i s c h u n v e r m e i d liches S c h i c k s a l . Literatur Erik Aurelius, Der Fürbitter Israels. Eine Stud. zum Mosebild im AT, Stockholm 1988 ( C B . O T 27). - Stefan Beyerle, Der Mosesegen im Dtn, 1997 (BZAW 250). - Gillis Gerleman, Art. nsh pi. versuchen: T H A T 2 (1976) 6 9 - 7 1 . - Moshe Greenberg, nsh in Exodus 20,20 and the Purpose of the Sinaitic Theophany: J B L 79 (1960) 273 - 2 7 6 . - Franz Josef Helfmeyer, Art. nissäh: T h W A T 5 (1986) 4 7 3 - 4 8 7 . - H a n s - J o a c h i m Kittel, Die Stammessprüche Israels, Diss. Berlin 1959. - Joachim Hans Korn, ÜEIPAZMOZ. Die Versuchung des Gläubigen in der griech. Bibel, 1937 ( B W A N T 72). - Lukas Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks. I. Gen 2 2 , 1 - 1 9 im AT, im Frühjudentum u. im NT. II. Gen 2 2 , i - 1 9 in frühen rab'binischen Texten, 1998 ( W M A N T 78 u. 79). - Norbert Lohfink, „Ich bin Jahwe, dein Arzt" (Ex 15,26): ders., „Ich will euer Gott werden", 1981 (SBS 100) 11 - 7 3 = ders., Stud. zum Pentateuch, 1988 (SBAB 4) 91 - 1 5 5 . - Heinz-Dieter Neef, Die Prüfung Abrahams, 1998 (AzTh 90) (Lit.). - Elias B. Oikonomos, üeipaafwi iv rfi IlaXaiq. Aia0r¡KX¡, Athen 1965. - Wolfgang Oswald, Israel am Gottesberg, 1998 (OBO 159). - Gerhard v. Rad, Das erste Buch Mose. Genesis, '1972 (ATD 2 - 4 ) . - Andreas Reichert, Der Jehovist u. die sog. dtr. Erweiterungen im Buch Exodus, Diss. Univ. Tübingen 1972. - Lothar Ruppert, Das Motiv der Versuchung durch Gott in vordtr. Tradition: V T 22 (1972) 13 - 2 2 . - Eberhard Ruprecht, Stellung u. Bedeutung der Erzählung vom Mannawunder (Ex 16) im Aufbau der Priesterschr.: Z A W 86 (1974) 2 6 9 - 3 0 6 . - Rudolf Smend, Das uneroberte Land: Das Land Israel in bibl. Zeit, hg. v. Georg Strecker, 1983 (GTA 25) 9 1 - 1 0 2 = ders., GSt. II. Zur ältesten Gesch. Israels, 1987 (BevTh 100) 2 1 7 - 2 2 8 . - Georg Steins, Die „Bindung Isaaks" im Kanon (Gen 22), 1999 (Herders Bibl. Stud. 20) (Lit.). - John Van Seters, Abraham in History and Tradition, New Häven, Conn. 1975. - T i m o Veijola, Das Opfer des Abraham: Z T h K 85 (1988) 1 2 9 - 1 6 4 . - Ders., Wahrheit u. Intoleranz nach Dtn 13: Z T h K 92 (1995) 2 8 7 - 3 1 4 = ders., Moses Erben, 2000 ( B W A N T 149) 1 0 9 - 1 3 0 . - Ders., „Der Mensch lebt nicht v. Brot allein." Zur literarischen Schichtung u. theol. Aussage v. Dtn 8: Bundesdokument u. Gesetz. Stud. zum Dtn, 1995 (Herders Bibl. Stud. 4) 1 4 3 - 1 5 8 = ders., Moses Erben, 2000 ( B W A N T 149) 9 4 - 1 0 8 . E r i k Aurelius

II. N e u e s T e s t a m e n t 1. Terminologie 2. Traditionsgeschichtliche Zusammenhänge optikern 4. Versuchung in der neutestamentlichen Briefliteratur 1.

3. Versuchung bei den Syn(Literatur S. 51)

Terminologie

Wichtigstes sprachliches Signal für das Vorkommen der Versuchungsthematik im Neuen Testament ist der griechische Wortstamm neip- mit seinen verschiedenen Ableitungen. Dazu gehören das Intensiwerb nsipalfi) (selten: „etwas versuchen"; meistens: „jemanden prüfen/auf die Probe stellen/versuchen") mit dem Kompositum ¿KJteipä£co („jemanden versuchen"), das davon abge-

Versuchung II

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leitete Substantiv 7ceipaafiöHiob) einen Machtbereich über den Menschen zu, um diesem innerhalb des descensus ad inferos seine Verlorenheit und Gottverlassenheit als Voraussetzung der Flucht zum im Evangelium sich kundtuenden Deus revelatus bewußt werden zu lassen. Hier einen Dualismus sehen zu wollen, trifft die Sache nicht, da es Luther gerade um das In- und Miteinander des zur Linken wie zur Rechten wirkenden Gottes zu tun ist, der in die Hölle führt und wieder heraus (I Sam 2,6). Darum vergleicht Luther Gott mit der Sonne, die sich zuweilen unter Wolken verbirgt, ohne dadurch aufzuhören, ein und dieselbe zu sein (Ratschow 242). 2.1.2. Z w a r sind nach Luther Versuchungen Gottes und des Teufels zu unterscheiden, wobei er die patristische Differenzierung aufgreift, derzufolge Gott anficht, damit der Angefochtene bestehe und siege, der Teufel aber, damit jener verderbe (s.o. 1.; vgl. W A 3 7 , 3 1 0 , 5 f . ) . Gleichwohl k o m m t bei Luther — im Sinne der sechsten Vaterunser-Bitte deutlicher zum Vorschein, daß Gott auch dort aktiv Urheber der Versuchung ist, w o vordergründig der Teufel wirkt. Wie Luther u.a. anhand von Gen 22 herausarbeitet, begibt sich der den Glaubenden versuchende Gott in einen radikalen Selbstwiderspruch (contradictio), indem er „widder sich selbs redet" (WA 24,382,13), sich also mit dem Abraham Abverlangten wie ein Lügner sowohl gegen das Tötungsverbot (Ex 20,13) als auch gegen seine promissiones (Gen 12,2 f.) (also gegen Gesetz und Evangelium!) wendet. Auf der Probe steht demnach nicht nur der Glaube Abrahams, sondern ebenso die veracitas Dei und die Wahrheit seiner Verheißungen. Die Kontrafaktizität des Glaubens wird greifbar darin, daß Abraham, den Luther wie die ihm nachfolgende Tradition (vgl. Gerhard, Commentarius 436) als exemplum fidei und nicht als tugendhaftes Vorbild vor Augen stellt, dort, wo nichts zu hoffen und der Grund des Glaubens ferne ist, kontradiktorisch gegen Gott an Gott festhält. So flieht auch der Glaubende ad deum contra deum (WA 5,204,26f.) - ähnlich wie die Männer im Feuerofen (Dan 3,17f.). Entscheidend ist, daß es Luther gelingt, die Versuchung aus deren Situation selbst heraus, d.h. (im Falle von Gen 22) in der sich dehnenden Zeit dreier Tage zu thematisieren, ohne in Versuchung zu kommen, die tentatio nur von deren Ausgang her, d.h. post factum, zu betrachten und somit zu entschärfen. Nur so kann in voller Schärfe wahrgenommen werden, daß die dem Glauben aufgebürdete Zumutung darin besteht, in der Gegenwart der Versuchung und der Gottesferne an der Zukunft Gottes und seiner Rettung festzuhalten. Diesen Zusammenhang greift später S. -»Kierkegaard auf. Er plädiert dafür, Gen 22 nicht vom „Ausgang" (Kierkegaard 68) her zu lesen, sondern den „Schmerz der Prüfung" (ebd. 56) sowie „die Angst, die Not, das Paradox" (ebd. 69) stark zu machen, um so dem „Dennoch" des

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Glaubens Abrahams ansichtig werden zu können. Demgemäß arbeitet Kierkegaard heraus, daß die „Doppelbewegung" und der Glaube Abrahams „kraft des Absurden" (ebd. 34) darin bestehen, daß dieser nicht in „Resignation" (ebd. 33) verfällt, er darum Isaak nicht aus falsch verstandener Gottesliebe sofort und „hier zu Hause" (ebd. 35) opfert, aber auch nicht den ihn prüfenden Gott verwirft, sondern das „Paradox" (ebd. 36) aushält und sich auf den Weg einer Dreitagesreise macht (ebd. 35), die der Leser gleichsam mitvollziehen muß, um die Befindlichkeit des Versuchtseins von innen heraus kennenzulernen. Die Medien, mit Hilfe derer der Teufel den Gottessohn wie auch die Glaubenden versucht, sind vielfältig. Zwar begegnet auch bei Luther (nicht nur beim jungen! [Peters 171]) die von der Patristik her altbekannte Trias von gula, vana gloria und avaritia (vgl. W A 29,56,1 ff.), vermittels deren der Satan seine Versuchung in Szene setzt. Allerdings nimmt diese Trias bei Luther keineswegs die zentrale Stellung ein wie noch in den mittelalterlichen Exegesen von Mt 4. Vielmehr rückt, so wie innerhalb des Rechtfertigungsverständnisses bei Luther die fides im Zentrum steht, folgerichtig in der Definition dessen, was Versuchung sei, die teuflische Verführung zum Unglauben (in der Form von diffidentia, desperatio, blasphemia [WA 30/1,16,27-29] und incredulitas [107,12]) in den Mittelpunkt. Zwar steht Luther zweifellos in altkirchlicher und mittelalterlicher Tradition - so auch, wenn er aufzeigt, daß die Versuchungen Christi im Rahmen der Adam-Christus-Parallele (Rom 5 , 1 2 - 1 9 ) mit denjenigen der Ureltern im -•Paradies (s.o. 1.5.) synoptisch zu lesen sind - , aber Luther zentriert dies alles um die Botschaft der Rechtfertigung allein aus Glauben, von w o aus sich eine ganze Reihe von originären Neuformulierungen des Problemzusammenhanges ergeben. Einig ist Luther mit der Tradition auch darin, daß sich der Versucher (wie Adam und Eva gegenüber im Paradies [Gen 3,1; vgl. WA 32,119,11-14]), dessen Tätigkeit in toto darin besteht, „das er all ding verderbt und zum ergsten macht" (ebd. 119,8), des verdrehten Wortes Gottes bedient. Fehlerhaftigkeit und List der satanischen Hermeneutik freilich definiert Luther anders als die Tradition, indem er offenbar im Anschluß an Bernhard (VII, 680) aufzeigt, daß der Satan in Mt 4,6 den Wortlaut von Ps 91,11 nicht korrekt anführt, sondern verstümmelt, indem er die Lokaladverbiale in viis tuis fortläßt: omittit „in viis", quia non dinet im, quia volebat, ut descenderet de templo (er läßt „auf [deinen] Wegen" aus, weil es ihm in seiner Argumentation nicht dient, weil er wollte, daß er [sc. Christus] sich vom Tempel herabstürze; WA 15,451,34f.; vgl. 29,60,1). Der Teufel also verdreht den sensus literalis und versucht Christus dergestalt, daß er ihn dazu bewegen will, außerhalb der ihm von Gott anbefohlenen Wege sein Vertrauen auf den göttlichen Schutz vermittels der Engel zu setzen und sich von den Zinnen des Tempels zu stürzen. Versuchung durch den Satan ist somit der teuflische Versuch, den Menschen zur Versuchung Gottes anzustiften. Sie besteht darin, Gottes promissiones außerhalb der von ihm gesetzten äußeren Bedingungen auf den Prüfstand zu stellen, ihm Zeit und Maß der Erfüllung des Verheißenen vorzuschreiben, „Gottes Wort und wunder so reichlich haben und doch nicht wollen gleuben" (WA 22,163,9f.) wie die Israeliten zu Massa und Meriba (Ex 17,1-7) und letztendlich das verbum Dei für „lauter nichts" (162,24) zu erklären, mithin Gott zu einem Lügner zu machen. Zugleich aber sucht Gott Menschen mit Versuchungen heim, damit sie „ursach gewinnen, Gott zu suchen" (WA 16,317,33), und an dessen Wort festhalten. 2.1.3. In zuvor wohl kaum zu beobachtender Deutlichkeit hat Luther die Methodik, die Versuchungen zu überwinden und somit den Satan aus dem Feld zu schlagen, um das verbum Dei zentriert. Indem er Mt 4 , 1 - 1 1 mit Eph 6,16 f. konsequent synoptisch zu lesen lehrt, instruiert Luther die Glaubenden (aufgrund eigener Erfahrung [Scheel 77,12f.]) katechetisch und seelsorglich gleichermaßen, das Wort Gottes durch meditatio (Lektüre der Heiligen Schrift [WA 9,592,10f.]) und oratio (allen voran in Gestalt des Vaterunser und dessen sechster Bitte [WA 30/l,17,23f.; 2,124,25f.] sowie durch geistlichen Gesang) als Schwert des Geistes gegen den Satan zu richten und — ähnlich wie der Gottessohn (Mt 4,10) - einen Exorzismus („Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen" [WA.B 7,105,32f.]) vorzunehmen. Hier konkretisiert sich die Gewißheit: „Ein Wörtlein kann ihn fällen" (EKG 201,3). Der Streit mit dem Versucher ist demnach Wettstreit von Schriftauslegern, und das Ziel ist, „schrifft mit schrifft zu uberwinden" (WA 15,452,16) bzw. die vom Versucher zitierten Bibelstellen dahingehend

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zu überprüfen, ob sie sich im Sinne des Grundsatzes, daß die Schrift sui ipsius interpres ist (WA 7,97,23; 27,63,4f.; vgl. ähnlich Bengel, Gnomon [zu Mt 4,7]), an anderen Texten im gemeinten Sinne bewahrheiten lassen (WA 27,63,4f.). Zugleich aber ist dieser Kampf gegen den Teufel Kampf mit Gott, dem der Glaube die Zusage der Verheißung abringt wie Jakob dies am Jabbok tut (Gen 32,27). Jakob überwindet Gott und dessen Werk zur Linken, indem er (gegen Augenschein und Gefühl) Gottes Güte ergreift (WA 24,578,28 ff.). M. -»Bucer sieht in der Versuchung wie Luther zuvörderst eine teuflische Attacke gegen den Glauben (Bucer 156,18), betont jedoch im Hinblick auf die Überwindung derselben neben Glauben und Gebet stärker ethische Aspekte (ebd. 158,10f.). Luthers seelsorglicher Ernst innerhalb der katechetischen Zurüstung der Glaubenden (ähnlich bei A. -»Oslander [848,18ff.]) um der stets neuen Überwindung der Versuchung willen wird nicht zuletzt deutlich darin, daß er den Christenmenschen direkte Widerreden gegen den Teufel in den Mund legt und sie bisweilen dahingehend elementarisiert, daß er sie auf die Tauferinnerung hin fokussiert: Ego baptisatus credo, quod filius dei pro me mortuus. Piauder mihi in cor, quod vis (Ich Getaufter glaube, daß der Sohn Gottes für mich gestorben ist. Piauder mir ins Herz, was du willst; WA 46,206,26f.). Innerhalb dieser auf das Wort gründenden Strategie zur Überwindung der Versuchung konkretisiert sich nicht nur Luthers Rechtfertigungslehre praktisch. Vielmehr setzt sich der Reformator hiermit auch deutlich von der überkommenen Ansicht ab, vor allem die Nachahmung der patientia Christi bringe den Sieg gegen den Versucher ein, wobei er zudem klarstellt, daß ethische Qualitäten überhaupt und darum auch die sanctificatio zur Überwindung der Versuchung niemals hinreichen. Auch Luther geht es um die imitatio Christi, jedoch nicht zuvörderst in Gestalt der Nachahmung von dessen Geduld, denn Christus hat gegen den Teufel gesiegt non operibus, sed verbo dei. Hunc imitare (nicht mit Werken, sondern durch das Wort. Den ahme nach; WA 15,450,13f.). Ob Luther nun mit seiner Satanologie der Geisteswelt des Mittelalters zuzurechnen ist oder nicht, mag kontrovers diskutiert werden. Wichtiger aber ist, zu begreifen, daß die Externalisierung des Urbösen im Menschen mit Hilfe der Personiiikation desselben in Gestalt des Teufels Bedingung der Möglichkeit effizienter Auflehnung und gelingenden Widerstandes gegen das Böse ist. Hierbei ist es nicht zuletzt die Macht des aus dem Glauben hervorwachsenden -»Humors, mit dem der Christ den Teufel aus dem Feld schlagen kann, weil er weiß, daß die Macht des Versuchers gebrochen ist und der Satan darum zur Witzfigur geworden ist, die man nur verlachen kann. Ist es Gott selbst, der sich durch die Inkarnation in die Gottmenschheit und somit in die Paradoxie begibt, so wird der Glaubende dem Gottessohn darin ähnlich, daß er die Freiheit erlangt, sich dem Satan gegenüber paradox zu verhalten. Paradoxie und Humor des Glaubens werden z. B. dort virulent, wo der Christ dem Teufel und seiner Anklage mittels des Gesetzes Recht gibt und ihm dabei behilflich ist, das ohnehin opulente Sündenregister zu komplettieren, dieses aber hierdurch auf den Kopf gestellt und ad absurdum geführt wird: „Teufel, ich hab auch in die hosen geschissen; hastus auch zu den andern sunden in dein register geschrieben?" (WA.TR 1,392,3f.). Neben das Lachen tritt bei Luther der vom Glauben genährte Affekt der -»Freude, welche die Enge der Angst überwindet, dem Herzen Raum schafft und dafür sorgt, daß der Angefochtene dem Versucher, der in seiner Traurigkeit und Schwermut Gesellschaft haben will, entkommen kann, etwa durch leibliche Ergötzlichkeiten, Musik, Gesang, Gebet (vgl. Steiger, Melancholie 9-20) oder durch die Beschäftigung mit den „lächerlichen Possen" des Eulenspiegel (WA.TR 1,548,4). Doch ist die Freude nicht nur Mittel, um dem Versucher zu entkommen, sondern doppelt reflektiert ist die Versuchung selbst Grund zur Freude nach Jak 1,2 (WA 2,125,36f.), weil sie letztendlich eine Auszeichnung Gottes darstellt (WA 3,340,13f.), der nach Luther (anders als noch bei J. -»Hus [282,36f.]) allein auctor der Versuchung ist („Goth füret uns zcw der anfechtung" [WA 9,588,14]), dem darum Dank gebührt (ebd. 589,11) und den der Beter bittet: „Prüfe mich HERR / vnd versuche mich" (Ps 26,2). Ähnliches gilt auch für die tristitia, die den Menschen in Gestalt der „göttlichen Traurigkeit" (II Kor 7,10) zu Gott, dem Urquell der Freude, führt. Insofern wird man von einer Positivierung der Affekte (der positiven wie der negativen) bei Luther von der Macht des Glaubens her sprechen können.

In enger Anlehnung an die Tradition beschreibt Luther die Multimedialität, deren sich der Satan bedient, um den Menschen zu versuchen, seine List und Verschlagenheit.

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Radikaler aber als die herkömmliche Sicht faßt Luther des Teufels Verwandlungskunst, seinen dialektischen Scharfsinn und seine rhetorische Kunstfertigkeit, worüber dieser trotz mangelnder Promotion (WA.TR 1,350,18) verfügt. Dies alles bringt sich u.a. darin zur Erfahrung, daß der Satan nicht nur vorhandene Sünde vergrößert, sondern auch Sünden fingiert, wo keine sind (WA 17/2,20,21 f.), sich als Engel des Lichts verkleiden und sogar in Gestalt Gottes oder Christi selbst auftreten kann, um den Menschen zu überlisten. „Wen Christus kompt vnd redet mit dir ... wie Moses: Was hastu gethan? ßo Schlahe yhn zu tod" (WA.TR 2,583,16f.; vgl. Diem 101). Tröstliches Korrelat zu Luthers Satanologie ist dessen Lehre von den -»-Engeln, die (deutlich häufiger als wahrgenommen [TRE 9,606,19f.]) von Luther gepriesen werden. Die Engel sind es, die (in ihrer Funktion als angelí interpretes) „alles wol auslegen, trösten, radten, helffen, schützen und leren" (WA 32,119,22f.), denen nicht nur die erste Predigt im Neuen Testament zu verdanken ist (WA 29,656,11), sondern auch die Tatsache, daß des Teufels Macht eng umgrenzt bleibt (WA 32,120,1-4; vgl. J.S. -•Bach: „Wohl aber uns, daß Tag und Nacht / Die Schar der Engel wacht, / Des Satans Anschlag zu zerstören" [Bach 356 (BWV 130)]). 2.1.4. Das Fundament von Luthers Sichtweise der Versuchung liegt in dessen Versöhnungslehre, die wiederum getragen wird von dem Gedanken, daß der leidende Christus als Deushomo und darum auch seiner göttlichen Natur nach - dies im Unterschied zur fast durchweg verbreiteten altkirchlichen und mittelalterlichen Sicht — als Hoherpriester sämtliche den Menschen plagende Versuchungen getragen (vgl. Hebr 4,15), die tiefste nur denkbare Versuchung, die Höllen-, Gerichts- und Zorneserfahrung ein für allemal durchlitten hat, der Glaubende darum nicht ins Gericht kommt (Joh 5,24) und ihm daher auch keinerlei Versuchung mehr zum geistlichen Tode noch zur Verdammung gereichen kann. Daher rührt, daß Luther, der die Evangelien in toto als Passionsgeschichten liest, Mt 4,1 — 11 anders als weite Teile der patristischen Tradition radikal von der exinanitio Christi (WA 11,22,15: „hat er sich so runder gelassen") her liest, während altkirchliche Ausleger eine Affizierung der natura divina ablehnen oder gar die semi-doketische Meinung vertreten, auch die menschliche Natur sei von den Versuchungen des Teufels nicht wirklich (d.h. nur äußerlich) getroffen worden und Jesus habe sie nur aus pädagogischen Beweggründen getragen, um sich den Menschen als nachahmenswertes exemplum zu präsentieren. „Es ist Christo kein schertz gewest, quando sie tentatus fuit, als hette ers nicht gefült" (WA 37,308,4f.). Deutlich allerdings ist die starke Anlehnung Luthers an Augustins Hervorhebung der soteriologischen Relevanz der Versuchung Christi (s.o. 1.): Christi „syg ist meyn syg" (WA ll,23,13f.; 29,52,3: „tentatur a diabolo uns zu gut"). Nicht allein biographisch bringt sich die Versuchung nach Luther je und je neu in Erfahrung, vielmehr ist sie auch geeignet, die innerreformatorischen Trennungsprozesse, nicht zuletzt die Abspaltung der „Sakramentierer" sowie des sog. linken Flügels insgesamt zu erklären (vgl. WA 37,311,33-35), die Luther als ein Werk des die Schrift pervertierenden Versuchers deutet. 2.2. J. -•Calvins Theologie ist nicht derart vom Zentralthema der Versuchung durchdrungen wie diejenige Luthers. Dennoch läßt sich inhaltlich eine weitgehende Übereinstimmung feststellen, etwa, was die konsequent soteriologische Lektüre von Mt 4 angeht (CR 43,130) und die Strategien zur Überwindung des satanischen Aggressors (ebd. 132). In seiner Exegese von Gen 22 kommt Calvin auf das certamen (CR 23,312) Abrahams mit der Verheißung Gottes zu sprechen, der die Versuchung nicht nur zuläßt, sondern deren author (Op. III, 220,13) ist, sich hierbei aber - anders als nach Luther - nicht bzw. nur scheinbar in einen Selbstwiderspruch begibt (ebd. 224,25 - 27). Sinn der Versuchung und der crucis tolerantia (ebd. IV, 161,16) liegt in der hiermit in Gang kommenden eruditio (ebd. 163,39; 164,19), die Gehorsam, Demut und Flucht zum gnädigen Gott zum Ziel hat. Analog zu Luther sieht Calvin den Grund für die dem Glaubenden

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mögliche Uberwindung der Verderbensmächte darin, daß Christus sich dem Dei tribunal (CR 45,720; 31,222) ausgeliefert und alle Sündenstrafen getragen hat (ebd. 45,779). Die Bedingung der Möglichkeit der Uberwindung der Versuchung loziert Calvin (wie auch der Heidelberger Katechismus [BSRK 719]) stärker als Luther in der Begabung des Glaubenden mit dem Heiligen Geist. 1.3. Wie intensiv die Rezeption der Theologie Luthers bezüglich der VersuchungsThcmatik innerhalb der lutherischen -» Orthodoxie gewesen ist, zeigt sich in den LociDogmatiken, die häufig die Trias von oratio, meditatio, tentatio zugrundelegen (z.B. Ma:thias Hafenreffer [1561-1619]; ders. 1 - 2 2 ; J. -»Gerhard, Loci I, 4), in exegetischen Konmentarwerken, in Predigten, Erbauungsbüchern (z. B. Gerhard, Meditationes 2 2 0 224u.ö.), in der casus-conscientiae-Literatur (Georg König [1590-1654]; ders. 1 8 2 - 1 8 8 ) sowie in der Emblematik (zur Verarbeitung von Mt 4 vgl. Henkel/Schöne 1859) und der geistlichen Dichtung (z.B. Andreas Gryphius [1616-1664]; ders. 143). Hierbei ist - etwa bei M. -»Chemnitz (188-194), Gerhard (Postilla 3 4 7 - 3 6 2 ) und A. -»Calov (167-172) - das Bemühen erkennbar, die patristische wie mittelalterliche VersuchungsTradition im Lichte Lutherscher Vorgaben kritisch zu deuten und aufzuarbeiten, die gesamte Thematik zu systematisieren und praktisch (vor allem poimenisch und homiletisch) fruchtbar zu machen. Als ein gelungenes Beispiel einer kongenialen Weiterbildung des Lutherschen Versuchungs-Verständnisses sei Valerius Herbergers (1562-1627) homiletische Umsetzung von Gen 22 genannt, wo Gottes Selbstwiderspruch sowie Abrahams kontrafaktischer Glaube („aber Gott hat zu verlieren seine Wahrheit! da mag er zusehen, wie er sein Wort halte" [Herberger 350]) geradezu innerhalb einer Inszenierung dargeboten werden. Da das letzte Stündlein als Situation der finalen und darum besonders scharfen Versuchung erkannt wird, wird dieser Thematik innerhalb der —>Ars moriendi und den -»Leichenpredigten des 17. Jh. besondere Aufmerksamkeit zuteil. 2.4. Auf römisch-katholischer Seite ist das Bestreben erkennbar, das Thema „Versuchung" in die tridentinische Gnadenlehre einzufügen, wobei der Versuchte sich laut R. -» Bellarmini des adiutorium Dei (Bellarmini IV, 773) gewiß sein kann, aber aufgrund seines liberum arbitrium das in seinen Kräften Stehende selbst tun muß, um durch die Überwindung der tentationes ein seinen Heilsprozeß vorantreibendes meritum zu erwerben (ebd. 772). Mithin bietet die Versuchung dem Christen mannigfache Gelegenheiten, wie Abraham und Hiob seine Tugendhaftigkeit (virtus) in Form von Caritas und patitntia unter Beweis zu stellen (ebd. 827). Was die Versuchungen Christi angeht, so ist räch Bellarmini deutlich, daß von ihnen nur die natura humana des Gottessohnes betraffen war, während er das Zentrum der Lutherschen Versöhnungslehre, also die Gewißheit, daß Christus alle Versuchungen in Gottes Zornesgericht stehend getragen hat, als incredibilis blasphemia (ebd. I, 528) bezeichnet. ¿ 5 . Innerhalb des sog. linken Flügels der Reformation sowie in der aus ihm hervorwachsenden spiritualistischen Bewegung des 17. Jh. wird das Versuchungs-Verständnis J. -»Taulers und anderer mystischer Autoren weitergetragen. Th. -»Müntzer, der in Luther einen „bruder sanfftleben" (Müntzer 282,8) sieht, wirft diesem vor, die Menschen „mit unversuchtem glawben" (ebd. 223,30) in die Irre zu führen und ihnen mit dem vermeintlichen Trost der in Wahrheit nur tötenden Schrift, mit der „nichts auß[zu]richten" (ebd. 218,23) ist, das falsche (rein fleischliche) Werkzeug gegen die Versuchung an die Hand zu geben, wohingegen wahrer Trost nur aufgrund direkter Einwirkung des Heiligen Geistes und nach der Abtötung des Fleisches durch Kreuz und Widsrwärtigkeiten zu finden sei. C. -»Schwenckfeld, der das Abscheiden von der Welt, die Gelassenheit, das Sich-selbst-Absterben innerhalb eines schroffen Fleisch-Geist-Dualisims zur Bedingung der Möglichkeit erhebt, durch die imitatio des Leidens Christi mit diesem verähnlicht zu werden und Heil zu erfahren, ist der Ansicht, daß sich eben im Rahmen dieses Absterbens von der Welt auch die Uberwindung der Versuchung

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vollbringt. „Dann den Satan vnd die weit überwinden / sich selbs warlich erkennen / sich selbs gründlich verschmehen / vnd jhm selbs gantz absterben / ist des Christlichen streits summa" (Schwenckfeld 40). Eine vergleichbare Koinzidenz von Überwindung der Welt bzw. des Fleisches und der satanischen Versuchung prägt auch die Theologie A. —»Karlstadts, J. —•Schettlers u.a. V. —»Weigel geht in seinem Geist-Fleisch-Dualismus so weit, daß er die Urheberschaft der Versuchung nicht in Gott, sondern (wie J. -»Böhme [IX, 156f.]) einzig und allein im Menschen aufspürt („Gott versuecht keinen nicht, ein yeder wirtt von Jme selbs versuecht" [ebd. 117,11]), näherhin in dessen „aignen lüssten" (ebd. 117,20), denen nur durch „volle gelassenhaitt" und „Verleugnung sein selbst" (ebd. 118,10-12) wirkungsvoll entgegengetreten werden kann. 2.6. Ph.J. Spener s Verständnis der Versuchung deckt sich mit demjenigen Luthers bzw. der lutherischen Orthodoxie auf weite Strecken. Einen differenten Akzent aber, der nicht zuletzt auf Impulse von Seiten J . -»Arndts zurückgehen dürfte, setzt Spener, indem er die Versuchung sich u.a. darin vollziehen sieht, daß der Teufel den Artikel von der iustificatio derart strapaziert, daß die sanctificatio ins Hintertreffen gerät. Hiermit hebt Spener die Luthersche Sicht der teuflischen omissio (s.o. 2.1.2.) auf eine andere Ebene: derjenige, der keine guten Werke tut, kann nicht selig werden „nicht auß mangel der wercke eigentlich / sondern weil er den glauben nicht hat / bey welchem sonsten gewißlich die wercke sich finden würden ... Dieses lasset der teuffei gern auß" (HI/1,1, 313). Während Luther die sanctificatio im Hinblick auf die Überwindung der Versuchung für völlig unbrauchbar hält, sieht Spener umgekehrt gerade in der Verschleierung der Notwendigkeit der Heiligung den Teufel am Werk. Ein Novum stellt zudem die nach Spener zur Vermeidung des Versuchtwerdens nötige Gewissenserforschung, die „genaue achtgebung auff sich selbs" (111/2,1, 351), dar. Weitaus stärkere Verschiebungen aber zeichnen sich innerhalb des Halleschen -»Pietismus ab. Deutlich ist, daß mit A.H. -»Franckes Modell einer sich nach der konkret biographisch-historisch zu verortenden -»Bekehrung einstellenden ethischen Perfektionierung des Menschen und zunehmenden sanctificatio nicht nur die Dialektik des Lutherschen simul iustus et peccator in den Hintergrund tritt, sondern auch die Versuchung ihren Rang als theologisches Zentralthema zusehends einbüßt. Hiermit verbunden ist eine nachhaltige Moralisierung des Versuchungsbegriffes: nicht der Glaube und das verbum Dei als geistliche Waffen sind es, die laut Francke dem Versucher entgegenzusetzen sind, als vielmehr „ein gar ernstlicher Fleiß der Heiligung" (Francke 433,30) und der „Vorsatz, sich in einen ernstlichen Kampf gegen die Sünde zu begeben" (ebd. 432,9). Anders als bei Luther und seinen Erben wird die teuflische Versuchung nicht zuvörderst in der Zerstörung des Glaubens gesehen, sondern als Verführung zu weltlichen Lüsten definiert, weswegen die Welt auch als „Versuchungs-Wüste" (ebd. 431,64) bezeichnet wird. N.L. -»Zinzendorf steht mit seinem Versuchungsverständnis zweifelsohne auf von Luther bereitetem Boden. Auffällig aber ist, daß er von Luthers Ausführungen über die satanische Verstümmelung des Ps 91-Zitates (s.o. 2.1.2.) mit dem Hinweis abrückt, Jesus sei „allezeit Wege seines Vaters" gegangen (Zinzendorf 145). Die Macht des dem Teufel entgegenzuschleudernden göttlichen Wortes tritt bei Zinzendorf zugunsten des um so stärker anzustrebenden Heiligungsernstes in den Hintergrund (ebd. 153f.). Unterschiedlich stark ausgeprägt ist im Pietismus die Meinung, der Glaube konkretisiere sich empirisch nachvollziehbar nicht nur im Verhalten und sonstigen Äußerlichkeiten, sondern auch in das Leben eines wahren Christen prägenden Widerwärtigkeiten. Gegen solche Verquickung von Leidensemphase und Empirie hat unter anderem J.L.v. -»Mosheim Einspruch erhoben (350—355). 3. Von der Aufklärung

bis zum 20.

Jahrhundert

3.1. In vehementer Weise und außerordentlich früh hat sich J.Ch. -»Edelmann, deistische Positionen (—»Deismus) aus dem angelsächsischen Raum mit kontinentalen Tra-

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ditionen des radikalen Pietismus verbindend, gegen den Teufels- und Höllenglauben gewandt und insbesondere die pietistische Kultivierung der Versuchung als ExistenzBestimmung der Bekehrten mit Hohn Übergossen. Vernünftig betrachtet - so Edelmann - könne es keinen Teufel geben, da sonst ein undenkbarer Widerspruch in Gott hineingetragen würde (Edelmann VI, 265). Eine (im Vergleich mit dem Pietismus) noch deutlichere Moralisierung der Definition der Versuchung kennzeichnet die -»Neologie und den theologischen -»Rationalismus. Während der frühe Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789) noch die Vernunft als zur Überwindung der Versuchung unfähig bezeichnet (Jersualem 130), ist z.B. Wilhelm Abraham Teller (1734-1804), der die Versuchung als „Reizung zum Bösen" (Teller 160) versteht, der Auffassung, daß der Mensch, der - * Vernunft und Tugendhaftigkeit aktiviert, aus eigener Kraft das Böse überwinden kann. Nötig ist demnach letztlich nur der ethische Appell, „jede Reizung zum Bösen in uns mit lebhafter Entschloßenheit zu misbilligen und zu verwerfen" (ebd.). Nach Jonathan Schuderoff (1766-1843) gelingt die Überwindung der Versuchung, wenn der Mensch sich aufgrund seiner ethischen Vorsätze und durch Tugenden, die ihm aus seinem Gewissen bekannt sind, als Beherrscher seiner Neigungen und der Sinnlichkeit erweist (ähnlich Christoph Friedrich Amnion [1766-1850]; ders. 120). Nach Johann Heinrich Bernhard Dräseke (1774-1849) kommt es darauf an, sich von der „Gewalt des Gefühls und der Leidenschaft" (Dräseke 44) zu befreien. Christian Victor Kindervater (1758-1806) predigt anhand von M t 4 über „Gottes Schutz auf unsern Berufswegen" (Kindervater 113) und definiert die „Tollkühnheit" (ebd. 115) als Versuchung Gottes durch den Menschen. Die um sich greifende vernunftgeleitete Destruktion der Satanologie, die mit einer solchen der Angelologie einhergeht (—»Klopstocks Messias wirkt allerdings diesbezüglich nachhaltig poetisch retardierend), zieht eine zunehmende Internalisierung des Bösen nach sich. Das Böse ist das Böse im Menschen und gleichbedeutend mit moralischem Ungenügen, dem vor allem durch vernünftig-moralische Erziehung beizukommen ist. Demgemäß ist Mt 4 als Erzählung von der meisterhaften „Selbstbeherrschung" (Schuderoff 181) des Tugendlehrers Jesus zu verstehen, der sich sozusagen (in Ermangelung des persönlichen Teufels) einer Selbstversuchung unterzog und sich dabei „fragte ..., ob er den Eingebungen der Neigungen, oder dem Gesetze der Pflicht folgen solle" (ebd. 181 f.). Hieraus ergibt sich der Appell, Jesus durch „Fortstreben zum Besseren, glücklicheres Fortschreiten in der sittlichen Vollkommenheit" (ebd. 185) nachzueifern. Einen Mittelweg indes schlägt Franz Volkmar Reinhard (1753-1812) ein, der sich gegen die Leugnung des Teufels und die These von der Akkommodation Jesu an den unaufgeklärt-jüdischen Dämonenglauben ausspricht (Reinhard, Predigten 59), jedoch dafür plädiert, die sog. geistlichen Versuchungen möglichst weitgehend psychologisch-natürlich (etwa als Folgen somatischer Erkrankungen) zu erklären, ohne rundweg die Existenz von direkten Einwirkungen des Satans zu leugnen (Reinhard, Vorlesungen 211). Teuflische Besessenheit indes sei ein Phänomen, das es zur Zeit des Neuen Testamentes nachweislich gegeben habe, mit dem aber heute nicht mehr zu rechnen sei (ebd.).

3.2. Gleichwohl haben nicht wenige Theologen (wie z. B. J.G. -»Hamann [vgl. ders. 260f.], Johann Andreas Cramer [1723-88, vgl. ders. 101-132], Justus Christoph Krafft [1732-95; vgl. ders. II, 68-92], J.K. -»Lavater) sich gegen den theologischen Rationalismus wendend, je unterschiedlich das genuin reformatorische Versuchungs-Verständnis neu zu artikulieren versucht. J.W. von -»Goethe hat die Versuchungs-Thematik im Faust in einer höchst eigenständigen Weise traktiert. Indem sich Goethe von der aufgeklärten Entpersonalisierung des Teufels distanziert, gewinnt er schon im „Prolog im Himmel" die Möglichkeit, seine Tragödie als Kontrafaktur der biblischen Hiob-Erzählung zu gestalten: Gott gibt, in eine Wette einwilligend, Mephistopheles die „Erlaubnis" (Goethe 27,313), Faust auf seiner „Straße sacht zu führen" (ebd. 27,314), d.h. Faust, den Probanden, dergestalt zu versuchen, daß experimentell in Erfahrung gebracht werde, ob dieser, in einer Kette von Genußerfahrungen dazu verführt, das Absolute in der Sinnlichkeit zu suchen („Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!" [ebd. 76,1699f.]), in eben dieser sich verliert, um unterzugehen, oder nicht. Nicht nur hierin, sondern auch in dem Umstand,

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daß Goethe die Sünde als notwendig auf dem Wege zum Guten liegend begreift, weswegen er sich Mephisto als ,,ein[en] Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft" (ebd. 64,1336f.) bezeichnen läßt, zeigt sich einerseits, wie weit Goethe von pietistischen Idealen innerweltlicher Askese entfernt ist. Andererseits aber wirken trotz vielfältig verarbeiteter Topoi aus dem Arsenal der älteren Satanologie insbesondere innerhalb des Goetheschen Optimismus bezüglich der dem Menschen eignenden Kompetenz, die Versuchung durch moralische Integrität und die Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Verantwortung (Faust, Teil 2) zu überwinden („Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen" [ebd. 459,11936f.]), aufgeklärte Traditionen nach, besonders auch dort, wo die Goethesche Überzeugung laut wird, daß eine Erfahrung des Ewig-Absoluten in der Sinnlichkeit unmöglich ist. Im Kontext der Frühromantik (-»Romantik) findet nicht nur Friedrich Schlegels (1772-1829) Lucinde (Schlegel V, 1-82), sondern u.a. auch -•Novalis - nicht zuletzt in den Hymnen an die Nacht (Novalis I, 130-157) - auf die Frage, inwiefern das Absolut-Transzendent-Göttliche in Sinnlichkeit und in echter, weil gleichzeitig geistlicher und leiblicher Leidenschaft zu finden sei, eine durchaus andere, d.h. positive Antwort. 3.3. Wie große Schwierigkeiten es mit sich bringt, die Lehre —•Schleiermachers von der Erlösung als Aufnahme des frommen Selbstbewußtseins in die Kräftigkeit des Gottesbewußtseins Christi (Glaube § 100) anhand biblischer Texte zu exemplifizieren, zeigt sich an Schleiermachers Lesart von M t 4 recht deutlich. Dies führt dazu, daß dieser letztlich die rationalistische Sicht der Dinge fortschreibt und entfaltet, daß ein Christ sich „den reinen Gehorsam Christi", mithin dessen Standhaftigkeit, zum „Vorbilde" nimmt (Predigten 389) und sich hierdurch „zu der Betrachtung des göttlichen Gebots" (ebd. 382) veranlaßt sieht, um so die Versuchung, die nicht der Teufel, sondern die „Eitelkeit unseres Herzens" kausiert, zu überdauern. F.M. -»Dostojewskij, Kritiker des westlich-aufgeklärten Axioms vernünftiger Autonomie und Feind jeglichen auf Machtkalkül beruhenden Autoritätsglaubens zugleich, variiert den Stoff von Mt 4 in seinem Roman Die Brüder Karamasow. In polemischer Absicht und gegen den römischen Katholizismus gewandt läßt Dostojewskij den jesuitischen Großinquisitor als einen solchen auftreten, der den wiedergekehrten Christus attackiert, indem er diesem, die Versuchungsgeschichte gleichsam wiederholend, vorwirft, daß der Satan („der große Geist" [Dostojewkij 432]) in Mt 4 dem Gottessohn die Defizite seiner Botschaft von der Freiheit vor Augen geführt habe. Das in Christus epiphan gewordene, die Menschen aber total überfordernde Ideal der Freiheit habe die konsequente Verweltlichung der Kirche durch das -»Papsttum sowie dessen Begründung „auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität" (ebd. 441) notwendig werden lassen. In origineller Weise hat der expressionistische Dichter Franz Werfel (1890-1945) den Stoff von Mt 4 in seinem Dramolett Die Versuchung (1912; vgl. Hartmann 75 - 90), einer Disputation zwischen dem Teufel und einem Poeten, verarbeitet. Den Teufel, der nicht nur Ruhm, Erfolg und Ansehen verspricht, sondern auch „leidloses Leben" und Unsterblichkeit, besiegt der Dichter, indem er - hierin dem Typos Christus ähnlich - auf seiner (in diesem Fall: poetischen) Passion besteht („Das Leid, das Leid gerade ist es, was ich suche. Satan, Satan, ewiger Geist, blamiere dich nicht" [Werfel 30]) und sich von „Zartheit" und „Demut" (ebd. 36) nicht abbringen läßt, um schließlich vom Erzengel als „Mittler" und in der Bestimmung, „der Verschmähte zu sein" (ebd. 39), in die Welt entsandt zu werden. 3.4. Während der Zeit des Kirchenkampfes (-»Nationalsozialismus und Kirchen) kam es im kritischen Gegenzug zu den mannigfachen Versuchungen, mit der von vielen als zukunftsweisend verstandenen nationalsozialistischen Bewegung gemeinsame Sache zu machen, insbesondere auf Seiten der Bekennenden Kirche zu einem verstärkten Rückgriff auf die theologische Kategorie der „Versuchung" (z.B. Coetus der reformierten Prediger [1934]; 1. Schlesische Bekenntnissynode [1936]: Benckert). Edmund Schlink (1903-1984) handelt 1935 über „Pflicht und Versuchung christlichen Bekennens" und kommt zu dem Schluß: „Versuchungen dürfen Anlaß zur Freude sein, weil die Siege über die Versuchungen schon längst errungen sind am Kreuz", woraus folge, daß der Kirchenkampf „schon zu Ende gefochten [ist] auf Golgatha" (Schlink 27). D. -»Bonhoeffer faßt in einer Ende Juni 1938 mit den Finkenwalder Kursen in Zingst abgehaltenen Bibelarbeit über Mt 6,13 (Bonhoeffer 371—406) im wesentlichen die Luthersche Position zusammen und markiert angesichts des „Führerkultes" die aktuelle Situation der Christenheit (implizit) als eine solche eschatologisch-teuflischer, d.h. pseudomessianischer Versuchung, während Heinrich Vogel (1902-1989) die Christenheit 1939

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„in der Front des Kampfes zwischen Gott und dem Satan" und somit im apokalyptischen „Endkampf" (Vogel 5) mit dem -»Antichrist stehen sieht. M a g die Existenz eines Christenmenschen K. Barth zufolge nicht derart nachhaltig von der tentatio bestimmt sein wie bei Luther (vgl. Ratschow 273 - 2 7 9 ) , so ist auf der anderen Seite nicht zu übersehen, daß die in der liberalen Theologie weitestgehend ausgeblendete Versuchungs-Thematik bei Barth nicht nur eine zentrale Bedeutung hat, sondern ihm überdies innerhalb der Reformulierung reformatorischen Erbes originäre Spezifizierungen gelingen, von denen hier nur eine genannt sei: Die dritte Versuchung Jesu durch den Teufel definiert Barth als Versuchung, Gott zu versuchen, durch die Jesus wäre er dem Satan gefolgt - seinen Vater „aufgefordert" hätte, „der falscheste aller falschen Götter, nämlich der Gott der frommen Menschen zu sein. Und er hätte sich selbst eben damit der Gemeinschaft der sündigen Menschen . . . entzogen" (KD IV/1, 290; s.u. 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IV. Systematisch-theologisch 1. Zeitgenössische Quellen ratur S. 68)

1. Zeitgenössische

2. Protestantische Theologie

3. Katholische Theologie

(Lite-

Quellen

Die zeitgenössische Theologie mit ihrem ausgeprägten Interesse an der menschlichen -•Freiheit hat die Versuchung überwiegend von der Freiheit her interpretiert. Außer auf die Quellen der -»Bibel und der -»Tradition hat sie dabei auf zahlreiche philosophische und literarische Analysen zurückgegriffen. Zu ihnen gehören F.M. -»Dostojews k i s „Großinquisitor" in Die Brüder Karamasow mit der Schilderung der Versuchung, Brot, Macht und Sicherheit statt Freiheit zu wählen (s.o. III.3.3.), M. -»Heideggers Analyse der menschlichen Weigerung, die Existenz als ein Sein zum Tode zu übernehmen, und J.-P. -»Sartres Unterscheidung zwischen pour soi und en soi. Am wichtigsten ist

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indessen S.A. -»Kierkegaards bahnbrechende Untersuchung in Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode. Kierkegaard unternimmt den Versuch einer Erklärung, wie Gottes Verbot, von der Frucht zu essen, Adams Lust erweckt. Dies geschieht in der Angst. Angst entsteht für menschliche Wesen auf ganz natürliche Weise, da sie Leib und Seele sind, eine Synthesis aus Zeitlichem und Ewigem, ständig ausgespannt zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Möglichkeit der Freiheit, die die Angst ist, kann -•Adam zur -»Sünde verführen, weil er in der Angst „die Möglichkeit zu können" erfährt. So ist er versucht, seine Freiheit in Selbstbehauptung statt im -»Vertrauen auf —»Gott zu ergreifen. Die Angst erklärt zwar nicht den singulären Willensakt, durch den Menschen tatsächlich das Gebot übertreten. Aber die Angst kann einen Menschen lehren, sich im Glauben auf Gott zu verlassen, sobald er begreift, daß er nicht imstande ist, jede Situation zu meistern oder das Ewige zu verwirklichen. Der Unglaube ist an seiner Schwäche selbst schuld, wenn er auf die Probe gestellt wird, weil er meint, er werde Gottes Prüfung nicht bestehen; der Glaube hingegen geht davon aus, daß Gott uns so erprobt, daß wir die Prüfung (Proven) bestehen werden. Wenn die Angst auch nicht die Notwendigkeit von Sünde oder Freiheit impliziert, so meint Kierkegaard doch, daß sie einen psychologischen Begriff liefert, durch den der freie Wille versucht wird, und über abstrakte Diskussionen über ein indifferentes liberum arbitrium hinauszukommen hilft (s.o. III.2.1.2.). 2. Protestantische

Theologie

Die protestantische Behandlung des Themas Versuchung setzt gewöhnlich mit dem biblischen Zeugnis ein, schwankt dann aber oft zwischen einer psychologischen und einer rein theologischen Beschreibung. P. -»Tillichs Darstellung der Versuchung, ein Beispiel des ersten Typs, beginnt in engem Anschluß an Kierkegaard mit einer allgemeinen Beschreibung der menschlichen Freiheit. Menschliche Freiheit ist endliche Freiheit, in der die menschlichen Potentialitäten und Strebungen durch das menschliche Schicksal begrenzt sind. Um frei zu sein, muß der Mensch Selbsttranszendenz innerhalb einer gegebenen Natur übernehmen. Menschen sind sich ihrer Endlichkeit bewußt; dieses Bewußtsein ist die Angst. Indem sie ihre Freiheit und sich selbst aktualisieren, entdecken sie die beiden Versuchungen, entweder in einer unentfalteten „träumenden Unschuld" zu verharren oder die Unschuld zu verlieren durch Erkenntnis, Macht und Schuld. Sie entscheiden sich für letzteres in einem Akt der -»Entfremdung vom Grund ihres Seins. Für diesen Akt bevorzugt Tillich die Begriffe „Unglaube" und „Hybris" statt „Ungehorsam" und „Gottesleugnung". Indem jedoch Christus den gleichen Versuchungen ausgesetzt ist, überwindet er diese Entfremdung. Er bejaht seine endliche Freiheit, verzichtet auf Selbstbehauptung und jeden Versuch, die Ereignisse zu beherrschen. Jesus nimmt sein Schicksal, seine Begrenzungen als von Gott gegeben an, und verwirklicht sich auf diese Weise innerhalb des Grundes seines Seins und nicht außerhalb desselben. Dadurch zeigt Christus, daß die mit der menschlichen Freiheit gegebene Versuchung geradezu zur menschlichen Erfüllung notwendig ist. Tillichs Darstellung bot der Thematisierung der Versuchung in -»Psychologie und -»Pastoraltheologie vielfältige Möglichkeiten. Betont man jedoch die möglichen guten Folgen der Versuchung, erscheint dieser Ansatz leicht als zu positiv und ist möglicherweise sogar eine Erklärung für das relative Schwinden der Versuchung als theologischer Kategorie; demgegenüber enthält der Begriff Angst unleugbar die Konnotationen einer Gefahr, einer Neigung zum Abfall vom Guten sowie eines externen Versuchers oder eines Objekts der Versuchung, dessen Güte in Zweifel steht. Mit der Betonung der Chance positiven Wachstums geht eine Tendenz zur Unterbewertung der Gefahr des Abfalls einher. Ferner wirkt diese Darstellung zu psychologisch und zu sehr verallgemeinernd, weil sie die spezifischen Versuchungen des religiösen Lebens in seinen unterschiedlichen moralischen und spirituellen Entwicklungsphasen ignoriert.

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Versuchung IV

Demgegenüber liegt in neoorthodoxen Darstellungen der Akzent weniger auf der existenziellen -»Situation des Menschen, sondern darauf, daß die menschliche Versuchung von den Versuchungen Christi her verstanden werden muß, die darin bestehen, sich Gott gegenüber behaupten zu wollen. Für K. -»Barth (s.o. III.3.4.) ist Christus denselben Versuchungen ausgesetzt wie jeder Mensch, der Versuchung nämlich, Gott und seinem Wort untreu zu werden. Die größte Versuchung, der Christus in der Wüste ausgesetzt ist, die Versuchung zum Sprung von der Zinne des -»Tempels, ist ein religiöses Selbstopfer, das in Wahrheit die vollkommenste Art von Selbstverherrlichung darstellt, bei der Gott in den Dienst des Menschen gezwungen wird. Die Versuchungen in der Wüste nehmen die Versuchungen der Passion und der Gethsemanestunde vorweg, die in der „Einflüsterung" bestehen, „ob nicht ein anderer Weg als der angetretene für ihn und dann auch für seine Jünger doch gangbarer sein möchte?" (KD IV/1, 294), in der Versuchung, Gottes Willen und seinen Gehorsam ihm gegenüber ändern zu wollen. In der Überwindung dieser Versuchung verkörpert Christus den Kampf zwischen Gott, der ganzen Welt und dem sündigen Menschen und steht für die Menschheit ein, die Versuchung und -»Tod einzig in ihm überwindet. Christi Sieg über die Versuchung befreit den Menschen nicht von der Versuchung oder seinem täglichen Kreuz; diese sind jedoch nur „sekundäre Kreuze", keine Wiederholungen von Christi lebensspendendem Opfer. Ähnlich unterstreicht D. -»Bonhoeffer, daß die menschliche Versuchung nur von der Versuchung Christi her zu verstehen ist, denn jede Versuchung ist letztlich eine Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan (-»Teufel). Versuchung ereignet sich, wenn eine Person von ihren Kräften verlassen wird und diese sich gegen sie selbst wenden. Adams Unschuld etwa, die ihn gegen das -»Böse schützen sollte, wendet sich gegen ihn, als der Versucher seinen Ursprung verbirgt und ebenso zur menschlichen Einsicht zu reden beansprucht wie Gott. (Es liegt in der Natur der Versuchung, daß für den Versuchten die Wahrheit verdunkelt wird.) Adam, dessen Mangel an Erfahrung ihm diesen Betrug nicht zu durchschauen erlaubt, ist dieser Lüge gegenüber wehrlos, und so erscheint das Sicut deus für Adam nur wie „eine neue Möglichkeit innerhalb der gegebenen iwago-iiei-Geschöpf-Möglichkeit" (Bonhoeffer, Schöpfung 105). Sein einziger Schutz ist das -»Wort Gottes, aber Adam will von dieser Hilfe nichts wissen. Er betrachtet die Versuchung, als wäre sie eine persönliche Herausforderung. Durch die Versuchung sucht Satan ihn von Gott zu entfremden und seine Schuld ans Licht zu bringen, damit Gott ihn verwerfen muß. Als dagegen Christus mit der Versuchung und der zusätzlichen Last der menschlichen Schuld konfrontiert war, als er hungrig und ohnmächtig war und vor der Möglichkeit stand, Gott zu verleugnen, suchte er nach keiner anderen Verteidigung als dem rettenden, tragenden Wort Gottes. Er ist bereit, verlassen zu werden, im Einklang mit Gottes Willen. Auf diese Weise ist unsere Versuchung in Christus überwunden, denn: „Nicht wir werden versucht, Jesus Christus in uns wird versucht" (ders., Versuchung 383). Wie nach -»Luther die Versuchung durch den Satan nicht darauf zielt, daß wir sündigen — er hat uns bereits in seiner Macht —, sondern darauf, Christus, den alleinigen Retter, zu verleugnen, so interpretiert Bonhoeffer die Versuchung als den Versuch Satans, uns von Christus zu trennen, und als Angriff auf Gottes rettendes Wort. Alle unsere Versuchungen wollen uns von Gott trennen, indem sie uns beispielsweise an Gottes Güte zweifeln lassen oder uns als Glaubende dahin bringen, daß wir entweder Gottes Gnade für selbstverständlich halten oder an ihrer Möglichkeit verzweifeln. Befreiung von der Versuchung ist nur möglich durch vertrauensvolle Unterwerfung unter die Hand Gottes. Obwohl er die in der Versuchung lauernde Gefahr ernst nimmt, weiß Bonhoeffer sie von der Gnade Gottes umgriffen. Gott läßt die Versuchung als -»Strafe zu, aber dadurch läßt er auch Satan Raum, sich selbst zu vernichten und „die Gläubigen zum Heil zu führen", denn: „Nur durch Erkenntnis der Sünde, durch Leiden und Tod kann der neue Mensch leben" (ebd. 390). Wegen ihrer Tendenz, Versuchung nur im Sinne einer Wahl in der unmittelbaren Begegnung mit Gottes Wort zu thematisieren, schenkte die protestantische Theologie

Versuchung IV

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der Frage der spezifischen Versuchungen, denen Christen in via ausgesetzt sind, wenig Aufmerksamkeit; vieles aus der älteren Erbauungsliteratur wie J. —»Bunyans Pilgrim's Progress, wo diese Problematik im Zentrum steht, wurde vergessen. Versuchungen der Christen in via entstehen, weil sie zwar Gott ergeben sind, die Gewohnheiten und Begierden des „alten Menschen" aber weiterhin mit dem Verlangen nach Gottes Willen im Streit liegen und sich aufgrund menschlicher Selbsttäuschung sogar als Gottes Wille maskieren. Es gab indessen auch eine beachtliche Diskussion ethischer Probleme unter dem Aspekt der Versuchung, z. B. in H. —•Thielickes Überlegungen zur -»Technik. Ferner gewann mit wachsender Einsicht in die Notwendigkeit einer vertieften Integration von Theologie und -»Spiritualität und mit der Betonung des narrativen Charakters von Evangelium und christlichem Leben in ihrem Wechselbezug die Versuchung neue Bedeutung als Thema der christlichen Moraltheologie, etwa bei D. Allen. Die Erkenntnis der Versuchung und ihre Überwindung müßte in einem fortschreitenden Prozeß christlicher -»Heiligung, theologischer Urteilsbildung und moralischen Wachstums in Christus eine wichtige Rolle spielen; es geht dabei nicht einfach um ein natürliches Problem der menschlichen Entwicklung. 3. Katholische

Theologie

Die katholische Theologie hat sich eher in entgegengesetzter Richtung bewegt. Moraltheologie und spirituelle Theologie konzentrierten sich auf die Versuchungen der Glaubenden in via. Versuchungen entstehen wegen der menschlichen Konkupiszenz und Selbstzentriertheit und bilden eine Gelegenheit für den geistlichen Kampf, dessen Waffen das -»Gebet, die Teilnahme am -»Sakrament und spirituelle Führung sind. Die Traditionen von —»Ignatius von Loyola, F. de -»Sales und -»Vinzenz von Paul blieben zumindest bis zum Zweiten Vatikanum (-»Vatikanum I und II) lebendig und bestimmend. Zunehmend wird jedoch wie im Protestantismus die menschliche Freiheit als endliche Freiheit betont. Der Mensch ist versucht, die Grenzen der Geschöpflichkeit zu durchbrechen, indem er entweder Gut und Böse ignoriert oder sich als Richter über beides aufspielt und so die fundamentale Beziehung zu Gott und den Mitgeschöpfen zerstört. Menschliche Versuchbarkeit kann jedoch auch eine Gelegenheit zur Vervollkommnung und insofern sogar eine göttliche Prüfung sein. In der Perspektive K. -»Rahners deutet W. Molinski die Gefahr jeder Versuchung als Gefahr, diese Vervollkommnung durch partikulare Wahl und egoistische Optionen, die den menschlichen Charakter zerstören, aufs Spiel zu setzen. So können viele Versuchungen von außen herantreten, die weder unmittelbar sittlich gut noch schlecht, sondern einfach mit der menschlichen Geschöpflichkeit gegeben sind. Ihnen in Unkenntnis zu erliegen oder aus Unfähigkeit, ihre Natur zu erkennen, ist noch nicht Sünde; diese kommt erst ins Spiel, wenn ihnen freiwillig oder infolge einer früheren freien Wahl nachgegeben wird. Da Sünde und Versuchung die Gottesbeziehung und die Beziehung zu den Mitmenschen zerstören, bedarf es wie in der älteren Tradition zum Bestehen der Versuchung und zur Heilung der verwundeten Natur des Gebets und der Teilnahme an der menschlichen Gemeinschaft der -»Kirche, die Gott zum Wohl der Menschen gestiftet hat. Das ist eine etwas andere Akzentsetzung als im Protestantismus. Einer der instruktivsten Beiträge zum Thema stammt von H. U. von Balthasar, der sowohl der wichtigen ursprünglichen Einsicht Kierkegaards gerecht werden will als auch der Forderung, Versuchung - wie bei Barth und Bonhoeffer - durchgehend als theologischen Gegenstand und nicht nur als allgemeines psychologisches Problem zu behandeln. Auch Balthasar versteht menschliche Freiheit als endliche Freiheit und stimmt Kierkegaard darin zu, daß der Mensch seine Freiheit nur im Durchgang durch Wahlmöglichkeiten und Versuchung ergreifen kann. Die Versuchung entsteht ihm zufolge jedoch nicht durch bloß kreatürliche Angst, sondern durch die Tatsache, daß Gott bei der Erschaffung Adams einen für die Erfüllung allein durch Gott bestimmten Raum gelassen hat, worin Gott verborgen blieb. Dieser Raum, der den Menschen im Glauben

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Versuchung V

zu sich einlädt, erlaubt ihm auch, sich zu entfernen. Die Angst entsteht in diesem Raum nicht wegen des zur menschlichen Endlichkeit gehörigen Nichts, sondern wegen der Verborgenheit Gottes, die es zuläßt, daß Gott nicht als der Gegenwärtige, an dem teilhabend der Mensch sein Leben empfängt, sondern als ferne Abstraktion gedacht wird. So gerät der sich selbst allein wähnende Mensch in die Versuchung, eigenmächtig über seine Beziehungen zu verfügen und die Macht an sich zu reißen, als käme ihm eine Entscheidungsposition zu als Richter und Maß des Guten. Balthasar entwickelt diesen Gedanken nicht vollständig, aber offensichtlich bedarf es der Schlange, irgendeines externen Bösen, zu diesem Drama, sofern die das wahre Verständnis der menschlichen Gottesbeziehung verdunkelnde und verfälschende Ur-Lüge ausgesprochen werden muß, um den Menschen von der Versuchbarkeit in die aktuelle Versuchung zu versetzen. Abirren von der Wahrheit ist ein wichtiger Aspekt jeder Versuchung; Versuchung erfolgt stets unter einer Beschreibung. So werden die Menschen nicht versucht durch ein Verlangen nach dem Bösen als solchem (die Bösartigen werden nicht versucht), sondern aufgrund ihres schuldhaften Unvermögens, das Gute in seiner Wirklichkeit und ihre Beziehung zu ihm zu erkennen; ihr Fall besteht in ihrer zurechenbaren Bereitschaft, an ein selbst-zentriertes Ersatz-Gutes zu glauben. Ist die Lüge einmal geglaubt, so entwickelt der Mensch den Habitus der Selbsttäuschung, die vor allem durch ihre realen Auswirkungen auf seine Beziehung zu Gott und den anderen Menschen seine Versuchungen vermehrt. Nur durch immer neue Teilhabe am Leben Gottes und der Kirche wird er geheilt. Literatur Diogenes Allen, Temptation, Cambridge, Mass. 1986. - Ders., The Rehabilitation of Pilgrim's Progress: PRSt 27 (2000) 99-112. - Hans Urs v. Balthasar, Der Christ u. die Angst, Einsiedeln 1951 (ChHe 2. R., 3). - Ders., Theodramatik, Einsiedeln, III 1980, bes. 125-186. - Karl Barth, KD, IV/1 1953, bes. 285-300. - Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung u. Fall (1933/1937), 1989 (DBW 3). - Ders., Versuchung (1953): ders., Werke. XV. Illegale Theologen-Ausbildung. Sammelvikariate 1937-1940, 1998 (DBW 15) 371-406. - Ladislaus Boros, In der Versuchung. Meditationen über den Weg zur Vollendung, Ölten 1967. - René Brouillard, Art. Tentation: D T h C 15 (1950) 116-127. - John Bunyan, The Pilgrim's Progress from This World to That Which is to Come (1678), hg. v. James Blanton Wharey. Zweite, Überarb. Aufl. v. Roger Sharrock, Oxford 1960; dt.: Die Pilgerreise, übers, v. Christian Rendel, Lahr 1998. - André Derville, Art. Tentation. Du moyen âge au 20e siècle: DSp 15 (1991) 236-243. - Bernhard Häring, Free and Faithful in Christ, New York, I 1978, bes. 388-391; dt.: Frei in Christus, 3 Bde., Freiburg i.Br. 1979-1981. - S0ren Kierkegaard, Begrebet Angest, Kopenhagen 1844; dt.: Der Begriff Angst, Jena 1923. - Ders., Sygdommen til Deden, Kopenhagen 1849; dt.: Die Krankheit zum Tode, Jena 1924. - Waldemar Molinski, Art. Versuchung: SM 4 (1969) 1165-1171. - Josef Pieper, Über den Begriff der Sünde, München 1977. - Joseph Ratzinger, Im Anfang schuf Gott, München 1986, bes. 4 7 - 5 9 . - Helmut Thielicke, Jesus Christus am Scheidewege, Berlin 1938; u.d.T. Zwischen Gott u. Satan, Hamburg 3 1958. - Paul Tillich, Syst. Theol., Stuttgart, II 1958, bes. 35-68.137-150.

Eric O. Springsted

V. Praktisch-theologisch (Literatur S. 70)

1. Bereits in der pastoraltheologischen und praktisch-theologischen Diskussion herrscht keine sprachliche Eindeutigkeit bei der Rede von „Anfechtung" und „Versuchung" vor. Meist werden beide Begriffe auf den Umgang mit Konflikten und Ambivalenzen bezogen, die das Gottesverhältnis tangieren. Für die -»Praktische Theologie mag eine Versuchung darin bestehen, methodisch certitudo in securitas zu verwandeln. Hingegen bleibt festzuhalten: Christlicher Glaube bezieht sich in seinem christologischen Zentrum auf -»Tod und Trennungserfahrungen (vgl. Kühnholz). Insofern bezeichnete D. Stollberg Trauerarbeit als ein „Hauptanliegen lutherischer Theologie" (Stollberg 44).

Versuchung V

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Erst durch Akzeptanz von Trennungserfahrungen in der Gottesbeziehung wird Individuation im Glauben und werden kreative Spielräume für Glauben und Theologie möglich (vgl. Bobert-Stützel, Frömmigkeit 171ff.303ff). Die religiöse Versuchung will Trauer, Sehnsucht und Ambivalenzen durch handhabbare Eindeutigkeiten überspringen. Sie zielt auf Kontrollgewinn (durch fromme Werke oder durch theoretische Sicherstellung; vgl. Flammer), verbunden mit Einschränken von Freiräumen. Certitudo hingegen verarbeitet Distanz- und Differenzerfahrungen zwischen Gott und Menschen im Vertrauen auf eine durchtragende Beziehung (anstelle selbstisolierender Versuche eigener Sicherstellung). 2. In der Tradition der lutherischen -*Pastoraltheologie war für die Reflexion über Versuchungen die Versuchungsgeschichte Jesu (Mt 4,1-11 par.; s.o. II.3.1.) mit ihrer Dreigliederung leitend. So unterteilte A.F. Ch. Vilmar Versuchungen in „Fleischeslust", „Augenlust" und „Hochmut" (Vilmar, Collegium 73-88). W. -»Löhe unterschied „leibliche", „geistliche" und „gemischte" Anfechtungen (Löhe 289ff.). Einigkeit herrschte in der pastoraltheologischen Tradition über die These: „Keinen Christen trifft ... Versuchung so stark als den Pfarrer und wiederum gerade den am meisten, der das Wort am reichlichsten in sich trägt und mitteilt" (Vilmar, Lehrbuch 60). D. —•Bonhoeffer (s. o. IV.2.), der im Kirchenkampf diese Tradition rezipierte, teilte diese Auffassung (Bonhoeffer, Vorlesung 590). Wichtige Quellen zu seinem Versuchungsverständnis sind die Bibelarbeit „Versuchung" sowie die Seelsorge-Vorlesung (ebd. 582-586). Bonhoeffer gliedert in der Seelsorge-Vorlesung die „erfahrenen Anfechtungen" in: fleischliche Anfechtungen, die der acedia sowie die des Heilsglaubens; ferner erörtert er die „nicht erfahrene" Anfechtung. Er teilt mit den lutherischen Pastoraltheologen die Auffassung, daß besonders Depression (Traurigkeit, acedia-, -»Trauer) eine starke Versuchung darstelle, die bis zum Selbstmord (-• Suizid) führen könne (vgl. Vilmar, Lehrbuch 195f.). „Aber der Teufel ist ein melancholischer Geist" (Bezzel 23). Ferner bezog Bonhoeffer den kirchenpolitischen Kontext in sein Versuchungsverständnis mit ein (vgl. BobertStützel, Pastoraltheologie 173-185). Seit den sechziger Jahren des 20. Jh. werden in der Praktischen Theologie im Hinblick auf das Pfarramt Versuchungen diskutiert, die sich aus der Rollendiffusion und der zunehmenden Profillosigkeit ergeben. So erörterte M. Josuttis 1982 und 1988 entsprechende Versuchungen, die aus Konfliktzonen zwischen beruflicher, religiöser und personaler Dimension resultierten (z. B. im Hinblick auf den Umgang mit Macht, Geld, Sexualität, Arbeit, Erfolg). In Der Traum des Theologen (11 ff.) konzentrierte er sich dabei grundlegend auf den Zusammenhang zwischen Narzißmus und Religion. Narzißtische Versuchungen bestünden im Fliehen aus Ohnmacht, Leiden und Trennungen hinein in Allmachts- und Verschmelzungsphantasien mit Gott. Feministische pastoraltheologische Konzepte von U. Wagner-Rau sowie B.EnznerProbst konzentrieren sich auf die Konfliktzonen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und auf den anfechtungsreichen Weg zum Selbstsein im Amt. Versuchungen seien z.B. „Das Leitbild der ,guten Mutter'", „Die Frau als ,Die andere'" sowie „Gleich-sein als ,Männlich-werden'" (Enzner-Probst 179 ff.). 3. Versuchungen im Bereich der -*Seelsorge werden häufig im Zusammenhang mit dem Umgang mit Konflikten und menschlichen Grundambivalenzen erörtert. Die Versuchung für die Ratsuchenden und die Seelsorge Übenden liegt darin, die Konflikte und Ambivalenzen entsprechend der je eigenen charakterlichen Abwehrhaltung aufzulösen. J. Scharfenberg nennt als Grundkonflikt in räumlicher Dimension den zwischen Autonomie versus Partizipation, zeitlich den zwischen Regression versus Progression sowie den Konflikt zwischen Anpassung versus Phantasie (Scharfenberg 51-60.224ff.). Die gleichen Konflikte führen zu charakterspezifisch völlig unterschiedlichen Versuchungen (vgl. König). Insofern steht eine differenziert wahrnehmende Seelsorge vor der Aufgabe, die Persönlichkeitsspezifik der Ratsuchenden zu berücksichtigen und ihnen zu einem persönlichkeitsspezifischen Credo gegenüber ihren persönlichen Versuchungen zu helfen (vgl. Winkler).

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Versuchung V

Für die Seelsorge Übenden sind vor allem die Versuchungen zu reflektieren, die aus der Übertragungsdynamik resultieren. Alle am Seelsorgegeschehen Beteiligten inszenieren verbal und nonverbal ihre persönlichen Beziehungswünsche und -ängste und versuchen mehr oder weniger bewußt, einander je biographisch vertraute Rollen aufzubürden. Die Seelsorgerin/der Seelsorger muß zwar um der Kontaktaufnahme willen die angetragenen Rollen annehmen, doch sie/er sollte sie nicht auf Dauer übernehmen, d.h. sie nicht auf Dauer komplementär beantworten (vgl. Sandler). Um solchen Versuchungen zu widerstehen, ist die Reflexion eigener, auf die Ratsuchenden antwortender Gefühle und Phantasien nötig. Dies wird am besten durch Supervision von Seelsorgern/ -innen ermöglicht. Eine weitere professionelle Versuchung besteht in der beruflichen Deformation, die helfende Berufe mitbedingen. Hierzu zählt das von W. Schmidbauer beschriebene „Helfersyndrom", bei dem das Helfen zur Abwehr eigener Hilflosigkeit und für narzißtische Bedürfnisse funktionalisiert wird (vgl. auch Antons). 4. Unter homiletischem Aspekt wird insbesondere von G. M. Martin und W. Engemann die Versuchung zur securitas kritisiert, bei der Deutungskonstruktionen der Hörer durch Abdichten semantischer Textpfade stark beschränkt werden. Gegenüber solchen Sicherungen des Deutungscodes favorisieren sie ein Modell der Predigt als offenes Kunstwerk, bei dem die Hörer Spielräume zur Mitklärung ihrer Situation vor Gott erhalten. Neben je neu spezifizierten Lasterkatalogen (vgl. Bohren 402ff.; Bukowski 93 ff.) sind auch unter homiletischem Aspekt persönlichkeitsspezifische Versuchungen zu reflektieren (vgl. Piper; Denecke). Josuttis kritisiert insbesondere die Versuchung der homiletischen Zähmung Gottes durch Domestizierung des distanzlosen Gottes (Josuttis, Idealbilder 164), was Deneckes Kritik an einem vorherrschenden Predigtprofil der Liebe und Ordnung entspricht (Denecke 132ff.). Literatur Klaus Antons, Helfen oder Lieben?, Reinbek 1987. - Hermann Bezzel, Der Dienst des Pfarrers, Neuendettelsau 1916 3 1926. - Sabine Bobert-Stützel, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheol., Gütersloh 1995. - Dies., Frömmigkeit u. Symbolspiel, Göttingen 2000. - Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 1980 *1980. - Dietrich Bonhoeffer, Vorl. über Seelsorge: ders., Illegale Theologenausbildung. Finkenwalde 1 9 3 5 - 1 9 3 7 , hg. v. Otto Dudzus/Jürgen Henkys, Gütersloh 1996 (DBW 14) 5 5 4 - 5 9 1 . - Ders., Bibelarbeit über Versuchung: ders., Illegale Theologenausbildung. Sammelvikariate 1 9 3 7 - 1 9 4 0 , hg. v. Dirk Schulz, Gütersloh 1998 (DBW 15) 3 7 1 - 4 0 6 . - Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen, Neukirchen-Vluyn 1990. — Axel Denecke, Persönlich predigen, Gütersloh 1979. Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik, Tübingen/Basel 1993. - Brigitte Enzner-Probst, Pfarrerin, Stuttgart/Berlin/Köln 1995. - August Flammer, Mit Risiko u. Ungewißheit leben: Religion als Chance oder Risiko, hg. v. Gunter Klosinski, Bern u.a. 1994, 2 0 - 3 4 . - Manfred Josuttis, Der Pfarrer ist anders, München 1982 *1991. - Ders., Der Traum des Theologen, München 1988. Ders., Über Idealbilder in der Predigt: ders., Rhetorik u. Theol. in der Predigtarbeit, München 1985, 1 4 2 - 1 6 5 . - Karl König, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen 1992 2 1993 (Sammlung Vandenhoeck). - Werner Kühnholz, Das N T - Dokument eines Trauerprozesses?: W z M 27 (1975) 385 - 4 0 4 . - Wilhelm Löhe, Der ev. Geistliche, Gütersloh, II 1858 3 1876. - Gerhard Marcel Martin, Predigt als „offenes Kunstwerk"?: EvTh 44 (1984) 4 6 - 5 8 . - Hans-Christoph Piper, Predigtanalysen, Göttingen/Wien 1976. - Joseph Sandler, Gegenübertragung u. Bereitschaft zur Rollenübernahme: Psyche 30 (1976) 2 9 7 - 3 0 5 . - Joachim Scharfenberg, Einf. in die Pastoralpsychologie, Göttingen 1985 2 1990 ( U T B . W 1382). - Wolfgang Schmidbauer, Hilflose Helfer, Reinbek 1977 NA 1992. - Dietrich Stollberg, „Sola fide" - Allein aus Glauben: W z M 37 (1985) 4 1 - 4 7 . - August Friedrich Christian Vilmar, Lb. der Pastoraltheol., hg. v. Karl Wilhelm Piderit, Gütersloh 1872. - Ders., Collegium Biblicum, Gütersloh, I 1908. - Ulrike Wagner-Rau, Zwischen Vaterwelt u. Feminismus, Gütersloh 1992. - Klaus Winkler, Das persönlichkeitsspezifische Credo: W z M 34 (1982) 1 5 9 - 1 6 3 .

Sabine Bobert

Vertrauen I

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Vertrauen I. Ethisch II. Praktisch-theologisch

S.73

I. Ethisch 1. Grundlegung 2. Der entwicklungspsychologische Zugang gang 4. Theologische Zugänge (Literatur S. 75)

3. Der systemtheoretische Zu-

1. Grundlegung Die Aufgabe, Vertrauen in seiner ethischen Bedeutung zu reflektieren, stößt von vornherein auf eine dreifache Schwierigkeit: Einmal vollzieht sich Vertrauen immer nur in der Weise, daß es „geschenkt" wird. K.E. —»Legstrup zählt es darum zu den „spontanen Daseinsäußerungen", denen allerdings eine „stumme Forderung" (Logstrup 7) nach entsprechendem Verhalten innewohne. Gleichwohl wäre es nicht erfolgversprechend, solches Vertrauen, sei es in einer prekären personalen Beziehung oder in einem sozialen Konflikt, direkt zu verlangen. Es entzieht sich der Macht von Appellen. Auch wenn der Versuch unternommen wird, Vertrauen konzeptionell einer allgemeinen Tugendlehre (-»-Tugend) zuzuordnen (Bollnow), bleibt das Dilemma, daß Vertrauen, anders als -•Liebe oder —»Gerechtigkeit, nicht in jedem Fall als geboten erscheinen kann. Es gibt Situationen, in denen gerade nicht Vertrauen, sondern kalkuliertes Mißtrauen am Platze ist: Schon das Kind muß lernen, einen scheinbar freundlichen Unbekannten als nicht vertrauenswürdige Person einzuschätzen. Situatives Mißtrauen dieser Art ist freilich nicht zu verwechseln mit Ursprung und Wirkung eines destruktiven Mißtrauens, dem am Bestand und Aufbau von Vertrauensverhältnissen nichts liegt. Letzteres ist, theologisch betrachtet, Ausdruck der -»Sünde, die die menschlichen Existenzrelationen zu -»Gott, -»Welt und Selbst notorisch pervertiert. Die Frage nach den Bedingungen eines vertrauensgeleiteten Lebens führt darum unausweichlich zur Frage nach einer möglichen Befreiung aus der Macht der Sünde und nach den Voraussetzungen eines Lebens aus der Kraft des —»Geistes. Eine rein phänomenologische Betrachtung dagegen (Schottlaender), die diesen Zusammenhang außer acht läßt, muß in ihrer Absicht scheitern, Vertrauen gegen erkannte gesellschaftliche Tendenzen von Vertrauensschwund unmittelbar verteidigen und stärken zu wollen. Schließlich liegt die theologische Schwierigkeit, Vertrauen als Thema der -»Ethik einzuführen, in der vorherrschenden biblischen Verwendung des Begriffs. Pointiert sagt es Ps 118,8: „Es ist gut, auf den Herrn vertrauen und nicht sich verlassen auf Menschen". Demnach zeichnet sich Vertrauen anscheinend dadurch aus, daß es seinen Wert in der Gottesbeziehung offenbart und erfüllt. Namentlich in der Weisheitsliteratur (-»Weisheit/Weisheitsliteratur) herrscht die Tendenz vor, allein Gott gegenüber Vertrauen, den Menschen gegenüber jedoch generell Mißtrauen anzuraten (Prov 14,15; 26,25; Hi 4,18; 15,15), was wirkungsgeschichtlich dazu beigetragen hat, dem Vertrauen zwar im Rahmen der Glaubenslehre, nicht aber in der theologischen Ethik einen Platz einzuräumen. Dieser Befund ist unbefriedigend. Denn er wird dem Tatbestand nicht gerecht, daß Vertrauen für die Gestaltung menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Dimensionen (personal, sozial, politisch) unverzichtbar ist, auch wenn das immer erst im negativen Fall, also bei akuten Vertrauensbrüchen und -Verlusten, schmerzlich bewußt zu werden pflegt. Ethik kann der Aufgabe darum nicht ausweichen zu fragen, was Vertrauen im Kontext menschlicher Kommunikationsprozesse bedeutet, wodurch es konstituiert und gefördert werden kann und welches Ziel im Sinne des wünschenswerten Guten darin leitend ist.

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Vertrauen I 2. Der entwicklungspsychologische

Zugang

Nach E. H. Erikson bildet Grundvertrauen (basic trust, mißverständlich gern als „Urvertrauen" wiedergegeben) die fundamentale Prägung, die es dem Menschen ermöglicht, in den Herausforderungen und Konflikten seines Lebens zu bestehen. Seinen Ursprung hat dieses Grundvertrauen in der frühesten Kindheit, in der die versorgende Zuwendung der Mutter für das Kind die alles bestimmende Wirklichkeit ausmacht. Dabei bedeutet diese frühkindliche Fundierung von Vertrauen keinen Ausschluß von Mißtrauen überhaupt. Im Gegenteil geht die Dynamik dahin, daß Vertrauen nicht exklusiv in der unmittelbaren Mutter-Beziehung angesiedelt bleibt, um dann im Augenblick ihrer Abwesenheit in totales Mißtrauen umzuschlagen, sondern daß sich Vertrauensfähigkeit auch unter den Bedingungen akuter Mißtrauensimpulse allmählich stabilisiert. Eine rechte Balance zwischen Vertrauen und Mißtrauen wird so zur existenziellen Grundausstattung, die auf den verschiedenen Stufen des lebensgeschichtlichen Prozesses personale Identitätsbildung, Reife (Integrität) und damit ein insgesamt gesundes Wachstum erlaubt. 3. Der systemtheoretische

Zugang

N. Luhmann untersucht das Phänomen des Vertrauens unter systemtheoretischen Gesichtspunkten und fragt, welche Funktion Vertrauen in sozialen Systemen übernimmt. Seine Antwort: Vertrauen reduziert Komplexität. Dadurch gestattet es Handeln auch dort, wo in einer bestimmten Situation die Vielfalt entscheidungsrelevanter Faktoren, sollten sie sämtlich berücksichtigt und im Blick auf ihre möglichen Auswirkungen abgeschätzt werden, eigentlich alles Handeln unterbinden müßte. Daß Systeme funktionieren und nicht etwa vor ihrer eigenen Komplexität kapitulieren, beruht auf dem „Mechanismus" des Vertrauens, das einen tatsächlich defizitären Informationsbestand zu kompensieren erlaubt: „Vertrauen beruht auf Täuschung. Eigentlich ist nicht so viel Information gegeben, wie man braucht, um erfolgssicher handeln zu können" (Luhmann 33). „Der Vertrauende entlastet sich durch sein Vertrauen von Komplexität, die er nicht tragen kann" (ebd. 70). So luzid und bis in praktisch-theologische Überlegungen hinein belangreich Luhmanns Beobachtungen im einzelnen sein mögen (z.B. über Vertrautheit und Vertrauen), verhindert der systemfunktionale Ansatz doch eine eigene ethische Begründung des Vertrauens. Vertrauen gilt als gegeben und wird hinsichtlich seiner systemischen Leistungen analysiert. Aber alle ethisch offenen Fragen: wodurch Vertrauen entsteht, das nicht auf „Täuschung" beruht; welche Werte durch Vertrauen gesetzt, gestärkt und welche Ziele angestrebt werden, haben in dieser Perspektive keinen Platz, weil sie mit der systemtheoretischen Rationalität inkommensurabel sind. Betrifft diese allein die Bedingungen der Selbstregulierung eines Systems, bleibt sie unberührt davon, welche Intentionen und Werthaltungen bei den handelnden Subjekten leitend sein mögen. Luhmann: Vertrauen „entzieht sich einer eindeutigen ethischen Anweisung. Nur von seiner Funktion her kann es als Einheit . . . begriffen werden" (ebd. 105).

4. Theologische

Zugänge

M. -»Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus folgt der mit hx,xmin und batäh (-»Glaube) im Alten Testament vorgezeichneten Linie, das Gottesverhältnis in spezifischer Weise als Vertrauensverhältnis zu begreifen. Fides und fiducia werden synonym gebraucht, d.h. was „Glaube" meint, wird durch die personale Beziehungskategorie „Vertrauen" präzisiert. Formal kann sich Vertrauen durchaus auf jedes beliebige Objekt richten, um sich davon Lebenssicherheit zu versprechen; material aber gilt lediglich an Gott sich wendendes Vertrauen als „recht", weil es in seinen Erwartungen an Gottes Güte (sein „Gutsein") nicht enttäuscht werden wird. Gottvertrauen gewährt deshalb certitudo, während alles Verlangen nach securitas die authentische Vertrauensrelation verläßt und im praktischen Götzendienst enden muß. Luthers theologische Zentrierung des Vertrauens in der Gottesbeziehüng bedeutet freilich nicht, daß Vertrauen ausschließlich für die Glaubenslehre und nicht ebenso für die Ethik relevant wäre. Seine Interpretation von fides durch fiducia erfolgt immerhin in Auslegung des ersten Gebots und damit im Zusammenhang der theologischen Grundlegung einer Ethik der Gebote. Die Entfaltung dieser Gebotsethik in einzelnen Verhal-

Vertrauen II

73

tensregeln intendiert dabei grundsätzlich eine gelingende Kommunikation zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch, die in der Vertrauensrelation des ersten Gebots ihre Basis hat und ihre Zielrichtung findet. So wenig deshalb Vertrauen zu den konkreten Forderungen einer materialen Ethik gerechnet werden darf, so sehr gehört es doch in den Begründungszusammenhang einer theologischen Ethik. In neuerer Zeit haben W. Pannenberg und H. Küng die Theorie des Grundvertrauens nach Erikson theologisch aufzunehmen versucht. Küng verfolgt das Interesse, im Phänomen des Grundvertrauens den anthropologischen Ansatz für eine mögliche Gotteserfahrung zu finden, der gegen nihilistische und atheistische Positionen ins Feld geführt werden kann. Ihm ist darin zu Recht von H. Albert widersprochen worden: Ein postulierter Gottesgedanke, der als Interpretament für das entwicklungspsychologisch konstatierte Grundvertrauen eingeführt wird, kann nicht als Nachweis für eine allgemein zu akzeptierende Gotteswirklichkeit gewertet werden. W. Pannenberg knüpft zwar ebenfalls an Erikson an und erkennt im Grundvertrauen, das er als strukturelle Offenheit für Welt und Gott versteht, „von vornherein ein religiöses Phänomen" (Pannenberg, Anthropologie 224), weil es prinzipiell alle begrenzten menschlichen Vertrauensbeziehungen transzendiere. Seine Argumentation läuft trotzdem weniger auf eine Apologie der Gotteslehre hinaus als auf elementare Bestimmungen einer theologischen Anthropologie, mit ethischen und praktisch-theologischen Konsequenzen (z.B. die Religionspädagogik betreffend). Indem Pannenberg die Anthropologie als den Ort bestimmt, für den eine theologische Rezeption der Theorie des Vertrauens in Betracht kommt, vermeidet er es, Vertrauen allein dem Gottesverhältnis zuzuordnen und stellt statt dessen eine gleichursprüngliche Verbindung zwischen Gottvertrauen und vertrauensbildendem Selbstsein heraus. So wie aus einem in Gott gefestigten Grundvertrauen individuelles Selbstvertrauen erwächst und sich lebensgeschichtlich verstärkt, so bleibt auch solches Selbstvertrauen nicht beschränkt bei und für sich, sondern erweist sich anderen gegenüber offen mit der Intention, auch ihr „Selbstsein zu fördern" (Pannenberg, Anthropologie 223). Vertrauen ist mithin auf Vertrauen aus. Was Pannenberg mit „Weltoffenheit" meint, hat dabei auch das Moment von Zukunftsoffenheit bei sich, das biblisch maßgebend ist, wo Vertrauen insbesondere durch die -»Verheißungen Gottes, der als treuer Gott unbedingt zu seinen Verheißungen steht, hervorgerufen und befestigt wird (Gen 15,5f.; Jes 7 , 7 - 9 ; 28,16 u.ö.; vgl. ThWAT I, 330; TRE 13,280-283). (Literatur s.u. S.75)

Reiner Strunk II. Praktisch-theologisch (Literatur S. 75)

Nicht nur, aber vor allem im Nahbereich der lokalen -»Gemeinde stellt sich die -•Kirche als eine Organisation dar, in der kommunikative Prozesse ausschlaggebend sind. Die communio sanctorum vollzieht sich in der -» Kommunikation des Evangeliums, in gemeinsamer Rückbindung an die Urkunden des Glaubens und gegenseitiger Verständigung über ihren vergegenwärtigten Sinn, in diakonischer Aufmerksamkeit füreinander und in der Verantwortung für die Welt. Verheißener Ort für dieses interaktive und kommunikative Leben ist die Gemeinde, ihr Subjekt der -»Geist. -»Praktische Theologie, die dem Wirken des Geistes in der Gemeinde nachdenkt, untersucht die Bedingungen und Gestaltungen eines kommunikativen, „geistbestimmten Lebens" (J. Fischer). Sie trifft dabei unausweichlich auf das Phänomen des Vertrauens, ohne das Kommunikation nicht gelingen kann. Und sie trifft in der Weise darauf, daß Vertrauen nicht allein in einem funktionalen Sinne als „Mechanismus" (Luhmann) kommunikativer Vorgänge in Betracht kommt, sondern weiter in einem theologischen Sinne als Manifestation des Geistes. Vertrauen zu Gott, das sich der Wirkung des Geistes verdankt, schafft per-

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sonale Identität des Glaubens, aber keine persönliche Isolation. Der Geist will Gemeinschaft. Kommunikation des Evangeliums, die in der Kraft des Geistes geschieht, kann darum gar nicht stattfinden ohne Vertrauen, das sich selber verstärkend auf weitere Vertrauensbildung innerhalb, aber auch außerhalb der Gemeinde (etwa in Prozessen von Friedensförderung) ausgerichtet ist. Im selben M a ß e , wie Praktische Theologie ihre Aufgabe in der differenzierten Darstellung des geistbestimmten Lebens erkennt, muß sie die Dimension des Vertrauens in allen Stücken kirchlichen Handelns reflektieren. Dies gilt zunächst, aber keineswegs ausschließlich, für die Gesamtheit der pastoralen Aufgaben. Anknüpfend an F . D . E . -»Schleiermachers Praktische Theologie, in der die Unverzichtbarkeit von Vertrauen für die Berufsausübung des -»Pfarrers betont wird, hat I. Karle die hervorragende Bedeutung des Vertrauens für eine pastorale Professionsethik entfaltet. Eine Profession ist dadurch gekennzeichnet, daß sich ihre Tätigkeit vornehmlich in der direkten Kommunikation mit anwesenden Menschen abspielt, so daß sie auf Vertrauen permanent angewiesen ist. Es kann darum auch nicht in das subjektive Ermessen des einzelnen Pfarrers oder der Pfarrerin gestellt sein, vertrauensbildend zu wirken oder nicht; es muß von ihnen vielmehr erwartet werden, ungeachtet der Verhaltenszumutungen, die damit verbunden sein mögen, weil es zum verbindlichen Charakter dieser Profession selber gehört. „ D a s Vertrauen der Gemeindeglieder ist die entscheidende Basis pastoralen Handelns" (Karle, Pfarrberuf 235). Vertrauensbereitschaft k o m m t nur zustande, wo ihr eine entsprechende Vertrauenswürdigkeit entgegenkommt. Leidet die Vertrauenswürdigkeit der pastoralen Amtsträger Schaden (letzten Endes, weil die pneumatologische Qualität des Vertrauens verkannt wurde), so werden die negativen Auswirkungen auf das ganze Kommunikationssystem Gemeinde unübersehbar. Das Gewicht, das der pastoralen Profession mit ihrer Angewiesenheit auf Vertrauen ebenso wie mit ihrer Kultivierung von Vertrauen zukommt, rechtfertigt allerdings keine Reduktion der Praktischen Theologie auf -»-Pastoraltheologie. Kommunikation der Gemeinde ist nicht identisch mit Pastoration der Gemeinde. Darum werden Vertrauen und Vertrauensbildung auch praktisch relevant bei Angelegenheiten der Organisation und Leitung in der Kirche. Der Abbau theologisch unbegründeter dominanter Positionen, die in mißtrauischer Distanz von unten als bevormundend und abhängig machend erlebt werden; die Entwicklung flexibler, partizipatorischer Strukturen; Dezentralisierung und Konziliarität: dies alles braucht Vertrauen, schafft und fördert aber auch Vertrauen. Wo immer durch kirchliches Handeln Vertrauen erwartet wird oder entwickelt werden soll, ist Aufmerksamkeit geboten für die kritische Grenze zwischen Vertrauen und Vertrautheit (vgl. Luhmann 17ff.). Eine Kirche, die Vertrauen stiften und stärken soll in einer Welt mißtrauischer Selbstverteidigung, brutaler Aggression und lethargischer Gleichgültigkeit, statt dessen aber nur Refugien der Vertrautheit anzubieten weiß, kann schwerlich beanspruchen, in der Kraft des Geistes wirksam zu sein, der lebendig macht, Fremdheit überwindet und versöhnt. Eignet dem Vertrauen Offenheit für die Welt und die verheißene Zukunft Gottes, so neigt Vertrautheit zu eher defensiven, Bewährtes schützenden, Geborgenheit im Bewährten aufsuchenden Verhaltensweisen. Vertrauen ist vorwiegend zukunfts-, Vertrautheit dagegen vergangenheitsorientiert. Beides hat sein Recht, beides aber auch eine unterschiedliche Funktion. Christlicher -*Gottesdienst, der in seinen verschiedenen Elementen das religiöse Gedächtnis der Gemeinde pflegt, dient in positivem Sinne einer Einübung ins Vertrauen, sofern er eine unbedingte existenzielle Vergewisserung des Lebens trotz aller akuten Gefährdungen und Ungewißheiten symbolisch vermittelt. Es ist deshalb durchaus berechtigt, in der -»Liturgie des Gottesdienstes das Vertraute als das rituell Gegebene und kommunikativ Erwartbare erleben zu wollen. Ein Umschlag findet jedoch statt, wenn die Vertrautheit liturgischer Formen nur noch die Funktion erfüllt, ihrerseits Vertrautheit statt Vertrauen herzustellen oder zu stabilisieren. So wenig Vertrauen, das auch immer das M o m e n t des Risikos bei sich hat, ohne die Erfahrungschancen von Vertrautheit

Vertrauen II

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lebendig bleiben kann, so sehr steht doch, theologisch betrachtet, Vertrautheit im Dienste des Vertrauens, nicht umgekehrt. Dieser Primat des Vertrauens gegenüber der Vertrautheit sollte in den unterschiedlichen Gestalten und Bereichen kirchlichen Handelns als praktisch-theologisches Kriterium Beachtung finden. -»-Religionspädagogik, die bei Eriksons Entwicklungspsychologie des Grundvertrauens ansetzt (Fraas; Schweitzer) und nach den Bedingungen und Möglichkeiten religiöser Erziehung im Kindes- und Jugendalter fragt, gerät leicht in die Gefahr, ein analog zur frühen Mutterbeziehung sich bildendes Gottvertrauen allein so zu verstehen, daß es religiöse Geborgenheitserfahrung möglich macht. Wenn nicht hinzukommt, daß der Geborgenheit gewährende zugleich der zum Aufbruch in seine Nachfolge rufende und damit Unsicherheit zumutende Gott ist, wird einseitig zur religiösen Vertrautheit, aber nicht zum Vertrauen erzogen. Ähnlich verhält es sich mit allen seelsorgerlichen Akten. Keine -*Seelsorge, ob sie nun speziell in pastoraler Profession ausgeübt wird oder in der allgemeinen seelsorgerlichen Verantwortung der Gemeinde, kann ohne Vertrauen auskommen. Auf diesem sensiblen Gebiet personaler Kommunikation, wo mit Partnerschaftskonflikten, Trauerfällen u.ä. gerade empfindliche Vertrauenskrisen von Menschen bearbeitet werden sollen, ist die Herstellung von Vertrautheit zweifellos hilfreich. Ein kühl distanziertes Klima und erst recht ein wiederholter Wechsel der seelsorgerlichen Bezugsperson ließe Vertrautheit nicht zu und schadete damit auch der Vertrauensbildung. Umgekehrt darf Seelsorge, die Menschen zu einem Selbstvertrauen des geistbestimmten Lebens verhelfen will, sich nicht in Inszenierungen des Vertrauten erschöpfen. Die Mißachtung dieser kritischen Grenze führt spätestens dort zu eklatanten Folgen, wo das seelsorgerliche Vertrautheitsverhältnis sukzessiv in ein intimes Verhältnis überzugehen droht. Vertrautheit kann nämlich binden, indem sie abhängig macht: von vertrauten Personen, vertrauten Atmosphären und Lebensstilen. Vertrauen dagegen bindet, indem es mit dem Geist verbindet, der frei macht. Im Zusammenhang von Gemeindeaufbau und Gemeindeentwicklung wird eine Herstellung und Wahrung von Vertrautheit auf problematische Weise dominant, wenn Kommunikation intentional zur gegenseitigen Vergewisserung in vertrauten Überzeugungsmustern und Frömmigkeitsgestalten erfolgt. Fremdheit sowie Meinungs- und Verhaltensabweichung werden so als störende Irritation im Kontext des Vertrauten angesehen und ausgeklammert. Vertrautheit, die ihre Bestände bedroht sieht, behauptet sich gern selbstverteidigend gegen die Zumutungen eines Vertrauens, das den Weg auch zur Begegnung mit Fremdem und Unvertrautem einschlägt, um Kommunikation zu erweitern und einer Verständigung unter Verschiedenen den Boden zu bereiten. Darum kann Gemeindeaufbau in volkskirchlichen Strukturen nur darauf angelegt sein, eine innerhalb der Ortsgemeinden bereits vorhandene Pluralität von religiösen, ethischen und politischen Prägungen zu akzeptieren und Anstrengungen zu unternehmen, sie miteinander ins Spiel des Geistes zu bringen (Ratzmann; Strunk). Vertrauensbildung geschieht eben dann, wenn Kommunikation nicht in pluralen Milieus oder sogar feindlichen Lagern verinselt, sondern sich in der Dynamik geistbestimmten Lebens für noch unvertraute neue Gemeinsamkeiten offen zeigt. Literatur Vgl. auch den Art. -»Glaube. Hans Albert, Das Elend der Theol. Krit. Auseinandersetzung mit Hans Küng, Hamburg 1979. - Stefan Andreae, Art. Vertrauen: PWPA (1975) 1180-1184. - Otto Friedrich Bollnow, Wesen u. Wandel der Tugenden, Frankfurt a.M. 1958. - Martin Buber, Zwei Glaubensweisen: ders., Werke, München, I 1962, 651-782. - Erik H. Erikson, Identity and the Life-Cycle, New York 1959; dt.: Identität u. Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966 3 1976. - Johannes Fischer, Leben aus dem Geist, Zürich 1994. - Hans-Jürgen Fraas, Rel. Erziehung u. Sozialisation im Kindesalter, Göttingen 1973. - Carsten Gennerich, Vertrauen. Ein beziehungsanalytisches Modell - untersucht am Beispiel der Beziehung v. Gemeindemitgliedern zu ihrem Pfr., Bern 2000. - Isolde Karle, Was heißt Professio-

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Vienne, Konzil von

nalität im Pfarrberuf?: DtPfrBl 99 (1999) 5 - 9 . - Dies., Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2001 (Prakt. Theol. u. Kultur 3). Hans Küng, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1978. - Knud E. Logstrup, Den etiske Fordring, Kopenhagen 1956; dt.: Die ethische Forderung, Tübingen 1959. Ders., Die spontanen Daseinsäußerungen in ethischer, sprachlogischer u. religionsphil. Sicht: ZEE 20 (1976) 25 - 3 4 . - Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968 31989. - O'Nora O'Neill, A Question of Trust, Cambridge 2002. - Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch?, Göttingen 1962 41972. - Ders., Anthropologie in theol. Perspektive, Göttingen 1983. - Wolfgang Ratzmann, Predigerseminar. Überlegungen f. ein Konzept prakt.-theol. Ausbildung junger Theologen in der DDR, Diss. Leipzig 1989. - Trutz Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie u. Konkretionen einer ethischen Theol., Stuttgart, I 1980, II 1981 (ThW 13). - Friedrich Schleiermacher, Die prakt. Theol. nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammenhange darg., Berlin 1850 Nachdr. 1983. - Rudolf Schottlaender, Theorie des Vertrauens, Berlin 1957. - Schritte zum Vertrauen. Prakt. Konsequenzen f. den Gemeindeaufbau, hg. v. Reiner Strunk, Stuttgart 1989. - Friedrich Schweitzer, Lebensgesch. u. Religion, München 1987 Gütersloh 31994. — Reiner Strunk, Vertrauen. Grundzüge einer Theol. des Gemeindeaufbaus, Stuttgart 1985 21987. - Vertrauen - Entspannung — Abrüstung, hg. v. Konferenz Europ. Kirchen, Genf 1980. - Martin Weimer, Art. Vertrauen: EKL 3 4 (1996) 1169-1171.

Reiner Strunk Verwaltungsgerichtsbarkeit -»Gerichtsbarkeit, kirchliche Verzicht -»Askese Vesper -» Stundengebet Vesperbild -»Andachtsbild Vetus Latina -»Bibelübersetzungen Via antiqua/via moderna -»Scholastik/Neuscholastik Vienne, Konzil von (Quellen/Literatur S. 79)

Nach der Bulle Regnans in coelis -»Clemens' V. vom 12. August 1308 sollte am 1. Oktober 1310 in Vienne in der Dauphine ein allgemeines Konzil zusammentreten. Es sollte sich mit drei Hauptfragen befassen: der Templeraffäre, der Hilfe für das Heilige Land und der Kirchenreform. Die beiden letzten Fragen waren auf den Konzilien der voraufgehenden beiden Jahrhunderte regelmäßig behandelt worden. Die erste dagegen war neu, und tatsächlich war die Notwendigkeit einer Befassung mit den durch den Templerprozeß während der voraufgehenden zehn Monate aufgeworfenen Problemen der vorrangige Grund zur Einberufung eines allgemeinen Konzils. In Frankreich waren die Templer (-»Ritterorden, Geistliche) am 13. Oktober 1307 von Beamten König Philipps IV. (reg. 1285-1314) festgesetzt worden, vorgeblich auf Verlangen der -»Inquisition, tatsächlich aber im Zuge eines königlichen Verfahrens. Die französische Regierung erpreßte von ihnen umgehend Geständnisse, nach denen sie heimlich Bewerber unter gotteslästerlichen und anstößigen Riten aufgenommen, mit Ordensmitgliedern homosexuelle Beziehungen gepflegt und sich der Götzenverehrung ergeben hätten. Clemens war zunächst über die offensichtliche Verletzung seiner Zuständigkeit aufgebracht, sah aber dann keine andere Wahl, als das Verfahren unter Anordnung von Festnahmen auch in anderen Ländern an sich zu ziehen. Die Einschaltung des Papstes führte jedoch schnell dazu, daß einige führende Templer die Geständnisse widerriefen, und im Februar 1308 setzte Clemens das Verfahren aus. Erst nach erheb-

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lichem französischem Druck, der in einem Zusammenstoß in Poitiers im Mai und Juni 1308 gipfelte, fand er sich zur Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Anklagen gegen den Orden insgesamt und zu einer Reihe diözesaner Untersuchungsverfahren über die Schuld einzelner Ordensmitglieder bereit. Im Frühjahr 1310 war indessen deutlich, daß kein befriedigender Fortschritt erreicht war. Darum vertagte die Bulle Alma mater vom 4. April 1310 das Konzil um ein Jahr. Auf seine Vorbereitung wurde beträchtliche Mühe verwandt. Clemens holte Stellungnahmen zu allen drei Verhandlungsgegenständen ein und beauftragte Kardinäle mit der Sammlung einschlägigen Materials. Mehrere einzelne Prälaten wie der Bischof von Mende, Guillaume Durand d.J. (1296-1330), und der Bischof von Angers, Guillaume le Maire ( 1 2 9 1 - 1 3 1 7 ) , setzten eigene Denkschriften auf, während andere diözesane Kommissionen beriefen, um einen weiteren Einblick zu gewinnen. Nach der Eröffnung des Konzils bildete der Papst eigene Kommissionen, um das vorgelegte Material zu ordnen. Die zur Durchsicht des Materials zum Fall der Templer eingesetzte Kommission war wesentlich größer als die anderen Kommissionen. Sie zählte zwischen 40 und 50 Mitglieder, die beiden Gremien zur Untersuchung der Probleme des Franziskanerordens dagegen beispielsweise nur 14 bzw. sieben. Die in der Bischofskirche stattfindenden drei Konzilssitzungen vom 16. Oktober 1311, 3. April 1312 und 6. Mai 1312 repräsentierten daher das Konzil nach außen; doch das wirkliche Konzilsgeschehen spielte sich in diesen Kommissionen und in häufig geheimen Treffen von Interessengruppen ab. Das Konzil war weit geringer beschickt als die Konzilien des voraufgehenden Jahrhunderts. Die ursprüngliche Ladung von 253 Prälaten führte faktisch zur Anwesenheit von 170, deutlich weniger als die Hälfte der auf dem vierten Laterankonzil von 1215 (-•Lateransynoden) gegenwärtigen. Eingeladen waren auch weltliche Mächte, und es waren Delegationen aus Frankreich, Aragon, Kastilien, Portugal, Sizilien und England zugegen: der einzige selbst erscheinende Herrscher aber war der französische König Philipp IV., der vom 20. März bis 4. April 1312 anwesend war. Daß der Besuch nicht größer war, hatte seinen Grund; denn Vienne war nicht Rom. Es zählte 6.000 bis 7.000 Einwohner, und von Anfang an gab es Klagen über die örtlichen Verhältnisse. Guillaume le Maire war überzeugt, daß den Templern „zahlreiche Irrtümer und Häresien nachgewiesen" worden seien. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß dies die Meinung einer ausgesprochenen Minderheit war. Nach Vorbereitung der Dokumentation durch eine kleinere Arbeitsgruppe unter Leitung des Patriarchen von Aquileia, Ottobono Razzi (amtierte 1 3 0 2 - 1 3 1 5 ) , erklärte die große Mehrheit der Kommissionsmitglieder dem Papst Anfang Dezember, daß den Templern Gelegenheit zur Verteidigung gegeben werden sollte. Sie stand zu einem Teil unter dem Eindruck des früheren Auftretens von sieben Ordensbrüdern, die eine Verteidigung des Ordens angeboten hatten und dabei erklärten, bis zu 2.000 andere zu vertreten, sie sich in der Umgebung von Vienne verborgen hielten. Diese Auffassung fand jedoch kräftigen Gegendruck. Nach aragonesischen Beobachtern traf am 17. Februar 1312 eine französische Regierungsdelegation mit dem Papst und fünf Kardinälen zu zwölftägigen Geheimverhandlungen zusammen. Bis zum Eintreffen Philipps IV. hatte Clemens daher offenbar ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Kommission eine eigene Entscheidung über sein Vorgehen getroffen. Nicht überraschend stimmten daher vier Fünftel ihrer Mitglieder für eine Aufhebung des Ordens durch päpstliche Verfügung. Auf der zweiten Konzilssitzung am 3. April hob Clemens dann durch die auf den 22. März datierte Bulle Vox in excelso den Templerorden „durch ein unverletzliches und beständiges Dekret" auf. Auf der dritten Sitzung vom 6. Mai übertrug die Bulle Ad providam vom 2. Mai ihr Vermögen den Johannitern, und die Bulle Considerantes dudum vom 6. Mai behielt das Urteil gegen die Ordensleitung dem Papst vor und überließ die Zuständigkeit für Entscheidungen über die übrigen Ordenangehörigen Provinzialkonzilien. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß das Konzil weithin als Höhepunkt des Templerdramas gesehen worden ist. Es hatte sich jedoch auch anderen, gleicher-

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maßen bedrängenden Aufgaben zu stellen. Viele waren noch zutiefst über den Verlust des Heiligen Landes 1291 bedrückt, und auch die schwierige und vielschichtige Frage der Kirchenreform forderte die Aufmerksamkeit der Konzilsväter. Im Januar 1312 standen diese beiden Themen im Mittelpunkt. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten gezeigt, daß ein neuer Kreuzzug (-»Kreuzzüge) eine langfristige Planung und vielfältige Vorbereitungen erforderte. Das schlägt sich auch in den erhaltenen Konzilsakten nieder. In der zweiten Sitzung gelobte Philipp IV., im kommenden Jahr das Kreuz zu nehmen. Das Konzil erklärte sich bereit, das Unternehmen durch eine sechsjährige Belegung der Geistlichkeit mit dem Zehnten zu finanzieren, und die Konstitution Inter solliatudines Clemens' V. suchte das Studium der orientalischen Sprachen an den führenden Universitäten in Gang zu bringen. Ebenso drängend waren die Forderungen einer allgemeinen Reform. Nach der Auffassung mancher Prälaten sollte sie nicht nur den Leib, sondern auch das Haupt der Kirche erfassen. Sie wiesen eindringlich darauf hin, daß ihre Glaubwürdigkeit von einer bei der römischen Kurie selbst ansetzenden Reform abhängig sei. Auf der anderen Seite lassen die von der Geistlichkeit vorgebrachten gravamina zugleich den Unwillen vieler über das erkennen, was ihnen als unstatthafte Einmischung der weltlichen Macht in die kirchliche Rechtssprechung erschien. Während das Verfahren über die Templer unweigerlich alles andere überschattete, war ein anderer großer Orden, der Orden der -*Franziskaner, von einer langanhaltenden inneren Krise betroffen. Schon seit dem Tod von —»Franciscus von Assisi 1226 stand der Franziskanerorden unter der Spannung zwischen dem Streben seines Gründers nach einem einfachen Leben der Brüder und der Uberzeugung des Papsttums, es sei für die Kirche am förderlichsten, wenn ihre Gemeinschaft eine feste institutionalisierte Form erhalte. Im letzten Viertel des 13. Jh. kreisten die aus dieser Spannung erwachsenden Auseinandersetzungen um das richtige Verständnis des usus pauper, eines Gebrauchs statt eines Besitzes von Eigentum, und sie hatten den Orden in zwei Gruppen gespalten, die Konventualen und die Spiritualen. Sie konzentrierten sich auf die Person und Lehre von P.J. -+OHvi, der das franziskanische Armutsgelübde (-»Armut) auf den Gebrauch bezogen hatte. Das zog ihm die Verehrung der Spiritualen zu, veranlaßte aber die Konventualen, ihn der Häresie zu beschuldigen. Das päpstliche Dekret Exiit qui seminat von 1279 hatte die Angelegenheit nicht beilegen können, und in Vienne setzte Clemens V. zwei Kommissionen ein, die sich damit befassen sollten. Das Ergebnis war der Erlaß der beiden bedeutenden Konstitutionen vom 6. Mai 1312 zur Armutsfrage (Exivi de paradiso) und zu den Lehrauseinandersetzungen (Fidei catholicae). Zentral für die erste war die Frage des sachgerechten Verständnisses: Die Franziskaner sind gehalten, den in der Regel verbindlich festgelegten Evangelischen Räten (—*Consilia Evangelica) zu folgen, während im übrigen Spielraum für eine Flexibilität der Lebensgestaltung besteht, die wegen der Vielfalt der Aufgaben des Ordens in der Gesellschaft notwenig erscheint. Ebenso maßvoll war Fidei catholicae. Olivis Vorstellungen von der Einheit von Seele und Leib, von der Wirksamkeit der Kindertaufe und vom Zustand des Leibes Christi bei der Durchbohrung seiner Seite durch die Lanze wurden abgelehnt, doch wurde dabei vermieden, ihn namentlich zu nennen. Tatsächlich war eine Mehrheit der Kommission bereit, uneingeschränkt festzustellen, daß er katholisch sei und seine Werke in Ehren gehalten werden sollten. Beide Konstitutionen fanden später Eingang in die kanonische Rechtssammlung der Klementinen (vgl. T R E 19,31,2-15), die am 25. Oktober 1317 amtlich anerkannt wurden. Sie können als eines der weiterwirkenden Ergebnisse des Konzils gelten. Zu dem breiten Spektrum der von ihnen getroffenen Regelungen gehören die Fragen der Lebensführung und Tätigkeit exemter Orden, die Regulierung der —>Beginen, die Führung von Hospitälern und Leprosenhäusern und die Tätigkeit der Inquisitoren. Allerdings ist es wegen Verzögerungen im Anschluß an das Konzil schwierig, genau auszumachen, welche Gestalt sie auf diesem selbst erhalten haben. Der Wortlaut läßt darauf schließen, daß einerseits Materialien aus der Zeit von -»Bonifatius VIII. in sie aufgenommen wurden und

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andererseits noch erhebliche Änderungen unter Clemens' Nachfolger -»Johannes X X I I . erfolgt sind. In mancher Hinsicht war Vienne das, was Joseph Lecler ein „Ubergangskonzil" genannt hat, das erste Konzil, auf dem die Reform des Papsttums selbst nahegelegt wurde, das erste, auf dem die Geistlichkeit sich nach „Nationen" organisierte, und das erste, auf dem ein mächtiger weltlicher Herrscher die Kirche gezwungen hat, einen ihrer bedeutendsten geistlichen Orden aufzuheben. Quellen Ein Bruchstück der Acten des Concils v. Vienne, ed. Franz Ehrle: ALKGMA 4 (1888) 3 6 1 - 4 7 0 ; 5 (1889) 5 6 5 - 5 8 4 . - COD 3 333-401. - Decrees of the Ecumenical Councils, ed. Norman P. Tanner, London, I 1990, 3 3 6 - 3 4 6 . - Dekrete der ökum. Konzilien, hg. v. Giuseppe Alberigo/Josef Wohlmuth. II. Konzilien des Mittelalters, Paderborn 3 2000 [griech., lat., dt. Ausg.]. - Heinrich Finke, Papsttum u. Untergang des Templerordens. II. Quellen, 1907 (VRF 5). - Livre de Guillaume Le Maire, ed. Célestin Port: Mélangés Historiques. Choix de documents, II 1877 (CDHF) 4 7 1 - 4 7 4 Mansi, X X V , 3 6 7 - 4 2 6 . - Vitae Paparum Avenionensium, ed. Etienne Baluze, nouv. éd. Guillaume Mollat, Paris, I 1916, 1 - 1 0 6 .

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Malcolm Charles Barber

Vietnam 1. Religionsgeschichte

2. Missions- und Pastoralgeschichte

(Literatur S. 83)

Vietnam (Vietnam) ist mit ca. 81 Millionen Einwohnern (1999) eine sozialistische Republik (seit 1946 im Norden, seit dem 30. April 1975 bzw. der Wiedervereinigung 1976 von ganz Vietnam) in Südostasien. Die zunächst zwei vietnamesischen Republiken gingen aus dem 1802 geeinten und 1 8 5 8 - 1 8 8 4 von den Franzosen sukzessive eroberten Kaiserreich hervor und wurden nach dem 1. Indochinakrieg 1954 unabhängig. Die Bevölkerung besteht aus Vietnamesen, Chinesen, Khmer, Cham und kleineren Volksstämmen. Die Vietnamesen sind in der Mehrheit entweder konfuzianisch geprägt oder M a häyäna-Buddhisten, aber es gibt auch einen hohen katholischen Bevölkerungsanteil (ca. 5 % ) sowie etwa 250.000 Protestanten, während die Khmer-Bevölkerung hauptsächlich dem Theraväda-Buddhismus anhängt und die Cham Sunniten der säfi'itischen Rechtsschule (-»Islam) sind. 1.

Religionsgeschichte

Das Land, das sich heute Vietnam nennt - was soviel wie „Land des Viet-Volkes im Süden" bedeutet - , hatte im Laufe seiner Geschichte viele verschiedene Namen. Das Volk, das ursprünglich auf chinesisch Yue genannt wurde und auf vietnamesisch Viet

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heißt, hatte bereits im 5. Jh. v.Chr. am unteren Yangzi-Fluß in -»China einen Staat namens Yue gebildet, der 333 v. Chr. von einem chinesischen Teilstaat vernichtet wurde. Große Teile des Volkes begaben sich auf eine Wanderung nach Süden und bildeten Ende des 3./Anfang des 2. Jh. v. Chr. in der Umgebung der späteren südchinesischen Stadt Guangzhou (Kanton) und im Nordteil des heutigen Nordvietnam einen Staat, den sie aufgrund der Verlagerung der Macht nach Süden Nam-Viet, „Südland der Viet", nannten, ein Name, der wiederholt benutzt wurde und den die chinesische Manju-Dynastie im 19. Jh. untersagte, weil sie ihn als Provokation empfand, worauf das vietnamesische Kaiserhaus den Namen umdrehte und das Wort Vietnam entstand. Den neugegründeten Staat eroberten die Chinesen im Jahre 111 v.Chr. und behaupteten sich in dieser Giao-cbi und später Annam („Befriedeter Süden") genannten Provinz bis zum Jahre 939 n. Chr., d. h. über 1.100 Jahre. Daher war der chinesische Kultureinfluß in Vietnam überwältigend, während der Indiens eher im heutigen Südvietnam anzutreffen war, in dem seit der Mitte des 1. Jahrtausends n.Chr. in den Küstenregionen der hinduisierte Staat Campä existierte und - * Kambodscha ebenfalls einen beträchtlichen Teil der Fläche unter seiner Kontrolle hatte und besiedelte. So spielte China auch bei der religiösen Entwicklung Vietnams eine entscheidende Rolle, da sowohl die Verehrung des chinesischen Philosophen -»Konfuzius, der Taoismus (-•Chinesische Religionen 6.) wie auch der -»Buddhismus (vielleicht mit Ausnahme der Anfänge) aus dem Reich der Mitte kamen. Buddhistische Gemeinden in der chinesischen Provinz Giao-chi bzw. Annam gab es anscheinend schon seit dem 2. Jh. n. Chr. Zwischen dem 3. und 10. Jh. reisten zahlreiche chinesische Mönche durch dieses Gebiet. Für die frühe Zeit können keine spezifischen Aussagen über den Buddhismus Vietnams gemacht werden außer der, daß es sich hierbei um das Mahäyäna handelte. Im Jahre 580 gründete ein aus China kommender Inder namens Vinltaruci eine Meditationsschule. Meditation lautet auf Sanskrit dhyäna und lautmalend davon abgeleitet sind chinesisch chan und vietnamesisch thien, d. h. das, was im Westen im allgemeinen unter dem japanischen Namen Zen bekannt ist. Eine zweite Meditationsschule wurde im Jahre 820 gegründet. Nach der Erringung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 971 führte Kaiser Dinh Tien Hoäng (reg. 968—979), der ein glühender Anhänger des Buddhismus war, eine hierarchisch gegliederte religiöse Beamtenschaft ein und ernannte einen Mönch zum „Großen Meister, Stütze des Landes Viet". Von nun an wurde der Buddhismus für eine relativ lange Periode von den vietnamesischen Kaisern gefördert. Besonderes Interesse bestand am Erwerb der heiligen Texte. So wie einst chinesische Mönche nach Indien gepilgert waren, um dort die Originaltexte zu beschaffen und zu übersetzen, so wandten sich die Herrscher Vietnams jetzt nach China. Nach dieser Blütezeit des Buddhismus kam es zu Beginn des 15. Jh. zu einer Wende, als Truppen der chinesischen Ming-Dynastie Vietnam besetzten. Sie zerstörten dabei die meisten buddhistischen Tempel. Nach der Vertreibung der Chinesen 1428 wandte sich die neue vietnamesische Dynastie der Späteren Le (1428—1785) dem Konfuzianismus als offizieller Staatsphilosophie zu und verfolgte den Buddhismus, dem verboten wurde, neue Tempel zu erbauen. Diese Dynastie eroberte 1471 auch das Reich von Campä und dehnte damit ihre Macht weit nach Süden aus. Dieses Ereignis bildete quasi den Auftakt zur Landnahme des gesamten Territoriums des heutigen Südvietnam. Seit dem 16. Jh. war diese Dynastie aber faktisch entmachtet, da die wirkliche Macht von zwei miteinander rivalisierenden Herrscherhäusern ausgeübt wurde: von den Trinh (1539-1786) im Norden mit der Hauptstadt Hanoi und den Nguyen (1570-1955) im Süden mit der Hauptstadt Hue. Beide Dynastien waren buddhistisch gesinnt und förderten die Religion durch neue Tempelbauten und den Austausch mit chinesischen Mönchen. Siegreich waren schließlich die Nguyen, die 1802 unter Kaiser Nguyen Anh (Gia-long, reg. 1789-1820) ganz Vietnam unter ihre Herrschaft brachten. In das 18. und frühe 19. Jh. fällt auch die vietnamesische Annexionspolitik und Kolonialisierung von Cochinchina, d. h. der Regionen um das Mekongdelta, die bis dahin kambodschanisch gewesen wa-

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ren und deren Bevölkerung sich hauptsächlich aus Khmer und Chams zusammensetzte. Die Verehrung des Konfuzius sowie der Kult des Himmels und der Erde waren besonders unter den Beamten und den literarisch Gebildeten verbreitet und nahmen zeitweise den Rang einer Staatsreligion (—•Staatskirche/Staatsreligion) ein, doch waren diese Phasen nicht besonders langlebig. Der Taoismus manifestierte sich in Vietnam hauptsächlich mit einem Pantheon übersinnlicher Wesen und magischen Praktiken, mit denen er zum Teil auch den Buddhismus beeinflußt hatte. Im 19. und zu Beginn des 20. Jh. war der Buddhismus im Süden unter der Kolonialmacht zusehends verfallen. Im Norden war er nicht zuletzt aufgrund der Förderung durch den Kaiserhof stärker verbreitet. Dem Niedergang des Buddhismus wirkte seit 1920 eine buddhistische Erneuerungsbewegung erfolgreich entgegen. Ihre Anfänge liegen in den Vereinigungen von Laienbuddhisten, die für die Unterhaltung bestimmter Tempel aufkamen. Im Jahre 1931 erfolgte in Saigon die Gründung der „Vereinigungen zum Studium des Buddhismus", in den Jahren 1932 und 1934 folgten Hue und Hanoi. Die Erfolge dieser Reformbewegung waren in Annam am größten. In Hue entstand 1932 das Bao-Quoc-Seminar, eine Hochschule für buddhistische Mönche. Diesen Reformgruppen schlössen sich vor allem jüngere Laien an, die den erstarrten Buddhismus durch das Studium der alten Texte neu beleben wollten. Sogar in einigen Dörfern bildeten sich Zweigorganisationen, und 1938 schlössen sich alle Vereinigungen zu einer gesamtvietnamesischen Dachorganisation zusammen. Die Zielsetzung der buddhistischen Reformbewegung Vietnams war zwar in erster Linie religiös, doch nahm sie bald auch den Charakter einer nationalen Bewegung an. Ihr Ansehen stieg durch die Bildung gemeinnütziger Einrichtungen wie etwa einer Vereinigung zum Kampf gegen das Analphabetentum. Der Reformbuddhismus wollte die alten Traditionen des Landes in einer zeitgemäßen Form präsentieren. Man wandte sich sowohl gegen die Überfremdung durch den französischen Kultureinfluß als auch gegen den erstarrten Traditionalismus. Aus der Bao-Quoc-Hochschule in Hue kamen nämlich die bedeutendsten Gestalten der Erneuerungsbewegungen, die dann auch für die politische Erneuerung des Landes eintraten. Auf die weitere Entwicklung soll im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den politischen Katholizismus eingegangen werden. 2. Missions- und

Pastoralgeschichte

Vietnamesische Annalen berichten für das Jahr 1553 von einem portugiesischen Missionar namens Ignatio, der in der Provinz So'n-nam predigte. Aber erst nach Vertreibung der europäischen Missionare aus Japan gründeten Jesuiten Anfang des 17. Jh. erste Missionen im Land. Am 15. Januar 1615 landeten der Genuese Francesco Buzomi und der Portugiese Diego Carvalho in D a Näng (Tourane in Zentralvietnam) und gründeten in Faifo die Mission für Cochinchina. Anfangserfolge führten dazu, die Mission auch nach Norden auszudehnen. 1626 wurde Giuliano Baldinotti (1591-1631) nach Tongking entsandt, und man entschloß sich, mit der Gründung einer Mission den aus Avignon stammenden Alexandre de Rhodes (1593-1660) zu betrauen, der auch die Landessprache beherrschte. Er begab sich 1627 zu Trjnh-Trang, dem im Namen des Kaisers regierenden Machthaber (1623-1657) des Nordens. Bis Ende 1629 hatte de Rhodes 6.700 Personen getauft, darunter mehrere Prinzen. Daraus ergaben sich aber Loyalitätskonflikte, da nun die Treue der Christen zu ihrem Glauben stärker wog als konfuzianische Pietät und Ehrerbietung gegenüber den Fürsten. Als Konsequenz wurde de Rhodes 1630 ausgewiesen und begab sich nach Macao, kehrte aber zwischen 1640 und 1645 mehrmals in den Süden zurück, bevor er endgültig ausgewiesen wurde. Da die Macht der Portugiesen durch das Auftreten der Holländer in Südostasien (sie eroberten 1641 Malakka) im Schwinden begriffen war, schlug de Rhodes in Rom vor, in Vietnam ein von Portugal losgelöstes Episkopat einzurichten, das einen einheimischen Klerus schaffen solle. Eine weitere bedeutende Leistung war sein vietnamesisch-portugiesisch-

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lateinisches Wörterbuch, wobei er für das Vietnamesische eine Lateinschrift mit entsprechenden diakritischen Zeichen einführte, indem auch die unterschiedlichen Töne berücksichtigt wurden. Diese als quöc-ngü' bezeichnete vietnamesische Nationalschrift wurde zunächst von Konvertiten benutzt und führte zur weiteren Absonderung (diese Schrift wurde von den Franzosen im 19. Jh. als allgemeinverbindlich eingeführt). De Rhodes wurde inzwischen in Frankreich vorstellig und erlangte die Unterstützung des französischen Adels und der Kirche. So ernannte Rom 1658 zwei französische apostolische Vikare, François Pallu (1626-1684) und Lambert de la Motte (1624-1679). Die Erfolge der christlichen Mission führten zu scharfen Reaktionen. So erließ 1662 der Machthaber Trinh-Tac (reg. 1657—1682) Anweisungen zur Reform der Sitten nach konfuzianischen Vorstellungen, die sich nicht nur gegen Christentum, sondern auch gegen Buddhismus und Taoismus richteten. Nguyên Phu'6'c-Tân (reg. 1648-1687), der Machthaber des Südens, befahl 1665, alle Christen von Faifo zu töten. Immer wieder kam es im 17. und 18. Jh. zu Verfolgungen und Maßnahmen gegen die Christen, aber andererseits bekleideten einige apostolische Vikare bedeutende Stellungen am Hofe der Nguyên, und dies sogar nach der 1750 durch Nguyên Phu'o'c-Khoât (reg. 1738—1765) verfügten Massenausweisung. Es war schließlich einer der Herrscher aus dieser Familie namens Nguyên Anh, der nicht zuletzt mit Hilfe französischer Waffen 1802 das Land unter seiner Herrschaft vereinte und sich unter der Devise Gia-long zum Kaiser (18021820) proklamierte. Dieser Herrscher war insbesondere durch den Apostolischen Vikar Pigneau de Béhaine (1741—1799) unterstützt worden. Danach nahm die katholische Missionierung durch französische Mönche erheblich zu. Der Gia-long-Kaiser tolerierte daher die in seinem Reich verbreiteten Religionen bzw. Staatsphilosophien: Konfuzianismus, Buddhismus und Christentum. Doch sein Nachfolger Nguyên Than-tô (Minh-Mang, reg. 1820-1841), ein überzeugter Konfuzianer, sah im Christentum vor allem eine Religion der Kolonialmächte und ordnete deshalb seine Verfolgung an. Diese Politik setzten auch seine Nachfolger fort. Die Ermordung zahlreicher katholischer Missionare bot für Napoleon III. (reg. 1852-1870) den willkommenen Anlaß zur kolonialen Eroberung. Nachdem die vietnamesische Regierung 1857 Religionsfreiheit für Christen, die Errichtung eines französischen Konsulats und einer Handelsmission in Huè abgelehnt hatte, begann 1858 eine französische Militärexpedition mit der Besetzung Cochinchinas, die 1867 abgeschlossen wurde. Dort konnte sich der Katholizismus rasch ausbreiten, wenngleich er immer eine Minderheitsreligion blieb, die aber aufgrund ihrer Verflechtung mit der Kolonialmacht eigene Eliten herausbildete (1964 waren von den insgesamt 14 Millionen Einwohnern Südvietnams 2,2 Millionen Katholiken, d.h. über 14%). In den Jahren 1883 und 1884 besetzte die französische Republik dann auch Annam (Zentralvietnam) und Tongking, also den Rest des vietnamesischen Kaiserreiches, errichtete dort ein Protektorat und setzte einen Residenten ein, was die faktische Entmachtung des Kaisers bedeutete, der nur noch eine Statistenrolle spielte. Unter der französischen Kolonialmacht hatte die Missionierung viel größere Möglichkeiten, aber der christliche Einfluß führte auch zur Bildung einer synkretistischen Religion wie die der Cao Bài, die nach einem allmächtigen Retter, der Buddha und Jesus in sich vereinigt, benannt und straff hierarchisch mit einem „Papst" an der Spitze organisiert ist. Zu ihren „Heiligen" gehören neben vielen anderen auch Konfuzius und Victor Hugo (1802-1885). Im Unabhängigkeitskampf vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg spielte der kommunistisch gelenkte Viêt-minh eine bedeutende Rolle. Als nach der verheerenden Niederlage der Franzosen bei Diên Biên Phu und der Genfer Indochina-Konferenz das Land 1954 in einen kommunistischen Nordstaat und eine autoritäre Republik (seit 1955) im Süden geteilt wurde, flohen viele Katholiken, aber auch zahlreiche Buddhisten nach Süden. Neuer starker Mann in Südvietnam wurde Ngô Dinh Diêm (1901-1963), der aus einer Familie stammte, die seit dem 17. Jh. katholisch war. Ihm gelang es 1955, einen Aufstand der im 20. Jh. entstandenen synkretistischen Religionsgemeinschaften

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wie Cao Dài und Hôa-Hao niederzuschlagen. Damit begann die achtjährige Diktatur der Familie Ngô, die entscheidende Machtpositionen im Staat mit Katholiken und vor allem mit Mitgliedern der eigenen Familie besetzte. Mit der Bevorzugung von Katholiken waren in Zentralvietnam auch Repressalien gegen Buddhisten verknüpft, weil diese generell als regierungsfeindlich betrachtet wurden. Für den Süden des Staates trafen diese Repressalien zwar nicht zu, aber es entwickelte sich allgemein eine Atmosphäre der Opposition gegenüber der Regierung in buddhistischen Kreisen. Das Erstarken des Buddhismus führte zu Konflikten mit den katholischen Autoritäten, jedoch nicht den Katholiken schlechthin. Buddhistische Mönche und Nonnen griffen seit 1963 zum Mittel der Selbstverbrennung, was ihnen neben sozialen Maßnahmen neue Popularität einbrachte. Schließlich wurde das Regime der Ngö-Brüder am 2. November 1963 durch einen blutigen Militärputsch beseitigt und die allgemeine Religionsfreiheit wiederhergestellt. Als der darauffolgende Zweite Indochina-Krieg (1964-1975) 1975 mit dem Sieg der Kommunisten endete, bedeutete dies das Ende der Republik Südvietnam sowie verschärfte Repressalien gegenüber Vertretern des alten Regimes, wozu auch Katholiken und Buddhisten gehörten. Katholische Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen wurden 1976 beschlagnahmt und die Priesterausbildung erschwert. Die Religionsausübung wurde jedoch nicht verboten, war aber strenger Reglementierung unterworfen. Seit den 90er Jahren des 20. Jh. ist eine entspanntere Atmosphäre zwischen Staat und den Religionsgemeinschaften, darunter auch den Christen, festzustellen. Priester und Ordensleute arbeiten in staatlichen Schulen und sozialen Einrichtungen mit. Es gibt drei Kirchenprovinzen: Hanoi mit zehn Diözesen, Hué mit sechs und Ho-Chi-Minh-Stadt mit neun. In ihnen leben unter der Obhut von 35 Bischöfen ca. fünf Millionen Gläubige. Protestantische Missionsarbeit war erst seit 1911 möglich, aber bereits 1927 erhielt die Evangelische Kirche ( H ô i Tin Lank) ihre Autonomie. Im Jahr 1995 lebten etwa 20.000 Protestanten im Norden und 150.000 im Süden. Literatur Heinz Bechert, Buddhismus, Staat u. Gesellschaft in den Ländern des Theraväda-Buddhismus, Wiesbaden, II 1967, 3 0 5 - 3 7 2 [Exkurs über Vietnam], - Louis Bezacier, Die Religionen Viet-nams: Die Religionen Südostasiens, v. Andrâs Höfer u.a., Stuttgart 1975, 2 9 1 - 3 5 7 . — Chris Brazier, Vietnam. T h e Prize of Peace, Oxford 1992. - Leopold Cadière, Croyances et pratiques religieuses des Vietnamiens, Paris 1992. - Gabriel Gobron, History and Philosophy of Caodaism, Saigon 1950. - Stanley Karnow, Vietnam. A History, London 1984. - Adrien Charles Launay, Histoire de la Mission de Cochinchine 1 6 5 8 - 1 8 2 3 , 2 Bde., Paris 1 9 2 3 - 1 9 2 4 . - Ders., Histoire de la mission du Tonkin, Paris 1927. - Lê T h à n h Khôi, Le Vietnam. Histoire et civilisation, Paris 1955; dt.: 3.000 Jahre Vietnam. Schicksal u. Kultur eines Landes, bearb. u. erg. v. Otto Karow, München 1969. - Louis Eugène Louvet, La Cochinchine religieuse, Paris 1885. - Claudia Pfeifer, Konfuzius u. M a r x am Roten Fluß. Vietnams Reformkonzepte nach 1975, Bad Honnef 1991. - Pham Dinh Thai, Christians in Vietnam, Diss. Edinburgh 1992.

Karl-Heinz Golzio

Vigilie

Stundengebet

Vikar/Vikarin I. Kirchenrechtlich II. Praktisch-theologisch

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I. Kirchenrechtlich 1. Begriff allgemein 2. Römisch-katholisches Kirchenrecht Lehrvikare/Lehrvikarinnen (Literatur S. 88)

1. Begriff

3. Evangelisches Kirchenrecht:

allgemein

Das lateinische Wort vicarius ist abgeleitet von dem Ausdruck qui vices gerit („der wechselnd anfallende Aufgaben wahrnimmt"). Es ist verwandt zu „Vize-" in Worten wie vicecancellarius (Vizekanzler) usw. und bezeichnet seit dem Altertum allgemein jemanden, der - meist dauerhaft - den Aufgabenbereich eines anderen wahrnehmen soll. Das Wort wurde vielfältig verwendet. Es begegnete sowohl an niedrigster Stelle: vicarius servi (Aushelfer für einen beurlaubten Sklaven) wie auch an höchster Stelle: vicarius imperii (Reichsverweser an Stelle des Kaisers, z.B. im Cod. Justinianus 1,38). Das Corpus Iuris Canonici (-»Kirchenrechtsquellen) enthielt dazu allgemein gefaßte Abschnitte de officio vicarii (X,l,28; VI,1,13; Clem 1,7). Wenn hingegen jemand nur einzelne, konkret bezeichenbare Angelegenheiten eines anderen wahrnehmen sollte, dann verwendete man für gewöhnlich nicht das Wort vicarius, sondern delegatus (Delegierter) oder commissarius (Spezialbeauftragter). Der Sprachgebrauch wurde und wird aber in dieser Hinsicht nicht exakt eingehalten. Im folgenden wird dargestellt, wie das Wort „Vikar" im allgemeinen -»Kirchenrecht benutzt wird. Jedoch wird das Wort außerdem auch in partikularen Bestimmungen einzelner Bistümer und einzelner religiöser Orden verwendet. 2. Römisch-katholisches 2.1. Der Papst als Vikar

Kirchenrecht Christi

Im Kirchenrecht wurde das Wort zuerst im Blick auf -»-Jesus Christus benutzt. Der Begriff vicarius Christi begegnet ab dem 3. Jh. Er wurde hauptsächlich auf den Apostel -•Petrus bezogen, daneben auch allgemein auf die Apostel, auf Bischöfe als ihre Nachfolger, manchmal im weitesten Sinne sogar auf alle Kleriker insgesamt. Bei der Römischen Synode von 495 wurde erstmals der Papst so genannt. Zuvor war er immer nur als vicarius Petri bezeichnet worden. Den Titel vicarius Christi führten aber auch die römisch-deutschen Kaiser der Ottonenzeit und Salierzeit. Sie wurden oft sogar vicarius Dei genannt (Stellvertreter Gottes auf Erden). Auch Könige anderer Länder wurden im Mittelalter bisweilen als Stellvertreter Gottes in ihrem Land bezeichnet. Im -»Investiturstreit stritten Parteigänger des Kaisers und des Papstes auch darum, wer das bessere Recht auf den Titel vicarius Christi habe und was juristisch daraus folge. Seit Ausgang des 12. Jh. wird nur noch der Papst so bezeichnet (z.B. im CIC can. 331; 333). 2.2. Vikare des

Papstes

Der Kardinalvikar nimmt Aufgaben wahr, die dem Papst in seiner Eigenschaft als -»•Bischof von -»Rom obliegen (-»Kardinal/Kardinalskollegium; -»Papsttum). Der Titel vicarius apostolicus (Apostolischer Vikar) hat im Laufe der Jahrhunderte mehrfach seine Bedeutung geändert. Er bezeichnete zuerst einen päpstlichen Legaten. Der Titel wird heute verwendet für einen Geistlichen, der bischöflich an Stelle des Papstes ein Territorium betreut, wo der Papst - aus welchem Grunde auch immer - noch nicht ein -»Bistum errichtet hat, das aber bereits in einigen Hinsichten die Voraussetzungen dafür erreicht hat. Hingegen bei Gebieten, wo die Voraussetzungen für ein Bistum voraussichtlich noch lange fehlen werden, setzt der Papst stattdessen nur einen Apostoli-

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sehen Präfekten ein. „Apostolisches Vikariat" und „Apostolische Präfektur" kommen vor allem dort vor, wo Katholiken vorerst nur vereinzelt und in Zerstreuung leben, also in Missionsgebieten (can. 368; 371 §1; 400 §3; 495 §2; 502 §4). Der Geistliche, der ein Apostolisches Vikariat während dessen Sedisvakanz betreut, heißt „Provikar" (can. 420). 2.3. Vikare auf

Bistumsebene

Auf der Leitungsebene der Bistümer muß in der Römisch-katholischen Kirche jeder Diözesanbischof einen vicarius generalis (Generalvikar) ernennen (-»Bistum). Dieser kann im gesamten Bistum alle Akte ausführender Gewalt vornehmen, die nicht dem Diözesanbischof persönlich vorbehalten sind (can. 475) - und zwar nicht nur während Abwesenheit oder Behinderung des Diözesanbischofs, sondern immer. Seine Befugnisse erlöschen durch Abberufung oder Amtsverzicht. War der Generalvikar nur befristet ernannt, so enden die Befugnisse auch durch Fristablauf. Außerdem enden die Befugnisse, sobald der Generalvikar sichere Kenntnis davon erhält, daß das Bischofsamt vakant geworden ist - durch Tod des Diözesanbischofs oder aus sonstigen Gründen (can. 481; 417) - außer wenn der Generalvikar zugleich Auxiliarbischof ist (can. 409 §2). Ein Diözesanbischof, dem ein Bischofskoadjutor oder ein vom Papst mit Sonderbefugnissen ausgestatteter Auxiliarbischof beigesellt worden ist, muß diesen zum Generalvikar ernennen (CIC can. 406; 403 §§2-3; CIC ecclesiae orientalis can. 215 §2). Ähnlich, aber etwas abweichend ist der Sprachgebrauch in der -»Anglikanischen (Kirchen-)Gemeinschaft. Dort bezeichnet der Begriff vicar-general einen Geistlichen, der allerdings nur bei Abwesenheit oder Verhinderung des Diözesanbischofs sowie auch während der Sedisvakanz die Aufgaben des Diözesanbischofs wahrnimmt. In -»England ist diese Amtsbefugnis stets mit dem Amt des chancellor (Kanzler) des Bistums vereinigt. Der Kanzler hat aber zugleich auch einige richterliche Aufgaben. Soweit letztere Aufgaben betroffen sind, wird der Kanzler als vicar-general betitelt. Weiterhin muß jeder Römisch-katholische Diözesanbischof zwecks Ausübung seiner richterlichen Befugnisse einen vicarius iudicialis (Gerichtsvikar) ernennen, der gewöhnlich die Amtsbezeichnung officialis (Offizial) trägt (-»Gerichtsbarkeit, kirchliche). Ihm können vicarii iudiciales adiuneti (beigeordnete Gerichtsvikare) als Helfer beigegeben werden. Sie haben den Titel Vizeoffizial. Vicarii episcopales (Bischofsvikare) werden durch den Diözesanbischof eingesetzt, wenn er und sein Generalvikar allein das Bistum nicht in genügender Weise zu leiten vermögen. Ein Bischofsvikar hat im Prinzip Befugnisse gleicher Art wie ein Generalvikar - jedoch nicht für das gesamte Territorium des Bistums, sondern entweder nur für einen durch den Bischof zugewiesenen Gebietsteil oder nur für einen bestimmten Geschäftsbereich der bischöflichen Verwaltung oder nur für einen bestimmten Personenkreis, zum Beispiel für Ordensangehörige, oder für Gläubige einer bestimmten Muttersprache oder für Gläubige eines bestimmten Ritus (can. 476). Generalvikare und Bischofsvikare haben oft die Bischofsweihe, sind also Auxiliarbischof (= ohne Nachfolgeberechtigung) oder sogar Bischofskoadjutor (= mit Nachfolgeberechtigung, sobald das Bischofsamt vakant wird: can. 409; 403 §3). Die Ämterverfassungen des ökumenischen -»Patriarchats von Konstantinopel sowie der orthodoxen Kirchen -»Rußlands, -»Bulgariens, -»Rumäniens und Serbiens (-»Jugoslawien) benutzen in ihren jeweiligen Sprachen Worte, die in Ubersetzung dem Wort „Vikarbischof" gleichkommen. 2.4. Vicarius foraneus Unter dem Sammelbegriff vicarius foraneus („Außen-Vikar") faßte der CIC 1917 (can. 217) und ebenso der CIC 1983 (can. 553) vielerlei Bezeichnungen für Distriktsleiter innerhalb eines Bistums zusammen.

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Bei großen Bistümern war es schon im Altertum üblich gewesen, daß sie in mehrere Teilgebiete untergliedert wurden und daß hervorgehobene Geistliche in diesen Teilgebieten einzelne bischöfliche Rechte an Stelle des Bischofs ausübten - zum Beispiel die kirchliche Gerichtsbarkeit und das Recht der -»Visitation. Der CIC 1917 machte es sogar jedem Bischof zur Pflicht, sein Bistum entsprechend zu unterteilen. Der gängige deutsche Text des CIC 1983 übersetzt den Begriff vicarius foraneus kurzweg mit „Dechant". Der Amtsbezirk wird dementsprechend deutsch Dekanat genannt. Hingegen hat sich in einigen Kirchen der Anglikanischen Gemeinschaft (z. B. England, Irland, Südafrika) noch die alte Bezeichnung „archdeacon" = archidiaconus erhalten. 2.5. Vikare eines

Kathedralkapitels

Seit dem Mittelalter gab es bei den -»Domkapiteln (Kathedralkapiteln) und auch sonst bei Kollegiatkapiteln (Säkular-Kanonikerstiften) Stiftsvikare (-»Stift). Die Stiftsvikare dienten bei den Chorgebeten und Zelebrationen der Messe in gleicher Weise wie Stiftsherren, hatten aber im Gegensatz zu diesen keine eigene Präbende, wohnten also nicht einzeln in einer Stiftsherren-Kurie, sondern wurden gemeinschaftlich aus den sonstigen Einkünften des Stifts ernährt. Sie lebten klosterähnlich zusammen. Im Spätmittelalter allerdings gab es dann vielerorts auch Stiftsvikare, die einzeln in einer „Vikariatskurie" wohnten. Nach diesem Vorbild wurden auch bei manchen Pfarrkirchen gesonderte Präbenden für „Vikariatskurien" gestiftet. Anglikanische Kanoniker haben seit je her keine selbständigen Kurien, sondern leben in Gemeinschaft. Konsequenterweise heißen sie daher alle vicars-choral (Chorvikare). Heute werden im deutschen Sprachraum Hilfsgeistliche der Kapitel meist „Domvikar" genannt. Sie sind zwar dem Kapitel (can. 503) zugeordnet, sind aber nicht Mitglieder. Der CIC 1983 berücksichtigt sie lediglich in can. 507 § 2, wo gesagt wird, daß Kleriker, die nicht zum Kapitel gehören, nach Maßgabe der Kapitels-Statuten zu Hilfsdiensten für die Kanoniker eingesetzt werden können. Da bei Kathedralkapiteln die Domvikare mit zur bischöflichen Kurie gehören, werden also auch sie durch den Diözesanbischof ernannt und unterliegen wie alle anderen Kurienangehörigen denselben besonderen Treupflichten und Verschwiegenheitspflichten (can. 470; 471). Völlig andersartige Aufgaben hatte nach früherem Recht der vicarius capitularis (Kapitelsvikar, siehe CIC 1917, can. 431-444): er leitete nämlich die Diözese interimistisch während Zeiten, wo der Bischofsstuhl vakant war - und zwar namens des Kathedralkapitels; denn früher ging, wenn der Bischofsstuhl vakant wurde, die Leitungsgewalt für das Bistum automatisch auf das Kathedralkapitel über, welches dann zwecks Ausübung dieser Leitungsgewalt eben den „Kapitelsvikar" wählte. 2.6.

Pfarrvikar

Am häufigsten bezeichnete das Wort „Vikar" seit dem Mittelalter einen Hilfsgeistlichen mit Seelsorge auf Kirchgemeinde-Ebene. Der Sprachgebrauch war aber niemals fest abgegrenzt. Besonders unscharf war die Grenze zum cappellanus (Kaplan; -»Pfarrei): so nannte man einen abhängigen, für vielerlei liturgische oder sonstige Dienste verwendeten Geistlichen. Die Notwendigkeit, Vikare einzusetzen, ergab sich im Mittelalter daraus, daß ab dem 12. Jh. bei vielen Pfarrkirchen jemand als -»Pfarrer fungierte, der nicht persönlich den Pfarrdienst verrichten konnte - entweder weil in Folge von „Inkorporation" eine juristische Person Pfarrer war (zum Beispiel ein Kloster, ein Hospital, ein Stift), oder weil jemand Pfarrer war, der sich um seine Pfarrgemeinde nicht persönlich kümmerte. Viele Pfarrer hatten kirchliche oder weltliche Aufgaben anderorts, oder ihnen fehlte die Priesterweihe, oder sie waren einfach nicht fähig oder nicht bereit, ganz alleine die Pfarrei zu betreuen. Zusammenfassend kann man sagen, daß jeder Geistliche, der auf Kirchgemeinde-Ebene in der -»Seelsorge tätig war, ohne persönlich eine Pfarr-Präbende

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inne zu haben, „Vikar" genannt wurde. Diesen Sprachgebrauch hat noch heute die Anglikanische Gemeinschaft beibehalten. Die Römisch-katholische Kirche der Neuzeit schuf als neue kirchliche Organisationsform die vicaria paroecialis perpetua (ständige Pfarrvikarie, auch „Expositur", „Kuratie", „Localie", „Außenkaplanei", „Rektorat" u.a. genannt, CIC 1917 can. 1427; 1412 Nr. 1). Es handelte sich um einen Teil eines Bistums, der zwar durch einen ständigen, eigenverantwortlichen Seelsorger betreut werden sollte, aber andererseits aus irgendwelchen Gründen (z. B. politischen) eben doch nicht zur selbständigen Pfarrei erhoben wurde. Der CIC 1983 hat die vicaria perpetua umbenannt in quasi-paroecia (QuasiPfarrei, can. 516 § 1). Nach heutigem Römisch-katholischem Kirchenrecht gibt es auf der Ebene der Kirchgemeinden nur noch eine einzige Art von Vikaren: nämlich den vicarius paroecialis (Pfarrvikar) als Mitarbeiter mit Priesterweihe. Seine Rechte und Pflichten ergeben sich aus dem diesbezüglichen Schreiben des Diözesanbischofs und aus den Statuten der Diözese (can. 545—552). Im Normalfall unterstützt der Pfarrvikar den Pfarrer in allen seinen Aufgaben, ausgenommen die Applikation der Messe für das Volk. Auch vertritt er den Pfarrer, wenn dieser abwesend oder verhindert ist. Es kommt aber auch vor, daß einem Vikar die Seelsorge nur für einen bestimmten Teil der Pfarrei anvertraut wird. Im deutschen Sprachraum werden oft für den Pfarrvikar neuen Rechtes noch historische Amtsbezeichnungen verwendet: nämlich Pfarrvikare werden oft „Kooperator" oder „Subsidiär" oder „Kaplan" genannt. Die Bezeichnung „Kaplan" ist aber eigentlich nach neuem Recht reserviert für einen Priester, der nicht einer Pfarrei zugeordnet ist, sondern dem auf Dauer die Seelsorge für einen bestimmten Personenkreis im Bistum anvertraut worden ist — z. B. für Studenten, Patienten eines Krankenhauses, Insassen eines Gefängnisses usw. (can. 564—572). 3. Evangelisches Kirchenrecht:

Lehrvikare/Lehrvikarinnen

Von dem Relikt gelegentlicher Anwendung der Amtsbezeichung „Vikar" für Funktionen in den Leitungsebenen deutscher evangelischer -»-Landeskirchen abgesehen, wurde der Titel seit dem 19. Jh. im evangelischen Raum sowohl für Theologen, die nach abgeschlossener theologischer Ausbildung im Pfarrdienst auf Probe als Pfarrvikare selbständig mit der Verwaltung einer Pfarrstelle betraut sind, wie auch für Pfarramtskandidaten zwischen dem ersten und zweiten Examen angewandt und zunehmend auf diese Phase des Lehrvikariates beschränkt (zu Einzelheiten und für Literatur vgl. u. II). Die Rechtsstellung der „Vikare/Vikarinnen" oder „Kandidaten" im Vorbereitungsdienst ist in den kirchlichen Gesetzen über die Vorbildung und Anstellungsfähigkeit bzw. die Ausbildung der Pfarrer geregelt. In einigen Landeskirchen werden sie durch besondere Vikariatsordnungen und andere Vorschriften ergänzt. Mit Aufnahme in den kirchlichen Vorbereitungsdienst treten die Kandidaten in ein öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis zur Kirche ein, das über die gesetzlich festgelegten Dienstpflichten hinausgeht. Die dienstrechtliche Stellung der Kandidaten ist weitgehend angeglichen an die der Referendare im staatlichen Recht, die als Beamte auf Widerruf ebenfalls in einem Vorbereitungsdienst stehen. Die Bestimmungen der Landeskirchen und ihrer Zusammenschlüsse machen den Zugang zum Vorbereitungsdienst von einer Reihe von Voraussetzungen abhängig - vor allem vom Ergebnis der Ersten Theologischen Prüfung (—• Theologiestudium). Ein subjektiv öffentliches Recht auf Zulassung zum kirchlichen Vorbereitungsdienst besteht nach einhelliger Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung aber nicht. Der Vorbereitungsdienst dauert zur Zeit meist mindestens zwei Jahre. Er beinhaltet Katechese, Seelsorge, praktischen Dienst in Kirchgemeinden und eine seminaristische Ausbildung in —• Predigerseminaren. Zusätzliche Ausbildungsstationen dienen fallweise der Ergänzung dieses Systems. Der Vikar/die Vikarin hat Anspruch auf die Einhaltung des kirchengesetzlich vorgeschriebenen Ausbildungsganges. Da das Dienstverhältnis die

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Ausbildung zum Ziel hat, ist diese die wichtigste Pflicht der im Vikariat befindlichen Kandidaten. Auch der Einsatz von Vikaren bei Amtshandlungen dient diesem Zweck. In den meisten Landeskirchen dürfen Vikare noch nicht das -»Abendmahl verwalten; denn nach CA X I V sind nur Träger des kirchlichen Amtes befugt, in den Kirchen öffentlich zu lehren oder zu predigen oder Sakramente zu spenden - also nur Ordinierte. Allerdings kann eine Beauftragung zur Sakramentsverwaltung für die Dauer des Vikariats erfolgen. Die allgemeine Dienstaufsicht über die Vikare steht den obersten landeskirchlichen Behörden zu (Landeskirchenämter, Konsistorien). Die besondere Dienstaufsicht üben die jeweiligen Ausbildungsleiter aus. Die Landeskirche kann nur dann das Dienstverhältnis einseitig lösen, wenn Sinn und Zweck des Vorbereitungsdienstes verfehlt werden — etwa weil die charakterlichen, geistigen oder sittlichen Voraussetzungen für den Beruf des Pfarrers vom Vikar nicht erfüllt werden. Im Einzelfall können auch mangelnde Leistungen oder die ständige Vernachlässigung der Ausbildungspflichten einen Widerruf begründen (Schiedsgerichtshof der E K D , Urteil vom 23. Oktober 1982, Rechtsprechungsbeilage zum AB1EKD 1983, 3). Über einen Widerruf entscheidet die Kirchenbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei muß die Behörde berücksichtigen, daß der Vorbereitungsdienst der Ausbildung und zur Ablegung der Zweiten Theologischen Prüfung dient. Der Ablegung der Prüfung ist daher grundsätzlich Vorrang einzuräumen. Der Ermessensgebrauch der Behörde beim Treffen ihrer Entscheidung ist daher eingeschränkt und kirchengerichtlich überprüfbar. Wird der Vikar/die Vikarin zur Zweiten Theologischen Prüfung zugelassen, so endet das Vikariat mit Ablegung der Prüfung. Ein Rechtsanspruch auf Übernahme als Pfarrer auf Probe oder Pfarrvikar besteht genausowenig wie zuvor ein Anspruch auf Aufnahme in den Vorbereitungsdienst. Die Kandidaten können jedoch kirchengerichtlich überprüfen lassen, ob die Einstellungsbehörde bei der Einstellungsentscheidung das ihr eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (Kirchliches Verfassungs- und Verwaltungsgericht der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Urteil vom 1. Dezember 1998 I 33/1998 - , Rechtsprechungsbeilage zum AB1EKD 1999, 14; Verwaltungsgerichtshof der E K U , Urteil vom 17. August 1998 - V G H 19/97 - , Rechtsprechungsbeilage zum AB1EKD 1999, 16). Literatur Winfried Aymans/Klaus M ö r s d o r f , Kanonisches Recht, Paderborn, II 1 9 9 7 , 3 7 4 - 3 8 4 . 4 3 6 - 4 3 8 . - Ludwig Bender, D e parochis et vicariis paroecialibus. Commentarius in can. 4 5 1 - 4 7 8 , R o m 1959. - Klaus Blaschke, D a s R e c h t der Vikare: Z E v K R 2 2 (1977) 3 0 1 - 3 2 2 . - M a n n e s M . Calcaterra, D e vicario adiutore, Neapel 1955. - Axel v. Campenhausen/Joachim E. Christoph, Ausbildungsrechte u. -pflichten der Kirchen f. Absolventen des Theologiestudiums: Dt. Verwaltungsblatt 101 (1986) 7 1 1 - 7 1 5 . - Francesco Coccopalmerio, D e vicariis paroecialibus: P R M C L 7 8 (1989) 3 1 9 - 3 4 4 . - Ders., D e paroecia, R o m 1991; ital.: L a parrocchia, tra Concilio Vaticano II e Codice di Diritto C a n o n i c o , M a i l a n d 2000. - N o r m a n D o e , T h e Legal Framework of the Church o f England, O x f o r d 1996. - Ders., Canon Law in the Anglican C o m m u n i o n , O x f o r d 1998, bes. 143. - J o h n D . Faris, T h e Eastern Catholic Churches. Constitution and Governance, N e w York 1992, bes. 4 8 9 L 5 1 3 - 5 2 4 . - R o b e r t Frick, Art. Pfarrervorbildung u. -Weiterbildung: R G G 3 5 (1961) 2 9 3 - 3 0 1 . - Herbert Frost, Strukturprobleme ev. Kirchenverfassung, Göttingen 1972. - Marie-Luise H e c k m a n n , Art. Vikar, Vikariat: L M A 8 (1997) 1 6 6 2 - 1 6 6 4 . - Gerhard Hennig, D e r Vorbereitungsdienst (Vikariat) - Ziele, Gestalt u. Probleme: Z E v K R 3 9 (1994) 2 9 - 4 5 . - P. van den Heuvel, D e hervormde kerkorde, Zoetermeer 1991 2 2001. - M a r k Hill, Ecclesiastical L a w , London 1995, bes. 104.221. - Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken u. Protestanten in Deutschland, 6 Bde., Berlin 1 8 6 9 - 1 8 9 7 . - L y n n e Leeder, Ecclesiastical L a w H b . , L o n d o n 1997, bes. 157.176.198.212. - M i c h e l e M a c c a r r o n e , Vicarius Christi, storia del titolo papale, R o m 1952. - Felix M a k o w e r , Die Verfassung der Kirche v. England, Berlin 1894. - J o u k o Martikainen, Zu Fragen der Ordination u. insbesondere zu der pro loco et tempore: Z E v K R 3 9 (1994) 3 7 7 - 3 8 5 . - Nikodim M i l a s , Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche, Z a r a 1897. - Evelyn G a r t h M o o r e , An Intr. to English C a n o n L a w , O x f o r d 1967; u.d.T.: M o o r e ' s Intr. to English C a n o n L a w , hg. v. T i m o t h y Briden/Brian H a n s o n , London 2 1985 3 1992. - H a n s M a r t i n Müller, D e r rechtliche Status der Vikare in theol. Sicht: Z E v K R 2 2

Vikar/Vikarin II

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(1977) 2 8 2 - 3 0 0 . - Ders., Werden u. Wandel der ev. Pfarrerausbildung: Z E v K R 39 (1994) 1 9 - 2 9 . - Münsterischer Komm, zum CIC, Essen 1985 ff. [Loseblatt-Sammlung]. - Hans Paarhammer, Art. Pfarrvikar: L T h K 3 8 (1999) 181. - Andres Perez Diaz, Los vicarios generales y episcopales en el derecho canönico actual, R o m 1996. - Viktor Pospischil, Der Patriarch in der Serbisch-Orth. Kirche, Wien 1966. - Liborio Restrepo Uribe, Vicarius: P R M C L 74 (1985) 273 - 300. - Roland Scheulen, Das Amt des „Vicarius Episcopalis", Würzburg 1991. - Hugo Schwendenwein, Das neue Kirchenrecht, Graz usw. 1983 2 1984, bes. 236.243 - 245.572. - Alfons Maria Stickler, Imperator vicarius Papae: M1ÖG 62 (1954) 165 - 2 1 2 . - Richard Adolf Strigl, Die Vicaria perpetua als Ersatzform der kanonischen Pfarrei. Eine kanonistische Unters., 1964 ( M T h S . K 19). - Peter v. Tiling, Zum Beurteilungsspielraum bei Entscheidungen über die Eignung f. das Pfarramt: Z E v K R 37 (1992) 1 1 3 - 1 2 7 . - Art. Vicaire: D D C 7 (1965) 1 4 3 4 - 1 5 0 4 .

Gero Dolezalek Hans-Martin Bregger

II. Praktisch-theologisch 1. Begrifflichkeit 2. Historische Entwicklung Jahre 4. Perspektiven (Literatur S. 92)

1.

3. Die Reformen der 1960er und 1970er

Begrifflichkeit

In den evangelischen Landeskirchen wird der Titel Vikar/Vikarin vorrangig auf Theologen und Theologinnen angewendet, die nach bestandenem ersten Examen in die zweite Ausbildungsphase, den Vorbereitungsdienst oder das Vikariat, übernommen werden. Darüber hinaus war der Begriff Pfarrvikar/-vikarin in manchen Landeskirchen üblich, um unständige Pfarrerinnen und -»Pfarrer zu bezeichnen, die nach dem zweiten Examen einen Dienstauftrag zur Aushilfe bei einem Pfarrer/einer Pfarrerin oder einem Dekan/ einer Dekanin bekamen, bevor sie nach Jahren der Bewährung in den ständigen Dienst übernommen wurden. Mittlerweile werden unständige Pfarrerinnen und Pfarrer in der Regel als Pfarrer/Pfarrerin zur Anstellung oder Pastor/Pastorin zur Anstellung bzw. im Entsendungsdienst bezeichnet, um den Unterschied zu den Vikarinnen und Vikaren deutlich zu markieren. Besondere praktisch-theologische Beachtung verdient die historische Bedeutung des Begriffes Vikarin im Kontext der Entwicklung zur Frauenordination. Seit Beginn des 20. Jh. ist es für Frauen möglich, sich an der Universität zu immatrikulieren und damit auch evangelische Theologie zu studieren. Erst 1919/20 erhalten Theologinnen die Möglichkeit, ihr Studium qualifiziert abzuschließen. Trotz des akuten Pfarrermangels wurden Theologinnen aber nicht zum vollen geistlichen -» Amt zugelassen, es wird in den 1920er Jahren vielmehr ein besonderes Theologinnenamt der „Vikarin" geschaffen. Die „Vikarinnengesetze" legen die Arbeitsgebiete der Vikarinnen oder Pfarrgehilfinnen vorwiegend auf katechetische, seelsorgerliche und diakonische Aufgaben fest. Ausdrücklich ausgeschlossen bleiben die öffentliche Wortverkündigung im Gemeindegottesdienst und die Sakramentsverwaltung, die dem Wesen der -»Frau nicht gemäß erschienen. Unter dem Einfluß des -»-Nationalsozialismus wird das eingeschränkte Amt der Vikarin in manchen Landeskirchen wieder abgeschafft. Während des Zweiten Weltkriegs übernehmen Theologinnen jedoch die Vakanzvertretungen verwaister Pfarrstellen und versehen auf diese Weise das volle -»Pfarramt, freilich ohne eine entsprechende rechtliche und finanzielle Absicherung. In dieser Zeit bildet sich der Vikarinnenausschuß der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union, um sich mit der Frage von Amt und -»Ordination zu befassen. 1942 wird es den Vikarinnen schließlich erlaubt, in „Notzeiten" Gottesdienste zu halten und Sakramente zu reichen. Sie werden eingesegnet, aber nicht ordiniert. Nach dem Krieg müssen die Theologinnen ihre Pfarrstellen wieder an ihre männlichen Kollegen abtreten. Das Amt sui generis bestand noch bis in die sechziger Jahre des 20. Jh. hinein, allerdings mit verbesserten Anstellungsbedingungen. Die -»Evangelische Kirche der Union

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Vikar/Vikarin II

gründet in Berlin-Spandau 1954 sogar ein eigenes Seminar für die zweite Ausbildungsphase der Vikarinnen. Manche Landeskirchen lassen den Titel Vikarin jetzt fallen und bezeichnen die Theologinnen als Pfarrvikarinnen, um den Eindruck zu vermeiden, sie befänden sich noch in der Ausbildung. Ab 1958 sind - nicht zuletzt im Anschluß an den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes - dann verstärkt Bemühungen zu beobachten, Theologinnen mit ihren männlichen Kollegen gleichzustellen. Allerdings gelten immer noch Sonderbedingungen wie die Zölibatsklausel (-»Zölibat), nach der Theologinnen, die heiraten, aus dem Dienst ausscheiden müssen und ihre Rechte als Pfarrerinnen verlieren. Im Laufe der 1970er Jahre werden die Theologinnen im Hinblick auf die zentralen pfarramtlichen Arbeitsbereiche endgültig rechtlich gleichgestellt, die Gleichstellung in der Besoldung verankert und ihnen der Titel „Pfarrerin" bzw. „Pastorin" zuerkannt. Die Landeskirche ->Schaumburg-Lippe konnte sich indes erst 1991 entschließen, Frauen zum vollen Pfarramt zuzulassen. 2. Historische

Entwicklung

Nach reformatorischer Lehre sollte nicht mehr die durch ein Weiheritual vermittelte Zugehörigkeit zu einem geistlichen Stand für die Zulassung zum priesterlichen Dienst entscheidend sein, vielmehr sollte die Qualifikation und damit ein funktionales Kriterium Voraussetzung für die öffentliche Wortverkündigung sein. Bis zur Realisierung des damit verknüpften Ziels eines reformatorischen Bildungsideals war es jedoch ein langer und mühsamer Weg. So wurden erst im letzten Drittel des 18. Jh. die Qualifikationsstandards des Pfarrerstandes wirksam angehoben und bei der Stellenvergabe stärker berücksichtigt. Haupthindernis für eine effektive Kontrolle der Ausbildungsstandards war, daß die eigentliche Hauptprüfung für das geistliche Amt erst nach erfolgter Berufung stattfand und entsprechend stark präjudiziert war. Damit hatten die Patrone erheblichen Einfluß auf den Zugang zum geistlichen Amt, „nicht zum Glück der Kirche und des Pfarrstandes", wie P. Drews treffend bemerkt (41). Gymnasialbildung, Sprachkenntnisse, ein Theologiestudium von wenigstens drei Jahren und zwei von den Kirchenbehörden durchgeführte Examina setzen sich im Laufe des 19. Jh. weitgehend als Voraussetzung für den Pfarrberuf durch. So ist in Preußen seit 1810 eine Berufung in ein Pfarramt nur noch nach der zweiten theologischen Prüfung {pro ministerio) möglich. Patrone und Gemeinden sind bei der Auswahl der Bewerber nun auf den Kreis der geprüften Kandidaten verwiesen. Zwischen Studium und erster Pfarrstelle blieben die Kandidaten allerdings über lange Zeit hinweg sich selbst überlassen. Über Jahre hinweg mußten sie sich ihren Lebensunterhalt als Hauslehrer oder anderweitig verdienen. Eigene berufsvorbereitende und berufssozialisierende Ausbildungsgänge gab es in den meisten Landeskirchen nicht, obwohl die Notwendigkeit, die angehenden Pfarrer besser auf ihre Berufspraxis vorzubereiten, schon lange gesehen wurde. So wurde unter dem Einfluß des -»Pietismus 1690 das erste -*Predigerseminar im Kloster Riddagshausen (Braunschweig-Wolfenbüttel) gegründet. Freiwillige Kandidaten sollten dort durch eine vita communis und praktische Übungen gefördert und zu religiös überzeugenden, seelsorgerlichen Persönlichkeiten herangebildet werden. Weitere Gründungen folgten, doch blieb der Besuch der Predigerseminare nur wenigen Kandidaten vorbehalten. Das 19. Jh. war das Jahrhundert der Professionen. Immer stärker wurde im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse auch innerhalb von Theologie und Kirche erkannt, daß die Pfarrer nicht nur wissenschaftliche Gelehrte, sondern auch professionelle Praktiker sein müssen, wenn sie den Herausforderungen der Moderne gerecht werden wollen. So konzipierte F. D. E. ->Schleiermacher das Theologiestudium als positive Wissenschaft und damit als Professionsstudiengang (Karle, Pfarrberuf 180ff.); die nachuniversitäre Ausbildung zum Pfarrberuf wurde intensiviert und methodischer gestaltet. Letzterem kamen die neu gegründeten Predigerseminare als berufsbezogene Ausbildungsstätten, das Lehrvikariat und das reformierte Prüfungswesen entgegen. Doch blieb der Besuch der Predigerseminare bis auf einige Ausnahmen weiterhin fakultativ.

Vikar/Vikarin II

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Die Bezeichnung Vikariat bezog sich ursprünglich nur auf eine berufspraktische Tätigkeit in einer Gemeinde, die in -> Württemberg schon im Laufe des 17. Jh. für alle Stipendiaten des Tübinger Stifts verbindlich geworden war (Wahl 48f.). Gleich nach Bestehen der ersten Prüfung wurden die Absolventen in den Kirchendienst aufgenommen und als Pfarrgehilfen oder Vikare eingesetzt, bevor sie definitiv angestellt wurden. In der häuslichen Gemeinschaft mit dem Pfarrer wurden die Vikare beruflich sozialisiert und in die pastorale Berufspraxis eingeführt (Cohrs 312). Nicht selten mußten sie auch ganze Pfarrstellen selbständig vertreten. Ein planmäßiges Lehrvikariat setzte sich allgemein erst im Laufe des 19. Jh. durch und machte den demotivierenden Zweitberufen der Kandidaten ein Ende. Erst nach 1918 wurde die praktische Ausbildung der Kandidaten kohärent gestaltet, und es setzte sich eine verbindliche zweite Ausbildungsphase mit den bis dahin entkoppelten Ausbildungsstufen von Lehrvikariat in einer Gemeinde und einem ein- oder mehrjährigen Aufenthalt in einem Predigerseminar durch. Konnte vorher das Vikariat oder der Besuch eines Predigerseminars in manchen Landeskirchen auch nach dem zweiten Examen erfolgen, war diese Art der berufsvorbereitenden Ausbildung nun zur Bedingung für das zweite Examen geworden, dem in der Regel die Ordination folgte. 3. Die Reformen

der 1960er und 1970er

Jahre

Die Teilung des Vorbereitungsdienstes in Predigerseminar und Lehrvikariat wurde Mitte der 1960er Jahre zunehmend als problematisch empfunden. Das sogenannte Blocksystem sollte durch ein Kurssystem abgelöst werden, das einen regelmäßigen Wechsel von beruflicher Praxis und themenbezogenen Kursen im Seminar vorsah. Die Erfahrungen im Gemeindevikariat sollten zur Sprache kommen und analysiert, interpretiert und ausgewertet werden. Außerdem wurde das zweite Examen, das bis dahin einer Wiederholung des ersten Examens gleichkam, gründlich überarbeitet und deutlicher auf die praktischen Erfordernisse des Pfarrberufs bezogen. In wenigen Jahren wurden die Predigerseminare dahingehend reformiert. Die wissenschaftlich-theologische Bildung trat in den Hintergrund, dafür stand das Erfahrungslernen im Vordergrund. Um die Praxiserfahrungen der Vikarinnen und Vikare angemessen interpretieren zu können, griff man auf empirische Methoden der Human- und -»Sozialwissenschaften zurück, die damals im Trend der Zeit lagen und die Aufbruchstimmung wesentlich evozierten. So hat die amerikanische Seelsorgebewegung (-+ Seelsorge; -*Seelsorgelehre) die Seelsorgeausbildung der Vikarinnen und Vikare durch eine psychoanalytische Orientierung, die Methoden des Clitiical Fastoral Training und gruppendynamische Interaktionsformen nachhaltig geprägt. Das Interesse an den unterschiedlichen psychologischen und empirischen Methoden bestimmte die Wahrnehmung kirchlicher Wirklichkeit weitgehend, ohne allerdings deren Selektivität und Partikularität zu erkennen. So haben die Spezialisierungen nicht zu den erhofften Effizienzsteigerungen etwa in der Seelsorge oder im -»Religionsunterricht geführt (Rössler 64) und die Sicht auf die Wirklichkeit nicht zwangsläufig verbessert, sondern durch ihre eigene Fokussierung neue Blindheiten erzeugt. Darüber hinaus hat der unüberschaubare Methodenpluralismus verwirrend und verunsichernd auf die Vikarinnen und Vikare gewirkt und ihre Identitätsprobleme zum Teil eher verstärkt als gelöst, weil ihnen schon bei Berufsanfang ganz unterschiedliche Rollen (der Therapeutin, Gesellschaftspolitikerin oder Pfarrerin) zugemutet wurden. Überdies wurde das Ziel, die eigene Selbstwahrnehmung zu verbessern, durch ideologische Vorgaben zuweilen konterkariert. Vikarinnen und Vikare wurden dazu ermutigt, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse ungehemmt zu kommunizieren, statt ihre berufliche Identität über eine differenzierte Orientierung am sozialen Kontext zu fördern. So inspirierend die erfahrungsbezogene Wende in den 1970er Jahren in vieler Hinsicht war, so sehr ist deshalb zugleich über ihre kritische Weiterführung nachzudenken.

92

Vikar/Vikarin II 4.

Perspektiven

Der Pfarrberuf orientiert sich als Profession an zwei zentralen Bezugsgrößen, dem Inhalt und der spezifischen Form der -»Kommunikation. Die Vikarin/der Vikar ist mithin verpflichtet, das Evangelium von -»Jesus Christus zeitgemäß und differenziert zu vermitteln und dabei zugleich den besonderen Chancen und Tücken der Kommunikation unter Anwesenden Rechnung zu tragen. Aus beiden Bezugsgrößen lassen sich orientierende Leitperspektiven und Kunstregeln für den pastoralen Berufsalltag entwickeln. Sowohl das Theologiestudium als auch das Vikariat müssen auf beide Bezugsgrößen ausgerichtet sein, das Studium wird dabei eher die theoretischen, das Vikariat eher die berufspraktischen Aspekte betonen und in sie einüben. Entscheidend für die Lernprozesse im Vikariat ist, daß Vikare und Vikarinnen zum ersten Mal den realen Anforderungen und Erwartungen des Pfarrberufs ausgesetzt werden, daß sie die christliche Botschaft öffentlich und mit interaktiver Sensibilität vertreten müssen und dabei mit ihrer -»Kirche identifiziert werden — eine neue und für viele sehr herausfordernde Erfahrung, die der umsichtigen und taktvollen Begleitung im Predigerseminar bedarf. Bestimmend ist dabei die Frage, wie die meist hochmotivierten Vikare und Vikarinnen berufsethisch so gefördert werden können, daß sie das nötige Maß an seelsorgerlicher Vertrauenswürdigkeit (Rössler 222) und damit auch die Fähigkeit, heterogene Perspektiven und Frömmigkeitsstile wahrzunehmen und zu würdigen, gewinnen. Denn das -»Vertrauen der Gemeindeglieder ist die entscheidende Basis für ihre Tätigkeit und ihren individuellen Gestaltungsspielraum (Karle, Pfarrberuf 72ff.). Die Überkomplexität pastoraler Aufgaben kann Vikare und Vikarinnen dabei im Hinblick auf die mangelnde Technisierbarkeit ihres Berufes entlasten und sollte sie zu Flexibilität und Intuition und nicht zuletzt zum Risiko frühzeitiger und selbständiger Verantwortungsübernahme ermutigen. Sie weist zugleich auf die Grenzen der Überprüfbarkeit professioneller Eignungskriterien hin. Das pastorale Selbstbewußtsein hat in den letzten Jahren durch vielfältige Verunsicherungen christlicher -»Verkündigung gelitten. Die Ausbildung im Vikariat kann sich deshalb nicht nur auf den Beziehungsaspekt beschränken, sondern muß verstärkt wieder Diskussionen über die kulturelle und persönliche Relevanz von -»Religion und Kirche führen und vor diesem Hintergrund die in der Regel eher ermutigenden Erfahrungen im Gemeindepfarramt auswerten, die geistliche Relevanz von Lebenserfahrungen wahrnehmen und die religiös-christliche Ausdrucksfähigkeit in der Seelsorge entwickeln helfen (Wohlgemuth 25). Das Selbstbewußtsein der Vikare und Vikarinnen hat aber auch dadurch gelitten, daß sich ihre Anstellungs- und Besoldungsmöglichkeiten in den 1990er Jahren dramatisch verschlechtert haben. Die negativen Auswirkungen auf Motivation und Bereitschaft zur Identifikation mit dem Pfarrberuf sind nicht zu unterschätzen. Organisatorisch stellt sich die Frage, ob angesichts des hohen Lebensalters und der familiären Lebensformen vieler Vikarinnen und Vikare die vita communis im Predigerseminar noch zugemutet werden kann. Außerdem sollte die Vikarsausbildung höchstens zwei Jahre beanspruchen. Die entscheidenden Lernerfahrungen, das haben die Reformer der 1970er Jahre richtig gesehen, erfolgen in den unterschiedlichen Kontexten beruflicher Praxis. Häufiger Stellenwechsel erscheint deshalb im Hinblick auf horizonterweiternde Bildungserfahrungen von weit größerer Bedeutung als eine lange Ausbildungszeit. Literatur 300 Jahre Predigerseminar 1 6 9 0 - 1 9 9 0 . Riddagshausen, Wolfenbüttel, Braunschweig, hg. v. Wilfried Theilemann, Wolfenbüttel 1990. - Otto Böcher, Art. Vikar: R G G 3 6 (1962) 1396f. - Ders., Art. Vikarin: ebd. 1397f. - Peter Bukowski, „Was wird aus Erwin, jetzt wo er tot ist?" Rückfragen an die 1. Ausbildungsphase: R K Z 139 (1998) 3 5 2 - 3 5 6 . - Ferdinand Cohrs, Art. Unterrichts- u. Bildungswesen, theol.: R E 3 20 (1908) 3 0 1 - 3 1 8 (Lit.). - Peter Cornehl, Wünsche an das Vikariat aus der Perspektive der ersten Phase der Ausbildung an Theol. Fakultäten: 100 Jahre Predigerseminar Preetz, hg. v. Gothart Magaard/Gerhard Ulrich, Kiel 1 9 9 6 , 2 2 9 - 2 3 5 . - Karl-Wilhelm Dahm, Der kirchl. Vorbereitungsdienst - Vikariat u. Predigerseminar: Strukturwandel der Frömmigkeit, hg. v. Eberhard Amelung u.a., Stuttgart/Berlin 1972, 2 7 6 - 2 8 3 . - „Darum wagt es, Schwestern...".

V i k t o r I.

93

Zur Gesch. ev. Theologinnen in Deutschland. Mit Beitr. v. Andrea Bieler u.a., Neukirchen-Vluyn 1994 1 1994. - Paul Drews, Der ev. Geistliche in der dt. Vergangenheit, Jena 1905. - Karl Eger/Eugen Stolz, Art. Pfarrervorbildung u. -bildung: R G G 1 5 (1930) 1 1 3 4 - 1 1 4 3 . - Wolfram Fischer, Pfarrer auf Probe. Identität u. Legitimität v. Vikaren, Stuttgart/Berlin/Köln 1977. - Georg Fuhrmann, Überlegungen zu einer Reform des landeskirchl. Vorbereitungsdienstes: PTh 57 (1968) 2 4 8 - 2 6 2 . - Grundlagen der theol. Ausbildung u. Fortbildung im Gespräch. Die Diskussion um die „Grundsätze f. die Ausbildung u. Fortbildung der Pfarrerinnen u. Pfr. der Gliedkirchen der E K D " , hg. v. Werner Hassiepen/Eilert Herms, Stuttgart 1993. - Thies Gundlach, Schwierigkeiten theol. Kommunikation in der Praxis. Reflexionen zur Vikariatsausbildung: PTh 7 9 (1990) 3 3 4 - 351. - Gerhard Hennig, Der Vorbereitungsdienst - Ziele, Gestalt u. Probleme: Z E v K R 39 (1994) 2 9 - 4 5 . - Wolfgang Herrmann, Das Vikariat: PTh 57 (1968) 2 6 3 - 2 7 4 . - Heinrich Holze, Die theol. Verantwortung der Kandidatenausbildung heute. Anfragen an eine Reform: KuD 33 (1987) 3 2 - 5 9 . - Oliver Janz, Zw. Amt u. Profession. Die ev. Pfarrerschaft im 19. Jh.: Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgesch, der freien u. akademischen Berufe im int. Vergleich, hg. v. Hannes Siegrist, Göttingen 1988, 1 7 4 - 1 9 9 . - Isolde Karle, Pastorale Kompetenz: PTh 89 (2000) 508 - 523. - Dies., Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 1 - 2 2 0 0 1 . - Lernende Kirche. Ein Leitfaden zur Neuorientierung kirchl. Ausbildung, hg. v. Reinhard Köster/Hans Oelker, München o. J . [1975], - Karl-Heinrich Lütcke, Grundsätze u. Probleme der Theologenausbildung in Deutschland: Z T h K 80 (1983) 1 0 3 - 1 1 8 . - Hans Martin Müller, Herausforderungen f. die Pfarrerausbildung: DtPfrBl 93 (1993) 215 - 217. - Ders., Werden u. Wandel ev. Pfarrerausbildung: ZEvKR 39 (1994) 1 9 - 2 9 . - Neue Modelle in der Erprobung. Problemskizzen, Berichte, Dokumente, hg. v. Comenius-Institut, Münster 1973. - Reform der theol. Ausbildung, hg. v. Hans-Erich Hess u.a. im Auftrag der Gemischten Kommission f. die Reform des Theologiestudiums, 14 Bde., Stuttgart 1 9 6 7 - 1 9 9 3 , bes. Bde. I, II, VII u. I X . - Trutz Rendtorff, Das Lernen muß gelernt werden. Ausbildung als Herausforderung an Theol. u. Kirche: EK 5 (1972) 8 1 - 8 4 . - Enno Rosenboom, Zur theol. Ausbildung im Vikariat: PTh 57 (1968) 2 7 5 - 2 8 3 . - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. Theol., 1986 2 1994 (GLB). - Reinhard Schmidt-Rost, Semper reformanda. Über die Notwendigkeit eines neuerlichen Wandels in der Pastorenausbildung: 100 Jahre Predigerseminar Preetz (s.o. bei Cornehl) 235 - 2 4 1 . - Dietrich Stollberg, Zur gegenwärtigen Situation der Ausbildung v. Pfarrerinnen u. Pfarrern: DtPfrBl 93 (1993) 2 1 7 - 2 2 1 . - Wilfried Theilemann, Die Vikarsausbildung als theol. u. kirchl. Problem: KuD 30 (1984) 2 - 1 8 . - Theologiestudium - Vikariat - Fortbildung. Gesamtplan der Ausbildung f. den Pfarrerberuf. Empfehlungen des Rates der E K D , hg. v. der Kirchenkanzlei der E K D , Stuttgart/Berlin 1978. - Johannes Wahl, Lebensplanung u. Alltagserfahrung. Württembergische Pfarrfamilien im 17. Jh., Mainz 2000. - Michael Wohlgemuth, Bewegung in der Seelsorge - u. die Vikarsausbildung?: PTh 90 (2001) 2 2 - 29. - Paul Wurster, Die prakt. Vorbildung der ev. Theologen in Württemberg, Heilbronn 1907. - Hansfrieder Zumkehr, Das Predigerseminar in Praxis u. Prakt. Theol.: P T 32 (1997) 5 7 - 6 7 . Isolde Karle

V i k t o r I., Bischof

von

1. Leben und Werk S.96) 1. Leben

und

Rom 2. Theologie

3. Viktor und der sog. Osterfeststreit

(Quellen/Literatur

Werk

V i k t o r I., der n a c h d e m Uber

Pontificalis

ein A f r i k a n e r und Sohn eines Felix ist,

w u r d e N a c h f o l g e r des r ö m i s c h e n Bischofs Eleutherus ( a m t i e r t u m 1 7 4 - 1 8 9 ) und p r ä sidierte d e r r ö m i s c h e n K i r c h e in der Z e i t der R e g i e r u n g der Kaiser C o m m o d u s (reg. 1 8 0 — 1 9 2 ) und Septimius Severus (reg. 1 9 3 - 2 1 1 ) . - » E u s e b i u s v o n C a e s a r e a spricht v o n zehn A m t s j a h r e n ( h . e . V,28) und nennt Z e p h y r i n als V i k t o r s N a c h f o l g e r u m d a s neunte J a h r der Regierungszeit des Severus, w a s das E n d e seiner A m t s z e i t in das J a h r 2 0 2 datieren w ü r d e . D e r a n o n y m e C h r o n o g r a p h v o n 3 5 4 gibt als D a u e r den Z e i t r a u m v o n neun J a h r e n , zwei M o n a t e n und 10 T a g e n an. N a c h d e m Liber

Pontificalis

ist V i k t o r

als M ä r t y r e r g e s t o r b e n und neben - » P e t r u s im Vatikan b e g r a b e n w o r d e n . I m r ö m i s c h e n M a r t y r o l o g i u m w i r d ihm a m 2 8 . Juli als P a p s t und M ä r t y r e r g e d a c h t (als Fest in der r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n K i r c h e bis 1 9 6 9 ) , d o c h gibt es keine weiteren H i n w e i s e a u f sein -»Martyrium.

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Viktor I.

Viktor wird von Hieronymus erwähnt als Autor eines Werkes zur Osterfrage (... super quaestione paschae, et alta quaedam scribens opuscula) und anderer Schriften (Hieronymus, vir. ¡11. 34f.). Wiederum nach dem Liber Pontificalis habe er angeordnet, daß im Notfall in jeglichem Wasser getauft werden könne, sei es in einem Fluß, im Meer oder an einer Quelle, solange das Glaubensbekenntnis einem Christen aufgesagt werde.

2. Theologie Unklar ist, ob Viktor derjenige Bischof ist, der nach -»Tertullian (Prax. 1,5: CChr.SL 2,1195f.) Friedensbriefe an Montanisten geschrieben hatte, die er dann auf Einwirken des Monarchianers Praxeas widerrufen hat. Für diese Möglichkeit spricht jedoch, daß wohl Viktor in die Nähe des Praxeas und seiner monarchianischen Lehre gestellt wird (Ps.-Tertullian, haer. 8,4: CChr.SL 2,1410). Diese Nähe zwischen Praxeas und Viktor und beider Übereinstimmung im monarchianischen Glauben wird von dem von Eusebius überlieferten Spoudasma eines nicht genannten Gegners der Gruppe um Artemon gestützt (Eusebius, h.e. V,28). Hier heißt es, daß Viktor die Lehre der Artemonleute, Christus sei nicht Gott, nicht unterstützt haben konnte und zwischen Viktors und Zephyrins (amtiert um 198-217) theologischer Auffassung kein Bruch vorhanden sein könne, wie die Gegner behaupteten. Denn auch Viktor, wie die Tradition vor ihm von den Heiligen Schriften angefangen, habe Christus „Gott" genannt. Und es sei Viktor gewesen, der Theodot, den Lederarbeiter, den Urheber und Propagator der Lehre, Christus sei bloßer Mensch, exkommuniziert habe. Zeugnisse für Viktors Monarchianismus (Ps.-Cyprian, Adversus Iudaeos, gegebenfalls Viktor zuzuschreiben, und bei -»Irenaus von Lyon [in Eusebius, h.e. V,15.20]) müssten nochmals geprüft werden und könnten den monarchianischen Charakter von Viktors Theologie unterstreichen. Ein weiterer Hinweis auf Viktors monarchianische Theologie besteht darin, daß Florinus in Rom zur Zeit des Viktor von seinem Presbyterat enthoben wurde (Eusebius, h.e. V,15.20). Gegen Florinus hatte Irenaus die Werke Über die Monarchie, oder Gott ist nicht Urheber des Bösen und Die Ogdoade verfaßt. In der Tat scheint die monarchianische Lehre, wie neuere Forschungen nahelegen, „die traditionelle Lehre in Rom und überhaupt im Westen ... wie im Osten" gewesen zu sein (Hübner 30.180f.234f.; vgl. TRE 34,93,51-94,27). 3. Viktor und der sog.

Osterfeststreit

Bekannter als Viktors Platz in der Theologiegeschichte ist seine Rolle in der Geschichte der frühen Fasten- und Festpraxis im sog. Osterfeststreit (-»Ostern/Osterfest/ Osterpredigt). Und Eusebius geht wohl nicht fehl, diesen Streit an der Stelle einzuführen, an der er auf Viktor eingeht und mit diesem die Szenerie der wichtigsten zu dieser Zeit neu ins Amt gekommenen namhaften Bischöfe vorführt (Eusebius, h.e. V,22): Viktor in Rom als Nachfolger des Eleutherus, Demetrius von Alexandria (amtiert um 189-231) in der Nachfolge des Julian, der hervorragende Serapion von Antiochien (amtiert 190-211) als achter Nachfolger der Apostel, Theophilus von Cäsarea in Palästina, während Narcissus noch in Jerusalem residierte, Bacchyllus in Korinth und Polykrates in Ephesus. Bis heute ist der zwischen diesen und anderen Bischöfen verhandelte Streit um das Osterfasten und sind die damit unmittelbar verbundenen Fragen nach dem Ostertermin und dem Festinhalt zusammen mit der Spannung zwischen den Gemeinden in Asia und denjenigen in -»Rom nicht völlig geklärt. Die von Eusebius überlieferten Dokumente sind eine bruchstückhafte Auswahl, seine Berichte tendenziös. Klar wird jedoch, daß es sich um die Frage handelte, ob vor Ostern zu fasten sei, und wenn ja, wann dieses Fasten zu enden habe, d. h. wann Ostern zu feiern sei. Mit der Terminfrage verknüpft war der Festinhalt. Ging es an Ostern vor allem um die Feier des erlösenden Todes Jesu, um das Passamahl (-»Pesach) oder vornehmlich um die Erinnerung an seine Auferstehung und deren Feier? Die Quartadezimaner brachen ihr Fasten am 14. Nisan, da der Tod Jesu als der erlösende Akt betrachtet wurde, während Viktor in

Viktor I.

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Rom und andere nichtasiatische Gemeinden bis zum auf den 14. Nisan folgenden Sonntag fasteten, da für sie erst die Erinnerung an die -»Auferstehung am Herrentag das Fasten brechen ließ. Diese unterschiedliche Theologie und Praxis hatten jedoch bislang nicht zum Bruch der Kirchengemeinschaft zwischen Gemeinden bzw. zwischen ihren Leitern geführt. Noch Aniket von Rom hatte um 160 über dieses Problem diskutiert (zu unterschiedlichen Interpretationen des Irenäusbriefes an Viktor und diesem Zeugnis über die Osterfestpraxis in Rom vgl. TRE 25,519). Und beide schieden im Frieden voneinander, obwohl sie keine Übereinstimmung in der Fastenfrage gefunden hatten. Mit Viktor hatte sich dies geändert. Erhalten ist aus dem Streit zunächst eine briefliche Antwort des Polykrates von Ephesus (gest. um 190) an Viktor, bei der er auf der ihm angestammten Tradition beharrt. Offenkundig stellte dieser Brief die Antwort Polykrates' auf die auf Viktors Geheiß zur Synode versammelten Bischöfe der umgebenden Provinz(en) dar. Polykrates fügte nämlich an, die zahlreich versammelten Bischöfe hätten seinem Brief zugestimmt. Daß er die einzelnen Namen dieser Bischöfe jedoch nicht nennt, ist auffallend und läßt zumindest darauf schließen, daß nicht alle, vielleicht sogar nicht einmal die Mehrheit, ihn unterstützt hatten. Ob der Streit zunächst aus einer innerasiatischen Spannung entstanden war? Daß Irenäus seinerseits Viktor beschwichtigt, aber die apostolische Tradition für die quartadezimanische Praxis reklamiert, frühere Differenzen in der Fastenpraxis erwähnt und die römische Praxis wohl darum auch akzeptiert, unterstreicht die Möglichkeit unterschiedlicher Praxis in —»Kleinasien. Das war schon deshalb leicht der Fall, da auch Juden in der Terminierung des 14. Nisan verschiedene Kalenderberechnungen hatten. Viktors Reaktion auf Polykrates' Schreiben war nach Eusebius heftig. Er habe mit einem Schlag in Briefen an alle Gemeinden die Kirchengemeinschaft mit allen Gemeinden in Asia und deren Nachbarschaft aufkündigen wollen. Doch habe dieser Wunsch nicht den Vorstellungen der Adressaten entsprochen, denn diese hätten ihn zum Frieden, zur Einheit und zur Nächstenliebe aufgefordert. Als eine der heftigen Reaktionen bezeichnet Eusebius das Schreiben des Kleinasiaten Irenäus, der im Namen der Christen in Gallien an Viktor und viele andere Gemeindevorsteher geschrieben habe, indem er beide gegensätzlichen Auffassungen darlegte. Auch wenn Eusebius in seinem Bericht die Spannung und den Kreis der Betroffenen überzeichnet haben mag, aus Eusebs Referat und dem dann von ihm zitierten Fragment des Irenäus wird deutlich, daß dieser neben der erwähnten diplomatischen Position doch deutlich Partei für Asia bezogen hatte. Wenn Irenäus nämlich selbst daran festgehalten hätte, daß das Mysterium der Auferstehung des Herrn an keinem anderen Tag als an dem des Herrn gefeiert werden dürfe, so das Referat des Eusebius, so stelle eine Unterschiedlichkeit in der Terminfrage, die zugleich auch eine solche des Festcharakters sei und die aufgrund der schlichten Einfachheit der Vorväter existierte, keinen Grund dar, die kirchliche Gemeinschaft aufzukündigen. Eine Unterschiedlichkeit im Fasten unterstreiche nur die Einmütigkeit im Glauben. Mit einem Hinweis auf den älteren Streit zwischen Aniket von Rom (amtiert 155-166) und Polykarp unterstreicht Irenäus, daß sich Polykrates anders als Viktor auf apostolische Autorität berufen könne. Mit diesem für Irenäus (und wohl auch Viktor) gewichtigen Argument fordert er den Bischof von Rom auf, sich an seinen friedfertigen Vorgängern zu orientieren und die Differenz in der Praxis zu akzeptieren.

Eusebius läßt sein Dossier mit einem Schreiben der Synode in Palästina schließen, in welchem diese ihre Übereinstimmung mit der Praxis, wie sie in Alexandria existierte, erklärt und den Weg benennt, auf dem diese Übereinstimmung beruht: gegenseitiger Briefwechsel zur Festlegung des „heiligen Tages". In der Tat hatte es also eine Reihe von Synoden zu dieser Frage gegeben, welche neben der eigentlichen Debatte auch die Entwicklung kirchlicher Identität, gegenseitiger Abstimmung von Fest und Glaubensinhalt und die bischöfliche Autorität betraf. Vor allem der Unterschied zwischen apostolischer Tradition in Asien, verschiedenen apostolischen Traditionen in anderen Gegenden und der in Rom geübten, auch dort nicht immer einheitlichen Praxis und Theologie wurde deutlich. Viktor und der Osterfeststreit stehen gerade wegen des Exkommunikationsversuches, für den Viktor als einzigen Mechanismus die Zustimmung der Mitbischöfe und Gemeinden ausprobierte, für das erwachte Gemeinschaftsbewußtsein und

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Viktor I.

das Ringen um das Entstehen einer Kirche. Während Viktor sich in einer Bischofsversammlung in Rom der Zustimmung zu seiner Position versichert hatte, fanden weitere Versammlungen in Palästina unter Theophilus von Cäsarea und Narcissus von Jerusalem, in Pontus unter Palmas, in Gallien unter Irenaus und Osrhoene statt. Andere Bischöfe hatten persönlich durch Briefe zur Diskussion beigetragen. Sie stimmten mit der Fasten- und Festpraxis Viktors überein. Quellen Dirk van Damme, Pseudo-Cyprian, Adversus Iudaeos. Gegen die Judenchristen. Die älteste lat. Predigt, Freiburg i.Ue. 1969 (Paradosis 22) [ihm zufolge ist dieser Text die älteste lat. Predigt; sie wurde v. einem Bischof, evtl. Viktor, gehalten, siehe S. 89-91], - Eusebius, Hist.eccl., hg. v. Eduard Schwartz, 1903 (GCS 9/1). - Hieronymus, De viris illustribus liber: Aldo Ceresa-Gastaldo, Gerolamo. Gli uomini illustri, Florenz 1988; s. a. 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Viktorin von Pettau

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Markus Vinzent Viktor von Capua -» Evangelienharmonie Viktorin von Pettau (zweite Hälfte 3. Jahrhundert) 1. Leben

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 99)

1. Leben Unsere Hauptquelle für den noch im Martyrologium Romanum unter dem 2. November aufgeführten ersten bekannten Bischof Viktorin von Pettau (Poetovio, heute Ptuj in Slowenien) ist -» Hieronymus; doch der ihm gewidmete Eintrag in dessen De viris illustribus zeigt, daß er nur wenig über die Person Viktorins wußte: „Der Pettauer Bischof Viktorin verstand das Lateinische nicht in gleichem Maß wie das Griechische. Daher erscheinen seine Werke ihrem Sinngehalt nach gewichtig, ihrer sprachlichen Gestalt nach aber weniger eindrucksvoll. . . . Am Ende wurde er mit dem Martyrium gekrönt" (vir. ill. 74). Das Martyrolog des Florus behauptet, daß dies unter Diokletian (reg. 284—305) geschehen sei; doch das ist zweifellos nur eine Folgerung aus der Einordnung des Eintrags im Schriftstellerkatalog des Hieronymus. Viktorin kannte als Häretiker nur Gnostiker (-»Gnosis) und Sabellianer (vgl. TRE 3,695,45ff.), es lassen sich Berührungen der Haltung —• Cyprians von Karthago zu den lapsi, den Gefallenen der -•Christenverfolgungen, und zur —»Buße mit der Einstellung Viktorins aufzeigen, und Viktorin hat Cyprians Schrift Ad Fortunatum gekannt. Alles das weist darauf hin, daß zwischen ihm und Cyprian kaum mehr als der Abstand einer Generation liegt. Viktorin hat keine klassische rhetorische Bildung erhalten und stammte wohl aus bescheidenen Verhältnissen. Er besaß jedoch eine umfangreiche griechische wie lateinische christliche Bildung. Das Chronologische Fragment deutet darauf hin, daß er -•Jerusalem besucht und dort die von Bischof Alexander begründete Bibliothek benutzt hat. Das könnte seine Verwendung anderwärts unbekannter älterer Schriften erklären. So führt er die Epitomae eines Theodor an, wohl ein griechisches Handbuch mit Aufzeichnungen über den Kanon der Bibel und die Abfassung der Evangelien, und er benutzt alte Quellen, die in das Umfeld des älteren syrisch-palästinensischen Schrifttums weisen. 2. Werk Hieronymus erwähnt eine (verlorene) Abhandlung Viktorins Adversum omnes haereses und „vieles andere". In erster Linie war Viktorin jedoch Exeget. Er hat eine Reihe von Kommentaren zu biblischen Schriften verfaßt, zum Pentateuch (Genesis; Exodus; Leviticus), zu den Propheten (Jesaja; Ezechiel; Habakuk), zu den Weisheitschriften (Canticum; Kohelet) und zum Neuen Testament (Matthäus; Johannes-Apokalypse). Von diesem exegetischen Werk ist fast alles verloren. Im 7. Jh. hatte -»Isidor von Sevilla noch den Genesiskommentar vor Augen; der Leviticuskommentar war nach Eintragungen in Bibliothekskatalogen noch im 11. Jh. in Lorsch vorhanden; der Matthäuskommentar fand sich möglicherweise noch im 9. Jh. in Bobbio, wenn es zutrifft, daß das von Muratori entdeckte, seinerzeit dort abgeschriebene Chronologische Fragment aus diesem Kommentar stammt. Heute liegen nur mehr eine kleine Schrift De fabrica tnundi mit Uberlegungen zum symbolischen Sinngehalt des Schöpfungsberichtes, der vielleicht um 258-260 verfaßte Kommentar zur Apokalypse sowie einige Fragmente vor.

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Viktorin von Pettau

Von der ursprünglichen Fassung des Apokalypse-Kommentars gibt es nur noch eine (zudem sehr fehler- und lückenhafte) Handschrift (Ottobonianus Latinus 3288), die J. Haussleiter herausgegeben hat. Im übrigen ist der Text in Überarbeitungen überliefert. Eine davon hat Hieronymus 398 abgefaßt und mit einem Vorwort versehen; darin hat er den ursprünglichen chiliastischen Schluß (dessen Vorstellungen nicht mehr als rechtgläubig galten) durch einen eigenen ersetzt (Text Y bei Haussleiter ohne den Zusatz der Namen des Antichrist, der auf einen Abschreiber vom Ende des 5. Jh. zurückgeht); dagegen hat er der Schrift keine Erweiterungen aus dem Kommentar des Donatisten -•Tyconius zugefügt, wie Haussleiter angenommen hat, der etwas vorschnell alle im Ottobonianus fehlenden Elemente der Texterklärung für Zusätze des Hieronymus halten wollte. Zu Beginn des 6. Jh. hat ein neuer Bearbeiter die Namen des Antichrist geändert und den Hieronymianischen Schluß durch eine andere Ausführung ersetzt, die auf einer Zusammenfassung von Vorstellungen Augustins aus civ. XX,7-8 beruht. Der Kommentar zeigt, daß die -»•Apokalypse des Johannes für Viktorin nicht vornehmlich eine prophetische Ankündigung des Weitendes ist. Sie vermittelt ihm vor allem christologische Unterweisung, und sie ist für ihn eine Gesamtschau der biblischen Prophetie (—•Propheten/Prophetie) und ein Schlüssel zu ihr, eine vollkommene (und paradoxe) Offenlegung des Sinns der Schrift. Viktorin spricht wiederholt von den Merkmalen der prophetischen Sprache, die die Abfolge der —»Zeit durcheinanderbringt: Die Zeit wird darin bald zusammengezogen, bald gedehnt, und ein und dasselbe zukünftige Geschehen wird mit unterschiedlichen Bildern angekündigt. Er hat daraus gefolgert, daß man in der Apokalpyse nicht nach der Darstellung eines zeitlichen Ablaufs suchen dürfe. Diese Auffassung wurde später von Tyconius und Augustin neu ausformuliert und auf den zweiten Teil der johanneischen Apokalypse angewandt, was Viktorin unter dem Gewicht der chiliastischen Vorstellungen seiner Zeit nicht vollständig gelungen war. Diese Theorie der „Rekapitulation" sollte in der Folge das Verständnis der Apokalypse für Jahrhunderte bestimmen. Daß die Theologie Viktorins in De fabrica mundi insbesondere in der Vorstellung von der Zeugung des Wortes und seiner Empfängnis weitere altertümliche Züge aufweist und im Apokalypse-Kommentar der Heilige Geist dem Sohn untergeordnet erscheint, ist für das 3. Jh. nicht außergewöhnlich, und sein —•Chiliasmus ist weniger unreflektiert als zuweilen behauptet worden ist, sieht man einmal von der Aufnahme des Mythos vom Nero redivivus ab. Er ist älteren Schriftstellern wie —>Tertullian, -»Minucius Felix und -•Novatian wie auch dem Canon Muratori verpflichtet. Vor allem aber verdankt er seine Auffassungen Irenaus von Lyon, dessen Schrifttheologie, Christologie und Eschatologie einen erheblichen Einfluß auf ihn gehabt haben. Für die Exegese hat bereits Hieronymus seine Abhängigkeit von -»Hippolyt von Rom und vor allem -»Origenes vermerkt, wobei er allerdings zumindest in dem schmalen erhaltenen Bestand seines Werkes von Origenes die eher traditionellen Züge übernommen hat. Daß Viktorins Werk keinen geringen Rang besessen hat, zeigt die Wertschätzung, die ihm Hieronymus ungeachtet seines von ihm entschieden bekämpften Chiliasmus entgegengebracht hat. 3. Wirkung Die biblischen Kommentare Viktorins, bis zum Ende des 4. Jh. häufig die einzigen lateinisch verfügbaren exegetischen Werke, sind viel benutzt worden, vor allem von Hieronymus, aber auch in Italien (insbesondere von Fortunatian [um 360] und Chromatius von Aquileia [amt. 387-407], -»Zeno von Verona, -»Ambrosius von Mailand, -•Paulinus von Nola und dem - • Ambrosiaster), in Afrika (von Tyconius, —•Optatus von Mileve und Augustin) wie auch in Spanien (hauptsächlich von Gregor von Elvira [um 320-nach 392] und Isidor von Sevilla). Die Kommentatoren der Apokalypse haben in weitem Umfang auf den Kommentar Viktorins zurückgegriffen. Allerdings waren es die späteren Bearbeitungen, in denen er bis ins Mittelalter gelesen wurde. Die ursprüngliche Fassung hatte noch —•Caesarius von Arles vor Augen. Primasius (6. Jh.) verwendete

Vilmar

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die Bearbeitung des Hieronymus. Apringius (6. Jh.) und Beatus von Liebana (8. Jh.) übernahmen ganze Stücke aus der Fassung des 6. Jh., die auch von -»Beda Venerabiiis und Ambrosius Autpertus (gest. 778) benutzt worden ist. Quellen C P L 3 79f. - Hieronymus, De viris illustribus liber: Aldo Ceresa-Gastaldo, G e r o l a m o . Gli uomini illustri, Florenz 1988; s.a. T U 1 4 / l a , 1 - 5 6 . - Victorini Poetovionensis opera, hg. v. Johannes Haussleiter, 1916 (CSEL 49). - Victorin de Poetovio, Sur l'Apocalypse et autres écrits, texte latin, t r a d . , intr. et commentaire par M a r t i n e Dulaey, 1997 (SC 4 2 3 ) . - Viktorin Ptujski, Razlaga R a zodetja in Drugi Spisi, hg. v. M i r a n Spelic, Celje 1 9 9 9 (Cerkveni Ocetjec 9) [slowenisch, mit allen Frgm.].

Literatur R a j k o Bratoz, Viktorin Ptujski in njegova d o b a : AES18 (1986) 2 7 6 - 3 3 5 . - Ders., Il Cristianesimo Aquileiese prima di Costantino fra Aquileia e Poetovio, Udine 1 9 9 9 (Ricerche per la Storia della Chiesa in Friuli 2). - Carmelo Curti, Il regno millenario in Vittorino di Petovio: Aug. 18 (1968) 4 1 9 - 4 3 3 . - Ders., Girolamo e il millenarismo di Vittorino di Petovio: ASEs 15 (1998) 1 9 1 - 2 0 3 . Martine Dulaey, J e r o m e „éditeur" du C o m m e n t a i r e sur l'Apocalypse de Victorin de Poetovio: R E A u g 3 7 (1991) 199 - 2 3 6 . - Dies., Victorin de Poetovio, premier exégète latin, 2 Bde., Paris 1993 (Collection des EAug 139.140). - Antonie W l o s o k , Art. Viktorinus von Pettau: H A W V I I I / 5 (1989) 410-415.

Martine Dulaey

Vilmar, August Friedrich 1. Leben

Christian

2. Werk und "Wirkung

(1800-1868) (Quellen/Literatur S. 101)

1. Leben Der am 21. November 1800 geborene Vilmar entstammte einer alten hessischen Pfarrerfamilie. Prägend wurden für ihn laut seinem Lebensrückblick Eindrücke von der Franzosenherrschaft. Tiefgründender Patriotismus und eine spätere unnachgiebige Ablehnung gegen demokratische Prinzipien als religionsfeindliche „französisierende Gleichmacherei" (W. Hopf [1912/13] I, 24), die für Vilmar folgerichtig in die Verderbnis der Revolution münde, mögen hier wurzeln. Zunächst übernahm Vilmar im Theologie-Studium in -»Marburg (1818-1820) den vorherrschenden -»Supranaturalismus und teilte als Vorsteher der Marburger Deutschen Burschenschaft im Kurhessen Wilhelms I. (reg. 1785-1821, seit 1803 als Kurfürst) liberale Ideen von Fortschritt und konstitutioneller Freiheit. Vilmar wurde 1824 Rektor an der Stadtschule zu Rotenburg an der Fulda, heiratete 1826 Karoline Elisabeth Wittekindt und wechselte 1827 als Lehrer an das Gymnasium zu Hersfeld, wo er sich der Klassischen Philologie und germanistischen Studien widmete. Seit 1830 zeigt er eine Tendenz zum bekenntnisorientierten Christentum der Erweckungsbewegung (—• Erweckung/Erwekkungsbewegungen). Erstmals öffentlich wird sein Konfessionalismus bei einer Festrede zum Augustana-Jubiläum von 1830, in der er die aktuelle Geltung des melanchthonischen Bekenntnisses „ . . . fast von Artikel zu Artikel" proklamierte (W. Hopf [1912/13] 1,164). Sein Plädoyer galt fortan einem lutherisch vertieften, kirchlichen Christentum, auch wenn er die preußische Agendenreform zunächst noch begrüßte. Nach der von Wilhelm II. (reg. 1821-1847) erlassenen Konstitution wurde Vilmar 1831 als Deputierter in den neu gebildeten hessischen Landtag gewählt, wo er fortan für die Legitimität des kurfürstlichen Hauses und für konservative Interessen eintrat. In zwei Ministerialkommissionen setzte er sich für die Verbesserung des Schulwesens, der Volksschule und der gymnasialen Ausbildung, aber auch der Studienbedingungen an der Marburger Universität ein. Noch 1832 wurde er von der Philosophischen Fakultät Marburg zum Dr. h.c. promoviert.

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Vilmar

Im April 1833 wurde Vilmar Direktor des Gymnasiums zu Marburg. In dieser Funktion wirkte er über zwei Jahrzehnte und gewann maßgeblichen Einfluß auf das hessische Schulwesen und die kirchlichen Verhältnisse. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Vilmar am 6. Oktober 1833 Therese Frederking. Als Anhänger des restaurativen Konservatismus erlebte er in der Revolutionszeit 1848/49 persönliche Anfeindungen, gründete davon unbeirrt den antirevolutionären Hessischen Volksfreund (1848-1851), in dem er das monarchische Prinzip verteidigte. Zu ihm als einem nicht im Glauben begründeten, aber kirchlicherseits zu respektierenden Rechtssatz hat er sich auch später bekannt (Hessisches Kirchenblatt 6 [1859] Nr. 1, 3). Vilmar wandte sich in Fragen der Kirchenleitung gegen die Schaffung einer Gesamtsynode unter Beteiligung von Laien, bezog aber ebenso entschieden auf der Jesberger Konferenz vom 14. Februar 1849 auch gegen landesherrliche Einflußnahmen auf kirchliche Belange Stellung: der landesherrliche Summepiskopat müsse aufgehoben werden, der durch die Reformation bewirkte lutherische Bekenntnisstand sei in Ober- wie in Niederhessen unverändert und ungebrochen zu erhalten, das kirchliche Amt der Geistlichen sei eine göttliche Stiftung. Unionistische Tendenzen sowie konfessionelle Indifferenz hat Vilmar sachkundig und kompromißlos bekämpft. 1850 wurde Vilmar zum Ministerialreferenten für geistliche und Schulfragen im konservativen (zweiten) Ministerium Hans Daniel Ludwig Hassenpflugs (1794-1862) ernannt, verwaltete von 1851 bis 1855 als Stellvertreter von Christoph Friedrich Wilhelm Ernst (1765-1855) auch die Kasseler Generalsuperintendentur. Als er nach dessen Tod in diese Funktion gewählt wurde, verweigerte Kurfürst Friedrich Wilhelm (reg. 18471866) ihm die Bestätigung und ernannte Vilmar zum Professor an der Universität Marburg. Hier bewährte Vilmar seinen kompromißlosen Konfessionalismus in offenem Eklat auch gegen Fakultätskollegen. Im Streit um die Neubesetzung der Kasseler Superintendentur favorisierte Vilmar den zeitweilig als Professor in Marburg tätigen Christoph Ernst Luthardt (1832—1902) und agitierte in einer anonymen Schrift gegen den als Kandidaten in Aussicht genommenen Fakultätskollegen Ernst Constantin Ranke (1814— 1888). Die Marburger Fakultät strengte gegen Vilmar einen Injurienprozeß an, in dem er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. In historisch kenntnisreichen Publikationen hat Vilmar die uneingeschränkte Geltung des lutherischen Bekenntnisstandes in Hessen auch nach den preußischen Annexionen von 1866 behauptet. Als es jedoch zur Neuordnung der kurhessischen kirchlichen Verhältnisse kam (vgl. TRE 15,274,44-49), wurde Vilmar mit seinem Bruder Wilhelm (1804-1884), Metropolitan in Melsungen, in seinen letzten Lebensjahren zum inspirierenden Führer der hessischen Renitenz, die sich seit 1872 hiergegen wehrte und den Weg in die Freikirche wählte. 2. Werk und Wirkung Vilmar hat ein ebenso umfangreiches wie vielfältiges Œuvre hinterlassen, das seinem umfassenden Bildungsbegriff entspricht. Neben kirchenpolitischen Streitschriften schrieb er historische Studien, publizierte lebenskundige Erbauungsschriften, theologische Abhandlungen, Bibelauslegungen und Unterrichtswerke, verfaßte zudem zahlreiche Lexikonartikel vornehmlich für das Staats- und Gesellschafts-Lexikon Herrmann Wageners (23 Bde., Berlin 1859-1867); postum wurden Vorlesungsnachschriften publiziert. Vilmars Interessen galten dem evangelischen —• Kirchenlied und dem deutschen Volkslied, den Kulturwissenschaften wie der Philologie, der deutschen Volks- und Namenskunde, der Literaturwissenschaft, der hessischen Geschichte und Kirchengeschichte, aber auch der Wetterkunde. Sein auflagenstärkstes Werk ist die aus Vorlesungen vom Winter 1843 hervorgegangene Geschichte der deutschen Nationalliteratur, auf die Theologie wirkte am stärksten die Theologie der Thatsachen (1856). Sein Nachlaß zeugt von der kenntnisreichen historischen Akribie der Studien auf allen Arbeitsfeldern Vilmars, zeigt aber auch die Reichhaltigkeit seines Briefwechsels.

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In Theologie und Kirchenpolitik galt sein Plädoyer einer bekenntnisorientierten, kirchlichen Objektivität, die auf der lebendigen Erfahrung der Wahrheit der göttlichen Offenbarung fußte und diese gegen alle modernen Rationalismen und kirchenpolitischen Interessen behauptete. Vilmar gewann nicht nur für den hessischen Konfessionalismus, sondern auch für das deutschsprachige Luthertum insgesamt eine eminent prägende Bedeutung. Sein theologisch wie historisch begründetes ekklesiologisches Konzept einer selbständigen, bekenntnisorientierten Kirche speiste sich aus einer lutherischen Erfahrungstheologie, die auf Generationen von Theologen innerhalb und außerhalb Hessens wirkte. Z u m prägenden Einfluß Vilmars bekannten sich etwa L. —»Ihmels, O. —•Dibelius, aber auch der den Weg in den Widerstand gegen den NS-Staat wählende hessische Pfarrer Rudolf Schlunk ( 1 9 0 0 - 1 9 8 8 ) . Allerdings trug Vilmars positioneile Intransigenz ihm bereits zu Lebzeiten auch entschiedene und scharfe Ablehnung ein. Quellen 1. Werke: Dt. Altertümer im Heliand als Einkleidung der ev. Gesch. Beitr. zur Erklärung des altsächsischen Heliand u. zur inneren Gesch. der Einf. des Christentums in Deutschland, Marburg 1845 3 1862. - Vorl. über die Gesch. der dt. National-Lit., Marburg u.a. 1845, 2. mit Anm. u. einem Reg. verm. Aufl., Marburg/Leipzig 1847. - Schulreden über Fragen der Zeit, Marburg 1846 Gütersloh 3 1886. - Gesch. der dt. National-Lit., Marburg 1846, 6. verm. Aufl. Marburg 1856 "1886 u.ö.; mit Anh. „Die Dt. National-Litteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart" v. Adolf Stern, "1898; mit Anh. v. Adolf Stern, bearb. v. Heinrich Löbner/Karl Reuschel, "1911; neubearb. u. fortges. v. Goethe bis zur Gegenwart v. Karl Macke, Berlin 1907. - Die Theol. der Thatsachen wider die Theol. der Rhetorik. Bekenntnis u. Abwehr, Marburg 1856 3 1857. - Zur neuesten Culturgesch. Deutschlands. Zerstreute Bl., wiederum ges. v. A.F. C. Vilmar, Frankfurt a.M.; I. Politisches u. Sociales, 1858; II. Kirchliches u. Vermischtes, 1858; III. Vermischtes, 1867. - Gesch. des Confessionsstandes der ev. Kirche in Hessen, bes. im Kurfürstentum, Marburg 1860. - PThB 1 (1861)-12 (1866). - Dt. Namenbüchlein. Die Entstehung u. Bedeutung der dt. Familiennamen, Frankfurt a.M. 31863 Marburg 71910; neu hg. v. Rudolf Homburg, Marburg '1926. - Die Gegenwart u. die Zukunft der niederhessischen Kirche, Marburg 1867. - Handbüchlein f. Freunde des dt. Volksliedes, Marburg 1867 21868; u.d.T.: Hb. des dt. Volksliedes, hg. v. Otto Bockel, Marburg 1908 Nachdr. Hildesheim 1967. - Luther, Melanchthon, Zwingli. Nebst einem Anh. Das ev. Kirchenlied, Frankfurt a.M. 1869. - Idiotikon v. Kurhessen, Marburg 1868 31883; mit Nachtr. v. Hermann v. Pfister-Schwaighusen, Marburg 1886; Erg. H. 1 u. 2, 1889-1894 Nachdr. Wiesbaden 1970; Beil. v. Daniel Saul, Marburg 1901 Nachdr. Wiesbaden 1969. - Lebensbilder dt. Dichter, hg. v. Karl Wilhelm Piderit, Frankfurt a.M. 1869,2. verm. u. erw. Aufl. hg. v. Max Koch, Marburg 1886. - Die Augsburgische Confession, hg. v. Karl Wilhelm Piderit, Gütersloh 1870. - Die Lehre vom geistlichen Amt, hg. v. Karl Wilhelm Piderit, Marburg u.a. 1870. - Theol. Moral. Akademische Vorl., hg. v. C. Chr. Israel, 3 Bde., Gütersloh 1871. - Lb. der Pastoraltheol., Gütersloh 1872. Von der christl. Kirchenzucht. Ein Beitr. zur Pastoraltheol., Marburg 1872. - Kirche u. Welt oder die Aufgaben des geistlichen Amtes in unserer Zeit. Zur Signatur der Gegenwart u. Zukunft. Ges. pastoral-theol. Aufs., Gütersloh, 11872 II 1873. - Dogmatik. Akademische Vorl., hg. v. Karl Wilhelm Piderit, 2 Theile, Gütersloh 1874. - Predigten u. geistliche Reden, Marburg 1876. - Collegium biblicum. Prakt. Erklärungen der hl. Sehr. Alten u. Neuen Testaments; aus dem hsl. Nachlaß der akademischen Vorl., hg. v. Christian Müller, Gütersloh; I. Prakt. Erklärung des AT, 4 Bde., 18811883; II. Prakt. Erklärung des NT, 3 Bde., 1879-1891 2 1908. - Die Hl. Elisabeth. Skizze aus dem christl. Leben des 13. Jh., Gütersloh 1895. - A.F. C. Vilmars Hessisches Historienbüchlein, 4. verm. Aufl. besorgt v. August Heldmann, Marburg 1909. - Gewalt über die Geister, München 1928 (Christi. Wehrkraft 4). - Über den Umgang mit Schwermütigen u. Geisteskranken. Prakt. Winke v. Wilhelm Löhe, Vilmar, Blumhardt (Vater), München 1928 (Christi. Wehrkraft 2). - Von der Überschätzung der Wiss. u. andere Aufs., München 1928 (Christi. Wehrkraft 6). - Das Nibelungenlied. Nacherzählt v. A.F. C. Vilmar, Leipzig o.J. [ca. 1930]. - Christ will unser Trost sein. Familienbriefe, 1938 (FurSt 53). - Theol.-kirchl. Aufs. Zum 70. Todestage Vilmars am 30. Juli 1938, hg. v. Karl Ramge, München [1938], 2. Nachlaß: Der Nachlaß ist zunächst v. Wilhelm Hopf (1842-1921) für dessen Biographie ausgewertet worden. Er ist seit 1998 in einem Repertorium erfaßt. Darin befinden sich Aktenstücke, Manuskripte, Drucke sowie Korrespondenz aus allen Lebensphasen Vilmars (Staats-Archiv Marburg Bestand 340 a): Repertorium bearb. v. Helmut Klingelhöfer, Marburg 1998. Briefe Vilmars finden sich in den Nachlässen v. Johann Heinrich Christian Bang (1774-1851), Wilhelm Heinrich Bang (1806-1880) u. Ludwig Hassenpflug (1794-1862) im Staats-Archiv Mar-

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bürg, dort auch eine Materialsammlung v. W. Hopf; Kollegnachschriften Vilmars in der Universitätsbibliothek Marburg; Teile des Nachlasses v. Vilmar in der Gesamthochschulbibliothek Kassel wurden durch Kriegseinwirkung teilweise zerstört. Literatur Ulrich Asendorf, Die europ. Krise u. das Amt der Kirche. Voraussetzungen der Theol. v. A. F. C. Vilmar, 1967 (AGTL 18). - Jörg Dierken, Kirche. Hl. Communio oder Institut Christi? Aspekte der Ekklesiologie A.F.C. Vilmars u. A. Ritschis, 1989 (TFESG R. B, 12). - Rudolf Friedrich Grau, Aug. Frd. Chr. Vilmar, weiland Prof. der Theol. zu Marburg, J . Chr. K. v. Hofmann, weiland Prof. der Theol. zu Erlangen. Erinnerungen, Gütersloh 1879. - Eduard Rudolf Grebe, Dr. August Fr. Chr. Vilmar. Züge aus seinem Leben u. Wirken. Ein Gedenkblatt zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages, Cassel 1900. - Ders., A.F.C. Vilmar als Oberhirte der Diöcese Cassel, Marburg 1904. - Johannes Haußleiter, Art. Vilmar, August Friedrich Christian: RE 3 20 (1908) 6 4 9 - 6 6 1 . Heinrich Heppe, Thatsachen aus der kurhessischen Kirchengesch., oder einige Worte über die unlängst ersch. Sehr, des Herrn Pfr. Vilmar zu Rotenburg „Die Kurhessische Kirche" betitelt, Kassel 1844. - Bodo Freiherr v. Hodenberg, Breslau u. Vilmar. Zur Beleuchtung der vom Breslauer Ober-Kirchen-Colleg erlassenen Grundzüge u. Gesichtspunkte f. eine beabsichtigte Bildungs-Anstalt f. Theol.-Studierende der ev.-luth. Kirche in Preußen u. anderen Staaten, Hudemühlen, 11883 II 1884. - Friedrich Wilhelm Hopf, August Vilmar als Lehrer der betenden Kirche, Gütersloh 1950. - Ders., August Vilmar als Missionsfestprediger, Bleckmar 1965. - Ders., August Vilmar, der Christuszeuge, Bleckmar 1976. - Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- u. Zeitbild, 2 Bde., Erlangen 1912/1913 Marburg 1913. - Rudolf Keller, August Vilmar u. Wilhelm Löhe: KuD 39 (1993) 2 0 2 - 2 2 3 . Ders., August Vilmar u. die konfessionellen Lutheraner seiner Zeit: LuThK 26 (2002) 1 3 5 - 1 5 5 . - Werner Klän, Das Augsburgische Bekenntnis als Grundlage einer neuen Konfessionalisierung in Hessen: ebd. 1 1 4 - 1 3 4 . - Johann Heinrich Leimbach, A.F.C. Vilmar, weiland Ritter des kurfürstlichen Wilhelmsordens, ordentlicher Prof. der Theol., Doctor der Phil. u. Konsistorialrat zu Marburg, nach seinem Leben u. Wirken darg., Hannover 1875. - Bernhard Lohse, Kirche u. Offenbarung bei A.F.C. Vilmar: EvTh 17 (1957) 445 - 4 6 7 . - Wilhelm Maurer, Kirche u. Recht bei August Vilmar u. f. die Gegenwart, Kassel 1931. - Ders., August Vilmar (1800-1866): Lebensbilder aus Kurhessen u. Waldeck 1 8 3 0 - 1 9 3 0 , hg. v. Ingeborg Schnack, Marburg III 1942, 3 7 1 - 3 8 6 . - Ders./ Walther Stökl, August Vilmar u. Wilhelm Löhe, Kassel 1938. - Klaus Motschmann, A.F. C. Vilmar: Criticon 112 (1989) 57ff. - Gerhard Müller, Die Bedeutung A. Vilmars f. Theol. u. Kirche, 1969 (TEH 158). - Karl Ramge, Vilmars Bedeutung f. die Kirche der Gegenwart, Essen 1941. - Alfred Roth, August Vilmar, Neumünster 1931. - Renate Sälter, Die Vilmarianer. Von der fürstentreuen kirchl. Restaurationspartei zur hessischen Renitenz, 1985 (QFHG 59). - Barbara Schlunk, Amt u. Gemeinde im theol. Denken Vilmars, 1947 (BEvTh 9). - Walter Schwarz, A.F.C. Vilmar. Ein Leben f. Volkstum, Schule u. Kirche, Berlin 1938. - Volker Stolle, Die Erneuerung der Kirche u. die Vollmacht zur Mission bei August Vilmar: LuThK 26 (2002) 1 7 5 - 1 8 9 . - Klaus-Gunther Wesseling, Art. Vilmar, August Friedrich Christian: BBKL 12 (1997) 1 4 1 4 - 1 4 2 3 (Bibl.). - Martha Wollenweber, Theol. u. Politik bei A.F.C. Vilmar, München 1930 (FGLP Ser. 3, 1). - Roland Ziegler, August Vilmar u. der Gottesdienst: LuThK 26 (2002) 1 5 6 - 1 7 4 . U w e Rieske-Braun Vinet, Alexandre 1. Leben 2. Werk Literatur S. 105) 1.

(1797-1847) 3. Verständnis der Praktischen Theologie

4. Wirkung

(Quellen/

Leben

Alexandre R o d o l p h e Vinet w u r d e a m 17. Juni 1 7 9 7 als Sohn eines Regierungsbeamten in O u c h y (heute L a u s a n n e - O u c h y ) geboren und erhielt seine Schulbildung an der Akademie in - » L a u s a n n e , an der er auch sein theologisches Studium absolvierte. 1 8 1 7 wurde er als Französischlehrer für das G y m n a s i u m , das P ä d a g o g i u m und die T ö c h t e r s c h u l e n a c h Basel berufen und 1 8 1 9 zum außerordentlichen Professor für französische Literatur an der dortigen Universität ( - » B a s e l ) ernannt. 1 8 2 6 wurde sein Mémoire en faveur de la liberté des cultes mit einem Preis der Société de la morale chrétienne in Paris ausgezeichnet und ließ das protestantische Frankreich auf ihn a u f m e r k s a m werden. Seit 1 8 3 0 w a r er regelmäßiger Mitarbeiter der französischen protestantischen Zeitschrift Le Semeur. 1 8 3 7 w u r d e er a u f den Lehrstuhl für Praktische T h e o l o g i e an der A k a d e m i e in

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Lausanne berufen. Als einer der vornehmlichen Verfechter des Grundsatzes der Trennung von -» Kirche und Staat geriet er in Konflikt mit der neuen Regierung, die aus der radikalen, den Kanton Waadt 1845 erschütternden Revolution hervorgegangen war, und verlor 1846 seinen theologischen Lehrstuhl, wurde aber zugleich zum Lehrstuhlinhaber für Literatur ernannt. Seit 1845 war er einer der wichtigsten Mitbegründer der Waadtländer Freikirche. Am 4. Mai 1847 ist er in Ciarens gestorben. 2. Werk Während seines Lebens hat Vinet lediglich fünf Bücher veröffentlicht: die schon genannte Denkschrift von 1826, zwei Bände mit überarbeiteten Predigten (Discours sur quelques sujets religieux), sämtliche Essais de philosophie morale et de morale religieuse (Paris 1837), und einen Essai sur la manifestation des convictions religieuses (Paris 1842), der seine Thesen von 1826 über die Trennung von Kirche und Staat aufnimmt und weiterführt. Seine anderen in Buchform erschienenen Werke sind nach seinem Tod von seinen Freunden in Lausanne und Paris sekundär aus vereinzelten Elementen von Vinets Schaffen zusammengestellt worden: sie gruppieren die zahlreichen von Vinet in Le Setneur (Paris) und in Lausanner Zeitungen veröffentlichen Artikel neu und werten - insbesondere für die Beiträge zur Praktischen Theologie - studentische Nachschriften seiner Vorlesungen an der Akademie von Lausanne aus. Vinet bietet das eigenartige Beispiel eines Denkers, dessen anfängliche theologische Bildung recht bescheiden war, der seine Vorstellungen als Professor für Literatur und Literaturkritik im Umgang mit den großen Werken der zeitgenössischen Literatur ausgebildet hat und der am Ende dann einer der einflußreichsten protestantischen Theologen des französischen Sprachraums im 19. Jh. wird. Einem gesellschaftlich wie religiös konservativen familiären Umfeld entstammend, ließ er sich durch das Empfinden der -»Erweckung in Bann ziehen, wahrte dabei aber eine kritische Haltung gegenüber der Starrheit und Enge mancher Erweckter. Die polizeirechtlichen Maßnahmen der Waadtländer Kantonalregierung gegen die Erweckungsbewegung im Januar 1824 waren für ihn ein „Lichtblitz": er erkannte, daß das System des Staatsprotestantismus auf einer „ehebrecherischen und unheilvollen" Beziehung beruhte. Seitdem kämpfte er unablässig für die Anerkennung des nach seiner Auffassung grundlegenden Unterschiedes zwischen dem Staat, der auf äußere Beziehungen und auf Zwang gegründet ist, und der Kirche, deren Bereich das innere Leben und die Achtung der Freiheit des einzelnen ist. Doch sollte die vom Staat unabhängige Kirche, von der er träumte, für das Volksganze, für die „Menge", von der die Evangelien sprechen, Sorge tragen, eine Forderung, für die er einen neuen Ausdruck prägte: sie sollte multitudiniste („volkskirchlich") sein. Vinet hatte seine Tätigkeit in Basel als Lehrer der französischen Sprache begonnen. Besonderes Gewicht maß er der Sprache des Zeitalters Ludwigs XIV. zu. Sie war für ihn ein Muster an Klarheit und Ausgewogenheit. Das begründet sein zuweilen sehr scharfes Urteil über die Sprache der Schriftsteller seiner eigenen Zeit. Angezogen wurde er von der Sprache F.-R. de - • Chateaubriands, doch die rhetorischen Ausfälle mancher Romantiker erschienen ihm aus der Sicht einer ernsthaften sittlichen Haltung verdächtig. Im übrigen verblieb seine Kritik keineswegs im Formalen. Sein beständiges Anliegen war es, mit den Autoren, deren Werke er zu beurteilen hatte, in eine gründliche, gerade auch geistliche Aspekte ansprechende Auseinandersetzung zu treten. Chateaubriand und Victor Hugo (1802-1885) haben anerkannt, von ihm auf eine Weise verstanden worden zu sein, wie sie nur einem Pastor möglich sei. Am tiefsten vertraut war Vinet allerdings mit B. —»Pascal und seinem Werk, das er auf protestantische Weise las; Pascals stärker „katholische" Seiten (etwa das „Wunder des heiligen Dorns") hielt er für zweitrangig. Er verstand ihn vielmehr als Meister der „Exegese des menschlichen Herzens", dem es nachzueifern galt. Vinets Vorstellungen von der -»Predigt und -»Seelsorge, aber auch von der Art, Literaturkritik zu betreiben, gipfelten in dieser „Exegese des menschlichen Herzens".

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Ungeachtet seiner engen Bindung an die ästhetischen Maßstäbe der französischen Klassik stand Vinet mit seinen Gedanken über die -»Freiheit ganz auf der Höhe seiner Zeit: es ging dabei um -»Religionsfreiheit, die für ihn nicht ohne völlige Gottesdienstfreiheit möglich war, um Glaubensfreiheit, aber auch die Freiheit zum Unglauben („Wo der Irrtum nicht frei ist, ist es auch die Wahrheit nicht"), um die Freiheit des Bürgers, aber auch der Gläubigen, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie zu vertreten, eine Freiheit allerdings, die starken ethischen Anforderungen unterliegt und nicht zur Beliebigkeit oder zum Libertinismus entarten darf („Ich wünsche den Menschen als Herrn seiner selbst, damit er besser Diener aller sein kann"); somit um eine Freiheit, die eine beständige Bildungsanstrengung voraussetzt (Vinet hat eine ganze Reihe pädagogischer Arbeiten hinterlassen), aber auch ein seelsorgerliches Bemühen (dem einzelnen zu helfen, zu seiner Verantwortlichkeit zu stehen und ihn bei der Entfaltung seines geistlichen Lebens zu begleiten). 3. Verständnis der Praktischen

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In Vinet begegnet uns einer der einflußreichsten Vertreter der -»Praktischen Theologie während des 19. Jh. Der Praktischen Theologie war auch sein Lehrstuhl gewidmet; er zog es jedoch vor, sie als „die Kunst" zu verstehen, „im geistlichen Amt in dienlicher Weise die in den drei anderen, rein wissenschaftlichen Bereichen der Theologie erworbenen Kenntnisse anzuwenden", mithin als -»Pastoraltheologie. Seine Théologie pastorale ou théorie du ministère évangélique (1850) und seine Homilétique ou théorie de la prédication (1853) wurden bald nach ihrem Erscheinen ins Deutsche, Englische und in weitere Sprachen übersetzt. Die Homiletik hat zwar nur 1873 eine französische Neuauflage erlebt, die Pastoraltheologie aber ist mehrfach wieder aufgelegt worden (letztmals 1942) und galt bis in die erste Hälfte des 20. Jh. für den gesamten französischsprachigen Protestantismus als anerkanntes Handbuch. Obwohl ordinierter Geistlicher, hat sich Vinet nie dazu verstanden, selbst die Aufgaben eines Pfarramtes zu übernehmen, wohl weil er sich davon eine zu hohe und fordernde Vorstellung machte. Er trug aber keine Bedenken, seinen Studenten als Vorbild ein leicht idealisiertes Bild eines Pastors vorzuhalten, der über alle geistlichen Qualitäten verfügte, die in Vinets Augen für die Ausübung des Dienstes gefordert waren, wie er in einer mitten im revolutionären Umbruch befindlichen Gesellschaft auf sie zukam. Der andauernde Erfolg seiner Pastoraltheologie hat seinen Grund in der mobilisierenden Kraft dieses Entwurfs. Während noch die Vorstellung des 18. Jh. vorherrschte, nach der die Pastoren über die Lebensführung der Gläubigen zu wachen hatten, gewann Vinet sein Verständnis des geistlichen Amtes aus der von ihm geforderten Unterscheidung zwischen den Aufgaben des Staates und denen der Kirche. Für ihn war der Pastor kein Religionsbeamter in nahezu staatlicher Stellung und konnte es nicht mehr sein. Er mußte künftig zugleich „Priester" und „Prophet" oder besser noch „Apostel" eines gänzlich innerlichen Christentums sein, das auf persönlicher, frei angenommener Überzeugung beruhte. Das ist auch der Grund dafür, daß Vinet in seiner Homiletik unablässig darauf besteht, daß das Christentum als Religion des Wortes eine beständige Denkanstrengung einschließt. Jede Predigt muß gründlich und argumentativ durchdacht sein, nicht um einer Positionsbehauptung willen, sondern deshalb, damit die Hörer von ihr wirklich und zutiefst berührt sind und damit unmittelbar von der Wahrheit Christi betroffen werden. Das ist der Preis für die Bildung der Persönlichkeit. Wo aber die alten kollektiven Formen der Vermittlung zwischen Gott und Welt offenbar ihre Existenzgrundlage verloren hatten, muß sich der Schwerpunkt pastoralen Handelns zwangsläufig von der Predigt auf die Seelsorge verlagern. Für Vinet ist weit eher die Predigt eine Verlängerung der Seelsorge als umgekehrt. Vordringlich war es zukünftig in seinen Augen, dem einzelnen beizustehen, zutiefst in seinem eigenen Inneren die Aufgabe der Verbindung von Gott und Welt zu übernehmen, die sonst keine Gestalt

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mehr fand. Im Blick darauf ist einer der wesentlichsten Neuansätze Vinets die Einbeziehung eines Abschnitts mit der Überschrift „De la cure d'âme appliquée aux individus" (Von der Anwendung der Seelsorge auf den einzelnen) in seine Théologie pastorale. Das war noch keine -»Religionspsychologie, doch es bereitete den Weg dazu und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Pastoren auf die Unterschiedlichkeit der religiösen Einstellungen, denen sie begegnen konnten, und auf die Notwendigkeit, ihr Rechnung zu tragen, wenn sie ihre Zeitgenossen wirksam bei der Weckung und Vertiefung ihres geistlichen Lebens begleiten wollten. Vinets Pastoraltheologie und Homiletik zeichnen sich zudem durch die wesentliche Stellung aus, die sie dem persönlichen geistlichen Leben des Pastors oder Predigers zumessen: sein gesamter Dienst solle es sein, „Jesus Christus fortzusetzen". Darin begegnet der Einfluß von J.A. -»Bengel und C. -»Harms, die beide häufig angeführt werden, aber auch — und das ist ein bemerkenswertes neues Phänomen im französischsprachigen Protestantismus - einer Reihe von Vertretern katholischer Frömmigkeit (Abbé de SaintCyran [Jean Duvergier de Hauranne; 1581-1643]; Pierre de Bérulle [1575-1629]; J.-B. —»Bossuet; Louis Bourdaloue [1632-1704], F. —>Fénelon). 4. Wirkung Durch seine Beiträge zur Literaturkritik hat Vinet dem Protestantismus ein gewisses Publikum im französischen Kulturraum verschafft. Doch sein Einfluß auf diesem Feld hat nicht lange angehalten. Viele Literaturwissenschaftler hielten seinen Zugang zur Literatur für zu „pastoral", zu inständig auf Moral und Spiritualität bedacht. Auf der anderen Seite hat er einer Tradition protestantischer Literaturkritik im französischen Sprachraum den Weg bereitet. Als Verfechter des Grundsatzes der Trennung von Kirche und Staat hat Vinet eigentümlicherweise in seinem eigenen Kanton nicht wirklich Schule gemacht. Die Freikirche, zu deren Bildung er so kräftig beigetragen hat, hat sich am Ende 1966 wieder mit ihrer mit dem Staat verbundenen Schwesterkirche vereinigt. Dagegen haben seine Vorstellungen 1905 den Protestanten in Frankreich und 1906 denen in Genf dazu verholfen, jeweils die Folgen der vollzogenen Trennung von Kirche und Staat positiv aufzunehmen. Im französischen Protestantismus hat sein Werk einen Einfluß geübt, der sich vielleicht mit dem F.D.E. ->Schleiermachers im deutschen Raum vergleichen läßt. Er hat seinen Glaubensgenossen dazu beigestanden, Frömmigkeit und Freiheit eng miteinander zu verbinden. Eigenartigerweise hat er lange sowohl für Liberale wie für Orthodoxe als wichtige Bezugsgröße gelten können. Bestimmend zeigt sich sein Einfluß im Denken von Männern wie dem Philosophen Ch. —»Secrétan oder bei den Theologen Louis-Auguste Sabatier (1839-1901), Gaston Frommel (1862-1906), Philippe Bridel (1852-1936) und Auguste Lemaître (1887-1970). Quellen Bibliographien: Klauspeter Blaser, Bibliogr.: Daniel Maggetti/Nadia Lamamra (s.u. Lit.) 278-280. - Jean-Jacques Maison (s.u. Lit.), II 189-199. Weitere Einzeltitel: Chrestomathie française, ou Choix de morceaux tirés des meilleurs écrivains français, t. 1 - 3 , Bâle 1829-1830 2 1833 "1908. - Homilétique, Paris 1853 NA 1873; dt.: Homiletik oder Theorie der Predigt, Basel 1857. - Esprit d'Alexandre Vinet, éd. par Jean-Frédéric Astié, 2 Bde., Lausanne 1861 [Zitatensammlung]. -Poésies, Lausanne 1890. - L a vérité n'a pas de coutures. Réflexions et aphorismes tirés des agendas, transcription, intr. et notes de Bernard Reymond, Lausanne 1983. Franz. Ausg.: Œuvres d'Alexandre Vinet, éd. par Société des Editions Vinet, 32 Bde., Lausanne 1908-1964. Dt. Ausg.: Alexandre Vinets ausgew. Werke, hg. v. Ernst Staehelin, 4 Bde., Zürich 1944-1945. Literatur Ursula Beichel, Alexandre Vinet. Seine Kritik der franz. Lit. des 19. Jh., München 1969. - Klauspeter Blaser, Die Abschaffung des Glaubensbekenntnisses in der Schweiz, darg. am Beispiel der

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Vinzenz von Beauvais

Waadt: Zwing. 15 (1981) 382-396. - Philippe Bridel, La pensée de Vinet, Lausanne 1944. - Michel Despland, L'émergence des sciences de la religion. La Monarchie de Juillet, un moment fondateur, Paris 1999. - Magda Eggimann-Jablonska, L'Homilétique d'Alexandre Vinet à la lumière de quelques recherches récentes: Cahiers de l'Institut Romand de Pastorale, Lausanne, 28 (1997) H. 7, 15-35. - Doris Jakubec/Véronique Mauron/Claire de Ribeaupierre Furlan, Alexandre Vinet, l'éloquence, la morale, la passion, Lausanne 1997. - Doris Jakubec/Bernard Reymond (Hg.), Relectures d'Alexandre Vinet, Lausanne 1993. - Hermann Korth, Wesen u. Ordnung der Kirche im theol. Denken Alexandre Vinets, Göttingen 1949. - Robert Leuenberger, Alexandres Vinets Beitr. zum Zwei-Reiche-Denken: ZThK 56 (1959) 61-69. - Daniel Maggetti/Nadia Lamamra (Hg.), „Jeter l'ancre dans l'éternité". Études sur Alexandre Vinet, Lausanne 1997. - Jean-Jacques Maison, La direction spirituelle d'Alexandre Vinet au miroir de sa correspondance, 2 Bde., Lausanne 1989. - Eugène Rambert, Alexandre Vinet. Histoire de sa vie et de ses ouvrages, Paris 1868 Lausanne *1912. - Bernard Reymond, A la redécouverte d'Alexandre Vinet, Lausanne 1990. - Ders., L'Homilétique de Vinet revisitée: Cahiers de l'Institut Romand de Pastorale, Lausanne, 28 (1997) H. 7, 3 - 1 4 . - Gerhard Ruhbach, Art. Vinet, Alexander: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde 3 (1994) 2102.

Bernard Reymond

Vinzentiner/Vinzentinerinnen -»Mönchtum, -»Orden, -»Vinzenz von Paul Vinzenz von Beauvais (vor 1. Leben 2. Werk Literatur S. 108)

1200-1264)

3. Speculum maius

4. Nachwirkung und Forschungsaufgaben

(Quellen/

1. Leben Vinzenz von Beauvais (Bel[lo]vacensis), kaum aus Burgund und auch nicht Bischof von Beauvais, war Dominikanermönch noch der ersten Generation und einer der bedeutendsten Enzyklopädisten des 13. Jh.; sein Lebenslauf scheint ruhig verlaufen zu sein und hat es ihm ermöglicht, das Wissen seiner Zeit in voluminösen Bänden zu sammeln. Wohl noch im 12. Jh. geboren, studiert er nach 1220 und noch zu Zeiten König Philipps II. August (1165-1223) im Konvent St. Jacques in -»Paris und schließt sich dem Predigerorden des -»Dominicus (-»Dominikaner) an; ab 1230 gehört er zum Konvent in Beauvais, wo er 1246 das Amt des Subpriors innehat. Vinzenz zieht im selben Jahr in das von König -»Ludwig IX. 1235 gegründete Zisterzienserkloster Royaumont nördlich von Paris, wo er über fünfzehn Jahre bis 1260 als Lektor (und Prädikant) wirkt. Royaumont (Regalis Möns) ist zur Grablege der königlichen Familie bestimmt; Vinzenz gehört bald zur Hoffamilie Ludwigs (regis familiaris et domesticus, so Bernardus Guidonis OP [gest. 1331]), vor der er predigt und der er einige Schriften widmet. Die monastischen Verpflichtungen lassen ihm offenbar die Möglichkeit, über all die Jahre in französischen Bibliotheken hunderte von literarischen Autoritäten zu exzerpieren und in immer noch umfangreichere Kompendien zu zwingen; 1261 ist Vinzenz wieder im nahen Beauvais, wo er 1264 gestorben ist. 2. Werk Als Kanzelredner (ambonista) hat Vinzenz Predigten (sertnones) gehalten und kleinere Schriften verfaßt: Auslegungen (expositiones) des -»Vaterunser (oratio dominica) und des Ave Maria (salutatio angelica), Preisungen (laudes) Mariens und des Evangelisten Johannes sowie die Traktate De trinitate, De gratia redemptoris, De vitio detractionis (Vom Laster der Verunglimpfung, laut De morali principis institutione 22), vielleicht De paenitentia; andere Schriften sind ihm untergeschoben worden. De eruditione filiorum nobilium (51 Kapitel, gegen 1250) ist von Königin Margareta erbeten worden und ihr gewidmet; die Schrift bildet das pädagogische Votum des Vinzenz zur Prinzen- und adligen Erziehung, die auch die der Mädchen einschließt. Als am 15. Januar 1260 der Kronprinz Ludwig 16jährig stirbt, verfaßt Vinzenz eine Trostschrift

Vinzenz von Beauvais

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(Liber consolatorius, 16 Kapitel) für den König; De morali principis institutione ist 1261/63 im Interesse des Königs und des Ordens geschrieben - als geistliches Kleinschrifttum und bedeutende Beiträge zur Trost- und Fürstenspiegel-Literatur doch nur Nebenwerke gegenüber dem Hauptgeschäft der Specula. 3. Speculum maius Die bedeutendste -»Enzyklopädie des 13. Jh. - das Speculum maius im Unterschied zu einem kleineren Werk (Speculum vel Imago mundi), aus dem es herauswuchs - formierte sich ab 1245 nach langjährigen Vorarbeiten und ist dreiteilig; ein geplantes, aber von ihm nicht mehr ausgeführtes Speculum tnorale ist noch im 13. Jh. hinzugefügt worden. Speculum naturale und historiale umfassen, symbolisch nach den Lebensjahren Jesu, 30/32 Kapitel; alle drei Specula (opera) sind in Bücher (libri) und Kapitel (capitula) gegliedert. Den Titel Speculum wählt Vinzenz, weil er umsichtig (speculatione) alle überlieferungswürdige Geschichte und überlieferungswürdigen Lehren (facta vel dicta) der Welt gesammelt hat; der Sammler selbst erhält den Ehrentitel eines Spähers aller wißbaren Gegenstände (speculator omnis materiae scibilis). Das Speculum historiale sammelt Materialien von der Schöpfung bis gegen 1250, das Speculum naturale solche aus der Natur und über den Menschen, das Speculum doctrinale greift weit über die sieben -*Artes liberales und Fachwissenschaften hinaus. Jedem Werk ist ein „apologetischer Prolog" beigegeben, in dem Vinzenz detailliert Auskunft gibt über die gelehrtliterarischen Absichten seines Unternehmens und die Methode seines Vorgehens (mos excerpendi). Vinzenz muß die historisch angewachsene, in Büchern faßbare Wissenslast um die Mitte des 13. Jh. gespürt und darunter gelitten haben; angesichts der Büchermenge (multitudo librorum), kurzer Lebenszeit (temporis brevitas) und schwachem Gedächtnis (memoriae labilitas) bleibt ihm nur die Form des Exzerpierens, der —•Florilegien, das Geschäft eines gewissenhaften und möglichst umsichtigen Kollektors in voluminösen Kompendien, die höchsten Service bieten für christliche Apologetik und eine gewissenhafte Hermeneutik, Exempla für Prediger, auch geistliche Erbauung. Vinzenz nennt die ausgehobenen Autoritäten: die orthodoxen Lehrer (catholici doctores), die heidnischen Philosophen und Dichter (gentiles: philosophi, poetae), die Historiker (historici), auch apokryphes Schrifttum (apocriphi). Man hat rund 450 durchgesehene und exzerpierte Autoren gezählt, viele sind marginal zitiert; mit „Tabellen" (tabulae) bot Vinzenz einen weiteren Schlüssel zum bequemen Finden interessierender Stellen und Themen in den Textmassen. 4. Nachwirkung

und

Forschungsaufgaben

Die verschiedenen Teile der Specula sind unterschiedlich breit überliefert, am breitesten das Speculum historiale wegen des weltchronistischen Interesses; ebendies hat bis heute die kritische Ausgabe auch nur eines Teils erschwert. Übersetzungen, auch nur von Teilen ins Kastilische, Katalanische, Deutsche und (Mittel-)Niederländische (in Reimen des Jacob von Maerlant), zeugen von dem Erfolg der Enzyklopädie. Was die Etymologiae / - X X des -»Isidor von Sevilla für das frühe und hohe Mittelalter enzyklopädisch leisteten, breiteten nun, materialiter kaum vergleichbar, die Specula des Vinzenz von Beauvais für die folgenden Jahrhunderte aus. Zu untersuchen bleiben wie bisher neben weiteren Quellen vor allem jene Autoren (und ihre Interessen und Methoden), die ihrerseits den Exzerptor Vinzenz bis ins 16. Jh. exzerpieren, die Entwicklungsstufen des Sammelwerks und die Verflechtungen mancher Teile untereinander sowie alle möglichen wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen und Einzelprobleme wie etwa die Darstellung der Zeitgeschichte im Speculum historiale. Vinzenz von Beauvais ist neben dem wenig jüngeren Ordensgenossen -»Thomas von Cantimpre (De natura rerum), dem Gesamtwerk eines -»Thomas von Aquino und -»Albert dem Großen sowie dem Franziskaner Bartholomaeus Anglicus (gest. um 1250;

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Vinzenz von Beauvais

De proprietatibus rerutn) in der Mitte des 13. Jh. der enzyklopädischste Kopf über allem Wissen, das seit dem 12. Jh. (-•Kreuzzüge und „Orientalismus"; -»Universität und -»Scholastik; lateinische Übersetzungen von -»-Aristoteles) angewachsen war. Die Bündigkeit von Kompendien bot sich historisch zur Bändigung der Wissensmassen an, bevor eine aufs Experimentieren pochende Erfahrungswissenschaft in Person und im Gelehrtenkreis um Kaiser -»Friedrich II. und die denkerisch originäre Enzyklopädistik eines Roger Bacon O F M (gest. um 1292) in die Zukunft weisen. Vinzenz ist, wohl aufgrund der Nähe zur Königsfamilie, auf mehreren Miniaturen porträtiert. Seit 1473 erscheinen Inkunabeldrucke der Spécula, die Kleinen Werke (opuscula) sammelt ein Amerbach-Druck in Basel 1481. Die Benediktiner von St. Vedast im jesuitischen Douai geben 1624 seine Spécula als Welt-Bibliothek (bibliotheca mundi) heraus, im ersten Band haben sie nach Editorenart vor dem eigentlichen Textabdruck Elogia doctorum des 15. und 16. Jh. gesammelt; nachzutragen ist die Rubrik Vincentius Prediger ordens (in der Folge anderer gelehrter Dominikaner und mit einem Mönchssymbol) in der Schedeischen Weltchronik (Nürnberg 1493), wonach er „von mancherlay materien vil treffenlichs löblichs dings geschriben" (CCXIIIIv). Quellen 1. Werke: Spéculum quadruplex sive Spéculum maius, Douai 1624 Nachdr. Graz 1964—1965. - De eruditione filiorum nobilium, hg. v. Arpad Steiner, Cambridge, Mass. 1938. - De musica: Gottfried Göller, Vinzenz v. Beauvais O.P. (um 1194-1264) u. sein Musiktraktat im Spéculum doctrinale [XVII10-35], Regensburg 1959 (Kölner Beitr. zur Musikforschung 15) 86-118. - Liber consolatorius pro morte amici [Kap. 1 - 3 ] : Peter v. Moos, Die Trostschr. des Vinzenz v. Beauvais f. Ludwig IX.: MLJb 4 (1967) 173 - 2 1 8 . - Apologia actoris zum Spéculum Maius: Anna-Dorothee v. den Brincken, Geschichtsbetrachtung bei Vinzenz v. Beauvais: DA 34 (1978) 410-499. - Serge Lusignan, Préface au Spéculum Maius de Vincent de Beauvais. Réfraction et diffraction, Montreal/ Paris 1979. - Epistola actoris [zum Spec. historiale] ad regem Ludovicum, hg. v. Gregory Guzman: Vincent de Beauvais (s.u.) 5 7 - 85. - De morali principis institutione, hg. v. Robert J. Schneider, 1995 (CChr.CM 137). 2. Bibliographien: MeLa 1 (1980) ff. - SOPMA 4 (1993) 435 - 4 5 8 . - Spicae. Cahiers de l'Atelier Vincent de Beauvais 1 (1978) ff. - Vincent of Beauvais Newsletter 1 (1976) ff. Literatur Anna-Dorothee v. den Brincken, Art. Vinzenz v. Beauvais: LThK' 10 (2001) 796 - 7 9 7 . - Pierre Claude François Daunou, Art. Vincent de Beauvais: HLF 18 (1835) 449-519. - Reinhard Dücfcting/ Christian Hünemörder, Art. Vinzenz v. Beauvais: LMA 8 (1997) 1705-1707. - Astrik Ladisias Gabriel, The Educational Ideas of Vincent of Beauvais, Notre Dame, Ind. 1956 2 1962; dt.: Vinzenz v. Beauvais. Ein ma. Erzieher, Frankfurt a.M. 1967. - Einar Mar Jonsson, Le sens du titre Spéculum aux Xlle et XlIIe siècles et son utilisation par Vincent de Beauvais: Vincent de Beauvais (s.u.) 11-32. - Lector et compilator, Vincent de Beauvais, frère prêcheur. Un intellectuel et son milieu au XlIIe siècle, hg. v. Serge Lusignan/Monique Paulmier-Foucart/Marie-Christine Duchenne, Crâne 1997 (Rencontres à Royaumont 9). - Michel Lemoine, L'oeuvre encyclopédique de Vince.it de Beauvais: La pensée encyclopédique au Moyen âge, hg. v. Maurice de Gandillac, Neuchâtel 1966, 7 7 - 8 5 . - Christel Meier, Bilder der Wiss. Die Illustration des Spéculum maius v. Vinzenz v. Beauvais im enzyklopädischen Kontext: FMSt 33 (1999) 2 5 2 - 286. - Monique Paulmier-Foucart, Ordie encyclopédique et organisation de la matiere dans le Spéculum maius de Vincent de Beauvais: L'encyclopédisme. Actes Caen 1987, Paris (1991) 201-226. - Dies., Art. Vincent de Beauvais: DSp 16 (1994) 8 0 6 - 813. - Stefan Schuler, Excerptoris morem gerere. Zur Kompilation u. Rezeption klass.-lat. Dichter im Spéculum historiale des Vinzenz v. Beauvais: FMSt 29 (1995) 312—348. Alison Stones, Prolegomena to a Corpus of Vincent of Beauvais Illustrations: Vincent de Beauvais (s.u.) 301-344. - Berthold L. Ullman, A Project for a New Ed. of Vincent of Beauvais: Spec. 8 (1933) 312-326. - Vincent de Beauvais. Intentions et réceptions d'une œuvre encyclopédique au moyen âge, hg. v. Monique Paulmier-Foucart/Serge Lusignan/Alain Nadeau, Saint-Laurent/Paris 1990 (CEMéd.S 4). - Rudolf Weigand, Vinzenz v. Beauvais. Scholastische Universalchronistk als Quelle volkssprachiger Geschichtsschreibung, Hildesheim 1991 (Germanistische Texte u. Stud. 36). - Ders., Art. Vinzenz v. Beauvais: Lit. Lexikon, hg. v. Walther Killy, 12 (1992) 33. - Ders. Art. Vinzenz v. Beauvais: VerLex 10 (1999) 365 - 3 6 9 . Reinhard Düclting

Vinzenz von Lerins

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Vinzenz von Lerins (gest. vor 450 n. Chr.) 1. Leben

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 111)

1. Leben Nach -»Gennadius von Marseille (vir. 64) war Vinzenz „gebürtiger Gallier" und „Presbyter bei dem Kloster auf der Insel Lerins". Er „war ein Mann, der in den heiligen Schriften gelehrt und in der Kenntnis der kirchlichen Dogmen hinlänglich unterrichtet war". Wenn er identisch ist mit Vinzenz, dem von -»Eucherius von Lyon (laud. her. 42) erwähnten älteren Bruder des Lupus, ist Vinzenz vielleicht als Flüchtling aus Nordostgallien nach -»Lerins gekommen. Dorthin hatte ihn sein Landsmann, der Klostergründer Honoratus (ca. 3 5 0 - c a . 430; ab 428 Bischof von Arles), geholt. Eucherius (instr., praef.) zählt Vinzenz zu den beredten und gelehrten magistri. Vinzenz selbst berichtet (comm. 1,4), er sei während der Abfassung seines bekanntesten Werkes „der Volksmenge und dem Getriebe der Städte entwichen" und bewohne eine „verborgene Klosterzelle" auf einer remotior villula (einem „abgelegenen Gütchen"). Ob das noch „bei dem Kloster auf der Insel Lerins" (heute St. Honorat) war, ist eher unwahrscheinlich, da die Insel nur 1300 x 500 Meter groß ist. Nach Angabe von —»Gennadius von Marseille starb Vinzenz „während der Regierungszeit von Theodosius und Valentinianus" (comm. 11,423 - 4 5 0 bzw. 111,425 -455), also vor dem Jahre 450. 2. Werk Von Vinzenz sind zwei Werke bekannt. Das eine, Commonitorium oder „Mahnschrift" genannt, wurde, nachdem es ein Jahrtausend vergessen war, neuentdeckt und daraufhin sehr oft aufgelegt und viel gelesen. Das andere, die Excerpta oder „Auszüge" (aus -» Augustin), wurde im 20. Jh. wiederentdeckt. Vinzenz sandte es Papst Sixtus III. (432-440). Uber das erstgenannte Werk schreibt Gennadius: „Damit man die Gesellschaft der Ketzer meide, stellte er eine höchst bedeutsame Abhandlung in ziemlich brillanter und offener Sprache zusammen, der er unter Verheimlichung seines Namens den Titel gab: Gegen die Ketzer, von Peregrinus. Da er den größten Teil der Blätter des zweiten Buches dieses Werkes verloren hatte, weil es ,von gewissen Leuten' (a quibusdam) gestohlen worden war, faßte er den ursprünglichen Inhalt in wenigen Worten zusammen und gab das Werk in einem Buch heraus". Diese Zusammenfassung umfaßt die Kapitel X X I X - X X X I I I . Es geht daraus hervor (s. Kap. XXIX,7), daß das Commonitorium drei Jahre nach der ökumenischen Synode von —»Ephesus, also 434, geschrieben (oder vollendet) wurde, und zwar in einer Sprachform, die Gennadius lobend „genügend brillant und offen" und Vinzenz selbst (Kap. 1,6) bescheiden „einfach und allgemein" nennt; A. Jülicher (v-vi) ist allerdings der Meinung, daß Vinzenz „unter den gallischen Kirchenmännern des 5. Jahrhunderts das eleganteste Latein" geschrieben habe. Als Zweck seines Werkes gibt Vinzenz (Kap. 1,7) die „Unterstützung meines Gedächtnisses oder besser meiner Vergeßlichkeit" an. Allerdings hat das Commonitorium mehr als andere patristische Schriften zu verschiedenen Zeiten für ganze Gruppierungen als Norm gedient, weil Vinzenz darin versucht, das katholische Traditionsprinzip (-»Tradition) zu erfassen; außerdem reflektiert er über die Geschichte der -»Häresien und den faktischen Weg der -»Orthodoxie und bietet in Kap. II einen Kanon zur Unterscheidung zwischen Häresie und Orthodoxie (Sieben 149.151): In ipsa enim catholica ecclesia magnopere curandum est, ut id teneamus quod ubique, quod Semper, quod ab omnibus creditum est: hoc est etenim vere proprieque catholicum (Desgleichen ist in der katholischen Kirche selbst entschieden dafür Sorge zu tragen, daß wir das festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wird; denn das ist im wahren und eigentlichen Sinn katholisch, comm. 11,3). Aufgrund dieses Kanons kann der Katholik auf die universitas (die Allgemeinheit) rekurrieren, „wenn sich irgendein kleiner Teil der Kirche von der allgemeinen Glaubensgemeinschaft absondert", auf die antiquitas bzw. vetustas

110

Vinzenz von Lerins

(das Alter), „wenn eine neue Seuche schon nicht allein einen kleinen Teil, sondern die ganze Kirche zugleich zu verpesten sucht", und auf die consensio (die Übereinstimmung) mittels eines allgemeinen Konzils (-»Synode) aus alter Zeit, „wenn . . . auch im Altertum ein Irrtum zweier oder dreier Männer oder sogar einer ganzen Stadt oder Provinz angetroffen würde" (ebd.). Wenn ein solches Konzil nicht vorhanden ist, soll man nach Vinzenz die „Aussprüche der Alten [d.h. der Kirchenväter] miteinander vergleichen". Die verschiedenen Ketzereien werden nach diesem Schema eingeteilt. Unter ihnen nimmt der Nestorianismus (—• Nestorius/Nestorianischer Streit) einen wichtigen Platz ein (Kap. XI; XII; XV; XXIX—XXXIII), und zwar nicht deshalb, weil es im lateinischen Westen soviele Anhänger des Nestorius gab, sondern weil dort der Nestorianismus als Produkt des Pelagianismus (—»Pelagius/Pelagianischer Streit) betrachtet wurde, wie etwa Johannes —»Cassianus bezeugt (vgl. incarn. 5,1). Cassianus gehörte zu den südgallischen Theologen und Kirchenmännern, die man seit dem 16. Jh. Semipelagianer nennt, aber ebensogut Semiaugustinianer oder milde Augustinianer nennen könnte (Angelo Di Berardino [Hg.], Patrology, Westminster, Md., IV 1986, 522). Es ist eine viel diskutierte Frage, ob Vinzenz auch Semipelagianer und Gegner Augustins war oder ob er im Gegenteil streng augustinisch orientiert war. Der erste Standpunkt ist erstmals von Gerardus Joannis Vossius (1577-1649) im 17. Jh. verteidigt worden. Gründe sindr 1) Vinzenz wurde mit dem Autor des antiaugustinischen Werkes Objectiones Vincentianae, „Vinzenzianische Beschwerde" (sc. gegen die Gnaden- und Prädestinationslehre Augustins), gleichgestellt; 2) Das Kloster von Lerins ist als semipelagianisches Zentrum bekannt. Doch „verrät sich" Vinzenz „nirgends als Semipelagianer, und daß er Mönch in Lerinum war, ist so wenig ein stringenter Beweis für seinen semipelagianischen Standpunkt, wie das, daß er den Augustinus nie erwähnt" (Jülicher x - der dann jedoch trotzdem semipelagianisches Gedankengut im Text finden zu können glaubt). Nach der Wiederentdeckung und Herausgabe (1940 durch Madoz) des zweiten Werkes des Vinzenz, der Excerpta (sc. aus Augustin), und der Studie von W. O'Connor steht fest, daß Vinzenz nicht zu den Semipelagianern gerechnet werden kann, sondern daß er ein überzeugter Anhänger Augustins war. Deshalb kann er nicht auch als Autor der Objectiones Vincentianae gelten; umgekehrt ist es möglich, daß ihm das zweite Commonitorium gerade wegen seiner Position im semipelagianischen Streit gestohlen wurde (O'Connor 56 [ = DoC 178]). Übrigens hat Vinzenz „das griechische Theologenwort ,dogma* erstmals als positiven Begriff in die lateinische Kirchensprache übernommen" (Beyschlag 8). 3. Wirkung Auf dem Konzil von Sevilla (619) wurden unter -»-Isidor von Sevilla die Excerpta benutzt. Das -»Athanasianische Symbol (Quicumque vult) verwandte verschiedene Kapitel des Commonitorium (vor allem XIII). Erst durch den Druck des Werkes im Jahre 1528 und die zahlreichen Neuauflagen in den folgenden Jahrhunderten erhielt das Commonitorium wieder größere Bekanntheit, weil die verschiedenen konfessionellen Gruppen hofften, sich auf Vinzenz' Kriterien berufen zu können. Sein „positiver" Dogmenbegriff wurde von allen Parteien in ihrer eigenen Weise ausgebaut. Die letzte große Auseinandersetzung, bei der das Commonitorium eine Rolle spielte, geschah wohl zwischen J.J.I. von -»Döllinger, der den Kanon des Kap. II (s.o.) gegenüber den römischkatholischen Dogmen von 1854 und 1870 betonte, und den Theologen um das Erste Vatikanum (-»Vatikanum I und II), die Kap. XXIII als Argument anführten, in dem steht, daß Fortschritt im Glauben durch organisches Wachstum möglich ist. Andere Kapitel des Commonitorium spielten seltener eine Rolle, wie die von Papst -»Benedikt XV. 1914 im Modernistenstreit benutzten Zitate aus Kap. VI,5f. und XXII,7 (DH 3626). Heutzutage scheint es klar, daß der Kanon (Kap. II) nicht als theologisches Forschungsprinzip, sondern höchstens als regulative Idee gebraucht werden kann. Und da es in der Wissenschaft inzwischen verschiedene Wachstumsmodelle gibt, ist auch das orga-

Vinzenz von Paul

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nische Wachstum des Dogmas (Kap. XXIII) kein klares Konzept (s. ferner -»-Apostel/ Apostolat/Apostolizität 11.11.; -•Dogma 1.3.; ->Katholizität 2.). Quellen Commonitorium: Vincenti Lerinensis Commonitorium. Excerpta (s. CPL 510), ed. Roland Demeulenaere, Foebadi Aginnensis liber contra Arrianos, 1985 (CChr.SL 64) 147-195. - Commonitorium, hg. v. Adolf Jülicher, 21925 (SQS 10). - Übersetzungen: ed. Gerhard Rauschen, 1914 (BKV2 20) [dt.]; ed. Charles Abel Heurtley, 1894 (NPNF 2. Ser. 11); ed. Rudolph E. Morris, 1949 (FaCh 6) [engl.]; ed. Pierre de Labriolle, Paris 1906 (La pensée chrétienne); NA 1978 (CPF) [franz.]. Excerpta: Excerpta Vincentii Lirinensis. Segn el còdice de Ripoll, N. 151 con un estudio critico introductorio ed. José Madoz, 1940 (EstOn 1. Ser. 1). - Objectiones Vincentianae: Pro Augustino responsiones ad capitula objectionum Vincentianarum (s. CPL 521): PL 61,177-186. - Gennadius Massiliensis, De viris inlustribus: Hieronymus. Liber de viris inlustribus, ed. Ernest Cushing Richardson, 1896 (TU 14/1) c. 64 (s.a. CPL 957). Literatur Karlmann Beyschlag, Grundriß der DG. I. Gott u. Welt, Darmstadt 21988 (Grundrisse 2) 8 f. - Noël Duval/Jean Guyon, Les premiers monuments chrétiens de la France. I. Sud-Est et Corse. Cannes-Lérins, Paris 1995, 98f. - Thomas Guarino, Vincent of Lerins and the Hermeneutical Question: Gr. 75 (1994) 491-523. - Hubert Kremser, Die Bedeutung des Vincenz v. Lerinum für die röm.-kath. Wertung der Tradition, Diss.masch. Hamburg 1959. - William O'Connor, Saint Vincent of Lerins and Saint Augustine, Diss. Gregorianum, Rom 1964 = DoC 16 (1963) 123 - 257.-Martien F.G. Parmentier, Vincentius van Lerinum, de beide Commonitoria, Amersfoort 1989 (Publicatiereeks Stichting Oud-Katholiek Seminarle 20). - Ders., Ignaz v. Döllinger u. Vinzenz v. Lérins: IKZ 99 (1991) 4 1 - 5 8 . - Hermann Josef Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, 1979 (KonGe.U) 148-170. - Mark Vessey, Peregrinus Against the Heretics. Classicism, Provinciality, and the Place of the Alien Writer in Late Roman Gaul: Cristianesimo e specificità regionali nel Mediterraneo latino. XXII Incontro di studiosi dell'antichità cristiana, Roma 2 - 8 maggio 1993, Rom 1994 (SEAug 46) 529-565. Martien Parmentier

Vinzenz von Paul 1. Leben 1.

(1581-1660)

2. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 113)

Leben

Vinzenz wurde im April 1581 (bis zum 20. Jh. wurde fälschlich 1576 genannt) als drittes von sechs Kindern des Bauern Jean de Paul und seiner Ehefrau Bertrande, geb. Demoras, in Pouy bei D a x in der Gascogne (heute St.-Vincent-de-Paul, Département Landes) geboren und begann seinen Bildungsgang 1595 bei den -•Franziskanern in Dax. 1596 erhielt er in Bidache die Tonsur und die niederen Weihen, studierte 1597 bis 1604 in Toulouse bis zum Abschluß eines Bakkalaureats der Theologie und wurde am 23. September 1600 von dem Bischof von Périgueux, François Bourdeilles ( 1 5 1 5 - 1 6 0 0 ) , zum Priester geweiht. Im ersten seiner erhaltenen Briefe berichtet er von seiner Gefangennahme durch maurische Seeräuber 1605 und von zwei Jahren in der Sklaverei unter vier verschiedenen Herren, einem Fischer, einem Arzt, dessen Neffen und einem abtrünnigen Christen, den er nach Avignon begleitete und der dort durch den stellvertretenden päpstlichen Legaten Pietro Francesco Montorio wieder in die Kirche aufgenommen wurde. Einzelnes aus diesem Bericht ist allerdings als unglaubwürdig in Frage gestellt worden. 1608 war er in R o m und begab sich von dort, wie es heißt, in einer Mission an König Heinrich IV. von Frankreich (reg. 1 5 8 9 - 1 6 1 0 ) nach Paris. Dort suchte er geistlichen Rat bei dem Gründer des Französischen Oratoriums Pierre Bérulle ( 1 5 7 5 - 1 6 2 9 ) und dem an der Sorbonne (-»Paris) tätigen Theologen André Duval ( 1 5 6 4 - 1 6 3 8 ) und las die Regula perfectionis des mystischen englischen Kapuziners Benedikt von Canfield (William Fitch, 1 5 6 2 - 1 6 1 0 ) . 1612 wurde er zum Priester an der Pfarrei Saint Medard

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Vinzenz von Paul

in Clichy bei Paris ernannt, wo er eine Rosenkranzbruderschaft gründete. Auf Bérulles Vorschlag trat er 1613 als Hausgeistlicher und -lehrer in den Dienst des Generals der Galeeren, Philippe-Emmanuel de Gondi (gest. 1662). Als er einem sterbenden Bauern, der seiner regelmäßigen Beichtpflicht nicht nachgekommen war, die Beichte abnahm, war er entsetzt über die geistliche Verwahrlosung der Pächter und Arbeiter auf den Gütern der Gondi und hielt am 25. Januar 1625 eine Predigt über die Notwendigkeit der Beichte, die erste seiner Missionspredigten. Dabei fand er zu seiner Berufung einer Sendung an die Armen. 1617 wurde er zum Pfarrer von Châtillon-les-Dombes bei Lyon ernannt. Dort gründete er eine Frauenvereinigung zum Dienst an Kranken, die Vorläuferin der Dames de la Charité, deren Tätigkeitsbereich bald auch die Güter der Gondi einbezog. Die Confrérie des Dames de la Charité wurde 1629 in der Pfarrei Saint-Sauveur in Paris gegründet und übernahm 1634 die Verantwortung für das Pariser Hôtel-Dieu. Sie hat seitdem weltweite Verbreitung gefunden und zählt über eine Viertelmillion Mitglieder. Vinzenz kam unter den Einfluß von François de —»Sales und wurde 1622 Spiritual der Schwestern von der Heimsuchung Mariens in Paris und zeitweilig auch Seelenführer ihrer Gründerin Jeanne-Françoise de Chantal (1572-1641). 1619 wurde er auf Veranlassung Gondis von Ludwig XIII. (reg. 1610-1643) zum obersten Geistlichen der Galeeren und 1624 zum Leiter des Collège des Bons-Enfants ernannt. Dort gründete er zusammen mit seinem Mitarbeiter Antoine Portail am 17. April 1625 mit Hilfe einer großzügigen Stiftung der Familie Gondi die Congregatio Missiotiis, eine Weltpriesterkongregation. Später richtete er an diesem Kolleg Seminare für Jungen (1636) und Ordinanden (1642) ein, die ersten von achtzehn derartigen Einrichtungen, die er während seines Lebens gründete. Am 24. April 1626 billigte Gondis Bruder, der Erzbischof von Paris Jean François de Gondi, die Kongregation, und 1627 wurde sie von König Ludwig XIII. genehmigt. Die päpstliche Bestätigung folgte allerdings noch nicht sogleich; sie wurde erst mit der Bulle Salvatoris nostri vom 12. Januar 1632 erteilt. Die Hauptaufgabe der Kongregation war zunächst die Evangelisation auf dem Lande; doch bald trat sie auch in den Dienst einer Reform der Geistlichkeit. 1628 führte Vinzenz in Beauvais seine erste Rüstzeit für Ordinanden durch, die Exercices des Ordinands, eine fünfzehntägige Zurüstung auf das Subdiakonat, das Diakonat und das Priesteramt, die sich schnell als beliebte Form der Vorbereitung auf das geistliche Amt verbreitete. 1632 wurde der Kongregation die Priorei Saint-Lazare übertragen. Nach ihr wurden ihre Angehörigen Lazaristen, nach ihrem Gründer aber auch Vinzentiner genannt. 1633 rief Vinzenz für seine Schüler unter der geistlichen Elite des Pariser Klerus die Dienstagskonferenzen ins Leben. Zu ihren Teilnehmern gehörten u.a. Jean-Jacques Olier (1608-1657) und später J.B. -»Bossuet. 1636 stellte er Feldgeistliche für das Heer bereit. Vinzenz war entschlossen, seine Genossenschaft nicht in den Status eines förmlichen Ordens zu überführen. Die ersten Kongregationsangehörigen legten wie Weltgeistliche einfache Gelübde ab, die 1641 vom Erzbischof von Paris gebilligt wurden. Die Endfassung seiner Regel redigierte Vinzenz 1658. 1639 organisierte Vinzenz Hilfsmaßnahmen für das vom Krieg verwüstete Lothringen und 1651 in ähnlicher Weise für die Picardie, die Champagne und die Île-de-France. Seit 1643 übte er als Mitglied des Conseil de Conscience, der mit kirchlichen Angelegenheiten befaßten Sektion des Staatsrates, beträchtlichen politischen Einfluß aus. Obwohl ein Vertrauter der Königin Anna von Österreich (1602-1666), stellte er sich gegen deren Minister Kardinal Mazarin (1602-1661) und unterstützte ohne offene Parteinahme dessen Gegner, seinen ehemaligen Schüler Jean François Paul de Gondi, Kardinal von Retz (1613-1679), den Führer der Adelsopposition der Fronde. Seit 1624 war er eng mit Jean-Ambroise Duvergier de Huaranne (1581-1643), dem später als Abt von SaintCyran bekannten Begründer des Jansenismus ( - • Jansen/Jansenismus), befreundet; doch trat er 1648 der jansenistischen Bewegung strikt entgegen, als deren Konsequenzen deutlich wurden.

Vinzenz von Paul

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1645 wurde eine Niederlassung der Vinzentiner in Genua gegründet und 1654 eine weitere in Turin. 1648 entsandte Vinzenz Missionare nach Madagaskar und 1651 mit Unterstützung der polnischen Königin Marie-Louise de Gonzague (1611—1667), einer ehemaligen Angehörigen der Dames de la Charité, nach Polen. Er sammelte und verwandte erhebliche Mittel für den Freikauf von Christen aus maurischer Gefangenschaft und gründete 1646 eine Mission in Algier. Vinzenz starb am 27. September 1660. 1723 wurde er von Benedikt XIII. selig- und 1737 von Clemens XII. heiliggesprochen. 2. Wirkung Vinzenz predigte und übte ein hochgradig praktisches Christentum teils ignatianischer (-»Ignatius von Loyola), teils salesianischer Prägung, das von einem christozentrischen Glauben und christlicher Liebe getragen war. Beides fand Gestalt in einem strikt geregelten Leben, das dem -»Gebet und guten -»Werken der Nächstenliebe sowie dem regelmäßigen Empfang der Kommunion und regelmäßiger Ablegung der Beichte im eucharistischen Leib der Kirche gewidmet war. Es ist eher ein „Weg" als eine Ausdrucksform von -»Spiritualität genannt worden und hat weltweit die Gründung zahlreicher religiöser Einrichtungen und Kongregationen angeregt. Vinzenz hat sich nachdrücklich um eine geistliche Zurüstung von Priestern bemüht; doch das Ziel war dabei stets das Heil der Laien. Von diesem vinzentinischen Geist hat Antoine Frédéric Ozanam (18131853) während seines Rechtsstudiums den Anstoß erhalten, 1833 in Paris zum Dienst an den Armen die Laienvereinigungen der Vinzenzkonferenzen zu gründen, die seitdem weltweite Verbreitung gefunden haben und fast 900.000 Mitglieder zählen. Vinzenz hat zu einer Reform der geistlichen Priesterbildung beigetragen; doch seine einzigartige Stellung in der Geschichte des Katholizismus beruht auf seiner Neubelebung des Laienapostolats. Eine bemerkenswerte Seite des Wirkens von Vinzenz ist auch seine Entdeckung des karitativen Potentials weiblicher Dienste, wie sie die Dames de la Charité und ihre bäuerlichen Helferinnen leisteten. Zu diesen gehörte Marguerite Naseau, die seit 1629 in der Pariser Pfarrei St. Nicholas du Chardonnet tätig war und als erste Angehörige der von Louise de Marillac (1591-1660) gegründeten Vereinigung der Filles de la Charité (Vinzentinerinnen) gilt. Louise de Marillac hatte Pfingsten 1623 eine geistliche Erfahrung und begegnete 1624 oder 1625 Vinzenz. 1629 begann sie ihre lebenslange Tätigkeit als seine Mitarbeiterin, zunächst mit einer Reorganisation der Confrérie des Dames de la Charité in Montmirail. Aus den Landmädchen, die sie 1633 in ihrem Hause sammelte, bildete sich die ursprüngliche Vereinigung der Filles de la Charité. Sie führten das Leben von Religiösen, unterlagen aber keiner Klausur und konnten sich daher zur Wahrnehmung ihrer karitativen Aufgaben frei bewegen, und sie legten nur einfache, keine feierlichen Gelübde ab. 1638 nahmen sie ihren Dienst an Waisen auf. Der Erzbischof von Paris, der König, das Pariser Parlament und Rom billigten jeweils 1655, 1657, 1658 und 1668 ihre Vereinigung mit ihrer von Vinzenz ausgearbeiteten Regel. Beim Tod Louises 1660 hatten sie 40 Niederlassungen in Frankreich, die für den Dienst in zahlreichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Gefängnissen, Waisenhäusern und Irrenanstalten sorgten. Louise wurde 1920 selig- und 1934 heiliggesprochen und 1960 zur Schutzheiligen der christlichen Sozialarbeit erklärt. Ihr Gedenktag ist der 15. März. Quellen 1. Werke: Regulae, seu Constitutiones Communes Congregationis Missionis, Paris, 1658. - St. Vincent de Paul. Textes choisis et commentés par Jean Calvet, Paris 1913. — St. Vincent de Paul, Correspondance, Entretiens, Documents, hg. v. Pierre Coste, 14 Bde., Paris, 1920-1925. - André Dodin (Hg.), St. Vincent de Paul. Entretiens spirituels aux Missionaires, Paris 1960. 2. Dokumentation: Compendium vitae, virtutum, et miraculorum, nec non actorum in causa canonizationis B. Vincentii a Paulo, Rom 1737.

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Viret

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Viret, Pierre

(1511-1571)

(Quellen/Literatur S. 116) Der spätere R e f o r m a t o r des W a a d t l a n d e s Pierre Viret w u r d e 1 5 1 1 in O r b e geboren. 1 5 2 7 begann er das Studium der T h e o l o g i e a m Collège de M o n t a i g u in - » P a r i s und w a n d t e sich d o r t protestantischen Kreisen zu. N a c h seiner R ü c k k e h r in die H e i m a t n a h m er Verbindung mit G. - » F a r e i und Antoine M a r c o u r t a u f und predigte seit 1531 in O r b e sowie in G r a n d s o n und Payerne im Sinne zwinglisch-oberdeutscher Theologie. In - » G e n f trug Viret 1 5 3 4 eine öffentliche Disputation mit dem D o m i n i k a n e r Guy Furbity über die w a h r e Schriftauslegung aus und bereitete u.a. d a m i t die R e f o r m a t i o n der Stadt von 1 5 3 6 durch Farei und J . - » C a l v i n vor. 1538 heiratete er Elisabeth T u r t a z aus O r b e und nach deren T o d 1 5 4 6 Sébastienne de la H a r p e aus Genf. Gleichsam als krönenden Abschluß seiner Westexpansion hatte der eidgenössische Stadtstaat Bern den strategischen Vorteil der hegemonialen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser - » K a r l V. und dem französischen König - » F r a n z I. sowie die Schwäche des mit dem Kaiser verbündeten H e r z o g s von Savoyen, Karl III. ( 1 4 8 6 - 1 5 5 3 ) , genutzt und das bis dahin ebenfalls durch die H e r z ö g e von Savoyen regierte W a a d t l a n d n a c h

Viret

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der Kriegserklärung aufgrund des Vertrages von St. Julien im Januar 1536 erobert. In der Folge der durch die Berner Regierung verordneten Disputation vom 1. bis 10. Oktober 1536 wurde dort die Reformation nach Zürcher und Berner Vorbild durchgesetzt. An dem öffentlichen Streitgespräch unter Vorsitz eines Ratsherren aus Bern vertraten neben Viret auch G. -•Farei, J. -»Calvin, J. —•Fabri, Antoine Marcourt und Pierre Caroli (um 1480 - nach 1545) die evangelischen Gruppe gegenüber altgläubigen Priestern und Ordensleuten. Wurde dort aufgrund der zehn von Guillaume Farei aufgestellten Thesen die evangelische Theologie und Schriftauslegung diskutiert, bewirkte vor allem aber die intensive und erfolgreiche Predigttätigkeit Virets die feste Verankerung des evangelischen Glaubens im Waadtland. Viret wirkte zunächst zwischen 1535 und 1539 als evangelischer Pfarrer in -»Lausanne. Von 1537 bis zu seiner Ausweisung war er auch Professor an der dortigen, von Bern gegründeten Akademie. Sein Versuch, eine strenge Kirchenordnung nach dem Vorbild der Reformation in Genf einzuführen, scheiterte am Widerstand der Stadt Bern, deren Vertreter nicht nur Einfluß auf die theologischen Disputationen in der Akademie nahmen, sondern auch die Form des Abendmahlsempfanges vorschrieben sowie seine Forderung nach der Einführung des Bannes (Exkommunikation) und seine Auslegung der Prädestinationslehre (-»Prädestination) ablehnten. Viret konnte sich auf Dauer nicht in der Waadt halten. Dazu dürfte auch seine höchst erfolgreiche Predigttätigkeit beigetragen haben, die bei aller Entschiedenheit in der Sache in ihrer populären Wirkung dazu beitrug, sowohl frömmigkeitlich wie auch politisch ein eigenständiges Profil der Waadtländischen Bevölkerung zu entwickeln. Am 20. Januar 1559 wurde Pierre Viret von der Berner Regierung des Landes verwiesen. Nach seiner Verbannung wirkte Viret von 1559 bis 1561 als Prediger und Mitglied der von Calvin gegründeten Akademie in Genf. Dort hatte er bereits vor Calvins Rückkehr 1541 für die Einführung reformatorischer Institutionen wie beispielsweise eines Konsistoriums nach Berner Vorbild geworben. Erneut machte er als außergewöhnlicher Prediger rasch Furore. Dennoch verließ er nach etwas mehr als zwei Jahren erneut die Stadt Genf. Nach einem kurzen Aufenthalt in Südfrankreich (Nimes, Montpellier) saß er 1563 der französischen Nationalsynode in Lyon vor. Die Bürger von Lyon beriefen ihn daraufhin zum reformierten Prediger. Von dort aus baute er die reformierte Kirchenorganisation in Béarn und im Languedoc auf. Als Hauptwerk aus dieser Zeit veröffentlichte er 1564 in Genf seine Instruction chrestienne, ein Hauptwerk der reformierten Apologetik. Wohl auch aufgrund seines entschiedenen Eintretens für die Bilderstürmer geriet er in Konflikt mit dem Rat von Lyon. Viret floh zunächst nach Vienne und 1565 nach Orange. Aufgrund der Protektion durch die Königin Jeanne d'Albret von Navarra (1528 1572) wurde er 1567 zum Aufbau des reformierten Kirchenwesens als Professor der Theologie an das von ihr gegründete Kollegium von Orthez berufen. Dort verstarb er im März 1571. Pierre Viret, der einzige Schweizer unter der ersten Generation von Vertretern der evangelisch-reformierten Theologie, trug wesentlich zur volkstümlichen Verbreitung der reformierten Theologie in zunehmender Anlehnung an Johannes Calvin bei. Von Beginn seiner Tätigkeit an erfreuten sich insbesondere seine Predigten eines großen Zulaufs. Seine vor allem die praktische Ethik akzentuierende Auslegung kann exemplarisch für das gestiegene bürgerliche Selbstbewußtsein im 16. Jh. gewertet werden. Das mag seinen besonderen Erfolg bei Juristen, dem herausragenden Stand des Bürgertums, und in den städtischen Eliten erklären. Leider hat sich von den zahlreichen Predigten Virets anders als von seinem umfangreichen Briefwechsel nur wenig erhalten. Um seine evangelische Schriftauslegung und deren lehrmäßige Zusammenfassung vorzutragen, übernahm Viret die Form der öffentlichen Disputation (—»Disputatio), beispielsweise in den Auslegungen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, der Zehn Gebote, des Herrengebetes, um nur einige zu nennen. Hier dürfte, wie schon in Lausanne, das Zürcher und Berner

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Vorbild nachwirken, wenn auch die oberdeutsch-zwinglische Prägung in der früheren Entwicklungszeit seiner Theologie im Laufe der Jahre zurückgeht. Die Gründe für den Wandel der theologischen Akzentuierung zu einem stärker calvinistischen Profil sind vielschichtig, dürften aber auch darin begründet liegen, dass aufgrund der zeitweilig engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Waadtlandes zu der infolge der Burgunderkriege selbständig und unabhängig gewordenen Stadt Genf in den 40er und 50er Jahren Calvin faktisch der Lehrer und Berater der evangelischen Pfarrer und Gemeinden unter Berner Herrschaft geworden war. Virets vielseitige Veröffentlichungen zeigen eine außergewöhnlich gute Kenntnis theologischer Werke, aber auch der klassischen Literatur. Quellen 1. Auswahl der wichtigsten Drucke des 16. Jh.: Exposition des articles de la foy Sc Religion Chrestie[n]ne, qu'on appelle communément le Symbole des Apostres. Contenenat le sommaire de la doctrine Apostolique, Genf 1543. - Admonition et consolation aux fideles, qui deliberent de sortir d'entre les Papistes, pour eviter idolotrie, contre les tentationes qui leur peuvent advenir, o.O. 1547. - De la communication des fideles qui cognoissent la verde de l'Evangile, o.O. 1547; lat.: De communicatione fidelium, quibus cognita est veritas Evangelii, Genf 1551. - Remonstrances aux fideles, qui conversent entre les Papistes, Genf 1547. - De origine veteris et novae idololatrie libri quinque, Genf 1552. - La Physique papele, faite par maniéré de deuis, et par dialogues, Genf 1552. - Disputationes Chrestiennes, Genf 1552. - Le Requescant in pace de purgatorire, fait par dialogues, en maniéré de deuis, Genf 1552. - L'office des mortz, fait par dialogues, en maniéré de deuis, Genf 1552. - La Necromance papale faite par Dialogues, en maniéré de deuis, Genf 1553. - De origene, continuatione, usu, autoritate atque praestantia Ministeril verbi Dei et Sacramentorum, Paris 1554. - Pet. Vireti de vero verbi Dei, Sacramentorum [et] Ecclesia ministerio lib. 2. De adulterinis Sacramentis lib. 1, Oliva 1555. - Satyres chrestienes de la cuisine papale, o.O. 1560. - Le Monde à l'empire et le monde démoniacle, fait par dialoges, Genf 1561. - Introduction chrestienne en la doctrine de la loy et de l'evangelie, Genf 1563. - De Testât, de la conférence, de l'autorité, puissance, prescription, et succession tant de la vraye que de la fausse Eglise, depuis le commencement du monde, et de Minstres d'icelles, Lyon 1565. - L'intérim, fait par dialogues, Lyon 1565. - La Metamorphose chrestienne, Genf 1592. 2. Kritische Ausgaben: Eine GA fehlt. Krit. Ausg. liegen nur von wenigen Sehr. vor. Jean Barnaud (Hg.), Quelques lettres inédites de Pierre Viret. Publ. avec des notes hist. et biographiques, Saint-Amans 1911. - L'intérim fait par dialogues de Pierre Viret. Éd. critique par Guy R. Mermier, New York 1985. - Défense de Guillaume Farel et de ses collègues contre les calomnies du théologastre Pierre Caroli par Nicolas des Gallars ( = Prof G. Farello et collegis eius adversus Pétri Caroli theologastri calumnias defensio Nicolai Galasii), avec diverses lettres de Calvin, Caroli, Farel, Viret et autres documents. Trad. et présentés par Jean François Gounelle, 1994 (EHPhR 73). Literatur Jean Barnaud, Pierre Viret. Sa vie et son œuvre (1511-1571), Saint-Amans 1911 Nachdr. Nieuwkoop 1973. - Roger Barillier, Viret Banni. Drame hist. en 3 actes et 7 tableaux, Lausanne 1970. - Georges Bavaud, Le réformateur Pierre Viret (1511-1571), Genf 1986. - Wilhelm Bernoulli, Das Diakonenamt bei P. Viret, Greifensee 1958. - Michel Campiche, Le réforme en Pays de Vaud. 1528-1619, Lausanne 1985. - Charles Chenevière, Farel, Froment, Viret. Réformateurs religieux au XVIe siècle, Genf 1835. - Jaques Courvoisier, Quelque traits de la personnalité de Pierre Viret (1511-1571): Gottesreich u. Menschenreich. Ernst Staehelin zum 80. Geburtstag, hg. v. Max Geiger, Basel 1969, 121-136. - Études de poésie latine d'Horce à Pierre Viret, Lausanne 1991 (Études des Lettres 1991/2). - Olivier Favre, Pierre Viret et la discipline ecclésiastique: La Revue reformée 49 (1998) 55-75. - Edmond Grin, Deux sermons de Pierre Viret, ThZ 18 (1962) 116-132. - Henri Jaquemot, Viret, reformateur de Lausanne, Straßburg 1936. - Wilhelm Kolfhaus, Pierre Viret: ThStKr 27 (1914) 54-110. - Robert D. Linder, The Political Ideas of Pierre Viret, Genf 1964. Ders., Pierre Viret and the Sixteenth-Cetury French Protestant Revolutionary Tradition: JMH 38 (1966) 125-137. - F.-V. Massias, Essai hist. sur Pierre Viret. Reformateur du pays de Vaud, Paris 1900. - Henri Meylan, Pierre Viret. Quatre sermons françois sur Esaïe 65, Lausanne 1961. - Ders./ M. Guex, Viret et M . M . de Lausanne: Revue hist. Vaudoise 69 (1961) 113-173. - Ders./Alain Dufour/Jean-François Bergier, Pierre Viret. 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Vision I

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Viret: Zwing. 11 (1961) 3 2 1 - 3 3 4 . - Ders., Art. Viret, Pierre: R G G 3 6 (1962) 1406 f. - Markus Ries, Art. Viret, Pierre: LThK 3 10 (2001) 802. - Bernard Roussel, Pierre Viret en France: BSHPF 144 (1998) 8 0 3 - 8 3 9 . - Charles Schmidt, Wilhelm Farel u. Peter Viret nach hsl. u. gleichzeitigen Quellen, Elberfeld 1860. - Dominique-A. Troilo, L'ceuvre de Pierre Viret: BSHPF 144 (1998) 7 5 9 - 7 9 0 . - Art. Viret: Schweizer Lexikon 12 (1999) 68 f.

Markus Wriedt

Vision I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Neues Testament V. Kirchengeschichtlich VI. Praktisch-theologisch

S. 124 S. 129 S. 133 S. 137 S. 148

I. Religionsgeschichtlich 1. Allgemeines 2. Stammesgesellschaften Antike 5. Indoiranische Religionen 6. Islam psychologie und Vision (Literatur S. 122)

3. Alter Orient 4. Griechische und römische 7. N e u e Religiöse Bewegungen 8. Religions-

1. Allgemeines Neben dem -»Traum und anderen Rastern des Offenbarungsempfanges (—»Offenbarung) ist die Vision eine Grundgegebenheit der Religionsgeschichte, deren Erfahrungsmuster sich transkulturell signifikant wiederholen. Eine erste Typologie der Vision kann unterscheiden zwischen a) einer zeitlich begrenzten, unvorbereiteten visuellen (oft auch akustischen) Erfahrung unter Beibehaltung der „normalen" Außenwahrnehmung, b) einer zeitlich begrenzten, durch -»Askese, -»Gebet, -»Meditation, -»Fasten, -»Tanz, Atemtechniken, Musik, Sinnesentzug oder bewußtseinserweiternde Substanzen vorbereitete visionäre Erfahrung ebenfalls unter Beibehaltung der Außenwahrnehmung (a und b heißen auch „Erscheinung" oder Epiphanie), c) bzw. d) einer zeitlich begrenzten Erfahrung unter weitgehender oder völliger Ausblendung der Außenwelt ebenfalls ohne und mit gezielter Vorbereitung sowie e) als „visionäre Existenz", als zeitlich nicht begrenzte Erfahrungsweise, bei der sich „normale" und visionäre Wahrnehmung fast ständig mehr oder weniger überlappen (ohne für den Visionsempfänger sachlich ununterscheidbar zu werden). Definierend ist das optische Element (zumal reine Lichterscheinungen sehr häufig sind; -»Licht und Feuer), doch kann das akustische Element (auch als reine Audition) zentraler Bedeutungsträger sein. Auch andere, z. B. olfaktorische und taktile Sinneseindrücke spielen eine Rolle, neben Synästhesien. Phänomenologisch ist der Übergang zur Halluzination (d.h. zur wahnhaften Wahrnehmung) fließend, doch wissen Visionsempfänger im allgemeinen, daß ihre Schauung nur für sie wahrnehmbar ist (zu weiteren Unterschieden s.u.). Im Gegensatz zu einem abaissement du niveau mentale (Absenkung des Bewußtseinsniveaus) mit halluzinatorischen Eindrücken wird die Vision von ihren Empfängern als Erfahrung großer Klarheit und gehobenen Bewußtseins geschildert, deren Auslöser meist als exogen erlebt wird. Neben punktuellen Visionsbildern stehen lange Bildsequenzen, die oft die Form visionärer Seelenreisen annehmen. Übernatürliche bzw. „jenseitige" Wirklichkeit erschließt sich in zahlreichen Religionen fundamental in der Vision; vor allem ereignen sich die Gründungs- und Ursprungswiderfahrnisse vieler Religionen (etwa auch des Christentums) im Modus der Vision. Im Gegensatz zu modern-westlicher Wahrnehmung sind Visionen nicht selten; sie gehören zur fundamentalen, etablierten Wirk-

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Vision I

lichkeitserschließung der meisten Gesellschaften, im allgemeinen, ohne ihre Empfängerinnen und Empfänger in ihrer Fähigkeit zur Bewältigung nichtreligiöser Lebensvollzüge unvorteilhaft zu beeinträchtigen. Insofern wird die Pathologisierung der Vision in modernen Gesellschaften sozialempirisch widerlegt. Ähnlich dem „zweiten Gesicht" ist die visionäre Begabung auffällig oft erblich. Was den modern-westlichen Betrachter am meisten überrascht - der mit Visionen eher „irrationale" Erfahrungen verbindet - sind Rationalität, klarer Bedeutungsbezug (Eindeutigkeit) und strikte Traditionsverbundenheit der visionären Bildsprache in den meisten Kulturen. Obwohl die visionäre Erfahrungswelt an transkulturelle Substrate rührt, ist sie doch ohne Frage auch in wesentlichen Teilen erlernt. In vielen Kulturen ist die Vision in religiöse Rituale (-»Ritus) eingebunden und insofern keine einsame Erfahrung. Gerade dieser kulturelle, religiöse und soziale Rahmen gibt der Vision ihre „Bedeutung" und macht sie zu einem Teil des sozialen Lebens, oft in einem eigenen „Sehertum" institutionalisiert. Andererseits existiert visionäre Spiritualität oft in Spannung zu „offizieller Religion". Bestimmte Typen der Vision sind in vielen Kulturen verbreitet: die lichthafte Erscheinung eines Numens (Gottheit, -»Heilige, -»Engel u.ä.), die Schau früherer Leben, die Jenseitsreise, die „Vision der kosmischen Totalität" (für einen Augenblick meint der Visionär, den Kosmos bzw. die Menschenwelt als ganze zu sehen) u.a. Zwischen -»•Mystik und Vision ist zu unterscheiden (vgl. schon W. -»James): Viele Visionen (z.B. Jenseitsreisen) sind durchaus unmystisch (d.h. sie gehen nicht mit einer Verschiebung der Persongrenzen einher), während viele Mystiker Visionen skeptisch gegenüberstehen (bzw. in ihnen nur eine mindere spirituelle Erfahrung sehen). 2.

Stammesgesellschaften

Manche Führungspersönlichkeiten der tribalen Gesellschaften im Schatten des Kolonialismus und der amerikanischen Westexpansion haben ihre religiöse Energie aus Visionen (und Träumen) bezogen, die damit zu politischen Schlüsselereignissen der Geschichte dieser Völker geworden sind. Breit rezipiert wurde etwa die durch John G. Neihardt niedergeschriebene Autobiographie des indianischen Visionärs Black Elk (1863-1950), eines Führers der Lakota (Oglala Sioux), der 1887 auch vor Königin Victoria sprach. Dieses Buch gilt als der einflußreichste Text indianischer Literatur im 20. Jh. In vielen indianischen Kulturen (vgl. T R E 2,434f.) ist es zu einer engen Verbindung indigener visionärer Tradition mit christlichen Elementen gekommen (vgl. McCormick und Sallmann über den mexikanischen Raum - erstes Beispiel ist die Schau der „Jungfrau von Guadelupe" durch einen Indianer 1531). In der Native American Church (gegründet 1906) wird dabei der stark halluzinogene Peyote-Kaktus (Lophophora williamsii) sakramental einbezogen, seit 1966 mit gesetzlicher Sonderregelung für den Gebrauch der sonst in den USA verbotenen Droge. Im Gegensatz zu den kataleptischen Trancevisionen der christlichen Tradition kennt der nordasiatische -»Schamanismus auch kinetische (d.h. durch Tanz und Musik etc. bewirkte) Trance. Dabei nehmen Seelenreise und Schau einer oder mehrerer Helferfiguren (oft in Gestalt von Tieren oder großer Schamanen der Vergangenheit) einen zentralen Platz ein. Daneben treten die Suche nach sowie Kommunikation (gelegentlich auch Kampf) mit numinosen Mächten. Oft entfaltet sich in der Vision eine ganze „Seelenlandschaft", die der Schamane durchreist (vgl. als Eigenbericht z. B. das 1884 vollendete sibe-mandschurische Schamanenbuch, herausgegeben von G. Stary). Während die schamanistische Initiation oft im Traum geschieht, ist der wiederholbare Modus des Umgangs mit der Geisterwelt vor allem die rituell induzierte Vision mit klar definierten Funktionen im sozialen Umfeld. Die Faszination durch den Schamanismus (oft mit problematischer Ausweitung des Begriffes) in der westlichen Industriekultur ist selbst ein wichtiges Faktum der westlich-modernen Religiongeschichte. Schamanistisch-visionäre Erfahrungen einerseits und mythologische Bildrepertoires andererseits befinden sich in einem komplexen Verhältnis gegenseitiger Wechselwirkung.

3. Alter Orient Im mesopotamischen Raum mit seiner hochspezialisierten technischen Mantik (Haruspizin, Omina etc.) spielte die Vision nur eine dieser und dem -»Traum untergeordnete Rolle. Das Tempelritual kennt den bärü(m) (AHw 2 I, 109f.), „Seher", was aber „Opferbeschauer" meint. Mythologische Katabasis-Texte (seltener Himmelfahrten) sind gut bezeugt, ohne daß ein visionärer Ursprung nachzuweisen wäre (,,A Vision of the Nether World" [ANET 109f.] aus dem 7. Jh. v. Chr. etwa ist explizit ein Traum). Hypnagoge Visionen sind öfters bezeugt, etwa vom letzten neubabylonische König Nabonid (555— 539 v.Chr.). Auch die aus Sach 4,lf. bekannte Kombination „ruckartiges Erwachen aus dem Schlaf - Vision" ist bezeugt (ANET 606 aus der Zeit Aschurbanipals). In eine gewisse Nähe zur alttestamentlichen Prophetie führt die „Mari-Prophetie" (18./17. Jh. v. Chr.), deren Offenbarungsmittler sowohl Inkubationsträume als auch Wachvisionen in Trance (meist pänu[m] „Gesicht") empfangen (ein Beispiel: TUAT II/l, 89). Das Verb „schauen" wird auch verwendet, wenn es ausschließlich um ein Hören geht, doch ist neben der Kombination Vision/Audition auch die reine Vision ohne Audition bezeugt (Eilermeier 90). Die „neuassyrischen Prophetien" (7. Jh. v. Chr.) sind wohl eher inspirativen als visionären Ursprungs (Beispiele: ANET 449-452; TUAT II/l, 5 6 - 65). In Ägypten spielen eher Epiphanien und Träume eine Rolle als Visionen im engeren Sinn, doch sind die Übergänge fließend (vgl. etwa ANET 446f. aus der Zeit Thutmosis III.). 4. Griechische und römische

Antike

Seher bzw. Seherin sind religiöse Funktionsträger und Projektionsfläche für reiches sagenhaftes Erzählgut seit alters (Teiresias, Kalchas, Melampus, Kassandra etc.), doch sind sie eher inspirierte Ekstatiker und Deuter mantischer Zeichen als Visionäre. In klassischer und hellenistischer Zeit sind Erscheinungen (Epiphanien, vgl. Pax; Frenschkowski) häufig, doch spielen Visionen (im Sinne von c und d [vgl. oben 1.]) nur eine periphere Rolle. Manche Erzählung von (leiblichen) Entrückungen und Himmelfahrten kann auf Visionen zurückgehen, aber Sicherheit ist oft nicht zu gewinnen. Der Eleate Parmenides (um 500 v. Chr.) schildert seine philosophische Wahrheitssuche als Himmelfahrt (FVS 28 B1). Aus archaischer Zeit (6. Jh. v. Chr.) führen eine Reihe von Uberlieferungen in das motivliche Umfeld des Schamanismus: die visionäre Weltreise des Aristeas (Arimaspen-Epos) und die „Reise auf einem Pfeil" des Abaris. Seit K. Meuli gerne auf Kontake mit skythischen wandernden und heischenden Agyrten zurückgeführt, werden solche Traditionen eher Teil der Thaumatographie sein, als daß sie eine eigene griechische Visionskultur begründeten. Paradigmatisch wird dagegen die platonische Tradition resp. X.614B-621D (vielleicht nach einer orientalisch-armenischen Sage) von der visionären Katabasis des Er aus Pamphylien erzählt, der im Nah-Tod-Bereich (Er war in der Schlacht gefallen und galt als tot) ein Jenseitsgericht mit Strafen und Belohnungen sieht, ehe seine -»-Seele in den Leib zurückkehren darf. -»Clemens von Alexandrien, str. V,14,103,2-4, und -»Proclus, in remp. 11,109,7ff., identifizieren Er (nach Aristoxenos von Tarent) mit Zoroaster. Herakleides Pontikos beschreibt im 4. Jh. v. Chr. ausführlich die Erfahrungen der vom Körper ekstatisch getrennten Seele des Empedotimos auf ihrer Fahrt durch die Himmelssphären; dies wird zu einem festen Genre. In neutestamentlicher Epoche beschreibt Plutarch kosmische Visionen der vom Leib vorübergehend getrennten Seele (in der Trophonios-Höhle: gen. Socr. 589F-592B; vgl. die Nahtodvision ser. num. vind. 563B-568B und die Definition des ekstatischen Enthusiasmus Pyth. or. 397C). Die Vision wird in der Spätantike zum Vehikel philosophischer Lehrtraktate (Poimandres = Corpus Hermeticum I). Vision und Traum können sich berühren (Thessalos von Tralles [1. Jh. n. Chr.]), sind aber nicht identisch (vgl. etwa Plato, leg. X,910A). Magisch funktionalisiert werden zahlreiche Typen der Vision (meist Erscheinungen von Lichtwesen) im Zauber, für den die Quellen sehr reich fließen (Hopfner). Es werden

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Vision I

dezidierte Techniken zur Erzeugung visionärer Erfahrungen sichtbar, öfters durch einen dem Magier gegenüber abhängigen Seher (meist Kinder). Im Renaissanceokkultismus sind verschiedene dieser Techniken wieder aufgegriffen und weiterentwickelt worden (John Dee [1527-1608]), wie es auch sonst Parallelen z.B. zur Induktion von Visionen bei einem Kindermedium durch spiegelnde Flächen gibt (Tibet: de Nebesky-Wojkowitz 463f.). Umstritten ist, inwiefern die Epoptie als zentrales Geschehen der -»•Mysterien visionäre Anteile hat oder nur kultisch repräsentiert wurde. Im Neuplatonismus spielen neben ekstatischen Erfahrungen auch Visionen und Erscheinungen (exemplarisch Iamblichus, myst. 11,3-11, besonders 11,8 zur Trance) eine große Rolle und beeinflussen damit auch den christlichen Piatonismus (s.u. V). Last not least kann bereits antike Aufklärung das Motivrepertoire um Visionen, Erscheinungen, Jenseitsreisen etc. zum Gegenstand der Satire machen (Lukian). 5. Indoiranische

Religionen

In allen asiatischen Hochreligionen existiert eine reiche Visionskultur, die sowohl in volkstümlicher als auch „gelehrter" Religiosität lebt und Gegenstand vielfältiger philosophischer Reflexion ist. Ohne Frage kennt bereits die früheste indische Kultur Visionen, aber ausführliche Schilderungen bietet erst die Erzählüberlieferung der späteren Zeit. So weiß das indische Nationalepos Mahäbhärata auf seinen letzten Seiten Jenseitsvisionen des Yudhischtira zu erzählen, die sich partiell als von den Göttern geschaffene Illusionen herausstellen (Mahiprasthänika-Parvan und Svargärohana-Parvan). Die BhagavadgTtä — der Höhepunkt des Mahäbhärata - bietet als Klimax (11. Gesang) eine visionäre Theophanie Krischnas als eines weltumspannenden Allgottes, der auch die anderen Götter in sich enthält. Diese wird Arjuna durch die Gabe eines „himmlischen Auges" (11,8) ermöglicht, hat also gnadenhaften Charakter, und mündet in eine Doxologie. Häufig sind in indischer Spiritualität Visionen heiliger Männer (und Frauen), die meist als durch Askese errungen gelten. Im -»Yoga und ähnlichen Systemen eignen verschiedenen höheren Bewußtseinszuständen Visionen (Patanjali, Yogasütra 3,17ff.), die aber oft ausgesprochen kritisch gesehen werden. Eine lebendige Anschauung über visionäre Erfahrungen in der asketischen Praxis eines neuzeitlichen Yogi bietet die Autobiographie des Paramahansa Yogananda (1893-1952), die auch die biographische Einbettung der Visionen als religiöse Schlüsselerlebnisse zu erkennen gibt. Die synkretistische Frömmigkeit eines Rämakrishna (1836—1886) kennt sowohl Visionen von hinduistischen Gottheiten (Käfi) wie von Christus und Mohammed. Atemtechniken zur Erzeugung die Vision begünstigender Umstände sind nicht nur im Yoga, sondern auch z. B. im —»Hesychasmus und bei E. -»Swedenborg bezeugt. Die buddhistischen Schulen verfügen über eine komplexe Psychologie meditativer und ekstatischer Zustände, in der auch die visionäre Schau intensiv reflektiert wurde. Buddhaghosas „Weg zur Reinheit" (Visuddhi-Magga, 5. Jh., wohl Sri Lanka) - das wichtigste systematische Lehrbuch des südlichen Buddhismus - verortet den Erwerb visionärer Fähigkeiten im „normalen" Prozeß der „Sammlung" (samädhi) des Mönchs bzw. der Nonne. Diese gehören einerseits zu den niederen magischen Kräften (iddhi-vidhä), andererseits zu den spirituell wertvolleren „höheren Geisteskräften", nämlich insbesondere das „himmlische Ohr" (dibba-sota), die Kardiognosie (Herzensschau, parassa-cetopariya-nätia), die Erinnerung an frühere Daseinsformen (pubbe-niväsänussatinäna) und schließlich das „himmlische Auge" (dibba-cakkhu, vgl. die oben genannte Passage in der BhagavadgTtä, wo der gleiche Ausdruck im Sanskrit-Äquivalent steht). Visionäre Fähigkeiten sind hier das eher beiläufige Ergebnis geregelter Meditation (nicht etwa ihr Ziel); die Techniken ihres Erwerbs werden detailliert beschrieben. Bekanntes Paradigma sind die Visionen Buddhas vor seiner Erleuchtung. Energisch wird vor Verstrickung in Illusionen oder magischem Mißbrauch gewarnt (der Zen-Buddhismus ist generell visionsfeindlich eingestellt). Als Resultat karmischer Ursachen erscheinen Visionen z.B. in dem ab etwa 1960 auch im Westen breit rezipierten „tibetischen Totenbuch" (-»Traum

Vision I

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1.3.), und zwar sowohl als Erfahrungen von Lebenden als auch im Zwischenzustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Kennzeichnend ist für den ganzen indischen Raum das Oszillieren zwischen Illusion, Vision und „Wirklichkeit". Die berühmte Episode vom späteren Buddha, der als Königssohn zum ersten Mal einen kranken, alten und verstorbenen Menschen sowie einen Mönch sieht und damit seine Berufung entdeckt, wird teils als äußeres Geschehen, teils als Erscheinung (die vier Männer sind verkleidete Götter), teils als Vision Buddhas erzählt (O'Flaherty 149-151). Die Nähe der Vision zur Illusion erschließt damit den illusionären Charakter profaner „Wirklichkeit". Die Jenseitsreisen und apokalyptischen Visionen in iranischer Überlieferung haben zum Teil traditionsgeschichtliche Bezüge mit jüdischen Zeugnissen, obwohl sie wie Ardä Wiräz Nämag meist erst in sassanidischer (3.-7. Jh. n. Chr.) oder sogar islamischer Zeit niedergeschrieben wurden. 6. Islam Mohammed trat zuerst im Stil eines altarabischen kähin auf, eines Sehers, der mit verdecktem Haupt (vgl. Ex 34,33-35) visionäre Bilder schaut (z. B. Mas'üdl = Mafoudi III, 379.394f.), jedoch vor allem inspirierte Orakelweisung gibt. Doch emanzipiert er sich bald von dieser Rolle (Koran Sure 52,29; 69,42). Die Berufung Mohammeds geschieht in einer Vision (ru'yä) des (mit dem Heiligen Geist identifizierten) Engels Gabriel (Tabari 1147f.; wohl nach az-Zuhri; deutsch bei Watt/Welch 53£.), von der nach der Überlieferung auch Sure 96,1-5 zeugt (über Mohammeds Visionen vgl. auch Sure 53,2-19; 81,23 - 2 6 und vielleicht die Jenseitsschilderung Sure 52). Spätere Offenbarungen Mohammeds geschehen meist als Inspirationserfahrungen. Die hagiographische Imagination des Islam wird vor allem durch die „Nachtreise" Mohammeds (Sure 17,1 f.; nach SufiInterpretation auch Sure 53) bzw. seine Himmelfahrt (mi'räj, wörtlich „Leiter") angeregt, die in späterer, vielfach variierter Legende (Ibn Ishäq, K. 27f.) als Himmelfahrt auf dem Roß Buraq von —»Jerusalem aus durch die Himmelsräume bis in die unmittelbare Nähe Gottes verstanden wird, wohin nicht einmal mehr Gabriel Mohammed folgen kann. Tabari (Annales 1157f.) verlegt das Ereignis in die Anfangstage Mohammeds und denkt an eine körperliche Entrückung, während es z. B. die Mu'tazilah als Vision deuten. Im Sufismus dient diese Fahrt als Urbild des durch Fasten, Askese, Dhikr etc. vorbereiteten mystisch-visionären Seelenaufstiegs; sie ist auch ein wichtiges Thema islamischer Miniaturenmalerei. Der Einfluß populärer arabischer Visionsbücher auf -•Dante Alighieri (über den jüdischen Liber scalae, dessen lateinische Fassung von 1265 stammt) ist mehrfach behauptet worden (vgl. Cerulli; Böwering). Wie in der christlichen Mystik spielen überhaupt im Sufismus Vision (ru'yä u.ä.) und visionäre Lichtmetaphysik („mitternächtliche Sonne" als Metapher für die Gotteserfahrung) eine erhebliche Rolle. Umstritten war, ob eine sinnliche (oder nur eine intelligible) Anschauung Gottes möglich sei. Der Sufimeister Najmuddin Abü'l Jannäb Kubrä (1145-1220) z.B. hat eine einflußreiche mystische Psychologie verfaßt, welche neben der visionären Himmelfahrt auch die innere Schau farbiger Lichter als Anzeiger seelischer Zustände kennt (Fawä'ih algamäl wa-fawätih al-galäl, ed. F. Meier 1957; iranisch beeinflußt ist die Vision eines himmlischen Doppelgängers, welche auch Act 12,15 kennt). 7. Neue Religiöse

Bewegungen

Der Mormonenprophet Joseph Smith (1805-1844; -+ Mormonen) erfuhr seine Berufung als Kette zusammenhängender, sich über mehrere Jahre erstreckender Visionen (zusammenfassend aus mormonischer Sicht: Porter). Welche Rolle visionäre Erfahrungen bei der Abfassung des Buches Mormon im Detail gespielt haben, ist nicht bekannt. Doch ist gut dokumentiert, wie sich die visionäre Veranlagung Smiths aus volkstümlichen Wurzeln (Schau in „Sehersteine" zum Auffinden von Schätzen; vgl. Quinn) entwickelt hat. (Der „Salamanderbrief" [vgl. TRE 23,312,49 -313,5] ist mittlerweile definitiv als Werk des Urkundenfälschers Mark Hofmann nachgewiesen.) Im Gegensatz zur Mar-

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Vision I

ginalisierung der Vision in vielen christlichen Kirchen spielen Visionen auch sonst in zahlreichen Neuen Religiösen Bewegungen eine ausschlaggebende Rolle und stellen oft die Initial- und Berufungserfahrung der Stifterpersönlichkeit dar. Der Begründer der -»•Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861 -1925), beanspruchte nicht nur eine Schau „höherer Welten", sondern vor allem auch früherer Geburten und sogar der ganzen Erdgeschichte (Akasha-Chronik, 1904). Diese innere Schau gilt als Ergebnis esoterischer Schulung und als insofern im Prinzip allen Menschen zugänglich. Die halbvisionäre, imaginierte Schau „früherer Leben" ist nicht nur für neo-indische Religionen wichtig, sondern z.B. auch für Scientology. In anderen Gruppen spielen andere Visionstypen eine wesentliche Rolle, z. B. von Engeln oder auch Außerirdischen. 8. Religionspsychologie

und Vision

Eine pauschale Pathologisierung der Vision entspricht nicht medizinischem Kenntnisstand. Im Sinne einer modernen Diagnostik mentaler Aberrationen gehören Visionen in das Umfeld von eidetischen Halluzinationen und Derealisationsphänomenen, sind aber nicht einfach mit ihnen identisch. Körperliche Störungen können mit Visionen einhergehen (doch ist z.B. unter Epileptikern der Anteil derer, die über gelegentliche visionsähnliche Erfahrungen berichten, nicht signifikant größer als in gleich großen Kontrollgruppen), ebenso mentale Störungen (Psychosen), aber auch z.B. Migräneanfälle (für -»Hildegard von Bingen plausibel). Auch ohne Frage in jeder Hinsicht gesunde Menschen erleben Visionen (die sie als solche gegenüber ihrer sonstigen Erfahrungswelt abgrenzen können), allerdings mit signifikanten Unterschieden in verschiedenen Gesellschaften. Wesentliche Fortschritte brachte einmal die Erkenntnis, daß Nahtod-Erfahrungen und Out-of-body-experiences eine fundamentale Affinität zu verschiedenen Visionstypen besitzen (Zaleski) und daß andererseits visionsähnliche Zustände durch Drogengebrauch (-»Drogen) induziert werden können. Damit ist die religiöse Exklusivität der Vision gebrochen. Erfahrungen wie „Süßigkeit" und chromatische Lichthaftigkeit der visionären Schau haben ohne Frage auch ein physiologisch-neurologisches Äqnivalent (z.B. dürfte die cerebrale Synthese von y-Endorphinen eine Rolle spielen). Mit großer Breitenwirkung hat Aldous Huxley (1894-1963) in The Doors of Perception (1954) und Heaven and Hell (1956) anhand eigener Meskalinexperimente eine umfassende Apologetik des realitätserschließenden Charakters von Visionen vorgelegt und dazu auch den relativen Wert von halluzinogenen Drogen verteidigt (vgl. schon William James). Eine ins Visionäre offene sacramentai vision ofreality (Huxley) bleibt ein wichtiges Thema westlicher religiöser Sehnsucht. Drogengebrauch als Zugang zu visionärer Schau ist z. B. auch in Indien, im vorislamischen Iran (Cannabis sativa, vielleicht auch Hyoscyamus niger u.a.) oder im nordasiatischen Schamanismus (Amanita muscariau.z..) weit verbreitet gewesen, doch spielen Fasten, Sinnesentzug u.ä. eine größere Rolle. Schließlich ist die Vision Gegenstand einer breiten parapsychologischen Forschung (vgl. kritisch Beyerstein), deren Materialsammlungen und Ergebnisse bisher weder von der Theologie noch von der Religionswissenschaft umfassend gewürdigt worden sine. Literatur Zu 1.: Martin Buber (Hg.), Ekstatische Konfessionen, Jena 1909; hg. v. Paul R. Mendes-Tlohr, Heidelberg J 1984. - Hilda Ellis Davidson (Hg.), The Seer in Celtic and Other Traditions, Edinburgh 1989. - Mircea Eliade, Significations de la „Lumière Intérieure": Erjb 26 (1957) 189-242. - Aatoon Geels, Extatisk religion. Ett bidrag tili mystikens psykologi, Lund 1990. - Felicitas Goodmar, Art. Visions: EncRel(E) 15 (1987) 2 8 2 - 2 8 8 . - Wilhelm Keilbach/Victor Maag/August Strobel, Ait. Vision: RGG3 6 (1962) 1409f. - Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, TüHngen 1933 2 1956 4 1977, bes. § 86,2. - Ioan Myrrdin Lewis, Ecstatic Religion. An Anthropological Study of Spirit Possession and Shamanism, Harmondsworth 1971 London 2 1989 = 1993. - Traugott Österreich/Hermann Gunkel, Art. Vision: RGG2 5 (1931) 1595-1599. Zu Z.: Peter R. Gerber, Die Peyote-Religion. Nordamerik. Indianer auf der Suche nach einer Identität, Zürich 1980. - Serge Fayard Gruzinski, Délires et visions chez les Indiens du Mexique:

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Vision II

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II. Altes Testament 1. Vision und Prophetie 1. Vision und

2. Vision und nichtprophetische Literaturformen

(Literatur S. 127)

Prophetie

In Spannung zu einer im Protestantismus gerne für das Alte Testament hervorgehobenen „Theologie des Wortes" sind Schauungen und andere Intensivformen religiösen „Sehens" im alten Israel nicht selten (Übersicht: Lang, Sehen; —»Propheten/Prophetie II). Das Alte Testament beschreibt das visionäre Sehen mit den Verben rä'äh und häzäh. Ersteres ist auch das reguläre Lexem für das profane, körperliche Sehen, letzteres überwiegt in poetischer Sprache und hat stärker „technischen" Charakter (vgl. Fuhs [1993] 260). Der „Seher" heißt ro'ceh (oft von Samuel: I Sam 9,9.11.18f.; I Chr 9,22; 26,28; 29,24; sonst Jes 30,10 u.ö.) und hozah (II Sam 24,11; II Reg 17,13; Jes 29,10; 30,10; Am 7,12; Mi 3,7; I Chr 21,9; 25,5 u.ö.); beide Worte sind offenbar bedeutungsgleich. Nach I Sam 9,9 wäre ro'ceh älteres Synonym für näbi', „Prophet" (zur Kontinuität zwischen Sehern und Propheten vgl. auch Jes 30,10). Schon die alten Seher haben Visionen (Num 24,3f.; I Sam 9; 24,11). Mit der prophetischen Bewegung werden diese zu einem Strukturelement religiöser Erfahrung. „Schauung" (häzori) wird zu einem Kennwort der Prophetie, etwa in Buchüberschriften (Jes 1,1; Ob 1,1; N a h 1,1 vgl. II Chr 9,29 und nachkanonisch äthHen 37,1; Ascjes 6,1 auf 6 , 1 - 9 , 4 0 bezogen), und kann auch reine Wortoffenbarungen meinen. Daneben existieren weitere synonyme substantivische Ableitungen von beiden Wurzeln. „Gott ließ mich sehen" wird zu einem Signal prophetischer Ansprüche (Am 7,1.4.7; Jer 1,11.13 etc.). Israel partizipiert damit an Mustern des Offenbarungsempfanges, die es mit seiner Umwelt teilt. Welche Rolle Visionen bei den frühen ekstatischen Prophetengruppen (I Sam 10.19; II Reg 4.6.9 etc.) spielten, wissen wir nicht genau, aber die Induktion rezeptiv-ekstatischer Bewußtseinszustände durch Musik und —>Tanz bezeugt I Sam 10,5.10. Elia wird als Kenner dezidiert ekstatischer Techniken des Visionsempfanges (I Reg 1 8 , 4 1 - 4 6 vgl. 1 9 , 4 - 1 8 ) geschildert. Die Ho-

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rebtheophanie I Reg 19,11 f. stellt Jahwe vielleicht in Kontrast zu Wettergöttern wie Baal-Hadad, legitimiert aber vor allem das politische Handeln der Jehu-Revolution durch Rückbezug auf die Sinai-/Horebtradition (I Reg 1 9 , 1 5 - 1 8 ) , welche sich in der persönlichen Vision des Propheten vergegenwärtigt. Dem Seher werden auch clairvoyante und kardiognostische Fähigkeiten nachgesagt (z.B. II Reg 5,26; 6,12; vgl. 4,27). Bereits Arnos als erster Schriftprophet kennt Visionszyklen (Visionspaare: Am 7 , 1 8.9 und 8 , 1 - 2 . 3 ) , aber offenbar noch keine förmliche Berufungsvision (die auch bei —»Hosea, -»Micha etc. nicht sichtbar wird). Hosea bietet keine Visionsberichte (doch siehe Hos 12,11). In der triadischen Zuweisung religiöser Funktionen in Jer 18,18 wird vom Propheten das „Wort" (däbär) erwartet, aber die ekstatische Berufung mit Vision und Audition (vgl. besonders I Sam 3) gehört offenbar doch seit alter Zeit zur Legitimation des Propheten hinzu (anders z . B . I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ) . Die spätere Zeit kennt zwei Typen von Berufungsvisionen (Zimmerli, Ezechiel; zur Diskussion vgl. T R E 5,677f. sowie Habel): 1) die „Zwiesprache mit G o t t " (Jer 1 , 4 - 1 0 mit 1 1 - 1 9 ) und 2) die Thronsaalvision mit Beauftragung des Propheten. Ekstatischer Ort der Berufung -»Jesajas (Jes 6 , 1 - 1 3 ) ist das himmlische Heiligtum (Jahwe-Königsund Zebaoth-Titulatur), in das dieser offenbar visionär aus dem irdischen Heiligtum „hinüberwechselt" (theophaniale Motive). Besonders aufschlußreich ist die eher beiläufig berichtete Thronsaalvision des -»Micha ben Jimla (I Reg 22; vgl. II Chr 1 8 , 1 - 1 9 , 3 und Josephus, Ant 8 , 3 9 8 - 4 2 0 , besonders 406). Das Motivfeld um Götterversammlung bzw. himmlischen Thronrat, welches den Propheten wohl schon als mythologische Rahmenvorstellung vorgegeben ist, wird in der visionären Schau stabilisiert. Bei —»Deuterojesaja wird diese Situation in Form fiktionaler Gerichtsszenen im himmlischen Thronrat weitergeführt (Jes 4 1 , 1 - 5 . 2 1 - 2 9 ; 4 3 , 8 - 1 3 ; 4 4 , 6 - 8 ; 4 5 , 2 0 - 2 5 ; in der Berufungsszene 4 0 , 1 - 1 1 nur angedeutet), die schon eher theologische Metapher als mythologischer Gegenstand visionärer Schau sind. Gemeinsam ist allen Berufungen das Überwältigtwerden durch Jahwe (Am 3,8; Jer 20,7 etc.), welches Initiative und Freiheit des Propheten nicht ausschließt. Ein einfacher Typ der Vision schließt das Offenbarungsgeschehen an das äußere Sehen eines zum Sinnbild werdenden Gegenstandes an (Obstkorb Am 8,1; Mandelzweig und Kessel Jer 1,11.13; Feigenbäume Jer 2 4 , 1 - 1 0 ) . Auch die Vision im engeren Sinn kann sich auf ein einfaches Bild mit Deutung beschränken (Am 7 , 1 - 9 , 6 vorherrschend), wobei diesem Bild auch mythologische Wucht eignen kann (Urflut, Gottesfeuer). Die Deutungstechniken stammen wohl aus der Traummantik. Später werden die Szenerien immer ausführlicher (s.u.). Ein profaner Bezug der Gattung Visionsbericht besteht u.a. zur Späher- und Wächtermeldung (Jes 2 1 , 1 - 1 0 ) . Die Funktionen prophetischer Visionberichte sind unterschiedlich: Jer 1 und Ez 1 - 3 haben kompositorisch Signalwirkung für die Gattung „Prophetenbuch", während Jes 6 vielleicht eher gegenüber dem Jüngerkreis des Propheten den Charakter seiner Botschaft legitimiert (die Einheit Jes 6 - 8 ist nachjesajanisch komponiert). Der Legitimation des Propheten in aktueller Konfliktsituation dürften eher unseren Berichten vorausliegende Traditionen gedient haben (vgl. T R E 5 , 6 8 1 - 6 8 3 ) : Unmittelbar autobiographische alttestamentliche Visionsberichte besitzen wir nicht. Vision und Inspiration ergreifen den Propheten bis ins Körperliche (Jes 8,11; Ez 3,15; Hab 3,16; Dan 10,8 etc.), wobei sie zunehmend Kennzeichen einer das ganze Leben umfassenden prophetischen Existenz (Jeremia, Ezechiel) werden und nicht nur einen zeitlich befristeten Auftrag legitimieren (Arnos). Später sind Fasten und Gebet das wichtigste asketische Mittel der Vorbereitung auf den Visionsempfang (Daniel; IV Esra etc.). Unangemessen ist die Vergleichgültigung des visionären Sehens der Propheten (so Albertz I, 279; vgl. hingegen von Rad 71). Auffällig ist, daß die Gottesschau nicht zum Auslöser spekulativer Theologie (Ansätze hierzu erst bei Ezechiel) oder mystischer Suche nach erfahrbarer Gottesnähe wird. Das Motivfeld Vision wird zunehmend zum literarischen Topos. Von den vier großen Visionskompositionen des Ezechiel-Buches ( 1 , 1 - 3 , 1 5 ; 8 - 1 1 ; 3 7 , 1 - 1 4 ; 4 0 - 4 8 ) ist zumin-

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dest der „Verfassungsentwurf Ezechiels" fiktional (und wegen des fehlenden Hohenpriesters wohl noch exilisch): Die Vision wird zur Ausdrucksform einer visionär-imaginativen Theologie in sachlicher Nähe zur Utopie. Vielleicht sind auch Bildworte zu Visionen ausgestaltet worden (vgl. Ez 37,11 mit 37,1-14; Jer 15,16 mit Ez 3 , 1 - 3 ; Jes 7,20 mit Ez 5). Ezechiel selbst sieht visionär die Herrlichkeit Jahwes aus dem Jerusalemer Tempel ausziehen (Ez 11) und in Babylon (schon bei seiner Berufung 593 v. Chr.) erscheinen (Ez 1 - 3 ) . Seine Schau einer Belebung von Totengebeinen Ez 37 oszilliert zwischen wörtlichem und allegorisch-politischem Verständnis; im späteren Diasporajudentum sollte dieser Text ein wichtiger identifikatorischer Haftpunkt werden (Fresken von Dura-Europos). Bei Jeremia dagegen wird das visionäre Element durch theologische Reflexion zurückgedrängt (doch dürften Stellen wie Jer 4 , 2 3 - 2 6 visionär veranlaßt sein). Nachexilisch wird eine vitale visionäre Religiosität bei —»Sacharja sichtbar, die mit ihrem leichten Wechsel zwischen irdischer und himmlischer Welt, ihrer eschatologischen Akzentsetzung u.a., nicht zuletzt in der kompositionellen Geschichte des Sacharja-Buches von der Prophetie zur Gattung —»Apokalyptik hinüberführt. Die Nachtvisionen Sach 1,7-6,8 (die ursprüngliche Zugehörigkeit von 3 , 1 - 1 0 ist umstritten) folgen herkömmlichen Mustern, doch tritt bereits ein Deuteengel (Angelus interpres) in die Mitte des Offenbarungsvorganges (vgl. schon Ez 40,3 u.ö.). Apokalyptischer Visionsstil ist innerkanonisch in Dan 7 - 1 2 greifbar. Die Thronsaalvision findet ihre Fortsetzung in äthHen 14 und führt in die jüdische Merkaba-Mystik (s.u. III), während äthHen 1 4 - 3 6 die ältesten visionären (kosmischen) Jenseitsreisen der erhaltenen jüdischen Literatur bietet. Das veränderte Selbstverständnis der apokalyptischen Vision äußert sich nicht zuletzt in aufwendig konstruierter Pseudepigraphie (die nicht einfach Fortschreibung eines Prophetenbuches ist), einem neuen Geschichtsbild (Geheimhaltungsbefehl der Vision: Dan 8,26; 12,4 vgl. 7,28) und breit entfalteten Visionen mit allegorischen und mythologischen Zügen. 2. Vision und nichtprophetische

Literaturformen

Visionäre Erfahrungen werden neben den Propheten auch von anderen Gestalten israelitisch-jüdischer Geschichte ausgesagt. Schon der Jakobzyklus (Gen 2 7 - 3 3 * ) sammelt Sagengut, das vielfach von visionären, traumhaften Erscheinungen im Umfeld der Vision an heiligen und dämonischen Plätzen berichtet (Gen 28,10-22; 32,23-33 vgl. Ex 4,24-26; Gen 32,2f. vgl. I Chr 12,23). Der Empfang der Bundesverheißung Gen 15 wird durch die Verse 1 und 12 vielleicht in einer Trancevision des -»Abraham verortet. Einer (kultischen?) Aufwertung der Laien dient die Vision der Ältesten Ex 24,1.9-11. Einen wichtigen Platz in der Komposition des Pentateuch nehmen neben den Erscheinungen vor -»Mose auch die Visionen im Bileamzyklus Num 2 2 - 2 4 ein (24,17ff. eschatologisierte Königsideologie?), deren Vorgeschichte durch den Bileam-Text von Deir 'Alla (TUAT II/l, 138-148) erahnbar wird. Num 24,3f. ist dabei zentral für die Psychologie der Trancevision mit „geöffneten Augen" (die Septuaginta macht daraus eine Traumvision; vgl. zur Sache II Reg 2 , 9 - 1 8 ; 6,17.20; auch Gen 3,7; 21,19). Im Text von Deir 'Alla heißt ->Bileam 's hzh 'Ihn „Seher der Götter" (altaram. hzh „Seher", auch in der Zakir-Inschrift KAI 202), wobei aber wohl an Nachtgesichte gedacht ist. Num 22,22-36 kennt das Motiv der größeren Sensibilität des Tieres für die Gegenwart des Numens. Der ganze Zyklus dokumentiert nachhaltig die Internationalität des prophetischen Sehertums, aus dem heraus auch großenteils die Formenwelt der prophetischen Visionen stammen wird. In der rückblickenden Heilsgeschichte der Pentateuchkomposition kommt dem über die Vision hinaus entgrenzten „Sehen" Gottes eine grundsätzliche Bedeutung für die konstituierenden Anfänge Israels zu (Ex 14,13.31; 19,4; 20,22; 24,10; 34,35; Num 14,22f.; dazu Blum, Studien 16f.), welches sich in der „Herrlichkeit Jahwes" eine epiphaniale (manchmal eher statische, manchmal eher dynamische) Konzentration schafft. In der Großkomposition Pentateuch nehmen die Sinaitheophanien einen zentralen Platz mit

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Zügen einer Massenvision ein (Ex 1 9 f . * ; 2 4 , l * . 9 - l l ; 2 4 , 1 5 b - 1 8 a ; 3 3 ; 34). Am Gottesberg wird in solcher Rückschau die Exodusgruppe der numinosen M a c h t ihres Gottes gewahr. Die Sinaitheophanie wird allerdings von keinem vorexilischen Propheten erwähnt (doch vgl. H a b 3,3; später vgl. M a l 3,22). Alt ist das Motiv, daß Gott unmittelbar zu sehen den Tod nach sich zieht (Gen 32,31; E x 19,21 f.; 33,20.23; J d c 6,22f.; 13,22; Jes 6,4f.; dagegen Asels 3,8f.); in anderen Traditionen sind die Folgen ungeschützter Gottesschau Blindheit und Wahnsinn, worin sich das Tremendum-Element der Gottheit ausdrückt. D o c h hat man in erzählender Literatur keine Hemmung, von Epiphanien (z. B. J o s 5 , 1 3 15) oder verborgenen Epiphanien (z. B. Gen 18 f.) zu erzählen, die aber kaum als Zeugnisse von Visionen gelten können. In der Gesamtkomposition des Pentateuch konzentriert sich der visionäre Offenbarungsempfang auf Mose. Seine Berufung Ex 3,1-4,18 nimmt Elemente einer Wachvision auf. Ex 6 (P) dagegen beschreibt den Modus des Offenbarungsempfanges nicht. In Ex 3 , 1 - 6 (vgl. Gen 46,2-4) wird dabei eine ältere Kultentdeckungssage zur prophetischen Berufung mit Kundgabe des Jahwe-Namens ausgebaut, während Ex 6,1-12; 7 , 1 - 7 denselben Stoff zum Offenbarungsdialog mit ausführlicher Legitimation -»Aarons gestaltet. In ältester Tradition verdankt die Exodusgruppe ihrer Befreiung durch Mose vielleicht die Bekanntschaft mit Jahwe (vgl. Hos 12,10; 13,4; Ez 20,5). Num 12,6-8 werden Traum und Vision (mar'ah) der direkten Gottesschau des Mose subordiniert, d.h. die Prophetie der Tora untergeordnet. Im Kontext der Tora wird Mose damit zum zentralen Offenbarungsempfänger und -garanten aufgewertet, der (und damit die Tora) kategorial aller späteren Prophetie vorgeordnet bleibt. Traum und Vision erscheinen auch sonst gelegentlich zusammen (Joel 3,1; Dan 1,17; 7,1 vgl. Jes 29,7), werden aber sachlich klar differenziert (in Sach 4,1 weckt der Engel den Propheten zum Visionsempfang!). Ihre Nähe ist durch das Phänomen luzider Visionen gegeben (vgl. dazu schon die sumerischen Parallelen TUAT II/l, 31.33). Das Vorstellungsgeflecht um die Theophanie folgt formal vielfach dem Muster einer Vision (Scriba; J. Jeremias) und entfaltet eine eigene Ästhetik (von Rad). M i t eschatologischer Geistbegabung (Joel 3,1 f. vgl. Num 11,29) geht die Ausweitung des visionären Charismas auf das ganze Volk einher (vgl. die eschatologische Schau Gottes Jes 17,7 bzw. des Heilskönigs 33,17 etc.). Diese Hoffnung gilt im Neuen Testament als erfüllt (Act 2 , 1 7 - 2 0 ) . Auch der weisheitlichen Literatur ist die visionäre Schau vertraut (Hiob 4 , 1 2 - 2 1 beschreibt eindringlich eine hypnagoge Vision, nicht etwa einen Alptraum). Prov 29,18 („Ohne Vision verwildert das V o l k . . . " ) drückt weisheitlichen Respekt vor der Prophetie aus, die aber (V. 18b) streng der Tora zugeordnet bleibt. Prov 23,33 erwähnt alkoholerzeugte Halluzinationen. Das religionspsychologische Interesse an den alttestamentlichen Visionsberichten ist gegenüber älterer Forschung (vgl. Hölscher) stark zurückgetreten, während die Sensibilität für die literarische Funktion der Berichte gewachsen ist (vgl. T R E 5,676f.). O . Keel hat zudem gezeigt, wie prophetische Berufungsvisionen in ihrem Bildrepertoire von vorderorientalischer Ikonographie beeinflußt sind. Das entspricht der allgemeinen Beobachtung, daß sich Visionen aus interkulturell variablen, binnenkulturell aber relativ stabilen Symbolwelten nähren. Schwer abzuschätzen ist der Einfluß, den Visionen ihrerseits als R a u m innovativer Erfahrung auf alttestamentliche (und überhaupt vorderorientalische) Mythologie gehabt haben, da wir die präzisen Entstehungsprozesse von Mythologie kaum je direkt greifen können. Unangemessen ist in jedem Fall die Uberbetonung einer Theologie des Wortes im Alten Testament, bei der dann Formen des „gesteigerten Sehens" vergleichgültigt würden (gegen die These eines Vorranges des „ H ö r e n s " vor dem „ S e h e n " im Alten Testament vgl. etwa Fuhs [1993] 234f.). Visionen waren integraler Bestandteil der Gotteserfahrung Israels, wenn es auch keine „gepflegte Visionskultur" wie im europäischen Mittelalter gegeben hat. Literatur Vgl. auch die Lit. in den Art. -»Berufung I, -»Theophanie. Rainer Albertz, Religionsgesch. Israels in atl. Zeit, 2 Bde., Göttingen 1992 (GAT 8). - William F. Albright, The Oracles of Balaam: JBL 63 (1944) 207-253. - Achim Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im AT. Sprachliche Eigenarten, Funktion u. Gesch. einer literarischen Gattung,

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III. Judentum 1. Antikes Judentum Literatur S. 132)

1. Antikes

2. Mittelalterliches Judentum

3. Neuzeitliches J u d e n t u m

(Quellen/

Judentum

Ähnlich wie Christentum und Islam kennt das nachbiblische Judentum ein breites Spektrum visionärer Erfahrungen einschließlich theologischer Interpretationen und skeptischer Infragestellungen derselben. Diese Visionen dienen der Übermittlung von Offenbarungswissen, oft zudem einer Wesensverwandlung in eine engelhafte Existenzweise (Bekleidungs- und Salbungssymbolik). —>Philo von Alexandrien beschreibt das Leben der Therapeuten (-•Essener und Therapeuten) als Suche nach gottgewirkter Vision (VitCont 10-12), wie sich für ihn Gotteserkenntnis überhaupt primär als nichtsinnenhafte Gottesschau verwirklicht, was er öfters an der exemplarischen Gestalt des Mose verdeutlicht (vgl. auch Ezechiel Trag.). Der Name „Israel" wird (gegen Gen 32,29) etymologisch geradezu als öpcov dedv „Gott schauend" (zu hebr. r'h „sehen") interpretiert (Philo, Congr 51; Som 1,173; Fug 208 u.ö.; ähnlich später christlich Origenes, hom. in num. 11,4 etc.), während der Begriff „Augen der Seele" in besonderer Weise seine platonische Erkenntnislehre zum Ausdruck bringt (Philo, Migr 39.165; Her 89; VitMos 2,74 u.ö.; vgl. Plato, resp. 533D; Cicero, nat.deor. 1,19), ohne daß hier Visionen in einem engeren Sinn im Blick wären. Das Sehertum als ein Substrat der Prophetie stirbt nicht völlig aus: Josephus kennt essenische und pharisäische Seher, die aber nicht als Propheten gelten (Bell. 1,78-80; 2,112f.l59; Ant. 13,311-313; 15,372-379; 17,41-45). Auch die Qumrantexte (-»Qumran) kennen Seher - wenn auch nur als literarisches Motiv und nicht in Form greifbarer historischer Gestalten (4QEschMidra 4,9; CD 2,12 etc.) - und Visionen (z.B. lQGenAp 22,27; 1QM 10,10f.). Obwohl der Buchtitel „Vision" (s.o. II) auch in Qumran belegt ist („Vision des Amram" 4Q543—548 vgl. 4Q160 u. 4Q556-558) und großes Interesse an der himmlischen Welt bestand (Rezeption der Henochliteratur [ —• Henochgestalt/Henochliteratur]), ist eine Visionspflege wie in christlichen Klöstern für Qumran nicht wahrscheinlich. Im Gegensatz zur älteren alttestamentlichen Tradition kennt die Apokalyptik eine komplexe Visionskultur mit asketischer Vorbereitung auf den Offenbarungsempfang, ekstatischen Ubergangserlebnissen und ausgeführten Visionen mit umfangreichen mythologischen, kosmologischen (auch astrologischen) und eschatologischen Inhalten. Obwohl die erhaltenen Werke in hohem Maße literarisch konstruierte theologische Dichtungen sind (vgl. Himmelfarb), ist doch gleichzeitig in manchen Fällen eine visionäre Substanz erkennbar, wobei Fasten (seltener Vegetarismus), Schlafentzug, Gebet und auch stärker „technische" Mittel der Offenbarungsinduktion bezeugt sind (vgl. zu religiösen Erfahrungen hinter den Apokalypsen Stone 3 1 - 3 3 ; Rowland 214—247). Wie allgemein im Bereich Vision dürfen Traditionsverhaftung des Bildrepertoires und visionärer Erfahrungsanhalt nicht im Gegensatz gesehen werden. Exemplarisch kann hierfür das Henochcorpus (äthHen) stehen. Alttestamentliche Visionstypen leben fort; daneben tritt als Novum die visionäre Reise durch Kosmos und Jenseits (ältester ausführlicher Beleg ist äthHen 14-36). Stellen wie äthHen 1,2; 14,8; 39,14; 62,1 etc. thematisieren den Vorgang der Vision. Asels (vielleicht christlich, doch aus jüdischen Traditionen schöpfend) erzählt einen Aufstieg durch sieben Himmel in einem kataleptischen Trancezustand, der dem Verfasser ohne Frage auch als religiöse Erfahrung bekannt war. Hermeneutisch wichtig ist die Deutungsbedürftigkeit der Vision, weshalb der Angelus interpres zum festen Requisitenbestand der Apokalyptik gehört (besonders IV Esr; griechisch-hellenistisch vgl. etwa den erklärenden Dämon bei Herakleides Pontikos, Abaris, oder die Göttin bei Parmenides, FVS 28 B 1). Auch die jüdische Apokalyptik kennt Out-of-bodyexperiences (vgl. etwa äthHen 71). Die bereits in ältere rabbinische Zeit zurückreichende Merkaba-Mystik (Textsammlung: Wewers) nährt sich aus Meditation und visionärer Vergegenwärtigung der „Herr-

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Vision III

lichkeit Gottes", wie sie in Ez 1 - 3 beschrieben ist (vgl. schon die Thronvisionen bei Ezechiel Trag., in TestLev etc.). Die Schau des göttlichen Thronwagens (Ma'ase Merkaba) wird zu einem Hauptthema jüdischer Ekstatik, in dem sich spekulative Theologie und visionäre Erfahrung ununterscheidbar die Hand reichen. Die rabbinische Überlieferung behandelt diese gesamte Materie als strikte Arkandisziplin für einen kleinen Kreis Fortgeschrittener (mHag 2,1; tHag 2,1a, vgl. 7a). Der visionär zu durchschreitende „ R a u m " zwischen Welt und Gott wird in monarchischer Symbolik in Analogie zum Schreiten durch die Vorhallen eines Kaiserpalastes bis in den Audienzsaal gesehen, wobei vielfache Gefährdungen den Visionär behindern und zu psychomentalen Katastrophen (-•Tod, Irrsinn, Häresie) führen können („Vier im Paradies": bHag 14b, vgl. 18a). Die monarchische Leitmetaphorik (Thronsaal etc.) bestimmt zahlreiche kleinere Texteinheiten, deren literarisches Verhältnis kaum mehr aufzuklären ist und in denen sich doxologische, hagiographische, mystische und magische Elemente mischen. Häufig ist eine (vor bizarren Bildern nicht zurückschreckende) Evokation der schieren Größe und M a jestät Gottes. Die komplexe literarische Überlieferung dieser Texte führt schließlich zur Zusammenstellung in sich überschneidenden Makrosammlungen: Hekhalot Kabbati („Die großen Paläste"), Hekhalot Zutarti („Die kleinen Paläste"), Ma'ase Merkaba („Werk des Thronwagens"), Merkaba Rabba („Der große Thronwagen") und das sog. 3. (hebräische) Henochbuch (vgl. TRE 15,50f.), wo Rabbi Jischmael (gestorben vor 132 n. Chr.) der Himmelreisende ist. Im Schatten der Hekhalot-Literatur und damit im Spannungsfeld zwischen Aufstiegsmystik und Offenbarungsmagie sind zwischen Spätantike und Hochmittelalter eine Reihe weiterer Texte mit Bezügen zur Erfahrungsform Vision entstanden, deren Datierung oft um mehrere Jahrhunderte divergiert: Massekhet Hekhalot („Lehrschrift von den Hekhalot"), Cbarba de-Mosche („Schwert des Mose"), Re'ujjot Jechezqel („Visionen des Ezechiel"), Sefer ba-Razim („Buch der Geheimnisse", ein Grundtext jüdischer Magie), Alpha-Beta de Rabbi Aqiba („Alphabet des Rabbi Akiba"). Nach wie vor umstritten ist, wie hoch die Kontinuität zwischen Apokalyptik und Hekhalotmystik anzusetzen ist (behauptet u.a. von Scholem und Gruenwald). Gemeinsam ist beiden Überlieferungslinien, daß die Vision nicht einfach nur übernatürlichen Erkenntnisgewinn bedeutet, sondern zumindest in Ansätzen eine (oft zeitlich begrenzte) Transformation des Visionärs in eine engelhafte Existenzweise mit sich bringt (exemplarisch ist die Verwandlung Henochs in den himmlischen Wesir Metatron, die zu einem zentralen imaginativen Leitbild mit identifikatorischen Dimensionen wird; vgl. slHen 22; hebrHen § 11 -13.15 ed. P. Schäfer). Ob das Bild des von einem Schülerkreis umgebenen Visionärs (z. B. Hekhalot Rabbati §198 - 250 ed. P. Schäfer; vgl. etwa Ascjes 2,9-11; 6,3-5) einer sozialen Realität entspricht, ist umstritten. Der Visionär heißt in der späteren Hekhalotmystik Jored Merkaba, „der zum Thronwagen (Gottes) hinabsteigt"; die nach wie vor plausibelste Erklärung sieht in dieser Begrifflichkeit einen Reflex der ekstatisch-visionären „Versenkung". Um 629 (unmittelbar vor der islamischen Invasion) entsteht der Sefer Zerübbabel, eine Apokalypse, die sich als Vision des Davididen Zerübbabel gibt und eine komplexe Messianologie mit einem militärischen Endkampfszenario verbindet. Widergöttliche Gestalt in der Funktion eines -•Antichrist ist Armilus (Romulus), der die Macht des römisch-byzantinischen Imperiums und der christlichen Kirche verkörpert und vom wahren Messias ben David besiegt wird. Diese apokalyptische Vision hat jüdische Imagination von -»Saadja ben Josef (Gaon) bis zu Nathan von Gaza (1644-1680) nachhaltig beeinflußt. 2. Mittelalterliches

Judentum

Das mittelalterliche Judentum kennt einerseits reiches Erzählgut über Visionen und Erscheinungen etwa von Elia, aber auch von Engeln, Dämonen und Totengeistern (viele Beispiele im Sefer Chasidim des Rabbi Jehuda ben Samuel he-Chasid [gest. 1217], einem Grundwerk der Chaside Aschkenas), andererseits philosophische Reflexionen über die jeweiligen Anteile der menschlichen Seele und Gottes am visionären Geschehen, wie es die kanonischen Schriften bezeugen. - * M o s e ben Maimon bietet im Kontext seiner aristotelischen Interpretation der Prophetie ausführliche Reflexionen über Visionen, ihren spezifischen Wirklichkeitsbezug und die besonderen Seelenvermögen der Propheten (More ha-Nebukhim [„Führer der Unschlüssigen"] 2 , 3 7 . 4 1 - 4 6 , besonders 45: Typologie der prophetischen Visionen). Ebd. 3 , 1 - 7 interpretiert er den Grundtext der Aufstiegs-

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rnystik Ez 1 - 3 als kosmologisches und theologisches Symbol, wobei auch der „menschliche" Anteil an der visionären Schau herausgearbeitet wird (Jesaja und Ezechiel unterschieden sich wie Landmann und Städter, die einen König bei seinem Ausritt je verschieden beschreiben: 2,6). Einen ähnlichen Ansatz von den imaginativen Vermögen der Seele her vertreten andere Aristoteliker wie Abraham Ibn Daud (ca. 1110-1180) und der Exeget David Qimchi (1160-1235). Die aristoteleskritischen Autoren (wie Jehuda Hallevi, gestorben 1141, im Sefer ha-Kuzari [„Buch des Khazaren"]) verteidigen demgegenüber die Eigenständigkeit und Überlegenheit der religiösen Erfahrung bzw. der Offenbarung über die philosophische Metaphysik. An der grundsätzlichen Bedeutung visionärer Schau im Offenbarungskontext besteht für das mittelalterliche Judentum kein Zweifel. Die —»Kabbala besitzt neben ihrer theosophisch-spekulativen eine ekstatisch-mystische Traditionslinie, in welcher auch Visionen eine Rolle spielen (vgl. grundlegend die Arbeiten von Idel). Abraham Abulafia (1240- nach 1291), ein Hauptvertreter der ekstatischen Kabbalah, und der Messiasprätendent Salomon Molkho (ca. 1500-1532), sind Visionäre. Isaak ben Samuel von Akko (Ende 13. - Mitte 14. Jh.) beschreibt häufig seine Trancevisionen (z. B. Metatron-Henochs) in seinem Werk O^ar Chajjim, einer Art spirituellem Tagebuch; ähnlich viele andere Kabbalisten. Der ->Zohar erzählt, wie sich den Adepten um Schim'on ben Jochai (den pseudepigraphen Autor) die Schekhinah offenbart und ihnen in visionären Bildern Geheimnisse offenbart werden (Textsammlung: Lachower/Tishby II, 597-621), ist aber sonst in Sachen Ekstase eher zurückhaltend. Bildspendender Grundtext bleibt nach wie vor Ez 1—3. Auch Fasten, Gebet, Sinnesentzug und vor allem die eigentümliche ekstatische Körperhaltung Elias' (I Reg 18,42) lassen sich im Kontext der Suche nach visionärer Erfahrung durch die gesamte jüdische Geschichte verfolgen. Weit verbreitet waren magische Techniken zur Visionserzeugung (etwa im Blick auf irisierende öloberflächen); auch heautoskope Visionen sind bezeugt. In vielen kabbalistischen Traditionslinien sind Vision und Seelenaufstieg unentbehrlicher Bestandteil eines mystisch definierten Judentums und seiner Frömmigkeit; die mystische Erfahrung dient dabei letztlich oft der Rekonstituierung einer gebrochenen sefirotischen Harmonie (vgl. T R E 17,497-499). Auch Jenseitsvisionen nach dem Beispiel -»Dante Alighieris sind nicht selten: Einflußreich ist Immanuel b. Solomon (1261 - n a c h 1328), Machberet ha-Tofet weha-'Edett (ed. Dov Jarden, 2 Bde., Jerusalem 1957), der sogar Episoden aus Dante übernimmt. Ein etwas älteres Beispiel einer visionären kosmischen Reise ist Abraham Ibn Ezra (1089-1164), dessen Chai Ben Mekii („Lebendiger, Sohn des Wachen". Diwan des Abraham Ibn Esra mit seiner Allegorie Hai ben Mehiz, hg. v. J. Egers, Berlin 1886) sich an einem Vorbild Avicennas (Ibn Sina, um 980-1037) orientiert und ganz allegorische Dichtung ist.

3. Neuzeitliches

Judentum

Der bis heute für die jüdische Orthodoxie wichtigste autoritative Halachist Joseph Karo (1488-1575) hat neben seiner Auslegungs- und Sammelarbeit auch Visionen eines himmlischen „Lehrers" empfangen, die als Buch publiziert wurden (Maggid Mesharim, Lublin 1646). Ähnlich verfaßte der Systematiker der lurianischen Kabbala, Chajjim Vital (1542-1620), etwa 1609-1620 einen Sefer ha-Chezyonot („Buch der Visionen", ed. Aharon Aescoly, Jerusalem 1954), das autobiographisch hauptsächlich Träume, aber auch Visionen aufzeichnet. Eine kabbalistische Theorie, durch Reinigungen, Toraobservanz und meditative Techniken Kontakt mit transzendenten Wirklichkeiten (einschließlich Offenbarungen durch Elia) zu finden, entfaltet sein populäres Werk Sha'are Qedushah („Pforten der Heiligkeit"), dessen 4. Buch aber in den alten Drucken fehlt. Ein stärker im engeren Sinn visionäres Element bietet der Sabbatianismus. Dessen Prophet N a t h a n von Gaza verfaßt 1665 aus einer ekstatischen Praxis der Meditation von Gottesnamen heraus pseudepigraph eine Vision R. Abrahams, welche der Legitimation -»Sabbatai Zwis dienen soll und messianische Ansprüche in kabbalistischen Kategorien deutet

132

Vision III

(Scholem, Messias 256-263). Abraham ben Chananja de Galicchi Jagel beschreibt in seinem Sefer Ge' Chizzayon („Buch des Tales der Visionen", 1587) eine Jenseitsreise, auf der ihn die Seele seines verstorbenen Vaters geleitet (als Verfasser des populären Buches wurde auch ein etwas älterer Abraham Jagel vermutet). Die Stelle des Angelus interpres der Tradition nimmt ab dem 16. Jh. oft der maggid ein, ein himmlischer Seelenführer, dessen Diktat zahlreiche Schriften zugeschrieben wurden, von Joseph Karo (s.o.) bis hin zu Moses Chajjim Luzzato (1707-1746) und seinem spekulativ-messianischen Werk Zohar Tinjana. Auf der anderen Seite kann der (aus seiner jüdischen Gemeinde ausgeschlossene) Philosoph Baruch de Spinoza (-»Spinoza/Spinozismus) in seinem Tractatus theologico-politicus (anonym 1670) die Visionen der Propheten ganz als Funktionen ihrer religiösen Imaginationen erklären (die ihrerseits Ausdruck der göttlichen Natur sind). Visionär-ekstatische Elemente aus der Kabbala verbinden sich im Chasidismus (-»Judentum 5.6.) mit volkstümlichen Vorstellungen. Von Rabbi Jakob Isaak (1745—1815) wurde z. B. erzählt, er könne die Metempsychosen der Seelen sehen und habe die Gabe der Kardiognosie. Deshalb hieß er postum der „Seher von Lublin" (ha-Chosäh miLublin). Der Begründer des Chasidismus, Rabbi Israel Ba'al Shem Tov (1700—1760), beschreibt in einem autobiographischen Brief seinen visionären Seelenaufstieg nebst himmlischer Unterredung mit dem Messias im Jahr 1746 ganz in kabbalistischen Kategorien (Shivechey ha-Besht, hg. J. Mondshine, Jerusalem 1982, 233 - 2 3 5 ; vgl. Rosman 97-113). Visionen im Sinne älterer Vorbilder sind noch im 19. und 20. Jh. gut belegt (vgl. etwa Rabbi Isaak Jehuda Jechiel Safrins Vision der Schechinah aus dem Jahr 1845; Übersetzung: Idel, Kabbalah 83), wenn sie auch insgesamt nur noch einen marginalen Platz in jüdischer Frömmigkeit innehaben. Insgesamt entwickeln sich Theorie und Praxis der Vision im Judentum mutatis mutandis erstaunlich parallel zu christlichen und islamischen Analogien, obwohl die kommunikativen Querverbindungen eher spärlich sind (z. B. über direkte islamisch-jüdische Kontakte in Bezug auf ekstatische Visionen farbiger Lichter als Manifestationen der Sefirot vgl. Idel, Kabbalah 103-111 u.ö.; s.a.o. 1.6.). Die theologisch zentralen Visionen lassen sich fast immer als mystisch-ekstatische Meditation biblischer Grundtexte verstehen. Quellen Siehe auch die Quellen in den Art. -»Apokalyptik/Apokalypsen III; -»Josephus Flavius; -» Kabbala I; -»Mose ben Maimon; -»Philo von Alexandrien; -»Qumran; -»Talmud. Martin Buber (Hg.), Ekstatische Konfessionen (s.o. Lit zu I.I.). - David R . Blumenthal, Understanding Jewish Mysticism. A Source Reader. I. The Merkabah Tradition and the Zoharic Tradition, New York 1978. - Martin Samuel Cohen, The Shi'ur Qomah. Texts and Recensions, 1985 (TSAJ 9). - Avraham ben-Hananiah Jagel, Sefer ge' hizzäyon, hg. v. David Ruderman, Jerusalem 1997; engl.: A Valley of Vision. The Heavenly Journey of Abraham ben Hananiah Yagel, transl. from the Hebrew, with an Intr. and Comm. by David B. Ruderman, Philadelphia, Pa. 1990. - Adolph Jellinek, Bet ha-Midrasch, T. 2, Jerusalem J 1 9 6 7 , 5 4 - 5 7 . - Fischel Lachower/Isaiah Tishby, The Wisdom of the Zohar. An Anthology of Texts, 3 vols., Oxford 1989 [zuerst hebräisch Jerusalem 1949-1961], - Peter Schäfer (Hg.), Genizah-Fragmente zur Hekhalot-Lit., 1984 (TSAJ 6). - Ders. (Hg.), Synopse zur Hekhalot-Lit., 1981 (TSAJ 2). - Ders. u.a. (Hg.), Übersetzung der Hekhalot-Literatur, 4 Bde., 1 9 8 7 - 1 9 9 5 (TSAJ 17.22.29.46). - Gerd A. Wewers, Geheimnis u. Geheimhaltung im rabbinischen Judentum, Berlin/New York 1975 (RVV 35). Literatur Daniel Abrams, Sexual Symbolism and Merkavah Speculation in Medieval Germany, 1997 ( T S M J 13). - Alexander Altmann, The Ladder of Ascension: Ephraim E. Urbach u.a. (Hg.), Studies in Mysticism and Religion presented to Gershom G. Scholem, Jerusalem 1967, 1 - 3 2 . - Markus N.A. Bockmuehl, Revelation and Mystery in Ancient Judaism and Pauline Christianity, 1990 (WUNT11/36). - John J . Collins/Michael Fishbane (Hg.), Death, Ecstasy, and Other Wordly Journeys, Albany, N.Y. 1995. - James R . Davila, Descenders to the Chariot. The People behind the Hekhalot Literature, 2001 (JSJ Suppl. 70). - Mary Dean-Otting, Heavenly Journeys. A Study of

Vision I V

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IV. N e u e s T e s t a m e n t 1. Die Ostervisionen als frühchristliche Initialerfahrung 2. Paulus und Deuteropaulinen Evangelien und Apostelgeschichte 4. Die Apokalypse als Vision (Literatur S. 136) 1. Die Ostervisionen

als frühchristliche

3.

Initialerfahrung

Wesentliche und konstituierende religiöse E r f a h r u n g e n des frühen C h r i s t e n t u m s geschehen im O f f e n b a r u n g s m o d u s der Vision. Dies gilt insbesondere für die Ostervisionen (ältestes Z e u g n i s : I K o r 1 5 , 5 - 8 ; vgl. 9 , 1 ) . T a t s ä c h l i c h ist keine religiöse T e x t s a m m l u n g des 1 . / 2 . J h . in einem s o überwältigenden A u s m a ß d u r c h verschiedene T e x t g a t t u n g e n hindurch v o n Visionen g e p r ä g t wie das N e u e T e s t a m e n t . D e n n o c h w u r d e n in einer Kultur, die visionäre E r f a h r u n g e n kennt und s c h ä t z t , die O s t e r e r s c h e i n u n g e n als e t w a s Besonderes erlebt und qualifiziert. P h ä n o m e n o l o g i s c h folgen die O s t e r b e r i c h t e b e k a n n ten M u s t e r n des Visionsempfanges, mit K o n t a k t zu den M o t i v f e l d e r n der „ v e r b o r g e n e n E p i p h a n i e " , der visionären Lichterscheinung, des A p h a n i s m o s e t c . Einer Qualifikation der Ostererscheinungen als Halluzinationen (Lüdemann; Zager) steht entgegen, daß auch Gegner und größere Menschengruppen den österlichen Jesus sehen und die Auferstehung des gekreuzigten Messias kein vorgegebenes Interpretament war, das in einer Vision nur hätte „abgerufen" werden können. Eine Erklärung der Protophanie vor Petrus und weiterer Ostervisionen als halluzinatorische Trauerarbeit scheitert weiter daran, daß die tröstende und mah-

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Vision IV

nende Gegenwart der Verstorbenen in der religiösen Umwelt des Neuen Testaments durch den Offenbarungsmodus -»Traum besetzt ist. Dennoch sind die Ostererscheinungen Visionen im weiteren Sinn gewesen; die Zeugnisse betonen gerade das Moment des Sehens (schon I Kor 9,1; 15,5-8). Ob ö>(t>0T| (I Kor 1 5 , 5 - 8 ; Lk 24,34; vgl. Act 13,31; davor in alttestamentlichen Theo- und Angelophanien) „technischen" Charakter hat, ist nicht eindeutig; immerhin ist es eine stabile Formulierung im Sachkontext (hellenistischer terminus technicus wäre eher ¿4>&VT|). In einem weiteren Sinn kann weiterhin von Ostervisionen gesprochen werden, wenn dabei im Blick bleibt, daß die österlichen Christophanien von späteren Christuserscheinungen sowohl von -»Paulus (der beides aus eigener Erfahrung kannte) als auch von Lukas (in heilsgeschichtlicher Systematisierung) und Johannes (21,1.14) unterschieden werden. Ein Grundzug der Überlieferung ist, daß die Ostervisionen -»Glauben dezidiert nicht voraussetzen, sondern erst ermöglichen (I Kor 15,7f.; Mt 28,17b; Lk 14,41; Ps.-Mk 16,11.13f.). Die altertümliche Emmauserscheinung (Lk 24,13-35) - vielleicht aus dem Überlieferungsgut des Jakobuskreises (Familie Jesu) - folgt dem Muster der verborgenen Epiphanie (Frenschkowski, Offenbarung II, 225 - 2 4 3 ) .

Apologetische, missionstheologische, christologische und israelkritische Motive lagern sich offenbar seit Anfang an die Ostertradition an und lassen die Modalitäten der visionären Basiserfahrung nur noch schwer erkennen. Theologisch zentral bleibt, daß Ostern in eschatologischen Kategorien erfahren und gedeutet wurde. Als visionäre Evidenzerlebnisse müssen die Ostervisionen zu Beginn keine belehrende Rede des Auferstandenen enthalten haben (auch Sadhu Sundar Singhs Initialvision Christi am 18. Dezember 1903 war eine Lichterscheinung mit nur wenigen Worten [s.u. V.4.]). Die Auferstehung Jesu wird erkannt, indem dieser sich selbst offenbart (vgl. Joh 20,25ff.). Der Begriff der „objektiven Vision" (dazu besonders Graß 247-249; vgl. Theißen/Merz 420), welcher das halluzinatorische Element ausschließen soll, ist allerdings wenig hilfreich. Die Reden des Auferstandenen (Mt 28,18-20; Ps.-Mk. 16,14-18; Lk 24,25-27.38f.4449 etc.) sind redaktionelle Formulierungen der betreffenden Evangelisten. Während die Gemeinden offenbar bald eine pneumatische Rede des erhöhten Christus durch seine Propheten kennen, fixiert die Osterüberlieferung erst spät ihren Bestandteil an Jesusworten, wobei Friedensgruß, Missionsbefehl und Geistverleihung rekurrierende Elemente sind. Sowohl die großkirchliche als auch die gnostische Überlieferung des 2. Jh. bauen die österliche Wortüberlieferung zu breiten Lehrreden des Auferstandenen aus (Hartenstein) . 2. Paulus und

Deuteropaulinen

Paulus ist die einzige Gestalt des Neuen Testaments, deren autobiographisches Zeugnis uns sowohl über seine österliche Vision als auch über spätere visionäre Erfahrungen informiert. Die als Schau qualifizierte Christusbegegnung (I Kor 15,8 f.) wird von Paulus weniger als -»Bekehrung, sondern eher als -»Berufung zum Apostel erfahren (I Kor 9,1; Gal 1,15 unter Inanspruchnahme von Jer 1). Unklar ist, ob die Erleuchtungsterminologie II Kor 4,6 (vgl. Phil 3,8) auf die gleiche Erfahrung verweist. In jedem Fall ist Paulus daneben auch sonst Empfänger von öitTaoiai Kai Ö7tOKaXüvy£iSpalatin durchweg Luther die entscheidende Rolle. Er war es auch, der Melanchthon und dessen im Unterricht vertretene Bußlehre gegen die Angriffe J. —>Agricolas in Schutz nahm („1. Antinomistischer Streit", vgl. TRE 13,86,4-38). Nach einer letzten Überarbeitung durch Luther lag die Schrift dann Ende März 1528 im Druck vor. Dem Unterricht voran ging eine Vorrede Luthers. Der Text selbst umfaßte 18 Kapitel. Zunächst wurde die Verkündigung in den Blick genommen (1.-4.: Bußpredigt, Zehn Gebote, Gebet, Umgang mit Anfechtungen). Dann folgten Ausführungen zur Sakraments- und zur Rechtfertigungslehre (5.-8.: Taufe, Abendmahl, Buße, Beichte, Genugtuung für die Sünde). Den Abschluß bildeten Ordnungsfragen (9.-18.: Kirchenordnung, Ehe, freier Wille, christliche Freiheit, Türkenkrieg, Ordnung des Gottesdienstes, Kirchenbann, Amt des Superattendenten [ = Superintendenten], Schulen). An vielen Stellen wurde damit bereits den späteren evangelischen Bekenntnissen und hier besonders dem -•Augsburger Bekenntnis von 1530 vorgearbeitet. Der Unterricht reagierte auf die seit Mitte der 1520er Jahre vielerorts um sich greifende religiöse Indifferenz. Er erstrebte eine Erneuerung der Sittlichkeit bzw. der kirchlichen Sitte. Dazu schärfte er die Gebote samt dem Obrigkeitsgehorsam ein und rief beharrlich zur Buße auf. Die Rechtfertigungsbotschaft trat demgegenüber zurück. Die Ausführungen zu den Ordnungsfragen waren bei aller Bestimmtheit behutsam und verzichteten auf jede Polemik. Die christliche Freiheit wurde mit der Sündenvergebung gleichgesetzt. Die Stärken des Unterrichts lagen darin, daß er aus den konkreten Erfahrungen der Visitatoren erwachsen war. Besonders zu betonen ist die Bedeutung für die Schulen. Mit dem kursächsischen Neubeginn wurde das Visitationsinstitut grundlegend verändert. Zwar hatten auch schon früher Landesherrn kirchliche Visitationen vorgenommen (s. die Klostervisitationen des 15. Jh.). Hier jedoch handelte es sich um eine Visitation und teilweise Neuordnung des gesamten kirchlichen Systems bis hinab zu den Pfarrgemeinden. Nicht mehr der Papst oder der Bischof gaben fortan den Auftrag zur Visitation, sondern der Landesherr, dem Luther den Auftrag dazu als dem praecipuum membrum ecclesiae erteilte und dem Melanchthon die custodia utriusque tabulae anvertraute. Der Landesherr hatte zwar keinen Auftrag zur Seelsorge, er war aber im Rahmen seines ihm von Gott verliehenen Amtes für die Ordnung des öffentlichen Lebens verantwortlich (-*Zweireichelehre). Dies schloß - im Blick auf den altrömischen Zusammenhang von salus publica und rechter Gottesverehrung, der von den Reformatoren durch Hinweis auf die deuteronomistische Tradition der Königsbücher noch einmal bekräftigt wurde — auch ein, daß er in seinem Territorium für die richtige Verehrung Gottes sorgte und über diese wachte. Und in gewisser Weise setzten die Obrigkeiten bei ihren Visitationen nur jene reformerischen Eingriffe fort, die sie schon im 15. Jh. immer wieder vorgenommen hatten. Hatten die Visitationen des Spätmittelalters gelegentlich nur noch fiskalischen Zwecken gedient, so verlagerte sich das Gewicht nun wieder deutlicher auf die Unterrichtung, primär der Pfarrer, aber auch der Laien (Luthers Katechismen sind nicht zuletzt auch aus Visitationserfahrungen erwachsen: BSLK 501,1). Wichtigste Gegenstände der Überprüfung waren die Amtsführung der Pfarrer, die Ordnung des Gottesdienstes, das Bekenntnis, die Kirchenzucht, die finanzielle Ausstattung und der Zustand der Baulichkeiten. Außerdem sorgten die Visitatoren dafür, daß in jedem Amt ein Pfarrer oder Schulmeister zum Superintendenten ernannt wurde. Damit zeichnete sich schon hier ein wesentlicher Zug des neuen Kirchenwesens ab. Auch in anderen Territorien und einigen Reichsstädten machte das kursächsische Vorbild rasch Schule. Teils wurde dabei zunächst visitiert und dann auf der Basis der

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so gewonnenen Einsichten eine Kirchenordnung erlassen. Teils schuf man aber auch zunächst eine Kirchenordnung und versuchte diese dann mit den Mitteln der Visitation umzusetzen. Für die Entwicklung der Visitationen wichtige Kirchenordnungen waren besonders die Pommersche (1535), die Mecklenburgische (1552), die Württembergische (1559) und die Kursächsische (1580). Daneben gab es aber auch viele selbständige Visitationsordnungen (eine Auflistung der wichtigsten „Visitations- und Synodalordnungen": TRE 18,692-694). Gedruckte Akten evangelischer Visitationen bis 1546 liegen (über das in EKO gebotene Material hinaus) insbesondere vor für den Kurkreis Sachsen und das ernestinische Sachsen (1525-1531; 1533f.; 1545), die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach (1528), die Reichsstadt -»Nürnberg (1528), die Grafschaft Reuß (1529; 1533 f.), das Herzogtum -•Preußen (1529; 1531; 1542), die Reichsstadt Ulm (Nebeneinander von Visitation und Synode: Visitation 1531; Synode 1532; Visitationen 1535 und 1537; Synoden 1537 und 1539; Visitationen 1539 und 1543f.), die Grafschaft -»Anhalt (1534), das Herzogtum -»Mecklenburg (1534f.), das Herzogtum -»Württemberg (1534; 15361540), das Herzogtum -»Pommern (1535-1539; 1540-1546), die Reichsstadt -»Straßburg (1535; 1540), die Grafschaft Nassau-Weilburg (1536), das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken (1538; 1544f.), das albertinische Sachsen (1539f.), die Grafschaft Mansfeld (1539; 1542; 1545), das Kurfürstentum -»Brandenburg (1540-1545), die Grafschaft -»Lippe (1542), die Reichsstadt Mühlhausen (1542), das Herzogtum -»Braunschweig (1542-1544) und das Bistum Merseburg (1544f.) (Nachweise bei Zeeden/Molitor 2 49-91.127-140).

Obwohl die ersten Visitationen nur als ein Notbehelf gedacht waren (vgl. Luthers Vorrede zum Unterricht der Visitatoren), entwickelten sie sich rasch zu einer festen, allerdings unregelmäßigen Einrichtung. Schon 1540 begründen die Preußischen Artikel die Notwendigkeit der von ihnen vorgesehenen jährlichen Visitation mit dem Hinweis, daß „christliche Ordnung, sowohl von Pfarrern als Pfarrkindern, ohne Aufsehen nicht wohl erhalten werden" könne. Auch in den späteren Kirchenordnungen fehlen nur selten Regelungen darüber, in welchen Abständen zu visitieren sei. 1539 entstand in Kursachsen aus den Visitationskommissionen das erste Konsistorium. Anders als zunächst geplant, war es ein bloßes Ehe- und Zuchtgericht, trat also letztlich an die Stelle der bischöflichen Gerichtsbarkeit. Das Modell wirkte vor allem im nord- und mitteldeutschen Raum prägend, es blieb aber nicht das einzige. In Württemberg entwickelte sich aus den Visitationen nämlich ein ganz anderes Gebilde, der Kirchenrat (1553). Er diente der kirchlichen Verwaltung. Hierzu griff er auf die von den Spezial- und General-Superintendenten erstellten Visitationsberichte zurück. Nicht in seine Zuständigkeit fiel die Rechtsprechung in Ehesachen. Sie oblag besonderen Gerichten. Parallel zu dieser Verwaltungshierarchie entstand aber auch eine Visitationsund Berichtshierarchie. Sie gipfelte im Conventus (auch Conventus Consistorii, später Synodus). Er war keine echte Kirchenleitung, sondern ein Visitations- und Aufsichtsgremium und bestand aus den vier Generalsuperintendenten. Diese trafen sich in ihm zweimal im Jahr mit dem Kirchenrat, um anhand ihrer Visitationsberichte über Fragen der Lehr- und Kirchenzucht zu beraten. Die Verwaltung und die Visitation waren in diesem Modell also eng verzahnt. Es machte rasch Schule (Braunschweig-Wolfenbüttel 1569; Lippe 1571; Baden-Durlach 1575). 1580 kam es in Kursachsen zu einer Verbindung beider Modelle. Die hierdurch entstehenden Konsistorien neuen Typs blieben zwar Gerichte, wurden aber zugleich auch umfassende landesherrliche Verwaltungsbehörden. Allerdings gab es noch bis zum -»Dreißigjährigen Krieg kleinere Landeskirchen, die völlig auf konsistoriale Strukturen verzichten konnten (Hohenlohe). Hier manifestierte sich die Kirchenleitung im Superintendentenamt und den regelmäßig durchgeführten Visitationen. In den reformierten Kirchen erfolgte die Visitation zumeist im Rahmen der (Bezirks-) Synoden (Konvente, Klassen). Diese tagten dazu der Reihe nach in jeder Mitgliedsgemeinde. Der Prediger der gastgebenden Gemeinde hielt die Synodalpredigt, anschließend stellte sich das Presbyterium dann den Fragen der Synodalen. In manchen Städten gab es aber auch ein Nebeneinander von Synode und Visitation (Ulm).

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Aus diesem Modell entwickelte sich dann auch das reformierte Verständnis der Visitation. Diese war demnach ein brüderlicher Besuchsdienst, der im Auftrag der in einer Synode vereinigten Gemeinden durch die Synodalorgane wahrgenommen wurde. In der Folge ließ sich dieses störungsanfällige System aber nicht immer kontinuierlich durchhalten. Dies führte später zur Aufnahme konsistorialer Elemente in das reformierte Visitationsrecht (Amt des Landessuperintendenten). Die lutherische -»Orthodoxie schätzte die Visitationen hoch. Die Vorrede zur -*Konkordienformel 1577 betonte ihre Bedeutung für die Durchsetzung des lutherischen Einungswerkes (BSLK 761,36ff.). Aber auch für das kirchliche Leben selbst war das Institut unverzichtbar. Dies zeigte sich vor allem beim Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg (vgl. dazu für Sachsen-Gotha exemplarisch Albrecht-Birkner). Noch im 18. Jh. forderte der Dresdner Superintendent V.E. -•Löscher, bei Visitationen Katechismusexamina mit den Erwachsenen zu halten. Auch weiterhin entstanden Visitationsordnungen (Hannover 1734). Das Verhältnis des -»Pietismus zum Visitationsinstitut ist noch kaum erforscht. Sofern die Visitationen auf eine Intensivierung der pastoralen bzw. gemeindlichen Frömmigkeit abzielten, dürfte man sie gutgeheißen haben. Sollte man durch sie jedoch auf eine als problematisch empfundene, formalisierte Christlichkeit festgelegt werden oder war gar selbst als Person oder in der Form seiner Frömmigkeit Gegenstand der Uberprüfung, dürfte dies anders gewesen sein. Interessanterweise gab es aber auch Fälle, in denen sich die pietistische Frömmigkeit mit den Mitteln der Visitation durchsetzte (-•Norwegen). Eine eigentümliche, in den Reisen N.L. Graf von —»Zinzendorfs vorgebildete Visitationspraxis prägte sich daneben auch im Herrnhutertum (—»Brüderunität/Brüdergemeine) aus. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. ließen das Vordringen der -»Aufklärung (Gedankenund Gewissensfreiheit) und die am Vorbild des Staates orientierte Modernisierung der kirchlichen Systeme (Ausbildung von Bürokratien) die Visitationen des alten Typs dann aber mehr und mehr verschwinden. Viele Städte und Kirchenpatrone entzogen sich nun auch bewußt der Visitation, die als lästig und demütigend empfunden wurde. Schon früher war es vielerorts üblich gewesen, den Besuch der Kirchenleitung durch einen schriftlichen Bericht vorzubereiten. Diese „Kirchen- und Schulberichte" traten nun immer häufiger selbst an die Stelle der Visitation. Zunächst verschwanden daraufhin zumeist die Generalvisitationen, später auch die SpezialVisitationen. Allerdings gab es auch Landeskirchen, in denen weiterhin regelmäßig visitiert wurde (Württemberg). 3.2. Römisch-katholische

Kirche

Schon Ende der 1520er Jahre versuchten einzelne altgläubige Fürsten, der Ausbreitung der Reformation in ihren Landen mit den Mitteln der Visitation und -»Inquisition zu begegnen (Erzherzog Ferdinand von Österreich [1503-1564], Steiermark 1528). Dabei bezog man die Bischöfe (Erzbischof von Salzburg) nur widerwillig mit ein. Der Erfolg war aber nur mäßig. 1531 entwickelte auch Herzog Johann III. (reg. 1521/24-1539) von Jülich-Kleve-Berg Pläne für eine Visitation seiner Territorien. Dabei orientierte er sich am kursächsischen Vorbild. Obwohl der Erzbischof von Köln protestierte, wurde das Projekt 1533 verwirklicht. Der kirchlichen Obrigkeit blieb nun nur noch die Flucht nach vorn: 1536 kündigte das Kölner Provinzialkonzil eine allgemeine Visitation des Erzbistums an. Noch im gleichen Jahr erschien eine ausführliche, als erzbischöfliche Dienstanweisung an die Visitatoren gehaltene forma visitandi (Köln 1536). Sie war ein Text J. -»Groppers und wurde auch anderorts nachgedruckt. Dennoch war das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Die Fürsten waren nämlich nicht mehr gewillt, dem Erzbischof ein Visitationsrecht in ihren Landen einzuräumen. Hieran änderte sich auch in der Folge wenig. Die entscheidende Schwäche der römisch-katholischen Position war jedoch eine innere. Sie lag im Bedeutungsverlust des die Visitationen zumindest theoretisch auch wei-

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terhin tragenden Bischofsamtes. Zwar hatte es schon im spätesten Mittelalter Ansätze zu einer Neubelebung der bischöflichen Visitationen gegeben (Bistümer Regensburg und Eichstätt), und auch der Kölner Visitationsplan von 1536 war ja ein Vorstoß in diese Richtung gewesen, echte Fortschritte waren aber dabei nicht erzielt worden. Dies änderte sich erst mit dem Konzil von Trient (1545-1563; -»Tridentinum), das nicht nur eine klare Aufwertung des Bischofsamtes brachte (Sess. VI, c. 3f.; Sess. VII, c. 7f.; Sess. XIII, c. 1; Sess. XIV, c. 4; Sess. X X I , c. 8), sondern auch die frühere bischöfliche Visitation in vollem Umfang wiederherstellte (Sess. XXIV, c. 3 und 9 de ref.). Die Reformdekrete des Konzils ordneten an, daß jeder Bischof Jahr für Jahr persönlich (oder durch einen fähigen Stellvertreter) seine gesamte Diözese (oder zumindest große Teile derselben) visitieren sollte. Nur in großen Diözesen sollte auch ein Zweijahresrhythmus zulässig sein. Immer aber war darauf zu achten, daß die den Visitierten entstehenden Kosten gering blieben (Beschränkung der Zahl der Begleiter des Visitators, zügige Abwicklung der Visitation). Außerdem wurden die Bischöfe ermächtigt, wie direkte Abgesandte des Papstes (tamquam Sedis Apostolicae delegati) auch bisher exemte Personen und Orte zu visitieren. Archidiakonale Visitationen sollten nur noch mit Erlaubnis des Bischofs erfolgen dürfen. Wo ein Bischof auf die Unterstützung eines Weihbischofs angewiesen war, konnten diesem mit der Firmung aber auch Visitationsaufgaben übertragen werden. Das gleiche galt für die Dechanten. Sie sollten fleißig visitieren, dem Bischof aber stets umgehend berichten. Die Reformdekrete des Konzils und ihre Ausführungsbestimmungen übernahmen schon bald die Funktion, die in den evangelischen Kirchen die Kirchenordnungen hatten. Dabei gingen auch sie nicht selten in eigene Visitationsordnungen ein. Prägend wirkten dabei besonders die aus Mailänder Visitationserfahrungen erwachsenen Acta Ecclesiae Mediolanensis (1582ff.) des C. -»Borromeo. Im Gefolge H. Jedins wird die Bedeutung der nachtridentinischen Visitationen für die Erneuerung des kirchlichen Lebens in den Diözesen der alten Kirche zumeist sehr hoch veranschlagt. Je nach Region ergeben sich hier aber deutliche Unterschiede (Häufigkeit und Handhabung der Visitationen; Delegation der mit ihnen verbundenen Aufgaben an nachgeordnete Amtsträger usw.). In einer Reihe von Fällen zog sich die Umsetzung des tridentinischen Programms bis in die zweite Hälfte des 17. Jh. hinein. Manche Forderungen des Konzils ließen sich auch gar nicht umsetzen: So blieb den Bischöfen z. B. die Visitation exemter Gebiete auf Dauer verwehrt. Hier visitierten fortan Nuntien im päpstlichen Auftrag. Auch im Verhältnis zu den altgläubigen Fürsten gab es große Spannungen. Diese beharrten nämlich weiterhin auf ihren Visitationsrechten in spiritualibus. Sie begriffen diese als weltliche Hoheitsrechte und sahen nicht ein, warum sie in dieser Hinsicht hinter den evangelischen Fürsten zurückstehen sollten. Seit dem bayrischen Konkordat mit der Kirchenprovinz Salzburg (1583) mußte man den staatlichen Stellen immer häufiger die Beteiligung an den Visitationen zugestehen. Das Konkordat wurde so zu einem Ansatzpunkt für das Staatskirchentum des 18. Jh. Die Protokolle der nachtridentischen Visitationen haben erst spät das Interesse der Forschung gefunden. Der größte Teil ist noch unveröffentlicht. Gedruckte Akten nachtridentinischer Visitationen bis 1618 liegen insbesondere vor für das Erzherzogtum -»Österreich (1561; 1563; 1566), das Bistum Utrecht ( 1 5 6 2 - 1 5 7 1 ) , das Herzogtum -»Bayern (1563; 1568; 1570; 1 5 7 2 - 1 5 7 7 ; 1599), das Bistum Eichstätt (1565; 1580; 1601f.), das Bistum Ermland (1565; 1572f., 1575; 1577; 1581f.; 1597f.; 1 6 0 8 - 1 6 1 0 ) , das Bistum Münster (1566f.; 1 5 7 1 - 1 5 7 3 ; 1597; 1 6 0 1 - 1 6 1 2 ; 1613f.; 1618), das Erzbistum -»Köln (1569; 1573; 1587; 1612; 1616), das Bistum -»Trier (1569f.; 1581), das Bistum Straßburg (1570; 1572; 1 5 7 8 - 1 5 8 0 ; 1616), das Bistum Konstanz ( 1 5 7 1 - 1 5 8 6 ; 1590; 1597; 1608; 1612; 1614f.), das Bistum Paderborn (1575; 1586; 1614), das Bistum Breslau (1579f.; 1602), das Bistum Würzburg ( 1 5 7 9 - 1 6 1 8 ) , das Erzbistum Bremen ( 1 5 8 1 - 1 5 8 3 ; 1588), das Bistum Speyer (1583f.), das Bistum Basel (1586; 1 6 0 2 - 1 6 0 4 ) , die Grafschaft Hohenzollern (1591), das Bistum Hildesheim (1608f.) und das Bistum Bamberg (1611; 1616f.) (Nachweise bei Zeeden/Molitor 1 4 9 91.127-140).

Im 18. Jh. änderte sich auch in der Römisch-katholischen Kirche der Charakter der

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Visitationen. Wie die Interrogatorien der Bistümer Mainz, Augsburg und Konstanz zeigen, interessierte man sich nun „weniger für die Menschen als für die Sachen, weniger für den Lebenswandel und die Amtsführung des Klerus als für das Inventar, die Ausstattung und den Bauzustand der Kirche und für deren rechtliche und finanzielle Verhältnisse" (Zeeden, Visitationsforschung 356). Der religiös-sittliche Zustand der Gemeinden und des Klerus wurden kaum mehr erfragt. Statt dessen machte sich „allenthalben ein gelegentlich schon fast manischer Hang zum Auflisten statistischer Einzelheiten breit. Somit erscheint uns die Visitation des 18. Jh. weniger als ein Instrument zur Disziplinierung als vielmehr zur Datensammlung" (Peter Thaddäus Lang, zitiert bei Zeeden, Visitationsforschung 356). 4. Das 19. und das frühe 20. Jahrhundert 4.1. Evangelische

(bis 1918)

Kirchen

Erst die evangelischen Erweckungsbewegungen und in ihrem Gefolge die kirchlichen Verfassungsbestrebungen der ersten Hälfte des 19. Jh. ließen das Institut der Visitation dann wieder aufleben. Seit 1834 wurden in fast allen deutschen Landeskirchen neue Visitationsordnungen erlassen. So z. B. in Hessen 1834, Rheinland und Westfalen 1835, Oldenburg 1851, Hannover 1853, den alten Provinzen Preußens 1854, Bayern 1854, Württemberg 1854, Sachsen-Weimar 1855, Sachsen 1856, Sachsen-Altenburg 1860, Braunschweig 1873 und Waldeck 1874. Katalytisch wirkten dabei die Eisenacher Kirchenkonferenzen von 1852 und 1853. Diese hatten sich im Anschluß an ein von A.ECh. ->Vilmar gehaltenes Referat eingehend mit dem Thema befaßt und die deutschen Kirchen aufgerufen, das Visitationsinstitut dort, wo es außer Gebrauch gekommen war, rasch wiederherzustellen. Noch lange gab es aber kleinere Kirchengebiete, die auf eine klare Regelung ihrer Visitationspraxis verzichteten. Die von den einzelnen Kirchen angenommenen Ordnungen wichen zwar im einzelnen stark voneinander ab, wiesen aber auch beachtliche Gemeinsamkeiten auf: fast immer war geregelt, wie oft visitiert werden sollte (anders in Mecklenburg-Schwerin). Der Abstand zwischen den Visitationen konnte jedoch schwanken: in Bayern und Württemberg sollte alle 2 Jahre, in Hannover und Sachsen-Altenburg nur alle 6 Jahre visitiert werden. Im Vorfeld des Besuchs waren in einem Bericht feste Fragen zu beantworten. Die Durchführung der Visitation lag beim Superintendenten (Dekan) oder beim Generalsuperintendenten, dem dafür meist ein staatlicher Beamter zur Seite gestellt wurde. Bei Generalvisitationen konnten auch Visitationskommissionen eingesetzt werden (Vorbild der kursächsischen Visitationen der Reformationszeit). Die Prüfung war umfassend. Sie betraf nicht nur die geistlichen Belange, sondern auch die Besitz- und die Rechtsverhältnisse. Im Rahmen einer Anhörung der Gemeinde (Hausväterversammlung) oder des Kirchenvorstands (Presbyteriums) wurde auch der Lebenswandel des Pfarrers in den Blick genommen. Die Visitation fand in der Regel an einem Sonntag statt. Nur wo „stille" Visitationen (Teilvisitationen wirtschaftlicher Natur) vorgesehen waren, durften diese auch an Wochentagen erfolgen. Die Visitation umfaßte meist folgende Teile: Predigt des Gemeindepfarrers, Ansprache des Superintendenten, Inspektion des Religionsunterrichts, Gespräch mit dem Pfarrer, den Lehrern und den Gemeindevertretern, Besichtigung der Kirche, des -»Friedhofs und der übrigen Baulichkeiten, Prüfung der -»Kirchenbücher und der Registratur. Das Ergebnis der Visitation wurde in einem Bericht festgehalten. Er bildete die Basis des der Gemeinde später von der Kirchenbehörde zugeleiteten Visitationsbescheids. Eine in manchem bis heute andauernde Nachwirkung hatten die Generalvisitationen in den östlichen Provinzen Preußens. Sie waren bewußt erbaulich gestaltet, zielten aber auch darauf ab, den Gemeinden ein Bewußtsein kirchlicher Zusammengehörigkeit zu vermitteln und schienen gerade darin wegweisend zu sein. Bereits die Eisenacher Kon-

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ferenz von 1890 hob aber hervor, daß „die Übertragung dieser Generalvisitationen auf andere Gebiete nicht ohne weiteres befürwortet werden könne, die Einrichtungen vielmehr in jedem Bezirke den besonderen landschaftlichen Verhältnissen angepaßt und so getroffen werden müßten, daß sie im besten Sinne volkstümlich erscheinen und somit sich leicht einbürgern" (Uhlhorn 483). Die Visitationsprotokolle des 19. und frühen 20. Jh. sind in ihrem Quellenwert noch kaum erkannt. Bis 1970 fehlte es noch ganz an Editionen (Gundermann/Hubatsch ix). 4.2. Römisch-katholische

Kirche

Auch im 19. Jh. blieben die Dekrete des Tridentinums durchweg in Geltung. In vielen Diözesen Frankreichs wurden die Visitationen aber auf mehrere Jahre ausgedehnt (Nachwirkung der Organischen Artikel von 1802). Wie in den evangelischen Kirchen wurde es auch in vielen deutschen Diözesen üblich, den Pfarrern vor der Visitation feste Fragen zuzusenden. Außerdem drängte man darauf, daß der Besuch des Bischofs auch liturgisch angemessen gestaltet wurde (Pontificale HI. Ordo ad visitandas parochias). Die abschließende Regelung des Visitationsrechts erfolgte durch das CIC (1917) (vgl. CIC [1983]; -•Kirchenrechtsquellen 1/13. u. 14.). 5. Neueste Zeit Im 20. Jh. geriet das Visitationswesen in den deutschen evangelischen Kirchen dann aber vielfach wieder in Verfall (-»Industrialisierung; Entstehung von Massengemeinden in den Großstädten). Mancherorts wurde jahrzehntelang nicht mehr visitiert (Berlin). Ein Kontakt der Kirchenleitung zur gemeindlichen Basis war so kaum mehr gegeben. Dazu kamen die verfassungsmäßigen Umbrüche: 1918 endete das Landesherrliche Kirchenregiment. Die in den 1920er Jahren eingeführten Visitationsordnungen sahen in der Visitation zwar ein Mittel der sittlich-religiösen Erneuerung, betonten aber vor allem deren Kontrollfunktion (Oldenburg 1922). In der Pfalz unterschied man 1921 sogar zwischen drei Formen der Visitation, der Kirchenvisitation (Visitation der Gemeinde), der geschäftlichen Visitation (Prüfung der Amtsführung des Pfarrers unter besonderer Berücksichtigung seiner Predigtarbeit und seines Religionsunterrichts) und dem Besuch des Pfarrers (unangekündigte Einsichtnahme in den pfarramtlichen Alltag). Auch die Gemeindetätigkeit der Bekennenden Kirche zielte auf eine vollständige Wiederherstellung der Visitationen ab. Zu diesem Zweck führte man regelmäßige brüderliche Besuchsdienste ein. Die dabei gemachten Erfahrungen gingen in viele Kirchenordnungen der Zeit nach 1945 ein. Heute besitzen alle Gliedkirchen der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Visitationsordnungen. Die -»Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) hat eigene Richtlinien über die Visitation ihrer Kirchen (1963). Anders ist dies in der -»Evangelischen Kirche der Union (EKU), in der die Visitation schon strukturell einen geringeren Stellenwert hat (Superintendentenamt als Wahlamt). Hier wird die Visitation zur Gänze durch das gliedkirchliche Recht geregelt. Seit 1975 liegt außerdem das von der Arnoldshainer Konferenz entwickelte Muster einer Visitationsordnung vor. Es begründet die Visitation als einen brüderlichen Besuchsdienst, der durch Synodalorgane, gegebenenfalls unter Beteiligung der Kirchenleitung wahrgenommen wird. Die im Raum der EKD gültigen Ordnungen weichen zwar in manchem voneinander ab, weisen aber auch beachtliche Gemeinsamkeiten auf. Die Visitation erfolgt in der Regel alle 6 bis 8 Jahre. Visitatoren sind die Inhaber/innen kirchlicher Leitungsämter (Superintendent, Dekan, Bischof). Sie stehen einer Kommission vor, der neben den geistlichen auch nichttheologische Mitglieder angehören. Der Besuch der Kommission wird durch einen schriftlichen Bericht der Visitierten vorbereitet. Zum Verfahren selbst gehören meist der Visitationsgottesdienst, der Besuch des kirchlichen Unterrichts, das Gespräch mit der Pfarrerin/dem Pfarrer, die Aussprache

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mit dem Presbyterium (Gemeindekirchenrat) sowie Gespräche mit den haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitern. D a z u k o m m t die Inspektion des äußeren Z u s t a n d s der Gemeinde (Gebäude und Inventar, Pfarramtsverwaltung und Kassen). Das Ergebnis des Besuchs wird in einem förmlichen Bescheid der visitierenden Kommission festgehalten. Die neueren Ordnungen sehen neben der Visitation der Gemeinden auch die der Kirchenkreise und der landeskirchlichen Ä m t e r und Werke vor. Im R a u m der E K U ist angeregt worden, auch die Landeskirchenämter/die Konsistorien mit in die Visitationen einzubeziehen. Die jüngeren Ordnungen heben weniger die Kontrollfunktion der Visitation (Visitation als Instrument der Kirchenleitung) als vielmehr deren Kontaktfunktion (Visitation als Besuchsdienst zu gegenseitiger Hilfe und geschwisterlichem Austausch) hervor ( M u ster einer Visitationsordnung). Sie tragen d a m i t klar der veränderten gesellschaftlichen Situation R e c h n u n g (Bedeutungsverlust der Kirche, Infragestellung traditioneller F o r m e n kirchlicher Leitung). A u c h in der theologischen Diskussion wird die Visitation heute weithin als ein partnerschaftlicher Vorgang begriffen. Sie soll nicht mehr Kirchenleitung realisieren und Kontrolle ausüben, sondern zur Selbstprüfung anleiten und dem Gemeindeaufbau dienen. D e n n o c h wird m a n gut d a r a n tun, sich des eigentümlichen Doppelcharakters der Visitation auch weiterhin bewußt zu bleiben. E r hat die Geschichte dieses Instituts von Anfang an bestimmt und verweist auf Grundprobleme kirchlichen Lebens, die auch in Z u k u n f t nichts von ihrer Virulenz verlieren werden. Quellen Zu 2.: Johannes Gerson, Sermo de officio pastoris (1408): ders., Œuvres complètes. V. L'œuvre oratoire, Paris/Tournai 1963, 1 2 3 - 1 4 4 = ders., Opera Omnia, hg. v. Louis Ellies Du Pin, Antwerpen, II 1706 Nachdr. Hildesheim 1987, 5 4 2 - 5 5 8 . - Ders., De visitatione praelatorum (1408): ders., Œuvres complètes. VIII. L'œuvre spirituelle et pastorale, Paris 1971, 4 7 - 5 5 = ders., Opera Omnia, II 5 5 8 - 5 6 5 . - Hinkmar v. Reims, Capitula quibus de rebus magistri et decani per singulas ecclesias inquirere, et episcopo renuntiare debeant: Hincmari Rhemensis archiepiscopi opéra omnia, 1852 (PL 125) 7 7 7 - 7 9 2 . - Paul Mai/Marianne Popp, Das Regensburger Visitationsprotokoll v. 1508: BGBR 18 (1984) 7 - 3 3 5 . - Regino v. Prüm, Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis: Reginonis Abbatis Prumiensis libri duo . . . , hg. v. Friedrich Wilhelm Wasserschieben, Leipzig 1840 = Graz 1964. - Ansgar Wildermann (Hg.), La visite des églises du diocèse de Lausanne en 1453, Lausanne 1993 (Mémoires et documents publiés par la Société d'histoire de la Suisse romande 3. Ser. 19). Zu 3.: Verz. der gedr. Quellen des deutschsprachigen Raumes bei Zeeden/Molitor, Visitation (s.u.) 4 9 - 9 1 . 1 2 7 - 1 4 0 . Anton Albrecher, Die landesfürstliche Visitation u. Inquisition v. 1528 in der Steiermark, Graz 1997 (Quellen zur gesch. Landeskunde der Steiermark 13). - Karl Amon, Die Salzburger Archidiakonenvisitation v. 1 5 2 3 - 1 5 2 5 in der Steiermark, Graz 1993 (Quellen zur gesch. Landeskunde der Steiermark 12). - Sandro Bianconi/Brigitte Schwarz, Il vescovo, il clero, il populo. Atti della visita personale di Feliciano Ninguarda alle pievi comasche sotto gli Svizzeri nel 1591, Locarno 1991. - E K O . - August Franzen, Die Visitationsprotokolle der ersten nachtridentinischen Visitation im Erzstift Köln, 1960 (RGST 85). - Anton Gössi/Josef Bannwart, Die Protokolle der bischöflichen Visitationen des 18. Jh. im Kanton Luzern, Luzern/Stuttgart 1992 (Luzerner Hist. Veröff. 27). Rudolf K. Höfer, Die landesfürstliche Visitation der Pfarren u. Klöster in der Steiermark in den Jahren 1544/1545, Graz 1992 (Quellen zur gesch. Landeskunde der Steiermark 14). - Anton Landersdorfer, Das Bistum Freising in der bayerischen Visitation des Jahres 1560, St. Ottilien 1986 (MThS.H 26). - Paul Mai/Marianne Popp, Das Regensburger Visitationsprotokoll v. 1526: BGBR 21 (1987) 23 - 314. - Wilfried Pabst, Konfessionelles Nebeneinander im geistlichen Fürstentum Osnabrück, Osnabrück 1997 (Heimatkunde des Osnabrücker Landes in Einzelbeispielen 9). - Johann Rainer/Sabine Weiß, Die Visitation steirischer Klöster u. Pfarren im Jahre 1581, Graz 1977 (Forschungen zur gesch. Landeskunde der Steiermark 3). - Répertoire des visites pastorales de la France, hg. v. Dominique Julia/Marc Venard, Paris; I. Anciens diocèses (jusqu'en 1790). 1/1. AgdeBourges, 1977; 1/2. Cahors-Lyon, 1980; 1/3. Mäcon-Riez, 1983; 1/4. La Rochelle-Ypres et Bâle, 1985. - Repertorium der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. u. 17. Jh. in Archiven der B R D , hg. v. Ernst Walter Zeeden. I. Hessen, hg. v. Christa Reinhardt/Helga Schnabel-Schüle, 1982 (SMAFN

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1); II/l. Baden-Württemberg, hg. v. Peter Thaddäus Lang, 1984 (SMAFN 2/1); II/2. Baden-Württemberg, hg. v. Helga Schnabel-Schüle, 1987 (SMAFN 2/2). - Ernst Walter Zeeden/Hansgeorg Molitor, Die Visitation im Dienst der kirchl. Reform, Münster 1967 21977 (KLK 25/26). Zu 4.: Iselin Gundermann/Walther Hubatsch, Die ev. General-Kirchen- u. Schulvisitationen in Ost- u. Westpreußen, Göttingen 1970. - Répertoire des visites pastorales de la France, hg. v. Dominique Julia/Marc Venard, Paris; II. Diocèses concordataires et postconcordataires (à partir de 1801). II/l. Agen-Lyon, 1980; II/2. Marseille-Viviers, 1978. Zu S.: CIC. - Muster einer Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz vom 17. Dezember 1975: AB1EKD 1976, 91. - Richtlinien der Bischofskonferenz der VELKD über die Visitation vom 8. November 1963: AB1EKD 1964, 58. Literatur Zu 1.: Eine allg. Darst. zur Gesch. der Visitation fehlt. 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II. Praktisch-theologisch 1. Grundlagen 1.

2. Praxis

(Literatur S. 166)

Grundlagen

Die Praktische Theologie behandelt die Visitation gewöhnlich im Zusammenhang mit Gemeindeaufbau und Kirchenleitung. Die verschiedenen Formen von Visitation werden nach Bereichen bezeichnet, denen sie gelten. Die Gemeindevisitation findet auf der mittleren Ebene (Kirchenkreisvisitation o.a.) eine Entsprechung. Die Verwaltungsvisitation bezieht sich auf die Uberprüfung des Rechnungswesens, der Buchführung, des Bauzustandes der Gebäude, des Archivs u.a. Spezielle Visitationen gelten bestimmten Arbeitsfeldern der Regionalkirche (landeskirchliche Ämter, Akademien, Anstalten, Werke der Diakonie) oder bestimmten Arbeitsbereichen (Visitation von Gottesdiensten, Kinder- und Jugendarbeit u.a.). Die Gemeindevisitation legitimiert sich biblisch aus der Besuchstätigkeit der Apostel. Die paulinischen Briefe stehen im Zusammenhang einer Visite bei einer Ortsgemeinde in partnerschaftlicher Wechselseitigkeit. Sie belegen den Austausch von Glaubenserfahrungen, enthalten konkrete Weisungen, angeordnet um die zentrale Wirklichkeit des Heiligen -»Geistes, und ermutigen zur Vielfalt, ohne dabei die Zusammengehörigkeit der Christen aller Gemeinden aus den Augen zu verlieren. Die Gemeindevisitation ist ein geordnetes Begegnungsgeschehen und als solches ein Lebensmoment einer Nachfolgegemeinschaft „vor O r t " , die das Evangelium von der Versöhnung als das Ja zum neuen Leben bezeugt, zum Dienst als einem Lobpreis Gottes einlädt und sich ihrem Wesen nach als ein Leib mit den verschiedenen Gliedern versteht. Sie ist eine Plattform für eine Begegnung von Regionalkirche und Lokalgemeinde, bei der alle Beteiligten in ein wechselseitig wahrnehmendes Geschehen eintreten, das der besuchten Gemeinde helfen soll, im zeitlich begrenzten Rahmen ihre Gestalt mit den

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Augen der von außen herkommenden Besucher zu betrachten, ihre eigenen Fragen zu artikulieren und nächste Schritte auf dem Weg des Glaubens in der Nachfolge zu bedenken. Grundlagen für eine theologisch verantwortete Visitationspraxis erwachsen aus der gottesdienstlichen Gemeindeversammlung als dem ursprünglichen Ort von Gemeindeaufbau im Vollzug. Er geschieht als ein Bau an Beziehungen, der sein Fundament in der nichtableitbaren Urbeziehung von Gottes Liebe zu den Menschen hat. In jeder gottesdienstlichen Versammlung konstituiert sie sich neu, um sich von da aus in alle Bereiche des Lebens auszubreiten und die Gemeindeglieder als Glieder des Leibes Christi in Freiheit und Liebe aneinander zu weisen. Die Gemeindevisitation dient diesem vielfältigen Beziehungsgeschehen, indem sie einmal auf der kerygmatischen Ebene nach dem Profil der besuchten Gemeinde fragt. Sie versucht zum anderen, auf der Ebene des wechselseitigen Austauschs die möglichen Probleme der Gemeinde zu erkennen. Schließlich sucht sie auf der Ebene der Gestaltung des Zusammenlebens gemeinsam so etwas wie ein Programm zu erarbeiten, das die nächsten Schritte in den Blick nimmt und eine Brücke zwischen der vorfindlichen Lebenswirklichkeit und der ihr innewohnenden größeren Möglichkeit baut. Dieser gabenorientierte Ansatz von Visitation weist auf die Mitverantwortung aller in der Nachfolgegemeinschaft Stehenden für die Weitergabe des Christseins hin. In der Praxis findet sich häufig eine Verwaltungsvisitation (Kassenprüfung, Überprüfung der Kirchenbücher, Pfarramtsverwaltung) als ein selbständiger Vorgang. Gemeindevisitation als ein partnerschaftlich-kommunikativer Besuchsdienst blendet die notwendigen und sinnvollen Kontrollfunktionen der Visitationskommission nicht aus, zieht sie vielmehr zur Situationserhellung hinzu. Gelegentlich wird Gemeindeberatung als ein flankierendes Moment in zeitlicher Nähe vor oder nach einer Gemeindevisitation in Anspruch genommen. Visitation wird dann hinsichtlich der vier Ebenen leitbildorientierter Gemeindeberatung - Vision, Leitbild, Konzept, Durchführung (Lindner2 52—55.168—176) - zu einem Instrument des Controlling. In der Römisch-katholischen Kirche gehört die Visitation zu den persönlichen Pflichten des Diözesanbischofs. Er hat mindestens alle fünf Jahre die gesamte Diözese zu visitieren (CIC [1983] 396). 2. Praxis Die (Gemeinde-)Visitationsordnungen der EKD basieren auf einem Grundschema: einer Vorbereitungs-, einer Besuchs- und einer Begleitungsphase. Zur Vorbereitung gehören das Aufstellen eines Besuchsprogramms, der geschriebene Gemeindebericht, eine Fragebogenaktion (Gemeindebefragung). Darauf folgen in der Besuchsphase die Teilnahme am Gemeindegottesdienst, an Bildungsangeboten, an Kasualien und die Begegnung mit der Gemeinde in ihren Veranstaltungsformen, Gruppen und Einrichtungen. Hierher gehört auch der Austausch mit haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitern, der Besuch bei Pfarrer oder Pfarrerin, die Sitzung mit dem Kirchengemeinderat sowie der Kontakt mit Vertretern der katholischen Kirche, anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften und den gesellschaftlichen Einrichtungen. Ein Dialog von Visitationskommission und Gesamtgemeinde auf Grund des Visitationsberichtes bestimmt die Auswertungs- bzw. Begleitungsphase einer Gemeindevisitation. Vorsitzender in der Visitationskommission ist der Superintendent oder Propst. Sie besteht aus Teilnehmenden, die Sachverständige und hauptverantwortliche Mitarbeiter sind. Zahl und Zusammensetzung richten sich nach der zu visitierenden Gemeinde. Häufig wird ein „Außenstehender", z. B. aus der Ökumene, hinzugeladen. Die Dauer einer Gemeindevisitation reicht von drei Tagen bis zu einem halben Jahr, am häufigsten findet sich der Zeitraum von einer Woche. In der Regel wird eine Gemeinde alle sechs bis zehn Jahre visitiert.

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Damit Visitation gestaltbar ist, bedarf es einiger Instrumentarien. Als Wahrnehmungshilfen: ein Fragebogen, der zu Bestandsaufnahme (Selbstporträt, Außenwirkung der Gemeinde) verhilft, und ein Gemeindebericht, der in freier, ungebundener Form durch die Gemeindeleitung zusammengestellt ist und Auskunft gibt über die Sicht der zu besuchenden Gemeinde selbst mit ihren herausfordernden und ihren ermutigenden Erfahrungen. Zentrales Element im Begegnungsgeschehen ist der Besuch. Er ist geprägt durch Zuhören und Mitteilen, Wahrnehmen und Erwarten, Fragen und Erfahren. Sensibles Wahrnehmen hilft, die Situation der Besuchten mit den Befürchtungen, Wünschen und Hoffnungen zu erkennen. Die mitgebrachten, abgesteckten Erwartungen eines Teilnehmers der Visitationskommission sollten sich dadurch korrigieren lassen. So können Übereinstimmungen und Abweichungen für die spätere Auswertung des Besuches bedeutsam werden. Ein Tagebuch ergänzt die durch den Fragebogen, den Gemeindebericht und die Besuche erhaltenen Einsichten und vervollständigt durch erlebnisbezogene Beobachtungen, Einfälle und Phantasien das Bild vom inneren und äußeren Zustand der Gemeinde. Die Beratung der Visitationskommission mit dem Kirchengemeinderat zum vorliegenden Gemeindebericht und der erlebten Visitationspraxis erfordert konzeptionelle und identitätsstiftende Kompetenz, die in einen gemeinsam verantworteten Rahmen für die Gemeindearbeit in den kommenden Jahren mündet und in der Gemeindeversammlung zur Diskussion gestellt wird. Der Visitationsbericht der Visitationskommission nimmt die Ergänzungen der Gemeindeversammlung auf und wird der jeweiligen Regionalkirche (Kirchenleitung) in ihrer gesamtkirchlichen Verantwortung zur Auswertung der die Einzelgemeinden übergreifenden, miteinander verknüpfenden Arbeit zugeleitet. Ein Zwischenbesuch der Visitationskommission bei dem Kirchengemeinderat mit dem Ziel, gemeinsame Vereinbarungen und bisher erfolgte Schritte zu überprüfen, bildet die Ausgangsbasis für eine nächste Visitation. Hier zeigt sich die Dimension einer visitatio continua. In ihren Grundzügen läßt sich die gegenwärtige Visitationstätigkeit in Anlehnung an ein Modell, das in der Evangelischen Landeskirche in Baden erprobt wird, darstellen (Visitation von Pfarr- und Kirchengemeinden. Entwurf einer Ordnung, Formblätter und praktische Hilfen, hg. v. der Evangelischen Landeskirche in Baden, 1997). Vorbereiten: 1) Der Bezirkskirchenrat schlägt dem Kirchengemeinderat Termine zur Durchführung einer Visitation mit der Bitte um Rückmeldung vor; 2) der Kirchengemeinderat entscheidet sich in einer Klausurtagung für die Gemeindevisitation, gestaltet den Gemeindebericht und entwirft einen Fragebogen; 3) Durchführung der Umfrage und anschließende Auswertung der repräsentativen Gemeindebefragung im Kirchengemeinderat; 4) Orientierungsgespräch von Visitationskommission und Kirchengemeinderat über Verlaufsstruktur, den vorliegenden Gemeindebericht und die Fragebogenerhebung. Visitationswocbe: 1) Gespräch der Visitationsgruppe mit Pfarrer/Pfarrerin, Besuche bei Trägern und Gruppierungen der Gemeindewirklichkeit; 2) Besichtigung der Gebäude und Prüfung der Verwaltung; 3) internes Gespräch der Visitationskommission; 4) ausführliche Besprechung von Visitationskommission und Kirchengemeinderat zur vorfindlichen Situation und zu Vorstellungen von einer veränderten Gemeindearbeit mit dem Ziel eines gemeinsam erarbeiteten Rahmens für die Gemeindearbeit in den kommenden Jahren; 5) Gespräch mit dem Bürgermeister und Gemeinderäten; 6) interne Kirchengemeinderatssitzung mit Beschluß über den gemeinsam verantworteten Rahmen für die Gemeindearbeit in den kommenden Jahren; 7) Abend der Begegnung mit allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen; 8) Gottesdienst mit Predigt des Pfarrers/der Pfarrerin, Kindergottesdienst; 9) Gemeindeversammlung, in der Hauptpunkte des erstellten Rahmens für die Gemeindearbeit in den kommenden Jahren diskutiert werden. Begleiten: 1) Übersenden des durch den Kirchengemeinderat beschlossenen und durch die Gemeindeversammlung ergänzten Rahmenplans an die Regionalkirche/Kirchenleitung; 2) Klausurtagung aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur „Vernetzung" der gruppeninternen Ergebnisse aufgrund der Gemeindevisitation; 3) Gemeindeabend zur vergangenen Gemeindevisitation; 4) nach drei Jahren: Zwischenbesuch durch die Visitationskommission zur Umsetzung des Rahmenplans und zu möglichen neuen Vereinbarungen; 5) nach sechs Jahren: neue Visitation.

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Friedrich Krause

Visser't Hooft, Willem Adolf 1. Leben und Werk

(1900-1985)

2. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 168)

1. Leben und Werk Willem Adolf t Hooft (seit 1917 Visser't Hooft) wurde am 20. September 1900 in Haarlem geboren und starb am 4. Juli 1985 in Genf. Er wuchs in einem von liberalem Reformcalvinismus geprägten bürgerlichen Klima in Haarlem als Sohn eines Anwalts auf. Schon als Gymnasiast nahm er an Veranstaltungen der volksmissionarischen und erweckungsreligiösen Nederlandsche Christen-Studentenvereniging (NSCV) teil, woraus die spätere Entscheidung für ein Theologiestudium an der Traditionsuniversität -»Leiden erwuchs. Er engagierte sich weiterhin in der NSCV und nahm u. a. an verschiedenen Tagungen im In- und Ausland teil, die ganz unter dem Einfluß der ersten „Rechristianisierungs"-Bewegung nach dem „Großen Krieg" standen und auch in den Kontext des stark emotionalen westeuropäischen Nachkriegspaziiismus einzuordnen sind. 1918 bis 1920 noch zugleich für Rechtswissenschaften immatrikuliert, schloß Visser't Hooft im Dezember 1923 in Leiden sein Theologiestudium ab. Als er 1924 zum Sekretär des Weltbundes des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) in Genf ernannt wurde, konnte er bereits eigene Erfahrungen in den internationalen Kirchenbeziehungen vorweisen. Schon damals erschien er auf diesem Posten durch seine Verbindung von Idealismus und Organisationstalent als Idealbesetzung. Genf wurde für Visser't Hooft zum Lebensmittelpunkt. Auch Visser't Hooft stand unter dem für seine Generation charakteristischen prägenden Einfluß von K. -»Barths Römerbrief; der andere prägende Einfluß war die Begegnung mit der religiösen und kirchlichen Vielfalt innerhalb der frühen ökumenischen Bewegung, in der Visser't Hooft seit 1925 aktiv war. Er verstand Barths -•Dialektische Theologie stets als Schlüssel zur Ökumene, was sich schon in seiner Dissertation The Background ofthe Social Gospel von 1928 zeigte. Barths anspruchsvolle Ablehnung aller „Bindestrich-Theologie" gab Visser't Hooft den Maßstab für den Vergleich der grundverschiedenen Religiositätsformen der sozialemanzipatorischen amerikanischen Bewegung des -*Social Gospel mit der modernitätskritischen und kulturpessimistischen mitteleuropäischen -+ Jugendbewegung christlicher Prägung. Seit 1929 war Visser't Hooft für den Christlichen Studentenweltbund (World's Student Christian Federation [WSCF]) tätig, von 1929 bis 1939 zugleich als Betreuer der ökumenischen Zeitschrift The Student World. Ab 1932 war er Generalsekretär, ab 1936 Vorsitzender des WSCF und mit dessen inhaltlicher Positionierung in einer Zeit hochideologischer, ersatzreligiöser Herausforderung und des realen „Weltbürgerkriegs" in Europa beschäftigt: einer Herausforderung gerade auch, wie das deutsche Beispiel der bereits seit 1918 völkisch-antisemitisch verfaßten, ab 1931 nationalsozialistisch do-

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minierten Deutschen Studentenschaft zeigte, unter Studierenden. Seine antitotalitäre Kritik dieser Erscheinungen, zu denen auch eine - wenn auch kleine - faschistische Partei in seinem Heimatland, die Nationaal-socialistische Beweging unter Anton A. Mussert (1894-1946), gehörte, faßte Visser't Hooft 1937 in seiner Studie None Other Gods zusammen, in der er den Hochideologien der Zeit die Wirklichkeit des Wortes Gottes gegenüberstellte. Gedacht war dies als Einladung zur praktischen Ökumene aller gleichermaßen herausgeforderten Christen in der Welt, und darin lag zugleich die programmatische Bedeutung der Schrift, die charakteristisch für Visser't Hoofts Argumentation ist: in Zeiten elementarer Bedrohung müssen konfessionelle, theologische und kirchliche Grenzen innerhalb der Christenheit hinter der Besinnung auf den einen Gott zurücktreten. Das im Niederländischen kleingeschriebene kerk schrieb Visser't Hooft aus diesem Bewußtsein heraus groß: Kirche bedeutete für ihn die sichtbare Glaubensrealität der Gemeinschaft in Christus, deren Befestigung das Anliegen der Weltökumene sei. Visser't Hooft verkörperte die dazu erforderliche Verbindung von Verkündigung und ökumenischer Organisation: seit 1936 war er Prädikant der Église Nationale Protestante de Genève.

Vor diesem Hintergrund war es konsequent, daß dem international bekannten Visser't Hooft im Mai 1938 das Amt des Generalsekretärs des einzurichtenden Ökumenischen Rates der Kirchen angetragen wurde, dessen Zustandekommen der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zunächst verhinderte. Visser't Hooft wuchs nun in die Rolle einer Kontaktperson für den Widerstand im nationalsozialistisch besetzten Europa hinein; u.a. mit direkten Verbindungen zum niederländischen Widerstand, innerhalb dessen wiederum dem kirchlichen Widerstand eine entscheidende, integrierende Rolle zukam. In exemplarischer Weise stand Visser't Hooft für den Zusammenhang von Ökumene, Widerstand, der Forderung nach „Rechristianisierung" und sozialer Reform in einem befreiten Europa: dies war zugleich eine die politische Kultur stark beeinflussende, wenngleich auch kontroverse Sozialisationserfahrung politischer Eliten vor allem in den Niederlanden bis in die 1950er Jahre. Trotz oder vielmehr wegen dieser Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg setzte sich Visser't Hooft, dessen ökumenische Konzeption in deutschen Kirchenkreisen bei den „nichtdahlemitischen" Gruppierungen im Kirchenkampf, vor allem beim Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche 1934-1945, weithin auf eine traditionell antiwestlich und antiliberal, teils auch konfessionalistisch motivierte Fundamentalablehnung gestoßen war, für eine Versöhnung zwischen den Kirchen ein. Visser't Hooft stand hinter dem ökumenischen Treffen, in dessen Rahmen am 19. Oktober 1945 die Stuttgarter Schulderklärung (vgl. T R E 24,69,50ff.) abgegeben wurde. Seine integrationsfreundliche ökumenische Politik war auch im innerniederländischen Protestantismus nicht unumstritten gewesen, da sie in die seit 1918 ausgetragene Kontroverse um die ökumenische Alternative einer Orientierung am angloamerikanisch-westlichen Protestantismus oder am reformatorischen Kernland Deutschland geraten war. Diese Frage erhielt unter der nationalsozialistischen Besetzung 1940-1945 eine besondere innenpolitische Brisanz im Hinblick auf die nationalreligiöse niederländische Identität und Fragen der Kollaboration. Durch die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen am 23. August 1948 erhielt Visser't Hooft auch formal das Amt, das er informell längst wahrnahm: das des Generalsekretärs, das er bis 1966 ausübte. Seit 1948 setzte Visser't Hooft der wachsenden Genfer Organisation weitgesteckte Ziele: u. a. die stärkere Einbindung der Laien, die behutsame Beförderung der Gleichberechtigung in kritischer Auseinandersetzung mit theologischen Traditionen und Mentalitäten, den Versuch einer unabhängigen Kirchenpolitik in einer bipolaren Welt des Kalten Krieges gerade gegenüber allen Kirchen in der sowjetischen Einflußsphäre bei gleichzeitigem Festhalten an der Unabdingbarkeit der Bekenntnisfreiheit. Als Visser't Hooft 1966 seine aktive Zeit als Generalsekretär beendete und zum Ehrenpräsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen wurde, konn-

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te er auf bemerkenswerte Erfolge zurückblicken: Es war ihm gelungen, die Weltökumene institutionell zu integrieren und ihr eine unverwechselbare Stimme in allen Belangen der Einheit der Christenheit zu geben, von theologischen bis zu sozialen Fragen. 2. Wirkung Der Niederländer Willem Adolf't Hooft gehört als theologischer Mittler und überzeugter ökumenischer Koordinator zu den herausragenden kirchlichen Integrationsgestalten des 20. Jh. Die heutige Gestalt und Form der institutionalisierten Ökumene geht im wesentlichen auf seinen prägenden Einfluß zurück. Visser't Hooft verkörpert zugleich die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung des niederländischen Protestantismus im 20. Jh. im exemplarischen Übergang von einer stark christlich-korporativ versäulten zu einer pluralistisch-permissiven niederländischen Gesellschaft sowie die praktische Übertragung dieses Erfahrungshintergrunds auf ökumenische Fragen. Fest verwurzelt in der Theologie Karl Barths, betonte Visser't Hooft stets den ausdrücklichen persönlichen Auftrag aller Christen zur verantwortlichen Zusammenarbeit und Gestaltung des Zusammenlebens in christlichem Geist, innerhalb und außerhalb der Gemeinde. Die christliche Bindung des Individuums sollte, Visser't Hoofts Verständnis nach, in Respekt vor den historisch gewachsenen konfessionellen Verschiedenheiten den Menschen für die christliche Gemeinschaft öffnen. Daraus resultierten neue Mitgestaltungsperspektiven und Dimensionen christlicher Verantwortung, aber auch von Visser't Hooft klar benannte Gefahren relativierender Politisierung für ein „engagiertes", sich einmischendes Christentum in der Welt, das zugleich None otber Gods kennt. Visser't Hoofts Rezeption ist durch seine weit über 1.000 Veröffentlichungen und seine ökumenischen Ämter geprägt. Dabei sah sich Visser't Hooft zeitlebens als theologischer Mittler, weniger als wissenschaftlicher Theologe. Viele seiner Arbeiten, so z.B. Rembrandt et la Btble von 1947, thematisieren Mentalitäten und Kulturgeschichte des Christentums und damit Perspektiven, die in der heutigen Kirchengeschichte als christentumsgeschichtliche Perspektiven wieder aufgegriffen werden. Ein Beleg für Visser't Hoofts publizistische Wirkung ist auch, daß er 1966 zusammen mit Augustin Kardinal Bea den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Zu seinen zahllosen Auszeichnungen und Ehrungen gehören u.a. Ehrendoktorate der theologischen Fakultäten in -»Harvard, ->Yale, -»Oxford und ->Princeton. Quellen 1. Archivalien: Archief Visser't Hooft im Archiv des Weltkirchenrats Genf. - Sammlung Visser't Hooft im Rijskinstituut voor Oorlogsdocumentatie, Amsterdam. 2. Gedruckte Quellen: Aat Guittart, Bibliogr. der Veröff. v. Willem Adolf Visser't Hooft, 1918-1972/1975: John Robert Nelson/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Um Einheit u. Heil der Menschheit. Frankfurt a.M. 1973 »1976, 2 6 9 - 3 3 8 . 3. Werke: Holl. Kirchendokumente. Der Kampf der hol], Kirche um die Geltung der göttlichen Gebote im Staatsleben, Zollikon 1944 z1946 [Red.]. - The Kingship of Christ. An Interpretation of Recent European Theology, London 1948 (The Stone Lectures, delivered at Princeton Theol. Seminary). - Stimmen aus der Ökumene. 25 Jahre ökum. Rat. Dankgabe an Willem Adolph Visser't Hooft, hg. v. Christian Berg u.a., Berlin 1963. - No Other Name. The Choice Between Syncretism and Christian Universalism, Philadelphia, Pa. 1963, dt.: Kein anderer Name. Synkretismus oder christl. Universalismus, Basel 1965. - Heel de kerk voor heel de wereld. Balans van de oecumene, Utrecht u. a. 1968; dt.: Hauptschr. I. Die ganze Kirche f. die ganze Welt; II. ökum. Aufbruch, Stuttgart 1967. - Kirche f. die eine Menschheit. Ausgew. Reden u. Sehr., Berlin 2 1971. - Memoires. Een leven in de oecumene, Amsterdam u. a. 1971; dt.: Die Welt war meine Gemeinde. Autobiographie, München 1972 2 1974. - The Genesis and Formation of the World Council of Churches, Genf 1982; dt.: Ursprung u. Entstehung des ökum. Rates der Kirchen. Frankfurt a.M. 1983 (ÖR.B 44). - ökum. Rat der Kirchen (Hg.), Es begann in Amsterdam. 40 Jahre ökum. Rat der Kirchen, Frankfurt a.M. 1989 (ÖR.B 59).

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Vitoria Literatur

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Vita Adae et Evae —»Adam, —»Pseudepigraphen des Alten Testaments

Vitoria, Francisco de (um 1483-12. 1. Leben und Werk

2. Wirkung

August

1546)

(Quellen/Literatur S. 172)

1. Leben und Werk Francisco de Vitoria, nach Geburts- und Todesjahr ein Zeitgenosse Martin -»Luthers, wurde vermutlich 1483 in Burgos geboren. Er entstammte der Verbindung zweier Familien, die in der alten kastilischen Hauptstadt über Einfluß am Königshof verfügten. Unter den Vorfahren und Verwandten der Mutter waren Juden, die das Christentum angenommen hatten (conversos). Vitoria gehörte zu den letzten seiner Familie, bei denen die fehlende „Reinheit des Blutes" (limpieza de sangre) nicht mehr das Fortkommen in Kirche und Gesellschaft bestimmte. Über den jungen Mann ist nur bekannt, daß er 1505 gemeinsam mit seinem Bruder Diego in den Dominikanerkonvent seiner Heimatstadt eintrat. Die von den „Katholischen Königen" Ferdinand von Aragon (1452-1516) und Isabella von Kastilien-Leon (1451-1504) betriebene Reform von Kirche und Staat stand kurz vor ihrer Vollendung. Auch die kastilische Dominikanerprovinz hatte sich auf strenge klösterliche Lebensformen und die Wertschätzung von Studium und Predigt besonnen. Drei Jahre später wurde der offensichtlich hochbegabte Francisco de Vitoria nach -•Paris geschickt, artes und Theologie zu studieren. Er lebte im Konvent Saint Jacques, scheint sich aber nicht nur an Magistern seines Ordens orientiert zu haben. Vitorias spätere Lehrtätigkeit in Salamanca durchzieht eine hier und da unorthodoxe Auseinandersetzung mit „modernen" Theologen wie dem Tübinger G. -»Biel oder Jacques Almain (gest. 1515), einem konziliaristisch gesinnten Widersacher von J. -»Cajetan de Vio in Paris. Auch an humanistischer Gelehrsamkeit, wie sie der Valencianer J.L. -» Vives und -»Erasmus von Rotterdam verkörperten, nahm Vitoria Maß. Richtschnur des theologischen Unterrichts waren noch immer die Kommentare zu den Sentenzen des -»Petrus Lombardus. Durch seinen flämischen Lehrer Petrus Cro-

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Vitoria

ckaert (gest. 1514) wurde Vitoria bald mit der Summa theologiae des -»Thomas von Aquino vertraut. Der Spanier verfaßte das Vorwort zu der ersten in Frankreich gedruckten Ausgabe des zweiten Teils des zweiten Buches der Summa. Die Secunda secundae (S.th. II-II) mit ihren sieben Traktaten über die drei „theologischen" -•Tugenden —»Glaube, -»Liebe und -»Hoffnung und die vier „Kardinaltugenden" Klugheit, -»Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß standen fortan im Zentrum der vitorianischen Theologie. Die Sentenzen boten solchen Stoff nicht. Trotzdem las Vitoria zwischen 1516 und der Erlangung des theologischen Lizentiats und des Doktorgrades im Jahr 1522 in Saint-Jacques die Sentenzen. Die Summa legte er erst seinen späteren Vorlesungen in Valladolid (1523—1526) und in Salamanca (15261546) zugrunde, gegen alles Recht und Herkommen. Zum „Thomisten" wurde Francisco de Vitoria dadurch nicht. Gegenüber den Doktrinen des (bald so genannten) Kirchenlehrers bewahrte sich Vitoria große Freiheit. Es war der nüchterne, auf das Wesentliche konzentrierte Stil der thomasischen Argumentation, die den „spanischen Doktor an der Sorbonne" (so Erasmus von Rotterdam, der Vitoria noch im Jahr 1527 einen Brief nach Paris schickte [Opus Epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, ed. P.S. Allen, Oxford, VII 1928 11992, 254-261]) für die Summa einnahm. Die spanischen Vorlesungen zeigen den magister als umfassend gebildeten und argumentativ-abwägenden Theologen. Mit der Schultheologie des 13. Jh. war Vitoria ebenso vertraut wie mit den theologischen und kirchenpolitischen Strömungen seiner Zeit. Gegenüber papalistischen Strömungen vertrat er Zeit seines Lebens gemäßigt konziliaristische Thesen. Imperialen, gegen Frankreich gerichteten Tendenzen des Habsburgers -»Karl V. hielt Vitoria das bonum commune der christianitas entgegen. Hegemoniebestrebungen christlicher Fürsten seien fehl am Platz, wenn das Abendland von außen durch die Türken (-»Türkenkriege) und von innen durch die -»Reformation bedroht sei. Über Luther und die von Deutschland ausgehende Reformation sind nur ablehnende Äußerungen überliefert. Die ersten drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Kastilien lehrte Vitoria an dem jungen kastilischen Elitekolleg San Gregorio in Valladolid. Seit 1525 magister der Theologie, gewann Vitoria im darauffolgenden Jahr den Wettbewerb um den bedeutendsten theologischen Lehrstuhl Kastiliens, die cätedra de prima in Salamanca. Dort beschränkte sich Vitoria nicht darauf, den Studenten gleichförmige Kommentare zu den quaestiones der Summa theologica zu diktieren (lecturas). Den Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit setzte Vitoria auf die Kommentierung der Secunda secundae, speziell des Traktates De iustitia. Wegen systematischer Mängel wurde die thomasisch-aristotelische Gerechtigkeitslehre modifiziert. Unter dem Einfluß der Theologie des Franziskaners -»Duns Scotus sowie der Vermittlung von Gabriel Biel und des Opus septipertitum de contractibus des Konrad Summenhart (gest. 1502) näherte sich Vitoria in der Grundlegung der Gerechtigkeitslehre (Kommentar zu S.th. II-II q. 57ff.) einem modernen, „subjektiven" Verständnis von Recht (ius als facultas utendi re). Den Ausführungen über Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit stellte der Salmantiner Theologe eine ausführliche Eigentumstheorie (dominium) voran (Kommentar zu S.th. II-II q. 62). In der Erörterung wirtschaftsethischer Fragen (Kommentar zu S.th. II-II q. 77f.) trat die Denkfigur „objektiv unsittlicher Handlungen" gegenüber einer teleologischen Argumentation zurück, die Maß an dem „Wohl des Gemeinwesens" nahm. Auf den täglichen Vorlesungen aufbauend nahm Vitoria in Salamanca eine längst vergessene Übung wieder auf: zwischen 1527 und 1539 äußerte der Magister sich in insgesamt vierzehn öffentlichen Vorlesungen (relectiones) zu aktuellen kirchlichen und politischen Vorgängen. Dreizehn von ihnen sind erhalten, nahezu alle nehmen ihren Ausgang bei einer der zahlreichen religiösen oder politischen Umwälzungen der Zeit. Die Vorlesungen Über die Kirchengewalt I und II (1532/33) sowie Über die Gewalt des Papstes und des Konzils (1534) behandeln das Thema der Kirchenreform so freimütig,

Vitoria

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daß die drei Relectiones zu den bedeutendsten ekklesiologischen Abhandlungen des 16. Jh. zählen. Vitorias Auffassungen über die potestas indirecta des Papstes gaben -•Sixtus V. Anlaß, Vitorias Relectiones auf den römischen Index der verbotenen Bücher (-»Zensur) zu setzen. Themen der „politischen Philosophie" behandelte Vitoria in seinen öffentlichen Vorlesungen Über die Staatsgewalt (1528) sowie Über die Inder und Über das Kriegsrecht (1538/1539). Über die Staatsgewalt handelt unter dem Eindruck der ein Jahrzehnt zurückliegenden Rebellion kastilischer Städte (comunidades) gegen Karl I. (-»Karl V.) und der wohl reformatorischen Forderung nach libertas evangelica von Grund und Grenzen der staatlichen und speziell der königlichen Gewalt. Vitoria gibt sich als Vertreter einer im Kern konstitutionellen Monarchie zu erkennen. In nuce enthält die Vorlesung, die auf Vitorias Kommentar zum Traktat Über das Gesetz aus der Prima secundae der Summa des Thomas (S.th. I-II q. 90ff. De lege) zurückgeht, eine philosophische Anthropologie: der Mensch ist von seiner Natur aus auf Gemeinschaft (societas) und Kommunikation (communicatio) angewiesen. Diesen Gegebenheiten entsprechen unter der Gerechtigkeitsmaxime Billigkeit (aequitas) das Recht auf Freizügigkeit (peregrinatio) und Handel (negotiatio! commercium). Der Denkhorizont des Wohls (bonum commune) der christianitas geht auf in dem Wohl des ganzen Erdkreises (bonum commune totius orbis). Die Grundlage für Vitorias Weltwirtschaftsethik und ein modernes -»Völkerrecht war gelegt. Unter dem Eindruck mündlicher Berichte über Greueltaten der Spanier bei der Eroberung Perus und immer mächtiger werdender Zweifel an der Rechtmäßigkeit der conquista stellte sich der Salmantiner Theologe von 1535 vermehrt theologischen und ethischen Fragen, die sich aus der Eroberung einer „Neuen Welt" ergaben. In der Vorlesung Über das, wozu der Mensch verpflichtet ist, sobald er den Vernunftgebrauch erlangt hat (1535) fragte der Salmantiner Theologe nach dem Verhältnis zwischen dem universalen Heilswillen Gottes und der Abwesenheit des geoffenbarten Glaubens in einem großen Teil der Welt. Die Vorlesung Über das Maßhalten (1536) nahm ihren Ausgang bei Berichten über Kannibalismus und Menschenopfer in der Neuen Welt. In der wohl berühmtesten Vorlesung Über die Inder (1539) systematisierte Vitoria sogenannte „legitime" und „illegitime" Rechtstitel, die zur Besetzung der Neuen Welt durch die Spanier herangezogen wurden oder werden konnten. Ein Großteil der in der kirchlichen und politischen Publizistik seiner Zeit angeführten Rechtstitel wurde verworfen. Unglaube war für Vitoria ebensowenig ein Rechtsgrund der Eroberung wie eine wie auch immer geartete Weltherrschaft des Papstes oder des römischen Kaisers. Die „Barbaren" der Neuen Welt waren in seinen Augen vor der Ankunft der Spanier Eigentümer und Herren im juristischen Vollsinn der Begriffe. In hypothetischer Form postulierte Vitoria sodann acht Rechtstitel, deren Verletzung die Spanier ermächtigen würde, sie mit Gewalt durchzusetzen. Das antike römische Fremdenrecht (ius gentium) wurde ihm dabei zu einem durch Konsens herausgebildeten Recht des Erdkreises. Zum diesem zählen etwa das Recht auf Freizügigkeit, auf Handel und auf Glaubensverkündigung. Gewalt, die ultima ratio der Rechtsdurchsetzung, unterliegt formal den Regeln des Völkerrechts. Auch material zählt Vitoria nun einen erheblichen Teil des Kriegsrechts (Vorlesung Über das Kriegsrecht [1539?]) in seiner doppelten Gestalt als Recht zum Krieg und Recht im Krieg zum Völkerrecht. Vitorias öffentliche Infragestellung der Legitimität der spanischen Herrschaft über die Neue Welt rief den Kaiser auf den Plan. Mit Schreiben vom 10. November 1539 an den Prior von San Esteban verbat sich Karl V. jede weitere öffentliche Äußerung in dieser Angelegenheit und suchte die Verbreitung von Manuskripten und Vorlesungsmitschriften zu unterdrücken. Trotz dieser Zensur nominierte der Kaiser Vitoria einige Jahre später als Teilnehmer des Konzils von Trient (—•Tridentinum). Der Theologe konnte freilich die Reise nicht mehr antreten. Seit langem von Krankheit gezeichnet, starb er am 12. August 1546 in Salamanca im Alter von 63 Jahren.

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Vitoria

Anders als die Vorlesungsmitschriften vieler Zeitgenossen wurden die lecturas des Salmantiner Theologen im 16. Jh. nicht publiziert. Je weiter das Jahrhundert der -»Katholischen Reform voranschritt, desto anstößiger wirkte Vitorias vielschichtige, abwägende Argumentation. Die Kelectiones wurden erstmals elf Jahre nach dem Tod Vitorias in Lyon gedruckt. Eine verbesserte Auflage erschien 1565 in Salamanca. 2. Wirkung Francisco de Vitoria ist in doppelter Hinsicht der Begründer der „spanischen Spätscholastik": Der Salmantiner Theologe symbolisiert die Hinwendung der Theologie des 16. Jh. zu Geist und Buchstaben der Theologie des Thomas von Aquino und steht damit am Beginn einer langen Reihe spanischer, portugiesischer, italienischer und deutscher Theologen, die von der iberischen Halbinsel und Rom aus die Gegenreformation nach Westeuropa trugen. Auch wenn ihm seine Schüler in vielen Punkten nicht folgten, zählen seine Vorlesungen und Relectiones formal wie inhaltlich zu den überragenden theologischen Werken des 16. Jh. Vitorias theoretische Auseinandersetzung mit den Rechtsgründen der Eroberung Amerikas führte zusammen mit der Agitation seines Ordensbruders Bartolomé des Las Casas (1474-1566) gegen die Vernichtung der Indios durch die Spanier zu einer „kolonialethischen" Debatte (Höffner), wie sie in keinem Land Europas jemals wieder geführt werden sollte. In praktischer Hinsicht sind die (später teilweise wieder aufgehobenen) „Neuen Gesetze", mit denen Karl V. im Jahr 1542 Auswüchsen der spanischen Herrschaft begegnen wollte, ein Reflex vitorianischer Gedanken. In der Geschichte des Völkerrechts markiert die Fortführung zahlreicher Gedanken Vitorias durch den niederländischen Juristen und Diplomaten Hugo -»Grotius (De iure belli ac pacis) einige Jahrzehnte später endgültig den Durchbruch einer neuen Zeit. Auch im protestantischen -»Naturrecht des 17. und 18. Jh. wird Vitorias Rechtslehre rezipiert, wenn auch die offene Berufung auf einen katholischen Theologen nicht mehr opportun ist. Die Wirkungsgeschichte bedarf indes einer näheren Untersuchung. Nicht unterschätzt werden darf Vitorias Einfluß auf die politische Philosophie und die Entstehung des neuzeitlichen Privatrechts. Die Synthese von aristotelisch-thomasischer Gerechtigkeitslehre und moderner dominium-Theorie (Herrschaft; —»Eigentum) wird vor allem von den Jesuitentheologen Luis de -»Molina und Leonhard Lessius (1554-1623) weitergeführt. Deren Rechts- und Staatsphilosophie wirkt auf die englische politische Philosophie ein, etwa auf John Lockes (1632-1704) Second treatise of Government. Auch diese Strömungen sind bislang kaum erforscht. Quellen Lecturas: Francisco de Vitoria, Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomás (lat.), hg. v. Vicente Beltrán de Heredia, 6 Bde., Salamanca 1931-1952. Relectiones: Obras de Francisco de Vitoria, Relecciones teológicas (lat.-span.), hg. v. Teofilo Urdánoz, Madrid 1960. — Leçons sur les Indiens et sur le droit de guerre, hg. v. Maurice Barbier, 1966 (C1PP 3). - Relectio De Indis o libertad de los Indios (lat.-span.), hg. v. Luciano Perena/José Manual Pérez-Prendes, 1967 (CHP 5) [krit. Apparat]. - Leçon sur le pouvoir politique, hg. v. Maurice Barbier, Paris 1980. - Relectio de Iure belli o paz dinámica (lat.-span.), hg. v. Luciano Perena u.a., 1981 (CHP 6) [krit. Apparat]. - Francisco de Vitoria, Politicai Writings, hg. v. Anthony Pagden/Jeremy Lawrence, Cambridge 1991. - Vorl., hg. v. Ulrich Horst u.a., MI 1995-1997 (ThFR 7-8). Weitere Werke: Vicente Beltrán de Heredia, Collección de dictámenes inéditos del maestro Fray Francisco de Vitoria: CTom 23 (1931) 27 -50.169-180. - Franz Ehrle, Die vatikanischen Hss. der Salmantizenser Theologen des 16. Jh. (Von Vitoria bis Banez): Kath. 64 (1884) 495 -522.632654; 65 (1885) 85-107.161-183.405-424.503-522. Literatur G. C.J.J. van der Bergh, Eigendom. Grepen uit de Geschiedenis van een omstreden begrijp, Deventer 1979 (Rechtshist. Cahiers 1). - Francisco Castillo Urbano, El pensamiento de Francisco de Vitoria. Filosofía política e indio americano, Barcelona/México 1992. - Contract. Aspecten

Vives

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van de begrippen contract en contractsvrijheit in historisch perspectief, hg. v. Robert Feenstra/ Margreet Ahsmann, Deventer 1980 (Rechtshist. Cahiers 2). - Daniel Deckers, Gerechtigkeit u. Recht. Eine hist.-krit. Unters, der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria, 1991 (SThE 35). - John H. Elliott, Die Neue in der Alten Welt. Folgen einer Eroberung, Berlin 1991. - Juan Antonio Fernández-Santamaría, The State, War and Peace. Spanish Politicai Thought in the Renaissance 1 5 1 6 - 1 5 5 9 , Cambridge 1975. - Ricardo Garcia Villoslada, La Universidad de Paris durante los estudios de Francisco de Vitoria O.P. ( 1 5 0 7 - 1 5 2 2 ) , 1938 (SFHE Ser. B 14). - Heinz-Gerhard Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg u. Frieden, 1991 (ThFr 5). - Ramón Hernández, Un Español el la U N O . Francisco de Vitoria, Madrid 1977. - Josef Höffner, Christentum u. Menschenwürde, Trier 1947; u.d.T. Kolonialismus u. Evangelium. Span. Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1972. - Ulrich Horst, Ekklesiologie u. Reform. Voraussetzungen u. Bedingungen der kirchl. Erneuerung nach Francisco de Vitoria: Revista de Historia das ideias 9 (1987) 1 1 7 - 1 6 0 . - Vicente Muñoz Delgado, Lógica, ciencia y humanismo en la renovación teológica de Vitoria y Cano: R T E 38 (1978) 2 0 5 - 2 7 1 . - Gerhard Otte, Das Privatrecht bei Francisco de Vitoria, Köln/ Graz 1964. - Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum, Köln 1950. - James Brown Scott, The Spanish Origin of Int. Law. Francisco de Vitoria and his Law of Nations, Oxford/London 1934. — La Seconda Scolastica nella formazione del diritto privato moderno, hg. v. Paolo Grossi, Mailand 1972. - Quentin Skinner, T h e Foundations of M o d e m Politicai Thought, 2 Bde., Cambridge 1978. - Rainer Specht, Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik: ABG 21 (1977) 8 6 - 1 1 3 . - Friedrich Stegmüller, Francisco de Vitoria y la doctrina de la gracia en la Escuela Salmantina, Barcelona 1934. - Antonio Truyol y Serra, Die Grundsätze des Staats- u. Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, Zürich 1957. - Coelestin Zimara, Einblicke in die Unterrichtsweise des Francisco de Vitoria: D T 24 (1946) 429 - 4 4 6 ; 25 (1947) 192 - 224.

Daniel Deckers

Vives, Juan Luis 1. Leben

(1492-1540)

2. Werk und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 176)

1. Leben Juan Luis Vives wurde am 6. März 1492 als Sohn zum Christentum konvertierter Juden in Valencia geboren. Sein Vater hatte es als Tuchhändler zu bescheidenem Wohlstand gebracht, doch wurde er am 6. September 1524 wegen seines angeblichen Rückfalls ins Judentum durch die Behörden der -»Inquisition verurteilt und hingerichtet. Die Mutter war schon 1508 an der Pest gestorben, wurde aber dennoch später exhumiert und verbrannt. Der junge Vives schrieb sich 1508 im Gymnasium seiner Heimatstadt ein und studierte die lateinische Grammatik bei Jerónimo Amiguet, aus Tortosa stammend, und Daniel Sisó sowie die griechischen Klassiker; möglicherweise bei Bernardo Navarro. Bereits 1509 reiste er nach -»-Paris, wo er im Collège de Montaigu unter Jan Dullaert von Ghent (Dullardus) und Gaspar Lax de Sarinena (1487-1560) in die spätscholastische Philosophie und Theologie eingeführt wurde. Wegen des vielfach bezeugten strengen Unterrichtsstils verließ Vives 1512 die Pariser Universität und wechselte nach Brügge, wo er sich intensiv mit dem Studium klassischer Texte und humanistischer Autoren beschäftigte. Eine vorläufige Bleibe fand er im Hause des Kaufmanns Bernardo Valdaura, mit dem er möglicherweise verwandt war. Die flämische Handelstadt wurde trotz einiger Reisen und erneuter Aufenthalte in Paris (1514 und 1520) zu seiner Heimat. Vives sammelte einen Freundeskreis um sich, zu dem auch Frans van Cranevelt (1485-1564), Jan van Fevijn (1490-1555) und Marcus Laurinus (1488-1540) zählten. Zunächst finanzierte er seinen Unterhalt durch Privatunterricht, bis er um Ostern 1517 zum Hauslehrer des jungen Kardinals und Bischofs von Cambrai, Guillaume de Croy (1498-1521), ernannt wurde. Er ging mit seinem Schüler 1518 nach -»Löwen und erlangte dort die Erlaubnis, in der Universität öffentlich zu lehren, obwohl ihm der formale Studienabschluß und ein akademischer Grad fehlten. Als der inzwischen als Erzbischof von Toledo vorgesehene französische Adlige 1521 bei

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Vives

einem Reitunfall anläßlich des Reichstages von Worms tödlich verunglückte, drohte Vives der finanzielle Ruin. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, einen Gönner oder eine Professur an einer Universität zu bekommen, folgte Vives 1523 dem Ruf Kardinal Thomas -»Wolseys als Lektor für Griechisch am Corpus Christi College in -»Oxford. Für die nächsten fünf Jahre pendelte er zwischen der englischen Universitätsstadt und Brügge hin und her. 1524 schloß er die Ehe mit Magarita Valdaura, der Tochter seines früheren Gastgebers. Zunächst durch den englischen Hof gefördert, konnte er erneut einen Freundeskreis um sich sammeln, dem u.a. Th. -» Morus, J. —»Fisher, Thomas Linacre (ca. 1460—1524), John Claymond (gest. 1537), William Blount (ca. 1478-1534) und Lord Mountjoy (1516—1544) angehörten. 1527 wurde er zum Erzieher der Prinzessin Mary (1516—1558) am königlichen Hof in London ernannt. Die Scheidung -»Heinrichs VIII. von seiner ersten Frau Katharina von Aragon beendete alle weiteren Karrieren. Wegen seiner Parteinahme für die Königin wurde Vives unter Hausarrest gestellt, erhielt aber dann im April 1528 die Erlaubnis, nach Brügge zurückzukehren. Im November rief Katharina von Aragon Vives als juristischen Berater zurück, doch verließ er England endgültig, weil sie sich seinem Rat widersetzte. Seitdem lebte Vives hauptsächlich in Brügge und reiste nur gelegentlich auf Einladung einiger Freunde nach Löwen und Paris sowie zu anderen Zentren humanistischer Studien. Er wurde gefördert durch Kaiser -»Karl V. und Joris van Halewijn, dem Herzog von Comines. Zwischen 1537 und 1539 diente er Dona Mencia von Mendoza (1525-1541), der spanischen Frau des Grafen Heinrich III. von Nassau-Dillenburg, an deren Hof in Breda als Berater. Vives starb am 6. Mai 1540 in Brügge und fand seine letzte Ruhestätte in der Kathedrale. 2. Werk und

Wirkung

Juan Luis Vives gehört zu den bekannteren spanischen Humanisten und pädagogischen Theoretikern des 16. Jh. Neben der frühen Prägung durch seine Gymnasialzeit und seine Studien in Brügge und Löwen war die Begegnung mit -»Erasmus schlechthin entscheidend. Der niederländische Gelehrte zeigte sich außerordentlich beeindruckt von den ersten Werken des jungen Spaniers und empfahl ihn bereits 1519 als Lehrer für den jungen Habsburger und späteren deutschen König Ferdinand (Kaiser -»Ferdinand I.). 1520 schrieb er ein empfehlendes Vorwort zu den Declamationes Syllanae quinque, die in Antwerpen bei M. Hillen erschienen und u.a. auch das Wohlwollen von Thomas Morus weckten. Während ihrer gemeinsamen Zeit in Löwen sah Erasmus in Vives denjenigen, der ihn als idealtypischer Vertreter des Laienchristentums in den Schatten stellen und zur Verbreitung christlich-humanistischer Ideen beitragen könnte. Auch Vives* scharfe Polemik In Pseudodialecticos gegen die Methoden des Philosophiestudiums in Paris aus dem Jahre 1519 trübte die Freundschaft nicht, bestärkte vielmehr Erasmus' Optimismus auf eine Reform der europäischen -»Universitäten. Noch vor seinem Wechsel nach Basel gewann Erasmus seinen Freund für die Edition und Kommentierung von De civitate Dei im Zusammenhang der bei Froben in Basel geplanten Edition der Werke -»Augustins. Vives begann mit dieser Aufgabe 1521, doch belastete der große Zeitdruck und die zuweilen harsche Ermahnung durch Erasmus, möglicherweise auch eine wachsende Antipathie zwischen beiden, die Beziehung. Nach der Fertigstellung seines Kommentars im August 1522 erkrankte Vives ernsthaft. Dennoch konnte die Ausgabe im September zusammen mit einer Einführung von Erasmus, einer Euloge von Vives auf den Herausgeber und einer Widmung an Heinrich VIII. von England erscheinen. In den folgenden Jahren zeugt ein intensiver Briefwechsel zwischen Erasmus und Vives von der bleibenden Freundschaft. Darin berichtet Vives ausführlich von der Entwicklung des humanistischen Geisteslebens in Spanien aufgrund der Informationen, die seine reiche Korrespondenz belegt. Trotz der Verlagerung seines Lebensmittelpunktes nach Flandern blieb die enge Beziehung nach Spanien erhalten. Nach 1528 erfolgte eine Abkühlung

Vives

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des Verhältnisses zu Erasmus wegen Vives' Verwicklung in die Scheidung Heinrich VIII. und der damit eng verbundenen kirchlichen Lösung von Rom. Weiterhin trug dazu der zunächst enttäuschende Absatz der Augustin-Edition, für den Erasmus insbesondere den von Vives betreuten Band verantwortlich machte, sowie die wachsende Unabhängigkeit des spanischen Humanisten von seinem Baseler Förderer bei. In der Folge wurde zwar Vives* Edition von Augustins Gottesstaat nachgedruckt, Erasmus sorgte aber dafür, daß die selbständigen Arbeiten des Spaniers nicht mehr bei Froben erschienen. Erst nach dem Tod des Humanistenfürsten belebten die Baseler Drucker ihre Beziehung zu Vives und veröffentlichten mehrere Werke. Neben diesen Schriften zeigen die Werke von Vives eine große Bandbreite seines Denkens. In den frühen Jahren konzentrierte er sich auf Themen der christlichen Lehre und der auf ihr ruhenden Bildung, so etwa mit der Edition des Hyginus (Paris 1514), dem Dialog Christi Jesu triumphus et Mariae parentis eius ovatio (Paris 1514) sowie einer Meditation über sieben Bußpsalmen, die er in einer Sammlung verschiedener Werke erscheinen ließ. Auch die Praelectio in Georgica Vergilii behandelt die Frage des christlichen Lehrers und seiner Lehre. Rasch geriet Vives in Konflikt mit dem traditionellen, spätscholastischen Lehrsystem an den Universitäten. Nach der polemischen Kritik an der scholastischen Philosophie, der er unter dem Titel In pseudodialecticos 1519 in Löwen bei J . Martens drucken ließ, wandte er sich auch weiterhin philosophischen, vor allem aber bildungstheoretischen Themen zu; so in den Veröffentlichungen zur Rhetorik: Declamatio qua Quintiliano respondetur pro noverca contra caecum (Löwen 1523) und der Praelectio in quartum Rhetoricorum ad Herennium (Löwen 1522). Sodann aber vor allem in Werken, die ihn als humanistischen Bildungstheoretiker für lange Zeit festzulegen schienen: De institutione feminae christianae (Antwerpen 1524), lntroductio ad sapientiam (Löwen 1524). Besonders während seiner letzten Jahre in Brügge veröffentlichte er Standardwerke der humanistischen Pädagogik, darunter seine enzyklopädische Übersicht über das damalige Wissen und seinen Erwerb De disciplinis (Antwerpen 1531), De ratione studii puerilis (Paris 1536) und einige Lehrbücher, wie De ratione dicendi (Löwen 1533), De conscribendis epistolis (Basel 1536). Seine Latinae linguae exercitatio (Paris 1540) wurde in vielen Schulen als Grundlagenwerk verwendet und allein im 16. Jh. fünfzigmal nachgedruckt. Vives sieht das ganze Leben des Menschen als von der Erziehung abhängig, möchte diese aber nicht von der Kirche, sondern vom Staat kontrolliert sehen. Die moralische Reife ist das Ziel seines pädagogischen Bemühens. Während seiner Zeit in England und wohl auch unter dem Einfluß des dortigen Freundeskreises, allen voran Thomas Morus und seiner Utopia (-»Utopie), wandte sich Vives sozialen und politischen Themen zu; etwa in seiner nicht zuletzt aufgrund ihrer deutschen Ubersetzung durch Kaspar Hedio weit verbreiteten und einflußreichen Schrift De subventione pauperum (Brügge 1525), in der er konkrete Maßnahmen zur Beseitigung der Armut, etwa durch kirchenfinanzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme und die staatliche Erfassung der erwerbsfähigen Armen, vorschlug. Weiterhin beschäftigte Vives sich mit Überlegungen zu einer europäischen Friedensordnung vor dem Hintergrund der drohenden Kriegsgefahr im Südosten des Reiches, so in De Europae dissidiis et bello turcico (Brügge 1526), De concordia et discordia humani generis und De pacificatione (beide Antwerpen 1529). In Kaiser Karl V. sah er den Friedensbringer und Gestalter einer neuen Epoche. Weiterhin veröffentlichte Vives moralphilosophische Überlegungen - Satellitium animi sive sytnbola (Löwen 1524) - und Übersetzungen wie die der Rede auf dem Aereopag des Isokrates oder Ad Nicoclen (Brügge 1526). In den 1530er Jahren wandte er sich erneut religiös-philosophischen Studien zu. In De anima et vita (Basel 1538) behandelt er Fragen der menschlichen Psychologie und ihres Verhältnisses zur philosophischen Erkenntnis, während er in De veritate fidei christianae (Basel 1543) Rechenschaft über seine religiösen Überzeugungen ablegt. Hierin

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Vives

erweist er sich teilweise als Vordenker moderner Anschauungen wie als moralischer Eklektiker, der die Auslegung der christlichen Offenbarung auf eine entfaltete Sittenlehre reduziert. Schließlich ist auch sein 1537 in Antwerpen bei M . Hillen erschienener Traktat Ad anitni excitationem in Deum commentatiunculae zu nennen. Klassische Texte behandelt er in seinen Abhandlungen De Aristotelis operibus censura (Basel 1538) und seiner Interpretatio allegorica in Bucólica Vergili (Basel 1539). Eine erste Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlichte 1555 Nicolaus Episcopius in Basel. Zwischen 1782 und 1790 erschien eine (1964 nachgedruckte) Ausgabe durch Greogrio Mayáns y Sisear in Valencia. Vives zählt zu den wichtigsten Vertretern des spanischen Humanismus im 16. Jh. Seine zuweilen eklektisch, unsystematisch konzipierten Werke trugen zur Verbreitung einer altgläubigen, zugleich zeitgemäßen, sittlichen Bildung im Geiste des erasmischen Humanismus bei und enthielten mannigfaltige Ansätze zur Reform der Universitäten und der dort gelehrten Philosophie und Theologie. Zudem machten ihn seine konkreten sozialen und politischen Überlegungen populär. Im Zentrum seiner Auffassungen stand eine modern anmutende, den Menschen ins Zentrum rückende Moralphilosophie, deren Grundlage auf der Basis einer traditionellen Schriftauslegung unter Verwendung humanistischer Philologie gewonnen worden war. Auch wenn Vives damit nicht ausdrücklich zur kirchlichen Erneuerung aufrief, gehört er in den Kreis der reformorientierten Kräfte, die das spätere katholische Bildungswesen in Westeuropa entscheidend gestalten sollten. Besonders wirkte Vives durch seine pädagogischen Schriften und Lehrbücher sowie seine sozial-politischen Ansichten fort, auch wenn ein unmittelbarer Einfluß auf politische Entscheidungen der säkularen Obrigkeiten nicht nachgewiesen werden kann. Quellen 1. Verz. der lat. Drucke bis 1600: Enrique González y González/Víctor Gutiérrez Rodríguez, Los diálogos de Vives y la imprenta, Valencia 1999. 2. Bibliographien: Francisco Calero/Daniel Sala, Bibliografía sobre Luis Vives, Valencia 2000. — Carlos Noreña, A Vives Bibliography, Lewiston, N.Y. 1990. 3. Weitere, teilweise krit. Ausg.: Latinae linguae exercitatio, ed. Foster Watson, London 1908 repr. 1970. - De diseiplinis, ed. Foster Watson, Cambridge 1913 repr. 1971. - Juan Luis Vives Obras completas, ed. Lorenzo Riber, Madrid 1947-1948. - Introductio ad sapientiam, ed. Marian Tobriner, New York 1968. - De subventione pauperum, ed. Armando Saitta, Florenz 1973. - De anima et vita, ed. Mario Sancipriano, Padua 1974. - Epistolario de Juan Luis Vives, ed. Jiménez Delgado, Salamanca 1979. - Selected Works of J.L. Vives, ed. Charles Fantazzi/Constantinus Matheeussen u.a., Leiden 1979ff. - Über die Gründe des Verfalls der Künste/De causis corruptarum artium, lat.-dt. Ausg., ed. Emilio Hidalgo-Serna, München 1990. - Vives. Edicions princeps, ed. Enrique González, Valencia 1992. - Litterae ad Craneveldium Balduinianae. A Preliminary Ed., part 1 - 3 , ed. Jozef Ijsewijn/Gilbert Tournoy: Humanística Lovaniensia 41 (1992) 1 - 8 5 ; 42 (1993) 2 - 5 1 ; 43 (1994) 15 - 6 8 . - Opera omnia, ed. Antonio Mestre, Valencia, I 1992 ff. - De ratione dicendi, lat.-dt. Übers, v. Angelika Ott, Münster 1993. Literatur Robert P. Adams, The Better Part of Valor. More, Erasmus, Colet, and Vives, on Humanism, War, and Peace, 1496-1535, Seattle 1962. - Dominic Baker-Smith, Juan Vives and the Somnium Scipionis: Classical Influences (s.u.) 239—244. - Tobias Brandenberger/Katrin Graf/Johanna Thali, Die volkssprachlichen Übers, v. Juan Luis Vives „De officio mariti" in der Romania des 16. Jh.: Rüdiger Schnell (Hg.), Geschlechterbeziehungen u. Textfunktionen. Stud. zu Eheschr. der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998. - Manuel Breva-Claramonte, La didáctica de las lenguas en el Renacimiento. Juan Luis Vives y Pedro Simón Abril, Bilbao 1994. - August Buck (Hg.), Juan Luis Vives, Hamburg 1981. - Francisco Calero, Los diálogos (Linguae Latinae exercitatio) de Juan Luis Vives, Valencia 1994. - Classical Influences on European Culture A.D. 1500-1700, ed. Robert R. Bolgar, Cambridge 1976. - Thomas B. Deutscher, Juan Luis Vives of Valencia: Contemporaries of Erasmus, hg. v. dems./Peter C. Bietenholz, Toronto/Buffalo/London, III 1987, 409 -413. - Fernando Dominínguez, Vives, Juan Luis: LThK 3 10 (2001) 834f. - Jordi Pérez i Dura (Hg.), Los humanistas valencianos y sus relaciones con Europa, Valencia 1998. - Philip C. Dust, Three Renaissance Pa-

Völkerrecht

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Markus Wriedt

Völkerrecht (Quellen/Literatur S. 180)

Völkerrecht ist der Inbegriff der Rechtsnormen, die für die Beziehungen zwischen Staaten gelten. Zum Völkerrecht werden außerdem auch solche Normen gezählt, die zwischen einem Staat und einem nichtstaatlichen Subjekt des internationalen Rechtsverkehrs existieren, z . B . zwischen einem Staat und der katholischen Kirche (-•Konkordate). Der Begriff Völkerrecht übersetzt den lateinischen Begriff ius gentium, der im römischen Recht auf die allen zivilisierten Völkern gemeinsamen Rechtsinstitute (Völkergemeinrecht), aber noch nicht auf zwischenstaatliches Recht bezogen wurde. Die moderne Verwendung des Begriffs ius gentium im Sinne von Völkerrecht ist erst seit dem 16. J h . nachweisbar (F. —»Suarez). Seit dem 17. Jh. wird Völkerrecht als selbständiges Rechtsgebiet wissenschaftlich bearbeitet. Jedoch lassen sich völkerrechtliche Rechtsbindungen schon zwischen den Staaten des Alten Orients feststellen, so daß die Völkerrechtsgeschichte als Teil der Weltgeschichte bis in frühe Hochkulturen zurückreicht. In modernen historischen Darstellungen werden Epochen der Völkerrechtsgeschichte unterschieden. In der Antike findet man völkerrechtliches Vertragsrecht zwischen orientalischen Herrschern bereits um die Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends in Form von Freundschafts- und Handelsabkommen. Feierliche Staatsverträge, die unter den Schutz der Götter gestellt werden, begründen religiös abgesicherte Verpflichtungen, die in ihrer Auswirkung modernem Staatenvertragsrecht entsprechen. Ansätze zu funktional völkerrechtlichen Normen sind auch in Texten des Alten Testaments enthalten, so im —•Deuteronomium die Notwendigkeit eines Friedensangebots vor Kriegsbeginn (Dtn 20,10). Im antiken Griechenland existierten völkerrechtliche Rechts Vorstellungen, die im Verkehr der Stadtstaaten beachtet werden mußten, so etwa der Schutz von Gesandten und das -»• Asylrecht gegenüber staatlicher Verfolgung. In der Geschichte des römischen Rechts werden Rechtsbegriffe in spezifisch völkerrechtlicher Bedeutung verwendet, so der Begriff der fides. Im römischen Rechtsdenken taucht bei Cicero auch der Begriff des bellum iustum als Verteidigungskrieg auf, so daß die ersten Ansätze eines Kriegsrechts bereits in die vorchristliche Antike zurückreichen.

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Völkerrecht

Seit der Spätantike wurde die Geschichte des Völkerrechts vom Christentum erheblich beeinflußt, wobei besonders das Kanonische -» Recht völkerrechtliche Normen entwikkelte. In den Schriften der Kirchenväter -» Augustin und -»Isidor von Sevilla werden völkerrechtliche Fragen im Zusammenhang christlicher -»Ethik der Abwehr von Unrecht behandelt. Der wichtigste Beitrag zur christlichen Völkerrechtslehre wurde jedoch im Hochmittelalter durch -»Gratian geleistet, den Begründer der Wissenschaft des Kanonischen Rechts, der im Decretum Gratiani (um 1140) eine eigene Abhandlung (Causa 23) den Problemen des gerechten -»-Krieges widmete. Grundgedanke seiner Theorie des gerechten Krieges war es, daß ein solcher Kampf nur auf Anordnung einer legitimen Autorität begonnen werden und Kriegsgrund nur die Bekämpfung vorangegangenen Unrechts sein dürfe. In der Begrenzung der Legitimität des Krieges auf den gerechten Krieg liegt ein bis heute epochemachender Beitrag des Christentums zum Völkerrecht. Die an Gratian anknüpfende Kanonistik (-» Kirchenrecht) setzte sich bei der Bestimmung des bellum iustum mit den zeitgenössischen Problemen der Rechtfertigung von -»Kreuzzügen und der kriegerischen Bekämpfung von Ketzern (-»Häresie) auseinander. Die Legitimierung solcher Kriegshandlungen konnte nach herrschender Lehre der Kanonisten nur durch die oberste Autorität der -»Kirche erfolgen, so daß die Stellung des Papsttums durch die völkerrechtlichen Bestandteile des Kanonischen Rechts erheblich gestärkt wurde. Durch das Kanonische Recht wurde die päpstliche -»Kurie im hohen und späten Mittelalter als oberster Gerichtshof der Christenheit in zwischenstaatlichen Streitigkeiten legitimiert; die Durchsetzung solcher Entscheidungen konnte durch kirchliche Sanktionen erzwungen werden. Eine Systematik des Völkerrechts haben die mittelalterlichen Kanonisten nicht entwickelt. Jedoch fand man wesentliche Rechtsgrundsätze, die im Völkerrecht der frühen -•Neuzeit teilweise rezipiert wurden. Hierzu gehören das Verbot neuartiger Waffen wie Pfeil und Bogen durch das Zweite Laterankonzil (—»Lateransynoden) 1139 und das Verbot der Versklavung von Kriegsgefangenen durch das Dritte Laterankonzil 1179. Für die Kreuzzüge galt zwar die Rückeroberung Palästinas und der damit verbundene Besitzverlust der Ungläubigen als legitimes Kriegsziel, jedoch sollte das Eigentumsrecht aller Nichtchristen auch im Krieg respektiert werden. Das Recht der Heiden auf Privateigentum wurde aus dem -»Naturrecht abgeleitet. Bedeutendster Vertreter dieser Lehre war Papst -»Innocenz IV. in seinem bis ins 16. Jh. weitverbreiteten Kommentar zum Liber Extra, dem Gesetzbuch -»Gregors IX. von 1234; ihm folgte später als Theologe -»Thomas von Aquino. Die Kanonisten erkannten auch die Legitimät der Herrschaft eines heidnischen Monarchen über christliche Untertanen an, sofern letztere nicht unterdrückt wurden. Innocenz IV. erwog sogar die Duldung einer muslimischen Mission in christlichen Ländern. Aus der Sicht der Kanonistik kann die Zeit der Kreuzzüge keineswegs ausschließlich als Epoche der Konfrontation von Religionen gesehen werden, sondern vielmehr auch als Anstoß zur Herausbildung und Erprobung von Rechtsprinzipien jenseits der Religionsgrenzen. Auf dem Boden der Kanonistik entstand ferner die erste Spezialliteratur zum Problem des gerechten Krieges; hier ist die Abhandlung De hello, de repressaliis, de duello des Bologneser Professors Johannes de Legnano (um 1360) zu nennen. Das frühneuzeitliche Völkerrecht (ca. 1500-1648) wird auch als „spanische Epoche" bezeichnet (Grewe, Epochen 163ff.). In der spanischen Spätscholastik, die in Auseinandersetzung mit den Problemen der Kolonisierung völkerrechtliche Fragen seit F. -»Vitoria vielfach behandelte, wurden die Rechtsgedanken der mittelalterlichen Kanonistik bewahrt und weiterentwickelt. Gegenüber der mittelalterlichen Unterscheidung gerechter und ungerechter Kriege geht Vitoria davon aus, daß es auch beiderseitig gerechte Kriege (bellum iustum ex utraque parte) geben könne. Nach der Epoche der Religionskriege der frühen Neuzeit verschwindet die Kategorie des gerechten Krieges lange Zeit aus dem positiven Völkerrecht.

Völkerrecht

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Die Glaubensspaltung des 16. Jh. beendete zudem die Rolle des Papsttums als eines internationalen Gerichtshofes. Das Sinken der Autorität des Papstes auf dem Gebiet des Völkerrechts zeigte sich bei den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück 1648: Papst Innocenz X. (1644-1655) hatte sie wegen der den Protestanten günstigen Besrimmungen für ungültig erklärt; die Völkerrechtsgemeinschaft setzte sich darüber hinweg. Zu Beginn der wegen der politischen und kulturellen Vormachtstellung -»Frankreichs auch ,französische Epoche" genannten Zeit von 1648 bis 1815 (Grewe, Epochen 323 ff.) stand die Völkerrechtswissenschaft unter dem beherrschenden Einfluß des Werkes des holländischen Juristen H. —• Grotius. In seinem Hauptwerk De iure belli ac pacis libri très (1525) zeigt sich Grotius weniger als Erneuerer des Völkerrechts; sein Verdienst lag viemehr darin, daß er — zumeist sogar mit eher konservativen Ansätzen - das geltende, im Naturrecht wurzelnde Völkerrecht umfassend darstellte. Grotius schuf so die Vorausetzungen dafür, daß die systematische Völkerrechtswissenschaft zur wichtigsten Quelle von Rechtssätzen wurde, die gewohnheitsrechtlich international anerkannt und in Staa'sverträgen rezipiert wurden. Allerdings bleibt in der Epoche seit dem 17. Jh. die Geltung des Völkerrechts wegen des Souveränitätsanspruchs der Staaten stets prekär. Mit der Souveränität der Staaten argumentieren auch die ersten Völkerrechtsleugner Th. -»Hobbes und B. -»Spinoza. Zukunftsweisend wird jedoch der im neueren Naturrech: als Vernunftrecht verankerte Gedanke einer Weltrechtsordnung, die auf einer überst;atlichen Einheit der Menschheit beruhen soll. Hier steht der deutsche Philosoph Chr. -Wolff mit der Idee einer civitas maxima am Anfang, die vom einflußreichsten Völkerechtslehrer des 18. Jh., Emer de Vattel (1714-1767), als société des nations übernommin wird. Im îationalstaatlich geprägten „englischen" Zeitalter 1815-1914 (Grewe, Epochen 499ff.)tritt dieser rechtsphilosophische Ansatz zugunsten eines so gut wie unbeschränkten, in der Souveränität der Staaten verankerten ius ad bellum vor allem in der europäischen Völkerrechtswissenschaft zurück. Während die frühneuzeitliche Völkerrechtsgemeirschaft auf die christlichen (europäischen) Staaten beschränkt blieb, wurden mit der —»"ürkei auf dem Wiener Kongress 1814/1815 und in der 2. Hälfte des 19. Jh. mit —»Chira, -»Japan, Siam (Thailand) und Persien (Iran) weitere nichtchristliche Staaten als ReOrdo salutis und vom kirchlichen - » A m t , löst sich aber allmählich von der Auffächerung und „Säkularisierung" des Wortfeldes „Beruf" und wird schließlich zu einer kirchenrechtlichen Bezeichnung für einen Vorgang im Rahmen des Pfarrbestellungsverfahrens. Im Unterschied zum Verständnis von „Berufung/Beruf" hat der Begriff also eine deutliche Verengung seines Gebrauchs erfahren. Im Neuen Testament bezieht sich die Vokation (KXfjaiq) auf die Berufung in den Christenstand und gilt entsprechend für alle Christen. Die Deutung von I Kor 7,20 auf „Berufsstand" ist höchst umstritten (z. B. Holl; H. Lietzmannn и.a. gegen M. -»Weber; vgl. K.L. Schmidt 492). Am besten trifft das hier Gemeinte wohl Friedrich Lang (Die Briefe an die Korinther, 1986 [NTD 7] 96), der in V. 20 eine Zusammenfassung der Argumentation der V. 1 7 - 1 9 sieht: „Dabei umschließt der Begriff .Berufung' (klesis) sowohl den göttlichen Ruf zum Glauben als auch den Stand, in dem dieser Ruf den Menschen trifft, als Juden oder Heiden, Sklaven oder Freier". Die Pointe ist die Überwindung der menschlichen Standesunterschiede durch den Stand vor Gott, in den der Ruf Gottes die Menschen versetzt. Die Vokation geschieht durch Gott selbst in Christus (Rom 11,29; Eph 1,18; Phil 3,14 u.ö.; besonders emphatisch II Tim 1,9). Als Berufung „durch das Evangelium" vollzieht sich die Vokation des Christen in der -»Verkündigung der Heilsbotschaft durch Menschenmund. Hier liegt auch die Verknüpfung der Berufung in den Christenstand mit der Vokation in das kirchliche Amt, dem damit die Verkündigung des Evangeliums aufgetragen wird: „Das Amt soll den Ruf weitergeben - das ist sein Sinn; wenn also nicht der Eintritt ins Amt, sein Vollzug ist aufs Nächste mit ihm verbunden: es steht im Dienste des Rufs. Dazu aber kommt ein Zweites: Das schlechthinnige Muß der Verkündigung kann es geschehen lassen, daß sich gerade in der vocatio der ,Ruf' verwirklicht. Der ins Amt Gerufene muß gehorchen und fiele, wollte er sich versagen, aus seiner christlichen Berufung" (Dörries 350). Mit dieser Beziehung auf den Dienst der Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament löst sich die Bezeichnung vocatio allmählich von ihrer Beziehung auf den in der -»Taufe erfolgenden Ruf in den Christenstand und wird zu einer Bezeichnung für die Berufung in den ordo spiritualis innerhalb der Christenheit, speziell in den Mönchstand (—»Mönchtum). Erst durch -»Luther wurde diese Verengung wieder aufgehoben. Dieser besonders von K. Holl betonte Vorgang muß jedoch durch den Hinweis

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Vokation

ergänzt werden, daß schon in der arbeitsteiligen Gesellschaft der hochmittelalterlichen Stadtkultur auch die weltlichen Stände religiös verstanden und theologisch-naturrechtlich „als gottgewollte und zugleich naturgegebene" Ordnungen mit der distributio officiorum verbunden wurden (Conze 492; zu beachten bleibt, daß die Bezeichnung vocatio für den weltlichen „Beruf" sich in den romanischen Sprachen nicht allgemein durchgesetzt hat; hier greift man meist auf officium oder professio zurück). Der Vorrang des Klerikerstandes wurde dadurch jedoch nicht aufgehoben. So bleibt es unsicher, ob Luther auf diese Ansätze zurückgegriffen hat. Jedenfalls erfuhr die Auffassung der Vokation durch Luther eine radikale Umgestaltung durch die Beseitigung dieses Vorrangs. Dadurch wurde einerseits das bürgerliche Berufsethos, andererseits der reformatorische Amtsbegriff entscheidend mitgestaltet: nicht nur der geistliche Stand hat eine vocatio Dei, sondern auch die weltlichen Stände, nämlich die Berufung zum -»Glauben an -»Jesus Christus, wie sie in der Taufe ausgesprochen wird. In der Dialektik von Ruf und Glaube werden alle Berufenen zum Priestertum aller Gläubigen befähigt. Ihre Arbeit im weltlichen Stand geschieht im Gehorsam gegen den göttlichen Ruf als Gottesdienst im Nächstendienst: „Daher kommts, Dass ein frum Magd, so sie in ihrem Befehl [vocatio, Anm. des Vf.] hingeht und in ihrem Amt den H o f kehret oder Mist austrägt, oder ein Knecht in gleicher Meinung pflügt und fähret, stracks zu gen Himmel geht, auf der richtigen Straß, dieweil ein ander, der zu St. J a c o b oder zur Kirchen geht, sein Amt und Werk liegen läßt, stracks zur Hellen geht" (Weihnachtspostille 1522: WA 10/1,1,310; vgl. Conze 494).

Nicht das Werk (-»Werke, gute) an sich zählt, sondern der Beruf (vocatio) und der -»Gehorsam gegen ihn. Auch der Dienst des -»Pfarrers gehört in die Reihe aller Berufe schlechthin. Die ihm aufgetragene Arbeit besteht in der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums an und für die ganze Gemeinde. Dazu bedarf es neben der Taufe keiner besonderen Weihe, sondern wie bei allen Berufen einer göttlichen vocatio. Die Vokation tritt für Luther also an die Stelle der —»Ordination bzw. bildet deren eigentlichen Inhalt: „ordinirn sol heissen und sein beruften und befelhen das Pfarrampt" (Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe 1533: WA 38,238). In diesem Sinn hat Luther auch das Wittenberger Ordinationsformular gestaltet. Ein besonderes Problem bietet die Unterscheidung der äußeren von der inneren Vokation (vgl. Rössler 123). Nur die -»Apostel und -»Propheten sind nach Luther ohne menschliche Vermittlung durch die Stimme Gottes berufen (vocatio immediata). An die Prediger des Evangeliums ergeht die Berufung in ihr Amt durch Menschenmund, d.h. durch die dem Auftrag Gottes gehorsame Gemeinde bzw. ihre Repräsentanten als vocatio externa. Daß ihr eine vocatio interna entspricht, wird in einem Glaubensakt erfahren, der immer der —»Anfechtung ausgesetzt ist und nicht als psychologisches Phänomen verstanden werden darf. Die Verläßlichkeit der Berufung folgt aus dem verbum externum, nicht aus einer „inneren Stimme". J. -»Calvin kennt dagegen eine vocatio arcana als innere (göttliche) Bestätigung der äußeren Berufung. Auch der -»Pietismus betont die Wichtigkeit biographischer Faktoren im Verhältnis äußerer und innerer Vokation. Diese mit der Vokation der Pfarrer verbundenen Probleme stellen sich für die reformatorische Theologie in ähnlicher Weise für die weltlichen Berufe. Jedoch wird die Bezeichnung „Vokation" mit der Zeit auf die Berufung ins Pfarramt eingeschränkt und entwickelt sich so zu einem kirchenrechtlichen terminus technicus. 2. Zur praktisch-theologischen

und kirchenrechtlichen

Bedeutung

Im römisch-katholischen Bereich ist der Gedanke der Vokation durch das Zweite Vatikanum (-»Vatikanum I und II) neu belebt worden. Sie wird hier verstanden als die durch die Taufe erfolgende Berufung eines jeden Christgläubigen ad missionem exercendam (CIC can. 203 § 1). Davon wird unterschieden die Berufung in das geistliche Amt

Vokation

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bzw. zum Ordensleben. Darunter versteht man ein durch das gnadenhafte Handeln Gottes ausgelöstes innerliches, aber kein rein individuelles Geschehen, sondern einen „Vorgang, an dem die Gemeinschaft der Kirche wesentlich beteiligt ist" (Hallermann 239). Insofern obliegt es den jeweiligen kirchlichen Oberen, insbesondere den Diözesanbischöfen, das Vorliegen einer Berufung und der zu ihrer Verwirklichung notwendigen Eigenschaften zu prüfen und gegebenenfalls zu bestätigen (CIC can. 1025.1029). Ein geregeltes Verfahren zur Berufung auf eine Pfarrstelle hat sich in der evangelischen Kirche erst in einem längeren historischen Prozeß entwickelt. Bestimmend blieb Luthers gegen die Schwärmer durchgesetztes Prinzip: „Ein Amt kann niemand haben außer und ohne Befehl oder Beruf" (Von den Schleichern und Winkelpredigern 1532: WA 30/3,521; vgl. CA XIV). Dieser „Beruf" ist zunächst die vocatio externa, über deren Form sich Luther erst im Wittenberger Ordinationsformular von 1535 auf Veranlassung des Kurfürsten verbindlich äußert. „Die Ordination ist danach dasselbe wie die Vokation, bringt nichts Neues zu ihr hinzu" (Dörries 366 Anm. 61). Ordiniert werden in -»Wittenberg Personen, die bereits durch ihre Heimatgemeinde zum Predigtamt vorgeschlagen (voziert) und auf ihre Eignung und theologische Einsicht von der Fakultät geprüft worden waren. Die Ordination als gottesdienstliche Handlung in der Wittenberger Gemeinde bestätigt also die erfolgte Berufung als Gottes Berufung. Dadurch dient sie der Vergewisserung der Gemeinde und der Stärkung des Gewissens der Berufenenen. Nach Calvin geschieht dagegen diese Gewissensstärkung im Berufenen durch eine innere Stimme (vocatio interna), die durch die äußere Berufung bestätigt wird (Est duplex vocatio ... Externa autem vocatio numquam legitima erit, nisi praecedat illa interior, Auslegung von Jer 21,23: CR 66, col. 432; zit. nach Dörries 367, Anm. 62). Die berufende Instanz ist nach reformatorischer Auffassung die in Gottes Auftrag handelnde Gemeinde. Dieser fehlen aber nach der Abschaffung der hierarchischen -•Kirchenverfassungen zunächst die sie konkret vertretenden Organe. Während sich in den reformierten Gebieten eine Ämterordnung herausbildet, die in der Ämtersynode die Einzelgemeinden zusammenfaßt, kommt es in den lutherischen Territorialkirchen zu unterschiedlichen Regelungen: In der Ortsgemeinde blieb das -»Patronat bestehen und da man „nicht den Mut hatte, der Einzelgemeinde die entscheidende Stimme bei der Besetzung der Stellen zuzuschreiben, so erhielt der Patron einen ganz außerordentlichen Einfluß auf die Stellenbesetzung" (Drews 40f.). Wo ein fürstliches oder städtisches Patronat bestand, besetzte in der Regel der Amtmann oder der Magistrat die Stellen. „Fast überall war auch bestimmt, daß der Gemeinde kein Pfarrer vom Patron aufgedrängt werden dürfe, und sehr häufig wird den Gemeinden nicht nur ein Vetorecht, sondern eine entscheidende Stimme bei der Auswahl eingeräumt" (ebd. 41). Damit keine Ungeeigneten berufen wurden, ordnete das Landesherrliche -»Kirchenregiment Prüfungen an, die teils von den Fakultäten, meist aber von den Konsistorien abgenommen wurden. Trotz dieser Maßregeln machten sich Mißstände breit, die insbesondere vom Pietismus einer scharfen Kritik unterzogen wurden. Man forderte den „frommen Prediger", der nicht nur der äußeren Form nach den Anforderungen des Amtes genügte und eine rechtlich einwandfreie vocatio externa vorweisen konnte, sondern auch für einen dem Amt entsprechenden Lebenswandel und für eine rechte innere Verfassung Gewähr bot, unter anderem durch den Nachweis einer vocatio interna. Die Schwierigkeiten, die diese Anforderungen einer kirchenrechtlichen Fixierung bieten, führten dazu, daß erst seit dem 19. Jh. eine befriedigende Regelung des Anstellungsverfahrens gefunden wurde. Danach sind die grundlegenden Voraussetzungen für die Bestallung eines Pfarrers: vocatio, exatnen, publicatio approbationis, praecatio (Rössler 340). Die Vokation bekommt hier eine doppelte Bedeutung: einmal „die Berufung des Pfarrers durch und in eine einzelne Gemeinde", zum andern „die Übertragung von Rechten und Pflichten des (.geistlichen') Amtes, das den überregionalen Zusammenhang der (,einen, universalen und unsichtbaren') Kirche repräsentiert, wie, nicht zuletzt, den Ruf Gottes an einen bestimm-

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Vokation

ten Menschen" (ebd. 342). Letztere wird auch Ordination genannt und nicht wiederholt, während die erstere vor jedem Antritt auf einer konkreten Pfarrstelle stattfinden muß. Sie wird bei Ortsgemeinden entweder durch Gemeindewahl oder durch Zustimmung der gemeindlichen Vertretungsorgane (Kirchenvorstand, Kirchengemeinderat) erteilt, wobei die wahlberechtigten Gemeindeglieder ein Einspruchsrecht haben. Den —»Patronaten, wo sie noch bestehen, verbleibt das Präsentationsrecht, das sonst von den Kirchenbehörden wahrgenommen wird. 3. Zur Vokation

der

Religionslehrer/Religionslehrerinnen

Der Begriff Vokation (bzw. vocatio) wird seit ca. 1945 auch für die Berufung von Lehrerinnen und Lehrern verwendet, die dadurch (in der Regel) von ihrer Landeskirche zur Erteilung von Evangelischem Religionsunterricht an Schulen bevollmächtigt werden (Ennuschat); eine ähnliche Funktion hat für die römisch-katholischen Lehrkräfte die tnissio canonica (CIC [1983] c. 805). Durch solche Vokation soll im deutschen Staatskirchenrecht dem von Art. 7,3 (2) GG vorgeschriebenen besonderen Charakter des schulischen Religionsunterrichts in personaler Hinsicht Rechnung getragen werden. Voraussetzung für die Vokation sind eine (in der Regel mit dem zweiten Staatsexamen abgeschlossene) wissenschaftlich theologische und religionspädagogische Ausbildung und die Kirchenmitgliedschaft. Das Recht der kirchlichen Bevollmächtigung evangelischer Religionslehrkräfte (Vokation) war schon in den Beratungen zum Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung umstritten und wurde deshalb offen gelassen, was zu unterschiedlichen Bestimmungen in den einzelnen Ländern führte (förmliche Vokation in Bayern, Baden, Württemberg u.a., Einstellung nur durch den Staat in Preußen). Im religionsdidaktischen Konzept der Evangelischen Unterweisung unumstritten, wurde bei zunehmender Konzentration auf eine schulpädagogische Begründung des Religionsunterrichts die Vokation fraglicher (Ablehnung ihres verpflichtenden Charakters z. B. durch Gert Otto, Schule - Religionsunterricht - Kirche, Göttingen 3 1968, 61). Im Zuge der gegenwärtig diskutierten, den grundgesetzlichen Rahmen sprengenden Neubestimmung des Religionsunterrichts als eines interreligiösen wäre auch die Vokation kaum noch sinnvoll (Link 2 2 0 - 2 2 3 ) . Auch wenn sich die evangelischen Kirchen heute darum bemühen, die Vokation vom Eindruck der Lehrüberwachung zu befreien und sie als Ausdruck der Unterstützung der Lehrkräfte bei ihrer Aufgabe zu verstehen (u.a. durch Vokationsgottesdienste, Fortbildungen), bleibt das Recht der Kirchen unberührt, gegenüber den zuständigen staatlichen Behörden Beanstandungen gegen den Unterricht vorzubringen und gegebenenfalls durch Entziehung der Vollmacht die betreffende Lehrkraft von der Erteilung des Religionsunterrichts auszuschließen (Axel v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, München 1973, 110f.). Literatur Vgl. auch die Lit. in den Art. -»Beruf, -»Berufung, -»Ordination. Harald Bauerdorff/Jörg Ennuschat/Harald Bewersdorff, Art. Vokation: Lexikon Religionspädagogik, hg. v. Norbert Mette/Folkert Rickers, Neukirchen-Vluyn, II 2 0 0 0 , 2 1 7 8 - 2 1 8 1 . - Werner Conze, Art. Beruf: G G B 1 (1979) 490 - 5 0 7 (Lit.). - Hermann Dörries, Gesch. der vocatio zum kirchl. Amt (1959): ders., Wort u. Stunde. III. Beitr. zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, 3 4 7 - 3 8 6 . - Paul Drews, Der ev. Geistliche in der dt. Vergangenheit, Jena 1924. - Heribert Hallermann, Art. Berufung, geistl.: Lexikon f. Kirchen- u. Staatskirchenrecht, Paderborn, 1 (2000) 239 - 2 4 1 . - Karl Holl, Die Gesch. des Worts Beruf (1924): ders., GAufs. zur KG. III. Der Westen, Tübingen 1 9 2 8 , 1 8 9 - 2 1 9 . - Christoph Link, Rechtsgutachten über die Vereinbarkeit des Hamburger Modells eines „Religionsunterrichts f. alle in ev. Verantwortung" mit Art. 7. Abs. 3 GG: Wolfram Weiße (Hg.), Wahrheit u. Dialog, Münster 2 0 0 2 , 2 0 1 - 2 3 0 . - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. Theol., 2 1994 (GLB). - Karl Ludwig Schmidt, Art. KAXECO KXX.-. T h W N T 3 (1938) 4 9 2 - 4 9 7 .

Hans Martin Müller

Volk 1. Begrifflichkeit 2. Historische Perspektiven 3. Volk und Volkstum in der ideologischen Deutung und Politik des 19. und 20. Jahrhunderts 4. Die Auseinandersetzung der deutschen evangelischen Theologie mit der völkischen Bewegung und dem Volksgedanken 5. Sozialethische Überlegungen (Literatur S. 208)

1.

Begrifflichkeit

1.1. Das Wort „Volk" ist in der heutigen deutschen theologischen Diskussion kein besonders beliebtes Thema und ohne hervorgehobene Bedeutung. In Lexika fehlt gelegentlich sogar „Volk" als eigenes Stichwort und es werden lexikographisch nur Völkermord (Genozid), -»Völkerrecht, -»Volksfrömmigkeit, Volksreligion, Volkskatholizismus, -»Volkskirche behandelt. In theologischen Zusammenhängen werden außerdem vor allem Themen wie Volk Gottes, Volkskirche, -*Volksmission erörtert. In der allgemeinen Diskussion wird statt vom „Volk" von der Bevölkerung, der -»Gesellschaft, der Menge gesprochen. Ursprünglich umfaßt Volk ein breites Bedeutungsspektrum. Äquivalente zu Volk waren Haufe, Kriegsschar, Pöbel, Menge. Die griechischen Begriffe für Volk sind Sijßog, Xaöq, o/Aog, eOvoq, die lateinischen populus, gens, natio. Die griechischen und lateinischen Wörter meinen freilich in der Mehrzahl nicht das, was wir heute unter „Volk" verstehen, sondern bezeichnen politische Größen, die Bürgerschaft, das Gemeinwesen, also das, was wir heute -»-Staat nennen würden. Volk hingegen meint eine unbestimmte Menge. Man spricht vom Hühnervolk als einer Herde, vom Bettel-, Lumpen-, Diebes-, Komödiantenvolk, ferner vom „Weibervolk", Frauenvolk, vom jungen Volk, vom Kriegsvolk, Fußvolk, vom Brudervolk, vom Volksgenossen. Allein schon Komposita wie Volksbewegung, Volksmassen, Volkskrieg, Volksaufstand, Volksgrenadier, Volkspartei, Volkssprache, Volksfürsorge, Volksküche veranschaulichen die Spannweite und Unscharfe des Begriffs Volk. In der Sprachregelung der DDR waren Begriffe mit Volk besonders beliebt (Volksarmee, Volkspolizei, Volkskammer, Volkskommissar, Volksstimme, Volks wähl). Die Vielfalt der Bedeutungen des Wortes sind in der unterschiedlichen Akzentuierung erfaßbar. Volk kann einmal die Gefolgschaft meinen. Das Wort kann auch das eigene Volk von anderen Völkern, einem Fremdvolk, unterscheiden und eine Volksseele, einen Volksgeist beschreiben. In politischer Hinsicht unterscheidet sich überdies dieser auf organologischen Vorstellungen beruhende Sprachgebrauch von der politischen Verwendung in Begriffen wie Volkssouveränität, Staatsvolk, Volkszugehörigkeit. Eine andere Perspektive, nämlich die von unten, heben Wendungen wie Volkserhebung, Volksaufstand, Volksmassen und die Parole „Wir sind das Volk" hervor. Einen eigenen Aspekt enthält auch die kirchliche Redeweise von der Volkskirche, Volksmission, vom Kirchenvolk. Die Leitfrage ist, wer spricht für „das" Volk, und wer ist gemeint, wenn vom Volk die Rede ist? 1.2. Der Hinweis auf den unterschiedlichen gegenwärtigen Sprachgebrauch wird durch einen Blick auf die Begriffsgeschichte bestätigt. Erst um 1800 rückt Volk im Deutschen zu einem Grundbegriff auf. Populus im Lateinischen bezeichnet das Staatsvolk, die Bevölkerung (franz. peuple, engl, people). Auch das deutsche Wort „Pöbel" ist davon abgeleitet. Grundlegend für das Verständnis von Volk sind zwei Relationen, die von oben und unten, und die von innen und außen. 1) In der Oben-Unten-Beziehung ist Volk das „gemeine" Volk, die Leute, die Menge. Volk bedeutet die Unterschichten, die Sklaven, die Metöken, auch die Fremden. Dem Untervolk (vulgus, multitudo, deutsch: Bevölkerung, Menge, Masse, Pöbel) kontrastiert das Herrenvolk, die Fürstenherrschaft, der Adel. Man kann auch die Adelsnation als Repräsentanten des Volkes ansprechen (M. -»Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation). Im Kirchenverständnis bildet sich die Oben-Unten-Relation ab in der Gegenüberstellung von Hierarchie und Kirchenvolk, von Klerus und -»Laien (vgl. -»Priester/

192

Volk

Priestertum). Die Laien bilden den Xaôç, das Kirchenvolk. In der Einschätzung des Volkes, des „breiten" Volkes, der Menge, der Masse, tritt das Selbstverständnis einer Gesellschaft und eines Staates zutage. 2) In der Innen-Außen-Beziehung wird anhand der Volkszugehörigkeit zwischen Einheimischen, Volkszugehörigen, und Fremden unterschieden. Die Griechen unterscheiden zwischen Hellenen und Barbaren. Die Fremden sind die Barbaren. Diese Unterscheidung wird von den Römern übernommen, welche zwischen dem römischen populus, auch der römischen plebs und den gentes pagani differenzierten. Israel unterscheidet sich als Volk Gottes 'am von den anderen Völkern, den Heiden gôyim (—•Erwählung). Im Neuen Testament wird die Unterscheidung in der Verwendung des Wortes Xaôç (für das Gottesvolk) und der Bezeichnung der Nichtjuden als EOvrj übernommen. Dieser Sprachgebrauch verweist auf ekklesiologische Themen (Kirche als Volk Gottes) wie auf geschichtstheologische Fragestellungen (-»Israel und die -»Kirche, das Gottesvolk und die Völker). Nach der -»Französischen Revolution 1789 und mit der Ausbreitung des neuzeitlichen Verständnisses von Nation durch die napoleonischen Eroberungen wandelt sich das Verständnis von Volk und Vaterland. Aus der -»Heimat wird der moderne Nationalgedanke. Es entsteht ein objektiver und subjektiver Nationbegriff. Nach objektiven Kriterien gehört man zu einer Nation aufgrund von Abstammung, Blutszugehörigkeit, Rasse. Nach subjektiven Kriterien ist entscheidend der Wille, einer Nation, einem Volk zugehören zu wollen. Der Volkstumsgedanke wird in der -»Romantik, im -»Neuhumanismus neu geprägt. Unter Verwendung der Vorstellung vom Volk als Organismus und der Bestrebungen zur Einheit -»Deutschlands, kommt es zu einer Hypostasierung des Volkstums. 2. Historische

Perspektiven

2.1. Das Mittelalter Den Mythos von einem „deutschen Mittelalter" findet man frühestens bei Humanisten (-»Humanismus/Humanismusforschung), die sich auf das Altertum zurückgehende Nationen vorstellten. Die Vorstellung vom Alter und der Einheitlichkeit einer germanisch-deutschen „Individualität" bildete sich sogar erst um 1800 heraus, in Analogie zum souveränen Volk der Französischen Revolution, dem peuple français. Der politische Begriff „deutsches Volk" im Sinne einer „modernen" Nation ist eine Wortbildung um 1800. „Folc", „Volk" ist im Mittelalter primär die „Heerschar" (altslawisch „pluku"-, russisch „pulk"). Die Begriffe natio und patria sind Teil einer geburtsständischen Formel, welche die Herkunft und die rechtliche und emotionale Bindung des einzelnen angeben. Landeszugehörigkeit und Beheimatung werden durch natio und patria (Vaterland) beschrieben; dabei trugen die Universitätsverfassungen wie auch die Abstimmungsmodalitäten der Konzilien des 15. Jh. dazu bei, die Kategorie der natio stärker in das Bewußtsein zu rücken. Die Annahme eines kontinuierlichen Nationalbewußtseins erweist sich jedoch in historischer Betrachtung als Konstruktion und Illusion. „Der Befund zum politischen Begriffsfeld,Volk'/,Nation' vom 6. bis 15. Jh. ergibt das Kuriosum, daß deutsche Nation' seit dem 15., .deutsches Volk' seit dem 19. Jh. belegt sind. Ferner, daß die Verwendung von ,Volk' für gens für die älteren gentes sprachlich und sachlich gerechtfertigt ist" (GGB 236f.). -»Beda verfaßte im 8. Jh. die historia gentis Anglorum. 2.2. Humanismus

und Luther

2.2.1. Humanismus. Seit 1450 finden sich Belege, daß der Nationbegriff zunehmend auch auf das Heilige Römische Reich bezogen wird. Im Zusammenhang der Reichsreform wird auffallend häufig der Nationbegriff verwendet. Der Fall -»Konstantinopels 1453 bringt den Begriff „deutsche Nation" in den Vordergrund. Die Humanisten (Ulrich von -»Hutten) brachten die Freiheit deutscher Nation gegen die Ansprüche -»Roms und des -»Papstes ins Spiel. Nation wird im Sinne eines Objekts reichspatriotischer Identifikation und als Trägerin geistig-kultureller Leistungen beschworen. Die „Nation"

Volk

193

als Gesamtheit der Reichsuntertanen wird historisiert. Das Wort „Volk" weist demgegenüber einen geringeren Abstraktionsgrad auf. Häufig ist die pejorative Verwendung von Volk im Sinne von Unterschicht. 2.2.2. Eine der drei großen Reformschriften Luthers von 1520 nennt gleich im Titel Adressat und Anliegen: An den christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung (WA 6,404ff.). Das historisch orientierte Nationverständnis der Adelsschrift ähnelt in vielem dem der Humanisten (etwa in der Theorie der translatio imperii, W A 6,462). Der Appell zur Reichs- und Kirchenreform entspricht humanistischem Anliegen. Der Volksbegriff hingegen wird in der Adelsschrift unspezifisch gebraucht: von den 36 Belegen in ihr lassen sich je zwei dem militärischen (Volk vom Türken erschlagen), und dem politischen Bereich (Volk und Regenten), einmal dem geographischen (Volk auf den umliegenden Dörfern) zuordnen. 15mal bezeichnet Volk einzelne soziale Schichten, 12mal die Gesamtheit der Christen. Volk ist beim Reformator kein emphatischer, programmatischer Begriff. Das ist bei der Erörterung des Themas „Luther als Deutscher" und der Frage nach „Luther und die Deutschen" zu beachten (vgl. Luther und die Deutschen). 2.3.

Herder

Im Gefolge der Patriotismusdiskussion Ende des 18. Jh. wird der Volksbegriff verändert. J . G . von -»-Herder „nobilierte" das Wort Volk (GGB 316). Volk und Nation werden Synonyme. Volk bezeichnet nicht mehr eine Gruppe oder Schicht in der Nation, sondern die Nation selbst. -»Sprache und Dichtung spielen dabei eine Schlüsselrolle. Herder spricht von „Seelen" der Völker. Ausdruck der -»Seele ist die Sprache. „Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie ordnungs- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet... wird ihres Geistes gefährlichster Mörder" (Herder, zitiert nach GGB 317). Herder verwendet ein organologisch-pietistisches Entwicklungsdenken, um die Schöpfung zu begreifen als einen „großen Garten, in dem die Völker wie Gewächse erwuchsen" (Herder, zitiert nach GGB 317). Herder trat für die Vielfalt der Völker und die Eigenart ihrer Sprachen ein und lehnte eine Überfremdung ab. I. -»Kant stand hingegen dem Phänomen „Volk" und „Nation" deutlich skeptischer gegenüber. Nationalstolz und Nationalhaß waren für ihn niedere kollektive Instinkte, welche durch Maximen der -»Vernunft ersetzt werden müssen, „um deswillen ist dieser nationalwahn auszurotten, an dessen stelle patriotism und cosmopolitism treten muss" (Reflexionen zur Anthropologie [Nachlaß]: Kant, Gesammelte Schriften, Berlin, XV/2 1923, 590f.). Kant geht es um eine Beseitigung des Konfliktpotentials nationalen Irrationalismus, des Völkerhasses und um eine universale Friedensordnung aus vernünftiger Einsicht. 2.4.

Fichte

J . G . -»Fichte entwarf in den Reden an die deutsche Nation (1808) ein geschichtsphilosophisches Programm, das universale Orientierung und nationales Selbstbewußtsein verband. „Deutscher" war man nicht kraft Abstammung und Sprache, sondern durch Geistigkeit und Freiheit. Fichte verband die idealistische Forderung der Achtung der sittlichen Weltordnung mit der Idee der Sendung des deutschen Volkes. Wirksam wurde vor allem die Urvolktheorie: die Deutschen sind das Urvolk des Geistes (Fichte, Reden 485). Sie glauben an Geistigkeit und Freiheit. In ihnen ist Ursprüngliches an den Tag hervorgebrochen und die Schöpferkraft des Neuen zeigt sich in ihnen. „Dies nun ist in höherer, vom Standpunkt der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommenen Bedeutung des Wortes ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden und aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetz der Entwicklung des Göttlichen aus ihm selbst steht" (ebd. 492). Die höhere Vaterlandsliebe ist ausgerichtet auf die Entstehung eines gemeinsamen Volkes deutscher Nation, eines deutschen Staates. Das Mittel der Verbindung der Deutschen zu einem Ganzen ist die gemeinsame Sprache. „Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinander geknüpft; es versteht sich untereinander und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen, es gehört zusammen und ist natürlich Eins und ein unzertrennliches Ganzes" (ebd. 571). Fichte wollte das nationale Selbstbewußtsein heben. An diese idealistische Überhöhung des Volkes konnten Vorstellungen von der deutschen Sendung, Aufrufe zum völkischen Selbstbewußtsein anknüpfen (z. B. Friedrich Ludwig Jahn [1778-1852]).

194 2.5. Die

Volk Befreiungskriege

In den Befreiungskriegen (vgl. T R E 20,32,20-33,16) verbanden sich religiöses Pathos und Selbstbehauptungswillen des deutschen Volkes zum „heiligen Krieg" gegen die verhaßten Franzosen und den gottlosen Kaiser Napoleon. F.D.E. -> Schleiermacher verkündete 1813 in einer Kriegspredigt: „ein Volk, das beschützen will um jeden Preis den eigenen Sinn und Geist, den Gott der Herr ihm anerschaffen hat, das also kämpft um Gottes Werk" (SW, Berlin, II/4 1835, 38.43). Schleiermacher als patriotischer Prediger wurde vor allem in Krisenzeiten des deutschen Selbstverständnisses zwischen 1914 und 1933 als Gewährsmann beansprucht. Ernst Moritz Arndt (1769-1860) hat im Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann (1813) im Dienste der Kriegspropaganda den -»Krieg religiös überhöht. Ein strikt manichäisches Weltbild scheidet zwischen Gut und Böse und verknüpft diesuggestive Identifikation mit dem eigenen Volk mit Aggressionspotentialen gegen alles Fremde. Die Zeit der Befreiungskriege ist somit der eigentliche Ursprung des völkischen Denkens und einer an der nationalen deutschen Sendung orientierten politischen Theologie. Erheblichen Einfluß hatte dabei die Vereinigung der Landsmannschaften unter dem Eindruck der Freiheitskriege und der Turnbewegung (F.L. Jahn) zu einer deutschen Burschenschaft 1815 in Jena. Das Wartburgfest (18. Oktober 1817) verbreitete ein Programm, das auf der einen Seite staatliche, wirtschaftliche und kirchliche Einheit und ein einheitliches deutsches Recht forderte, auf der anderen Seite für Freiheitsrechte (z. B. Rede- und Pressefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz) eintrat. Die damit zunächst verbundene nationale Programmatik mit liberalen Postulaten löste sich später auf.

Der Volks- und Nationbegriff gewinnt von daher im 19. Jh. seine friedensgefährdende Dynamik. Volk wird zum politischen Leitbegriff. Er beansprucht eine politisch-soziale, geschichtliche und sittlich-religiöse Letztinstanz. Der Gegner der nationalen Identität eines Volkes ist der Internationalismus, die Offenheit für andere Völker, Nationen (und Rassen). Volk und Rasse werden überdies gleichgesetzt. Volksgemeinschaft und Volkszugehörigkeit werden rassisch bestimmt (durch Blutszugehörigkeit). Organologische Vorstellungen von der Individualität eines Volkes, rassenbiologische Reduktion des Volksbegriffs und Antisemitismus berufen sich häufig auf die idealistische und romantische Entdeckung des Volkstums. 3. Volk und Volkstum in der ideologischen hunderts

Deutung und Politik des 19. und 20. Jahr-

Im 19. und 20. Jh. bildet sich in Folge der Französischen Revolution und der napoleonischen Befreiungskriege ein neues Verständnis von Volkssouveränität, nationaler Identität und völkischer Sendung aus. Dieses französische Verständnis der Einheit der Nation als Programm- und Kampfbegriff wird in Deutschland und -•Italien als Forderung nach nationaler Einigung und nach Selbstbestimmung des deutschen und des italienischen Volkes aufgenommen. Bei den Slawen ereignet sich derselbe Vorgang als Rückbesinnung auf die eigene Sprache, die Volkssprache, und im Verlangen nach politischer Autonomie. In der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und nach einem eigenen Staat spitzt sich dieses Programm der sprachlichen, kulturellen und politischen Identität eines Volkes zu (vgl. Woodrow Wilsons [1846-1924] 14-Punkte-Programm von 1918, das u.a. das Selbstbestimmungsrecht der Völker enthielt, was nach 1919 z. B. zur Aufteilung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn führte). Die Kehrseite des „Erwachens der Völker" ist eine Diskriminierung der Fremden, die Ausscheidung des Fremdvölkischen, die Unterdrückung und Vertreibung Fremdstämmiger, „ethnische Säuberung", einschließlich des Genozid. In Deutschland kommt hinzu die Überzeugung von der Überlegenheit der arischen Rasse, die im Verbrechen der Shoa (Auschwitz, Holocaust) endete. In der völkischen -»Weltanschauung wird Volk zu einem politischen Leitbegriff eigener Prägung.

Volk 3.1. Völkische Bewegung,

195

Volkstum

„Völkisch" ist eine um 1875 aufgenommene Verdeutschung des Wortes „national". Das Wort wurde seit 1900 vor allem vom Alldeutschen Verband benutzt. Mit dem Wort „völkisch" verknüpft ist der Rassegedanke. Die völkische Bewegung vertrat einen antisemitischen —»Nationalismus. Wurzeln von der Überzeugung der Eigenart eines Volkes liegen zwar in -»Aufklärung, -•Pietismus und -»Idealismus. Herder verstand jedes Volk als organische Einheit, die aufgrund eines originellen Geistes (Volksgeistes) je seinen Staat hervorbringe. Fichte sah im deutschen Volk das „Urvolk", das vorbildlich geistige und politische Freiheit verwirklichen soll. Seit F. G. -»Klopstock wird das germanische Altertum neu entdeckt und für vorbildlich erklärt. Nach der Französischen Revolution wurden deren weltbürgerliche Ideale kritisch gesehen und es erfolgte eine Rückwendung zu spezifisch „deutschen Tugenden" (Neidhardt von Gneisenau [1760-1831]; Gerhard Johann David Scharnhorst [1755—1813]; Karl Reichsfreiherr v. u. zum -»Stein; J. v. -»Görres; Adam Müller [1779-1829]; Friedrich von Schlegel [1772-1829]; August Wilhelm Schlegel [1767-1845]). Jahn prägte 1810 das Wort „Volkstum". Die Romantik pflegte die eigene Sprache, Dichtung, Kunst, Geschichte. Clemens Brentano (1778—1842) wandte sich der Volksdichtung zu, die Brüder Grimm der deutschen Sprache insgesamt. Damit wurde der Begriff „Volk" aufgewertet. Man forderte eine auf das Volk bezogene Erziehung der -»Jugend und glaubte an die geheimnisvolle Sonderart jeden Volkes. Diese Eigentümlichkeit begründete die Vaterlandsliebe. Jedes Volk hat seinen eigentümlichen Geist. „Denn Gott ist es ja allein und unmittelbar, der jedem Volk seinen bestimmten Beruf auf Erden anweist, seinen besonderen Geist ihm einflößt um sich so durch jedes auf eine eigentümliche Weise zu verherrlichen" (F. D. E. Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, hg. v. Hayo Gerdes/Emanuel Hirsch, Berlin, I 1969, 325). Aus dieser Sicht erwächst die Überzeugung vom besonderen Wert und der besonderen Bedeutung des deutschen Volkes, einer deutschen Sendung für die Menschheit und die „heilige" Verpflichtung für die Einigung des deutschen Volkes in einem deutschen Nationalstaat. Nach 1870/71, der Gründung des Deutschen Kaiserreiches, trat die völkische Bewegung in den Dienst imperialistischer Bestrebungen und vereinigte sich mit dem Antisemitismus, der im konservativen Mittelstand herrschte (A. -»Stoecker; Antisemitische Volkspartei Otto Boeckels [1859-1923] 1890, seit 1893 Deutsche Reformpartei, 18941900 Deutsch-soziale Volkspartei, 1914 Deutsche Volkspartei). Gestützt wurde das völkische Bewußtsein durch die aus dem Darwinismus (-»Darwin, Charles/Darwinismus) hergeleitete Rassenlehre. Der französische Graf Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) vertrat die Theorie unveränderlicher Rasseeigenschaften und -merkmale. Die Arier seien die Eliterasse und die Germanen seien zur Weltherrschaft bestimmt. Die Rassentheorie beanspruchte wissenschaftliche Begründung. Zur Verbreitung dieser Gedanken trugen Schriften von P. de -»Lagarde, August Julius Langbehn („Der Rembrandtdeutsche"; 1851-1907), Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) und Arthur Moeller von der Bruck (1876-1925) bei. Lagarde propagierte eine „nationale Religion", die sich allein auf die Reinheit der Botschaft Jesu gründen sollte und -»Paulus als Träger jüdischen Einflusses strikt ablehnte (vgl. TRE 20,376,21 ff.). Seine politischen Schriften wurden zum Kernbestand deutsch-nationaler Weltanschauung, insoweit ist er Wegbereiter und Kronzeuge des Pangermanismus und -•Nationalsozialismus. Träger dieser Weltanschauung wurden der Alldeutsche Verband (seit 1894) und der Deutschbund, 1894 von Friedrich Lange (1852-1917) mit dem Losungswort vom „reinen Deutschtum" begründet. Als Ziele bestimmte das Programm „deutsch-völkischer Politik" (1920) „die Rettung und Erhaltung unseres Volkstums, seine besondere Aufgabe: die Schaffung der geistigen Voraussetzungen und Grundlagen des völkischen Staates"

196

Volk

(Hohlwein 1425). Literarisch wirkten für die völkische Bewegung: Theodor Fritsch (1852-1939, mit der völkisch-antisemitischen Zeitschrift Der Hammer), Friedrich Lienhard (1865-1929) und Adolf Bartels (1862-1945). Der Verlagsbuchhändler Eugen Diederichs (1867-1930) verbreitete völkisches Gedankengut durch die Sammlungen Thüle und Deutsche Volkheit. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte 1918 zur Gründung der DeutschNationalen Volkspartei. Der Deutschbund wirkte außerhalb des Reichstags. „Völkisch" wollten auch die sog. „nationalen Verbände" sein (Freikorps; Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten; Deutscher Reichskriegerbund Kyffhäuser, „Fichtegesellschaft"). Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) übernahm die Führung der völkischen Bewegung. Das Programm von 1920 formulierte: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein". Adolf Hitler (1889— 1945) machte aus der völkischen Weltanschauung ein totalitäres Programm mit Rassegedanken, Antisemitismus, Weltherrschaftsanspruch der Arier. Literarisch verbreiteten das völkische Gedankengut z. B. Erwin Guido Kolbenheyer (1878—1962), Hans Grimm (1875-1959; Volk ohne Raum, München 1926). Die völkische Bewegung war antiliberal, antidemokratisch, kriegsverherrlichend, gewaltbereit - zudem antisemitisch, antimarxistisch und antichristlich. Parolen wie „Du bist nichts, dein Volk ist alles" und „Recht ist, was dem Volke nützt" wandelten die herkömmliche Moral, die auf der Anerkennung der Gleichheit und gleichen Würde aller Menschen beruhte, radikal um. Endziel war in religiöser Hinsicht eine „völkische Religion" (-»Deutschgläubige Bewegungen). Anknüpfen konnte dieser Glauben an den „deutschen Gott" an bestimmte Vorstellungen aus Pietismus und Romantik, an Vorstellungen von „deutscher Frömmigkeit", der Herzensinnigkeit und einer Geschichtstheologie, welche die Bildung deutschen Volkstums und des Deutschen Reichs als göttliche Fügung deutete. G.Ch.A. von -»Harleß beispielsweise bejahte auch den Krieg freudig aufgrund der Anerkennung der göttlichen Fügung der Völkergeschichte, des göttlichen Waltens im geordneten Volksbestande und einer göttlichen Berechtigung des Volkes, mit der unbefragten Begründung, um „in menschlicher Bethätigung die göttliche Wohltat des nationalen Besitzstandes gegen jede widergöttliche Beeinträchtigung zu wahren" (A. Harleß, Ethik, Stuttgart '1844, 223).

Eine zweite Strömung bildet die Vorstellung von der „ - • Germanisierung des Christentums". Diese Synthese von Christentum und völkischer Weltanschauung führte zu den -»Deutschen Christen. 1927 wurde die Kirchenbewegung Deutsche Kirche, Nationalkirche gegründet. Das „deutsche Gesetz" sollte erfüllt werden in der gläubigen deutschen Gemeinde. Das Schlagwort lautete: „Ein Volk! Ein Gott! Ein Reich! Eine Kirche!". Der Christ ist durch Gottes Schöpfung hineingestellt in die Blut- und Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes. Die Geschichte Deutschlands und der Aufstieg Adolf Hitlers werden als Heilsgeschichte und Erlösungsgeschehen gedeutet. Zeitgeschehen wird zur -•Offenbarung. Die christliche radikale Position der völkischen Bewegung will das Christentum ersetzen durch einen „arteigenen deutschen Glauben". Die Deutsche Glaubensbewegung wollte hingegen den deutschen Glauben durch Rückkehr zur vorchristlichen germanischen Weltanschauung wiederherstellen nach einer tausendjährigen Geschichte der Unterdrückung der artgemäßen Religion durch das Christentum. Die Deutsche Glaubensbewegung brach 1934 in rivalisierende Gruppen auseinander. Vertreter sind Wilhelm Hauer (1881-1962) (Deutscher Glaube seit 1939), das Haus Ludendorff (mit dem von Erich Ludendorff [1865-1937] und Mathilde Ludendorff [1882-1966] 1926 gegründeten Tannenbergbund) und Arthur Dinter (1878-1948; Ursprung, Ziel und Weg der deutschvölkischen Freiheitsbewegung, Weimar 1924; Die deutsche Volkskirche als Staatsnotwendigkeit, Leipzig 1933). Ein Schlagwort lautete: das Christentum als andersrassige Fremdreligion sei „Völkermord durch Seelenverletzung". Der Nationalsozialismus verstand sich als antichristliche völkische Weltanschauung (vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1935). Das NS-

Volk

197

Regime veranstaltete eigene Kultfeiern, entwickelte einen Führermythos und verherrlichte Volk, Blut und Boden. Die SS bildete einen eigenen „Orden" mit unbedingter Gehorsamsverpflichtung. Mit dem Nationalsozialismus und dem „völkischen" Staat ging begreiflicherweise auch die völkische Bewegung unter und verschwand von der Bildfläche. 3.2. Ethnogenese,

Etbnozentrismus

und

Rassentheorie

Zur Beurteilung der völkischen Weltanschauung ist es erforderlich, einige Bemerkungen zur Ethnogenese zu machen. Ethnogenese, die Entstehung eines Volkes, die Volkwerdung, ist ein komplizierter und historisch gesehen sehr unterschiedlich und uneinheitlich verlaufender Vorgang. „Ethnos" bezeichnet ein „Sein", Ethnogenese einen Vorgang, eben die Volkwerdung. Bei Naturvölkern haftet die Zugehörigkeit nicht am Boden, am territorialen Wohnsitz. Eine wesentliche Rolle spielt vielmehr das genealogische Denken. Die Aufnahme eines Menschen in den eigenen Verband kann durch Adoption, Exogamie, aber auch durch Aufnahme von Gastvölkern erfolgen. Einen gewichtigen Faktor der Volks- und Stammeszugehörigkeit stellt die Sprache dar. Ursprünglich bestimmend ist nicht die Seßhaftigkeit, sondern die „limitische" Struktur, d.h. der Mensch selbst ist Träger von Grenzzeichen wie Tätowiermuster, Körperbemalung, Schmuck, Tracht, Küche, gesamter Lebensstil. Kultur, Sachbesitz, Mythen und Überlieferungen bilden die gemeinsame Grundlage der Volkszugehörigkeit. Probleme der Ethnizität stellen sich sodann im Ubergangsfeld an Grenzen, z. B. am römischen Limes, der Chinesischen Mauer, auf dem Balkan, im Kaukasus, in der Ukraine. Man spricht dann von einem colluvies gentium. Die Suche nach einem „Urvolk" - sei dies indo-europäisch, germanisch oder slawisch - ist in diesem Fall problematisch; denn dabei werden unreflektiert Begriffe wie „Volk", „Nation". „Rasse", „Sprache" auf die Vergangenheit angewendet. Der Vorgang der Ethnogenese, auch in Europa, vor allem in Ostmitteleuropa, ist höchst vielgestaltig und vielschichtig. Ethnogenese nötigt also zu differenzierter historischer Betrachtung. Man kann ein Volk nicht verstehen ohne Kenntnis seiner je besonderen Geschichte. Auch die Bedeutung von Religion für die Bildung und Entwicklung eines Bewußtseines der Zusammengehörigkeit ist nicht zu übersehen. Eine Folge der Ausbildung des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit ist die Entstehung eines Ethnozentrismus. Den Begriff Ethnozentrismus hat 1906 der amerikanische Soziologe William Graham Sumner (1840—1910) in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt. Jede ethnische Einheit - Stamm, Volk, Nation - hat verständlicherweise ihre je eigene Sicht. Sie unterscheidet „in group" und „out group". Der Fremde gehört nicht zum eigenen Verband. Das lateinische Wort hostis, d.h. Fremdling, Feind, Ausländer, hat sprachlich Anklang an hospes, Gast und Wirt. Durch hospitalitas, Gastfreundschaft, wird nämlich Feindschaft aufgehoben (vgl. Gen 19,lff.). In Israel ist der Nicht-Jude der Fremde, ÄXXÖXPIOQ. Die hebräische Sprache unterscheidet den ausländischen Einwanderer, ger, vom Ausländer, dem näkri; im Griechischen entspricht dieser Sicht die Unterscheidung des £,ivoq vom näpoiKoq, napemörißOQ, der in der Antike kein Bürgerrecht genoß. METOIKOI bezeichnete die dauerhaft ansässige Wohnbevölkerung. Für die antike Sicht gibt es somit durchaus Unterschiede hinsichtlich der Zugehörigkeit und der ethnischen Identität. Die Distanz zum Fremden ist ein verbreitetes Phänomen. Xenophobie ist weithin üblich. Das römische Recht schloß den Fremden (peregrinus) vom ius civile aus, kannte aber ein ius gentium. Das ius gentium ist eine Vorstufe des Völkerrechts. Kant forderte ein Weltbürgerrecht, das freilich „auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt" sein soll, also lediglich ein Besuchsrecht ist. Solchem Fremdenrecht trägt heute Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention Rechnung. Ein Fremdenrecht relativiert den Absolutheitsanspruch des eigenen Volkes. Ethnozentrismus bezeichnet also genau genommen die Verabsolutierung der eigenen Sichtweise und Perspektive. Gedeutet wird zu diesem Zweck die Geschichte des eigenen Volkes anhand eines „Ursprungmythos". Durch Mythenbildung und Ideologisierung wird die

Volk

198

Entstehung und Geschichte des eigenen Volkes legitimiert und überhöht. Für die ethnozentrische Selbstbestätigung der Deutschen spielte die Entdeckung von Tacitus* Germania im Jahr 1455 eine wichtige Rolle. Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/08) wirkten ähnlich atavistisch, vor allem durch die Idee einer deutschen „Ursprache", eines „Urvolkes". Eine Verschärfung der Ideologisierung des Völkischen erfolgte durch die Verbindung des Volksbegriffs mit dem biologischen Begriff der Rasse (-»Rassismus). Damit wurde der Ethnozentrismus ebenfalls verändert. Im 16. bis 18. Jh. war Rasse ein vorwissenschaftlicher Begriff. Das beschreibende Wort „Rasse", welches eine Erklärung und Bewertung von natürlichen Varietäten unter einer gemeinsamen Erbanlage beschreiben soll, wird erst im 19. Jh. zur politisch-sozialen Gruppenbezeichnung, analog zu Volk, Nation, natio. Ein zunächst naturwissenschaftlich-anthropologischer Begriff deskriptiver Art wird nunmehr normativ verwendet. Neu ist die Vorstellung von einer „Volksrasse", vom Volk als Rasse in ethnischer Kontinuität. Im 19. Jh. entstehen Bewegungen des Germanismus, des Romanismus (race latine), des Panslawismus. Unter dem Einfluß des Sozialdarwinismus dient die Theorie der Überlegenheit einer Rasse und damit die rassentheoretische Argumentation der Unterdrückung anderer Völker. Der Hinweis auf angeborene Unterschiede berechtigt danach zur Unterdrückung und Versklavung anderer Rassen; er legitimiert den Kolonialismus. Der französische Schriftsteller und Diplomat Arthur Comte de Gobineau begründete den Anspruch der Arier, sie seien die Eliterasse (Essai sur inégalité des races humaines, 4 Bde., Paris 1853-1855, dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, 4 Bde., Stuttgart 1898-1901). Gobineaus These beeinflußte u.a. F. -»Nietzsche, Richard Wagner (1813-1883) und Chamberlain. Die Auffassung von Ethnogenese änderte sich dadurch vollständig. Unterschiede zwischen Völkern sind angeboren. Der polnisch-österreichische Soziologe Ludwig Gumplowicz (1838—1909), der selbst aus einer jüdischen Familie stammte, prägte das Wort vom „Rassenkampf". Der Kern des Rassismus ist ferner die Wendung gegen -»Menschenrechte und -»Demokratie. Die Synthese aus Rassentheorie und Antisemitismus endete in Adolf Hitlers Bestreben, durch die „Endlösung" das Judentum zu vernichten und Fremdrassige „auszumerzen". Rassentheorien im Sinne von Gobineau waren freilich zu keiner Zeit -•Wissenschaft, sondern Weltanschauung. Anspruch auf wissenschaftlichen Gehalt konnten nicht-deskriptive Rassentheorien nicht erheben. Die Bestimmung ethnischer Zugehörigkeit anhand eines rein biologischen Rassebegriffs ist vielmehr die „Erbsünde der Anthropologie" (Claude Lévi-Strauss). Zwar haben nach wie vor Wort und Begriff Rasse in der naturwissenschaftlichen Begriffssprache — nicht nur in der Anthropologie - eine Funktion. Aber als Grundbegriff politisch-sozialer Deutungssprache taugt das Wort nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nicht mehr. Soweit das Verständnis des Volkes auf den Rassegedanken begründet wurde, bedarf es gleicherweise einer ideologiekritischen Betrachtung. Es gibt nämlich keine wissenschaftlich begründete Theorie von Rangunterschieden unter Menschen, die auf ethnischer und rassischer Zugehörigkeit beruhen. Die Einheit des Menschengeschlechts fordert und enthält im Gegenteil die Absage an ein völkisches Superioritätsgefühl. 3.3. Vertreibung und

Aussiedlung

Folge, Auswirkung und Kehrseite von Ethnozentrismus und Rassentheorien waren und sind ethnische Säuberungen und Vertreibungen. Flucht und Vertreibung sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Die Verbannung der Israeliten in das babylonische -»Exil nach dem Fall -»Jerusalems oder die Vertreibung der -»Hugenotten aus -»Frankreich im 17. Jh. sind bekannte historische Beispiele. Flucht wird ausgelöst durch Bedrohung, Vertreibung ist eine einseitige staatliche Zwangsmaßnahme zur dauernden Ausweisung von in der Regel ganzen Volksteilen oder Volksgruppen aus ihren angestammten Wohngebieten. Außer ethnischen Gründen können auch religiöse Gründe zu Flucht und Vertreibung Anlaß sein. Ursachen sind oft Kriegsfolgen. Das 20. Jh. war eine Zeit der Vertreibung und Umsiedlung (Aussiedlung) mit Millionen Betroffener und unzähligen

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menschlichen Tragödien. Der Zerfall des Osmanischen Reiches führte zur Armeniertragödie. Pogrome 1895/96 bis 1898 bildeten das Vorspiel zur Armeniervernichtung 1915 (-•Armenien II). Durch die Balkankriege 1912 und 1913 mit ihren Grausamkeiten verloren eine Millionen Menschen ihre Heimat (je ca. 450.000 Türken und Griechen, etwa 100.000 Bulgaren und mazedonische Slawen). Der Erste Weltkrieg mit seinen durch die Friedensschlüsse verursachten neuen Grenzziehungen veranlaßte Völkerwanderungen. Aufgrund des Vertrags von Lausanne 1923 wurden ca. 1,5 Millionen griechische Christen aus der westlichen -»Türkei vertrieben, und 370.000 Muslime mußten Griechenland verlassen. Nach dem ersten Weltkrieg wurden 1919 insgesamt 13 Millionen gezwungen, die Heimat in Europa und Kleinasien aufzugeben. Ethnische und religiöse Konflikte zwischen Hindus und Muslimen auf dem indischen Subkontinent, in Indien und Pakistan, Konflikte in afrikanischen Ländern (z.B. Ruanda, Burundi), Bürgerkriege, innere Auseinandersetzungen in anderen Erdteilen kennzeichnen die Geschichte des 20. Jh. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden aus Ostmitteleuropa „Volksdeutsche" ins deutsche Reich umgesiedelt. Die 1945 auf der Konferenz von Potsdam beschlossenen Gebietsveränderungen schlössen in sich, daß ca. 12,5 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches nach 1945 vertrieben wurden. Mit grausamen und menschenunwürdigen Methoden und unter Konfiskation ihres Eigentums wurden - und werden - Volksfremde vertrieben. Der Krieg im ehemaligen -»Jugoslawien (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo) nach 1992 kostete mindestens 200.000 Menschen das Leben und machte mehr als 2 Millionen heimatlos. Der Einsatz einer „ethnischen Säuberung" und der Vertreibung als Mittel der Politik verstößt gegen fundamentale Menschenrechte. Vertreibung ist völkerrechtlich zu ächten; ethnische, völkische Minderheiten sind zu schützen und Minderheitenschutz und Volksgruppenrechte sind rechtlich zu gewährleisten. Neben der Vertreibung ist noch die Aussiedlung zu erwähnen. Gruppen und Einzelpersonen Deutscher blieben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer ursprünglichen Heimat zurück, die nun einem anderen Staat zugefallen war. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht beruht auf dem ius sanguinis, dem Abstammungsprinzip, nicht auf dem ius soli, der Nähe zum Staatsgebiet (Art. 116 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland). Demgemäß statuiert § 6 des Bundesvertriebenengesetzes, deutscher Staatsangehöriger sei, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Erziehung, Sprache und Kultur bestätigt wird". Aufgrund dieser Regelung kamen zwischen 1950 und 1998 mehr als 4 Millionen (Spät-)Aussiedler nach Deutschland, deren Vorfahren als Deutsche im ehemaligen Zarenreich (Rußland) und in Österreich-Ungarn (Rumänien, ehemaliges Jugoslawien etc.) gelebt hatten. Auch dies ist eine Völkerwanderung von erheblichem Umfang. Nimmt man zu Vertreibung und Aussiedlung das Weltflüchtlingsproblem insgesamt hinzu (in Asien, z. B. Afghanistan, in -»Afrika), dann wird erst das ganze Ausmaß der Entwurzelung und eines Verlustes der Heimat aus ethnischen und religiösen Gründen deutlich. Globale Wanderungsströme machen die Frage dringlich, ob und inwieweit Volkszugehörigkeit erst politische Rechte verleiht und was die Identität eines Volkes, einer Bevölkerung ausmacht. Der Blick auf die geschichtlichen und politischen Realitäten ist erforderlich, will man sachgerecht die Bedeutung von Volk und Nation beurteilen und die Frage klären, wie Volk theologisch zu verstehen und zu interpretieren ist. Dabei hat sich die Fragestellung und Problemsicht im 20. Jh., vor allem innerhalb der deutschen evangelischen Theologie und Kirche, erheblich verändert. 4. Die Auseinandersetzung der deutschen evangelischen Theologie mit der völkischen Bewegung und dem Volksgedanken Die Diskussion um das Volkstum wird zwar bereits seit Schleiermacher und Fichte geführt. Dabei stellt sich als Grundsatzfrage heraus: Wie verhält sich das Christentum als universale Botschaft der -»Liebe zur Identifikation mit dem eigenen Volk und zur

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nationalen Kultur und Geschichte? Welchen Stellenwert haben Vaterlandsliebe und Patriotismus für den christlichen -»-Glauben? Problem wird damit die Zuordnung von Kirche, Staat und Volk, die Bewertung des eigenen Volkstums (und später auch der Rasse) als „Schöpfungsordnung", der Umgang mit der Geschichte des eigenen Volkes. Schleiermacher war bewußt Preuße und patriotischer Prediger. Die Haltung evangelischer Theologen zum Volkstum war im 19. Jh. ambivalent. A. v. Harleß sprach beispielsweise einerseits von einer sittlichen Ordnung des Volksberufs, die durch „christliches Handeln" zu erfüllen sei, andererseits lehnte er eine Vergötzung von Staat und Volkstum ab und warnte vor Selbstvergötterung und vor Imperialismus. A. Stoecker forderte eine Nationalkirche und sah in der Versailler Kaiserproklamation „das heilige evangelische Reich deutscher Nation" sich vollenden. Sein Schwager M. -»Kahler hingegen wandte sich nach 1871 sowohl gegen die Organisation einer Nationalkirche wie gegen eine „heidnische Vergötzung" des deutschen Volkes und seiner Staatsherrlichkeit (Gennrich 76f.). Die Bewertung des Volkes war weder einhellig noch zentral. Bezeichnenderweise fehlt das Stichwort in der 3. Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche und in der 1. Auflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Die Folgen des Ersten Weltkrieges und der Versailler Vertrag brachten weitere Aspekte ins Spiel: Das Bündnis von Thron und Altar (-»Staatskirche/Staatsreligion) wurde im nationalen Protestantismus ersetzt durch das Bündnis von Nation und Altar. Die Debatte um die Volkskirche nach 1918 war vielschichtig. Dabei ging es vor allem um staatskirchenrechtliche Fragen, um die Ablösung der Staatskirche durch eine neue staatsfreie evangelische Kirche, die Beteiligung des Kirchenvolkes, insbesondere des Proletariats, am kirchlichen Leben in Form von Volkskirchenräten (-»-Religiöser Sozialismus), um die öffentliche Relevanz von Christentum und Kultur (Idee des Volkskirchendienstes, vgl. auch O. —>Dibelius), sowie um volksmissionarische Programmatik (-»Innere Mission). Die völkische Idee spielte zunächst keine Rolle. Die kirchenpolitische und kirchenpraktische Berufung auf die Volkskirche wurde jedoch am Ende der Weimarer Zeit immer stärker von völkischen Vorstellungen überlagert; dazu trug die Ablehnung des Versailler Vertrags und die Wahrnehmung des Auslandsdeutschtums bei. Die Grenzveränderungen machten das Auslandsdeutschtum, die „Volksdeutschen", zu einem Problem. Infolge des Zerfalls der drei Universalmonarchien Rußland, Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reiches waren elf Nationalstaaten entstanden; 35 Millionen Menschen lebten nicht mehr im volkseigenen Staat. „Volksdeutsche" nannte man nach 1918 Deutsche, die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches und Österreichs in Sprachinseln oder Streusiedlungen lebten. Da überdies die Kultur von der Konfessions- und Religionszugehörigkeit und damit von der Kirche bestimmt wurde, wurde die Lebens- und Schicksalgemeinschaft von Kirche und Volk zum ekklesiologischen Thema. Gefordert wurde eine Volkstumsseelsorge (vgl. Gerhard May, Die Volksdeutsche Sendung der Kirche, Göttingen 1934). Gleichzeitig gewann in Deutschland die völkische Bewegung an Einfluß. Die christliche -»Ethik wurde von ihr als nicht-heldisch abgelehnt; der Rassegedanke wird dem Liebesgebot entgegengestellt. Das Alte Testament und Paulus werden als artfremd verworfen. Für Jesus wird sogar eine arische Abstammung vermutet, um Volkstum und christlichen Glauben vereinbar zu machen. Als charakteristisches Beispiel für die Auseinandersetzung mit der völkischen Religiosität sei eine Aussage von Kurt Hutten aus dem Jahr 1932 angeführt (Hutten, Blut 5.7): „Die völkische Religiosität unserer Tage ist kein künstliches Gebilde religiöser Einspänner und Phantasten, sondern findet in weiten Volkskreisen unterhalb und außerhalb der christlichen Kirchen einen Widerhall . . . Die Art unserer Auseinandersetzung mit der völkischen Religion ergibt sich schon aus der . . . Feststellung, daß hinter ihr ein neuer Mensch steht, der sich nicht mehr zurechtfindet in der christlichen Glaubenswelt. Die Auseinandersetzung wird also nicht nur dogmatisch, sondern auch rein menschlich, praktisch sein müssen. Es ist nicht damit getan, daß man mit dem

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schweren Rüstzeug theologischer Bildung auffährt, um die Glaubensaussagen der völkischen Religion zu zerpflücken. Damit wäre der Brand nur an der Oberfläche bekämpft. Aber tief drinnen schwelt's weiter. M a n kann Aussagen und Begriffsbestimmungen widerlegen, aber eine Sehnsucht läßt sich nicht widerlegen . . . M a n kann mit einer solchen religiösen Sehnsucht nur zweierlei anfangen: Man kann sie mißachten und ablehnen, dann geht sie ihre eigenen Wege; oder man kann sie tief innerlich ernst nehmen, ihre Triebkräfte erspüren, sie leiten und den Versuch machen, ihr innerlich der christlichen Frömmigkeit einen Raum schaffen. Diesen Weg müssen wir als Christen gehen. Denn wir leben in der Überzeugung, daß das Wort Gottes jede Art Mensch für sich beansprucht, jeder Art Mensch Raum und Heimat gewährt und über jede Art Mensch das letzthin Entscheidende zu sagen h a t . " (zit. nach Lächele xi)

Zum Verständnis des Zitates ist es notwendig zu beachten, daß Kurt Hutten in Christus oder Deutschglaube? selbst auch die Auseinandersetzung mit der rassischen Geschichtsbetrachtung, dem nordischen Mythos und dem Totalitätsanspruch der rassischen Weltanschauung führte, vor allem in Kritik an Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Den Adelsstolz des nordischen Menschen konfrontiert Hutten der christlichen Botschaft von -»Sünde und Glaube. Er wandte sich gegen die Vorstellung vom „Gott im Menschen": „Hat der Mythusglaube recht, dann gibt es eine Offenbarung Gottes in der Rassenseele" (Hutten, Christus 92). Wie hat wissenschaftliche evangelische Theologie auf solchen Anspruch völkischer Religion reagiert? Die Frage von Volk und Nation wurde vor allem vom nationalen Luthertum aufgenommen. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Kriegserleben (vgl. Holl). Drei Möglichkeiten der Reaktion auf die Herausforderung durch das völkische Denken sind idealtypisch zu beobachten: a) Eine Richtung des Luthertums entwickelte eine politische Ethik, in der Volk und Nation als Schöpfungsordnung Gottes einen hohen Stellenwert hatten. b) Eine radikalere Position identifizierte sich mit der völkischen und antisemitischen Weltanschauung. Das war die Position der Deutschen Christen. Wissenschaftlich wird sie repräsentiert durch E. -»Hirsch. c) Die Bekennende Kirche (-»Nationalsozialismus und Kirche) lehnte die Volksnomoslehre und die völkische Theologie als unvereinbar mit dem Evangelium strikt ab. 4.1. Vor allem Wilhelm Stapels (1882-1954) Völkische Theologie und Volksnomoslehre beeinflußte auch evangelische Theologen (vgl. Tilgner 89ff.). Stapels wichtigstes Buch, Der christliche Staatsmann, eine Theologie des Nationalismus, erschien 1932. Zwischen 1919 und 1938 gab er die Zeitschrift Deutsches Volkstum heraus. Stapel vertrat die Lehre vom Volksnomos und war Theoretiker der deutsch-christlichen Theologie des Volkes. Nach ihm ist Volk nicht eine Summe von Individuen, sondern ein Organismus. Das Volk hat zum metaphysischen Zentrum das „innere Gesetz des Bios", das innere Wesen eines Volkes. Der Volksnomos bildet das Gesetz des Lebens eines Volkes, seine Natur. Anschaulich erklärt Stapel diesen Volksnomos folgendermaßen: Unter die „christliche Kirche" ist eine „heidnische Krypta" gewölbt. „Bräche die Krypta zusammen, so bräche auch der Dom zusammen... Christus setzt... die Nationalgötter voraus" (Stapel 184). Neben Stapel ist das schriftstellerische und kirchenpolitische Wirken von Hans Schomerus (1902-1969) zu erwähnen. 4.2. E -»Gogarten nahm in seiner politischen Ethik zeitweilig die Volksnomosthese auf (Gogarten, Einheit; ders., Volksgesetz). Gogartens Deutung des Volksgesetzes gründet sich freilich nicht auf irgendeinen biologischen Ursprung, sondern auf die Deutung geschichtlicher Erfahrung als Zwangsgesetz (-»Gesetz und Evangelium). Gogarten vertrat 1933/1934 eine zeitbezogene und zeitbedingte Konzeption politischer Theologie, durch die autoritäre und totalitäre Züge im Verständnis staatlichen und politischen Handelns theologisch legitimiert wurden. 4.3. P. -»Althaus ist der herausragende Repräsentant einer national-idealistischen Sicht des Volkes. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Gedanke vom Volk als Schöp-

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fungsordnung. Althaus teilt nicht Stapels Volksnomoslehre und Gogartens Politische Theologie. Althaus ist geprägt vom „Deutschen Erlebnis" beim Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Sein Vortrag auf den 2. Deutschen —• Kirchentag in Königsberg am 17. Juni 1927, Kirche und Volkstum, bemühte sich um einen Brückenschlag zwischen Kirche und Volkstumsbewegung. Der Tagungsort in Ostpreußen - „die deutsche Ostmark" hat nach ihm viel zu sagen. „Von hier aus erscheint... die deutsche Gegenwart weithin als schmerzliche Entartung. Unser Volk, so hören wir, hat sich selbst verloren. Verloren an die Zivilisation, verloren an die Fremde" (Althaus, Kirche [1927] 115). Der Kritik an der Zivilisation wird das „Denken und Gestalten aus den tiefen Quellen des Volkstums" entgegengestellt. Notwendig sei eine Begegnung zwischen Kirchen- und Volkstumsbewegung. Althaus übernimmt das Anliegen des völkischen Wollens: Kampf wider die Überfremdung (ebd. 119). „Völkischer Wille ist Lebenswille" (ebd. 120). Althaus betont, daß Volk sich in der Geschichte bildet. Wenn die Volkstumsbewegung jedoch dem Volke wahrhaft dienen will, bedarf sie der Kirche des Evangeliums. Althaus fordert eine Volkskirche, die a) dem Volke als Gesamtleben dienen, b) ihm in seiner Art, c) mit dem Evangelium dienen will (ebd. 129). Evangelische Kirche soll zwar Kirche des Volksganzen sein, aber daran zeigen sich auch Grenzen der Durchdringung von Kirche und Volkstum. Althaus lehnt das Programm eines deutschen Christentums der Deutschkirche ab. Es gibt somit Grenzen der Durchdringung von Kirche und Volkstum. Die Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes nimmt zwar die Kirche in Verantwortung, aber Kirche hat einen eigenen Auftrag. Überdies ist die konfessionelle Spaltung ein Grund für die Eigenständigkeit der Kirche: „Kirche und Volkstum fallen nicht zusammen, sondern bleiben selbständig gegeneinander - darauf weist uns zuletzt die Tatsache mit schmerzlicher Härte, daß auf dem Boden unseres Volkstums miteinander streitende Kirchen nebeneinander stehen" (ebd. 140). 1933 proklamierte Althaus „die deutsche Stunde der Kirche". In seiner Theologie der Ordnungen (1934) betonte er die Bedeutung von Schöpfungsgegebenheiten. Gemeinsamkeit des Bodens, d. h. des Lebensraumes und des Blutes, formt gemeinsames geschichtliches Schicksal, gemeinsame Sprache. Das Volk ist Gottes Schöpfung. Die Schöpfungsordnung begründet den „Imperativ der Volkstreue", einschließlich der Verpflichtung „gegen die Gefahr seiner biologischen Verwahrlosung zu kämpfen". Althaus' theologische Deutung des Volkes verbindet Geschichtstheologie mit einem völkischen (biologischen) Naturalismus (Rasse, Blutszugehörigkeit). Wesentlich ist die Vaterlandsliebe. 4.4. W. -»Elerts Lehre von Volk und Staat ordnet das Volk hingegen der Erhaltungsordnung zu. Drei Kriterien machen ein Volk aus: Konnubium, Geschichte, Sprache. Ein Volk kann nicht ohne Staat sein. Das Volk ist zwar kein Höchstwert, aber es hat „Wert im gubernatorischen Raum Gottes" (Eiert 139). Das Thema Volk wird ein Anschauungsfall des Verhältnisses der Kirche zu den geschichtlichen Mächten. Damit wird bei Eiert der Schicksalsgedanke und der Ordnungsbegriff leitend: Ordnung ist ein „Seinsgefüge". Sie ist ordinatio Dei (CA XVI), aber sie macht nicht gut, sie rechtfertigt nicht. „Die Ordnung ist der Ort, auf den ich von Gott zum Guten berufen, aber auch der Ort, auf dem ich zum Bösen verführbar bin" (Eiert 500). Walter Künneth (1901-1997), Politik zwischen Dämon und Gott (1954), hebt die „Zweideutigkeit des Volkes" noch stärker hervor. Die Realität des Volkes steht unter der Macht der Sünde. Dennoch gibt es eine - begrenzte - Verpflichtung des Christen gegenüber seinem Volk. Volk ist eine „Erhaltungsordnung". Deshalb hat Künneth ein (emotionales) Interesse an einem gefestigten Nationalbewußtsein. H. ->Thielicke (15) geht auf ein besonderes Gesetz, ein Wesen des Volkes, nicht mehr ein, sondern verbindet lediglich den Gedanken der gottgesetzten Staatlichkeit mit der Beauftragung des Staates durch das Volk (Volkssouveränität, Demokratie). Schwierigkeiten in der Aufarbeitung des Verständnisses von Nation und Volk im deutschen Luthertum und das Bemühen um eine kritische Revision dokumentiert die

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Studie der -»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands Nation im Widerspruch (1999). 4.5. Einen Sonderfall stellt Emanuel Hirschs national-idealistische Theologie dar. Dabei ist der Übergang Hirschs von einer deutschnationalen zur völkisch-antisemitischen Position in den Jahren 1932 bis 1934 zu berücksichtigen (vgl. Assel 164ff.). Hirsch wurde zum prominentesten und scharfsinnigsten Vertreter einer völkischen Theologie. Er geht aus von Fichte: „Das Gewissen irrt nie und kann nicht irren ... Es entscheidet in letzter Instanz und ist inappellabel" (Fichte, System 567f.). Das -»Gewissen entscheidet aktual über letzte Bindungen. Nach Hirschs Weltsicht wird ferner die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen durch die Erfahrung des Heiligen bestimmt. Konkret denkt er an -»Familie und -»Beruf, insbesondere aber an „Blutsbund" und „Volksnomos". Aufgabe des Gewissens ist es, Ort und Stunde des Handelns zu bestimmen. Dieses auf eine Geschichtstheorie bezogene Gewissensverständnis bildet die Grundlage, auf der politisch konkret der Volksnomos zur göttlichen Schöpfungsordnung und das Volk zum Inbegriff des Heiligen werden. Hirsch hat das Diabolische im Nationalsozialismus nie erkannt (Lange 206). Er sah vielmehr in der Verbindung mit dem Nationalsozialismus und in der völkischen Bewegung eine missionarische Chance, um die Folgen der Entchristlichung in der Neuzeit aufzuhalten und Volk und Staat mit dem christlichen Glauben zu „durchglühen". Eine derartige „Gewissensreligion" schloß freilich Reflexion, differenzierende Analyse und historische Objektivität aus. Mit der Unmittelbarkeit des Gewissensrufes verband sich bei Hirsch ein Gemeinschaftswille, der den liberalen Individualismus bekämpfte und an eine „organische Ganzheit der Gewissen" glaubte (Lange 217). Eine verabsolutierte Gewissenstheorie, völkischer Organismusgedanke und dezionistischer Wille prägen Hirschs Politische Theologie. Auf dieser theologischen Basis wird dann das Volk „als letzte irdische Gegebenheit, als ,Waberlohe', hinter die man nicht zurückfragen könne und dürfe", verklärt. Die „Exzesse des Nationalismus und des Rassenwahnes" (Lange 222) werden auf diese Weise legitimiert und geben dieser Identifikation des Gewissens mit dem Handeln des Volkes eine makabre Bedeutung. Hirschs Auffassung des Volkes, seine Deutung mit Hilfe des „Blutbundes" und des „Volksnomos" ist ein aufschlußreiches Beispiel ideologischer Verblendung. 4.6. Gegen die Verabsolutierung des eigenen Volkes und gegen ein irrationales Geschichts- und Gemeinschaftsverständnis wurde auf das Bekenntnis des christlichen Glaubens verwiesen. Theologische Kritik wurde 1933 und 1934 an der Volksnomoslehre geübt, unter Verweis auf die biblischen Aussagen zu Volk und Volk Gottes, teilweise auch von P. Althaus. Die Barmer Theologische Erklärung 1934 hat eine Völkische Theologie und die Volksnomoslehre theologisch verworfen und überwunden (vor allem in den ersten beiden Thesen). Mit dem Jahr 1945 verschwand außerdem auch die völkische Bewegung, zumindest aus der Öffentlichkeit. Gegen eine Schöpfungsordnungstheologie, welche das Volk als göttliche Ordnung begreift, macht eine biblische Sicht geltend, daß christliche Theologie von der biblischen Sicht des Volkes Gottes auszugehen hat und daß die Volkszugehörigkeit als natürliche Gegebenheit wie die Geschichte eines Volkes im Licht des Evangeliums zu sehen sind (s.a. den Vergleich zwischen lutherischer Ethik und K. -»Barths Sicht des Volkes bei Eßer). Vertreten wird die theologische Position einer Relativierung des Volkes von N.H. Sae, A. de Quervain und besonders eindrucksvoll von K. Barth (unter der Überschrift „Die Nahen und die Fernen" im § 54 „Freiheit in der Gemeinschaft": KD III/4,320—366). Barth geht von folgender These aus: Durch Gottes Fügung (-»Vorsehung) haben Menschen „Nahe", vor allem eigene Volksgenossen. Diese Nähe ist keine Schöpfungsordnung (ordo), die Forderungen, vor allem nicht eigene Forderungen stellt, sondern sie beschreibt einen Raum, einen Bereich, in welchen Gottes Anordnung (ordinatiö) den Menschen trifft. Der Christ hat im Volk seine geschichtliche Verantwortung als Glied seines Volkes wahrzunehmen. Dadurch wird die Volksbeziehung relativiert. Das biblische Zeugnis

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entmythologisiert außerdem den Mythos Volk. Außerdem bricht die ökumenische, katholische Verpflichtung des Christseins und der Kirche völkische Grenzen und Bindungen auf. Barth lehnt eine Volksnomostheologie ab (ebd. 329) und bestreitet, daß das Volk „Schöpfungsordnung" (ebd. 345 - 3 4 9 ) sei. Auch P. -»'Tillichs Destruktion des Ursprungsmythos und vor allem seine politischen Reden während des Zweiten Weltkrieges, An meine deutschen Freunde (Tillich 64— 69.131-317), vertreten eine Gegenposition zur Ideologisierung des Volkes. Die ökumenische Weltkonferenz in Oxford 1937 (vgl. TRE 25,55,15 - 3 4 ) setzte sich mit dem Verhältnis von Kirche, Volk und Staat auseinander. Sie verwarf eindeutig den Rassismus und erklärte: „Das Bestehen verschiedener Rassen gehört nach unserer christlichen Auffassung zum Plane Gottes, der die Menschheit durch die Mannigfaltigkeit seiner Gaben bereichern will. Die Kirche muß deshalb allen Rassenhochmut und allen Rassenkampf als Auflehnung gegen Gott bedingungslos bekämpfen. Vor allem darf es im kirchlichen Leben und im Gottesdienst keine Schranken geben, die in der Rasse oder der Hautfarbe begründet liegen. Auch das Volkstum geht nach christlicher Auffassung darauf zurück, daß Gott das menschliche Leben durch Unterschiede reicher machen will. Es ist deshalb der göttliche Beruf eines jeden Menschen, seinen Brüdern im eigenen Volke zu dienen. Aber wenn nationaler Selbstbehauptungsdrang zur Unterdrückung fremden Volkstums oder von Minderheiten führt, so ist das genauso wie persönliche Selbstsucht eine Sünde gegen den, der alle Völker und Rassen geschaffen hat. Vollends ist die Vergötzung des Volkes, der Rasse oder der Klasse — ebenso wie die eines politischen oder kulturellen Ideals - Götzendienst. Sie kann nur zur Verschärfung der Gegensätze und zu furchtbarem Unglück führen" (Botschaft an die christlichen Kirchen: KuW [1938] 261).

Die Oxforder Konferenz ist die einzige ausdrückliche Äußerung der ökumenischen Bewegung (-»Ökumene) zu Volk und Volkstum; nach 1945 war nur noch Rassismus ein wichtiges Thema. 4.7. Am Umgang der deutschen evangelischen Theologie mit dem Volksgedanken zwischen den Weltkriegen werden Grundfragen und Grundentscheidungen erkennbar. Zum einen geht es um die politische Bewertung des Volkstums und die Einschätzung der Geschichte eines Volkes, insbesondere des deutschen Volkes, sowie seiner künftigen politischen Orientierung. Zum anderen geht es um theologische Fundamentalunterscheidungen, wie sie beispielsweise in der Zweireichelehre thematisiert werden, wie die Zuordnung von weltlichem und geistlichem Regiment Gottes, von Schöpfung (-•Schöpfer/Schöpfung) und Erlösung (-»Heil und Erlösung), von irdischer, politischer Existenz des Menschen und christlichem Glauben, von Sünde und —»Gnade usw. Zum dritten betrifft die Thematik des Volkes auch Ort und Aufgabe der Kirche in Staat und Gesellschaft. Das Anliegen der völkischen Bewegung wurde deshalb oft auf Grund eines volksmissionarischen Interesses und Impetus aufgenommen (-»'Volksmission). Einerseits sah man Chancen für die Missionierung des ganzen Volkes. Andererseits war zu klären, wie weit die Solidarität von Christen mit dem eigenen Volk und die Identifikation mit dem nationalen Selbstbehauptungswillen geht. Aus der Verbindung von Volk und Kirche und aus der Unbestimmtheit des Volksbegriffs ergeben sich daher erklärtermaßen auch die Unklarheiten des Volkskirchengedankens: Volkskirche ist ein sehr unscharfer, schillernder Begriff. Erst durch die Abgrenzung zu anderen Auffassungen von Kirche - wie -»Freikirche, Staatskirche, Amtskirche, weltweite Kirche, d.h. Ökumene, aber auch zu Landeskirche als kirchlicher Organisation — bekommt das Wort seine Bedeutung. Zwischen „völkischer" Kirche und Kirche des Volkes, im Sinne einer „Kirche von unten", einer Basiskirche, Kirche der Armen, oszilliert die Bedeutungsvielfalt dieses Wortes.

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Überlegungen

Volk ist heute in der Ethik kein Leitbegriff mehr, sondern eher ein Wort aus der politischen Rhetorik. Volk bezeichnet als Pauschal- und Sammelbegriff ein Kollektiv. Deshalb ist der Verwendungszusammenhang dieses Wortes genau zu analysieren. 5.1. Unschärfe und Vielschichtigkeit des Wortes Volk Eingangs wurde bereits die Vielschichtigkeit des Gebrauches des Wortes Volk dargestellt. In der heutigen Verwendung des Wortes sind zwei Aspekte zu unterscheiden, die juristisch-rechtliche Verwendung und der gesellschaftliche Gebrauch. a) Rechtlich bezeichnet Volk die Bevölkerung eines Gebietes, auf die sich die Staatsgewalt bezieht. Zwischen Staat und Volk besteht ein Zusammenhang. Das Volk gilt nämlich als Träger der verfassungsgebenden Gewalt und der konstituierten Gewalten. Der Begriff der Volkssouveränität umschreibt diesen Sachverhalt. Volk ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen; Bedingung der Aktivbürgerschaft ist die Staatsangehörigkeit. Mit Hilfe von freien allgemeinen Wahlen, in Volksabstimmungen, Volksbegehren oder Volksentscheiden gibt das Volk seinen Willen kund. Volk ist rechtlich-politisch gesehen das Staatsvolk. b) Der gesellschaftstheoretische Sprachgebrauch ist schillernd. Volk meint allgemein eine Ansammlung, einen Haufen. Das Wort ist weithin austauschbar mit Nation. Die Thematik des Volkes wird heute weithin unter anderen Worten wie Gesellschaft, Kultur, Sitte, Sprache erörtert. Es gibt außerdem Staaten, die aus mehreren Sprachen, Rassen, Völkern bestehen (z.B. -»Schweiz; -»Vereinigte Staaten von Amerika). Was sind Wesensmerkmale eines Volkes? Ist es das gemeinsame kulturelle Erbe? Ist Volk Sprachgemeinschaft? Ist es die gemeinsame genetische Abkunft? Völker sind nach aller geschichtlichen Erfahrung dynamische, veränderbare Sozialsysteme. Gelegentlich wird Volk als das Gewachsene, das Natürliche der Gesellschaft, der „bürgerlichen" Gesellschaft als Gemachtem, als Organisation gegenübergestellt. Gegen diese Entgegensetzung spricht freilich, daß dabei oft soziale Herkunft mit biologischer Abstammung verwechselt wird. Wegen der Komplexität der Ethnogenese und des Phänomens des Sprachwandels sind Vorstellungen einer völkischen Theorie wie die Auffassung vom Volk als einer überzeitlichen Schöpfungsordnung Konstruktion. Vielmehr sind unterschiedliche Geschichte und Vielfalt der Kulturen der Völker zu beachten. Homogenitätsideale und Organismusmetaphern werden der Vielschichtigkeit des Volksbegriffs nicht gerecht. 5.2. Ideologisierung des

Volksgedankens

Der geschichtliche Rückblick erweist die Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung des Mythos „Volk". Die Annahme einer „Volksseele", wie die Hypostasierung von Volk als Subjekt der Geschichte, ist problematisch. Tillich sprach 1933 zutreffend von Blut und Boden als Ursprungsmächten, die durch einen Ursprungsmythos sakral überhöht werden, wenn beispielsweise die Rede ist von der Heiligkeit des Volkes. Die unmenschlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Weltanschauung haben die völkische Weltanschauung insgesamt diskreditiert: Rassismus und Antisemitismus sind unvereinbar mit der Botschaft des Evangeliums. Volk ist kein letzter, kein absoluter Wert. Eine nüchterne Betrachtung des Volkstums ist geboten. 5.3. Die Spannung zwischen Universalismus und

Partikularismus

Der Mißbrauch des Volksgedankens durch Ideologisierung und Mythisierung ist anhand der Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus zu reflektieren. Die Aufklärung hat die Universalität des ethischen Anspruchs herausgestellt. Die ethischen Anforderungen gelten für jeden Menschen, unangesehen seiner Rasse, seiner Volkszugehörigkeit, seines Geschlechts. Ein solcher Kosmopolitismus wird rational begründet. Die Menschenrechte sind Inbegriff dieses Anspruchs auf universale Geltung. Im Wider-

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spruch zur Aufklärung entdeckte die Romantik die Vielfalt und Individualität von Kulturen und Völkern. Oft wird diese Entdeckung verbunden mit irrationalen Deutungen der Sendung eines Volkes. Zwischen der durch die Menschenrechte geforderten und geschützten Würde eines jeden Menschen und der spezifischen Eigenart eines Volkstums, einer Kultur, bestehen Spannungen. Solche Spannungen sind nur auszugleichen, wenn ein völkerrechtlicher Schutz für Minderheiten gesichert ist und kulturelle Autonomie gewährt wird. Die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker kann eine Sprengkraft entfalten, welche Staaten zerstört und den zwischenstaatlichen Frieden gefährdet, z. B. durch eine Bewegung der Irredenta. Die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht und die Entscheidungsgewalt des Staatsvolkes kann zur Legitimation von Ethnozentrismus, ethnischer Säuberung, Vertreibung und Aussiedlung, sogar zum Genozid mißbraucht werden. Für freiheitliche Staaten und im modernen Völkerrecht hat deshalb ein effektiver Minderheitenschutz erhebliche Bedeutung für die Erhaltung des Friedens und für den Bestand der Kultur eines Volkes. 5.4. Geschichtlichkeit

und

Kontextualität

Völker sind Gebilde der Geschichte. In der Bibel werden Völker als geschichtliche Realitäten wahrgenommen (vgl. Gen 10,11). Das Werden und Vergehen von Völkern wird im biblischen Zeugnis als Folge des Handelns Gottes in der Geschichte gedeutet. Die Menschheit wird zwar als Einheit dargestellt, aber als Einheit in der Vielfalt. Der geschichtliche Kontext ist verschieden. Der Mißbrauch einer völkischen Theologie darf nicht dazu benutzt werden, kontextuelle Auffassungen von einer „Theologie des Volkes" von vornherein dem Häresievorwurf zu konfrontieren. In Lateinamerika entstand eine Theologie des Volkes, eine Theologia populär (vgl. Blaser). Der Theologie des Volkes vergleichbar ist die Minjung-Theologie in -»Korea. Eine Theologie des Volkes will die Inkulturation, die Indigenisation des Christentums in die jeweilige Volkskultur (-»Theologie II/5.3.). Vorausgesetzt wird dabei das Faktum des Pluralismus der kulturellen Gestaltungen des Christentums. Maßgeblich ist bei der Beurteilung von Einwurzelungen des Christlichen und der Kirche dabei, inwieweit und wodurch die Identität des christlichen Glaubens gesichert wird. An demselben Maßstab sind freilich eine völkische Theologie der Deutschen Christen, die Programmatik einer Kirche im Sozialismus und Entwürfe einer Theologie des Volkes in der Dritten Welt zu messen. Ein historisches Beispiel für eine verfehlte Inkulturation war die Konzeption einer „Germanisierung des Christentums". Der Begriff „Germanisierung des Christentums" wurde 1896 von Arthur Bonus (1864-1941) geprägt. 1904 erschien die Germanen-Bibel von Wilhelm Schwaner (1863—1944), 1908 entstand die Deutsch-religiöse Gemeinde mit den drei Grundsätzen: Gott in uns — das Gesetz in uns — Selbsterlösung. Einer „schwächlichen" Sünden- und Demutstheologie des Apostels Paulus wird Jesus gegenübergestellt, der zum heldischen Christus verklärt wird. Voraussetzung dieses germanischen Verständnisses des Christentums war die unbedingte Anerkennung des Rassegedankens und des Antisemitismus (vgl. -»Germanisierung des Christentums; Maron). Die Diskrepanz zwischen völkischer Religiosität und Grundaussagen christlichen Glaubens ist hier evident. 5.5. Kirche und Volk Eine Theologie des Volkes vertritt zum einen das missionarische Anliegen einer Indigenisation, zum anderen formuliert sie eine Volk-Gottes-Ekklesiologie. Volk Gottes ist ein Grundbegriff des Kirchenverständnisses. Israel ist im Alten Testament aufgrund der Erwählung durch JHWH Volk Gottes. Die Bezeichnung wird im Neues Testament aufgenommen (z. B. I Petr 2,9; Hebr 4,9). Das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum I und II) hat in der Kirchenkonstitution (Lumen gentium Nr. 14-16) Volk Gottes zum Leitbegriff gemacht. Volk Gottes wird dabei abgesetzt von einem juridisch-hierarchischen Kirchenverständnis (societas perfecta) wie von einer Sakramentalisierung der Kir-

207

Volk

che als Leib Christi. Volk Gottes enthält mehrere Konnotationen: das Verhältnis vom Volk Gottes, den Laien, zur Hierarchie; die Sicht der Kirche als Kirche der kleinen Leute; die Zuordnung von natürlicher Zugehörigkeit und übernatürlicher Berufung. Diese unterschiedlichen Perspektiven sind in der Volk-Gottes-Theologie angesprochen. s Zugleich klingt das Thema Einheit der Menschheit, Einheit der Kirche an. Im Blick auf Katholizität und ökumenizität der Kirche ist eindeutig festzuhalten, daß Volkszugehörigkeit kein Kriterium für Kirchenmitgliedschaft ist. Angehöriger eines Volkes ist man aufgrund von Abstammung, von Geburt. Christ wird man durch die —• Taufe. Die Kirche muß im Blick auf Volkszugehörigkeit offen für alle sein (Gal 3,28; Act 2). Das 10 Ziel einer Volkschristianisierung kann folglich nur ein sehr beschränktes sein. Herausgefordert sind heute alle Kirchen durch den Wechsel der Volks- und Staatsangehörigkeit infolge von Einbürgerung, durch das Fremdenrecht und nicht zuletzt durch die Entstehung einer multikulturellen Gesellschaft. Dabei sind zwei Themenkreise zu unterscheiden: einmal das Verhältnis von Kirche als Volk Gottes zum Volk, zum anderen die u Beanspruchung des Titels Volk Gottes durch Israel und die Kirche (Rom 9-11). 5.6. Der Bezugsrahmen einer theologischen Deutung des Volkes Der Rückblick auf die Volksnomostheologie zeigt, daß jede theologische Reflexion des Volkes und seiner Geschichte zu fundamentaltheologischen Grundentscheidungen nötigt: Inwiefern sind biblische Aussagen über das Volk heute normativ und verbindlich 20 (z. B. Israel als erwähltes Volk, Israels Volksreligion als Maßstab heutiger Gesellschaftsordnung) ? Welche Rolle haben natürliche Faktoren wie Abstammung und Muttersprache für die theologische Deutung des Volkes? Die Bewertung des Volkes berührt ganz unterschiedliche theologische Topoi: Kirche als Volk Gottes und die verschiedenen Völker der Geschichte; Gewissensbindung und geschichtliches Urteil; Glaube und Ideologiekri25 tik, bzw. Zeitdeutung; Schöpfung und Sünde; Evangelium als Offenbarung Gottes und die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen, in der Geschichte; Menschheit und Christenheit; die Zweideutigkeit der Geschichte der Welt und die Eindeutigkeit der Heilszusage Gottes, damit die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die Sicht des Glaubens hinsichtlich natürlicher Gegebenheiten; Evangelium und Schöpfung u.a. 30

5.7. Die relative Bedeutung des Volkes für christliche

Theologie

Die Deutung des Volkes als einer überzeitlichen Schöpfungsordnung war falsch. Dennoch kann auch theologische Ethik an geschichtlichen Gegebenheiten wie Volk, Nation, „Vaterland" nicht vorbeigehen. Gemeinsame Herkunft (Abstammung), Geschichte als Schicksalsgemeinschaft, Sprache und kulturelles Erbe begründen Zusammengehörigkeit. 35 „Das Volk ist die geschichtlich gewachsene und natürlich gewordene Gesellschaft, die durch ein spezifisches, traditionsgebundenes Selbstbewußtsein ausgezeichnet ist" (Trillhaas 347). Es ist strittig, ob territoriale Beheimatung unabdingbares Merkmal eines Volkes ist. Die Zusammengehörigkeit eines Volkes schafft aber zweifellos soziale Identität, gewährt Heimat. Zwar sind Worte wie Patriotismus und „Vaterlandsliebe" in 40 Mißkredit geraten; aber die früher damit beschriebenen Phänomene sind nicht spurlos verschwunden. Daraus ergeben sich Aufgabe und Verantwortung der Kirche gegenüber Volk und Nation, z. B. -»Predigt in der Volkssprache, Zeugnis gegenüber „allem Volk", -•Seelsorge, —>Diakonie am Volk. Diese Aufgabe ist im Licht des Evangeliums und unter Beachtung des biblischen Zeugnisses wahrzunehmen. Sowohl die Achtung der 45 Humanität und Rechte aller Menschen als auch der Glaube an Gottes universalen Herrschaftsanpruch lassen freilich dem Volk nur relative Bedeutung zukommen. Volk bezeichnet den Ort des kirchlichen Auftrags und der theologischen Reflexion, aber es ist nicht Maßstab, Kriterium, Norm, „Gesetz" kirchlichen Handelns und Selbstverständnisses.

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Volk

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Volksbildung/Volksbildungswesen

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2. Historische Rekonstruktionen

(Literatur S.213)

Vorüberlegungen

1.1. Die Verwendung des Begriffs „Volksbildung" ist von sehr unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierungen geprägt. In Verknüpfung mit Volksaufklärung wurde in historischer Perspektive darunter zunächst ganz allgemein ein lebenslanger Unterrichtsund Bildungsprozeß verstanden, ehe der Begriff zunehmend mit der Förderung von bestimmten „ungebildeten" Bevölkerungsschichten und von speziellen Lernprozessen im Erwachsenenalter verbunden wird (vgl. die Lexika-Beiträge in Knoll/Künzel). Systematisch unterschieden werden können in einer typologischen Matrix auf der einen Seite das Individuum und die Gemeinschaft als zu „bildende" Personen (gruppen) und auf der anderen eine ökonomische und eine ästhetische Kompetenz als zu verwirklichende inhaltliche Zielsetzungen. Zu erwägen wäre, ob in der Kreuzung dieser Faktoren die Debatten um die Differenzen zwischen „extensiver" und „intensiver" Volksbildung einerseits sowie „bürgerlicher" und „sozialistischer" Volksbildung andererseits nicht sinnvoll klassifiziert werden könnten. Insgesamt zeigt sich, daß die Kennzeichnung „Volksbildung" die Funktion einer Integrationsformel für teilweise sehr unterschiedliche Zielsetzungen und Organisationsformen war. Eine gemeinsame Grundlage bildet jedoch eine bestimmte Anthropologie, die in Anlehnung an die Postulate der -»Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", beschrieben werden kann. Der -»Mensch wurde als ein freies Wesen verstanden, insofern seine Lern- und damit (auch gesellschaftliche) Entwicklungsfähigkeit höher bewertet wurde als seine ständische Herkunft. Ausgegangen wurde in Abgrenzung

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Volksbildung/Volksbildungswesen

zum Hierarchie-Aspekt des ständischen Gesellschaftsideals von einer zumindest potentiellen Gleichheit aller Menschen. Schließlich spiegelt sich in der Intention, über —•Bildung einen sozialen Ausgleich zu schaffen, zumindest ansatzweise das Ideal der Brüderlichkeit. Dabei ist jedoch die Spannung zwischen einem konservativen, die bestehenden Machtstrukturen der Gesellschaft unterstützenden Kompensationsansatz und einem gesellschaftsverändernden Revolutionsanspruch unübersehbar. 1.2. Spricht man vom „Volksbildungswesen", so kommen damit in der Regel die Institutionen zur Organisation entsprechender Lernprozesse in den Blick. Bei der Rede vom „Wesen" müssen wiederum zwei entgegengesetzte Inhaltszuschreibungen unterschieden werden. Zum einen impliziert die Bezeichnung im „bürgerlichen" Sinne die Akzeptanz eines Pluralismus an Interessen und Trägern entsprechender Institutionen. Zum anderen zeigt die Verwendung des Begriffs im Rahmen totalitärer Systeme die auf intellektuelle Uniformierung gerichtete Tendenz, darunter den Zusammenschlii? eines zentralistisch gesteuerten Systems an Inhalten und Einrichtungen zu verstehen. 2. Historische

Rekonstruktionen

2.1. Die Sozialität der „Volks"-Gruppe durch die Organisation von Lernprozessen aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, ist zunächst eine genuin alt-israditische bzw. jüdische Tradition, in der gottesdienstliche Verpflichtungen in einem umfaisenden Sinne und allgemein humanitäre Regeln ineinanderfallen (vgl. Koerrenz). Im Europa der frühen Neuzeit waren es in Anknüpfung an die Anliegen des europäischen -»Humanismus vor allem die Reformatoren, die mit dem Postulat der unmittelbaren Zugänglichkeit Gottes für den Einzelnen (durch -»• Gebet sowie Bibel- und KateciismusLektüre) die menschliche Existenz als einen lebenslangen Lernprozeß proklanierten. Das Werk von Johan Arnos -•Comenius mit dem Anliegen, „allen alles zu fehren", kann als eine umfassende Entfaltung dieses reformatorischen Ansatzes gedeutet Verden. Diese konzeptionellen Vorgaben sowie die schrittweise Ausgestaltung eines Volksschulwesens (Flitner, Quellen) bilden den Hintergrund für die sozial- und kulturgeschichtlichen Wandlungsprozesse des pädagogischen Felds im 18. Jh. (Kaiser). Dort wurde im Rahmen der wachsenden Diskrepanz zwischen zunehmendem Selbstbewußtsein der Bürgerlichkeit und faktisch fortbestehender Ständegesellschaft (Koselleck) das Lernen von Erwachsenen als intellektuelle Emanzipationsstrategie entdeckt (Dülnen). In dem breiten Spektrum einer bürgerlichen Bildungspraxis für das Erwachsenemlter im Rahmen der Aufklärungsbewegung (-»Aufklärung; vgl. Götze) erfuhr zunäctst ganz allgemein das Lesen eine besondere Wertschätzung. Es entstanden europaweit Lesegesellschaften (Prüsener; Dann), die neben der individuellen Lektüre vor allem eiren Rahmen für Diskussion und Gespräch bildeten. Eine bedeutende Konjunktur erbbte die Ratgeberliteratur, die sich auf eine glückende Lebensführung bezog. Die Publikation „moralischer Wochenschriften" (Langenohl) konnte sich im 18. Jh. zunächst in ¿ngland und dann ab 1725 auch in Deutschland erfolgreich etablieren. Es entstanden - wederum von England ausgehend - Patriotische Gesellschaften (Hubrig; Vierhaus), die lur Verbreitung des Aufklärungswissens beitragen wollten. Die institutionelle Seite der Volksbildung war durch die Organisation von Kommunikation und die Verbreitung von Wissen geprägt — dies alles jedoch immer unter der Prämisse, daß diese organisierten Bildungsbemühungen nicht mit den allgemeinen Grundsätzen und der Ordnung ces herrschenden politischen Systems in Konflikt gerieten. Die faktische politische Emareipation des Bürgertums war so oftmals mit einer apolitischen Neutralität verknüpft. 2.2. In der Mitte des 19. Jh. veränderten sich im Zuge der sozioökonomischei Wandlungsprozesse auch die Voraussetzungen für Volksbildung grundlegend (Drägei, Volksbildung). Die verordnete Abstinenz in Fragen unmittelbarer Einflußnahme au) die politischen Machtverhältnisse war aufgrund der wachsenden Spannungen im Kortext der -•Industrialisierung nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Auflösung der ständis Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte) abzeichnete, wurde im Umfeld des zwei Wochen später gegründeten Zusammenschlusses liberaldemokratischer Vereine im Verband Deutscher Arbeitervereine (VDAV) die Konzeption einer liberalen Arbeiterbildung weiterentwickelt (Wolgast 23). Die differenzbildende Frage hütete, wie das gewünschte Ziel politischer Aktivität aussehen sollte und ob dieses Ziel eher durch Bildung der Individuen oder durch eine vorausgehende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse (politische „Arbeit") herbeigeführt werden könne. 23. Einen Einschnitt bildete die Reichsgründung im Jahr 1871, in dem die bürgerlichliberale Richtung ihre Bemühungen in der Gründung einer Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (Dräger, Gesellschaft) bündelte. Die Arbeit dieser Gesellschaft stand unter dem Vorzeichen einer primär „extensiven" Volksbildung, in der es um eine möglichst große Zahl an Aktivitäten für eine möglichst große Bevölkerungsgruppe ging. Die \ngebote erstreckten sich vor allem auf drei Bereiche. Erstens wurde ein umfangreiches Vortragswesen mit zum Teil professionellen Wanderlehrern etabliert, in dem es primär um die Vermittlung von Wissen ging. Zweitens wurde das Büchereiwesen mit der Gründung von Volksbibliotheken erweitert (Langfeldt) und drittens schließlich der Volksunterhaltungsabend als Bildungsgelegenheit interpretiert. Eine prägende Rolle kam in dtr Gesellschaft ab 1891 Johannes Tews (1860-1937) zu, der durch seine organisatoris:he Kompetenz die Expansion der Bildungsangebote nachhaltig fördern konnte (vgl. Tewi, Volksbildungsarbeit; ders., 50 Jahre). Neben dieser Dachorganisation wirkten verschiedene Vereinigungen wie die Humboldt-Akademie oder die Comenius-Gesell-

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Volksbildung/Volksbildungswesen

schaft in Berlin und der Rheitt-Mainische Verband für Volksbildung im Sinne einer auf sozialen Ausgleich gerichteten Bildungsarbeit. Bereits im Kaiserreich setzte zum einen eine erste Bilanzierung des gesamten Volksbildungswesens in seiner internationalen Vielfalt ein (Reyer). Zum anderen wurde die Volksbildung auch in Einzeluntersuchungen als internationales Phänomen (vgl. z. B. zu England: Schultze; zu Amerika: Müller; zu Argentinien: Dürst) in den Blick genommen. Eine besondere Rolle kam dabei der Entwicklung von Volkshochschulen in Dänemark (Rordam) und dabei insbesondere dem Werk von N.F.S. ->Grundtvig (vgl. N. Vogel) zu, der mit seiner auf „intensive" individuelle Persönlichkeitsbildung gerichteten Konzeption einen Kontrapunkt zu einem eher quantitativ gemessenen Volksbildungswesen setzte. Diese Konzeption wurde im deutschsprachigen Raum in der Entwicklung des Volkshochschulwesens (Erdberg, Bildungsverein) aufgegriffen und zugleich mit einem neuen Verständnis der Volksbildung als ganzer verknüpft. Die programmatische Perspektive dieser „Neuen Richtung" (Henningsen, Richtung) wurde u.a. in der Formel „Volkbildung durch Volksbildung" (Kappe) zugespitzt. Hintergrund war die Orientierungskrise nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und die Frage nach dem angemessenen Konzept politischer Bildung im demokratischen Rahmen der Weimarer Republik. Führende Vertreter dieses Ansatzes diskutierten auf den Treffen des Hohenrodter Bundes (Henningsen, Bund) insbesondere die politisch-soziale Reichweite volksbildnerischer Aktivitäten (Picht/Rosenstock). Teilnehmer an diesen Tagungen waren u.a. Wilhelm Flitner (1889-1990), Robert von Erdberg (1866-1929), E. ->Rosenstock-Huessy und Fritz Klatt (1888-1945). Neben der emphatischen Proklamation „intensiver" Bildungsarbeit wurde die Situation aus soziologischer Sicht schon früh nüchtern analysiert und bilanziert (Wiese). Bemerkenswert sind auch erste Ansätze der Akademisierung dieses Lernbereichs (Friedenthal-Haase). Institutionell wird diese Zeit durch die Gründung zahlreicher Volkshochschulen geprägt (Steinmetz). Schon früh als internationales Phänomen beschrieben (Reyer 89—142) bildeten sie einen wesentlichen Baustein zur Organisation der -»Erwachsenenbildung nach 1945. Weltanschaulich lassen sich verschiedene Richtungen unterscheiden (Steinmetz 123-133), deren Bandbreite vom national-völkischen Denken über konservativistische Positionen und humanistisch-demokratische Ansätze bis hin zu einer sozialistisch-demokratischen Traditionslinie reicht. Die konfessionellen Strömungen (zum Katholizismus vgl. Pöggeler [1965]) waren über dieses Spektrum verteilt. Innerhalb des Protestantismus nahmen die Bemühungen der Vertreter des -»Religiösen Sozialismus eine Sonderrolle ein (Ahlheim). Das Jahr 1933 stellte auch für die Volksbildung einen markanten Einschnitt dar. 2.4. Besondere Beachtung verdient in der Zeit nach 1933 die Organisation jüdischer Erwachsenenbildung als eine Form geistigen Widerstands (Simon). In der NS-Diktatur insgesamt wurde die „freie Volksbildung" in all ihrer Vielfalt (Erdberg, 50 Jahre; Angermann) als liberalistisch oder sozialistisch abgelehnt. Die programmatische Ausrichtung der Volksbildung von 1933 bis 1945 (Keim/Urbach) bestand in dem Versuch einer konsequenten Instrumentalisierung bestehender Einrichtungen für die offizielle Propaganda und Formationserziehung, ohne dieses Ziel je vollständig zu erreichen. Organisatorischen Ausdruck fand diese Instrumentalisierung in der An- bzw. Eingliederung des Deutschen Volksbildungswerks an die Freizeitorganisation Kraft durch Freude. Nicht die Förderung von individueller Persönlichkeit, sondern die Formation des Volksgenossen war vor 1945 jener Leitgedanke, der nach 1945 auch die Bezeichnung „Volksbildung" in der Bundesrepublik verdächtig machte und den bereits in der Weimarer Republik vorbereiteten Sprachgebrauch der „Erwachsenenbildung" zur neuen leitenden Integrationsformel werden ließ. Der in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 148,4) aufgenommene Begriff des Volksbildungswesens findet sich heute noch in einigen Landesverfassungen (Rheinland-Pfalz Art. 37; Saarland Art. 23). Aus dem Spektrum dessen, was im Laufe der Geschichte unter Volksbildung und Volksbildungswesen verstanden wurde,

Volksbildung/Volksbildungswesen

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leicn sich der Sache nach u.a. die Bereiche der Volkshochschul-Arbeit, der politischen BiMung sowie der Weiterbildung ab. Im kommunistischen Herrschaftsbereich wurde „Volksbildung" nach sowjetischem Vorbild (Medynski) als Bezeichnung („Ministerium für Volksbildung") aufgegriffen und zur Kennzeichnung der einheitlichen Ausrichtung des gesamten Bildungssystems verwandt. Insgesamt erscheinen aus heutiger Sicht die Begriffe „Volksbildung" und „Volksbildungswesen" als historisch überholte Kennzeichnuigen, deren sachliche Anliegen von der politischen Bildung über die individuelle E r w e t e r u n g der ästhetischen Kompetenz bis hin zur beruflichen Weiterbildung gerade im Sinie des aufklärerischen Entstehungskontextes von bleibender Bedeutung sind. Literatur Religionssoziologie blieb ebenso wie Emile Dürkheims (1858—1917) Werk zumindest auf volkskundlicher Seite ohne Echo, im Unterschied zu Frankreich. Erst in den 1960er Jahren entstanden erste Skizzen zur protestantischen Volkskultur (Weiss; Trümpy; Narr), die mit der wichtigen Dissertation von Martin Scharfe (Andachtsbilder) und weiteren Beiträgen jüngerer Wissenschaftler Erweiterung erfuhren. Großes Interesse fand die Thematik, fokussiert auf Objekte des katholischen Konfessionsbereichs, nun aber bei Sammlern und Sammlerinnen und in einigen Museen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz. Amulette, Votive, Wallfahrtsandenken, Gebetszählgeräte und Heiligenbildchen prägten das Bild von religiöser Volkskunde wohl nachhaltiger als Geschriebenes. Von ihnen gingen aber auch wichtige Impulse aus zu einer neuen kritischen Beschäftigung. Lenz Kriss-Rettenbeck überwand mit seinem Buch Bilder und Zeichen religiösen [katholischen] Volksglaubens (1963) die Aufteilung in „Glaube" und „Aberglaube" und konzipierte (Volks-) Religiosität als mehrdimensionale Praxis (z.B. Andacht, —»Tod und Heilserwartung, —»Heiligung und Heilung), ohne autonome und institutionelle Anteile zu unterscheiden. Stimulierend wirkte auf eine sich so verstehende Forschung ohne Zweifel auch das Zweite Vatikanische Konzil (—»Vatikanum I und II), insbesondere die Liturgiereform, die tief in katholisches Alltagsleben eingriff (Heim). Dazu kam die kulturanthropologische Beschäftigung mit Ritual (-»Ritus) und Ritualtheorie (Victor Turner [1920-1983] u.a.), ausgelöst durch die mit der englischen Übersetzung (London/Chicago 1960) einsetzende Wiederentdeckung von Arnold van Genneps Rites de passage (Paris 1909; dt.: Übergangsriten, Frankfurt a . M . 1986 [!]). Das blieb nicht ohne Einfluß auch auf die evangelische Praktische Theologie, die sich noch stärker allerdings der -»Psychologie öffnete - eine Wissenschaft, der die Volkskunde umgekehrt bis in jüngste Zeit indifferent oder gar kritisch gegenüberstand. In der neuen Geschichtswissenschaft (-» Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie) waren es vor allem die französische Mentalitätsforschung, die über serielle Quellen religiöse Haltungen in der Bevölkerung zu ergründen suchte (Vovelle u.a.), ferner die Alltags- und Sozialgeschichtsforschung und die Historische Anthropologie (Ginzburg), die innovative Beiträge vorlegten. Eine neue, klare Begrifflichkeit, beruhend auf einer kulturwissenschaftlichen Theorie von -»Religion und (Volks-)Religiosität, wurde dabei nicht entwickelt. Unbestritten bleibt für den europäischen Raum immerhin, daß von einer christlichen Geschichte entlang konfessioneller Voraussetzungen und Grenzen ausgegangen werden muß, ebenso aber, daß es auch darüber hinauszugehen gilt. Einig sind sich die beteiligten Disziplinen über den Gegenstand: (Volks-)Religiosität im weiten Sinn (von einigen Historikern mit dem englischen Begriff populär religion bezeichnet, anknüpfend an die Diskussion um populär culture); zu verstehen sei darunter die indivi-

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Volkskunde

duelle oder gruppenspezifische Erfahrung von anderer Wirklichkeit (-»Transzendenz) als Antwort auf Fragen des Sinns, als Orientierung und Handlungsanweisung und als Alltagspraxis, im jeweiligen kulturellen Kontext und über explizite Institutionen und Dogmen hinaus. Die Bindung an letztere ist für den modernen Menschen nicht mehr zwingend und auch nicht einzufordern. Die alte Frage nach der Autonomie populärer Religionen und Glaubensformen bleibt zu differenzieren und zu erweitern. Ohne Zweifel enthalten diese, in je individueller und zeitspezifischer, vielleicht auch regionaler Bricolage, neben oder anstelle von Kirchlichem profane Kultformen, Derivate (Schmidt), Anleihen bei Nichtchristlichem, Synkretismen (-»-Synkretismus) und Rückgriffe. Hartinger spricht von religiösen Einschlüssen im heutigen Verhaltensrepertoire und von Tiefenstrukturen (Hartinger 2), wohl nicht so sehr im psychologischen als im Sinn von Ungleichzeitigkeit und Ungleichartigkeit der Anteile (bis hin zu Widersprüchlichem). Gut erforscht ist das zähe Nachwirken popularisierten antiken und mittelalterlichen Gelehrtenwissens, was magische Praktiken (-»Magie) (Hansmann/Kriss-Rettenbeck; Harmening) oder auch Bräuche betrifft. Große Aufmerksamkeit wird dem Aufdecken kontrollierender kirchlicher Strategien mittels -»Predigt und Kult, Katechese (-»Konfirmation), Vorschriften und anderen Herrschaftsinstrumenten und dem Umgang der Bevölkerung mit ihnen gewidmet. Das beginnt mit der Ehezucht der Reformation (-•Ehe/Eherecht/Ehescheidung VII), dem Bild- und Reliquienkult (-»Bilder VI; -»Reliquie/Reliquienverehrung) im Gefolge des -»Tridentinum und reicht bis zum 19. Jh. und zur Gegenwart (z.B. Assion). —»Autobiographien der Neuzeit erweisen sich als fruchtbarer Zugang zum Thema aus der Perspektive des Subjekts (Scharfe, Religion). Das wachsende Bedürfnis breiter Kreise nach spiritueller -»Erfahrung und Bewegung spiegelt sich auch in neuen Forschungsanstrengungen. Desiderat bleibt die Entwicklung eines theoretischen Diskurses, der zwischen theologischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen vermitteln könnte. Nötig wäre auch der Brückenschlag zu -»Missionswissenschaft und -»Judaistik und zu nichtchristlichen Religionsfächern. Weiterhin wird beispielhafte Einzelforschung zur Veränderung oder Neuschöpfung von Kultformen und zu regionalen Fragen notwendig sein. Die zunehmende Polarisierung von Reich und Arm und die Amalgamierung der Kulturen vermag traditionelle Bindungen bis zur Beliebigkeit zu lockern, sie aber auch zu radikalisieren und zu neuen Machtinstrumenten zu verformen. Als Probleme von gesamtgesellschaftlicher Relevanz bedürfen sie der kritischen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Literatur Peter Assion, Der soziale Gehalt aktueller Frömmigkeitsformen. Zur rel. Volkskunde der Gegenwart: HBVK 14/15 (1982/83) 5 - 1 7 . - Wolfgang Brückner, Frömmigkeitsforschung im Schnittpunkt der Disziplinen. Über methodische Vorteile u. ideologische Vor-Urteile in den Kulturwiss.: ders./Korff/Scharfe (s.u.) 5 - 3 7 . - Ders., Art. Volksfrömmigkeit: LThK 3 10 (2001) 858f. - Ders., „Ethnographische Parallelen". Beginn u. Ausbreitung der religionswiss. Realienforschung in der Volkskunde: Jahrbuch f. Volkskunde, hg. v. der Görres Gesellschaft, 24 (2001) 27 - 4 4 . - Ders./ Gottfried Korff/Martin Scharfe, Volksfrömmigkeitsforschung, Würzburg 1986 (Ethnologia Bavarica 13) (Lit.). - Christoph Daxelmüller, Volksfrömmigkeit: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.), Grundriß der Volkskunde, Berlin 1988 21994, 397-420 (Lit.). - Bernward Deneke, Zur Tradition der mythologischen Kontinuitätsprämisse. Fragestellungen des 17. u. 18. Jh. bei Jacob Grimm: Hermann Bausinger/Wolfgang Brückner (Hg.), Kontinuität? Geschichtlichkeit u. Dauer als volkskundliches Problem, Berlin 1969, 47-56. - Paul Drews, „Rel. Volkskunde", eine Aufgabe der prakt. Theol.: MKP 1 (1901) 1 - 8 . - Ders., Rel. Volkskunde: HBVK 1 (1902) 2 7 - 29. - Ders., Art. Volkskunde, rel.: RGG 1 5 (1913) 1746-1754. - Helmut Eberhart/Edith Hörandner/Burkhard Pöttler (Hg.), Volksfrömmigkeit. Referate der österr. Volkskundetagung 1989 in Graz, Wien 1990 (ÖZVK.B NS 8). - James George Frazer, The Golden Bough. A Study in Comparative Religion, 2 Bde., London 1890; erw. Aufl. [Untertitel: A Study in Magic and Religion], 10 Bde., London 1911-1915 Nachdr. New York 1966 u.ö.; dt. gekürzte Ausg.: Der goldene Zweig. Das Geheimnis v. Glauben u. Sitten der Völker, Leipzig 1928 Köln *1968 u.ö. - Carlo Ginzburg, II formaggio e i vermi, Turin 1976; dt.: Der Käse u. die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M. 1979. - Ernst Halter/Dominik Wunderlin (Hg.), Volksfrömmigkeit in der Schweiz, Zürich 1999. - Liselotte Hans-

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mann/Lenz Kriss-Rettenbeck, Amulett u. Talisman. Erscheinungsform u. Gesch., München 1966. - Dieter Harmening, Superstition - „Aberglaube": Edgar Harvolk (Hg.), Wege der Volkskunde in Bayern, München/Würzburg 1987, 2 6 1 - 2 9 2 (Lit.). - Walter Hartinger, Religion u. Brauch, Darmstadt 1992 (Lit.). - Walter Heim, Volksglaube im Kirchenjahr heute, Basel 1983 (SSGVK 67). - H W D A . - Georg Koch, Volk u. Religion: Adolf Spamer (Hg.), Die dt. Volkskunde, Leipzig/Berlin, I 1934, 5 7 9 - 5 9 9 . - Gottfried Korff, Volkskundliche Frömmigkeits- u. Symbolforschung nach 1945: Brückner/Korff/Scharfe (s.o.) 3 8 - 6 6 . - Ders., Kulturkampf u. Volksfrömmigkeit: Wolfgang Schieder, Volksreligiosität (s. u.) 1 3 7 - 1 5 1 . - Lenz Kriss-Rettenbeck, Bilder u. Zeichen rel. Volksglaubens, München 1963. - Ders./Gerda Möhler (Hg.), Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayrischen Nationalmuseums u. des Adalbert Stifter Vereins, 2 Bde., München/ Zürich 1984 (Lit.). - Ernst Müller, Die Aufgabe der rel. Volkskunde: S T h Z 22 (1905) 28 - 4 9 . Dieter Narr, Zum Charakterbild prot. Volksfrömmigkeit: ders., Stud. zur Spätaufklärung im dt. Südwesten, Stuttgart 1979, 1 2 9 - 1 4 1 . - Werner Peuckert, Rel. Volkskunde, eine theol. Aufgabe, Dresden 1938. - Martin Scharfe, Ev. Andachtsbilder. Stud. zu Intention u. Funktion der Bilder in der Frömmigkeitsgesch. vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968. - Ders., Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- u. Sozialgesch, des Pietismus, Gütersloh 1980. - Ders., Prolegomena zu einer Gesch. der Rel. Volkskunde: Brückner/Korff/Scharfe (s.o.) 6 7 - 90. - Wolfgang Schieder (Hg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgesch., Göttingen 1986. - Ders., Ein!.: ebd. 7 - 1 3 . - Ders., Art. Volksfrömmigkeit, Volksreligiosität 1: EKL 5 4 (1995) 1 1 9 2 - 1 1 9 5 (Lit.). - Leopold Schmidt, Brauch ohne Glaube. Die öffentliche Bildgebärde im Wandel der Interpretationen, Würzburg 1977 (Ethnologia Bavarica 5). - Georg Schreiber, Dt. Bauernfrömmigkeit in volkskundlicher Sicht, Düsseldorf 1937. - Hans Trümpy, Die Reformation als volkskundliches Problem: Kontakte u. Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- u. Sozialforschung. FS Gerhard Heilfurth, hg. v. Hans Friedrich Foltin, Göttingen 1969, 2 4 9 - 2 5 8 . - Michel Vovelle, La mort et l'occident de 1300 a nos jours, Paris 1983. - Richard Weiss, Grundzüge einer prot. Volkskunde: SAVK 61 (1965) 7 5 - 9 1 = SAVK 93 (1997) 7 1 - 8 4 . Christine B u r c k h a r d t - S e e b a s s

Volksmission 1. Zum Begriff Volksmission 2. Zur Geschichte von Volksmission 3. Missionarische Arbeitsformen in der Volkskirche heute 4. Der missionarische Auftrag der Kirche im 3. Jahrtausend (Quellen/Literatur S. 271) 1. Zum

Begriff

Volksmission

In den rund 1 5 0 J a h r e n seit J . H . - » W i e h e r n ( 1 8 4 8 ) ist Volksmission unter wechselnden Leitbegriffen akzentuiert w o r d e n als „ - • I n n e r e M i s s i o n " (grundlegend dafür W i c h e r n s Denkschrift v o n 1 8 4 9 ) , , , - * E v a n g e l i s a t i o n " , „ K i r c h l i c h e V o l k s m i s s i o n " ,

„Missionari-

scher G e m e i n d e a u f b a u " o d e r schlicht als „ d e r missionarische A u f t r a g der K i r c h e " . D a s gemeinschaftliche Vielfache dieser P r o g r a m m e besteht darin, d a ß a) M i s s i o n nicht m e h r n u r auf die V ö l k e r w e l t und die „fernen H e i d e n " bezogen w i r d , s o n d e r n a u f die M i l l i o n e n im eigenen L a n d , die „ o h n e alle Verbindung mit W o r t und S a k r a m e n t " ( W i c h e r n , M i s s i o n ) dahinleben und als „ M a s s e der G e t a u f t e n " t r o t z der Volkskirche „sich selbst ü b e r l a s s e n " bleiben (Hilbert, Volksmission [ 1 9 1 7 ] , zit. n a c h B e y r e u t h e r 2 1 4 A n m . 3 8 9 ) , die das W o r t G o t t e s „ t h e o r e t i s c h längst v e r n o m m e n und positiv a u f g e n o m m e n und b e a n t w o r t e t h a b e n m ü ß t e n , es a b e r faktisch n o c h nie o d e r n u r aus irgendeiner Ferne u n d d a r u m für ihre Beteiligung a n der S a c h e der G e m e i n d e bedeutungslos vern o m m e n h a b e n " (Barth 1 0 0 0 ) ; d a ß b) diese M i s s i o n nicht n u r d u r c h die A m t s t r ä g e r im P f a r r a m t geschehen soll, s o n d e r n k r a f t einer E r n e u e r u n g des P r i e s t e r t u m s aller G l ä u bigen ( - » P r i e s t e r t u m II), des Z e u g e n d i e n s t e s d e r g a n z e n G e m e i n d e ( M o t t o des 2 . L a u sanner Kongresses für Weltevangelisation in M a n i l a 1 9 8 9 : „ C a l l i n g the w h o l e c h u r c h t o t a k e the w h o l e gospel t o the w h o l e w o r l d " ) u n d k r a f t des „ A p o s t o l a t s des kleinen M a n n e s " (A. - » S t o e c k e r , vgl. B e y r e u t h e r 1 3 4 A n m . 2 1 2 ) ; d a ß c) im gleichen Z u g e mit der E n t d e c k u n g und E n t w i c k l u n g eingefrorener C h a r i s m e n ( - » C h a r i s m a ) in der g a n z e n G e m e i n d e einige besonders der Volksmission verpflichtete neue Ä m t e r ( - » A m t ) entstehen oder wiedererstehen müssen, z. B. Evangelisten, Diakonissen und D i a k o n e , Schriften-

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kolporteure, Reise- und Straßenprediger, Stadtmissionare; daß d) die Volksmission ihren besonderen Akzent zwar auf die erweckliche Verkündigung legt - Innere Mission als innerste Mission —, daß das Zeugnis des Wortes und das Zeugnis der Tat aber unbedingt zusammengehören und zusammen wirken als -»Diakonie und Evangelisation. 2. Zwr Geschichte von

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2.1. Innere Mission 1848 Wichern nahm die Gelegenheit wahr, am 22. September 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag (-»Kirchentage 2.1.), der eigentlich eine stärkere Verbindung der Kirchen untereinander zum Ziel hatte, der ganzen evangelischen Kirche die Beziehung zum —•Volk, besonders zum Proletariat, verpflichtend zu machen, und zwar mit solcher Leidenschaft, daß schon ein Jahr später der Central-Ausschuß für innere Mission gebildet wurde (Beyreuther 111-129). Wichern hat die Aufgabe der Volksmission als erster definiert, neue Ämter, neue Verkündigungs- und Gemeindeformen (Straßenpredigten, Haus- und Hofkirchen) anvisiert und besonders Theologen in der Ausbildung in den missionarischen Auftrag einbinden wollen. Daß er trotz der „weiten brachen Strecken des Kirchenlandes" am Ende doch auf eine „vollständige geistliche Bewirtschaftung" (Wichern, Mission 227) hoffte, kann man als Romantik abwerten, auch seine Hochschätzung der geistlichen Erwartungshaltung und Sendung des deutschen Volkes. Gerhard Hilberts (1868-1936) späterer Kernsatz „Deutschland ist zum Missionsfeld geworden - und wird es bleiben" klingt da nüchterner (Hilbert, Volksmission [1917] 4). 2.2. Evangelisation 1848 und Gemeinschaftsbewegung

1888

Parallel zu Wichern liefen seit 1848 von vornherein andere, stark auf die Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jh. (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) aufbauende volksmissionarische Bewegungen und in der zweiten Hälfte des 19. Jh. stärker werdende freikirchliche Evangelisationsbestrebungen (Jung). Als zeitlich erste, nach der völligen Freigabe des Vereins- und Versammlungsrechts durch den preußischen Staat, sticht die Evangelische Gesellschaft für Deutschland, gegründet 1848, hervor (vgl. Hildebrandt 85-116). Der später sowohl aus der Evangelischen Kirche als auch aus der Evangelischen Gesellschaft ausgetretene Gründungsvater Pastor Ludwig Feldner (1805-1890) hatte unter dem Motto: „Wollen wir nicht Deutschland evangelisieren?" im Menschenfreund aufgerufen: „In der jetzigen Zeit gibt es für Deutschland wie für Europa kein anderes Rettungsmittel, als ganz Deutschland zu evangelisieren, und es scheint an der Zeit, dieß jetzt anzuregen ... sich zusammenzuthun zu einer Gemeinschaft, welche von ihrer nächsten Gegend anfangend als Ziel hat, in ganz Deutschland, sowohl den rationalistischen und Lichtfreundlichen, als den römisch- und deutsch-katholischen Anmaßungen das Licht des Evangelii entgegenzustellen" (Menschenfreund 24 [1848] 130).

Unter diesen Bewegungen erwies sich am Ende des Jahrhunderts als stärkste die im Gnadauer Verband seit 1888 verbindlich zusammengeschlossene -*Gemeinschaftsbewegung, die auf ihrer 1. Konferenz antrat unter der doppelten Zielsetzung: „I. Auf Grund der biblisch-reformatorischen Grundanschauungen das Recht der gemeinschaftlichen Privaterbauung, der Gemeinschaftspflege, der Evangelisation, sowie der Laientätigkeit überhaupt in ihrem Verhältnis zum geordneten Amt und den Organen der Kirche klar zu stellen. II. Durch brüderliche Gemeinschaft und Gebet sich neu zu stärken für die vielfältigen Aufgaben, welche die Arbeit für das Reich Gottes uns in der Gegenwart vorlegt" (Diener 138). In der Zusammenfassung des Konferenztags betonte Pastor Julius Dammann: „daß der Pastor nicht allein Generalpächter des Wortes Gottes sei, daß das allgemeine Priestertum aller Gläubigen mehr zur Geltung kommen müsse; daß in Sonderheit das Amt der Evangelisten, wie es in der ersten Zeit der christlichen Kirche bestand, wieder zu erneuern sei" (zitiert nach Ohlemacher 76; vgl. auch Diener 139). In dem halben Jahrhundert vor Hilbert ist als weiteres exemplarisches volksmissionarisches Projekt unbedingt noch zu erwähnen die Berliner Stadtmission, von dem Ober-

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hofprediger Adolf Stoeclcer geprägt und leidenschaftlich gepflegt: sie zeichnete sich aus durch die Betonung der Hausbesuche, die Verbindung von Chorgesang auf den Straßen und der Verteilung von „Pfennigpredigten", die Kooperation von Gemeindehelfern und Stadtmissionaren mit den örtlichen Pfarrämtern in riesigen Parochien, auch durch die Bedeutung des Kirchenbaus für die Volksmission und schließlich die Gründung eigener Stadtmissionsgemeinden (vgl. Beyreuther 130ff.; vgl. TRE 32,194f.). 2.3. Kirchliche

Volksmission

Dieses Programm wurde von dem Rostocker Theologieprofessor Gerhard Hilbert mitten im Ersten Weltkrieg entwickelt (Hilbert, Volksmission [1916]) und durch die Unterstützung des geschäftsführenden Direktors des Centrai-Ausschusses, Gerhard Füllkrug (1870-1948), mit Leben gefüllt (vgl. Füllkrug, Handbuch; ders., Werk). Volksmission sollte zur „Gemeindesache", zur regulären Aufgabe von „Kirchenregiment" und Pfarramt werden (vgl. Beyreuther 215). In seiner späteren Geschichte hat das Programm von Volksmission nur selten eine so breite Unterstützung in Kirche und freien Werken und eine solche Durchdringung aller kirchlichen Arbeitsfelder mit den volksmissionarischen Anliegen erreicht wie nach Hilberts Vorstoß. Erst um die Jahrtausendwende — markiert durch die EKD-Synode 1999 zum Thema „Mission und Evangelisation" - wird man von einer ähnlich großen Koalition für Volksmission sprechen können wie 1916. Hilbert hat die Aufgabe einer kirchlichen Volksmission klassisch zusammengefaßt: „Volksmission ist die Mission, die die Volkskirche an sich selbst und an ihrem Volke zu treiben hat" (Hilbert, Volksmission [1931] 1678). „Unsere kirchlichen Kreise müssen .missioniert' werden, ehe sie ,pastoriert' werden können" (zit. bei Beyreuther 214). „Was tut die Kirche mit den ihr anvertrauten Millionen? . . . Der ganze große Apparat der Kirche arbeitet im allgemeinen an einer verschwindenden Minorität unseres Volkes" (Hilbert, Volksmission [1917] 5ff.). Es gilt daher über die Konzentration auf die pastorale Aufgabe hinauszugehen auf die missionarische Aufgabe: „Jeder Pfarrer ist als solcher Volksmissionar, d.h. seine gesamte Tätigkeit, zumal die an der Jugend, darf nicht nur Aufbau, Erziehung, Pflege, sondern muß auch Grundlegung, Erweckung und Eroberung sein. Insbesondere gilt dies für die Kasualien" (Hilbert, Volksmission [1931] 1678). Ziel sind der lebendige Glaube und lebendige Gemeinden (vgl. ders., Ecclesiola). Da nicht nur eine Entkirchlichung, sondern auch eine Entchristlichung des Volkes um sich greift, sind in Vortragsreihen erweckliche Verkündigung und -»Apologetik miteinander zu verbinden (ders., Volksmission [1931] 1679). 2.4. Bekennende Gemeinde 1934 In der Zeit des -»Nationalsozialismus und der Bekennenden Kirche (-»Nationalsozialismus und Kirchen) gab es zwei vollkommen gegensätzliche Ausprägungen und im Rahmen dieses Spektrums allerlei Mischformen von Volksmission: Auf der einen Seite eine völkische Mission, bei der Bewegung und Erweckung des Volkes sich gegenseitig zu verstärken schienen. So wurden Gruß- und Dankadressen an den charismatischen Führer, die Ablehnung der Judenmission und die Absage an den jüdischen Geist im Christentum auch in volksmissionarischen Kreisen möglich (Marquardt 9: „aus jüdischem Geist ist das Christentum nicht geboren"). Andererseits ließ sich die Bekennende Kirche Anliegen und Begriff der Volksmission nicht entreißen, sondern nahm die Verkündigungsverantwortung gegenüber „allem Volk" mit auf in die Barmer Theologische Erklärung (These 6). In Barmen selbst wurde die „Erklärung zur praktischen Arbeit der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche" (ed. Burgsmüller/Weth 71—73) vorgelegt; deren Schwerpunkte sind „Der Dienst zur geistlichen Erneuerung des Pfarrerstandes - Aufbau der Bekennenden Gemeinden - Sendung der Bekennenden Gemeinde", letztere bis hin zum „Dienst an der Reichswehr (Truppenübungsplätze), SA, SS, HJ, Versorgung der Arbeitsdienst- und Ju-

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gendlager" (vgl. die Darstellung der Geschichte dieser Erklärung bei Burgsmüller). Auch die Volksmissionsfahrten des Finkenwalder Predigerseminars mit D. —»Bonhoeffer sind ein Zeichen dafür, daß Kirchenkampf und Evangelisation sich nicht auseinanderreißen lassen (vgl. Bethge 614-618). 2.5. Missionarischer

Gemeindeaufbau

An diese Konzepte konnte die Volksmission nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen (vgl. Auftrag und Dienst der Volksmission [1964]) und ein reiches Spektrum an missionarischer Praxis entfalten (für die Konzepte von 1950-1985 vgl. den grundlegenden Überblick bei Herbst; Möller; Seitz); besonders auch Evangelisationen durch bekannte Evangelisten (Johannes und Wilhelm Busch; Gerhard Bergmann; Johannes Hansen; Ulrich Parzany u.a.) prägten das Bild von Volksmission. Verschärft wurde die Frage nach dem Kurs der Volksmission durch den Streit um die historisch-kritische Forschung (Bergmann), durch die Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium in der Dortmunder Westfalenhalle vom 6. März 1966 und durch die aus der Ökumene immer drängender werdende Frage nach der sozialen und politischen Verantwortung der Kirche als Bestandteil ihres Missionsauftrags: die Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 forderte ein „Moratorium" in Bezug auf die Mission. Diese Anfragen wurden allerdings durch den 1. Lausanner Kongreß für Weltevangelisation im Sinne eines integrativen Evangelisationskonzepts beantwortet (vgl. Art. 4 und 5 der Lausanner Verpflichtung 1974 und das Manila Manifest Nr. 4: Proclaim Christ until He comes 20 f.30) In den 1980er Jahren entwickelte sich dann eine Fülle von volksmissionarischen Konzepten, und zwar nicht konzentriert auf evangelistische Sonderaktionen, sondern ausgehend von Prozessen des Gemeindeaufbaus. Dazu gehören u.a. die „missionarische Doppelstrategie" der VELKD mit ihrer Unterscheidung von verdichtenden und öffnenden Formen der missionarischen Arbeit; das Konzept „Überschaubare Gemeinde" des Herner Superintendenten Fritz Schwarz und seines Sohnes Christian, das in Anlehnung an E. -»Brunner, Helmut Gollwitzer (1908-1993) und Hans-Joachim Kraus („die verändert und verändernd lebende Gruppe"; vgl. Kraus 505) zwischen ekklesia und der Institution Kirche unterscheidet und von einem sich als ekklesia verstehenden Mitarbeiterkreis aus Gemeinde neu aufbauen will. Besonders bemerkenswert sind hierbei die Bemühungen um eine Elementarisierung der Botschaft, um das „einfache Evangelium" und die Herner Ansätze zu einem zweiten Gottesdienstprogramm mit offenen Formen. Jedenfalls war das Herner Programm eine entscheidende Herausforderung zu einer Neubesinnung auf Volksmission, die in den Jahren nach dem 1. Lausanner Kongreß 1974 durch verschiedene Kongresse in Deutschland (Jugendkongreß Christival 1976 in Essen; Missionale-Kongreß 1980 in Köln), durch das Missionarische Jahr 1980 und durch die Theologenkongresse in Stuttgart 1985 und Braunschweig 1994 erheblichen Auftrieb bekam (Dokumentation des Stuttgarter Kongresses: Das Haus der lebendigen Steine; Dokumentation zu Missionale: Teschner, Wohnwagen). Während es hier weitgehend immer noch um die Gewinnung Getaufter ging, richteten sich die parallelen volksmissionarischen Bemühungen in der DDR überwiegend darauf, Menschen, die noch keinerlei Berührung mit Kirche oder christlichem Glauben hatten, zu erreichen (z.B. Ratzmann). 2.6. Der missionarische

Auftrag der Kirche

Die erste Welle volksmissionarischer Konzepte in den Jahren 1974-1988 konnte schließlich auf der EKD-Synode 1988 in Bad Wildungen vom Ratsvorsitzenden, Bischof Martin Kruse, gebündelt werden in dem Leitwort vom „Christ werden" (Glauben heute). Nach der politischen Wende in Deutschland 1989 folgte dann eine zweite Welle volksmissionarischer Produktivität, die sich herausgefordert wußte durch den Übergang zum dritten Jahrtausend nach Christus.

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In zahlreichen Veröffentlichungen (s. Quellen) wurde deutlich: Die Kirche setzt den missionarischen Auftrag an die oberste Stelle ihrer Tagesordnung; sie ist durch die Entwicklung im Osten des Landes deprimiert und alarmiert (manche sagten: „Der Osten zeigt, wie's im Westen werden wird") und nahe daran, das Konzept einer pastoral flächendeckend wirkenden Volkskirche aufzugeben; sie trennt nicht mehr zwischen Evangelisation und Mission, gebraucht beide Begriffe alternierend und versucht, durch gemeinsame Projekte (Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene) die Entfremdung zwischen Weltmission und Volksmission und zwischen evangelischen und katholischen Konzepten der Volksmission zu überwinden (vgl. Zeit zur Aussaat)-, sie bemüht sich um eine Elementarisierung der Botschaft und um eine Veranschaulichung der volksmissionarischen Konzepte durch die Darstellung von Initiativen aus Modellgemeinden (vgl. Schritte der Hoffnung). 3. Missionarische Arbeitsformen

in der Volkskirche heute

In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden bewährte Formen der Volksmission (Evangelisationswochen, Bibelwochen, Evangelische Wochen; vgl. Beyreuther 259ff.; Ulrich) reaktiviert und besondere „Gruppen und Situationen" (die Jugend, die Intellektuellen, die Arbeiterschaft, das Dorf; vgl. Ulrich, Kap. V) missionarisch angesprochen. Das volksmissionarische Spektrum erweiterte sich dann zu „Gebietsmissionen" in Form von gemeinsamen Visitationen durch die funktionalen Ämter einer Kirche („Mannschaftsarbeit" und „fliegende Einsätze"; ebd. 103-107), zu Hausbesuchs-Diensten als Ausdruck der Haushalterschaftsarbeit (vgl. von Goessei/Stephan 151ff.), zu missionarischer Öffentlichkeitsarbeit, zur Förderung des Laienapostolats, auch durch den Deutschen Evangelischen Kirchentag (-»Kirchentage), zum Dienst in der Freizeitwelt durch die „Kirche unterwegs". Dieses Spektrum war so breit und bunt, daß schon früh die selbstkritische Frage gestellt wurde: „Sind wir wirklich missionarisch?" (Eberhard Müller) - „Sind wir noch wirklich evangelistisch"? (Werner de Boor; vgl. Beyreuther 276 und die etwas abweichende Darstellung derselben Goslarer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission 1954 bei Ulrich 68-70). Listet man die Arbeitsformen heute auf, so ist Volksmission noch bunter und ideenreicher geworden; als „evangelistische Modelle" sind zu nennen: „neu anfangen", „Brückenbauen", das Jahr mit der Bibel (1992; 2003), die Großevangelisation Pro Christ über Satellit (1993; 1995; 1997; 2000; 2003), Glaubenskurse, ökumenische Gemeindeerneuerung, „Thomas-Messe" (besondere Gottesdienste für „Zweifler"), Kirche für Distanzierte (Initiativen nach dem Vorbild der Willow Creek Community Church in der Nähe von Chicago); Evangelisationswochen und Gebietsmissionen sind demgegenüber zurückgegangen. Nicht vergessen werden sollten missionarische Konzerte, Kongresse zur Ermutigung von Mitarbeitenden (Votum der Arnoldshainer Konferenz 1988; Evangelisation und Mission 77-98; umfassende Projektliste: Das Evangelium unter die Leute bringen, Abschn. V,3; Praxisbeispiele: Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene, Abschn. 10) und die gerade an der Schwelle zum 3. Jahrtausend neu betonte Kooperation von Volksmission und Öffentlichkeitsarbeit. Das Wachstum der Volksmission kann jedoch nicht nur in der quantitativen Weiterentwicklung immer neuer Arbeitsformen liegen, bis hin zu Christlichen Kneipen und Cafes, sondern in der missionarischen Qualifizierung des normalen Gemeindelebens. Das geistliche Leben, die Gesprächsbereitschaft und Auskunftsfähigkeit der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Liturgie und die Atmosphäre der Gottesdienste, das Zusammenleben der Gemeinde in Freud und Leid (Diakonie) haben missionarische Ausstrahlung (so vom Gottesdienst aus denkend besonders Möller). Nur eine Gemeinde, die einladend ist und lebt, kann Einladungen aussprechen („Ehrung geht vor Bekehrung": W. Vorländer 61; vgl. G. Vorländer). So verzichten manche volksmissionarischen Initiativen erst einmal auf die Vorgabe von Projekten, sondern zielen statt dessen auf offene Beratungs- und Leitbild-Prozesse, also

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missionarische Perspektiventwicklung, aus denen sich dann Programme und Veranstaltungen ergeben können (vgl. Einladende Gemeinde-, Teschner, Gemeinde). Burghard Krause beschreibt als Perspektive, „um die es in der Evangelisierung unseres gottesbedürftigen Landes letztlich geht: daß nämlich die Gemeinde vor Ort mehr und mehr zum Subjekt missionarischer Prozesse wird, daß wir sendungstüchtige, gastfreundliche und ausstrahlungskräftige Gemeinden bekommen, die lange und geduldige ,Emmaus-Wege' mit den Menschen gehen und ihre missionarische Verantwortung nicht an Kurzzeitprojekte delegieren" (mündlich beim Kongreß Villigst 1999). 4. Der missionarische Auftrag der Kirche im 3. Jahrtausend Wird der Begriff Volksmission um die Jahrtausendwende auch kaum noch gebraucht (im Jahre 2003 heißt laut Mitgliederliste der Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste kein einziges Amt in der EKD „Volksmissionarisches Amt"), so wird der „missionarische Auftrag" - so die sich jetzt wohl allgemein durchsetzende Terminologie seit der EKD-Synode 1999 — im eigenen Land immer mehr als Herausforderung erkannt, wobei die Unterscheidung zwischen sog. Äußerer Mission und Evangelisation zur Erweckung in christlich geprägten Ländern zunehmend überholt erscheint. Für die kommenden Jahrzehnte bleiben folgende Probleme zu klären und Aufgaben anzufassen: a) Die „ekklesiologische Lücke" (Jüngel, Abschn. 1) in bezug auf das Verhältnis von Kirche und Mission ist zu schließen. Mission ist nicht ein Additivum schon etablierter Kirchen, die sich hierin auch ein Moratorium leisten könnten, sondern ein Konstitutivum von Kirche. Die Rede vom „Christwerden" darf und kann nicht mehr als Ausnahmefall in einem christlich geprägten Land gelten, in dem wir „im Normalfall" auf „die Taufe der Kleinstkinder" als „Mittel der Christenvermehrung" bauen könnten (vgl. Bischof Joachim Wankes Brief: Zeit zur Aussaat 35). b) Die Ganzheitlichkeit von Mission ist wiederzugewinnen. Die Arbeitsteilungen zwischen Diakonie und Evangelisation, „Innerer Mission" und Volksmission, „konziliarem und missionarischem Prozeß" (vgl. Teschner, Prozeß) haben sich nicht bewährt. So wie es keine rein verbale Mission in Gestalt einer „puren" Evangelisation gibt (zur ManilaDokumentation vgl. Teschner, Einleitung), so auch keine Taten der Liebe, die nicht Zeugnis einer größeren Liebe sind und sein wollen (besonders betont von Weth; Brandt). Zwar gibt es, je nach Situation und Begabung, unterschiedliche Eingangstore („entry points into the total mission of God's love": Castro, Sent Free 1; ders., Freedom) in den Gesamtauftrag von Mission, aber es ist immer der ganze Auftrag anzustreben. c) Die Frage nach den Adressaten der Sendung und nach der kulturellen Vielseitigkeit eines religiös und sprachlich bunten Landes und Volkes wird immer brennender. Der Dialog mit anderen Religionen und die missionarische Herausforderung der westlichen Kultur gehören heute mit zur Selbstbesinnung der Volksmission. „Wie wird der Westen bekehrt?" (Newbigin passim; Werner 353ff.). Andererseits wird aus kulturtheologischer Sicht „Mission" zunächst einmal als „Wahrnehmung" definiert (Kretzschmar; in Auseinandersetzung dazu vgl. Knieling). d) Die Frage nach den Trägern und Trägerinnen des missionarischen Zeugendienstes ist mit der Leitvorstellung von der ganzen Gemeinde als Subjekt der Mission bzw. Evangelisation zwar grundsätzlich richtig beantwortet, aber praktisch noch lange nicht. Hier ist auch vordringlich die Rolle der Pfarrerinnen und -»Pfarrer zu bestimmen, wobei es zu keiner Vorherrschaft der „Pastorenkirche" kommen darf, die sich lähmend auf Zeugnis und Dienst der ganzen Gemeinde (vgl. Der Dienst der ganzen Gemeinde Jesu Christi und das Problem der Herrschaft) auswirken würde. e) Es gibt noch manche Desiderate aufzulisten, z. B. zur Verhältnisbestimmung von Evangelisation und Taufe, zur Förderung eines „argumentativen" Christseins und einer neuen Apologetik, zur Frage nach der Elementarisierung des Evangeliums und einer Anleitung zu elementaren Schritten der Mission im Alltag.

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f) Aber die wichtigste Frage ist die nach dem Evangelium in der Evangelisation. Ist die Botschaft in sich selbst ambivalent, also teils Droh-, teils Frohbotschaft? Ist Verlorenheit des Menschen ein Faktum oder ist sie immer schon überholt und überstimmt, überstrahlt durch die Gnade Gottes in Jesus Christus (Jüngel: Abschn. III „Die Welt im Licht der Gnade"; Abschn. V „Der Welt die Augen öffnen"), solange diese ausgerufen und vorgelebt wird? Was gibt der Mission ihre Dringlichkeit? Volksmission ist jeweils in Krisenzeiten von der Kirche besonders forciert worden: 1848 angesichts der Revolution, 1916 angesichts des Krieges und der Entchristlichung bzw. Entkirchlichung des Volkes, in den 1970er und 1980er Jahren angesichts zunehmender Kirchenaustritte und nach der Wende 1989 beim Gang ins 3. Jahrtausend angesichts einer zunehmenden Marginalisierung und Minorisierung der Kirche. Volksmission geschah oft in Panik oder Nostalgie, „allzu zeitgemäß" unter der Wolke drohender Gewitter, sie kann aber evangeliumsgemäß nur geschehen unter der Sonne der Güte Gottes (Mt 5,45) und unter der andauernden Barmherzigkeit Jesu Christi (Mt 9,36). Die Volksmission muß die ihr anhaftende Untergangsstimmung und Kirchenkritik abschütteln. Sie geschieht in Erwartung des Reiches Gottes. „So haben wir nicht zu zweifeln, daß Gott noch einen besseren Zustand seiner Kirchen hier auf Erden versprochen h a t " , wie Ph. J. —>Spener im Reformprogramm des Pietismus unter Pia desideria notierte (Spener 46). Quellen 1. Gesamtkirchliche Veröffentlichungen: Zur Entwicklung v. Kirchenmitgliedschaft. Aspekte einer missionarischen Doppelstrategie, hg. v. Luth. Kirchenamt der VELKD, 1983 (TVELKD 21,1983). - Alternative: Glauben. Missionarische Arbeitsformen in der Volkskirche heute. Anstöße vom Ausschuß f. Fragen des gemeindlichen Lebens der VELKD, zusammengestellt v. Horst Reller/ Karin Lorenz, Gütersloh 1985 (Priestertum aller Gläubigen aktuell 2). - Glauben heute. Christ werdeil, Christ bleiben. Im Auftrag des Rates der EKD hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1988. - Minderheit mit Zukunft. Zu Auftrag u. Gestalt der ostdt. Kirchen in der pluralistischen Gesellschaft. Überlegungen u. Vorschläge des Arbeitskreises „Kirche von morgen", Red. Wulf Röhnert: EpdD 3a/1995. - Kirche mit Hoffnung. Leitlinien künftiger kirchl. Arbeit in Ostdeutschland, im Auftrag des Kirchenamtes der EKD hg. v. Helmut Zeddies, Berlin 1998. - „Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene". Ein Verständigungsprozeß über die gemeinsame Aufgabe der Mission u. Evangelisation in Deutschland, hg. vom Ev. Missionswerk in Deutschland, der Arbeitsgemeinschaft Christi. Kirchen u. missio, Hamburg 1999. - Der Dienst der ganzen Gemeinde Jesu Christi u. das Problem der Herrschaft. Veröff. des theol. Ausschusses der Ev. Kirche der Union, hg. v. Joachim Ochel, Gütersloh 1999. - „Ermutigung zur Mission". Ein Lesebuch zum Schwerpunktthema der EKD-Synode 1999, hg. vom Kirchenamt der EKD Hannover, zusammengestellt v. der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste Berlin, 1999. - Evangelisation u. Mission, hg. v. Theol. Ausschuß der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1999. — „Gottes Lust am Menschen" - Kongreß für kontextuelle Evangelisation, Villigst 2 0 . - 2 3 . September 1999, Dokumentation „aus der Praxis für die Praxis", hg. vom Amt für Missionarische Dienste Dortmund, 2000. - Schritte der Hoffnung. Missionarische Gemeindealternativen, hg. im Auftrag der Ev. Kirche der Union v. Gerhard Linn, Neukirchen-Vluyn 1999. - „Reden v. Gott in der Welt - Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend", EKD-Synode November 1999 in Leipzig: EpdD 49/1999 [mit Vortrag von Eberhard Jüngel (s.u. Lit.), Schlußkundgebung u. „missionarischem Plakat"]. - Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein, hg. vom Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, 2000 (DtBis 68). - Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land, 2001 (EKD.T 68). 2. Schwerpunktprogramme einzelner Landeskirchen: Einladende Gemeinde. Aus der Bibel leben - Mitarbeitende ermutigen - meinen Glauben sagen. Proponendum der Kirchenleitung gemäß den Beschlüssen der Landessynode 1982 u. 1983, Mülheim 1983 (Handreichung f. Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden u. der Presbyterien in der Ev. Kirche im Rheinland 42). - „Wachsen gegen den Trend", hg. v. der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1998. - Leitlinien kirchlichen Handelns in missionarischen Situationen. Beschlossen v. der Landessynode der Ev. Kirche in BerlinBrandenburg am 18. November 2000, hg. v. der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 2001. „Zum Glauben einladen - Modelle missionarischen Gemeindeaufbaus, Aktionen einladenden Gemeindelebens, Ansprechende Formen der Evangelisation", Ev. Oberkirchenrat Stuttgart, o.J. [auf Anregung der Landessynode]. - „Auf Sendung". Mission u. Evangelisation in unserer Kirche, hg. v. der Kirchenleitung der Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf 2002.

272

Volksmission

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Klaus Teschner

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Vollkommenheit Volkssouveränität -»Staat Volkstrauertag -»-Feste und Feiertage Vollkommenheit 1. Biblisch r a t u r S. 2 8 5 )

2. Theologiegeschichtlich

3. Systematisch

4. Philosophisch

(Quellen/Lite-

„Einer ist gut", sagt Jesus im Matthäus-Evangelium über Gott (Mt 19,17). Im selben Kontext aber erläutert er seinem Gegenüber, dem reichen jungen Mann, daß es einen Weg zur Vollkommenheit gibt (V. 21), obwohl das Heil, wie er später erklären wird, ohne Gottes Hilfe menschliche Möglichkeiten übersteigt (V. 23 —30). Als Jesus in der -•Bergpredigt das Gebot der -»Liebe entfaltete, ermahnte er alle seine Zuhörer: „Ihr sollt nun vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Mt 5,48). In der christlichen Lehre ist es demnach -»Gott, der Vollkommenheit sowohl definiert als auch überträgt, weil Nachfolge hier von Teilhabe abhängt: Göttliche -»Gnade als schöpferische, sich selbst verschenkende Liebe macht Konformität mit -»Jesus Christus, dem fleischgewordenen Sohn, möglich; diese Konformität ist menschliche Vollkommenheit (Eph 4,13). Die Theologie diskutiert im einzelnen den Inbegriff des Guten und damit der Vollkommenheit ebenso wie die Weise und den Zeitpunkt ihrer Erlangung durch die Geschöpfe Gottes. 1. Biblisch 1.1. Am Anfang, als Gott auf das blickte, was er gemacht hatte, sah er, daß seine Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung) „gut", ja sogar „sehr gut" war (Gen 1,31). In seinem Genesis-Kommentar schlägt G. von Rad für das hebräische tob an dieser Stelle die Bedeutung „zweckmäßig" vor (von Rad 40.48). Das erlaubt Zeit und Raum für einen Prozeß der Aneignung, so daß die von den Geschöpfen schließlich erreichte „Vollkommenheit" oder „Vollendung" bedeutete, daß sie das von Gott für sie gewollte „Ziel" erreicht hätten. (Die deutschen Wörter „Vollkommenheit" und „Vollendung" implizieren genauso ein Erreichen des Zieles wie die biblisch und theologisch bedeutsamen griechischen Wörter der Familie TeXeioq, reAeiöü) und reXeiojait; die Vorstellung reXoq beinhalten.) Daß die verschiedenen irdischen Wesen gemacht wurden, „ein jegliches nach seiner Art", läßt darauf schließen, daß kreatürliche Vollkommenheit in Hinblick auf Gottes Plan und Absicht jeweils unterschiedlich beurteilt werden kann. Im Erreichen des ihm eigenen Zieles wird die Seligkeit des Geschöpfes liegen, für die der -»Sabbat wohl das Zeichen ist (vgl. von Rad 49: Gottes Segnung der Sabbatruhe als „die Vorbereitung eines hohen, ja eigentlich des letzten Heilsgutes"). 1.2. Vollkommenheit impliziert überdies auch qualitative Vollständigkeit (d.h. Vollkommenheit): In der kultischen Praxis (-»Opfer) hat das Opfertier nicht nur „erwachsen bzw. ausgewachsen" zu sein, sondern auch „ganz, heil, ohne Fehl" (tämim, zeAeiov, Ex 12,5); dasselbe kann erwartet werden von den Menschen in ihrer Hingabe an Gott (tämim, VEXEIOQ, Dtn 18,13), welche die „Ungeteiltheit des Herzens" umfaßt (leb sälem, Kapdia TsXeia, I Reg 8,61; I Chr28,9). Diese Vorstellungen reichen bis ins Neue Testament hinein, wo die Christen ermahnt werden, sich selbst als lebendiges und heiliges Opfer Gott darzubringen, wobei das einzig annehmbare Selbstopfer eine umwandelnde Erneuerung des Denkens im Einklang mit dem Willen Gottes als „gutem" und „vollkommenem" voraussetzt (Rom 12,1 f.). Solche Vollkommenheit vor Gott ist nur möglich durch die heiligmachende Gnade Gottes (I Kor 1,7-9; I Thess 5,21-24; Hebr 13,20f.). Dem Psalmisten zufolge sind der „Weg" und die „Weisung" Gottes „vollkommen" (Ps 18,31; 19,8; -»Psalmen/Psalmenbuch); für den Apostel ist der „Wille" Gottes „vollkommen" (Rom 12,2). Wenn „Vollkommenheit" unmittelbar von Gott behauptet wird,

274

Vollkommenheit

muß sie sich auf sein ewiges Wesen als das summum bonutn (—»Höchstes Gut) beziehen; des Schöpfers menschliche Geschöpfe können diese Vollkommenheit bestenfalls widerspiegeln oder an ihr teilhaben. Mit der Gnade vermögen sie das tatsächlich: „Seid heilig, weil ich heilig bin" (Lev ll,44f.; I Petr l,15f.); „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist" (Lk 6,36; vgl. Mt 5,7). Gott ist der Geber „jeder guten Gabe und jedes vollkommenen Geschenkes" (Jak 1,17), und diejenigen, die an seinem „vollkommenen Gesetz", dem „Gesetz der Freiheit", festhalten, werden durch ihr Tun „selig" (Jak 1,25) und sogar „vollkommen" (Jak 1,4) sein. 1.3. In den Synoptischen -»Evangelien erscheint der Ruf zur Vollkommenheit im Zusammenhang mit dem Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes), wie es durch die Predigt Jesu angekündigt wird und durch seine Gegenwart, sein Verhalten und sein Geschick anbricht. So sind es in den matthäischen Seligpreisungen die „Armen im Geiste", denen das Himmelreich gehört (Mt 5,3; vgl. II Kor 8,9: „Denn ihr wißt, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen"); es sind die, „die ein reines Herz haben", die „Gott schauen" werden, und die, „die Frieden stiften", die man „Söhne Gottes" nennen wird (Mt 5,8f.; vgl. Hebr 12,14: „Strebt voll Eifer nach Frieden mit allen und nach der Heiligung, ohne die keiner den Herrn sehen wird"). Der entscheidende Punkt ist, daß das Leben des Reiches Gottes nur in der Kreuzesnachfolge zu gewinnen ist (-»-Nachfolge Jesu) — durch den Verlust des Lebens, sofern es diese Welt betrifft, durch Selbstverleugnung um Jesu und des Evangeliums willen (Mt 16,24- 27; Mk 8,3438). Der inkarnierte Sohn selbst nämlich wurde „vollendet" (reXeiöco) durch Leiden und ist durch sein erlösendes Selbstopfer „Urheber ewigen Heiles geworden" für alle, „die ihm gehorchen", für „viele Söhne", die er zur Herrlichkeit führt (Hebr 2,10-18; 5,7-10). Die Einladung, die Jesus an den reichen jungen Mann auf der Suche nach dem ewigen Leben richtete, lautete: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach" (Mt 19,16-21). 1.4. In der johanneischen Literatur heißt es, „Gott ist die Liebe" (I Joh 4,8.16). Gott offenbarte uns seine Liebe, indem er seinen Sohn in die Welt sandte als Sühne für unsere Sünden, damit wir durch ihn leben (4,9f.). „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat" (4,19). Wenn wir in Gott bleiben und Gott in uns bleibt (4,16), dann herrscht „vollkommene Liebe" (tj zeXda ayänr\\ 4,18); man kann sagen, daß Gottes Liebe in uns ans Ziel gelangt, „vollendet ist" (rereXeicofievr/ eaziv: 4,12; vgl. 4,17; 2,5). Unsere Liebesantwort bringt, dem Willen Gottes gemäß, die Liebe füreinander mit sich (4,llf.20f.; Joh 13,1.34f.). 1.5. Im Brief des Apostels Paulus an die Römer zeigt sich die Liebe Gottes zu uns auf ähnliche Weise darin, „daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren" (Rom 5,8). Die Liebe Gottes ist nun in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen -»Geist (5,5), und einander zu lieben heißt, das göttliche Gesetz zu erfüllen (13,8-10). Liebe ist das größte Geschenk Gottes (I Kor 12,31-14,1); sie ist das „Band der Vollkommenheit" (oövöeofux; zfjq XEkeiöxtjzoq), das alle Eigenschaften des Christen oder (so Delling 79f.) der verschiedenen Glieder der Gemeinde zusammenhält (Kol 3,12— 14). Sie ist allumfassend und ohne Ende (I Kor 13,7f.), so daß sie als die Größte „bleibt", wenn alle Dinge „vollendet" sein werden (13,9-13). Der Apostel Paulus wurde von Christus ergriffen, aber er muß dem „Siegespreis" noch immer „nachjagen" (ko.rä GKonov dimKio), weil er noch nicht „vollkommen ist" (zExeXeioj/iai: Phil 3,12-14). Der Abschnitt aus dem Philipperbrief (vor allem V. 15) öffnet die Tür zu einer Unterscheidung der Christen in Anfänger und Fortgeschrittene, wie sie an anderen Stellen zutage tritt (z.B. Hebr 5,11-6,1), bisweilen vielleicht in ironischer Absicht des Verfassers (I Kor 2,6; vgl. 3,1-3). Es bleibt jedoch das Ziel des Apostels, alle Gläubigen in ihrem Griff

Vollkommenheit

275

nach der Weisheit und dem Willen Gottes vor Gott als „vollkommen" zu erweisen (vgl. Kol 1,28; 4,12). 2.

Theologiegeschichtlich

2.1. Alte

Kirche

Die erste substantielle Abhandlung über die christliche Vollkommenheit findet sich im siebten Buch der Stromata des -»Clemens von Alexandrien. Er legt die „Vollkommenheit" (tj TB^eicoaiQ) in der glücklichen und ewigen Betrachtung (decopia) Gottes dar, auf die hin „der Gläubige" mittels der „-»Erkenntnis" (yvcbaiQ) fortschreitet, die er durch die -»Offenbarung Christi als Sohn, Logos und Erlöser sowie durch -»Gebet und -»Frömmigkeit im Einklang mit dieser Offenbarung gewinnt. In einem zusammenfassenden Abschnitt (str. VII,14,84-88) erläutert Clemens I Kor 6. Der „Gnostiker" (•yvwoxiKÖq) ist einer, der ihm zugefügte Verletzungen lieber vergibt und vergißt, als sich an heidnische oder gar christliche Richter zu wenden. Dabei übt er änäOeia als Freiheit von jeglichem Zwang (in diesem Fall als Freiheit vom Verlangen nach Vergeltung, welches dem Evangelium widerspricht) und dient als Kanal der göttlichen Barmherzigkeit für diejenigen, die ihm Unrecht getan haben. Das ist möglich, weil er rein gewaschen („durch die Erkenntnis von den Leidenschaften der Seele gereinigt"), geheiligt („bereits befreit vom Fleisch und über diese Erde erhoben") und gerechtfertigt („gerecht gemacht durch den Herrn, wie Er gerecht ist, und soweit wie möglich erfüllt mit dem Heiligen Geist") wurde. Der Gnostiker meidet die „Hurerei" heidnischen Handelns. In all dem wird er „den Engeln gleich" (foäyyeAog), ja sogar „Gott ähnlich" (¿¿¡ofioiooaöai Oscp), dessen Segnungen allen gelten, die in seinem Bild geschaffen sind. Die jetzige Vollkommenheit des Gnostikers ist eine Vollkommenheit, wie sie Gott für ihn will, bestehend in einem Leben, das „der Weisung würdig" (Kar' a£/av xijq cvzoAtfg) und „dem Evangelium gehorsam" (Kaxä xr\\ xod evayye/Jov unaKoijv) ist (gemäß M t 5,48); entgegen der gottlosen Meinung der Stoiker aber, die menschliche und göttliche -»Tugend gleichsetzen, wird sie niemals Gottes eigener Vollkommenheit ebenbürtig sein. Zwei oder drei Generationen nach dem städtischen Gelehrten und Lehrer Clemens von Alexandrien erfolgte der Aufstieg des -»Mönchtums. Christen begannen, sich in die ägyptische Wüste als einen für das Streben nach -»Heiligkeit geeigneteren Ort zurückzuziehen. Der prototypische Antonius ( 2 5 1 - 3 5 6 ) , ein junger Mann auf der Suche nach Vollkommenheit, hatte „alles verkauft" (-»Athanasius von Alexandrien, v. Anton. 2: SC 4 0 0 , 1 3 2 - 1 3 6 ; vgl. Mt 19,21); aber während die Wüste in seinen Mittdreißigern für ihn ein Ort noch größerer Freiheit von den Zerstreuungen des sozialen Lebens wurde, war sie zugleich ein Schlachtfeld für den sogar noch konzentrierteren Kampf gegen den -»Teufel und seine dämonischen Verbündeten (-»Dämonen). Wie Antonius denen sagte, die später seine Schüler wurden (v. Anton. 1 6 - 4 3 ) , lag der Schlüssel zum Sieg in der „Übung" {aaKrjaiq; -»Askese) des Leibes und der Seele, gestützt auf die Wahrheit des Evangeliums, daß das „Reich Gottes . . . inwendig in euch" ist (Lk 17,21), und die paulinische Erkenntnis, daß uns nichts von der Liebe Christi scheiden kann (vgl. Rom 8 , 3 5 39). Während Antonius das einsame Leben eines Eremiten führte, begründete Pachomius (29ft-346) den koinobitischen Stil mönchischen Lebens, in dem das Gebot, andere zu lieben, nicht nur im Gebet um das Heil aller Menschen, sondern auch im Leben einer Gemeinschaft geistlicher Brüder und Schwestern ausgeführt werden konnte. Der koinobitische Stil wurde im Osten von -»Basilius von Caesarea und im Westen von - » J o hannes Cassianus und -»Benedikt von Nursia fortentwickelt, wenngleich im Fall der beiden letzten besonders das Anachoretentum eine höhere Ebene darstellte als gemeinschaftliches Mönchtum. Das Interesse an einem unmittelbareren Einsatz für die Gesellschaft fand bei einigen monastischen Gemeinschaften seinen Ausdruck in der „Rückkehr in die Städte"; sie begann bereits im späten 4. Jh. um des Zeugnisses und des Dienstes inmitten des Reichschristentums willen. Daß das Mönchtum durch eine Spannung zwi-

276

Vollkommenheit

sehen den kontemplativen und den aktiven Annäherungen an die Vollkommenheit charakterisiert werden konnte, läßt sich durch eine Episode aus seiner frühen Geschichte veranschaulichen, wie sie Palladius um 420 erzählte: Zwei reiche Brüder, Paesius und Isaias, wurden Mönche. Nach ihrem Tod wurden beide gepriesen, sie hätten Vollkommenheit erreicht. Unter ihren Mitbrüdern jedoch entbrannte ein Streit darüber, welche Methode zu verfolgen die bessere sei: Der eine hatte „ein evangeliumsgerräßes Werk vollbracht, indem er alles verkauft, es den Armen gegeben, Tag und Nacht zu jeder Stande das Kreuz getragen und dem Heiland und seinen Gebeten gefolgt w a r " . Der andere hatte „so großes Erbarmen mit den Armen gezeigt, daß er sogar auf den Straßen saß, die Leidender um sich scharte und nicht nur seine eigene Seele erquickte, sondern auch die vieler anderer, indem er ihre Krankheiten behandelte und ihnen half". Der selige Pambo erklärte die beiden Männer für ebenbürtig, und sein Urteil wurde in einer Vision bestätigt, in der er „beide im Paradiese stehen sah, als wären sie in der Gegenwart Gottes" (h. Laus. 15f.: PG 34,1035f.).

In seinem Leben des Moses stellt -»-Gregor von Nyssa den Patriarchen dem Leser als ein Musterbeispiel vollkommener Tugend vor: Mose „folgte" Gott in einer Reihe „spiritueller Aufstiege" und wurde so, nicht aus Furcht vor -»Strafe oder Hoffnung auf Belohnung, sondern aus Liebe zu Gott, zum Diener und schließlich zum Freund Gottes, in dessen -»Freundschaft „die Vollendung des menschlichen Lebens" (// TeXeícoaiQ zoo ßiov) besteht (v. Mos. 11,249—255.305 —321). Auf kompakte und systematische Weise abgehandelt findet sich unser Thema in der kurzen Schrift Über die Vollkommenheit, die Gregor für den Mönch Olympios verfaßte. Letzterer hatte danach gefragt, „wie jemand durch ein sittlich wertvolles Leben zur Vollkommenheit gelangt, so daß die untadelige Art deines Lebens in jeder Hinsicht zur Vollendung geführt wird" (perf. 173,2). Gregor findet eine Anleitung beim Apostel Paulus, der Christus so nachahmte (vgl. I Kor 11,1), daß Christus in ihm lebte und durch ihn sprach (vgl. Gal 2,20; II Kor 13,3; perf. 174,25—175,13). „Christen" haben ihren Namen von „Christus" bekommen: Wir müssen „dem Gott, der uns ein so großes Gut geschenkt hat, Dank sagen können, dann aber müssen wir uns auch in unserem Leben als solche Menschen erweisen, wie sie die Aussagekraft dieses hohen Namens erheischt" (perf. 173,15-174,12). „Charaktermerkmale des echten Christen sind all jene, die wir schon bei Christus selbst festgestellt haben. Was wir davon erreichen können, das ahmen wir nach; und was unsere Natur zur Nachahmung nicht mehr zuläßt, das verehren wir und beten es an ..., sofern ,der Mensch Gottes vollkommen sein' [II Tim 3,17] will" (perf. 178,11-17). Gregor geht dann auf eine Reihe der biblischen und vor allem paulinischen Hoheitstitel für Christus ein, um zu zeigen, wie die Christen, als Glieder am Leib Christi, Eigenschaften widerspiegeln müssen, die ihrem Haupt entsprechen (vgl. Eph 4,15f.; perf. 176,2). Als Beispiele seien genannt: weil Christus „die Kraft und die Weisheit Gottes" (I Kor 1,24) ist, beten die Christen dafür, gegen die -»Sünde stark gemacht zu werden und das Gute vernünftig wählen zu können (perf. 182,18—183,19); weil Christus „unser Friede" (Eph 2 , 1 4 - 1 8 ) ist, „so wollen auch wir zur Versöhnung führen nicht nur diejenigen, die von außen gegen uns kämpfen, sondern auch die Kräfte, die in uns selbst Aufruhr machen, damit auf keinen Fall das Fleisch auf Kosten des Geistes voller Begierde ist oder auch der Geist gegen das Fleisch aufbegehrt [vgl. Gal 5,17]" (perf. 183,19— 184,14). Christen müssen ihr Leben mit den Farben der Tugenden zeichnen, die Christus besitzt: Sanftmut, Demut, Langmut (vgl. Mt 11,29; Lk 23,34; perf. 195,12-197,5). Diese Teilhabe der Christen an Christus als ihrem „Beginn" (ápxrj, Kol 1,18) muß erfolgen auf der Ebene des Handelns, der Rede und der Herzensgesinnung (perf. 207,19-208,14), d.h. zur vollkommenen Heiligung des Leibes, der Seele und des Geistes führen (vgl. I Thess 5,23; perf. 212,21ff.). Zusammengefaßt „ist dies die Vollendung im christlichen Leben, der Besitz der Gemeinschaft mit allen Namen, die zur Verdeutlichung des Namens Christi dienen" (perf. 212,17ff.). Wie ist das möglich? Nur durch Standhaftigkeit im Kampf (vgl. II Tim 2 , 3 - 6 ; 4,7f.). Die Wandelbarkeit der menschlichen Natur muß als eine Wandlungsfähigkeit zum Guten, zum Besseren hin gesehen werden: „ . . . i n jedem

Vollkommenheit

III

Fall soll man sich zum Besseren hin verändern, von irdischem Ruhm zu himmlischer Glorie soll man seine Gestalt ändern und so umkehren, daß man Tag für Tag wächst, immer besser und vollkommener wird und doch nie an die letzte Spitze der Vollkommenheit gelangt. Denn das ist in Wahrheit die Vollendung, niemals im Wachsen zum Guten hin stehen zu bleiben und mit keinem Endpunkt die Vollkommenheit zu begrenzen" (perf. 213,1-214,6). -»Augustin zufolge besteht das „Ziel" des -»-Menschen in der „Erkenntnis", in der „Betrachtung", im „Genuß" und im „Lobpreis" Gottes, eingeschlossen in unserer völligen Liebe zu ihm, der in seinem eigenen Selbst das allein richtige Objekt unserer Begierden ist: „Er selbst wird das Endziel unserer Sehnsucht sein, den wir ohne Ende schauen, ohne Überdruß und Müdigkeit lieben werden und loben. ... Denn welch anderes Ende gäbe es für uns, als heimzugelangen zu dem Reich, das kein Ende hat?" (civ. XXII,30: CChr.SL 48,863ff.866,147). Andere werden zum rechten Objekt unserer Liebe, indem sie auf Gott bezogen sind: „Der Friede des himmlischen Staates besteht in der bestgeordneten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und gegenseitigen Genusses in Gott" (civ. XIX,13,1: CChr.SL 48,679,9f.). Jesus lehrte, daß das ewige Leben in der Erkenntnis des Vaters und des Sohnes bestehe (Joh 17,3), und es gibt die Verheißung, „daß wir ihm ähnlich sein werden" (I Joh 3,2): „Diese Ähnlichkeit beginnt schon jetzt in uns wiederhergestellt zu werden, während der innere Mensch erneuert wird von Tag zu Tag, entsprechend dem Abbild dessen, der ihn erschuf" (spir. et litt. 22/37: CSEL 60,191,1-3). Irdischer Frieden herrscht in der Seele, wo die Leidenschaften dem Verstand und der Wahrheit unterworfen werden, die Christus ist (serm. dorn 1,2,9: CChr.SL 35,6,109-7,132); aber niemand kann in diesem Leben den Punkt erreichen, an dem er vom Kampf zwischen Fleisch und Geist ausgenommen ist, denn sogar im Fall der Apostel wurden die Verheißungen nur erfüllt „in dem Maß menschlicher Vollkommenheit, das in diesem Leben möglich ist, nicht wie sie erfüllt sein werden in dem erhofften völligen Frieden, wo man sagen wird ,Wo, Tod, ist dein Stachel?'" (retract. 1,19: CChr.SL 57,56,25-29; vgl. serm. dorn. 1,14,12: CChr.SL 35,11,5-13,4). Die Vollkommenheit, die in diesem Leben möglich ist, ist die von Wandersieuten, nicht jedoch die von denjenigen, die ihr versprochenes Zuhause bewohnen: perfecti viatores, nondum perfecti possessores; sie müssen „weiter voranschreiten" (semper proficere) (serm. 169,15,18: PL 38,926). Was Augustin über die Vollkommenheit sagt, ist selbstverständlich von seiner Opposition zum Pelagianismus geprägt: In seinem De perfectione iustitiae hominis (CSEL 42,1-48) weist er eine Reihe von logischen Syllogismen zurück, die zugunsten der Möglichkeit von Sündenlosigkeit in diesem Leben vorgebracht wurden, und legt seine eigene Auslegung einer Anzahl biblischer Texte vor, von denen bisweilen behauptet wird, sie zielten in die gleiche Richtung. Bis am Ende die befreiende und heilende Gnade Gottes ihr Werk vollendet hat, müssen die Christen - in ihrer Zusammenarbeit mit dieser Gnade - täglich beten „Vergib uns unsere Schuld" (-* Vaterunser). 2.2. Mittelalter -•Thomas von Aquino tritt in die Fußstapfen Augustins. Für unsere Thematik besonders wichtige Stellen in seinen Schriften sind die Summa contra Gentiles (CG) 111,163, die Summa TheologiaeI,qq. 4 - 6 ; II—I, qq. 1 - 5 ; II—II, qq. 23 - 2 7 , II-II, qq. 179-186, und das leichter verständliche De Perfectione. Alle Geschöpfe sind auf das ihnen angemessene Ziel hingeordnet, und dieses Ziel ist ihr „Gutes", mit Gott als dem höchsten Guten, dem Ziel, zu dem sich schließlich alle Dinge bewegen, und das allein ihnen ihre Vollkommenheit geben kann (CG 111,17-18). Das bringt es, in einem kreatürlichen Maß, mit sich, der Gutheit Gottes ähnlich zu werden (CG 111,19-20). Das Ziel des Menschen als eines in erster Linie vernunftbegabten Wesens besteht in der Betrachtung der Wahrheit (CG 111,37,1). Dies ist das Ziel, auf das, unter Gott, jede seiner Handlungen richtigerweise hingeordnet ist, und solche Faktoren wie Gesundheit, Erziehung und sowohl innerer wie äußerer Frieden dienen diesem Ziel. Weil Gott selbst die -»Wahrheit ist, „besteht

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des Menschen letzte Glückseligkeit in nichts anderem als der Betrachtung Gottes" (CG 111,37,9); und da die Liebe Gottes die ganze Zeit über das Motiv war, das den Verstand zur Betrachtung Gottes bewog, „ist die letzte Vollendung des kontemplativen Lebens, daß die göttliche Wahrheit nicht nur geschaut, sondern auch geliebt wird" (S.th. II-II q. 180, art. 7). Gott muß um seiner selbst willen geliebt werden (S.th. II-II q. 27, art. 3); und er muß totaliter geliebt werden, den jeweiligen Kräften der Geschöpfe entsprechend (S.th. II-II, q. 27, art. 5). Die Liebe ist es, welche die menschlichen Fähigkeiten, Begierden und Tugenden zu einer vollkommenen Einheit zusammenbindet (S.th. II-II q. 184, art. 1). Im strengsten Sinne werden die Liebe zu und die Freude an Gott erst jenseits des Grabes vollkommen, aber ein Fortschritt in relativer Vollkommenheit ist in diesem Leben möglich, indem man Hindernisse beseitigt, die der Liebe und dem Verlangen nach Gott entgegen stehen (S.th. II-II q. 184, art. 2). Da „der habitus charitatis sich nicht nur auf die Liebe zu Gott, sondern auch auf die Liebe zum Nächsten erstreckt", den wir lieben „um Gottes willen" (propter Deum) oder „damit er in Gott ist" (ut in Deo sit) (S.th. II—II q. 25, art. 1), „trägt die Gesellschaft von Freunden im Himmel dazu bei, daß die Seligkeit in guter Weise da ist", weil (Zitat Augustin) „sie einander sehen und sich der Gemeinschaft mit Gott erfreuen" (S.th. II—I q. 4, art. 8). Schließlich wird man Gott „sehen, wie er ist, von Angesicht zu Angesicht" — nicht mit den Augen des Leibes, sondern durch die Seele, obwohl der Leib nach der Auferstehung im Überfluß an dem Glück und der Vollkommenheit der Seele teilhaben wird (S.th. II—I q. 4, art. 5 - 6 ) . Wie schon bei Augustin sind weder der Beginn noch das Erstreben noch das Erreichen ohne die Offenbarung Christi und die Erfüllung mit dem Heiligen Geist möglich: Die Liebe in uns hängt ab „von der Eingießung des Heiligen Geistes, der die Liebe des Vaters und des Sohnes ist und an dem wir Anteil haben in Gestalt der geschaffenen Liebe" (S.th. II-II q. 24, art. 2). Die Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe vorausgesetzt, „fällt die Vollkommenheit der Gottesliebe allgemein unter das Gebot". Es gibt aber auch „Räte", die „darauf ausgerichtet sind, alle Dinge zu beseitigen, die am Tun der Liebe hindern und doch der Liebe nicht widersprechen" (S.th. II—II q. 184, art. 3), und es sind diese Räte, denen man in den religiösen Orden folgt unter den Gelübden der -•Armut, der Enthaltsamkeit und des -»Gehorsams (S.th. II-II q. 186). In diesem letzten Punkt spiegelt Thomas das ethische Denken der mittelalterlichen Kirche wider, das unterschied zwischen den „Geboten des Evangeliums", die für alle Christen gelten, und den „evangelischen Räten" (—»Consilia Evangelica) des Verzichts auf irdischen Besitz, auf familiäre Bande und den eigenen Willen. 2.3.

Reformation

Die Reformatoren widersprachen dieser „Doppelmoral". M. -»Luther wies die Vorstellung zurück, daß -»Werken, die unter Gelübden getan werden, ein besonderer Verdienst zukomme; weltliche Stände und Berufe seien der Raum christlichen Lebens. Auf charakteristische Weise wendete er die Rede von der Vollkommenheit gegen ihre monastische Definition. In seinen De votis monasticis (1522) heißt es: „Besser und vollkommener ist der Gehorsam eines Kindes, eines Ehegatten, eines Dieners und eines Gefangenen als der Gehorsam eines Mönches, und mag er noch so vorbildlich sein" (WA 8,646). Er definiert positiv: „Der Stand der Vollkommenheit ist, einen lebendigen Glauben zu haben, ein Verächter des Todes, des Lebens, des Ruhmes und der ganzen Welt zu sein, und in glühender Liebe zu leben als der Diener aller" (WA 8,584). Oder in einer einfachen deutschen Predigt von 1521: „Nu ist glawb unnd liebe das gantz wesen eyniss Christlichen menschen.... Der glawb empfehet, die liebe gibt. Der glawbe bringt den menschen tzu got, die liebe bringt yhn tzu den menschen. Durch den glawben lest er yhm wol thun von got, durch die liebe thut er wol den menschen" (WA 8,355). Nach dem -»Augburger Bekenntnis ist knapp „dies allein rechte Vollkommenheit, rechte Furcht Gottes und rechter Glaube an Gott", daß man „christliche Liebe und rechte gute Werke beweise" (CA XVI: BSLK 71,9-20; vgl. CA XXVII: BSLK 117,32-118,4).

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Die Apologie verlangt, alle Christen müßten nach „ W a c h s t u m " in der Vollkommenheit „ s t r e b e n " : „Alle Menschen, sie sein in was Stande sie wollen, ein jeder nach seinem Beruf, so sollen sie nach der Vollkommenheit, so lang dies Leben währet, streben und allzeit zunehmen in Gottesfurcht, im Glauben, in Liebe gegen dem Nähesten und dergleichen geistlichen G a b e n " (ApolCA XXVII: BSLK 3 8 9 , 3 - 9 ) . In seiner späten Schrift Von den Konziliis und Kirchen (1539) spricht Luther nicht nur von Christi Werk der redemptio, sondern auch vom täglichen Wirken der vivificatio und sanctificatio durch den Heiligen Geist, wobei „wir folgen jmer nach unter seiner [d.h. Christi] erloesung oder der Vergebung der sunden, bis wir auch ein mal gantz heilig werden und keiner Vergebung mehr [be]duerfen. Denn dahin ists alles gericht[et]" (WA 50,625.642f.). Was aber „hier auf Erden anfängt und z u n i m m t " , wird nur „ d o r t " - „in jenem L e b e n " „ v o l l b r a c h t " (WA 50,599.627). D a ß sich die Rede von der Vollkommenheit in der lutherischen Tradition nie wirklich beheimaten konnte, liegt zweifellos an dem radikal p a r a d o x e n Verständnis des simul iustus et peccator in dieser Tradition. J. -»Calvin vertrat eine konsequentere Lehre von der -»Heiligung als die Lutheraner und sogar die der fortschreitenden Heiligung, so d a ß eine Vollkommenheit bestehend in tatsächlicher Verwandlung zumindest den H o r i z o n t des irdischen Lebens eines Christen bilden kann. Christen sollen Vollkommenheit erstreben und sich um sie bemühen (Inst. IV,1,20; Predigt zu Gal 5 , 1 4 - 1 8 : C R Calvini O p e r a [zit. C O ] 51,26-27) oder um das, was Calvin gern „intégrité" oder „ r o n d e u r de c œ u r " nennt (Predigt zu Hi 1,1: C R [CO] 3 3 , 2 7 - 2 8 ; Predigt zu Dtn 2 6 , 1 6 - 1 9 : C R [CO] 28,284). Unser Fortschritt zum Guten bleibt zögerlich ( „ Q u a n d encores nous tendrons au bien, ce sera t o u j o u r s en clochant, au lieu de courir"; Predigt zu M t 5,11 f.: CR [CO] 46,821.); aber trotz unserer Verfehlungen wird G o t t schon denen Vollkommenheit verleihen, die auf dem Weg sind, das Ziel der Reinheit und Heiligkeit zu erreichen (Inst. IV,1,17). Wenn der Glaube auf die Herrlichkeit Gottes schaut, wie sie im Evangelium geoffenbart wird, verwandelt diese Betrachtung Gläubige in das Bild Gottes: Calvin zitiert II Kor 3,18, um d a r a n zu erinnern, d a ß die zukünftige Herrlichkeit niemand anderem versprochen ist als denjenigen, in denen das Bild Gottes bereits aufscheint und die d a d u r c h zu beständigem Fortschreiten in der Herrlichkeit verwandelt werden (Kommentar zu M t 13,43: CR [CO] 45,371). Weiter erinnert er d a r a n , d a ß dieser Prozeß, wenn er in den F r o m m e n bereits begonnen hat, und sei es auf schwache Weise, dazu bestimmt ist, ihr ganzes Leben hindurch mit zunehmender Kraft und Fülle weiter zu verlaufen, da er schließlich ihre völlige Wiederherstellung zum Bild Gottes verspricht (Predigt zu I T i m 1 , 5 - 7 : CR [CO] 5 3 , 3 5 - 3 6 ; Kommentar zu Lk 17,20: C R [CO] 45,425). Denn: „Was Gott im H i m m e l ist, das gebietet er uns in dieser Welt zu sein" (Kommentar zu I Joh 4,17: C R [CO] 55,357). Das heißt, dem Beispiel der vergebenden, sanftmütigen und großzügigen Liebe Gottes zu folgen, wie sie sich in Jesus Christus widerspiegelt, weil es die Gotteskindschaft mit sich bringt, d e m himmlischen Vater im Verhalten ähnlich zu sein (Predigt zu Gal 6 , l f . : C R [CO] 51,63; K o m m e n t a r zu Ps 30,5: C R [CO] 31,294). 2.4.

Neuzeit

J. —»Wesley geriet mit den Calvinisten seiner Zeit über seine Lehre von der Vollkommenheit in Streit (siehe vor allem A Piain Account of Christian Perfection: Works, ed. Jackson XI, 6 6 - 4 4 6 ) . Er glaubte, die Methodisten seien von G o t t dazu bestimmt, Heiligkeit nach der Schrift (scriptural holiness) auf der Erde zu verbreiten; Synonyme d a f ü r w a r e n „völlige Heiligung", „vollkommene Liebe" und „christliche Vollkommenheit". Wesley predigte und lehrte, d a ß solche „Vollkommenheit" dem aufrichtig Glaubenden von Gott zu irgendeinem Z e i t p u n k t zwischen der anfänglichen Rechtfertigung und dem Tod gegeben werden könne. Er verstand darunter, ein von der Liebe zu G o t t und dem Nächsten völlig erfülltes Herz zu besitzen, „die Gesinnung Christi zu h a b e n " (vgl. Phil 2,5) und „zu wandeln, wie Christus gewandelt ist" (vgl. I J o h 2,6). „In einem Christgläubigen sitzt die Liebe auf d e m T h r o n , der in der innersten Seele errichtet ist,

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und zwar die Liebe zu Gott und den Menschen, die das ganze Herz erfüllt und herrscht, ohne einen Gegenspieler zu haben. In einem Kreis um den Thron versammeln sich alle heiligen Temperamente — Langmut, Sanftmut, Geduld, Treue und Mäßigung" (Predigt Ott Zeal 11,5: Works VII, 60); die „Früchte" derartiger „Vollkommenheit" sind „Freude zu jeder Zeit, Beten ohne Unterlaß und Dank für alles [vgl. I Thess 5,16-18]" (A Piain Account: Works XI, 442). „Heiligkeit und Glückseligkeit" ist bei Wesley ein häufig anzutreffendes Begriffspaar. Christliche Vollkommenheit - Wesley reklamierte sie nie für sich selbst - kennt Begrenzungen verschiedener Art: Sie ist „nicht absolut", weil „absolute Vollkommenheit weder den Menschen noch den Engeln zukommt, sondern allein Gott"; sie „macht einen Menschen nicht unfehlbar", denn „niemand ist unfehlbar, solange er in seinem Leib steckt"; sie ist „verbesserungsfähig", denn „jemand, der in der Liebe vollkommen wurde, mag in der Gnade viel schneller wachsen als zuvor"; und sie „ist verlierbar, in der Lage, verloren zu gehen" (Works XI, 441f.). Höchst problematisch war, daß Wesley die „Sündlosigkeit" solcher Vollkommenheit (ein Ausdruck, für den zu kämpfen er jedoch nicht bereit war) nur unter Inkaufnahme einer oberflächlichen Definition von Sünde als „der willentlichen Überschreitung eines bekannten Gesetzes" vertreten konnte. Im modernen deutschen -»-Protestantismus waren die beiden prototypischen Lehrer in Fragen der Vollkommenheit F.D.E. -»Schleiermacher und A. —»Ritschi. Zu Beginn seiner Glaubenslehre (2. Auflage) stellt Schleiermacher fest, daß „die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins" ein „Gottesbewußtsein" ist, das die Schrift als eine „ununterbrochene Folge frommer Erregungen" fordert (§5.5). Das Wesen der Erlösung besteht darin, daß „in der menschlichen Natur das vorher schwache und unterdrückte Gottesbewußtsein durch den Eintritt und die lebendige Einwirkung Christi gehoben und zur Herrschaft gebracht" wird (§106.1). Am Anfang des christlichen Lebens steht „eine wahre Bekehrungsreue", die aus der Anschauung der Vollkommenheit Christi erwächst: „Christus kann nur die vollkommenste Reue erwecken, indem seine sich mitteilende Vollkommenheit uns in ihrer Wahrheit entgegentritt, welches eben geschieht in der Entstehung des Glaubens" (§ 108.2). Der Glaube „besteht in der Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi" (§108, Leitsatz). „In der Lebensgemeinschaft mit Christus werden" dann „die natürlichen Kräfte der Wiedergebornen ihm zum Gebrauch angeeignet, woraus sich ein seiner Vollkommenheit und Seligkeit verwandtes Leben bildet, welches der Stand der Heiligung heißt" (§110, Leitsatz). „Die höchste Leistung Christi besteht darin, uns so zu beseelen, daß eine immer vollkommenere Erfüllung des göttlichen Willens auch von uns ausgeht" (§ 104.3). So darf „der Mitgenuß der ungetrübten Seligkeit Christ" nicht — gegen die eigene Zusicherung Christi (Joh 5,24) — „erst auf das Leben hinter der Zeit verwiesen" werden (§ 101.3). Während Schleiermachers mehr partizipatorischer Vollkommenheitsbegriff zum Mystischen tendierte, neigte der mehr den „Dienst Jesu" betonende Begriff Ritschis eher zum Ethischen. In einem Vortrag, den er 1872 vor dem Göttinger Frauenverein hielt, erscheint „die christliche Vollkommenheit" als die AntwörtHdes Evangeliums auf das allgemeinmenschliche „Streben nach Ergänzung": „Die Vollkommenheit, wie sie Jesus, Jakobus und Paulus vorschreiben und behaupten, hat den Sinn, daß die Christen in dem religiösen Glauben und dem sittlichen Handeln jeder ein Ganzes in seiner Art sein oder werden soll" (Ritsehl 8). Familie, Stand und Beruf sind die Gebiete, auf denen die Aufgabe sittlicher Vollkommenheit zu erfüllen ist; und weil „das Allgemeine immer nur im Besonderen wirklich ist", bringt man „das sittliche Lebenswerk zu Stande, indem man seine Arbeit in dem besonderen Beruf auf das Gemeinwohl des menschlichen Geschlechtes richtet" (ebd. 12f.). Die „Funktionen" der „möglichen religiösen Vollkommenheit" - „Demut", „Glaube an Gottes Vorsehung und die Geduld in allen Lebenshemmungen und Leiden", „Gebet" (Dank und Bitte) - sind „die verschiedenen Spiegelungen der religiösen Gewißheit der Versöhnung mit Gott durch Christus" (ebd. 14). Daraus entspringt „unsere Fähigkeit, daß jeder sich als ein Ganzes, als ein unzerstörbares

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Ganzes über die Welt erhebt" (ebd. 16). Ritsehl spricht von der „Entwicklung des Charakters in der überweltlichen Aufgabe des religiösen Glaubens und des sittlichen Handelns" (ebd. 10); und es gibt sittliche und religiöse „Tugenden", die „erworben" werden müssen (ebd. 17). „Die Freude aber ist das Gefühl der Vollkommenheit" (ebd. 18). Genau diese christliche Vollkommenheit jedoch ist durch die ihr eigene Unvollständigkeit gekennzeichnet: „Allein das Ganze bleibt eben in seiner Art, ob es kleiner oder größer an Umfang ist; nur stehen wir notwendig auch unter dem Antriebe, einen immer größeren Umfang für unser Wirken zu gewinnen. . . . Ebenso wird unsere Zuversicht zu Gott, unsere Ergebung in seine Fügungen, unsere Geduld niemals in dem Sinn fertig sein, daß wir sie nicht immer zu erwecken oder zu stärken oder zu befestigen hätten. . . . Es ist doch nur der in sich vollkommene religiöse Glaube, welcher in der N o t des Lebens in die Bitte ausbricht: Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben" (ebd. 18f.). Im nachtridentinischen Katholizismus wurde die klassische Kontroverse um die Vollkommenheit zwischen J.-B. -»Bossuet und F. Fénelon ausgetragen. Sie drehte sich um die Frage nach der Belohnung als einem Motiv für die Liebe zu Gott. Fénelon vertrat die Auffassung, daß zwar auf den niedrigeren Stufen solcher Liebe die Hoffnung auf unsere eigene Glückseligkeit ein ausschlaggebender Faktor sei, letzten Endes aber gerade umgekehrt die Liebe zu Gott den Grund zur Hoffnung gebe. Es gibt, so Fénelon, einen état reiner Liebe, in dem Gott auf „uneigennützige" Weise geliebt wird, ganz um seiner selbst willen; die daraus resultierende Seligkeit bleibt der Herrlichkeit Gottes untergeordnet, die das letzte Ziel des Menschen ist. Im gegenwärtigen Leben mag dieser „fünfte G r a d " der Liebe zu Gott habituel werden, aber er ist nicht invariable-, er kann unterbrochen und sogar verloren werden. Das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum I und II) hält fest: „Der Herr Jesus, göttlicher Lehrer und Urbild jeder Vollkommenheit, hat die Heiligkeit des Lebens, deren Urheber und Vollender er selber ist, allen und jedem einzelnen seiner Jünger in jedweden Lebensverhältnissen gepredigt: ,Seid ihr also vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist* (Mt 5,48). Allen hat er den heiligen Geist gesandt, daß er sie innerlich bewege, Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt und aus ganzer Kraft zu lieben (vgl. M k 12,30), und einander zu lieben, wie Christus sie geliebt hat (vgl. Joh 13,34; 15,12)" (Lumen Gentium 40: D H 4166). Deshalb ist es klar, daß „alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind. ... Zur Erreichung dieser Vollkommenheit sollen die Gläubigen die Kräfte, die sie nach M a ß der Gnadengabe Christi empfangen haben, anwenden, um, seinen Spuren folgend und seinem Bild gleichgestaltet, dem Willen des Vaters in allem folgsam, sich mit ganzem Herzen der Ehre Gottes und dem Dienst des Nächsten hinzugeben" (ebd.). Die Bischöfe „sind mit sakramentaler Gnade beschenkt, damit sie . . . vollkommen das Amt der Hirtenliebe ausüben" (ebd. 41). Nicht nur Ehe und Elternschaft bieten die Möglichkeit für „eine unermüdliche und großmütige Liebe". Auch jene, „die - oft so schwer — arbeiten, müssen durch die menschliche Arbeit sich selbst vollenden, das Wohl der Mitbürger fördern und die ganze Gesellschaft und Schöpfung höherführen" (ebd.). Im Zusammenhang der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit in der Kirche finden sich auch die evangelischen Räte: die Jungfräulichkeit oder der -»•Zölibat als die „vollkommene Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen" (vgl. M t 19,11; I Kor 7,7.32-34) sowie die „Nachahmung und Bezeugung der Liebe und Demut Christi" (vgl. Phil 2,7f.; II Kor 8,9), wobei viele „die Entäußerung des Erlösers nachdrücklicher befolgen und deutlicher erweisen, indem sie die Armut in der Freiheit der Kinder Gottes übernehmen und auf den Eigenwillen verzichten, . . . um sich dem gehorsamen Christus mehr gleichzugestalten" (Lumen Gentium 42; vgl. Joh 4,34; 6,38). Ein Leben nach den monastischen Gelübden dient der ganzen Kirche als ein Zeichen der zukünftigen Heimstatt und der „Erhabenheit der Gottesreiches gegenüber allem Irdischen" (Lumen Gentium 44).

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3. Systematisch Christliche Vollkommenheitslehre wird christologisch zentriert sein. Jesus Christus ist „der Urheber und Vollender des Glaubens" (Hebr 12,2); als solcher ist er unser Lehrer und Vorbild in Sachen Vollkommenheit. Mehr noch, als unser Heiland und Herr ist er derjenige, der uns befähigt zu tun, was er lehrt und uns vorlebt. Wenn Christus in der Taufe auf uns Anspruch erhebt, wird er selbst zu dem Weg, dem wir folgen sollen: „Auch wenn ich durch seinen Namen gebunden bin, bin ich noch nicht in Jesus Christus vollkommen geworden. Ich befinde mich jetzt nur am Anfang der Jüngerschaft" (IgnEph 3,1). Der Jünger Christi (Mt 28,19) weiß: „Der Jünger steht nicht über seinem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein" (Lk 6,40). Die „Nachfolge Christi" ist sowohl möglich als auch notwendig für die Glieder seines Leibes, die in allem wachsen sollen an dem, der das Haupt ist (vgl. Eph 4,12-16). Das ist ihre Vollendung als Prozeß und als Ziel. Gerade in ihrer Christozentrik wird eine christliche Vollkommenheitslehre in all ihren Dimensionen auch trinitarisch sein (—>Trinität). Traditionelles Denken in dieser Hinsicht war pneumatologisch bisweilen schwach; die Qualitäten des neuen Lebens jedoch werden biblisch als „Frucht des Geistes" (Gal 5,22-25) beschrieben. Jesus selbst zufolge, von dem die Christen glauben, daß er von Natur aus der Sohn und das Abbild Gottes ist, ist es letztlich der Vater, dem die Nachfolge gilt (vgl. Mt 5,48). John Wesley beschreibt die vollendete neue Schöpfung als gekrönt von „einer ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus durch den Geist; einem fortwährenden Genuß des dreieinen Gottes und aller Geschöpfe in ihm" (Predigt The New Creation 18: Works VI, 296). Es ist angebracht, auch die anderen Begriffe trinitarisch zu deuten, welche die letzte und ewige Beziehung der Geschöpfe zu Gott in der Erlösung bezeichnen: Erkenntnis, Betrachtung und natürlich Liebe. „Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften [naOrjßaza] und Begierden [enidüßiai] gekreuzigt" (Gal 5,24). Die asketische Form der Suche nach der Vollkommenheit hat diesen Text zuweilen in einer Weise verstanden, die den Mensch als leibliches Wesen herabsetzt; das paulinische Gegeneinander von Fleisch und Geist jedoch darf nicht derart dualistisch gesehen werden. Das „Verlangen" von Christen ist auf Gott gerichtet als den einzigen, der menschliches Verlangen voll und endgültig befriedigen kann. Gregor von Nyssa lehrt uns, daß Vollkommenheit ein kontinuierlicher Fortschritt (npoKonij) ist, in dem Gott mit immer neuer Befriedigung die Seele „erweitert". Unsere Freude (änöXaoau;) an Gott wird niemals enden, weil es von dem unendlichen Gott stets mehr zu entdecken und zu empfangen gibt. Darüber hinaus kann die änäOaa der christlichen Vollkommenheit nicht als Gleichgültigkeit oder Gelassenheit im üblichen Sinn verstanden werden. Sie liegt viel näher an dem, was K. -»-Barth meint, wenn er von Gott spricht, der „in der Freiheit lebt und liebt" (KD II/l, 338); denn auch darin ist Gott nachzuahmen und damit auch diejenigen moralischen Eigenschaften des biblischen Schöpfers, Erlösers und Vollenders, die Barth älterer Gepflogenheit folgend „Vollkommenheiten" nennt: Heiligkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Geduld und Weisheit. Die christliche Vollendung umgreift sowohl die sittliche als auch die mystische Dimension, welche sich in wechselnden Anteilen durch die Geschichte des Denkens und der Erfahrung in diesem Bereich zogen. K. Rahner hat argumentiert, die beiden Dimensionen ließen sich verschmelzen durch die Vorstellung einer „Intensivierung", d.h. durch die existentielle Steigerung oder Vertiefung der sittlichen Akte bis ins Mystische. Eine Lehre christlicher Vollkommenheit wird gekennzeichnet sein durch die eschatologische Spannung, die Personen und ein Volk kennzeichnet, welche schon jetzt in via, aber noch nicht in patria sind. Der Apostel Paulus „jagt dem Ziel nach" (SICOKCO) und „streckt sich nach dem aus, was vor ihm ist" (enEKreivco: Phil 3,12-14) und ermahnt andere, so zu laufen, daß auch sie den Siegespreis erringen (I Kor 9,24-27). Göttliche

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Gnade und menschliches Bemühen gehen eine Verbindung ein, wobei der unwiderrufliche Vorrang der ersteren gebührend anerkannt wird: „Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt" (Phil 4,13; vgl. 2,13); „all das überwinden wir durch den, der uns geliebt h a t " (Rom 8,37). M a n könnte vielleicht sagen, daß christliche Vollkommenheit eine gottgegebene Fertigkeit ist, in deren Ausübung wir wachsen können, müssen und werden, solange uns der ewige Gott in seinen Dienst nimmt und uns in seiner Freundschaft bewahrt. Denn „die vornehmste Bestimmung des Menschen ist", so der Westminster Katechismus, „Gott zu verherrlichen und ihn zu genießen in alle Ewigkeit". In der irdischen Zeit der Kirche trägt die Vollkommenheit ekklesiologische Züge. Ein Vers Charles Wesleys aus einem Lied, das John Wesley an seine Predigt Christian Perfection anfügte, erfaßt den Wert der Heiligkeit für das Bezeugen des Evangeliums (Works VI, 20): That I Thy mercy may proclaim, That all mankind Thy truth may see, Hallow Thy great and glorious name, And perfect holiness in me.

Der vollkommenen Heiligkeit kommt eine gemeinschaftliche Dimension zu: Joh 17 gemäß betete Jesus, seine Jünger mögen „vollendet sein in der Einheit pva dimv xexsleKOßsvoi eig ev], damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast" (Joh 17,20-24). Das ökumenische Geschenk und die ökumenische Aufgabe ist, daß Außenstehende ohne Ironie von den Christen sagen können, „Sieh, wie sie einander lieben" (vgl. Tertullian, apol. 39,7: CChrSL 1 [ed. E. Dekkers 1954] 151), und so von der Gemeinschaft der Glaubenden angezogen werden. Z u r himmlischen Stadt gehört die Gemeinschaft der Heiligen, und das endgültige Reich Gottes wird bewohnt sein von einer Gesellschaft der Vollkommenen. 4.

Philosophisch

Das Nachdenken über eine Definition von Vollkommenheit und die Möglichkeit ihrer Erlangung ist geprägt von einer langen und komplexen Geschichte des Wechselspiels zwischen der klassischen griechischen —»Philosophie, der christlichen Tradition und säkularen westlichen Theorien bzw. Ansätzen (vgl. Passmore). Wenn wir hier einige Hauptpunkte griechischer Philosophie erwähnen, deutet das zumindest an, wie oft und wie weit christliche Reflexion über die Vollkommenheit in implizitem oder explizitem Dialog mit den antiken Griechen stand. Es wird aber auch möglich werden, die einzigartigen Impulse zu erkennen, die christliches Nachdenken über dieses Thema von dem Glauben an „den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus" erhalten hat. Grundlegend für den Piatonismus (—•Plato/Platonismus) ist die Unterscheidung zwischen der vorgegebenen „—»Idee" und jedem vorhandenen Ding und Wesen, die jedoch alle nach der Realisierung ihrer Idee streben. Als Vollgestalt des je eigenen Seins der Dinge und Wesen ist das Gute Ziel aller Handlungen und darum auch die Norm des Verhaltens. Das Gute liegt allen Ideen zugrunde und ist in ihnen ebenso gegenwärtig wie in dem Streben danach (sofern dieses nicht seine Richtung verfehlt). Im späteren Piatonismus gehört es zur Dynamik des Guten, sich selbst mitzuteilen (bonun? est diffusivum sui). Der durchgängigen platonischen Einbeziehung der Schönheit unter xö KaXöv korrespondiert die Wichtigkeit der Betrachtung in der Erwägung des Guten. Nach -»Aristoteles ist Tugend (äpexr\) „eine Art Vollkommenheit (xEAÜmmq Tic,)" (metaph. 1021 b). Zur Tugend, die sich im Wählen verwirklicht, gehört die praktische -•Vernunft {4>pövr]aiq)", die durch richtiges Überlegen (opOdg Xöyog) das Handeln des Menschen auf das unmittelbare, und dann das letzte Ziel hin orientiert, auf das höchste Gut nämlich (xayaOöv Kai xö apiaxov). Inbegriff geglückten Handelns (r.onpaiia) ist die Glückseligkeit (evöaipovia) als gutes Leben (sö (rjv). Tugend wird zu einer Haltung (E&Q), die aber inmitten dessen, was den Menschen überkommt, den Leidenschaften

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(näßt]), zu bewahren ist. Für die -»Stoa ist „vollkommener Mensch", wer alle Tugenden besitzt und verwirklicht. Für J. Passmore besteht das „griechische Erbe" in folgendem (70f.): „Erstens und vor allen Dingen in der Begründung der Idee der metaphysischen Vollkommenheit und darin, daß diese Vollkommenheit einem höchsten Wesen zugeschrieben wird, ob dieses Wesen nun von der Natur unterschieden oder mit ihr identifiziert wird. Zweitens in der Ansicht, daß die Menschen bzw. einige Menschen die metaphysischen Vollkommenheiten des höchsten Wesens mit diesem gemeinsam haben könnten, und sei es in modifizierter Form, das heißt, alle seine Vollkommenheiten außer denjenigen, die seine Überlegenheit definieren, wie zum Beispiel, daß es allumfassend ist. Drittens in der Ansicht, daß Vollkommenheit Erkenntnis in einem gewissen Sinn dieses Wortes einschließt. Selbst wenn es sich bei dieser Erkenntnis um etwas handelt, das auf seinem Gipfelpunkt alles Verstehen übersteigt, muß es nach allgemeiner Auffassung der Griechen trotzdem auf der Erkenntnis in einem gewöhnlicheren Sinne beruhen, wozu auch die rationale Erkenntnis des Universums gehört. Viertens in einem deutlichen Hinweis darauf, daß man diese Erkenntnis und folglich auch die Vollkommenheit nur erreichen kann, indem man sich von der Welt zurückzieht. Dem wurde aber durch den Vorschlag widersprochen, daß man sie durch eine ideale Gesellschaftsordnung erreichen könnte. Fünftens in einem Versuch, eine niedrigere Ebene der Moralität zu errichten, die zwar die Vollkommenheit nicht erreicht, aber dem normalen Bürger als praktisches Ziel und vielleicht auch als hinführende Stufe auf dem Wege zur Vollkommenheit dienen könnte."

In späteren Jahrhunderten fand die Wechselwirkung zwischen dem Christentum und seinen eigenen Stiefkindern, der -»Renaissance und vor allem der -•Aufklärung, statt. Als sich die Bewahrung des christlichen Glaubens an die historische Einheit der menschlichen Rasse mit der Zurückweisung der Erbsündenlehre paarte, führte sie im -»Utilitarismus zu dem optimistischen Glauben, daß der Mensch aufgrund seiner natürlichen Gutheit oder zumindest des Gedankens eines „aufgeklärten Eigeninteresses" dazu in der Lage ist, das größte Glück der größten Zahl zu suchen. Zu diesem Zweck war nun obendrein die „wissenschaftliche Methode" zu Diensten menschlicher Verbesserung und sogar Vervollkommnung verfügbar, ohne das Bedürfnis nach göttlicher Gnade („-»Vorsehung" genügte, oder auch immanente natürliche „Gesetze", die, wenn sie erst einmal entdeckt waren, befolgt werden konnten, um ihr zwangsläufig positives Ergebnis schneller zu erreichen). Um alle Bereiche menschlichen Lebens zu berühren, konnte die wissenschaftliche Methode mittels einer großen Bandbreite von Instrumentalien auf Einrichtungen und Aktivitäten wie Gesetzgebung, Handel, Pädagogik, Medizin, Psychologie, Genetik, Linguistik (die „perfekte Sprache") und Mathematik (der „ideale Computer") angewendet werden. Die politische Frage, wer das „Social engineering" kontrollieren sollte, blieb selbstverständlich unbeantwortet. Ob in seinen reformistischen oder in seinen revolutionären Formen, das ernsthafte Ideal ist jetzt entweder todgeweiht oder bereits tot (vgl. auch -»Utopie), sei es durch ein Abgleiten ins Triviale (wie z.B. der Perfektionismus des „schönen Körpers" in nordatlantischen Demokratien) oder durch oligarchische Korruption (wie z. B. die Implosion des Marxismus in der früheren Sowjetunion). Verglichen mit der christlichen Tradition fehlten dem modernen Streben nach Vollkommenheit göttliche Quelle und Maß an Güte ebenso wie die Aussicht auf eine Vollendung jenseits dieser Welt. Um 1970 war es möglich zu sagen: „.Vollkommenheit' ist heute kein Begriff der philosophischen Wissenschaft mehr" (Zimmermann 1641 f.). Der moderne Gedanke des „Fortschritts" war des zunehmend evidenteren Ungleichgewichts zwischen wissenschaftlich-technischen Leistungen und sittlich-sozialer Kompetenz wegen bereits in Verruf geraten; die selbstkreierten Post-Modernen würden bald das „Fragment" gegenüber der „Einheit" und „Ganzheit" bevorzugen. Angesichts von Moderne und -»Postmoderne haben es seitdem immerhin ein paar Philosophen gewagt „Traditionen der Tugend" (Maclntyre) auszumachen und „Die Frage Wozu" (Spaemann/Löw) zu stellen. Es mag sein, daß die Theologen mit der wiedergewonnenen Möglichkeit solcher Gesprächspartner den Mut zurückerlangen werden, die Erkenntnisse der Bibel und der christlichen Tradition im Blick auf die Vollkommenheit systematisch und pastoral neu zu fassen. Die kulturelle Alternative dürfte der -»Nihilismus sein.

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Geoffrey W a i n w r i g h t

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Voltaire (1694-1778)

1. Leben

2. Werke

3. Gedankenwelt

4. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 290)

Kaum ein Einzelner hat dem Einfluß des Christentums, besonders der katholischen Kirche, je so geschadet wie Voltaire, der Briefe ab 1762 mit Ecrasez l'infâme!, d.h. „Zermalmt die Ruchlose!" unterzeichnete. Der Ausdruck infâme ist dabei im Genus nicht festgelegt. Mitzudenken sind wohl l'église, la superstition, le monstre o.ä. In seiner antichristlichen Propaganda zog er sämtliche Register von kritischer Argumentation über beißende Ironie bis hin zu geschmacklosester Blasphemie. So bezeichnete er etwa die realpräsentisch verstandene Eucharistie als den dieu de pâte und beschrieb mit gossensprachlichen Ausdrücken, wie der „Gott aus Teig" von seinen Gläubigen aufgenommen und wieder ausgeschieden wird. Bei seiner maßlosen Polemik bestimmte ihn die Überzeugung, das katholische Dogma beleidige mit seiner Absurdität gleichermaßen die menschliche -»Vernunft und die Gottheit. Von Gott zu behaupten, er sei Mensch geworden und werde in jeder Messe pâte, erscheint ihm als unerträgliche Lästerung. Eine solche Lehre könnten nur „Fanatiker" gegen ihre eigene Vernunft und die ihrer Mitmenschen durchsetzen. Sie lasse sich — mit den bekannten Folgen (-»-Inquisition, -•Religionskrieg) — nur aufzwingen. Der immer wieder als gefühlsarm bezeichnete Voltaire war von einer aufrichtigen theistischen (-»Deismus, -»Theismus) Religiosität erfüllt: J'adore Dieu, le père. Quant à monsieur le Fils et madame sa Mère, c'est autre chose. -»Atheismus wurde von ihm wegen seiner metaphysischen Unhaltbarkeit und negativen sozialen Folgen stets abgelehnt, allerdings, da er weniger verbreitet war, nicht so lautstark wie das Christentum. 1. Leben François-Marie Arouet, der seit 1719 den Schriftstellernamen Voltaire trug (vermutlich ein Anagramm von Arouet l[e] j[eune]), wurde am 21. November 1694 in die vom Streben nach sozialem Aufstieg und Besitzmehrung bestimmte, streng katholische Familie eines Pariser Notars geboren. Im Freundes- und Verwandtenkreis der Familie standen manche den strengen Jansenisten (-»Jansen/Jansenisten) und den kulturfreundlicheren Jesuiten nahe, andere jedoch den religions- und moralkritisch gesonnenen, hedonistisch orientierten libertins. Nachdem der frühreife François im Jesuitenkolleg Louis-le-Grand eine solide klassische Bildung erworben hatte, distanzierte er sich immer mehr von seiner Familie und entzog sich dem väterlichen Wunsch, er möge eine juristische Laufbahn einschlagen. Er verkehrte in der mondänen Gesellschaft, darunter der libertinistischen Société du Temple, und erging sich in ersten literarischen Versuchen. Sein erster großer Erfolg war das Drama Oedipe (1718). Nach einem Konflikt mit dem Chevalier de Rohan-Chabot wurde er 1726 für kurze Zeit in die Bastille gesetzt und dann mit der Auflage entlassen, sich von Paris fernzuhalten. Er begab sich nach England, wo er einflußreiche Freunde hatte und wichtigen Vertretern des englischen Geisteslebens, besonders auch Deisten wie Henry St. John Viscount Bolingbroke (1678-1751), begegnete. In den Lettres anglaises stellte er die freieren englischen Verhältnisse kritisch den französischen gegenüber. 1729 nach Frankreich zurückgekehrt, mußte er ständig vor obrigkeitlichen Maßnahmen auf der Hut sein. 1733 begann seine turbulente Liaison mit der geistreichen und vielseitig interessierten Madame Emilie du Châtelet (17061749), auf deren Schloß Cirey er Zuflucht und Arbeitsmöglichkeiten fand. Literarische Erfolge und einflußreiche Freunde verschafften ihm die Ernennung zum Historiographen (1745) und zum Edelmann und Kammerherrn (1746) Ludwigs des XV. (reg. 1715-1774). Nach dem Tod Emilies gab er 1750 dem wiederholten Drängen Friedrichs II. von Preußen (reg. 1740—1786) nach, in einem Kreis französischer Literaten und philosophes, die dieser um sich versammelt hatte, den ersten Platz einzunehmen. Durch Rivalitäten zwischen den philosophes, durch finanzielle Machenschaften Voltaires und nicht zuletzt durch die Besonderheiten ihrer Charaktere kam es jedoch schon bald zu Mißhelligkeiten zwi-

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sehen dem roi philosophe und dem philosophe roi, so daß Voltaire im März 1753 Berlin wieder verließ. Ein wegen seiner heftigen Religions- und Gesellschaftskritik verhängtes Aufenthaltsverbot für Paris veranlaßte ihn, 1755 ein Haus in -»Genf, les Délices, dann 1758 in der angrenzenden Region Frankreichs die ausgedehnten Besitzungen Ferney und Tournay zu erwerben. Dabei spielte die Überlegung eine Rolle, bei drohender Verfolgung schnell über die Grenze entkommen zu können. Die lange letzte Lebensphase des oft schwerkranken Mannes in Ferney war nicht nur von rastloser literarischer Aktivität, sondern auch engagiertem Einsatz für aus religiösen Gründen Verfolgte (Hugenottenfamilien Calas 1762 und Sirven 1765, Chevalier de la Barre 1766 u.a.) und dem Bemühen bestimmt, seine großen Landgüter mit Hunderten von abhängigen Bauern im Sinne aufklärerischer Reformen zu verwalten. Für jeden vom Geist der Aufkärung angehauchten Reisenden wurde es Mode, den patriarche de Ferney zu besuchen, der dadurch zum aubergiste de l'Europe wurde. Seine letzte Reise nach Paris im Jahre 1778 wurde zum Triumphzug des roi Voltaire. Der 84jährige war zur wichtigsten Symbolfigur der sich gegen klerikale und absolutistische Unterdrückung behauptenden französischen Aufklärung geworden. Er starb am 30. Mai 1778 in Paris. Auf einem Zettel aus seinen letzten Lebenstagen fand man den Satz: „Ich sterbe in der Anbetung Gottes, in Liebe zu meinen Freunden, ohne H a ß gegen meine Feinde und in Abscheu gegen den Aberglauben". Der Gesamteindruck seiner Person bleibt zwiespältig. Sein theistischer Glaube und die darauf gegründeten moralischen Überzeugungen waren ohne Zweifel echt. Bei seinem Einsatz für -»Religionsfreiheit, -*Toleranz und Unterdrückte war er ungemein freigebig und nahm nicht unbeträchtliche persönliche Risiken in Kauf. Andererseits fehlte ihm jedes Gespür dafür, wie tief seine beißend ironische, oft bewußt böswillige und unflätige Kritik Christen verletzen mußte. Um sich aus Verwicklungen zu befreien, Gegner zu schädigen und zu Geld zu kommen, scheute er auch vor Lüge, Täuschung und Verleumdung nicht zurück. 2. Werke Das Werk Voltaires beeindruckt durch Umfang, inhaltliche und formale Vielfalt sowie hohe sprachliche und literarische Qualität. Acht Textgruppen lassen sich unterscheiden. 1) Werke in Versform: In der Henriade (1723) schildert er die Grausamkeit des Religionskriegs und seines Endes durch den „guten König Heinrich". Der Discours en vers sur l'homme (1734) behandelt u.a. die Themen Gleichheit, Freiheit, Neid, plaisir (Ergötzen, Lust) und Wesen des Menschen. Die Erkennbarkeit des Guten und die überall und immer gültige morale uniforme behauptet das Poème sur la loi naturelle (1752). Angesichts des Erdbebens von Lissabon (1755) bekennt Voltaire im Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) die Verunsicherung seines Vorsehungsglaubens und meldet Zweifel am Leibnizschen Optimismus an (-»Leibniz). 2) Theater: Voltaire war als Bühnenautor ungemein erfolgreich und hat 52 Stücke hinterlassen, darunter Oedipe (1718), Zaïre (1732), Mérope (1743), Tancrède (1760). 3) Literaturkritik: Er bewundert die Autoren des 17. Jh., besonders Jean Racine (1639-1699), und tritt für Natürlichkeit und „Achtung vor der Sprache" ein. 4) Philosophie: Philosophe bezeichnet im 18. Jh. nicht nur den Fachphilosophen im technischen Sinne, sondern den literarisch Gebildeten, der für sich und andere nach einer vernünftigen Lebensorientierung sucht. Fast nur in diesem zweiten Sinne ist Voltaire als Philosoph zu bezeichnen. Im Traité de métaphysique (1734) setzt er sich in Anlehnung besonders an John Locke (1632-1704) und S. —»Clarke mit Fragen wie Existenz Gottes, Ewigkeit der Materie oder Schaffung aus dem Nichts, Grundlagen und Reichweite menschlicher -»Erkenntnis, Wesen und -»Unsterblichkeit der -»Seele, Willensfreiheit (-•Wille/Willensfreiheit), Kriterien sittlichen Handelns auseinander. Le philosophe ignorant (1766) verweist auf die engen Grenzen menschlicher Erkenntnis und die Folgen ihrer Mißachtung. Das Dictionnaire philosophique portatif (1764) faßt seine philoso-

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phischen, religions- und kulturkritischen Gedanken unter einzelnen Stichwörtern zusammen. 5) Erzählungen: Die 25 Erzählungen sind nicht nur witzig, sondern thematisieren auf unterhaltsame Weise die religiösen und kulturkritischen Probleme der Zeit. Sie stellen eine Art narrativer Philosophie dar. Voltaire zieht darin sämtliche Register: Übertreibung, Karikierung, Verfremdung, Überrumpelung u.a. Micromégas (1757) zeigt die europäischen Verhältnisse aus der Sicht von Weltraumreisenden, L'Ingénu (1767) aus der eines kanadischen „Wilden". Zadig oder das Schicksal (1747) weist den verborgenen Sinn unverständlicher Widerfahrnisse auf. Im Candide (1759) wird in der Gestalt des Pangloss der Optimismus à la Leibniz und Ch. —»Wolff lächerlich gemacht und Selbstbescheidung empfohlen. 6) Polemik: Um seinen ätzenden Spott über persönliche Gegner auszugießen und brüchige Gedankengebäude zum Einsturz zu bringen, bedient sich Voltaire einer Fülle von Formen: Rede, Predigt, Abhandlung, Anekdote, Plädoyer, Gespräch, Brief. Mißliebige Auffassungen werden von lächerlichen Figuren vertreten, deren Äußerungen sich selbst ad absurdum führen oder das Befremden ihrer Gesprächspartner auslösen. Wie kaum ein anderer versteht er es, die öffentliche Meinung zu mobilisieren. In den Lettres philosophiques (1734) spielt er die freieren englischen Verhältnisse gegen die repressiven französischen aus. Der Sermon des cinquante (1762) stellt die logischen und sozialen Vorzüge des Theismus heraus und zersetzt Judentum und Christentum durch eine beißende Bibelkritik. In den Dialogues chrétiens (1760) stimmen ein katholischer Priester und ein calvinistischer Pastor ihre Machenschaften gegen die philosophes aufeinander ab. 7) Historiographie: Voltaire bemüht sich um genaue Dokumentation und kritischen Umgang mit den Quellen. In der Histoire de Charles XII (1731) begeistert sich Voltaire für die Abenteuer dieses schwedischen Königs, will aber gleichzeitig den Wahnsinn von Kriegen verdeutlichen. Le siècle de Louis XIV (1751) ist für ihn neben den Jahrhunderten des Perikles, des Augustus und der Medici eines der großen vier Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit. Die kulturellen Hochleistungen werden jedoch durch religiöse Streitigkeiten und Fanatismus verdunkelt, „die der menschlichen Vernunft Schande machen". Der Essai sur les mœurs (1756) läßt am deutlichsten seine geschichtsphilosophischen Überzeugungen erkennen: Die Geschichte ist zwar stark von menschlicher Bosheit und Zufällen bestimmt, dennoch gibt es eine Tendenz zu mehr Zivilisation und Freiheit. 8) Korrespondenz: Tausende von Briefen richten sich an Herrscher (Friedrich II. von Preußen; Katharina II. von Rußland [reg. 1762-1796]), Politiker, Philosophen, Literaten, Schauspieler und persönliche Freunde. Darin kommentiert Voltaire nicht nur alle wichtigen Ereignisse und Themen, sondern berichtet auch über sein persönliches Ergehen, häufig Krankheiten. 3.

Gedankenwelt

Voltaire bezeichnet sich selbst als déiste (vgl. TRE 8,392,38ff.), später als théiste (-»Theismus). Semantisch differenziert werden diese beiden Ausdrücke erst 1742 durch Etienne de Silhouette (1709—1767) und 1751 durch Jean-Jacques Le Franc de Pompignan (1709-1784). Die Existenz Gottes steht durch vernünftige Einsicht fest und braucht deshalb nicht geglaubt zu werden. Voltaire bringt die traditionellen Argumente von der Ordnung in allen Dingen (unité de dessein), von der Intelligenz des Menschen und von seiner Liebe zum Leben, die auf einen überlegen weisen, mächtigen und gütigen Schöpfer zeigen. Besonders überzeugend findet Voltaire den Gottesbeweis par le plaisir (Wonne, Lust: schöne Frauen, guter Wein, Kunst u.a.). Nicht festlegen will er sich in der Frage, ob der Schöpfer nur die ewige Materie geordnet oder ob er sie aus dem Nichts hervorgezogen habe. Besonders eine Lebenskrise um das Jahr 1748 und das Erdbeben von Lissabon (1755) lassen ihm die Frage der -»Theodizee dringlich werden. Die Koexistenz

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von Gott und Übel (-»Böse, Das) bleibt rätselhaft. Immerhin überwiegen in unserer Erfahrung die erhaltenden über die zerstörerischen Kräfte. Anthropologisch beschäftigt Voltaire besonders die Frage der leibunabhängigen Existenz einer geistigen Seele und ihrer Unsterblichkeit sowie der Willensfreiheit. Eine postmortale Existenz läßt sich zwar nicht zwingend beweisen, ist aber zum Ausgleich von Ungerechtigkeiten erforderlich. Freiheit heißt „handeln können", tun können, „was Lust bereitet" (ce qui fait plaisir; Traité de métaphysique: Mélanges [ed. Heuvel] 157-202, hier 191). Nicht der Mensch, sondern nur einige Menschen sind böse (méchants). Voltaire verweist auf das Beispiel der zahllosen Frauen, die ihre Kinder versorgen und ihren Nachbarn helfen. Religion ist wesentlich „Unterordnung (soumission) unter die Vorsehung und Liebe zur Tugend" (Examen de Milord Bolingbroke: ebd. 1012-1117, hier 1037). Entsprechend gibt es nur Lob Gottes, aber keine Bitten an ihn. Das Bekenntnis Voltaires lautet: „Ich bete den einen schöpferischen, weisen, strafenden (vengeur) und belohnenden (rémunérateur) Gott an. Ich liebe ihn und diene ihm, so gut ich kann, in den Menschen, meinesgleichen" (Lettre au docteur Pansophe: ebd. 850—857, hier 857). Alles, was über den Theismus hinausgeht, ist Aberglaube (superstition). In den historischen Religionen ist die ursprüngliche Religion, der Theismus, teilweise bewahrt, großenteils jedoch entstellt. Religion ist als le sacré lien de la société („heiliges Band der Gesellschaft") notwendig: „Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden" (Epître à l'auteur du livre des Trois imposteurs: Œuvres [ed. Moland] X, 402-405, hier 403). Moralität bedarf der religiösen Begründung und Motivation. Religiöse Lehren, aus denen sich keine moralischen Folgerungen ergeben, sind überflüssig und schädlich. Inhaltlich besteht Moralität in der „Wohltätigkeit gegenüber dem Nächsten" (bienfaisance envers le prochain; Art. vertu: Dictionnaire philosophique [ed. Pomeau] 373). Die allgemeinsten ethischen Grundsätze sind nicht nur leicht erkennbar, sondern auch überall gültig und anerkannt. Partikulare „Konventionen" sind an der loi naturelle zu messen. Die gesellschaftlich-politischen Prinzipien Voltaires lauten: „Freiheit", „Eigentum" und „Gleichheit". Am Christentum kritisiert Voltaire den Gegensatz zwischen universalem Anspruch und faktischer Partikularität (in R a u m und Zeit). Dessen Forderung, Unbeweisbares, Unmögliches und Widersinniges als wahr anzuerkennen, scheint ihm nicht nur unerfüllbar, sondern auch unsittlich, letzteres besonders dann, wenn „Glaube" über „Werke" gestellt wird. Die Lehre von der —•Trinität ist für ihn manifestement absurde. In krassem Gegensatz zu seiner religiösen Urerfahrung von der unendlichen Erhabenheit und Größe des Schöpfers der unzähligen Welten stehen besonders Inkarnation und Transsubstantiation: einen „Juden" oder gar ein Stück Brot als Gott anzubeten ist „Blasphemie" und „Idolatrie". Voltaires Bibelkritik findet sich am gedrängtesten in Les questions de Zapata (1767), die in Form einer Reihe von 66 Fragen auf innere Widersprüche, unmoralische Wertungen und historische und physische Unwahrscheinlichkeiten zielen. Konformität mit den absonderlichen kirchlichen Lehren und Bräuchen (Reliquienkult [—•Reliquien/Reliquienverehrung], Fastenregeln [-»Fasten/Fasttage] u.a.) läßt sich anders als durch frühzeitige Indoktrination und brutalen Z w a n g weder herstellen noch aufrechterhalten. Voltaire verweist auf die Opfer der Inquisition, der Kolonialisierung und der Religionskriege, gibt dabei allerdings überhöhte Zahlen an. Voltaires Jesusbild ist durch das Bestreben bestimmt, der Kirche ihre wichtigste Legitimationsbasis zu entziehen. Vor 1763 tendiert Voltaire dazu, Jesus (-»Jesus Christus) verächtlich zu machen: Er war ein von sozialen Ressentiments erfüllter, von Wahnvorstellungen geleiteter und teilweise unaufrichtiger gueux (Bettler). Später wertet er ihn auf zu einer Art Socrate rustique, einem modèle de la vertu et de la raison, dem premier des théistes, dessen Leben und Lehre dem Machtapparat der Kirche diametral entgegenstehen. Er hat sich weder als Gott ausgegeben noch Sakramente oder gar die kirchliche Hierarchie eingesetzt. Zunächst versucht Voltaire, „das ungeheuerlichste Gebäude [l'édifice le plus monstrueux], das je die menschliche Vernunft entehrt h a t " , durch intellektuelle und moralische Diskreditierung zum Einsturz zu bringen. Dann bemüht er sich, das Christentum von innen her im

Voltaire

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Verein mit vermeintlich gleichgesinnten Theologen, besonders reformierten wie J a c o b Vernet ( 1 6 9 8 - 1 7 8 9 ) , Jacob Vernes ( 1 7 2 8 - 1 7 9 1 ) und Georges-Pierre de Polier de Bottens (1675—1759), die er für „verschämte Sozinianer" (—»-Sozzini/Sozinianer) hielt, in Richtung Theismus zu verändern. Geistliche sollen dann zwar keine weltliche Macht mehr haben, wohl aber das gesellschaftliche Ansehen, das sie für die Wahrnehmung seelsorgerlicher und moralpädagogischer Aufgaben brauchen. 4.

Nachwirkung

Man übertreibt kaum, wenn man sagt, Voltaire sei Mitte des 18. Jh. „der berühmteste, meistgeliebte und am fanatischsten gehaßte Mann in E u r o p a " (Bestermann, Voltaire [1969] 528) gewesen. Zur Wirkung gelangte er weniger durch inhaltliche Originalität als durch sprachliche und literarische Genialität. Bei ihm floß Gedankengut der französischen Aufklärung zusammen und wurde dadurch verstärkt, daß es eine formal vollendete und publikumswirksame Gestalt erhielt. Er wurde zur Symbol- und Identifikationsfigur, zum roi Voltaire. Nicht zuletzt verstand er es, aufklärerisches Gedankengut zu einprägsamen Kurzformeln zu verdichten: „Mißtrauen Sie allen Erfindungen der Scharlatane, beten Sie Gott an, seien Sie ein ehrenhafter Mensch und glauben Sie, daß zwei plus zwei vier ergibt!" (Art. nécessaire: Dictionnaire philosophique [ed. Pomeau] 3 0 0 - 3 0 3 , hier 303); Osez penser par vous-mème\ („Wagen Sie selbst zu denken!"; Art. liberté de penser: ebd. 258—261, hier 261). An der Entstehung des in Frankreich und des darüber hinaus herrschenden laizistischen Klimas hatte er wesentlichen Anteil. Geringer ist heute seine unmittelbare Wirkung. Seine Theaterstücke werden kaum mehr gespielt. Eine breitere Leserschaft finden fast nur noch das Dictionnaire philosophique und die Erzählungen, besonders Candide, die auch heute auf unterhaltsame Weise nachdenklich machen können. Quellen Œuvres complètes de Voltaire, publ. par Louis Moland, 52 Bde., Paris 1877-1882 Nachdr. Nendeln 1967. - Complété Works of Voltaire/Les œuvres complètes de Voltaire, publ. par Théodore Besterman/William H. Barber, Oxford 1968 if. (Ed. der Voltaire Fondation, z.Z. ca. 135 Bde.); darin enthalten: Correspondence and Related Documents, ed. Théodore Bestermann, 51 Bde., Oxford 1968-1977. - Dictionnaire philosophique, chronologie et préface par René Pomeau, Paris 1964. - Mélanges, éd. Jacques van den Heuvel, Paris 1961 (Bibliothèque de la Pléiade 152). - Romans et contes, éd. Frédéric Deloffre/Jacques van den Heuvel, Paris 1979 (Bibliothèque de la Pléiade 3). - Œuvres historiques, éd. René Pomeau, Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade 128). - Correspondance, 13 Bde., éd. Théodore Besterman, Paris 1963-1993 (Bibliothèque de la Pléiade). Literatur Horst Baader (Hg.), Voltaire, 1980 (WdF 286). - Théodore Besterman, Voltaire, New York 1969 Oxford '1976. - Bernard Cottret, Le Christ des Lumières. Jésus de Newton à Voltaire, Paris 1990. - Michel Delon/Ulla Kölving (Hg.), Voltaire en Europe. Hommage à Christiane Mervaud, Oxford 2000. - Jean Goldzink, Voltaire, Paris 1994. - Ulla Kölving/Christiane Mervaud (Hg.), Voltaire et ses combats. Actes du congrès international 1994, 2 Bde., Oxford 1997. - Jean Orieux, Voltaire, ou la royauté de l'esprit, Paris 1966; dt.: Das Leben des Voltaire, Frankfurt a.M. 1968 NA 1994. - René Pomeau, Politique de Voltaire, Paris 1970. - Ders., La religion de Voltaire, Paris 1969 J 1974. - Ders. (Hg.), Voltaire en son temps, 5 Bde., Oxford 1985-1994. - Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, hg. v. Institut et Musée Voltaire, Oxford 1955 ff. [bisher etwa 370 Bde.]. -Raymond Trousson/Jerome Vercruysse/Jacques Lemaire (Hg.), Dictionnaire Voltaire, Paris 1994. - Voltaire in Deutschland. Int. Kolloquium der Univ. Mannheim zum 200. Todestag Voltaires, hg. v. Peter Brockmeier/Roland Desne/Jürgen Voss, Stuttgart 1979. Günter R . Schmidt

Vormärz

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Volintarismus -» Wille/Willensfreiheit Vornärz 1. Begriffsgeschichte, Epochenabgrenzung und Allgemeine Kennzeichen des Vormärz 2. Tieologiehistorische und kirchengeschichtliche Tendenzen in der Epoche des Vormärz 3. Kulturgischichtliche Verflechtungen des Christentums mit vormärzlicher Politik, Gesellschaft und Literatur 4. Ausblick (Quellen/Literatur S. 299)

1. Begriffsgeschichte,

Epochenabgrenzung

und Allgemeine

Kennzeichen

des

Vormärz

Als Vormärz wird in der Regel die Epoche der deutschen Geschichte zwischen dem Wieier Kongreß 1815 und der Märzrevolution 1848 bezeichnet, in der sich der Umbau der ilteuropäischen Ordnung in die moderne Gesellschaft als Auseinandersetzung zwischen -»Restauration und -»-Revolution vollzog. Der Epochenbegriff markiert also die deutsche Gestalt jener gesamteuropäischen Tendenz zur Ablösung traditionaler agrariscl-feudaler Bindungen durch die Entstehung moderner, individualisierter Markt- und Bürfergesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jh. und die damit verbundenen Brüche, Kris:n und Konflikte. Gerade diese werden in verwandten Begriffen (Biedermeier, Metternchära, risorgimento, aber auch in einer vereinzelt sich findenden eingeschränkten Bedmtung des Vormärz-Begriffes, der lediglich die nationalen und liberalen Triebkräfte jene* Umbaus meint) gewöhnlich nicht in der selben Schärfe erfaßt. Insofern ist der Epo;henbegriff Vormärz zugleich ein Reflexionsbegriff, da er die Widersprüche und Austinandersetzungen der Epoche als Ausdruck eines Strukturwandels erfaßt, dessen Dynamik schließlich in die Märzrevolutionen von Berlin und Wien einmündete. Per Begriff ist zwar relativ früh nachweisbar und markiert zunächst das Überwund e n s t einer als abgeschlossen empfundenen Epoche S) dient das Adjektiv bereits im Frühjahr 1849 zur Kennzeichnung „vormärzlicher Ansichten und Jrtheile" (Lehrerstimmen 191), 1854 findet sich auch die ironische Bezugnahme auf überstandene „vormärzsündfluthliche Zeiten" (Fliegende Blätter).

Eennoch gewinnt der Begriff erst in den Historiker-Debatten des Kaiserreiches seine posiive Besetzung und reflexive Stärke (Bock). Imstritten ist die Epochenabgrenzung. Zwar hat sich die Umgrenzung durch die Zäsiren 1815 und 1848 durch die Verschränkung von politikgeschichtlichen, sozialgeschi(htlichen und kulturgeschichtlichen Perspektiven nahegelegt (Nipperdey; Langewiesche Wehler). Doch läßt sich insbesondere der Epochenbeginn verschieden ansetzen. Ii der rein politischen Geschichtsschreibung ist es auch weit verbreitet, den Vormärz auf den Zeitnum zwischen der französischen Julirevolution 1830 und 1848 einzugrenzen und die Jahre 1815-1830 ausschließlich als Phase der Restauration zu werten. Dieser Tendenz korrespondiert gegeiwärtig eine wachsende Konjunktur der Zäsur 1830 in der gesamteuropäischen Geschichtsschrebung (Literatur bei Paetau). Die rein literaturgeschichtliche Betrachtung kennt sodann die sehr:nge Beschränkung auf die Jahre 1840-1848 (Hermand). Unter ausschließlich theologiegeschicitlichen Aspekten ist schließlich auch für das Jahr 1835, das Erscheinungsjahr von David Friedich -»Strauß' Leben Jesu, als Epochenschwelle und Beginn des Vormärz votiert worden (Schvarz; Mehlhausen, Theologie). Indessen wird eine integrale kulturgeschichtliche Betrachtung eher lazu neigen, den Beginn des Vormärz sogar noch auf die Gründung der Berliner Universität 1807(-»Berlin) auszudehnen und damit in Rechnung zu stellen, wie eng die Entwicklungen des Vornärz mit den Impulsen aus der modernen -»Universität verbunden sind. Kaum umstritten ist dagegen der Epochenabschluß 1848. Er wird nicht zuletzt unter theologiegeschichtlichen Aspekten schoi von den Zeitgenossen bestätigt (Ullmann 3).

Ifennzeichnend für die Epoche des Vormärz ist vor allem die beherrschende Rolle zahleicher Spannungen, in denen sich Einflüsse vorangehender und folgender Epochen kreuxn. So ist es in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem die Spannung zwischen dem Endtder agrarischen Welt und der allmählichen Durchsetzung von -»Industrialisierung und conkurrenzorientierter Marktwirtschaft. In sozialer Hinsicht ist die Spannung zwi-

292

Vormärz

sehen dem Bedeutungsverlust des Adels, der Etablierung differenzierter bürgerlicher Lebenswelten (Besitzbürgertum, Bildungsbürgertum, Wirtschaftsbürgertum) und der Entstehung von Arbeiterschaft, Unterschichten und Proletariat (—»Arbeiter/Arbeiterbewegung/ Angestellte) zentral. Und in politischer Hinsicht ist vor allem die Spannung zwischen Bemühungen um Wiederherstellung der traditionalen Herrschaftsformen und politischer Emanzipation zu nennen. So ist der Vormärz eine Epoche, in der das Erbe von Spätaufklärung (-»Aufklärung), Spätidealismus (-»Idealismus) und —•Romantik zur Grundlage von Historismus, Individualismus und Modernismus umgebildet wird. Zur Signatur der vormärzlichen Epoche zählt insbesondere die Verflechtung vor Religion und Gesellschaft. Theologie- und kirchenhistorische Angelegenheiten sind im Vormärz zugleich stets auch Angelegenheiten von kulturgeschichtlichem Rang; verdeckte oder unterdrückte gesellschaftskulturelle Problemstellungen werden weitgehend im Medium ihrer religiös-theologischen Transformation reflektiert und diskutiert. Die Entwicklung von Theologie, Kirche und Christentum im Vormärz (s.u. 2.) kann darum zwar unterschieden, aber nicht getrennt werden von der Entwicklung der vormärzlichen Politik, Gesellschaft und Literatur (s.u. 3.). 2. Theologiehistorische märz

und kirchengeschichtliche

Tendenzen in der Epoche des Vor-

Kaum eine Epoche des neuzeitlichen Protestantismus hat so produktive und lang anhaltende Wirkungen gehabt wie der Vormärz. Nicht nur die Fundierung der modernen Gesellschaft vollzieht sich in den Jahren zwischen 1815 und 1848, sondern auch die Fundamente des modernen -»Protestantismus liegen im Vormärz. In diese Epoche fällt die Wirksamkeit der meisten für den -» Neuprotestantismus bis auf den heutigen Tag prägenden Theologenfiguren; in diese Epoche fallen die entscheidenden Weichenstellungen für das moderne, synodal verfaßte Landeskirchentum; in dieser Epoche bilden sich schließlich auch die aus dem 18. Jh. überlieferten Bewegungen der -»Aufklärung, der -»Orthodoxie und des -»Pietismus in diejenigen differenzierten kirchlich-theologischen Strömungen und Richtungen um, die für das gesamte 19. und frühe 20. Jh. bestimmend bleiben sollten und zugleich die zunehmende Positionalität der Theologie indizieren. Hauptsächlich zu nennen sind hier, stark schematisiert, zunächst der späte -*Kationali;mus, der im Vergleich zu seinen Wurzeln im 18. Jh. eine stark ethisierte, zugleich popularisierte Gestalt erhält (so etwa bei Heinrich Eberhard Gottlob Paulus [1761—1851]; Julius August Wegseiender [1771-1849]; K.G. -»BretSchneider; W. -»Gesenius) und die Erweckungsbewegung (-»Erweckung/ Erweckungsbewegungen; A. -»Neander, L. -»Hofacker, F.A.G. -»Tholuck; E.W. -»Hengstetberg; J.T. -»Beck; L. -»Harms), in der Orthodoxie und Pietismus ein Bündnis der positiven Religion gegen die Vermittlung des Christentums mit der -»Moderne eingehen. Aus der Schule -»Schleiermachers und in seiner Tradition der liberalprotestantischen Umformung des Christentuns im Horizont des Bewußtseins der eigenen Zeit und Humanität entsteht daneben die -»Vermittlungstheologie (W.M.L. -»De Wette; C.I. -»Nitzsch; August Detlef Christian Twesten [1789-1876]; Friedrich Lücke [1791-1855]; Friedrich Bleek [1793-1859]; Carl Christian Ulimann [1796-1865]; R. -»Rothe; Karl August von Hase [1800-1890]; Christian Hermann Weiße [1801 -1866]; W. -»Vatke; Alexander Schweizer [1808-1888], I.A. -»Dorner); vornehmlich aus der Schule -»Hegds dagegen entwickelt sich einerseits die -+Spekulative Theologie (K. -»Daub; Ph.K. -»Marheiaeke), andererseits der linkshegelianische Kritizismus D.F. Strauß' und B. -»Bauers, dem sich später etwa Arnold Ruge (1803-1880) und L. -»Feuerbach anschließen. Regionale Schwerpunkte haben daneben die historisch-kritische Tradition der Tübinger Schule F.C. -»Baurs (-»Tübinger Schulen 3.; Eduard Zeller [1814-1908]; Friedrich Karl Albert Schwegler [1819-1857]; Julius Köstlin [18261902]) und der neulutherische Konfessionalismus der Erlanger Schule (-»Erlangen; G.Ch.A von -»Harleß; J. v. -»Hofmann [TRE 15,477-479]; Th. -»Kliefoth; F.H.R. v. -»Frank). Aufschluß über die Präsenz des Protestantismus im Vormärz geben statistische Daten. An den sechs preußischen evangelisch-theologischen Fakultäten (Berlin, Bonn, Breslau, Greifswald, Halle, Königsberg) lehren zwischen 1819 und 1848 durchschnittlich 30 bis 32 Ordinarien und zwEchen 10 und 15 außerplanmäßige Professoren. Dazu kommen an den nichtpreußischen Fakultäten (Kiel, Göttingen, Marburg, Gießen, Erlangen, Tübingen, Heidelberg, Leipzig, Jena, Rostock) durchschnittlich vier Ordinarien und ein bis zwei Extraordinarien. So ergibt sich eine Zahl von )5 bis

Vormärz

293

115 protestantischen Theologieprofessoren (Graf, Theologie 36). Die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder in -»Preußen stieg, im Rahmen des rapiden Bevölkerungswachstums, im Laufe des Vormärz von ca. 6 Millionen auf 10 Millionen. Im gleichen Zeitraum wurde indes die Zahl der Pfarrer relativ konstant bei ca. 5.700 gehalten, die Zahl der Theologiestudenten schwankte zwischen 700 und 1.700 (Wehler 461). Vergleichsweise beständig bleibt in der Epoche des Vormärz der Anteil theologischer Bücher an der Buchproduktion. Er liegt konstant bei ca. 10 % , während andere Sachgruppen wie Ökonomie, Naturwissenschaft, aber auch Romane und Poesie teils rasante Veränderungen erfahren (Behrens 27).

Bei aller inneren Pluralisierung des Protestantismus im Vormärz zeigt sich eine auffällige Konzentration der vorrangig reflektierten Sachthemen. Die sich rapide beschleunigenden Tendenzen zur gesellschaftlichen Funktionalisierung und Segmentierung führen den Protestantismus notwendig zur Reflexion auf seine eigene Rolle und Funktion in der sich differenzierenden Gesellschaft. Diese Selbstreflexion findet ihre Bündelung im Kirchenthema. Die Wiederentdeckung des Kirchenthemas, genauer: die Gestaltung der Verknüpfung von freier Subjektivität mit überindividueller, institutionell abgesicherter Verbindlichkeit bildet den Fokus der kirchlich-theologischen Debatten der Zeit. Andere Themen bleiben dagegen eher im Hintergrund. 2.1.

Theologie

Dieses die Grenzen von Vermittlungstheologie und Erweckungsbewegung überschreitende, gemeinsame Interesse der theologischen Reflexion auf die Lehre von der -» Kirche läßt sich etwa bei Nitzsch und Tholuck exemplarisch beobachten. Bei allen Differenzen in der theologischen Programmatik und der kirchenpolitischen Zielsetzung stimmen sie faktisch darin überein, die Kirche nun nicht mehr primär dogmatisch, sondern in ethischer Zuspitzung zu bestimmen. Die Kirche wird zur zentralen Institution der moralischen -»-Bildung des Einzelnen und der Sittlichkeit des Gemeinwesens. Auch Rothe intendiert mit seiner umstrittenen Theorie der Umbildung der Kirche in den Staat die Sicherstellung christlicher Sittlichkeit durch die Institution und reagiert damit auf die linkshegelianische Tendenz, die bürgerliche -»Emanzipation als Bruch mit der christlichen -»Tradition zu konzipieren. Demgegenüber vertritt Rothe den Anspruch, daß es die bürgerliche Freiheit des Einzelnen nur auf dem Fundament eines institutionell abgesicherten christlichen Grundkonsenses des Gemeinwesens geben kann (Graf, Theologie 3 2 - 3 4 ) . Das verbindet ihn wiederum in auffälliger Weise mit dem neulutherischen Konfessionalismus (-• Neuluthertum). F.J. -»Stahls Ekklesiologie zufolge ist die Kirche eine transpersonale, theonome Heilsanstalt, die unabhängig vom konstituierenden Willen der Individuen durch Christus selbst gestiftet und geordnet wird. Dieses Konzept einer göttlich gesetzten, hierarchisch gegliederten Anstalt wird nun direkt mit dem des monarchischen Staates verbunden, indem die christliche Staatslehre nach Maßgabe der Ekklesiologie entworfen wird. Der Staat ist nicht auf autonome, profane Normen und Institutionen gegründet, sondern auf christliche. Der Staat befiehlt nicht der Kirche und er trennt sich nicht von ihr, sondern ist mit ihr wesensmäßig verbunden (Baumotte, Version). 2.2. Kirche Nur punktuell erforscht ist die Kirchengeschichte des Vormärz (Blessing; Dannemann; Phayer; Scherer; Specht; auch: Gollwitzer; Hübner; Walravens), am gründlichsten für Preußen (Förster; Friedrich; Hachtmann; Heintze; Neuser; Seidel; Stenzel). Bedingt vor allem durch die politischen Umwälzungen, haben die kirchenhistorischen Entwicklungen ihre Schwerpunkte in den Erfordernissen einer Neuordnung der kirchlichen Selbstorganisation. Sie konkretisieren sich zum einen in den Bemühungen um -»Presbyterial-synodale Kirchenverfassungen, die jedoch allenfalls in Teilen Preußens, -»Bayerns und -»Badens ansatzweise Erfolg hatten. Zum anderen sind die Bestrebungen zur Einführung und Durchsetzung der 1817 beschlossenen Union (-»Unionen, Kirchliche

294

Vormärz

IV) zu nennen. Beide Tendenzen kulminieren zunächst im Agendenstreit (1816/22-1829/ 34) (-» Agende 18.1.), führen schließlich jedoch zur Berliner Generalsynode 1846, auf der unter anderem über eine Verfassung und ein unionistisches Glaubensbekenntnis als Ordinationsformular debattiert wurde, ohne daß es jedoch zu einer Ausführung der Beschlüsse kam. Doch zeigen sich in den vormärzlichen Debatten um Verfassung, Union und Agende die kirchliche Selbstorganisation und die Impulse des gesellschaftlichen Wandels eng miteinander verknüpft. 2.3. Nichtkirchliche

christliche

Bewegungen

Folgenreich für den Protestantismus ist auch die Sammlung nichtkirchlicher Bewegungen zu freien Religionsgesellschaften im Vormärz. 1841 sind - im Geiste des Spätrationalismus und insbesondere als Reaktion auf die zunehmenden konservativen Einflüsse der Erweckungsbewegung - die Lichtfreunde (zunächst als „Verein der Protestantischen Freunde") gegründet. 1845 folgt, auf katholischer Seite, die Sammlung der -»Deutschkatholiken. Beide religiöse Parteibildungen propagieren ein undogmatisches, freisinniges Christentum und richten sich gegen die konservative kirchliche Reaktion, gegen deren Ablehnung von Geist und Zeitalter der Aufklärung (Brederlow). Daß die preußische Regierung mit Amtsenthebungen und Strafverfahren antwortete, löste eine breite Zustimmungsbewegung im städtischen, auch kleinen Bürgertum aus, die 1847 zur Legalisierung des Kirchenaustritts wie auch der Bildung freier Religionsgesellschaften führte. Mit dem Zerbrechen der Einheit von Christlichkeit und kirchlicher Gebundenheit mußte aber umgehend das Landesherrliche -»Kirchenregiment auf dem Spiel stehen. Umstritten ist, ob Lichtfreunde und Deutschkatholiken als Absplitterungen religiöser Gruppen von der Kirche aufzufassen sind - oder ob umgekehrt „die offizielle kirchliche Haltung sowohl auf katholischer wie auf protestantischer Seite beginnt, sich von jener Allgemeinheit des Christentums loszusagen, die sich in der Aufklärung herausgebildet hatte" (Rendtorff 88), mithin die gemeinsame Frontbildung der Kirchen gegen das nichtkirchliche Christentum selbst eine religiöse Parteibildung darstellt.

2.4. Bedeutungskrise

des Christentums

und

Religionskritik

Der Vormärz muß schließlich auch als diejenige Epoche gelten, in der die Tendenzen inner- und außertheologischer Christentums-, Kirchen- und Religionskritik erstmals eine breitenwirksame Basis fanden. Nicht nur religiöse Steigerungen von -»Sturm und Drang sowie Romantik, sondern ganz heterogene und teils diffuse Impulse von goethezeitlicher Kunst- und Bildungsreligiosität, ästhetischer Weiterbildung der kantischen Ethik, Griechenenthusiasmus und Neuhumanismus, Naturfrömmigkeit sowie politischer und nationaler Religiosität atmeten zugleich immer auch den Geist eines vitalistischen Aufstandes gegen das traditionelle, kirchlich geprägte Ethos, dem sich auch die radikalen Formen der Selbstkritik des Christentums etwa David Friedrich Strauß', Bruno Bauers oder Ludwig Feuerbachs verdanken. Die innerchristlich bedeutsamen Folgen liegen vor allem in einer theologischen Abkehr von der -»Metaphysik zugunsten der Wiederentdeckung einer theologischen Anthropologie. Zweifelhaft wird dagegen zunehmend, ob die im Vormärz wurzelnden Phänomene und Deutungen der Krise des Christentums einseitig als Symptome einer Entchristianisierung der Welt verrechnet werden können (-»Säkularisierung). 2.5. Christlich-soziale

und politisch-theologische

Impulse

Die mit dem wirtschaftlichen Wandel einhergehende Verschärfung der sozialen Problematik spielt dem vormärzlichen Protestantismus bald die Soziale Frage als Herausforderung zu. In der Entstehung eines Sozialen Protestantismus (vgl. T R E 27,554,3 f.) wandelt sich die christliche -»Armenfürsorge zur modernen, gleichermaßen christlich wie politisch motivierten -»Diakonie, für die prototypisch etwa J.H. -»Wicherns sozialkonservatives Programm steht. Traditionelle und konservative Elemente verbinden sich in dem Ziel, den Gegensatz von Kirche und Arbeiterschaft auf der Basis praktischer Sozialarbeit zu überwinden.

295

Vormärz

Kaum zu trennen sind solche Impulse von den Programmen eines Politischen Protestantismus (-•Protestantismus), dessen Wurzeln ebenfalls im Vormärz liegen. Diesem Programm zufolge muß die kirchliche und dogmatische Gestalt des Protestantismus in die neue Gestalt seiner politischen Wirkung aufgelöst werden. Leitend ist dabei die Uberzeugung von der universalen Bedeutung des Christentums. So vertritt etwa Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778-1828), Repräsentant einer politisch orientierten liberalen Theologie, den Standpunkt, daß Reformation und Protestantismus nicht der exklusive Besitz der Kirche sind, sondern das innere Prinzip der neuzeitlichen politischen Welt. Der Umstand, daß das Christentum unwiderruflich in sein politisches Zeitalter eingetreten ist, kann allein vom kritischen, kirchen- und konfessionsüberschreitenden Geist des Protestantismus her angemessen gewürdigt und wahrgenommen werden. Die Intention eines solchen Programms bestand also darin, die christentumsdistanten Impulse des aufklärerischen Freiheitspathos in produktive Impulse für ein zeitgemäßes Christentum einzuholen, indem der theologische Gewinn der Reformation nicht eingefroren, sondern in politischen Fortschritt umgeschmiedet wird. D a ß Tzschirner dabei theologischen Rationalismus und -»Liberalismus zur Voraussetzung für eine Vermeidung von Unkirchlichkeit erklärt und für diese ihrerseits das theologisch autoritäre Festhalten am Dogma verantwortlich macht, bestätigt auch auf theologischer Ebene seinen politischen Gegensatz zu Restauration, —»Supranaturalismus und Erweckung (Baumotte, Theologie 90-120). 2.6. Die Entwicklungen

im

Katholizismus

Z w a r bestehen z w i s c h e n Katholizismus u n d Protestantismus im Vormärz einige Verw a n d t s c h a f t e n grundsätzlicher N a t u r . Dazu zählen etwa die Einflüsse der Spätaufklärung oder der Romantik auf Lehre und Leben des Katholizismus insbesondere in Südwestdeutschland und in „einer Art Münchener Spätromantik" (Nipperdey 408); dazu zählen Versuche der Vermittlung zwischen Katholizismus und zeitgenössischen wissenschaftlich-weltanschaulichen Impulsen des Kantianismus und des Hegelianismus oder auch die Vermittlung von Katholizismus und aufkommendem Historismus etwa in der katholischen Tübinger Schule (-»Tübinger Schulen 4.). Auch liegen im Sozialen Katholizismus oder im Politischen Katholizismus Parallelen vor. D i e e n t s c h e i d e n d e Differenz z w i s c h e n v o r m ä r z l i c h e m Katholizismus und Protestant i s m u s liegt jedoch in der unterschiedlichen Stellung z u m Staat. Während die Entstehung des modernen Staates für den vormärzlichen Protestantismus mit einer „Institutionendebatte" verknüpft ist, führt sie den Katholizismus in den Gegensatz zum Staat. D a ihm die in der protestantischen Verbindung mit Landesherrschaft und Territorialstaat traditionell gewachsenen Anknüpfungspunkte fehlten, setzte der Katholizismus stärker auf den Rückzug aus den Wandlungsprozessen von Staat und Gesellschaft (-»Ultramontanismus). Er führt dazu, daß Theologie, Frömmigkeit, kirchliches und monastisches Leben ebenso wie Wissenschaft, Kunst und Bildung sehr umfassend ergriffen werden von einer tiefsitzenden Moderne-Skepsis und Tendenz zur Selbstabschottung, die der Protestantismus hingegen allenfalls als eine unter mehreren verschiedenen Optionen kannte. Katholizismus und Protestantismus teilen im Horizont der sich emanzipierenden Gesellschaftskultur des Vormärz das Interesse an gesamtkultureller Verbindlichkeit der christlichen Tradition. Aber den von der Pluralisierung der Gesellschaft dabei geforderten Preis, die Notwendigkeit einer Einschränkung christlicher Monopolansprüche, zahlte der Katholizismus durch die Hinnahme eines gewissen Isolationismus, der Protestantismus dagegen durch den nicht weniger offensiv in Kauf genommenen Verlust seiner Eindeutigkeit. 3. Kulturgeschichtliche Verflechtungen Gesellschaft und Literatur

des Christentums

mit vormärzlicher

Politik,

D e r neuzeitliche Protestantismus kennt, spätestens seit d e m Vormärz, keine hermetische o d e r auch nur randscharfe innere E n t w i c k l u n g mehr. Es gehört vielmehr zur Signatur des N e u p r o t e s t a n t i s m u s , d a ß seine E n t w i c k l u n g e n in Kirche, R e l i g i o n und T h e o l o g i e m a n n i g f a c h verknüpft sind mit d e n gesellschaftskulturellen T e n d e n z e n seiner G e g e n w a r t . Protestantismus u n d M o d e r n e sind seit u n d in der E p o c h e des Vormärz durch ein mannigfaltiges W e c h s e l w i r k s a m k e i t s g e f ü g e miteinander verschränkt. D i e auf die Realisierung der christlichen Freiheit zielenden Impulse d e s Protestantismus verlang e n nach Kulturgestaltung, h a b e n dort W i r k u n g e n hinterlassen u n d sich in kulturelle Kräfte u m g e f o r m t , die ihrerseits religiöse P o t e n z e n aus sich entließen. U m dieses G e f ü g e sichtbar w e r d e n zu lassen, bedarf es über den t h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h e n Blick hinaus der

Vormärz

296

kulturgeschichtlichen Perspektive. Diese Einsicht selbst hat ihre Wurzeln in der protestantischen Selbstreflexion der Epoche des Vormärz (vgl. TRE 20,192,19-38). 3.1.

Politik

Am augenfälligsten wird die Verschränkung von Christentum und Politik im Vormärz im Hinblick auf die großen politischen und parteibildenden Bewegungen des Vormärz. a) Das gilt zunächst für den Liberalismus. Der politische Liberalismus läßt die Freiheit des Menschen dadurch wirklich werden, daß er die gesetzmäßige Verbindung zwischen den Herkunftsverhältnissen und den Freiheitsrechten kappt. Darin aber machen sich die politisch folgenreichen Wirkungen der Reformation geltend. Der Mensch, der aus der Gnade Gottes seine Freiheit als unverbrüchliches Gut empfängt, ist der Mensch, der über seine natürliche Herkunft hinaus zur Freiheit bestimmt ist. Wenn die Realisierung der Freiheit aber nicht dem Zufall der individuellen Frömmigkeit überlassen bleiben, sondern ein überindividuell verläßliches Strukturmerkmal der Welt des Menschen werden soll, dann muß die individuell gegebene Freiheit zum Prinzip der politischen Verfassung der Welt werden. Das ist der theologische Inhalt des politischen Liberalismus. Er bildet zugleich den Grund dafür, daß die Deutung der Reformation als des zentralen Freiheitsdatums der Geschichte und auch das Verständnis Luthers als des exemplarischen Freiheitshelden (Brandhorst) das Zentralmotiv der politischen Publikationen von Theologen des Vormärz wie etwa H.E.G. Paulus, K.B. -» Hundeshagen, K.G. Bretschneider oder W.M.L. De Wette abgeben kann (Baumotte, Theologie 120—155). Ihr Eintreten für den politischen Liberalismus geht davon aus, daß Reformation und Protestantismus die dann von der Aufklärung durchgeführte Autonomie der politischen Institutionen und deren Emanzipation von kirchlicher Fremdbestimmung vorbereitet haben. Diese Selbständigkeit der Politik von der Kirche bedeutet dabei allerdings gerade nicht deren Lösung von der Religion und von religiös bestimmter Sittlichkeit. Im Gegenteil: Inden die politisch liberal orientierten Theologen die Autonomie des Politischen zu einer zentralen kulturellen Errungenschaft des Protestantismus erklären, betonen sie zugleich, daß die Durchsetzung der politischen Mitbestimmungsforderungen des liberalen Bürgertums nur auf der Grundlage des protestantischen Verständnisses freier Persönlichkeit möglich ist. b) Eine strukturell ähnliche Verschränkung zeigt sich hinsichtlich des politischen Konservativismus. Er ist zum einen eine von protestantischen Theologen getragene Bewegung. F.J. Stahl oder E.W. Hengstenberg etwa gewinnen die politischen Leitwerte des Konservativismus in erster Linie durch die Politisierung dogmatischer Gehalte. So werden etwa die Krisenphänomene der Zeit als Folge eines übersteigerten Autonomiestrebens gedeutet, das die göttliche Schöpfungsordnung pervertiere. Aus dem Herrschaftswillen des Schöpfergottes wird dann die Notwendigkeit einer starken politischen Autorität abgeleitet, die allein die Macht der Sünde zu bändigen und damit Recht und Freiheit zu garantieren vermag. Zum anderen aber geben konservative Rechts- und Staatstheoretiker wie etwa Carl Ludwig von Haller (1768-1854) oder Adam Müller (1779-1829) ihren politischen Argumentationen theologische Fundierungen, indem etwa der Staat als Stiftung Gottes verstanden und nach dem Vorbild des christlichen Ständestaates organisiert wird. c) Auch der Nationalismus gehört in diesen Zusammenhang. „Für den normalen liberalkulturellen Nationalismus der Protestanten des Vormärz ist das Christliche und das Protestantische mit dem Germanen- und Deutschtum wie selbstverständlich verflochten" (Nipperdey 438). Bei Schleiermacher oder Heinrich Steffens (1773-1845) etwa wird der religiös grundierte und politisch liberal imprägnierte Gedanke der Nation in Zusammenhang mit dem Staatsgedanken gebracht: Der Staat wird aus einer legalen zu einer ethischen Größe erst dadurch, daß er nicht allein Institution von Recht und Ordnung, sondern als Nation zur anschaulichen Gemeinschaft wird. In der Umkehrung seiner ursprünglichen Intentionen wird dieser ethiko-theologisch aufgeladene Nationengedanke dann nach 1871 dort rezipiert, wo nicht mehr die Idee der Nation als Folge des protestantischen Prinzips der Reformation verstanden wird, sondern umgekehrt die Reformation zum besonderen Besitz und Grund der Überlegenheit der deutschen Nation umgedeutet wird. Auch für den demokratischen Radikalismus und Frühsozialismus (-»Sozialismus) ist diese Verschränkung von protestantisch-religiösen und politischen Motiven aufgezeigt worden (Nipperdey 388-396). Schon K.B. Hundeshagen bemerkte 1847 (wie vor ihm auch der Kirchenhistoriker Carl Ludwig Gieseler 1837 und nach ihm Karl von Hase 1849) diese für die politischen Parteibildungen signifikante Verschränkung von religiösen und politischen Ursprungsmotiven und analysierte die Wechselwirkungen zwischen der Politisierung des religiösen Bewußtseins und der religiösen Gewandung politischer Überzeugungen bei Zeitgenossen wie D . E Strauß, B. Bauer, L. Feuerbach und Arnold Rüge (Mehlhausen, Theologie und Kirche 69f.75 - 7 9 ) . Obwohl D.F. Strauß 1837 die Schar der auf Hegel sich berufenden

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zeitgenössischen Theologen in Analogie zur Sitzordnung des französischen Parlaments in die drei Fraktionen Rechts, Zentrum und Links einzuordnen vermochte, sind die theologischen Parteirichtungen, das zeigen etwa die Beispiele der politisch fortschrittlichen, theologisch konservativen Theologen Harleß und von H o f m a n n , schon im Vormärz nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den politischen Parteirichtungen. Aber es ist die Entstehung der politischen -»Parteien aufs engste verknüpft mit der inneren Pluralisierung des Protestantismus in theologische Parteien und ihre zentralen publizistischen Organe, indem die theologischen Parteien Vorläufergestalten der politischen Parteien sind. Wie die Wiederentdeckung der Kirche in der Theologie des Vormärz zu einer Wiedererstarkung der kirchlichen Institutionen führt und umgehend auf den modernen Staatsbegriff übertragen wird, so gibt die Bildung theologischer Parteien das Muster ab für die Entstehung der politischen Parteien. Das hat nicht zuletzt zur Folge, daß die politischen Parteien bis auf den heutigen Tag die Spuren ihrer religiösen Herkunftsgeschichte zeigen (Nipperdey 378). 3.2.

Gesellschaft

Das soziale Leben des Vormärz ist in vielfältiger Weise geprägt durch die Entstehung neuer Bewegungen, in denen sich protestantische Ursprünge und Motive tradieren. Dazu zählen zunächst die Burschenschaften, deren erste am 12. Juni 1815 in Jena gegründet wurde und als deren Dachverband die Allgemeine Deutsche Burschenschaft am 18. Oktober 1818 gegründet wurde. In ihnen verbinden sich Ideale der ->Französischen Revolution, romantische Vorstellungen organischer Gemeinschaft und ein rationalistisches Freiheitspathos mit einem liberalen religiösen Geist. Die Burschenschaften blieben vornehmlich auf den protestantischen R a u m beschränkt und müssen als eine der ersten Bewegungen eines politischen Glaubens in Deutschland gelten. Z u nennen ist daneben die Vielzahl der Feste. Inbegriff ist das Wartburgfest am 18./19. Oktober 1817, das als religiös-nationales Fest zugleich der Jubiläen der Reformation wie der Leipziger Völkerschlacht 1813 gedachte und so - in merkwürdiger Verkoppelung von nationalem und protestantischem Geist - die Befreiung des Vaterlandes von äußerer politischer Herrschaft mit der Befreiung des Geistes von äußerlicher, römisch-päpstlicher Kirchlichkeit in Beziehung setzte. Diesem Fest folgen zahlreiche, protestantisch- wie auch katholisch-religiöse und national-kulturelle Motive verschränkende Feste wie etwa die Nürnberger Feier des 300. Todestages von Dürer 1828, die Münchener Polenfeiern 1830, das Hambacher Fest 1832, das Mainzer Gutenbergfest 1840, das Kölner Dombaufest 1842, die Feste der Lichtfreunde in Kothen ab 1842, die Pilgerreisen zur Ausstellung des heiligen Rockes in Trier 1844 einschließlich ihrer deutschkatholischen Gegenfeste ( - • Deutschkatholiken), die überregionalen Sänger- und Turnfeste ab 1846 bis hin zu Versammlungen wie dem ersten deutschen Schriftstellertreffen in Leipzig 1845, dem ersten deutschen Germanistentag in Frankfurt am Main 1846 und den zahlreichen Schriftsteller-Denkmalseinweihungen.

Hinzuweisen ist schließlich auf die Gründung zahlreicher Vereine ab den zwanziger Jahren (—• Vereinswesen/Kirchliche Vereine). In Gesangsvereinen, Griechen- und Polenvereinen, Vaterlandsvereinen, Schützen- und Turnvereinen, Bildungs- und Wohlfahrtsvereinen verbinden sich sozialintegrative, liberal-oppositionelle, nationale und religiöse Impulse. Die für die vormärzliche Gesellschaft kennzeichnenden, sich etwa in Phänomenen wie Burschenschaften, Festen und Vereinen niederschlagenden Verschränkungen von protestantischem Christentum und Gesellschaft werden exemplarisch reflektiert in den theologisch-gesellschaftstheoretischen Debatten um die angemessene Gestalt des Staates als eines christlichen Staates (Rendtorff 95-107). Hier lassen sich mindestens vier Positionen unterscheiden. Erstens ist dies die Konzeption eines christlichen Staates, in dem aus den Prinzipien des christlichen Glaubens die staatsprägenden Ideale von Recht und Freiheit abgeleitet werden, die einerseits zu einem staatlich institutionalisierten Christentum führen und andererseits Rückwirkungen auf die Reform der Kirche durch den Staat haben (Ph.K. Marheineke). Daneben steht zweitens die Konzeption eines christlich-germanischen

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Staates, in der die Artikulation christlicher und kirchlicher Prinzipien auf eine Realisierung des Nationengedankens in der Besonderheit einer christlich-deutschen Staatsform zielt und damit eine Art politischer Orthodoxie repräsentiert, die zugleich dazu dienen soll, die Züge der alten kirchlichen Orthodoxie wieder zu beleben (Ernst Moritz Arndt [1769-1860], Friedrich Ludwig Jahn [1778-1852], Heinrich von Kleist [1777-1811]). Drittens ist zu nennen die Konzeption des Staates als Rechtsstaat, in dem der aus dem Christentum stammende Rechtsgedanke nicht nur ein äußerliches Kennzeichen des Staatswesens ist, sondern zum grundlegenden Prinzip des Staates umgeformt wird. Der Rechtsstaat in diesem Sinne wird damit zu dem das Christentum einschließenden Kulturstaat (R. Rothe). Und schließlich viertens zählt dazu die Konzeption des konfessionellen Staates, in dem der Autoritätsanspruch des Christentums auf den Staat übertragen wird (F.J. Stahl). Der für die Kulturgeschichte des Christentums signifikante Rang der gesellschaftstheoretischen Debatten um den Staat liegt darin, daß der gesellschaftstheoretische Diskurs untergründig geführt wird als ein Diskurs um das Erbe und die Funktion des Christentums in der modernen Gesellschaft. Es ist die Auseinandersetzung darum, ob das Christentum auf die Seite der modernen Kultur gehört oder auf die Seite der Tradition. Der Streit um den christlichen Staat weist dabei auf eine für die Kulturbedeutung des neuzeitlichen protestantischen Christentums wesentliche Dialektik. Einerseits ist diese Gestalt an die Freiheit der subjektiven Spontaneität individueller Aneignung und Überführung in Vernunft und Einsicht gebunden. Andererseits drängt eben diese Freiheit darauf, nicht allein ein arbiträres M o m e n t subjektiver Auffassung zu sein, sondern für die überindividuelle Gültigkeit des Christentums selbst zu stehen und sich also in institutionell zuverlässige Formen überführen zu lassen. Die am Beispiel der vormärzlichen Auseinandersetzung um den christlichen Staat sichtbar werdende Dialektik der Kulturbedeutung des protestantischen Christentums lehrt also, die Dialektik von Freiheit und Institution als Strukturmerkmal der christlichen Welt überhaupt zu begreifen und in jeder Kulturgestaltung sichtbar werden zu lassen. Darum kann es seit dem Vormärz auch nicht mehr darum gehen, in der Kulturgestaltung „eindeutig christliche Verhältnisse zu schaffen im weltanschaulichen Sinn. Vielmehr geht es darum, in der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten jene Dialektik offenzuhalten, die mit dem Fortschritt des Christentums aus seiner allein kirchlichen Gestalt seinen Anfang genommen h a t " (Rendtorff 106).

3.3. Literatur Schließlich zeigt sich auch die vormärzliche Literatur in weiten Teilen als von der Kulturgeschichte des Christentums geprägt. Die Kunsttheorie des Vormärz intendiert die Verbindung von Politik, Wissenschaft, Kunst und Religion und weist den Literaten die Funktion als Nahtstelle dieser Verbindung zu. Sie sollen, nach einem vielzitierten Wort Heinrich Heines, gleichzeitig „Künstler, Tribüne und Apostel" sein (Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, München, I 1968, 57). Die politischgesellschaftlichen Bewegungen des Vormärz und ihre christliche Grundierung finden nun auch in den entsprechenden literarischen Bewegungen ihre Abspiegelung. Das zeigt sich nicht allein in der Aufnahme religiöser Motive in der Lyrik des Vormärz, etwa bei Joseph von Eichendorff (1788-1857), Eduard Mörike (1804-1875) oder Clemens von Brentano (1778-1842). Vielmehr erweisen die Dichtungen etwa Annette von Droste-Hülshoffs (1797-1848), Jeremias Gotthelfs (1797-1854) und Adalbert Stifters (1805-1868) sich als literarische Reflexe des christlich untermauerten Weltbildes des restaurativen Konservativismus. In der sozialen Lyrik Nikolaus Lenaus (1802-1850), Adalbert von Chamissos (1781-1838) und Heinrich Heines (17971856) zeigen sich Spuren der sozialkaritativen Umformung christlicher Grundmotive. Und auch die der Religionskritik verpflichtete Literatur formuliert ihren Widerspruch gegen das Christentum als Erinnerung an dessen Grundmotive, so etwa bei den zum „Jungen Deutschland" zählenden Literaten wie Karl Gutzkow (1811-1878), Heinrich Laube (1806-1884), Ludolf Wienbarg (18021872) und Theodor Mündt (1808—1861). Für die Verbindung von literarischem und christlichem Revolutionspathos schließlich kann an den von Georg Büchner (1813-1837) und dem evangelischen Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837) gemeinsam herausgegebenen Hessischen Landboten erinnert werden, der 1834 in zwei Ausgaben verteilt wurde und das Manifest einer sozialen Revolution darstellte.

4.

Ausblick

Der V o r m ä r z ist die klassische E p o c h e der Inkulturation des protestantischen Christentums. Dies gilt nicht nur, weil protestantisch-religiöse Impulse ihren erheblichen Anteil an der zeittypischen Kultivierung von Innerlichkeit und Überzeugung oder an der geistigen Durchbildung von Individualismus, Historismus und M o d e r n i s m u s haben. Dies gilt auch nicht allein deswegen, weil die politischen und gesellschaftlichen Debatten im Protestantismus stellvertretend für jene Auseinandersetzungen geführt wurden, die seit den Karlsbader Beschlüssen auf dem politischen Feld abgeschnürt waren. Entscheidend ist vielmehr, daß die Kulturbedeutung des Christentums im vormärzlichen Protestantismus erstmals auf breiter Ebene zum Gegenstand theologischer Reflexion wird. Z w a r ist der historischen Reflexion eine solche Kulturbedeutung des Christentums auch für frühere E p o c h e n erschließbar. Aber erst im V o r m ä r z werden zeitgenössische Inkulturationstendenzen des Christentums schon für die Zeitgenossen selbst zum Gegenstand der Reflexion. Deshalb tritt das protestantische Christentum mit dem V o r m ä r z in das Z e i t a l t e r seiner kulturgeschichtlichen Selbstreflexion ein. Dabei sind die religionspolitischen, theologiepolitischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen insofern a u c h mehr als Maskierungen des politischen Streites: sie sind zugleich metatheologische Debatten u m die Kulturbedeutung des Christentums. Eben d a m i t wird der V o r m ä r z zur klassischen E p o c h e des Neuprotestantismus. Näherer Erforschung harrt gegenwärtig vor allem die Frage, mit welchem Recht protestantische Theologen des Vormärz für sich selbst zentrale Funktionen bei der gelehrtenpolitischen Meinungsbildung in Anspruch nehmen (Graf, Vorwort: Profile 39). Kaum erforscht ist auch das Verhältnis zwischen dem zunehmenden Sichtbarwerden theologischer und religiöser konfessioneller Differenzen gerade im Blick auf das Kulturverhältnis der Konfessionen auf der einen Seite, während auf der anderen Seite und zugleich sich Tendenzen zur Okumenisierung und auch Globalisierung der politisierten Theologie dadurch zeigen, daß die theologische und politische Auseinandersetzung in beiden christlichen Konfessionen übernationalen Charakter annahm und etwa der deutsche Protestantismus sich erstmals im größeren Stil mit dem angelsächsischen und nordamerikanischen Protestantismus auseinanderzusetzen begann. Quellen Theodor Echtermeyer/Arnold Rüge, Der Protestantismus u. die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit u. ihre Gegensätze. Ein Manifest: Hallische Jb. f. dt. Wiss. u. Kunst, Halle 1839, Nr. 2 4 5 - 2 5 1 . 2 6 5 - 2 7 1 . 3 0 1 - 3 1 0 , Sp. 1953-1955.1961-2004.2113-2118.2121-2159.2161-2164.2401 - 2 4 0 3 . 2 4 0 9 - 2 4 1 3 . 2 4 1 7 - 2 4 2 0 . 2 4 2 5 - 2 4 2 8 . 2 4 3 3 - 2 4 3 5 . 2 4 4 1 - 2 4 4 4 . 2 4 4 9 - 2 4 8 0 ; Halle 1840, Nr. 5 3 56.63 - 64, Sp. 4 1 7 - 428.433 - 4 4 6 . 4 9 7 - 5 0 2 . 5 0 5 - 512. - Fliegende Blätter, Nr.493, 21. Bd., 2. Halbbd., München 1854. - Hl.-Rock-Album. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Aktenstücke, Briefe, Adressen, Ber. u. Zeitungsart. über die Ausstellung des hl. Rockes in Trier, Leipzig o.J. [1844], - Lehrerstimmen aus Hessen, Fritzlar Oktober 1848 - März 1849; Witzenhausen 1 8 4 8 - 1 8 4 9 . - Karl Schwarz, Zur Gesch. der neuesten Theol., Leipzig 1 _ 1 1 8 5 6 . - David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, krit. bearb., Tübingen 1835. - Carl Ullmann, Theol., Theologen u. Geistliche zu dieser Zeit. Vorw. zum Jahrgange 1849: ThStKr 22 (1849), H. 1 , 3 - 2 7 . - Hermann Theodor Wangemann, Sieben Bücher preußischer KG. Eine aktenmäßige Darst. des Kampfes um die luth. Kirche im X I X . Jh., 3 Bde., Berlin 1 8 5 9 - 1 8 6 1 . Literatur Uwe Backes, Liberalismus u. Demokratie - Antinomie u. Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Düsseldorf 2000 (Beitr. zur Gesch. des Parlamentarismus u. der politischen Parteien 120). - Ernst Barnikol, Das entdeckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion u. Christentum u. Erstausgabe seiner Kampfschrift (1927), 2., wesentlich erw. Aufl. hg. v. Ralf Ott, Aalen 1989. - Manfred Baumotte, Der politische Begriff des neuzeitlichen Christentums. Ein hist.-syst. Beitr. zum Problem einer „politischen Theol.": Z E E 14 (1970) 3 2 1 - 3 4 2 . - Ders., Friedrich Julius Stahls u. Richard Rothes Version des „christl. Staates": Die Freiheit planen. Christi. Glaube u. demokratisches Bewußtsein. Beitr. aus dem Institut f. Christi. Gesellschaftswiss. Münster, hg. v. Wolf-Dieter Marsch, Göttingen 1971, 1 7 3 - 1 8 8 . - Ders., Theol. als politische Aufklärung. Stud. zur neuzeitlichen Kategorie des Christentums, 1973 (SEE 12). Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland

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Vormärz

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Christian Albrecht

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Vorsehung I

Vorsehung I. Systematisch-theologisch II. Judentum

S.324

I. Systematisch-theologisch 1. Das Zuordnungsproblem von antiker und biblischer Tradition 2. Christliche Philosophie und dogmatische Tradition 3. Religionsphilosophische Modelle 4. Gottes Handeln/De Providentia: Schöpfung, Versöhnung, Geistesgegenwart (Literatur S. 321)

1. Das Zuordnungsproblem

von antiker und biblischer Tradition

Vorsehung (griech. npövoia; lat. Providentia; frühneuhochdt. vorsehen/versehen-, besorgen, bestimmen, anordnen) ist bereits im 5. Jh. v. Chr. belegt bei Herodot: Die Weisheit in der Anordnung der Natur besteht gemäß „göttlicher Vorsehung" (xov Oeioo f\ Jipovoir/; Hdt. 111,108,2). Die theologische Konsequenz des Begriffs entwickelt sich über die monotheistischen Tendenzen der vorsokratischen Philosophien (-»Vorsokratik) und wird konzeptionell durchgesetzt in der Auffassung von -»Natur und -»-Gott in der -•Stoa. Aus der kritischen Distanz zur polytheistischen Volksfrömmigkeit folgt für Xenophanes v. Kolophon (6./5. Jh. v. Chr.; vgl. FVS B23 -26), daß über der wechselhaften, kulturell erklärbaren Vielfalt von Göttern ein „einziger Gott" zu denken sei, dessen Wahrnehmen, Denken und Handeln als ein Ganzes, Unwandelbares und Allumfassendes vorgestellt werden müsse. Anaxagoras (5. Jh. v. Chr.; vgl. FVS A47; vgl. -»Plato, Phd. 97b/c) bezeichnet das verursachende Ordnungsprinzip des Kosmos als Geist (vovg), und der philosophisch geläuterte Schöpfungsmythos in Piatos Timaios (30b/c) will zeigen, daß die göttliche -» Vernunft, wirksam in der Erschaffung und Durchdringung von Seele und Körper, als „Gottes Fürsorge" (npövoia) für alle Dinge aufzufassen ist. Weil den Göttern nichts verborgen bleiben kann, gilt ihr Wissen wie ihre „Fürsorge" (eniptikeia; vgl. Piatos Notnoi [900 d; im Kontext von 899d-903b]) den allerkleinsten wie den größten Dingen. Dieser Kosmos- und Lebenszusammenhang ist es schließlich, der für die hellenistischen Philosophien im Anschluß an Epikur (341-271 v. Chr.) und die Stoiker (-•Hellenismus) darüber belehrt, wie die Dinge in Wahrheit sind und wie zu leben sei. Während bei Epikur der Atomismus seiner Physik übergreifenden Kontinuitäten im Wege steht und zu Spontaneität und Zufall (ti>XV) tendiert, will die stoische Kosmoslehre sowohl theologisch wie physikalisch die durchgängige Wirkung des Logos in der schicksalhaften Naturkausalität {eifiapßievr]) nachweisen: Die Zweckmäßigkeit und Schönheit der Welt zeigt in allem die göttliche „Fürsorge", und entsprechendes menschliches Verhalten kann im Einstimmen auf diese Güte der Dinge zur inneren Ruhe finden (s. Pohlenz 93-101; Weinkauf 54ff.l21ff.; vgl. Benjamins 9-49; Bergjan 9ff.333ff.). Der späte römische Stoiker Seneca (1.Jh. n.Chr.) findet in der Selbsttötung (-»Suizid) den höchsten Ausdruck solcher ethisch-kosmischen Überlegenheit und sieht sich darin von der göttlichen Providentia geführt. Innere Freiheit und ruhige Einsicht bezeichnen den Ort der Einstimmung in die göttliche, schicksalsfeste Ordnung: „Zu nichts werde ich gezwungen, nichts ertrage ich unwillig und bin nicht Gottes Sklave, sondern ich stimme ihm zu, und zwar um so mehr, als ich weiß, daß alles nach einem bestimmten und auf ewig festgelegten Gesetz abläuft" (omnia certa et in aeternum dicta lege decurrere, de prov. 5,6). Das ewige Gesetz bindet auch die Götter (ebd. 5,8), schließt Zufall aus (ebd. 1,2), und allein der vorbildliche Mensch in der Nähe des -»Todes (ebd. 6,9: in proximo mors est) gewinnt Souveränität im Distanzieren des -»Leidens - weil er dies vermag. Während Gott außerhalb des Leidens steht, muß der Mensch, um sich zu gewinnen, nur den kurzen Todesaugenblick in innerer Stärke und Entschlossenheit überwinden. „Das ist es, wodurch ihr Gott übertrefft" (Hoc est quo deum antecedatis, ebd. 6,6).

Der Problembestand der Vorsehungslehre liegt damit vor Augen: 1) Wie begründet sich menschliche -»Freiheit in kosmo-theologischer Nezessität? 2) Verträgt sich die ewige Notwendigkeit mit der Souveränität Gottes? 3) Ist der freiwillig-entschlossene Mensch im Leiden und im Tode auf paradoxe Weise freier als Gott selbst?

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In der biblischen Überlieferung ist es die Weisheitsliteratur (->Weisheit/Weisheitsliteratur) des Alten Testaments, die die Verbindung zur antiken Vorsehungstradition herstellt: „Das Fahrzeug hat der Erwerbstrieb ersonnen und die Weisheit eines Künstlers hergestellt. Deine Vorsehung [npövoia], Vater, steuert es; denn du hast auch im Meer einen Weg gebahnt und in den Wogen einen sicheren Pfad" (Weish. 14,2f.; vgl. 6,7; 17,2). Das hebräische p'qudä in Hi 10,12 (LXX: ImaKonrj) appelliert an Gottes „Fürsorge"/„Obhut" für die natürlichen wie die spezifisch humanen Lebensbedingungen, gewinnt aber in der Klage Hiobs einen distanzierten Zug durch die Differenz von guter Vergangenheit und Leiden der Gegenwart: „Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut [p'qudä] schützte meinen Geist" (vgl. Egger-Wenzel 253f.258ff.). Die Nähe zur Vorstellung einer göttlichen Vorsehung in Natur und Geschichte ist deutlich, auch durchgängig im Alten Testament belegt (vgl. Fohrer 217) und reicht bis in die individuelle Berufung vom „Mutterleib" an (Jes 49,1.5; Jer 1,5; vgl. Gal 1,15). Gott der Schöpfer steht zu seiner Schöpfung wie der Töpfer zum Ton bzw. zum geschaffenen Topf (Jes 29,16; Jer 18,6; Rom 9,21), er regiert seine Welt wie ein König (Ps 47,8a: „Denn Gott ist König der ganzen Erde."), er ist unumschränkter Herr des Kosmos wie der Lebenswelt (Jes 45,7: „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt."), und das gilt auch für die Zukunft (Jes 44,7b) und alle einzelnen Ereignisse (Ps 145,15ff.; 147,8f.; vgl. Mt 5,45; 6,26; 10,29-31). Doch es sind nicht nur diese expliziten Aussagen zu Schöpfung, Königsherrschaft und kosmischgeschichtlichem Gotteshandeln, die den griechisch-hellenistischen Begriff der Vorsehung nahelegen, sondern es ist auch die besondere biblisch-heilsgeschichtliche Gottesrelation selbst, die sich durch überraschendes Eingreifen (Gen 22,8), über die Vätergeschichten (Joseph! vgl. Gen 45,5; 50,20), den Exodus (vgl. Geburt und Berufung des Mose in Ex 2f.), die kontrafaktische Bundestreue (vgl. Ex 32,13f.), die prophetisch-autoritative Kritik in der Königszeit (vgl. Am 3,6f.), die nachexilischen Heilserwartungen (vgl. Jes 46,10) und daran anschließend die neutestamentliche Gottesnähe in -•Jesus Christus als providentielles Handeln ausweist - auch dann, wenn zumal im Neuen Testament ein spezifisch geprägter Begriff für „Vorsehung" fehlt und auch die Lexeme npövoia bzw. npove.lv nur in nicht-theologischem Sinne vorkommen (vgl. Act 24,2; Rom 12,17; 13,14; II Kor 8,21; I Tim 5,8; anders dann in I Clem 24,5: „die machtvolle Fürsorge [npövoia] des Herrn" wird sichtbar im Wachsen der Saat als natürlichem Bild der -»Auferstehung; vgl. zur „-»Natürlichen Theologie" im frühen Christentum -»Bultmann 74f.). Es ist also der göttliche Ratschluß (so M. -»Luthers Ubersetzung in Jes 25,1; vgl. Act 2,23; 4,28; vgl. Jes 14,26; 37,26b: „Schon vor langer Zeit habe ich es so gefügt, seit den Tagen der Vorzeit, habe ich es so geplant..."), der in allen seinen Dimensionen im Neuen Testament als selbstverständlich vorausgesetzt bleibt: Gott handelt schöpferisch, planvoll und in letztlich heilsamer Treue zu seinem -»Bund, und dieser betrifft den gesamten Kosmos, die Geschichte seines Volkes im Blick auf die Weltgeschichte und zuletzt jedes einzelne Leben.

Wird der Begriff der Vorsehung in diesem Sinne auf die gesamtbiblische Präsentation des Gotteshandelns angewandt (Sanders 3 9 - 1 3 9 ; Bernhardt, Handeln 41ff.; vgl. White 2 2 - 5 5 ) , so stellen sich die drei Grundfragen, wie sie bereits im Anschluß an die stoische Konzeption formuliert wurden, in veränderter, christlich vertiefter Weise (s.u. die entsprechende Gliederung von 2.): 1) Die kosmische Nezessität ist durch die Relation von Schöpfer und Geschaffenem in doppelter Weise problematisch geworden: a) Göttliche Kreativität ex ttihilo ist bedingungslos, nicht (auch nicht schicksalhaft) ausrechenbar und gibt allen weiteren natürlichen wie geschichtlichen Ereignissen den Freiraum des Neuen; b) die Naturgeschichte in der Fortsetzung ihres Geschaffenseins muß die Absicht ihres Schöpfers in irgendeiner (geordneten) Weise erkennen lassen - und zwar als Freiheit und Ordnung zugleich. 2) Die Vorstellung der Souveränität Gottes gerät damit auf den ersten Blick in eine unlösbare Aporie: a) Entweder sind die naturgeschichtlichen Prozesse vorweg gewußt und bestimmt, d.h. vorausgesehen (anders wären diese Prozesse als autonom anzusehen, Gott also nicht mehr souverän); b) oder der naturgeschichtlich einzuräumende Freiraum des einzelnen Geschehens relativiert die Vorsehung derart, daß ihre Erkennbarkeit im Weltprozeß auf dem Spiel steht. 3) Im Tode erst - paradox - mit Gott übereinzustimmen provoziert jetzt die dreifache Rückfrage: a) Hat Gott „etwa Gefallen am Tod des Schuldigen" (Ez 18,23), d.h. ist der menschliche Tod grundsätzlich Anlaß zur Kritik an Gottes Vorsehung?, oder kommt b) Gottes Vorsehung erst dadurch ins Ziel, daß er den kreatürlichen und Leid einschließenden Tod in seiner kosmischen

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Vorsehung I

Macht — menschlich unerklärlich - umfaßt (Hi 38)? c) Ist die schöpferische Fürsorge Gottes, wie in Mt 6,26 und 10,29 ausgedrückt, erst dann konsequent, wenn der Tod Jesu erfaßt wird als -»Versöhnung (II Kor 5,19)? Der antik-philosophische Begriff der Vorsehung gewinnt über die biblische Tradition einen problematischen, durch die heilsgeschichtliche Perspektive von Schöpfung und Versöhnung allerdings auch vertieften Sinn, der Gottes verborgenes Handeln zugunsten der Menschen einschließt - und zwar so konsequent, daß das Todesschicksal in gewisser Weise, nämlich in der Passion des Gottessohnes, Gottes Teil wird. Daß absolut nichts mehr „uns scheiden [kann] von der Liebe Gottes" (Rom 8,38), gilt deshalb, weil Gottes Vorsehung um die Dramatik des versöhnenden Gottestodes in Jesus Christus erweitert ist: „Denn aus ihm [sc. Gott] und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung" (Rom 11,36; vgl. Pesch, Überlegungen 79; Helm 19ff.). Zu den schon genannten drei Problemaspekten der Vorsehungslehre kommt damit noch ein methodisches Problemfeld hinzu: Wie kann der Sinn des Begriffs Vorsehung aus den Texten bzw. seiner Denktradition erhoben werden, so daß zugleich Kriterien für die Angemessenheit und Wahrheit seiner Bedeutung zur Verfügung stehen? Hbrzu sind drei Erkenntniswege denkbar (s.u. die entsprechende Gliederung von 3.), die jeweils mit sachlichen Vorentscheidungen verbunden sind: Der analytisch-semantische (3.1.), der versuchen muß, die Problemaspekte der Vorsehung in einen konsistenten Begriff zu fassen, wobei die einzelnen Implikationen der biblischen Stoffe im Konfliktfall an die zweite Stelle rücken; der existentiell-anthropologische (3.2.), der dem biblischen Zeugnis in jeweils zeitgemäßer Erfahrung des Denkens und eigenen Lebens entsprechen will und eben diese Entsprechung konsequent auch begrifflich darzustellen versucht; schließlich der Weg (3.3.), der die beiden vorangehenden dadurch verbindet, daß die Welttranszendenz Gottes mit der heilsgeschichtlichen Konkretion des —• Glaubens wieder kosmologisch-realistisch zu bestimmen versucht wird. Anstelle bloßer Begriffstraditionen und religiöser Begründungsdefizite könnte es dann wieder zur aufbauenden Integration von Denken und Erfahren Gottes in der Frage der Vorsehung kommen, zur lebensweltlichen wie religiösen Plausibilität des Begriffs. 2. Christliche Philosophie und dogmatische

Tradition

2.1. Kosmische Nezessität, Schöpfung und Freiheit 2.1.1. Unter den Theologen der Alten Kirche (—»Patristik) ist es exemplarisch —»Origenes, der den Gedanken der Einheit und der planvollen Zielbestimmung der Welt festhalten will: Die Welt ist von Gott erschaffen, hat deshalb Anfang und Ende, folglich gilt die Providentia divina für die Zwischenzeit (princ. 11,1,1). Das Zusammenwirken (unum consensum) alles Geschaffenen zur „einen" Welt (unum mundum) und ihrem Ziel der Vollendung (unus perfectionis finis) geschieht kraft göttlicher „unaussprechlicher" Planung durch sein Wort und seine Weisheit {per ineffabilem verbi sui ac sapientiae rationem) - doch nicht „gegen die Freiheit des Willens mit Gewalt" (princ. 11,1,2)! Die Freiheit des -»Willens (liberi facultas arbitrii) zu bestreiten oder zu bekämpfen würde gerade den Weg zur Vollkommenheit, zur „Harmonie" (unius mundi consonantiai stören. Diese vom göttlichen Geist durchwirkte Welt und ihre Entwicklung zu Gott hin sieht Origenes im biblischen Zeugnis bestätigt (princ. II,l,2f.; vgl. 11,11,5). Diese Verteidigung der Freiheit richtet sich nicht nur gegen die aus heidnischer Philosophie stammenden Antriebsmächte des „Zufalls" und des „Schicksals" (vel fortuitis motibus vel fatali necessitate agi omnia; ebd. 111,5,5), sondern sieht Freiheit als eine notwendige Bedingung dafür, daß die Menschen der im Weltprozeß erzieherisch wirksamen Verheißung Gottes folgen können (vgl. princ. 111,1,6; Mi 6,8). Daß die Bibel zugleich das Scheitern, das Verstocktsein und die -»Sünde als Hindernis erfolgreicher Ausüburg der Willensfreiheit kennt, diskutiert Origenes erst recht im Blick auf Gottes Vorsehun», die der menschlichen, vernünftigen Seele ewigen Raum zur Heilung gibt (ebd. 111,1,13'. Die

Vorsehung I

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Darstellung des christlichen Lebens hebt hervor, daß der „Beitrag der Vorsehung" (npövoia) „unendlich viel größer ist" als der Anteil der menschlich freien Entscheidung; so wie die Heimkehr eines Schiffes zwar auch der Kunst des Steuermanns, aber letztendlich doch eine Fülle anderer dazu notwendiger Bedingungen der Natur zu danken ist (ebd. 111,1,19). Die divitia Providentia begleitet den „Wettkampf des menschlichen Lebens", gleicht aus, führt, und gibt zu allem Freiheit - weil Gott der „Menschen Herz" kennt (Lk 16,15; princ. 111,2,3; vgl. bes. Benjamins 5 0 - 1 2 1 ) . Menschliche Freiheit also ist mit Gottes Vorsehung nicht nur vereinbar, sondern für den Welt- und Verheißungsprozeß geradezu notwendig. 2.1.2. Wie Origenes kann Augustin weder den (unvernünftigen) Zufall noch das (naturnotwendige) Schicksal als die entscheidenden Wirkursachen (causa ... nec fortuita est nec fatalis) der Weltgeschichte zulassen kann (civ. V,l). Die „wahre Religion" muß in der Frage der divina Providentia vielmehr auf den Willen Gottes und der Menschen zurückgehen (ebd.). Im Unterschied zu Origenes ist die Erschaffung der Welt nicht als Verwandlung präexistenter in leibgebundene Geistwesen vorgestellt, sondern als Gottes Schöpfungsakt de nihilo, so daß dem Geschaffenen, weil aus Nichts hervorgegangen, nicht göttliche Qualität, d.h. Unwandelbarkeit des Guten (inmutabile bonum non esse nisi unum verum beatum deum), eignet, sondern Wandelbarkeit (mutabilia). Die Zuordnung des Geschaffenen zum Guten, zum Gelingen oder Mißlingen, entscheidet sich dann erst im Bereich des Willens (civ. XII,1). Damit ist deutlich, daß Origenes' ethische Orientierung an der Willensfreiheit als Rückkehr- und Erziehungsmöglichkeit im Gottesverhältnis als zu optimistisch überholt wird. Der begriffliche Widerspruch zwischen Vorwegbestimmtheit und Freiheit ist auf neue Weise ernst genommen und in eine Theorie des Gegensatzes von gutem oder bösem Willen transponiert (civ. V,9; vgl. Parma 38ff.). Mit dem Gedanken der Schöpfung ex nihilo verbindet Augustin die kategoriale Differenz von göttlichem und geschaffenem Willen. Für Menschen geht das Wollen dem einzelnen Akt schon voraus (civ. V,10): „Denn wenn wir wollen, ist es schon da, wenn wir nicht wollen, ist es nicht da" (nam si volumus, est, si nolumus, non est). Da das Wollensvermögen im ganzen aber auf Gott (potestas Dei) zurückgeführt werden muß, während die Entscheidung zum Guten oder zum Bösen auf der Ebene der menschlichen Willensfreiheit liegt (auch wenn Gott systemkonsequent das Ergebnis voraus weiß) — entsteht ein neuer Situationskonflikt, wenn aus der Entscheidungslage und der (existentiellen) Perspektive des Menschen heraus gedacht wird. Augustin aber hat noch nicht dieses Folgeproblem vor Augen, sondern er ordnet den geschaffenen Kosmos in allen seinen Teilen der einheitlichen göttlichen Providenz zu (civ. V , l l ) . Allerdings hat der geradezu hymnische Lobpreis von Gottes Vorsehung zwei ebenso problematische wie folgenreiche Implikationen: a) Mit der platonischen Philosophie denkt Augustin Gott als unwandelbare (incommutabilitas) höchste Realität (civ. VIII,6), den Schöpfungsakt folglich ex nihilo, d.h. absolut bedingungslos in ontologischer Vorordnung zu allem anderen (Geschaffenen), am besten ausgedrückt in der Gottespräsentation von Ex 3,14: ego sunt qui sum (civ. VIII,11); und diese göttliche Unwandelbarkeit ist nicht raumzeitlich bestimmbar, sondern hat alle raumzeitlichen Unterscheidungen in ewigem Zugleich vor sich, ein „gänzlich unwandelbares Schauen ... erfaßt es alles in ruhender und ewiger Gegenwart" (omnino incommutabiliter videt... ipse vero baec omnia stabili ac sempiterna praesentia conprehendat; ebd. XI,21). Dieses totum simul (vgl. Neville, Eternity 128) erscheint aller realen Zeit gegenüber fremd. Weil diese göttliche Vorsehung über alles Geschaffene in ursprünglicher Verursachung vorherwissend bestimmt, gilt dies konsequent auch — und das ist b) die zweite Implikation - in soteriologischer Anwendung: Die von Augustin weltgeschichtlich gezogene Differenz derer, „die nach dem Menschen, und derer, die nach Gott leben" — typologisch die Menschheit nach Kain und die Menschheit nach Abel (mit I Kor 15,46ff.) im Gegenüber von Irdischem und Himmlischem - , muß als von Gott genau so vorherbestimmt gelten (civ. XV,1).

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Vorsehung I

Der Gedanke des Schöpfungsaktes aus der unwandelbaren höchsten Realität ex ttihilo läßt zwar unbedingte Vorsehung (Providentia und praescienta) mit menschlicher (relativer) Willensfreiheit kosmisch zusammenbestehen, hat jedoch die theologische Konsequenz der absoluten Zeitlosigkeit Gottes und die soteriologische Konsequenz der doppelten -»Prädestination. 2.1.3. Die Lehre von Gottes Vorsehung steht im thomanischen System (-»Thomas von Aquino) im Rahmen der Bestimmungen Gottes (S.th. I q. 22—24). Sie stützt sich auf den Gedanken einer von der Schöpfung her allem Geschaffenen eigenen —»Teleologie, den ftnis ultimus (S.th. I—II q. 1 - 8 ) , der wiederum Gottes Liebe und Gnade für alle Kreatürlichkeit zugleich ist: das bonum aeternum - Gott selbst (S.th. I—II q. 110, a. 1 c; vgl. Jorissen 9 6 - 9 8 ; Ratschow, Heilshandeln 190f.). Thomas definiert Gottes Vorsehung als ratio ordinis rerum in finern, sofern diese in mente divina praeexistat (S.th. I q. 22, a.l c). Dieses „Sinn-Ziel" oder diese „real-ontologische Ausrichtung" (Jorissen 98f.), die der Begriff der Vorsehung in aristotelischer Denktradition zum Ausdruck bringt (-» Aristoteles/Aristotelismus), hat neben jener ersten „ewigen" Bedeutung in Gott selbst auch eine zweite „zeitliche", sofern Gott die Ordnungsstruktur der Zielorientiertheit auch ausführt: diese executio ordinis nennt Thomas gubernatio (S.th. I q. 22, a. 1 ad 2). Das letzte Ziel von allem Geschaffenen ist identisch mit seinem kreativen Grund, so daß die göttliche Zielvollkommenheit als das Prinzip des Ganzen angesprochen und erkannt werden kann (S.th. I—II q. 2, a. 5 ad 3: ultimus finis est primum principium essendi, in quo est omnis essendi perfectio). Thomas besteht wie Augustin darauf, daß Gottes Vorsehung sich ausnahmslos auf alles bezieht und als Verursachung zu erfassen ist (S.th. I q. 22, a. 2). Weil ihm aber eine rationale Seinsstruktur, zu der es keine Alternativen gibt, vor Augen steht, ist der Weltprozeß als Bewegung und Zielgerichtetheit auch und gerade der wissenschaftlichen Reflexion als Realisierung der Vorsehung offen. Das gilt auch dann, wenn für Thomas diese rationale Seinsstruktur unter theologischen Prämissen steht (des übernatürlich motivierten Gottesglaubens, vgl. Pesch, Theologie 844f.; ders., Überlegungen 75 [zu S.th. II-II, q. 1, a. 7 c.]). Die Finalität des Weltprozesses ist über den Bewegungsbegriff sinnfällig und erkennbar, wie die Gottesbeweise zeigen (S.th. I, q. 2, a. 3; vgl. Plathow 27). Gerade weil Gottes Vorsehung auch das Böse (S.th. I q. 22, a. 2 ad 2), das Kontingente (S.th. I q. 22, a. 4), die Willensfreiheit (CG 111,73), die vermittelnden weltlichen Zweitursachen (S.th. I q. 22, a. 3; CG 111,70) nicht ausschließt, sondern integriert, macht sich die rationale Seinsstruktur um so mehr erkennbar, je näher sie Gottes Plan kommt - dann haben die Dinge „an der Ähnlichkeit mit ihm teil" {de similitudine ipsius participant, CG 111,72). Die divina Providentia ist nicht mehr ohne (wissenschaftlich gesicherten) Entwicklungszusammenhang als die Ordnung von Natur und Geschichte (-»Naturphilosophie 3.; -»Geschichte/Geschichtsschreibung/ Geschichtsphilosophie X.2.2) denkbar. Damit repräsentiert die thomanische Vorsehungslehre nicht nur das klassisch-scholastische Vermittlungsmodell, sondern sie wird auch musterbildend für einen Natur- und Wissenschaftsbegriff, der dem metaphysischen wie theologischen Zusammenhang zugeordnet werden muß - und umgekehrt. Dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis wird im scholastischen Integrationsmodell aus der vorwissenschaftlichen (religiösen) -»Erfahrung ins wissenschaftliche Bewußtsein gehoben, und diese Problemlage bleibt gerade auch dann von Gewicht, wenn die moderne Naturwissenschaft die aristotelischen Voraussetzungen des antik-mittelalterlichen Naturbegriffs aufgibt. Gott schafft alle Dinge und bestimmt durch Verursachungsketten über ihren bewegten, zielbestimmten, prozeßhaften Zusammenhang. Deswegen „wird auch die Schönheit der Ordnung unter den geschaffenen Dingen einsichtig" (etiam decor ordinis in rebus creatis apparet, CG 111,70).

Vorsehung I 2.2. Gottes

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Souveränität

Der Widerspruch der reformatorischen Theologie gegen die scholastische Integration von Natur und Gnade war zu Beginn des 16. Jh. nicht in einer veränderten Naturanschauung begründet, sondern folgte allein aus der Kontroverse um die Soteriologie (-•Luther; —»Calvin). Allerdings entwickelte sich daraus - bedingt durch das spätmittelalterlich-nominalistische Denken (—»Nominalismus) - ein Eigengewicht existentieller Gewißheits- und Realitätserfahrung, die sich nicht mehr von kosmologisch- oder gesamtgeschichtlich-rationalen Ordnungsstrukturen getragen und gesichert fühlt. Die mit der rettenden Glaubensgewißheit verkoppelte Ganzheit der göttlichen Gnade korrespondiert auf der menschlichen Seite mit der Ganzheit der Sünde. Wenn jedoch in soteriologischer Hinsicht keine Zwischenbestimmungen zulässig sind, so gilt dies auch in kosmologischer Hinsicht. Luther hat vor allem in der Schrift gegen -»Erasmus von Rotterdam, De servo arbitrio/Daß der freie Wille nichts sei (1525), diese Dimensionen seiner Theologie explizit gemacht und bewußt bis in die Aporien der Vorsehungslehre geführt (vgl. Wenz; Bernhardt, Handeln 6 1 - 8 6 ; Beiner). 2.2.1. Gottes Unveränderlichkeit. Im Gegenzug zu Erasmus' Verteidigung der Willensfreiheit macht Luther von Beginn an klar, daß es für Christen von höchstem (soteriologischen) Interesse ist zu wissen, „daß Gott nicht so versieht, daß dem Zufall freies Spiel gelassen wird, sondern alles mit unveränderlichem, ewigen und unfehlbaren Willen versieht" (dt. nach Luther, Wille [1975]; vgl. WA 18,615; StA III, 190,22f.: Deus nihil praescit contingenter, sed quod omnia incommutabili [et] aeterna, infallibiliq[ue] voluntate [et] praeuidet). Diese These ist nicht neu, sie ist für Luther aber primär und entscheidend im Heilswillen Gottes und um dessen Klarheit willen motiviert - und in nichts anderem. Deshalb die radikalen Konsequenzen: Einen freien Willen des (sündigen) Menschen kann es demgegenüber nicht geben (StA III, 190,24), ebensowenig abgestufte Notwendigkeiten (necessitas consequentiae/consequentis, vgl. WA 18,616.715.719.722; StA III, 191,20f.; 283,llf.; 287,20; 290,22; vgl. McSorley 147.285ff.) und damit keinen Zufall. Denn dieser stünde gegen die unbedingte Gewißheit in der Gottesrelation des Glaubens (StA III, 193,19: certus [et] securus-, 193,37: certitudines conscientiae). Die kosmologischen Implikationen für das Verhältnis von Determinismus und -»Kontingenz bzw. Willensfreiheit rücken damit an die zweite Stelle; hier allerdings lehnt Luther durchweg die deterministische Notwendigkeit (coactio, vgl. WA 18,634.693.747; StA III, 207,10; 261,23; 315,22) ab - zugunsten der (göttlichen) „Notwendigkeit der Unveränderlichkeit" (necessitas immutabilitatis, vgl. WA 18,634.693.720.727.747; StA III, 207,18; 261,24; 289,4; 296,5; 315,5.22). Diese ist als Gottes unwiderrufliche Allmacht, Kreativität und Wirksamkeit zu verstehen, der gegenüber es keinen Widerstand geben kann. So handelt Gott in allem (WA 1 8 , 7 0 9 - 7 1 1 ) - auch (indirekt) im Bösen, in der Verstockung, im Zwang zum Wollen (des Menschen). Das bekannte Bild vom Lasttier (dem abhängigen Willen des Menschen: humana voluntas, vgl. W A 18,635; StA III, 2 0 8 , 2 - 7 ; vgl. McSorley 309ff.), das will, was sein Reiter will: Gott oder Satan, wird kosmologisch erweitert durch das Bild vom defekten Reittier („nur auf zwei oder drei Füßen", W A 18,709; StA III, 278,13ff.), das von Gottes Handlungsallwirksamkeit immer geritten wird - auch dann, wenn der böse Wille Gott gerade nicht entsprechen will. Gottes Allmacht ist alles umfassendes Wirken aufgrund seines Willens (vgl. Bauke-Ruegg 496f.). Der in seiner Allwirksamkeit schöpferische Gott ist nicht „schnarchend", sondern eine „fortreißende" Bewegung (WA 18,747; StA III, 315,23 ff.).

Die Negation des freien Willens hat ihren Hauptgrund in dieser vorrangigen göttlichen Kreativität, der Menschen nie zuvorkommen können (WA 18,754; StA III, 3 2 3 , 3 9), und deshalb muß „alles auf Gott zurückgeführt" werden (WA 18,755; StA III, 325,5f.). Die menschliche cooperatio mit Gott kann aus demselben Grund nur in dieser vorausgehenden Kreativität fundiert sein, dann aber handelt es sich um den neuen Menschen in der „neuen Schöpfung des Reiches des Geistes" (WA 18,754; StA III, 323,10f.). Der lehrgeschichtliche Gegensatz zwischen altem und neuem Menschen, Unglaube und

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Glaube bezieht sich auf die menschlichen Intentionsbestimmungen, die dann gelingen, wenn sie im kreativ-kooperativen Geist Gottes, d.h. im Glauben leben: „Danack ist der Unglaube nicht ein grober Affekt, sondern jener in der Burg des Willens und der Vernunft als Oberster Sitzender und Regierender, sowie dessen Gegenteil, nämlich der Glaube" (WA 18,780; StA III, 348,8ff.: Deinde incredulitas noti est crassus affectus sed summus ille in uoluntatis [et] rationis arce sedens [et] regnans, sicut eius contra-ius, nempe, fides). Gottes Vorsehung wirkt so, daß der Glaube sich auf sie verlassen kinn, weil er selbst und allein eben als Glaube — auch in einer „chaotischen Welt" - mit Gott kreativ-kooperativ zusammengeht (vgl. Bauke-Ruegg 503); und umgekehrt ist Gott dadurch „Herr der Kontingenz" (R. Bernhardt, Handeln 78; zum Verhältnis von Luthers Zwei-Regimenten-Lehre [-»Zweireichelehre] und Anfechtungstheologie Schulz, Idintität 2 4 - 3 4 ) . Luthers Providentia-Lehre integriert den Glauben in eine sonst sinrlose Welt; dies gelingt, weil Gott in ihr und in allem souverän, unveränderlich und kreativ am Werk ist. Gegen Luthers Insistieren auf der göttlichen Souveränität als necessitas immu'.abilitatis ist kritisch eingewandt worden, daß hier (wie entsprechend bei -»Calvin und —•Zwingli) der soteriologisch zwingend erscheinende Antipelagianismus (-»Pelagius/ Pelagianischer Streit) in problematischer Weise auf die Vorsehungslehre ausgedehnt werde (Bernhardt, Handeln 112; Leppin). Das Voraussehen (Praeszienz) und Vorherbe:timmen (Providenz) Gottes wären dann vorschnell mit der (doppelten) Gnadenwahl Prädestination) verkoppelt; die kosmologische These der A//ewwirksamkeit Gottes aufgrund von Erstverursachung) läßt sich nicht bruchlos auf die „personale Treue" Giftes übertragen, der der Modus der Notwendigkeit fremd ist (Steinacker 150). Der alles wirkende Gott „hat nicht einige von diesem Heilswillen ausgeschlossen und von Ewigkeit her dazu bestimmt, Objekte seines Zorns zu sein" (Härle, Rede 68, im Anschluß an BSLK 1086,80 [SD XI]). Die zentrale Kritikfrage, wie der biblisch-christliche Heilsglaube überhaupt mit natürlichen Ordnungsstrukturen vermittelbar bzw. an diesen als providentiell erkennbar sein kann, hat sich durch die reformatorische Theologie entscheidend verschärft: Anstelle der Vermittlungsformen der ratio ordinis rerum in finern im Integrationssystem bei Thomas von Aquino stehen für Zwingli der eschatologische Heilsglaube, für Luther und Calvin der Schöpfungsglaube fortdauernd als Erhaltungsghube - ohne in der Weltentwicklung selbst den teleologischen Anschauungsgrund für Gottes Vorsehung noch ontologisch garantieren zu können. Gottes Treue steht verborgen hinter den Ordnungen - in seinem „verborgenen Ratschluß" (Inst. 1,16,2.6); erkennbai nur dem angefochtenen Glauben: Luther „kann es dem Glauben von Christen zumjten, das Leben in seinem ganzen, gar nicht eindeutigen Verlaufe Gott als Autor zuzuschreiben, ohne im einzelnen Gutes und Böses rational verrechnen zu müssen" (Ratschow, Heilshandeln 211). Ist dann, weil eine rational-theologische Teleologie nicht mehr erreichbar scheint, die Vorsehungslehre aufzugeben? Es bleibt die menschliche Situation der „Angefochtenheit", die dann nicht in der Gottes- oder Schöpfungslehre, sondern in der Soteriologie als Problem der Prädestination ihren Ort hat (ebd. 232f.241). Luther hat am Ende von De servo arbitrio die gesamte Fragestellung tatsächlich in der \ngewiesenheit von Präszienz auf Prädestination zugespitzt und in der theoretisch unlösbaren, im tschatologischen Glauben aber zuletzt sich lösenden Auskunft festgehalten: „Es ist ein Leben nach desem Leben" (WA 18,785; StA III, 353,16f.; vgl. W A 18,786). Ähnlich scheint sich bei Calvin dit Prädestination in den Vordergrund zu schieben (vgl. Bernhardt, Handeln 1 0 8 f . l l 2 ) , wenn die wekhafte Ordnungsstruktur bereits den Heilsglauben verlangt, so daß Schöpfung und Erhaltung, dh. die „verborgenen . . . Gründe" der göttlichen Providenz, eben nur in von Geist und Offenbarun; vermittelter „Demut und Bescheidenheit" angemessen rezipiert werden können (Inst. 1,17,2; 17,6). Andererseits darf weder für Luther noch für Calvin vergessen werden, daß es eben Gottes Schöpfungs- und immer aktuelles Erhaltungshandeln ist, in dem die Kreativität allen Gescfehens gründet; bei Luther mit dem Akzent, daß der Glaube der göttlichen Kreativität in der cooferatio entspricht (WA 18,754), bei Calvin mit dem Akzent der Fortwirkung des göttlichen Willen; auch über „Mittelursachen" ( c a u s a e inferiores, Inst. 1,16,9), d.h. im Prozeß der kreativen Erhaltuig im

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Weltgeschehen. Calvin nimmt damit die scholastischen Unterscheidungen im Begriff der N o t w e n digkeit wieder auf und öffnet die Vorsehungslehre erneut für den Gedanken der Mehrfachverursachung, die Zulassung einer „relativen ontischen Kontingenz" und entsprechend „relativen menschlichen Freiheit" (Bernhardt, Handeln 113 ff.) - das moderne Problem einer realen Prozeßontologie zeichnet sich ab (Herms 76).

Die Souveränität Gottes bleibt damit doppelt bestimmbar, wenn auch die scholastische Sicherheit einer teleologischen Ordnungsstruktur nicht mehr einfach zum Fundament gemacht werden kann: Erstens handelt Gott in kreativer Voraussicht und Vorherbestimmung; zweitens folgt daraus das Problem der jeweiligen Wirksamkeit und Einsicht in die dadurch gegebene Prozessualität - für den Kosmos, die menschliche Geschichte und die einzelnen Christenmenschen. Soll diese doppelte Bestimmbarkeit grundsätzlich und für alle Vorsehungslehren auf die Typologie von zwei alternativen Modellen bezogen werden (Bernhardt, Handeln 47 u.ö.), die sich als intentional-aktualistisch und als sapiential-ordinativ gegenüber stehen, trifft für die Teleologie der scholastischen Tradition das zweite, für die Kreativität der reformatorisch-lutherischen das erste Modell zu. Allerdings entspringt die eigentliche Pointe jedenfalls der christlichen Vorsehungslehre immer erst aus der fraglichen Verbindung der beiden Modelle, also aus einem jeweils problematischen dritten: Wie soll die Vermittlung von absoluter Kreativität mit der real verursachenden Wirksamkeit im Prozeß gedacht werden? Durch die reformatorische Theologie ist diese Frage nicht leichter, sondern schwerer — damit aber auch noch entschieden sachgemäßer geworden. 2.2.2. Gottes Erkennbarkeit im Weltprozeß. Der philosophische und theologische —»•Nominalismus in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit ist dafür verantwortlich, daß die selbstverständliche Aufgabe der Vorsehungslehre, den Gotteszusammenhang alles Geschaffenen kosmologisch zu entfalten, immer schwerer zu erfüllen ist. Weil der Begriff der Kontingenz durch den neuen (christlich-metaphysischen) Möglichkeitsbegriff im Denken von —>Duns Scotus so ausgearbeitet wurde, daß nicht mehr nur die alternativ möglichen Ereignisse in der Zeitreihe, auf Zukunft hin unentschieden, erwartet werden müssen, sondern für jeden Zeitpunkt das Anderssein als real möglich gedacht werden muß („synchrone Kontingenz", vgl. Dekker, God), rücken die (unableitbaren) Einzelereignisse gegenüber der Rationalität der Entwicklung immer mehr in den Vordergrund. Theologisch kommt hinzu, daß die Differenz im Gottesbegriff (nach Duns Scotus dann vor allem bei W. von -»Ockham und den ihm folgenden Schulen: Gott absolut in seinem Willen frei und nur bezüglich des wirklich Geschaffenen relativ bestimmt [potentia absoluta! ordinata, -*Nominalismus 8.]), Gottes Wille als Willkür (gemessen an menschlichen Erkenntnisbedingungen) auszulegen scheint. Dieser Willkürmöglichkeit steht selbstverständlich Gottes geschichtlicher Wille zum Heil der Menschen gegenüber. Doch die Ordnung aller Dinge bleibt durch prinzipielle Kontingenz, das bedrohliche Andersseinkönnen, gezeichnet — Ordnung und Prozeß müßten in neuer Weise und konstruktiv eben als kontingente konzipiert werden können. Es geht für das Lebensgefühl der Menschen wie für die Sicherstellung ihres Wissens von den Dingen um eine krisenhafte Neuorientierung, die kosmologisch entschieden werden muß: „Wenn die Welt nicht mehr zugunsten des Menschen vorversichert ist, ist auch die Wahrheit über sie nicht mehr selbstverständlich für ihn disponibel" (Blumenberg, Säkularisierung 240). In dieser sich abzeichnenden Begründungsnot für die Erkennbarkeit Gottes im Weltprozeß gewinnt die Vorsehungslehre ihre wachsende und weltanschaulich gewichtige Bedeutung vom 16. bis ins 18. Jh. —>Melanchthon steht am Beginn dieser Entwicklung, wenn er auf der Basis seiner Arbeiten zur (aristotelischen) Physik und Astronomie dann in den Loci von 1559 die göttliche Providenz als sichtbare, planmäßige Naturordnung ausweist, darin die Gegenwärtigkeit der Schöpfung verankert und die christliche Gottesund Weltauffassung damit gegen absolute Nezessität ebenso verteidigt wie gegen absoluten Zufall: Die erfahrbare (physikalische) Natur, sichtbar im Wechsel der Jahreszeiten

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wie im (astronomischen) Lauf der Gestirne, beweist, daß dies alles „den Menschen zum Nutzen" so geordnet ist und daß „Gott sich um das Leben der Menschen sorgt" (Initia Doctrinae Physicae, im Abschnitt De Providentia, CR 13,204: Cum autem manifestum sit haec ordinata esse propter hominum utilitatem, fateamur vitam hominum Deo curae esse-, Loci praecipui theologici [1559]: De creatione-, vgl. Link 83.87; Büttner). Mit seinen ausgeprägten Kenntnissen der (aristotelischen) Naturwissenschaft war Melanchthon zunächst offen für das System des N. —»Kopernikus, dessen Hauptwerk 1543 im lutherischen Nürnberg erscheinen konnte (Bornkamm; Blumenberg, Genesis 371-395), hat dann aber die Entdeckung des existentiellen Rechtfertigungsglaubens doch nicht mit der Kosmologie neuer Prägung verbinden können. Damit wurde die kritische Frage der christlich notwendig zu denkenden Kontingenz - der Freiheit Gottes (im Akt der Schöpfung) wie der Freiheit des menschlichen Willens (im Blick auf Sünde und Verantwortlichkeit) - im Feld des Glaubens anders gedacht (als kreative Neuschöpfung durch Gottes Handeln) als in der traditionell konzipierten Naturordnung und ihrer sichtbaren Gesetzlichkeit und Zielbestimmtheit. Der eigentliche Konflikt zwischen Naturordnung und Gotteshandeln entsteht dann genau dort, wo im Geschehen des Weltlaufs doch auch Gottes freie Verursachung mit der geschaffenen Ordnung der Dinge und dem Handeln der Menschen zusammentreffen, gemeinsam in einem Ereignisfall erklärt und vorgestellt werden müssen. Es ist die Lehre der Mitwirkung (concursus) Gottes, die auf die kritische Frage des Zusammenhanges von göttlichem, natürlichem und menschlichem Verursachen zu antworten hat. Die in zahlreichen Distinktionen entfaltete Vorsehungslehre der protestantischen Dogmatiken des 17. Jh. (vgl. Ratschow, Dogmatik 227; Bernhardt, Handeln 123-147) respondiert, indem sie einerseits als Gegenstandsbezug der Vorsehung die heilsame Durchsetzung Gottes - den Menschen zum Trost - im Ganzen seiner Schöpfung proklamiert: in allem Geschaffenem (Providentia generalis), in allem Lebendigem (p. specialis) und in den Gläubigen in besonderer Weise (p. specialissima); und indem sie der Wirkungsform dieses Gotteshandelns gemäß in conservatio, concursus und gubernatio den tatsächlichen Nachweis - gegenüber abweichenden Weltanschauungen - zu erbringen sucht, daß Gott gerade so in der Welt zu erkennen ist. Die Erhaltung der Schöpfung wie die Leitung der Gläubigen war dabei biblisch wie aufgrund religiöser Lebenserfahrung unproblematisch, das genannte Zusammenkommen von göttlicher und menschlicher Freiheit bzw. der Kontingenz des Geschehens im Rahmen des concursus dagegen konnte entweder so gelöst werden (wie Luther sich geweigert hatte, das Problem zu lösen!), daß zwischen göttlicher Erstursache und den natürlichmenschlichen Zweitursachen unterschieden und insofern eine doppelte Beurteilungsperspektive eingenommen wird; oder daß in neuschöpferischer Einflußunmittelbarkeit die göttliche Mitwirkung je und je unterstellt wird. Das erste Modell vertritt beispielhaft die Westminster-Confession (1646) (-•Westminster/Westminsterconfession): „Although, in relation to the Foreknowledge and Decree of God, the First Cause, all Things come to pass immutably and infallibly: Yet, by the same Providence, he Orders them to fall out, according to the Nature of Second Causes, either necessarily, freely, or contingently" (zit. nach Röhls 71); das zweite Modell liegt in lutherischer Tradition so vor, daß Gottes Handeln in einem Zugleich mit den Zweitursachen unmittelbar und schöpferisch einfließt: Der göttliche influxus generalis ist in allem Geschaffenen wirksam (suaviter influit), zugleich mit den Zwischenursachen ist folglich unmittelbare Präsenz Gottes (Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica [1664], zit. nach Ratschow, Dogmatik 209 [§§ 265ff.]; vgl. 219f.; Bernhardt, Handeln 134). 2.3. Paradoxien

des

Gotteshandelns?

Die erfahrbare Gottesnähe im Geschehen von Natur und Geschichte, ob nun eher scholastisch-teleologisch, calvinistisch-prädestinatianisch oder lutherisch-gegenwartskreativ gedacht, muß umstritten bleiben, was ihre intersubjektiven Kriterien, ihre natürlichen Maßstäbe angeht. Es ist deshalb die religiöse Subjektivität, der reflektierte Lebenslauf, das Tagebuch, worin die glaubensüberzeugte Seite der Vorsehung überwältigend sichtbar wird und sich selbst dokumentiert; auch dann, wenn die objektiv-naturtheologische Seite in den fortschreitenden Wissenschaftsstandards der Neuzeit immer problematischer erscheinen muß. Mentalitätsgeschichtlich galt noch für das 16. Jh.: „Gott bestimmt die Stunde der Geburt und des Todes, die Leibesbeschaffenheit, die Wahl der Ehegatten, schickt Krankheit und Läuseplage, Reichtum und Armut, guten und bösen Markt, Feuersbrunst, Frieden, gutes und böses Wetter; ja sogar Tugend,

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Fleiß, Kühnheit eines Menschen sind allein sein Werk" (Ermentrude von Ranke [1928], zit. nach von Greyerz 42; vgl. die literarischen, erbaulich-kirchlichen und wissenschaftlichen Dokumente zum Providentiaglauben bei Krolzik, Kap. 2). Dagegen ist die kosmologisch gewachsene Problemlage des 17./18. Jh., das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Seite des Vorsehungsglaubens bzw. das Unverständlichwerden gerade der speziellen Providenz zugunsten einer nur noch allgemeinen, deutlich zu greifen in einem autobiographischen Zeugnis eines britischen Landadligen zu Beginn des 18. Jh.: „If we must submit to Providence, and not help ourselves when me may, why do we seek by labour to accumulate wealth for our own and family support, and settle it through ages and generations? Or why do we take physic and call in the mortal help of doctors, apothecaries, and nurses? When we are sick we are visited by Providence, and we strive against it. Is it not because the same Providence that sends the disease sends the expedient or cure, if any be . . . The truth is, this using of special Providence in every occasion of argument is the wielding of a weappon we understand not. . . . Surely the common laws that God hath given to the world govern ordinarily" (Roger North, zit. nach von Greyerz 145). Die Epoche der -> Aufklärung wird zunächst die subjektive Gewißheit der göttlichen Vorsehung in der allgemeinen Ordnung der Natur bestätigt finden, während die Wissenschaften zunehmend erfolgreich und selbständig die Einzelereignisse zu erklären vermögen. Die Balance zwischen beidem hält exemplarisch der Physiologe und Dichter Albrecht von Haller (1708-1777); in seinem Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1729) heißt es: „Was die Natur verdeckt, kann Menschen-Witz entblößen, / Er mißt das weite Meer unendlich großer Größen, / Was vormals unbekannt und unermessen war, / Wird durch ein Zifferblatt umschränkt und offenbar. / Ein Newton übersteigt das Ziel erschaffner Geister, / Findt die Natur im Werk und scheint des Weltbaus Meister; / Er wiegt die innre Kraft, die sich im Körper regt, / Den einen sinken macht und den im Kreis bewegt, / Und schlägt die Tafeln auf der ewigen Gesetze, / Die Gott einmal gemacht, daß er sie nicht verletze" (von Haller 25).

Wird diese Mechanik der Naturerklärung aber aus dem kosmologischen Kontext der göttlichen Vorsehung herausgelöst, weil jene Erklärung diesen Kontext zur erfolgreichen Durchsetzung der eigenen Fähigkeiten gar nicht mehr braucht, verliert im selben Moment der Begründungskern des göttlichen concursus, das bis dahin als nachgewiesen geltende Zusammenspiel von Erst- und Zweitursachen, seine Plausibilität. Ergebnis ist die neuzeitliche Kritik des theistischen Gottes, dessen personaler Handlungswille kosmologisch nur noch plazierbar ist, wenn er entweder pantheistisch (-»Pantheismus) in allem versteckt wird und folglich keine unterscheidbaren Wirkungen mehr haben kann, oder wenn er deistisch (-»Deismus) auf schöpferische Anfangsleistungen reduziert wird, um der eigen-vernünftigen Entwicklung und den entsprechend agierenden Wissenschaften Raum zu geben (vgl. Bernhardt, Handeln 159-186). Der nächste Schritt, auf der Basis solcher vernünftiger Erklärungsmechanismen nun auch den fremd erscheinenden (metaphysisch-christlichen) Rahmen zu bestreiten, liegt von der Systematik wie der historischen Entwicklung her nahe. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. kommt es zur Auflösung der kosmologischen Bedingen der Vorsehungslehre oder zu ihrer Transponierung jenseits empirischer Plausibilitäten. 2.3.1. Verdrängung Gottes aus der Welt. Mit der wachsenden Lösung der Wissenschaft und der Bildung aus dem Kontext des Offenbarungskonzepts verlieren Schöpfung, Erhaltung und Leitung durch Gott nicht nur an Uberzeugungskraft, sondern sie erscheinen widersprüchlich: Die Sinnhaftigkeit der Ordnung der Natur ist radikal unterbrochen, wenn es nicht nur um das Denkproblem von Kontingenz und Zufall, sondern um (unverschuldeten) Tod und Katastrophen geht. Die seit Seneca (s.o. 1.) beispielhaft gestellte Frage der Einordnung des Leidens und des Todes in Gottes Vorsehung wird für die optimistischen Fortschrittstendenzen des 18./19. Jh. zum Paradox, das nur auf Kosten der Vorsehung selbst lösbar erscheint.

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In Anspielungen auf -»Leibniz' Theodizee wird für -»Voltaires sarkastischen Roman Candide das Erdbeben von Lissabon (1755) zum evidenten Zeichen unauflöslichen Widersinns. Krieg, Mord, Naturkatastrophe dementieren die planvolle Ordnung und Leitung der Dinge, und die Vermittlung einer ersten Ursache aus der Notwendigkeit Gottes mit den Kontingenzen des Weltgeschehens bleibt im anklagenden Paradox eines unbegreiflichen und damit abzulehnenden Gotteswillens hängen: „Verwirrt, verstört und verängstigt sagte sich Candide, blutend und zitternd: ,Wenn das hier die beste der möglichen Welten ist, wie sind da die anderen? Verprügelt wurde ich zwar auch schon bei den Bulgaren, aber, o mein teurer Pangloß, mußte ich Sie, den größten Philosophen, hängen sehen ohne zu wissen, warum? O mein lieber Wiedertäufer, bester aller Menschen, mußten Sie im Hafen ertrinken? O Fräulein Kunigunde, Perle der Schöpfung, mußte man Ihnen den Bauch aufschlitzen'" (Voltaire, Candide 35 [Kap.6; zum vorausgehenden Erdbeben vgl. Kap.5]). Der Zusammenhang von göttlicher Ordnung und menschlichem Leiden kann nicht mehr verständlich gemacht werden, und die Vorsehung wird verdrängt von Ersatzbegründungen an derselben Stelle, an der Sinn- und Ordnungsstrukturen auch weiterhin und gerade aufgrund von Wissenschaft erklärt werden wollen: Naturalismus, -»Materialismus und —•Positivismus werden dort zu -»Weltanschauungen, w o sie mit wissenschaftlichen Erklärungen Lebensorientierung geben müssen. L. Feuerbachs Deutung der Vorsehung allein im Blick auf die menschliche Gattung sieht im religiösen -»Wunder den eigentlichen Sinn der Vorsehungslehre: „Die natürliche Vorsehung läßt den Menschen im Wasser untersinken, wenn er nicht schwimmen gelernt hat, aber die christliche, die religiöse Vorsehung führt ihn an der Hand der Allmacht unbeschädigt über das Wasser hinweg" (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 31849, Kap. 11, Anm. 3). Wird diese religiöse Hervorhebung des Menschlichen aber auf es selbst zurückgeführt, dann ist aus dem religiösen ein höherer, gattungsspezifischer Naturalismus entsprungen, auf den hin die Vorsehung funktionalisiert werden muß. Den materialistischen nächsten Schritt will K. -»Marx erzwingen, indem er Feuerbachs Religionskritik in die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die „Diesseitigkeit" der „Praxis" überführt (vgl. die zweite der Thesen über Feuerbach [1845]). Die Ordnung der Natur wird demnach geschichtlich hergestellt, die wissenschaftlichen Erklärungs- und Gesetzesbedingungen dafür gelten als tendenziell durchschaut, Wunder (Gottes Providentia extraordinata) werden ebenso überflüssig wie die (metaphysische) Frage nach den nicht machbaren Bedingungen von Ordnungsstrukturen überhaupt (Providentia ordinata). Der französische Materialismus schon des 18. Jh., dann die antitheologisch rezipierte Lehre des Darwinismus (-»Darwin) im 19. Jh. (vgl. Bernhardt, Handeln 191196) führen für das 19./20. Jh. zu einer geistigen Lage, in der die gesicherte Positivität von Fakten (in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften) die unbezweifelbare Ausgangsmentalität wissenschaftlicher Weltanschauung darstellt. Diese Faktenlage aber in irgendeiner Weise als göttlich geordnet auszuweisen, erscheint wissenschaftlich obsolet, es dennoch zu versuchen wäre lächerlich. Diesem Muster - positiv gesagt: der (natürlichen) Verborgenheit Gottes - hat sich seit dem 19. Jh. weitgehend auch die Theologie anschließen müssen (vgl. Bernhardt, Handeln 256 - 262). Der Positivismus markiert als Wissenschaftseinstellung insofern die Summe neuzeitlicher Ablösungen von der christlich-metaphysischen Denktradition. Die selbstverständliche (natürliche, theoretische und religiöse) Erkennbarkeit Gottes wird zur Paradoxie ihrer Verborgenheit im Weltgeschehen. Dieser Weg aber war zugleich niemals unbestritten. Daß Wirklichkeitserkenntnis allein auf dokumentierbare „Sinneseindrücke" zurückbezogen werden muß, dürfte selbst eine metaphysische These darstellen, die dann unter Voraussetzungen gilt, die sie selbst bestreitet (vgl. -»Peirce 55-68) 2.3.2. Spekulative Vernunfttheologie. Waren Voltaires Spöttereien überhaupt in der Lage, Leibniz* Theodizee zu widerlegen? Es sind zwei wesentliche Bedingungen, unter denen Leibniz' System gedacht war: Erstens ein neuer Begriff von Möglichkeit, der, wie seit Duns Scotus eingeführt, mit möglichen Wirklichkeiten („möglichen Welten") argumentieren konnte, d.h. alternative Realisierungen immer für denkbar hielt und damit synchrone Kontingenz vor Augen führte (s.o. 2.2.2.). Zweitens das Prinzip des „zureichenden Grundes" (principium rationis), eine Weltsicht, die Nicht-Erklärbarkeit ausschließt, Kontingenz aber einschließt (vgl. Stoellger 88ff.). Weil Gott aber als notwendiger, letzter rationaler Grund hinter aller (kontingenter) Wirklichkeit gedacht werden muß - sonst gäbe es gar keinen Begriff dieser Wirklichkeiten (vgl. Leibniz, Monadologie §§ 37ff.) - kann gesagt werden: „Erfüllte man jede Zeit und jeden Ort; es bleibt dennoch wahr, daß man sie auf unendlich viele Arten hätte erfüllen können und daß es unendlich

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viel[e] mögliche Welten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höchste Vernunft t u t " (Leibniz, Theodizee 101). Gott hat folglich die Welt als Prozeß ihrer optimalen Realisierung geschaffen, die mögliches Anderssein faktisch immer einschließt und nichts mit Notwendigkeiten überzieht. Gottes Vorsehung (Leibniz, Monadologie § 90) überblickt das Ganze dieser Realisierungen, ohne daß dies in gleicher Weise menschenmöglich wäre. Sich im Rahmen dieser Gesamtrealisierung frei zum Guten zu verhalten heißt für die Menschen, einzustimmen in die von Gott vorausgesehene harmonische Entfaltung der geschaffenen wirklichen Welt. Wie steht es aber mit Ereignissen der (metaphysischen) Sinnlosigkeit, des (physischen) Leidens und des (moralisch) Bösen? Sprengen sie die Harmonie des Ganzen? Oder wird das System selbst kontingent, „verstrickt" sich Gott selbst im concursus sozusagen providentiell in „kontingente Tatsachenwahrheiten" (Stoellger 115; zur scholastischen Kritik an den theologischen Vorgängern von Leibniz vgl. Knebel)? Die Kollision zwischen systematisch, hypothetisch und spekulativ entwickelter Rationalität einerseits und dem unausdenkbar Faktischen bestimmter Lebenserfahrungen andererseits ist nur dann auflösbar, wenn im (menschlichen) Denken Gottes der darin notwendig zu unterstellende (schöpferische) Vorrang desselben Gottes die dunklen Seiten der Welterfahrung nicht ausklammern muß, sondern gerade benennen läßt. Gibt es der göttlichen Vorsehung Widersetzliches, mit Gott prinzipiell nicht mehr Ausgleichbares, weil Fakten vorliegen, die dem Plan, der Führung, dem Vorherwissen, der Allmacht, dem willentlichen Bestimmen Gottes nicht-integrierbar widersprechen, so wird entweder der Begriff der Vorsehung hinfällig, oder er ist so zu konzipieren, daß das Widersetzliche gerade zu seiner Reichweite gehört. Gelingt dies, sind Voltaires Einwände gegen Leibniz zwar verständlich, aber genau genommen nicht mehr überzeugend. Das ist dann der Fall, wenn das Widersetzliche (in Leibniz Worten: das metaphysische, physische, moralische Übel) zur Produktivität dieser geschaffenen Prozeß-Welt gerechnet werden muß (vgl. Dalferth, Übel 148ff.). Dies bedeutet gerade keine Sinnstiftung oder Rechtfertigung des einzelnen Negativen, sondern zeigt nur dessen Zusammenhang-, nur dieser kann mit der göttlichen Vorsehung sinnvollerweise gemeint sein. Wenn Gott in Unterscheidung von sich selbst Endliches geschaffen hat, so ergibt sich aus dieser Tatsache des Geschaffenseins von Wirklichem, seiner Begrenztheit und seinen Freiheitsgraden, ein Konfliktpotential, das im einzelnen nicht unmittelbar mit Gottes Willen identifiziert werden muß, trotzdem aber eintreten kann: Das faktische Übel fällt nicht aus seinem Zusammenhang, dem Geschaffensein mit allem anderen, heraus. Für Leibniz ist diese komplexe Sicht des Gotteshandelns möglich, weil er durch die Monadenlehre (-»Leibniz 2.1; Dalferth, Übel 122) und aufgrund der neuen Mathematik infinite Reihen und infinitesimale Möglichkeitsräume als geregelte Bereiche von Kontingenzen konzipieren konnte. Die Welt ist, als Ordnung göttlicher Providenz, ein Kontinuum, zu dem diskontinuierliche Elemente gehören. Wenn die spekulative Geschichtsphilosophie -»Hegels diesen Gedanken der Perfektibilität eines Gesamtprozesses aufnimmt, so geschieht dies einerseits im Anschluß an das optimistische Providenzdenken der Aufklärungstradition (vgl. Hornig 200; Sparn 3 6 - 4 4 ) ; andererseits aber gilt für Hegel doch Leibniz' Metaphysik als noch in „abstrakten, unbestimmten Kategorien" steckend (Hegel, Vernunft 48). Diese Distanzierung hat darin ihren Grund, daß Hegels Verteidigung der (göttlichen) „Vernunft in der Geschichte" gerade nicht auf die Naturphilosophie oder die Mathematik baut, sondern auf den in der Geschichte sich realisierenden „absoluten Geist", der seine Absolutheit in seinen Entäußerungen in Institutionen wie in der Gestaltung und Erfassung ihrer Wahrheit gewinnt. Nachdem die vernunftkritische Philosophie I. -»Kants bereits die Trennung von Naturbegriff (theoretischer Philosophie), personaler Freiheit (praktischer Philosophie) und Vernunftidealität inauguriert hatte, mußte die Vorsehungslehre sich von ihrer natürlichen (physikalischen) Erkenntnisbasis endgültig zurückziehen und wurde allein im subjektiv bedürftigen Ausgriff auf die Got-

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tesidee noch religionsphilosophisch plausibel gehalten (vgl. von Scheliha 117-172; zu Kants deutlichen Vorbehalten im Umgang mit dem „Welturheber" bzw. dem „allsehenden Wissen" vor aller Zeit: ders., Zum ewigen Frieden [1795], A 47f. Anm.; ders., Die Religion [1793], A 169 Anm.). Während Hegel die damit verbundene Individualisierung von Moral und Religiosität übersteigen will, setzt er Kants Distanz des philosophisch begründeten Gottesglaubens vom Naturbegriff voraus. Dann wird die von Hegel erneuerte Teleologie eine des geschichtlichen Geistes, vorrangig gegenüber dem Naturbegriff, und jener Geist stellt sich in der weltgeschichtlichen Realisierung der Vernunft so dar, daß diese im ganzen - so wie Gott sich im Wort entäußert und im Geist der Gemeinde wieder gewinnt - als rationale Substanz in der menschlichen Subjektivität (vermittelt über ihre Institutionen) erfaßbar sein kann. Was Hegel die „List der Vernunft" nennt, war im Christentum als Gottes - über das Leiden des Sohnes vermittelter - Weltprozeß vorentworfen. Der „Vorsehungsglaube" hat jetzt ,,rationalitätserschließende[n] Sinn für das sich über sich aufklärende Selbstbewußtsein" (von Scheliha 203 Anm. 64): „Die Einsicht der Philosophie ist, daß keine Gewalt über die Macht des Guten, Gottes, geht..., daß die Weltgeschichte nichts anderes darstellt als den Plan der Vorsehung. Gott regiert die Welt..., daß nur das Wirklichkeit hat, was der Idee gemäß ist. Vor dem reinen Licht dieser göttlichen Idee, die kein bloßes Ideal ist, verschwindet der Schein, als ob die Welt ein verrücktes, törichtes Geschehen sei. Die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes" (Hegel, Vernunft 77f.). Die Theodizee ist auf den erfassenden Geist selbst angewiesen, darin fallen theologische Lehre und Philosophie zusammen.

Doch hält die Idee, derart über die List der Vernunft und die Lehre der Providenz vermittelt, der Brutalität der Wirklichkeit und menschlicher Erfahrung stand? Hegels Geschichtsmetaphysik setzte sich sofort im 19. Jh. dem Einwand aus, gerade an der subjektiven Erfahrung, dem „leidenschaftlichen Sinn für Werden" (S. -»Kierkegaard), vorbeizugehen (vgl. Schulz, Identität 329); im 20. Jh. konnte Hegels Theodizee wegen des Überrollens der Individualität, ihrer Vertröstung im Allgemeinen der Vernunft und der Vergoldung geschichtlicher Katastrophen kritisch aufgespießt werden (Adorno 316); und theologisch ist zumindest festzuhalten, daß Hegels - nach -»Newtons Physik und Kants kirchen- wie theologiekritischer Philosophie - wahrhaft grandiose Neubegründung der Vorsehungslehre die christliche Religiosität für ein System der Weltgeschichte funktionalisiert und dabei die „fiduzialen Momente des Vorsehungsglaubens" verspielt hat (von Scheliha 211f.). 2.3.3. Vorsehung: Subjektwierung und Versöhnung. Die sich weiterhin der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung aussetzende protestantische Theologie konnte die Vorsehungslehre seit dem 19. Jh. entweder im Anschluß an die moral-religiösen Vorgaben Kants fortführen (vgl. zu A. —»Ritschl bei von Scheliha 2 1 4 - 2 7 4 ; zu A. Ritsehl, W. -•Herrmann, E. -»Troeltsch bei Bernhardt, Handeln 260f.), oder die intensiven religionstheoretischen Impulse F.D.E. -»Schleiermachers und Kierkegaards mußten auf die sperrig wirkende naturgeschichtliche Objektivität der Vorsehung Gottes angewendet bzw. von dieser abgehoben werden. Schleiermachers Konzentration der Schöpfungs- auf die Erhaltungslehre (vgl. Saxer 4 9 - 7 9 ; Schulz, Identität 3 8 - 4 7 ) hatte einen doppelten Grund. Einmal war geschichtlich gesehen die Naturwissenschaft von der Theologie unabhängig geworden, die Zeiten sind vorbei, daß „man auch naturwissenschaftlichen Stoff aus der Schrift holen wollte" (Schleiermacher, Glaube 2 §40.1); zum anderen denkt Schleiermacher die gesamte Dogmatik aus dem Ursprungskriterium des religiösen Abhängigkeitsgefühls, das als solches alle Welt- und Selbsterfahrung auf den „Naturzusammenhang" verpflichtet (ebd. § 46), worin wunderhafte Radikalunterbrechungen ebenso deplaziert sind wie Versuche, ein bestimmtes „Mitwirken" Gottes in Einzelereignissen markieren zu wollen. Denn Gott wirkt zugleich in allem, wie es auch richtig ist, daß diese Ursächlichkeit „der Natur des ursächlichen Dinges [sc. im Naturzusammenhang] gemäß" ist (ebd. §49.2). Hinter diesem Konzept steht die einheitliche göttliche Vorherbestimmung bzw. Erwählung (Prädestination), das eigentliche Welthandeln Gottes (ebd. §§ 117ff.), und diese „göttliche Weltregierung" konkretisiert sich im Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes)

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bzw. der -*•Kirche (ebd. § 164). Damit ist die Vorsehungslehre aus dem Bereich ihrer natürlichen Plausibilität abgehoben in den gläubigen und theologischen Bereich der Erlösung, hier regiert Gott zugunsten der Menschen, und die Organik des Naturzusammenhanges leuchtet nicht mehr aus sich selbst, sondern im Licht der göttlichen Erwählung, die im christlich-frommen Selbstbewußtsein präsent ist. Noch weitergehend hat Kierkegaard von Beginn an (im Journal 1835) die Naturwissenschaften einerseits geschätzt, andererseits aber für die eigentliche Personalität des Menschen, für „Vernunft und Freiheit", nicht mehr als relevant einschätzen können. Dem Sammelfleiß und den überwältigenden Resultaten steht der einzelne Wissenschaftler gegenüber, zu dem die eigene Wissenschaft (mit Lk 12,20) einmal sprechen könnte: „ , M o r g e n werde ich Dein Leben fordern', denn das ist es, was darüber entscheidet, welche Bedeutung jedes einzelne Resultat im Ganzen haben soll" (Kierkegaard, Skrifter X V I I , 20,31 ff.; 20,15f.). Diese Wendung bringt das traditionelle Verständnis von natürlich-welthaft zu verfizierender Vorsehung faktisch zum Verschwinden zugunsten einer durchgängigen „Subjektivierung" oder „personalontologischen" Problematisierung des (religiösen/christlichen) Welt- und Selbstverhältnisses (Schulz, Identität 47.23). Schleiermacher hatte in der 1. Auflage von Der christliche Glaube (1821/22) diese Pointe seiner Korrektur der klassischen Vorsehungslehre noch lapidar so formuliert (Glaube1 § 59): „Alles was unser Selbstbewußtsein bewegt und bestimmt, besteht als solches durch Gott". Kierkegaard bestätigt dies in existenzdialektischer Ausarbeitung (vgl. Schulz, Identität 463 -469.492-496), insofern Menschen in Gottes Allmacht eine freie (schöpferische) Ursprünglichkeit erkennen, die gerade darin besteht, sich selbst zurückzunehmen und dem Geschaffenen in jedem Augenblick neu relative Selbständigkeit einzuräumen. Daß Gott ex nihilo schafft, ist Bedingung der Freiheit wie der Abhängigkeit des Menschen - von demselben Gott; und dieses Modell von Schöpfung und Kontingenzerfahrung ließe sich in neuer Weise auf das Naturverhältnis anwenden (s.u. 3.2.). Insofern ist Kierkegaards Distanz zum Naturbegriff der Naturwissenschaften seiner Zeit die Voraussetzung für Möglichkeiten einer durchgängig (naturtheoretisch) erneuerten Schöpfungstheologie (vgl. die Hinweise bei Bernhardt, Handeln 271-311; Deuser, Argument). In der „Selbstdurchsichtigkeit" des existentiellen Grundverhältnisses in Gott, wie von Kierkegaard in der Krankheit zum Tode (1849) expliziert, rücken Vorsehung und Versöhnung ebenso zusammen wie Schöpfung und Neuschöpfung in den Möglichkeiten Gottes (Schulz, Identität 581-585). Die Wende zur Subjektivierung der Vorsehungslehre, wie sie im 19. J h . in der deutschen Theologie faktisch vorlag und als Reaktion auf die als problematisch empfundene, naturwissenschaftliche Dominanz in der Naturauffassung verstanden werden muß, hat K. -»Barths groß angelegte Erwählungs- und Vorsehungslehre noch einmal wenden wollen: zurück in den klassischen Lehrtypus - ohne allerdings die naturtheoretischen Bedingungen verändern zu können oder in die inzwischen veränderten Perspektiven (des 20. Jh.) aufzunehmen. Barth hat gegen Leibniz' Theodizee wie gegen Hegels vernünftigen Weltprozeß weniger immanente Einwände vorgetragen als vielmehr die Autorität des Standpunktes, von dem aus solch eine Systematik entworfen werden kann, in Zweifel gezogen: „Denn der leibnizische Gottesbegriff ist wohl eine leuchtende Spiegelung jenes mächtigen menschlichen Selbstvertrauens, das später in der Philosophie Hegels einen noch viel massiveren Ausdruck gefunden h a t . . . Er beschreibt nicht den wirklichen Gott, der der Herr seiner Schöpfung ist, sondern den Menschen, der ihr Herr sein möchte. . . . Gottes und seiner Schöpfung Betrachter und Zuschauer, und als Betrachter und Zuschauer steht er auch sich selbst gegenüber" (KD III/3, 362). Diese Kritik ist für Autoren des 17./18.Jh. anachronistisch, denn sie setzt das existentielle (religiöse) Selbstverhältnis des 19./20. Jh. schon voraus. Diesem aber soll nachgewiesen werden, daß seine Basis falsch gewählt ist: Gottes Vorsehung ist nicht Teil einer (spekulativen) Gotteslehre, sondern sie folgt auf die Schöpfung, die wiederum in Gottes Prädestination gründet, d.h. das Folgeverhältnis der „Ausführung" von Gottes Handeln am Geschaffenen macht es gerade unmöglich, in dieser Abhängigkeit sozusagen aus Gott selbst sprechen zu wollen: „als wäre auch das Geschöpf ewig in Gott" (KD III/3, 3). Damit wird unmittelbar die Aufnahme des vorneuzeitlichen „Vorsehungsglaubens" wie der zugehörigen biblischen Erzähltraditionen möglich. Paul -»Gerhardts Lieder wie die Fragen 2 6 - 2 8 des ->Heidelberger Katechismus werden lebendig (KD III/3, 14f.), ja

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Barths §§ 48 und 49 der Kirchlichen Dogmatik sind selbst wie eine Erzählung der göttlichen Vorsehung, andernfalls bestünde eben die Gefahr, daß eine „menschliche Konzeption", „nur Meinungen, Postulate und Hypothesen" (ebd. 21.18; vgl. 23ff.) an die Stelle des wirklichen Gottes träten. Die Erzählung muß, um diesen Abweg unbedingt zu vermeiden, von Jesus Christus handeln (vgl. Plathow 9 9 - 1 3 6 ; Link 271ff.308 - 323), sie muß in der Frage des göttlichen Mitwirkens (concursus) die Kausalverhältnisse Gottes und der Menschen, die Gesetzes- und Ordnungsbegriffe bezüglich Natur und Geschichte (KD III/3, § 49,2) so fassen, daß sie dem immer unmittelbaren Handeln des barmherzigen Gottes nicht in die Quere kommen können (vgl. ebd. 160). Was das (objektiv-naturwissenschaftliche) Weltbild und dementsprechende subjektive Weltanschauungen nicht mehr hergeben, was in ihnen fälschlich nur als christlich erscheint, das wird aus der göttlichen Erzählperspektive wie im Spiegel doch wieder zugänglich - unter der Voraussetzung, daß die Subjektivität Gottes die Versöhnung mit den Menschen gewählt hat.

3. Religionsphilosophische

Modelle

Die Diskussionsprozesse der (analytischen) Religionsphilosophie haben zu weiteren Klärungen im Begriff der Vorsehung - gerade auf dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes - beitragen können. Damit ist zugleich auf die methodisch motivierte Gliederung (s.o. 1.) zurückzukommen, wonach der analytisch-semantische, der existentiell-anthropologische und der kosmologisch-realistische Erkenntnisweg zu unterscheiden sind. 3.1. Analytisch-semantische

Modelle

Über Gottes Vorsehung und verwandte Begriffe (Allmacht, Allwissenheit, Vorherwissen) in begrifflich-semantischer Analyse zu befinden, verlangt die hypothetische Voraussetzung: „Given that there is a God" (Swinburne 116). Dann kann gefragt werden, ob und wie bestimmte Eigenschaften, die mit dem Begriff Gottes verbunden sind, auch konsistent auf das Gott-Welt-Verhältnis angewandt werden können. Im Falle der Vorsehung geht es zusammen mit dem Problembereich der Theodizee (s.o. 2.3.1.) vor allem um die menschliche Handlungsfreiheit, denn Gottes Vorsehung impliziert sein Vorherwissen, und dies - unauflöslich verbunden mit Gottes Allmacht und Allwirksamkeit scheint alle in der Zeit folgenden Ereignisse, auch menschliche Handlungen, vorweg zu bestimmen, eben weil Gott sie weiß; und dann könnte von (Entscheidungs-)Freiheit einer menschlichen Instanz keine Rede mehr sein. Ein klassischer Repräsentant für die Verteidigung von Gottes Vorsehung als kausaler Verursachung aller Ereignisse ist J. -•Edwards, der in calvinistischer Metakritik des Arminianismus (->Arminius, Jacobus/ Arminianismus) die These vertritt, daß erstens der Begründungszusammenhang Gottes mit allem vorausgesetzt werden muß (weil sich sonst gar nichts im Zusammenhang von Schöpfer und Geschaffenem erklären ließe, vgl. Jonathan Edwards Reader 210 [Edwards, Freedom 181]) und daß zweitens gilt: "The connection between the event and foreknowledge is absolutely perfect" (Edwards, Freedom 261). Aus dem notwendigen Zusammenhang von Gottes Wissen bezüglich aller Ereignisse und aus dem generell notwendig begründenden Vorherwissen Gottes folgt logisch gesehen, daß das, was geschieht, notwendig geschieht (vgl. Mavrodes 239). Edwards selbst hat darin keinen deterministischen Zwang für die Menschen gesehen, sondern gerade die realistische Ermöglichung moralischen Handelns. Tatsächlich lassen sich Allwissenheit bzw. Vorauswissen vom Ursache-Wirkungs-Zwang abgekoppelt denken: Gott kann Ereignisse wissen, die er nicht selbst bewirkt (Yandell 336), d.h. der in Frage stehende notwendige Zusammenhang zwischen Gottes Vorsehung und dem einzelnen Ereignis muß nicht deterministisch aufgefaßt werden - und dann besteht kein logischer Widerspruch zwischen göttlichem Wissen und menschlich freiem Handeln. Vom Denkmodell des Determinismus sind verschiedene Formen des Kompatibilismus abzuheben, der von vornherein die Vereinbarkeit des göttlichen und des menschlichen Handelns vorsieht (vgl. Flint, Providence [1999] 571 f.): Die Erstverursachung von allem durch Gott schließt nicht aus, daß im menschlichen Nahbereich Eigenaktivitäten (Zweit-

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Ursachen) verantwortlich sind. Zudem kann Gottes Vorherwissen nicht den zeitlichen Strukturen unterworfen gedacht werden, weil Gott ewig ist, d.h. mit aller Zeit, so daß es wiederum zum logischen Widerspruch zwischen Vorsehung — gedacht als Vorauswissen - und freien Handlungsentscheidungen gar nicht kommen kann (zu Thomas von Aquino s.o. 2.1.2.; vgl. Davies 439 - 4 4 5 ) . Dann ist auch klar, daß das Faktum der bösen Handlungen in der Welt mit derselben Freiheit zu tun hat, die zu ihrem Geschaffensein gehört. Wenn Gott frei handelnde Geschöpfe geschaffen hat, dann ist die reale Möglichkeit der bösen Handlungen damit gegeben. Daß dies wiederum - logisch gesehen - keinen Widerspruch zu Gottes Allmacht, Allwissenheit und Güte in sich schließt, ergibt sich daraus, daß das Böse weder von Gott gewollt noch gegenüber dem Guten in allen Fällen ausgeschlossen werden muß (vgl. Plantinga 115-130). Daß Gott in „möglichen Welten" und durch „mögliche Personen" das hätte verwirklichen können, was wünschenswert gewesen wäre oder sein würde, läßt sich eben nur denken, scheitert aber an der Konkretion wirklicher Menschen und ihrer Handlungsfreiheit. Für diese ist zwar kein positiver Nachweis zu erreichen, aber die logische Widersprüchlichkeit zwischen Vorsehung und Freiheit ist abgewiesen (vgl. Quinn; Plantinga). Die Verteidigung der Handlungsfreiheit verbunden mit Gottes Vorsehung wird schließlich seit L. de Molina und bis in gegenwärtige Modallogiken unter dem Stichwort von Gottes mittlerem Wissen (scientia media) diskutiert (vgl. Flint, Providence [1998]; Bernhardt, Handeln 150ff.; Dekker, Knowledge). Demnach liegt zwischen dem Bereich dessen, was für Gott notwendig wahr ist und als solches gewußt wird, und dem, was aufgrund von Gottes Willen (kontingent) eintreten wird und als solches gewußt wird, ein dritter Bereich dessen, was möglicherweise eintreten wird und unter gegebenen Bedingungen (menschlicher Handlungsfreiheit) auch anders eintreten kann. Werden diese - aus Gottes Perspektive — denkbaren anderen Verwirklichungen ebenfalls gewußt, so spricht Molina von mittlerem Wissen Gottes, das demgemäß beides abdeckt: Gottes Vorsehung (als planendes und leitendes Vorherwissen) ist ebenso garantiert wie der Handlungsspielraum der Menschen. Das auf W. -»James zurückgehende Bild vom Schachspiel, bei dem ein überlegener Spieler die Züge seines unterlegenen Gegners zwar im einzelnen nicht kennt, den alternativen Möglichkeiten nach aber überschauen — und insofern wissen - kann, trifft die vorgestellte Situation: Der überlegene Partner kann die Spielzüge nicht determinieren, aber im ganzen doch bestimmen und zum von ihm gewünschten Ziel führen (James 181; vgl. Bernhardt, Handeln 151f.l54f.; Helm 139). Doch ist die Plausibilität des Vergleichsbildes nicht dadurch begrenzt, daß seine kontrollierbaren Situationsbedingungen auf fixierten Spielregeln beruhen, während in vitalen Entscheidungssituationen - vorausgesetzt sie sind tatsächlich frei — gerade nicht mit wissender Bestimmtheit, sondern nur mit Wahrscheinlichkeit voraus gesagt werden kann, welche Alternative letztendlich gewählt wird? Auch die gewußte Summe aller möglichen Handlungsbedingungen spiegelt nicht die tatsächliche Entscheidung (vgl. Adams; Helm 58 ff.). Im Gegensatz zu den angeführten Modellen steht zuletzt die Verteidigung der radikalen Handlungsfreiheit, die jeden möglichen Determinismus ausschließen möchte (vgl. Flint, Providence [1998] 31ff.; ders., Providence [1999] 574). Dann ist allerdings die Spannung zwischen dem Geltungsbereich von Gottes Vorsehung und der (irreduziblen) Verantwortlichkeit menschlichen Handelns aufgelöst. Weil der Weltprozeß Spontaneität, Offenheit, Neues und also auch Handlungsfreiheit voraussetzt, muß eine Vorsehung, die damit nicht übereinzustimmen vermag, aufgegeben werden. Am konsequentesten ist dies in A.N. —»-Whiteheads Gottesvorstellung zum Ausdruck gebracht: Gott begleitet fördernd den Weltprozeß, bestimmt ihn aber gerade nicht, bevor er sich nicht realisiert hat (vgl. Neville, Creativity 15), d.h. Gott wird zum Bestandteil des Prozesses. Die Frage ist dann aber, ob in diesem Weltbild Gottes Schöpfung und Vorsehung, um die Handlungsfreiheit radikal zu retten, nicht doch zuvor radikal deterministisch und kausalistisch konzipiert wurden. Das wiederum ist nicht semantisch zu klären, sondern verlangt eine

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(ontologische) Zuordnung zwischen menschlichem Selbstverhältnis und göttlicher Kreativität. 3.2. Existentiell-anthropologiscbe

Modelle

Der Zufall, ob objektiv-welthaft vorausgesetzt oder nur als subjektive Erklärungsbegrenztheit angenommen, bleibt für Menschen ein rätselhafter Anstoß, auf sich selbst aufmerksam werden zu müssen. Der Zufall ist so „inkommensurabel" wie der einzelne Mensch selbst (vgl. Schulz, Identität 203 -244). Hierauf mit Schicksalsordnungen zu reagieren scheitert (jedenfalls aus christlicher Sicht) am Phänomen der Schuld, und es war deshalb Kierkegaards These im Begriff Angst (1844): „Erst in der Sünde wird die Vorsehung gesetzt" (Kierkegaard, Skrifter IV, 401,34f.; ders., Begriff 116; vgl. auch Tillich 23f.). Das muß so verstanden werden, daß erst im Gottesverhältnis eines Menschen die eigene Individualität in ihrer Selbst- und Handlungsbestimmtheit auftritt, sie wird sich ihrer faktischen Möglichkeit des Verlusts der Freiheit (Sünde) zugleich mit der eröffneten Realität der Versöhnung bewußt - und beides zusammen ist als Gottes Vorsehung für den Menschen anzusprechen. Vor Gott gänzlich abhängig und schuldig zu sein bedeutet, ein wirkliches Selbst ex tiihilo zu werden (Schulz, Identität 467). Die kosmologische Kreativität Gottes ist für den einzelnen Menschen sein aktuelles Neuwerden, das Ergreifen von Handlungsfreiheit, für die die soteriologisch akzentuierte Vorsehung die hinreichende Bedingung darstellt. In dieser personalontologischen Wendung der Vorsehungslehre artikuliert sich mit dem kundigen, aber freien Rückgriff auf die begriffliche Tradition der christlichen Heilsgeschichte eine Konzentration auf die Anthropologie. Das Selbst in seinem Gottesverhältnis thematisiert (bewußt oder unbewußt) Handlungsfreiheit auf dem doppelten Hintergrund: faktischer Unfreiheit wie möglicher Rückgewinnung der Freiheit (vgl. Dietz). Determination und Freiheit liegen dann ineinander und verhalten sich im Menschen zueinander wie Selbstabschließung und Selbstgewinn. Die Vorsehungslehre ist damit existenzdialektisch erneuert und findet ihre Überzeugungskraft und Bewährung in der Lebenserfahrung. 3.3. Kosmologisch-realistische

Modelle

Daß in dieser anthropologischen Konzentration die kosmologischen Bedingungen soweit sie nicht durch die dogmatische Tradition (creatio, conservatio) präsent blieben - ausgeblendet waren, lag an den wissenschaftlichen Bedingungen des 19. Jh. Auf deren Basis bleibt für die christliche Dogmatik ebenso wie für die Religionsphilosophie nur das Resultat, einerseits die menschliche Freiheit gegen den (mechanistischen, nezessitarischen) Determinismus zu verteidigen und andererseits im Namen des religiösen Selbstverhältnisses doch Gottes Vorsehung - in einem subjektiv und traditionell zu respektierenden, aber wissenschaftlich nicht mehr vollziehbaren Sinn - zu behaupten (vgl. Schulz, Kierkegaard 126). Inzwischen aber wäre eine isolierte Diskussion menschlicher Freiheit gegenüber ihren natürlichen Kontexten ebenso ungewöhnlich wie eine deterministische Naturkausalität überholt erscheinen müßte. Die hier notwendige Vermittlung wieder zu denken wird dann möglich, wenn die kausalistischen Abstraktionen aus naturphilosophischen Gründen aufgegeben werden können. Die im 20. Jh. gefundenen makro- wie mikroskopischen Gesetzmäßigkeiten, Relativitätstheorie, Quantentheorie und Chaostheorie (-»-Naturwissenschaft 1.3.; Bartholomew; Brooke; Achtner; Bernhardt, Handeln 293ff.; Dittmer), zeigen ein entwicklungsfähiges Universum, dessen evolutionistische Kosmologie von Zufallsproduktivität ebenso geprägt ist wie von Regelhaftigkeit und der (metaphysischen) Generalität eines Kontinuums, das die infinitesimale Diskontinuierlichkeit des einzelnes Ereignisses ebenso denken läßt wie den unausschöpflichen Möglichkeitshorizont von Kreativität (Peirce 107-112; Neville, Creativity 40-45; vgl. Deuser, Grundlagen 54ff.; Herron). Das kosmologische Schema der dogmatischen Tradition, Erst- und Zweitursachen im Rahmen eines Mechanikmodells der göttlichen Vorsehung zuordnen zu müssen, kann

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deshalb aufgegeben werden. Entsprechendes gilt für die immer problematische Kombination von Notwendigkeit und Wissen bzw. Vorauswissen Gottes, die einem quasi-mechanischen Verursachungsdenken nicht entkommen kann. Der Nezessitarismus jeder Form ist zu ersetzen durch Wachstumsmodelle aufgrund von Kreativität (-»-Naturwissenschaft II.3.; vgl. Peirce 218-233), und diese Ereigniswahrnehmung denkt im Modell nichtlinearer offener Systeme. Der (natürliche wie der geschichtliche) Kosmos baut sich auf aus triadischen Semiosen (-»Semiotik I.4.), von denen menschliche Erfahrung und Konstruktivität ein Teil sind. Infinite bzw. infinitesimale Galaxien wären als Metapher dessen geeignet, was als Realität der Schöpfung Gottes evolutionistisch vorgestellt werden muß. Darin sind unterschiedliche Formen von Indeterminismus und kausalen Wechselwirkungen auszumachen, in deren immer neuen, überraschenden, verhaltensbildenden und inspirierenden Musterprägungen göttliche Vorsehung im allgemeinen wie im besonderen zum Ausdruck kommt (Gregersen 178). Die Nähe Gottes ist dann in jedem Ereignis wie in dessen Folgen und Verflechtungen dadurch gegeben, daß die schöpferische Ermöglichung — für menschliches Wollen unkontrollierbar - vorausgeht, sich dann faktisch auswirkt und zur Präsenz in Darstellungen kommt. In Gottes Ewigkeit ist diese Nähe ohne die Bedingtheiten der Zeitdifferenzen ausgedrückt (vgl. Neville, Eternity 219f.); in Gottes „realer Präsenz" ist die Welt, was sie ist. Von Gott her gibt es folglich kein kausales und kein zeitliches Bedingungsverhältnis (vgl. Dalferth, Presence 52f.), und der Sinn des Begriffs Vorsehung ist konsequent als nicht-zeitlicher aufzufassen, dessen Kraft in der präsent wirksamen Kreativität als Liebe zur Schöpfung, d.h. im Wachstum des Kosmos, zur Geltung kommt (vgl. Peirce 505 Anm. 45; Härle, Dogmatik 286f.). 4. Gottes Handeln/De

Providentia:

Schöpfung,

Versöhnung,

Geistesgegenwart

Zur Übersicht ist zunächst festzuhalten, daß - mit der theologischen Tradition (vgl. Bauke-Ruegg 300—312) - unterschieden werden kann zwischen Eigenschaften Gottes, die menschlich unzugänglich sind (wie Ewigkeit, Unendlichkeit), solchen, die Gottes Relation zur Welt und zum Menschen benennen (wie Allmacht [omnipotentia] und Allwissen [omniscientia]), und schließlich den eigentlichen Handlungsbegritfen: Schöpfung, Erhaltung (conservatio), Vorsehung (Providentia), Vorherbestimmung (praedestinatio). Wie schon deutlich wurde (s.o. 2.), kann die Vorsehung entweder auf der Ebene der Soteriologie verankert werden (verbunden mit der Dekreten- bzw. Erwählungslehre [-•Prädestination]; vgl. zur reformierten Tradition Bernhardt, Handeln 144ff.) oder in Verbindung zum Gottes- und Schöpfungsbegriff stehen. Das fragliche Wie dieses Gotteshandelns ist dann je nach kosmologisch-metaphysischen Denkmodellen auslegungsfähig: als ordnende (teleologische) Qualität wie in Gott selbst vorausgesetzt, als je gegenwärtige schöpferische (All-)Wirksamkeit, als über Zweitverursachungen vermittelte Aktivität. Insofern ist die Frage nach dem „Handeln Gottes" in der Theologie der Gegenwart eigentlich identisch mit der traditionellen Problemstellung von Gottes Vorsehung. Allerdings kann der Handlungsbegriff in seiner Übertragung auf Gott mit unterschiedlichen Akzenten versehen sein: Gott handelt (gedacht im lutherischen Modell der „Zwei-Regimenten-Lehre") anders im Natur- und Sittengesetz und anders im Evangelium (Härle, Zwei-Regimenten-Lehre); Gottes Handeln (gedacht in Analogie zur menschlichen Intentionalität) ist zugleich universal und (verborgen) mitwirkend in allen natürlichen wie geschichtlichen Wirkungszusammenhängen (White 96—121; vgl. Bernhardt, Handeln 314-379); Gottes Handeln in seiner Offenbarung in Jesus Christus ist ontologisch umfassend, so daß eine separate Vorsehungslehre eigentlich nichts mehr hinzufügen kann (Schwöbel, Agency 241; vgl. ders., God 31—36); Gottes Handeln (gedacht in seiner besonderen Stellung nach der Schöpfung und vor dem Ende aller Dinge) kann unterschieden werden nach seinen „materialen" und „formalen" Wirkungen, wie es die dogmatische Tradition getan hat (vgl. Ratschow, Dogmatik 227). Anknüpfend an den letzten Vorschlag kann zur begrifflichen Orientierung gesagt werden: Die erstere Distinktion (Heilshandeln Gottes) gliedert nach Providentia generalis

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(im Bezug zur Welt), Providentia specialis (im Bezug auf die Lebewesen) und Providentia specialissima (im Bezug auf die Gläubigen) — und erreicht damit zuletzt die Soteriologie im engeren Sinne; die letztere Distinktion (Welthandeln Gottes) gliedert nach conservatio (Erhaltung), concursus (Mitwirkung) und gubernatio (Leitung) - und bezeichnet damit die Spannbreite von der Schöpfung im ganzen bis zur gnädigen Führung im einzelnen Leben (s.o. 2.2.2.). Wenn die Vorsehungslehre in ihrer Eigenständigkeit (gegenüber dem umfassenden Begriff des Handelns Gottes) bestehen bleiben soll, dann steht dafür wesentlich ihre kosmologische Dimension, wie sie bereits in biblischer, antiker und dogmatischer Tradition ihre Basis war und auch in der modernen Kosmologie wiederum sein kann. Die Einwände gegen eine Fortführung des eigenständigen Begriffs von Gottes Vorsehung begründen sich entweder im (unchristlichen) Mißbrauch des Begriffs - in Deutschland verbunden mit dem Datum 1933 (Härle, Religion 177 Anm. 15; vgl. Beintker 445 f.; Klein 251ff.; von Scheliha 350 Anm. 11), oder mit der kosmologisch in der Moderne ratifizierten Unvorstellbarkeit von Gottes Welthandeln gemessen am faktischen Zustand bzw. der wissenschaftlichen Konstruktion der Welt (D. Ritsehl; vgl. Bernhardt, Handeln 20ff.). Nur wenn die wissenschaftliche Kosmologie, die Weltund Selbsterfahrung der Menschen und die theologische Sicht des Gotteshandelns nicht mehr zusammenkommen können - nur dann wäre der Begriff der Vorsehung aufzugeben (vgl. in diesem Sinne Ratschow, Heilshandeln 232f.235-243). Das aber erscheint inzwischen als ein Mißverständnis der 2. Hälfte des 20. Jh., das wiederum auf einem undurchschauten Mißverhältnis von Geistesund Naturwissenschaften beruhte. Die Natureinbindung der menschlichen Erfahrung hat sich dem wissenschaftlichen Modell nach zwar entschieden verändert (s.o. 3.3.), aber die Bedingungsverhältnisse sind gegenüber biblischer, antiker und dogmatischer Tradition der Struktur nach vergleichbar geblieben. Um das gültige und wirksame Zugleich von Welt- und Heilshandeln Gottes als Sinn der Vorsehungslehre herauszuarbeiten hilft - in Anknüpfung an die begrifflichen Vorgaben der dogmatischen Tradition - die folgende Matrix: Providentia generalis

specialis

specialissima

(Neu-) Schöpfung

Gottes Liebe

Glaube

concursus

Neuer Mensch

Versöhnung

Erwählung

gubernatio

Neue Welt

Lebensziel

Geistesgegenwart

Heilshandeln — G o t t e s Welthandeln Gottes~~""-~-^^_^ conservatio

M i t diesem Schema wird erkennbar, daß von seiner Diagonale (der trinitarischen Struktur von Schöpfung, Versöhnung, Geistesgegenwart) her gesehen nach außen gelesen werden kann; aber auch vom Welt- und Heilshandeln nach innen. Das heißt, die providentiellen Außenseiten gehören nach innen hin zusammen, sie lassen sich aber durchaus nach außen hin differenzieren. In diesen Merkmalsunterscheidungen natürlicher und geschichtlicher Erfahrungen besteht das Eigenrecht der Vorsehungslehre. Weil die kreative Ermöglichung der Welt (Gottes Schöpfung ex nihilo) Ordnungs- und Verhaltensstrukturen will, in denen die Gottesliebe des Ursprungs selbst wirksam bleibt (Versöhnung) und sich präsent macht (Geistesgegenwart), besteht das eigentliche Wunder der Providentia darin, daß diese Welt besteht. Insofern kann die Unterscheidung von Providentia ordinata (Regel- und Erhaltungszusammenhang der Welt) und extraordinata (Eingreifen Gottes durch Wunder contra naturam-, s.o. 2.3.1.) entfallen. Das ursprüngliche Schöpfungswunder setzt sich empirisch fort im Wachstum der Natur, den Entscheidungs- und Regelzusammenhängen gelingenden Lebens, bleibt in ihnen kreativ präsent - und das Absterben und Mißlingen bedeutet keine Widerlegung dieses Prozesses. Schließlich steht an dritter Stelle die Selbstgegenwärtigkeit dieses Gelingens, das den Schmerz des Lebens- und Sterbeprozesses im Kontinuum der Schöpfung mit einschließt und trägt. Darin, so war ein Grundgedanke Kierkegaards, ist Gottes leidenschaftliche Liebe unveränderlich, machtvoll und sich durchsetzend präsent.

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Die Vorsehungslehre legt diese begriffliche — und in der Welterfahrung produktive — Spannung von ursprünglicher (und jeweils im Ereignis wirksamer) Kreativität, dem Schmerz der Liebe und der gnädigen Gegenwärtigkeit Gottes (Providentia specialissima/ gubernatio) im Kontinuum des Weltgeschehens aus. Das einzelne Kontingente ist sozusagen umgeben vom schöpferischen Kontinuum und seinem immer möglichen Gelingen. Das gilt für die erkennbaren Ordnungs- und Gelingensstrukturen in der Natur ebenso wie in der Geschichte, wobei letztere über Verhaltensmuster und Handlungen von Menschen durch noch höhere Freiheitsgrade ausgezeichnet sind als die Naturereignisse. Gottes Vorsehung (als Providentia generalis, wie dargestellt im dreifachen Welthandeln Gottes) ist erkennbar in allen Phänomenen des Neuen, der überraschenden Realisierung und der Erneuerung der Welt; Gottes Vorsehung (als Providentia specialis) ist erkennbar in allen Phänomenen sympathetischer Liebe, die Leiden real überwindet und Zielgebungen ermöglicht; Gottes Vorsehung (als Providentia specialissima) ist erkennbar in allen Phänomenen des Grundvertrauens, der Handlungsgewißheit und der Geistesgegenwart. In the long run lassen sich durchaus auch Muster des schöpferischen, sympathetischen und selbstgegenwärtigen Gestaltens erkennen, niemals aber objektivistisch abgesetzt und nicht ohne den Aneignungsprozeß derer, die mit solchen Mustern in Wechselwirkung stehen. Kosmologische Entwicklungszüge dieser Art sind in den religiös-christlichen Traditionsbildungen „geschichtlicher —»Eschatologie" zum Ausdruck gebracht worden (Moltmann 150-284); ihre Erkenntnismöglichkeit aber bedarf des divinatorischen, vor-sehenden Blicks (Langford 143-166), worin Gottes Liebe ebenso aktiv ist wie Glaube, Überredung (vgl. Jon lf.) und kontextverpflichtete Interpretationen. Der Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit löst sich dann auf in den - natürlichen wie geschichtlichen - Freiheitsspielräumen, die sich in gestaffelten Verhaltensgewohnheiten aufbauen, Regelsysteme der Natur ebenso wie kulturelle Lernmuster ausbilden. Dabei handelt es sich um organische (dreidimensionale) Zeichenereignisse, in denen durchgängig das kreative Ursprungselement ebenso einwohnt wie der Drang zur Gegenständlichkeit und selbstkontrollierenden Präsenz. Freiheit realisiert sich unter diesen Entwicklungsbedingungen, die immer ihren relativen Bedingungszusammenhang (Notwendigkeiten) ebenso aufweisen wie die Spontaneität des Neuen. So handelt Gott: weltgründend, mitwirkend, leitend; schöpferisch, liebend, darstellend. Erst in diesem Zusammenhang hat das Bittgebet (—• Gebet) seinen genuinen Ort, das zugleich Veränderungen von Gott immer erwartet und doch Seinen Handlungszusammenhang in N a t u r und Geschichte respektiert. Psalm 139 ist somit der Inbegriff von Gottes Vorsehung in allem, dogmatisch ausgedrückt: seiner Allwirksamkeit als operosa et actuosa praesentia (zu Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica [1664], vgl. Bernhardt, Handeln 135; Ratschow, Dogmatik 213.221;): „ W ü r d e ich sagen: .Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll N a c h t mich umgeben', auch Finsternis wäre für dich nicht finster, die N a c h t würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie L i c h t " (Ps 1 3 9 , l l f . ) . Literatur Wolfgang Achtner, Die Chaostheorie. Gesch., Gestalt, Rezeption: EZW-Texte, hg. v. der Ev. Zentralsstelle f. Weltanschauungsfragen, Nr. 135 (1997) 1 - 5 6 . - Robert M. Adams, Mittleres Wissen u. das Problem des Übels: Christoph Jäger (Hg.), Analytische Religionsphil., Paderborn 1998, 253 - 272. - Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966. - Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, hg. v. Wilhelm Thimme/Carl Andresen, 2 Bde., 1978 J 1991 (BAW.AC). - Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Meyer editum, Basel 1994. - David J. Bartholomew, God of Chance, London 1984. - Jan Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Syst.-theol. Erwägungen zw. Metaphysik, Postmoderne u. Poesie, 1998 (TBT 96). - Melanie Beiner, Intentionalität u. Geschöpflichkeit, 2000 (MThSt 66). - Michael Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im gesch. Leben: ZThK 90 (1993) 442-461. - Hendrik S. Benjamins, Eingeordnete Freiheit. Freiheit u. Vorsehung bei Origines, Leiden/New York/Köln 1994. - Silke-Petra Bergjan, Der fürsorgende Gott. Der Begriff der n P O N O I A in der apologetischen Lit. der Alten Kirche, 2002 (AKG 81). - Reinhold Bernhardt, Art. Vorsehung: EKL J 4 (1996) 1208-1211. - Ders., Was heißt „Handeln Gottes"? Eine Rekonstruktion der Lehre v. der Vorsehung, Gütersloh 1999 (Lit.). - Hans Blumenberg, Säkularisierung u. Selbstbehauptung, Frankfurt a.M. 1974. - Ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1981. - Heinrich Bornkamm, Kopernikus im Urteil der Reformatoren: ARG 40 (1943)

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Hermann Deuser

Vorsehung II

324 II. Judentum

1. Allgemein 2. Antikes Judentum bis 132 n. Chr. Judentum (Literatur S. 327)

1.

3. Mittelalter

4. Neuzeit

5. Modernes

Allgemein

Vorstellung und Begriff einer Vorsehung ist auch im Judentum engstens mit der Entwicklung des Begriffes der -»Transzendenz (—»Gott) und mit dem jeweiligen Welt-und Menschenbild (-»Schöpfer/Schöpfung; —»Welt; —»Mensch; -»Seele; -»Wille/Willensfreiheit) verbunden. Dabei blieb die Spannung zwischen einer direkten Vorsehung eines persönlichen Gottes und einer indirekten Vorsehung, wenn auch mittels der Tori als Schöpfungsordnung allgemein und als Lebensordnung Israels im besonderen, theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich ein stets aktuelles Problem. Wegen der zahlreichen biblischen Aussagen über unmittelbares oder planvolles Handeln Gottes spielt das Thema gerade in der biblischen Auslegungsgeschichte eine beträchtliche Rolle. Das Hebräische verwendet für Vorsehung als terminus technicus hasgahah (wörtlich „Beaufsichtigung") oder hanhagah („Führung"). 2. Antikes Judentum

bis 132 n. Chr.

Zum Thema Vorsehung enthalten die biblischen Schriften kaum direkte Aussagen, doch setzt der monotheistische Anspruch für den Gott Israels eine entsprechende Auffassung von Geschichtsmächtigkeit voraus, auch in strafender Funktion, was abgesehen von dem göttlichen Weltregiment eine Art besonderer Vorsehung bezüglich des Gcttesvolkes bedingt. Bis heute dominierte diese kollektiv gebundene Vorstellung das jüd sche Bewußtsein und relativierte das Interesse am Thema der individuellen Vorsehung, denn abgesehen vom Glauben an eine unmittelbare oder mittelbare (-»Engel; Michael als Engelfürst Israels) göttliche Führung und Fügung in der Geschichte bestimmte noch die Vorstellung von einer sowohl die Schöpfung als auch alle Lebensbereiche Israels regelnden göttlichen Ordnung das religiöse Bewußtsein. Die Tora als göttliche Schöpfungsund Lebensordnung, die Gott dem Volk Israel exklusiv geoffenbart hat, gewährleistet in dieser Sicht auch dem Individuum die Voraussetzungen für ein gottgefälliges Disein und für die Erlangung der gottgesetzten Zweckbestimmung. Unter dieser Voraussetzung konnte man auch den von der Antike her üblichen astralen Determinismus für das Alltagsgeschehen und den natürlichen Lebensablauf teilen. Eine gewisse Parallelität besteht zwischen der weisheitlichen Konzeption einer immanenten Weltordnung und stoischen Auffassungen, so daß man letztere im Judentum, soweit man sie kennenlernte, nicht als fremd empfand. Von Einzelpassagen im Buch -»Sirach abgesehen hat in der jüdischen Antike aber nur -»Philo von Alexandrien das Thema eingehender betrachtet, ihm einen eigenen philosophischen Traktat (De Providentia) gewidmet und theologisch ähnlich in Op 171 f. behandelt. Obschon er auf den ersten Blick nur die gängigen, vorrangig stoisch orientierten Positionen referiert, läuft die Gesamttendenz darauf hinaus, daß Israel (das „Gott schaut") einer besonderen npövoia unterliegt (vgl. auch LegGai 3f.6.220.236.367; Flacc 102.125.170.191). Gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. beschrieb -»Josephus Flavius in Bell 11,118-166 rückblickend die religiösen Gruppen des Judentums vor 70 n. Chr. nach einem vorringig anthropologischen Gesichtspunkt, nämlich nach ihrer Einstellung zur Frage des freien Willens und damit auch der Vorsehung, allerdings recht schematisch und nach hellenistischen Philosophenschulen stilisiert, wobei den -»Essenern ein Determinismus, den -»Sadduzäern eine „epikuräische" Gegenposition und den -»Pharisäern (am ehssten zutreffend) eine Mittelposition zugeschrieben wird. Theologisch maßgeblicher sindseine Ausführungen in Ant X , 2 7 6 - 2 8 1 über die Vorsehung in der aktuellen Geschichtsperiode ab Antiochus IV. als Erfüllung der Prophetie Daniels, und zwar wieder (vgl. auch Ap 11,180) mit einer negativen Bezugnahme auf „Epikuräer", die jeden göttlichen Einfluß auf den Gang der Ereignisse leugnen. Israel verfügt auch nach Josephus in der Tora

Vorsehung II

325

über eine dem Gotteswillen entsprechende Ordnung und genießt insofern eine Vorzugsstellung gegenüber den Völkern (Ap 11,184-189). Die Rabbinen kannten Diskussionen über die Reichweite des göttlichen Regiments und auch Ansichten, die als häretisch eingestuft wurden (vgl. mBer V,3; yBer V,3 9c; bBer 33b; auch yHag 11,1 77b; KohR V,8f. u.ö.). Sog. „ M i n i m " vertraten nämlich ähnliche Positionen (vgl. TanB ns' x x x - x x x i ) , wie sie Josephus den „Epikuräern" nachsagte. 3.

Mittelalter

Die differierenden Ansichten über Gott und sein Verhältnis zur Schöpfung sowie der Möglichkeiten einer persönlichen Gottesbeziehung kennzeichnen wie in der Umwelt das philosophisch-theologische Denken des jüdischen Mittelalters. Z w a r lebten in breiteren Schichten die traditionellen Ansichten massiv weiter und bestimmten die Volksfrömmigkeit, die gleichwohl zugleich stark durch einen astralen Determinismus bestimmt wurde (-»Astrologie), aber die von der Antike her wirksamen Vorbehalte gegenüber den biblischen Anthropomorphismen, die im maimonidischen Streit des 13. Jh. besonders akut wurden, konnten nicht allein einer „ f r e m d e n " Philosophie zur Last gelegt werden. Die Schriften des aschkenasischen —»Chasidismus zeigen, wie sehr in traditionellen Kreisen dieses Problembewußtsein Fuß gefaßt hatte und frömmigkeitsgeschichtlich wirksam geworden war. Allerdings taten sich philosophierende Theologen mit der Behauptung einer unmittelbaren oder gar individuellen Vorsehung schwer, weil diese im Grunde weder in neuplatonisch noch in aristotelisch orientierter Sicht einen Platz hatte und dazu - als weit gewichtigeres Anliegen - noch das besondere Verhältnis zwischen Gott und Israel irgendwie begründet werden mußte. Die meisten Autoren bemühten sich darum, die individuelle Vorsehung und die Sonderstellung Israels irgendwie in ihrem System zu verankern. Dabei blieb das M a ß der (gottgesetzten) astralen Determination strittig, -»Mose ben Maimon war ein strikter Gegner der Astrologie, während Levi ben Gerson (1288-1344) ihr weiten Raum zugestand, aber dennoch an einer Vorsehung festzuhalten suchte. Frömmigkeitsgeschichtlich war der Ausschluß einer individuellen Vorsehung folgenschwer, beruhte doch die ganze traditionelle Ethik auf dem Prinzip der Vergeltung (-»Lohn und —»Strafe), weshalb sogar Mose ben Maimon in seiner 10. Grundlehre des jüdischen Glaubens daran festhielt, daß Gott die Taten der Menschen kennt, obschon er in seinen philosophierenden Schriften weitgehend der aristotelischen Linie folgte und daher bemüht war, in bezug auf die Gottheit jede Veränderung und daher eben auch die Kenntnis der Einzeldinge auszuschließen. Das Problem der Vorsehung war also engstens an eine entsprechende Definition der göttlichen Präszienz und an die jeweilige Ansicht von Gott als Schöpfer gebunden und spielte in den Bemühungen um eine -»Theodizee eine grundlegende Rolle. Hierbei wird der Unterschied zur nichtjüdischen Umwelt vor allem anhand der Rolle der Tora deutlich, weil sie als Schöpfungsordnung und Naturgesetz die Funktion der Vorsehung weitgehend abdeckt, aber zugleich auf Israel beschränkt bleibt. Selbst bei traditionalistischen Theologen setzte sich bei aller Ablehnung der Philosophie letztlich eine strenge Auffassung der Transzendenz Gottes durch. Das schloß jede unmittelbare Beziehung zwischen Gottheit, Welt und Individuum aus und mußte prinzipiell eine Glaubenskrise provozieren. Die traditionellen religiösen Anliegen wurden aber durch die —»Kabbala gerettet, die sich in der Folge auch frömmigkeitsgeschichtlich weit nachhaltiger auswirkte als die Philosophie. Z w a r betonten die Kabbalisten die strikte Transzendenz der Gottheit, setzten aber über den Bereichen der Sphären bzw. separaten Intelligenzen ein System von zehn göttlichen Wirkungskräften (Sefirot) an, auf die sämtliche biblischen und späteren Aussagen von philosophisch gesehen problematischem Charakter anstandslos bezogen werden konnten. In den Wechselwirkungen zwischen Sefirot „ o b e n " und den Gegebenheiten „ u n t e n " fanden sowohl die individuelle Vorsehung wie die Sonderstellung Israels einen sowohl systematisch wie religionspsychologisch recht überzeugenden Platz, zumal alle diese Vorgänge darauf abzielen sollten,

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Vorsehung II

die „Einheit" der verborgenen Gottheit zu demonstrieren und, soweit in Frage gestellt, wiederherzustellen, wobei dem Volk Israel und speziell seinen Kabbalisten eine exklusive, positiv wie negativ wirksame Rolle zukommt, da die (schriftliche und mündliche) Tora (-•Gesetz) auch im Sefirotsystem sowohl als universale Ordnung wie auch als Israels besonderer Erwählungsauftrag fest verankert ist. Der kabbalistische Fromme sah in allem Sichtbaren und Offenbaren, in den Buchstaben der Bibel wie in jedem Detail der religiösen Praxis, Chiffren von Sefirotvorgängen, in denen die emanatorischen Kräfte von „oben" her und die Einwirkungen durch Israels Gehorsam oder Ungehorsam von „unten" her jene welt-übergreifenden Prozesse bewirken, in denen auch das Geschick der Individuen sinnvoll „aufgehoben" ist. Das Bewußtsein, mit jedem Gedanken (meditative Ausrichtung: kawwanah), mit jedem Wort (und Buchstaben) und mit jeglicher Tätigkeit derart eingebunden zu sein, wirkte sich weit intensiver aus als die traditionellen oder philosophisch-theologischen Konzeptionen von Vorsehung. 4. Neuzeit Die neuzeitlichen Darlegungen zur Vorsehung versuchen meist eine Harmonisierung traditioneller, philosophischer und kabbalistischer Positionen (vgl. Josef Salomo Delmedigo, Ta' a mulot Hokmah, Basel 1631, Teil II: Niblot 'orah fol. 94-112). Gelegentlich deutet sich dabei eine Konfrontation an, seit —• Spinoza allerdings gebremst, die in manchen Punkten in die Nähe frühaufklärerischer Ansätze führt (David Nieto, De la Divina Providentia, London 1704; engl.: On Divine Providence, London 1853). Das Phänomen beschränkte sich freilich auf kulturelle Elite-Bereiche des italienischen und west-sefardischen Judentums, während die überwältigende Mehrheit vor allem des aschkenasischen und orientalischen Judentums einer immer populärer werdenden kabbalistischen Frömmigkeit mit akut-eschatologischen Erwartungen folgte. Sie wurde einerseits durch eine intensive Beschäftigung mit dem Schicksal der -»Seele gekennzeichnet, andererseits durch „messianische" Bußbewegungen und Hoffnungen. Infolge der schweren Enttäuschung durch den 1666 auftretenden Pseudomessias —»Sabbatai Zwi geriet diese Frömmigkeit aber weitgehend in Verruf und lebte fast nur mehr im osteuropäischen Chasidismus weiter. 5. Modernes

Judentum

Im entstehenden „Westjudentum" konnte unter den genannten Voraussetzungen die -»•Aufklärung Fuß fassen, deren wieder philosophisch begründete und universalistisch angelegte Auffassung von Vorsehung auch die moderne jüdische Theologie weitgehend bestimmt hat. Dabei bemühte man sich, die Sonderstellung Israels so weit zu wahren, als Israels dogmenfreie Religion der universalen Vernunftreligion am aufgeschlossensten gegenübersteht und ihr somit eine Vorreiterrolle im Prozeß des moralisch-religiösen Fortschritts der Menschheit zukommt. Die Vorsehung, die in der Tradition an die Tora als Schöpfungs- und Lebensordnung gebunden war, wurde hier auf eine entsprechend „modern" interpretierte „Prophetie" und Ethik verlagert und den Tora-Gesetzen eine providentielle Hilfsfunktion zugewiesen. Unter dem Eindruck des modernen -»Antisemitismus und der NS-Zeit kehrte man weithin zu einer traditionellen, philosophisch kaum hinterfragten Redeweise von Vorsehung zurück. Bedeutender erschien nach dem „Holocaust" nämlich die Frage nach einer noch möglichen Sinngebung jüdischer Geschichte und Existenz, und die Antwort auf diese Frage wurde für einige Zeit vor allem im zionistischen Aufbauwerk und in der Staatsgründung Israels gesehen, also in der praktischen Politik. Diesen providentiellen Aspekt vermochte man ab dem Sechstagekrieg von 1967 weitgehend durchzusetzen und auch an christliche Theologen zu vermitteln. Erst die Krise des Zionismus seit 1977 hat wieder zu theologisch motivierten Betrachtungen der Vorsehungsvorstellung geführt. Damit wollte man auch einer Skepsis theologisch akzentuiert entgegenwirken, die im Zuge der „Holocaust"-Literatur den Sinn der Geschichte und der Schöpfung

Vorsehung II

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durch einseitige anthropologische Zentrierung in Frage gestellt und die Debatte u m die - • T h e o d i z e e neu entfacht hat. Literatur Zu 2.: Alexander Altmann/Yehoshua M. Grintz, Art. Providence: EJ 13 (1971) 1279-1282.12821284. - Peter Frick, Divine Providence in Philo of Alexandria, 1999 (TSAJ 77). - Otto Kaiser, Die Rezeption der stoischen Providenz bei Ben Sira: JNWSL 24 (1998) 43-54. - Wilhelm Lütgert, Das Problem der Willensfreiheit in der vorchristl. Synagoge: Oskar Bensow, Glaube, Liebe u. gute Werke, 1906 (BFChTh 10,2) 53-88. - Ephraim E. Urbach, The Sages (1975), 2 Bde., Cambridge, Mass. *1987, 255-285. Zu 3: Altmann/Grintz (s.o. zu 2.). - Isaac Baer, Senè p'raqim ssel tórat ha-hasgahah be-„Sefär H a sidim": Mähqarim ba-qabbalah ù-b e -tòl e dót ha-datót... le-Gersom Salóm, Jerusalem 1967/68, 47-62. - J. David Bleich, Duran's View of the Nature of Providence: JQR 69 (1978/79) 208 -225. - Zeev Blumberg, Ha-Q e ra'im w'-ha-Mù'tazilah 'al b"ajat ha-hasgahah: Tarb. 42 (1972/73) 364378. - David B. Burrell, Maimonides, Aquinas and Gersonides on Providence and Evil: RelSt 20 (1984) 335-351. - Joseph Dan, Tórat ha-sód ssel h"sidùt 'Ask'naz, Jerusalem 1969, 215 -240. Jacob I. Dienstag, Hasgahah b e -misnat ha-RMB"M: Daat 20 (1987/88) 17-28. - Zevi Diesendruck, Samuel and Moses ibn Tibbon on Maimonides' Theory of Providence: HUCA 11 (1936) 341-366. - Robert J. Eisen, Gersonides on Providence, Covenant, and the Chosen People, Albany, N.Y. 1995. - Isidor Epstein, Das Problem des göttlichen Willens in der Schöpfung nach Maimonides, Gersonides u. Crescas: MGWJ 75 (1931) 335-347. - Abraham S. Halkin, Nissim ben Moscheh on Providence: Hommage à George Vajda, Louvain 1890, 217- 225. - Alfred L. Ivry, Providence, Divine Omniscience and Possibility. The Case of Maimonides: Tamar M. Rudavsky (Hg.), Divine Omniscience and Omnipotence in Medieval Philosophy, Dordrecht 1985,143-160. - Louis Jacobs, Principles of the Jewish Faith, London 1964, 320-349.350-367. - Menachem Kellner, Gersonides, Providence, and the Rabbinic Tradition: JAAR 42 (1974) 673 - 685. - Jacob Kramer, Das Problem des Wunders im Zusammenhang mit dem der Providenz bei den jüd. Religionsphilosophen des MA v. Saadia bis Maimüni, Straßburg 1903. - Michael Nehorai, Ha-RMB"M we-ha-RLB"G: Daat 20 (1987/88) 51-64. - Chayim M. Raffel, Providence as Consequence upon the Intellect. Maimonides' Theory of Providence: AJSR 12 (1987) 25 -71. - Alvin J. Reines, Maimonides' Concepts of Providence and Theodicy: HUCA 42 (1973) 169-206. - Gerhard Scholem, Art. Providence (Kabbalah): EJ 13 (1971) 1284-1286 = ders., Kabbalah, Jerusalem 1974, 382-384. - Daniel J. Silver, Nachmanides' Comm. on the Book of Job: JQR 60 (1969/70) 9 - 26. - Ludwig Stein, Die Willensfreiheit u. ihr Verhältnis zur göttlichen Praescienz u. Providenz bei den jüd. Philosophen des MA, Berlin 1882. - Leo Strauss, Der Ort der Vorsehungslehre nach der Ansicht Maimunis: MGWJ 81 (1937) 93-105. - Charles Touati, La pensée phil. et théologique de Gersonide, Paris 1973, 359-392. - Ders., Les deux theories de Ma'imonide sur la providence: Siegfried Stein (Hg.), Studies in Jewish Religious and Intellectual History presented to Alexander Altmann, University, Ala. 1979, 331-343. - Ders., La providence divine chez Hasday Crescas: Daat 10 (1983) 15-31. - Georges Vajda, Recherches sur la philosophic et la kabbale dans la pensée juive du moyen-äge, 1962 (EtJ 3) 23 -27.105-109.199 -247. - Moi'se Ventura, La foi dans la providence selon la conception di Ralbag: Minchah le-'Abraham. Sefär jòbel likbòd 'Abraham Elmaleh, Jerusalem 1959, 12-21. - Martin D. Yaffe, Providence in Medieval Aristotelianism. Moses Maimonides and Thomas Aquinas on the Book of Job: HSt 20-21 (1979) 62 - 74. Zu 4.: Jakob J. Petuchowski, The Theology of Haham David Nieto (1954), New York 21970, 108-127. - Hayim Shine, Dijjunó shäl R. 'Obadja Sforno 'al ha-hashgachah: Peamim 20 (1983/84) 77-87. - Azriel Shohet, 'Im chillùfè teqùfót, Jerusalem 1960, 195-197. Zu 5.: Elliot B. Gertel, Perceiving God's Providence: Siegel/ders. (s.u.) 42-55. - Louis Jacobs, A Jewish Theology, London 1973, 114-124. - Seymour Siegel/Elliot B. Gertel (Hg.), God in the Teaching of Conservative Judaism, New York 1985. - Manfred H. Vogel, Divine Providence in the Context of Judaism: Jacob Neusner (Hg.), God commands, Macon, Ga. 1995, 119-141. J o h a n n Maier

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Vorsokratik

Vorsokratik 1. Begriff, Problematik, Deutung und Überlieferung 2. Homer und Hesiod 3. Thaies, Anaximander, Anaximenes 4. Pythagoras, Xenophanes, Heraklit, Parmenides 5. Melissos, Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Demokrit 6. Sophistik, Sokratik, Nachwirkung und Neubesinnung (Quellen/Literatur S. 334)

1. Begriff, Problematik, Deutung und Überlieferung „Vorsokratik" ist eine seit etwa 150 Jahren mögliche Bezeichnung für die frühe Epoche des griechischen Denkens zwischen 600 und 400 v. Chr., also für das Denken von Thaies, Anaximander, Pythagoras, Xenophanes, Anaximenes, Heraklit, Parmenides, Zenon, Melissos, Anaxagoras, Empedokles und Demokrit - um nur die Wichtigsten in zeitlicher Reihenfolge zu nennen. Erst die mit —»Sokrates, —»Plato und —»Aristoreles begründete Philosophie und Philosophiegeschichte hat diese „Vorsokratiker" oder auch „Vorplatoniker" nachträglich als die ersten Philosophen bzw. ersten Aufklärer und Wissenschaftler der europäisch geprägten Welt ausgemacht. Problematisch ist diese Bestimmung nicht nur hinsichtlich der inneren Einheit und der äußeren Abgrenzung des vorsokratischen Denkens. Fraglich ist auch, welches die wesentlichen Entstehungsbedingungen dieses Denkens sind und ob es selbst schon von der Art ist wie die nachmals sog. -»Philosophie und -»-Wissenschaft. Nach ihrem späteren Selbstverständnis (entscheidend Aristoteles, metaph. I) entsteht die Philosophie durch zunehmende Verallgemeinerung der -»Erfahrung in Richtung auf die ersten Ursachen, d.h. als prinzipielle Rationalität, die alles, was ist, in einem natürlichen, notwendigen und logischen Zusammenhang zu erklären und zu begründen sucht, indem sie allgemeinverbindlich, selbständig und selbstkritisch, auch paradox (zum Teil gegen die Meinung der meisten) -»Wahrheit von Scheinwahrheit unterscheidet. Diese Motive grundsätzlicher Vernünftigkeit lassen sich zwar auch schon bei den Vorsokratikem finden. Aber sie selbst denken, ohne ihr Denken als ein prinzipiell rationales zu reflektieren oder zu rechtfertigen. Eben dies bedeutet das Eigentümliche der Vorsokratik, das wir deuten müssen: als naiven oder „göttlichen" Anfang (Plato), als bloße -»Naturphilosophie (Aristoteles), als ewig einfache Wahrheit (—»Plotin; -»Nikolaus von Kues), als notwendige Entwicklungsstufe des Absoluten (G.W.F. —»Hegel), als tragische Lebensweisheit (E -»Nietzsche), als zukünftige Befremdung (M. -»Heidegger). Diese tiefgehende Fraglichkeit drückt sich auch darin aus, daß uns das Denken dieser frühen Denker nur gebrochen (indirekt und fragmentarisch) überliefert ist, indem nämlich spätere Philosophen und Schriftsteller davon durch ihre jeweilige Ansicht oder Absicht Ausgewähltes und Umgedeutetes berichten und dabei auch manches (mehr oder weniger wortgenau) zitieren, wobei sie das, was sie anführen, oft nur aus zweiter (oder fünfter) Hand haben, während die Originalschriften zunehmend verloren gegangen sind. Mit Plato und Aristoteles sah man offenbar in den Älteren nur noch dialektisch zu überholende und kritisch zu würdigende Vorgänger (vgl. vor allem Plato, Phd.; Sph.; Aristoteles, metaph.; ph.; de an.; cael.; mete.). In diesem Sinn hat dann Theopirast (371-287 v. Chr.), der Schulnachfolger des Aristoteles, eine Darstellung der (naturphilosophischen) Lehrmeinungen der früheren Denker verfaßt. Auf dieses (nur in wenigen Teilen erhaltene) Buch gehen wahrscheinlich viele der späteren Überlieferungen zurück, wie sie etwa in dem bunten, merkwürdigen Buch des Diogenes Laertios (3. Jh. n. Chr.) über „Leben und Ansichten berühmter Philosophen" mit anekdotischen Überlieferungen zusammenlaufen (etwa der Geschichte von Thaies, der in den Brunnen fiel; von Heraklit, der mit den Kindern Würfel spielte; von Zenon, der den Tyrannen ins Ohr biß; oder von Empedokles, der in den Ätna sprang). Ergiebige Zeugen sind auch der Skeptiker Sextus Empirikus (2. Jh. n. Chr.), die beiden christlichen Schriftsteller -»Clemens von Alexandrien und -»Hippolyt von Rom im 2. und 3. Jh. n. Chr. und besonders der spätakademische Simplikios (6. Jh. n. Chr.) in seinem Kommentar zur Aristotelischen Physik. Diese platonisch-aristotelisch inspirierte Tradition schreibt sich fort, bis sie in Hägeis

Vorsokratik

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System der Philosophiegeschichte ihre absolute Rechtfertigung erhält. Daran orientiert sich die erst dann einsetzende philosophiehistorische Forschung (maßgeblich Zeller). Deren wichtigste Ausgabe sind seit etwa hundert Jahren Die Fragmente der Vorsokratiker von H . Diels (1903ff., weitergeführt von W. Kranz, 1937ff.), nach der bis heute zitiert wird (FVS). Im Ergebnis führt uns die philosophiegeschichtliche Bearbeitung der Vorsokratiker also ebenso an die ursprüngliche Problematik heran wie davon weg. 2. Homer und

Hesiod

Die Welt, über die die frühen Denker sprechen, kennen wir immer noch aus der natürlichen Erfahrung, außerdem aber aus den Dichtungen Homers und Hesiods. Homer erzählt in der Ilias und in der Odyssee von Menschen und Göttern zwischen Himmel und Schattenreich - immer mit dem Vorbehalt, daß zwar die Musen alles wissen, der Mensch und Sänger aber, wenn nicht die Musen es ihm zusingen, wenig und nichts (II. 2,484-493), wie auch der Seher nur verkünden kann, „was ist, was sein wird und was gewesen ist", solange der Gott ihm beisteht (II. 1,68-72). Was Homer dichtet, ist vielleicht wahr, vielleicht aber auch dem Wahren nur täuschend ähnlich, wie Homer mit Odysseus weiß (Od. 19,203), der selbst wie ein Dichter kunstvoll erzählen und täuschen kann (Od. durchgehend und besonders 8 - 1 2 ) . Wie die Geschichten von ihm in versuchender Schwebe sind, so die gedichtete Welt Homers überhaupt. Diese Homerische Vieldeutigkeit ist der Anfang der griechischen Bildung, weil sie das Denken frei läßt, den Anspruch göttlichen Wissens und die Phänomene der Welt immer noch anders zu verstehen. Dem entspricht Hesiod, indem er seine Dichtungen (Theogonie; Werke und Tage) gerade davon absetzt. Weil ihm die Musen ihre zweifache Wissensmacht offenbaren: „viel Falsches zu sagen, das dem Wirklichen [nur] ähnlich ist", aber auch, „wenn wir wollen, Wahres zu künden" (th. 2 7 - 2 8 ) , glaubt er sich berufen, selbst mit ihnen nur Wahres zu singen, nämlich „was ist, was sein wird und was gewesen ist" (th. 38): die Einrichtung der Welt als die Geschichte göttlicher Mächte in den Fortzeugungen zweier Urmächte, Chaos und Gaia, die als erste nacheinander entstanden (ohne daß gefragt werden kann oder muß, woraus). Die Wahrheit dieser göttlichen Weltgeschichte beweist sich zuletzt dadurch, daß sie ein Ziel hat, indem das wilde Werden durch die Herrschaft des Zeus, der die rohen Anfänge (Chaos, Titanen, Typhoeus) bezwingt und unten (im Tartaros) hält, zu einem gerechten Ausgleich beruhigt wird. Damit wird für Hesiod (op. lOff.) auch die geschichtliche Welt der Menschen im Widerspiel von guter und schlechter Auseinandersetzung {EPK), von guten und schlechten Menschen als eine Welt der Vernunft, der Ordnung, der Arbeit, der Ehe und des Rechts erkennbar. 3. Thaies, Anaximander,

Anaximenes

Thaies von Milet (etwa 625 bis 545 v. Chr.) gilt als der erste Philosoph. Er soll sich als Astronom, Geograph, Geometer und Mathematiker, politischer Berater, Bauleiter und Ö k o n o m ausgezeichnet haben. Außerdem soll er (vielleicht im Anschluß an die mythische Rede von Urgewässern, z. B. Homer, II. 14,201; Orpheus FVS 1 B 2) das Wasser als Prinzip, als Anfang und Ende von allem, als das Göttliche, aus dem und in dem alles ist, aufgefaßt haben. Vielleicht hat er auch nur angenommen, daß die Erde auf dem Wasser schwimmt und dadurch z. B. die Erdbeben erklärlich gefunden. Möglicherweise erschien ihm das Wasser auch als das Belebende und Lebensnotwendige schlechthin, so daß er alles davon bewegt und beseelt und in diesem Sinn „voll von Göttern" denkt (vgl. FVS 11 A 1,12,22). Was Thaies (vielleicht) in der Allnatur des Wassers gefunden hat oder was zuvor Hesiod als gähnenden Abgrund („Chaos") entstehen sah, faßt Anaximander von Milet (etwa 610 bis 545 v. Chr.) mit einem kühnen Wort als aneipov: d. h. als Unbegrenztes oder Unbegrenzbares (auch Gestaltloses, Unbestimmtes, Undurchdringliches, Unfaßliches, Unendliches). Das aneipov ist der entgrenzende Anfang (äpxrf), der nicht zeitlos

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Vorsokratik

ewig, sondern in der Zeit selbst ohne Anfang und unvergänglich, also göttlich ist (FVS 12 B 2,3) und eine gesetzmäßige, wechselseitige Aus- und Begrenzung aller Welten and Wesen bedeutet: „Sie geben nämlich einander Recht und Strafe des Unrechts wegen nach der Anordnung der Zeit" ( B l b ) . Im äneipov sieht Anaximander Warmes und Kaltes, Feuchtes und Trockenes auseinander entstehen und gegeneinander bestehen und in- und durcheinander untergehen. So sieht er die Erde sich als eine dunkle Scheibe in der Mitte gegen die feurigen Räder des Himmels bilden und halten. Wie unten die Erde mit dem Meer ringt, reißt oben das Feuer an bestimmten Stellen den Luftnebel auf, welche Löcher wir als die Gestirne, zuäußerst als Sonne sehen. Und im Wasser bilden sich die ersten Lebewesen, indem das Trockene der Sonne ihnen eine H a u t macht, so daß einige (wie die Menschen) sogar eine Zeitlang auf dem trockenen Land leben körnen (vgl. FVS 12 A 9-11,18,30; B 1). Anaximenes von Milet (2. Hälfte des 6. Jh. v. Chr.) denkt alles als einen Vorgang der Verdichtung und Verdünnung der unbegrenzten Luft (är/p). Darin kann man gegenüber Anaximander einen Fortschritt zum konkreten Begriff stofflicher und quantitativer Selbstveränderung, womöglich sogar zum Begriff seelisch-geistiger Verhältnisse (Luft als Weltseele, FVS 13 B 2), aber auch einen Rückschritt ins eher Handgreifliche und weniger Prinzipielle oder auch nur eine fast beliebige Variation erblicken. In jedem Fall ist es eine genaue Beschreibung des epiphanen, „luftigen" Wesens der Erscheinungen als solcher, wenn Anaximenes etwa die Steine als schwer, hart, kalt und undurchsichtig gewordene Verdickungen und Verdichtungen, die Sonne aber „wie ein Blatt" auf der Luft schweben und die Götter als ein feuriges Sublimat oder nebliges Kondensat der Luft (immer neu?) entstehen sieht (vgl. FVS 13 A 5,7,10; B2a). 4. Pythagoras,

Xenophanes,

Heraklit,

Parmenides

Pythagoras (etwa 570 bis 490 v. Chr.) siedelte von Samos bei Milet nach Unteritalien über, wo er offenbar großen Einfluß gewann. Nichts von ihm ist einigermaßen sicher überliefert, alle Berichte und Zitate vermischen späteres pythagoreisches Legenden- und Gedankengut mit ursprünglicheren Erinnerungen und Zeugnissen. Die Pythagoreer hatten insbesondere auf Plato und die Platoniker einen schwer abschätzbaren Einfluß, und die Platoniker nahmen ihre eigenen Auffassungen wiederum als pythagoreische Urweisheit. Auf Pythagoras selbst geht vielleicht nur die Vorstellung zurück, daß die -»Seele sich immer wieder verkörpert und der Mensch deshalb nach gewissen Reinheitsgeboten besonnen und enthaltsam leben soll. Der Grundgedanke, daß alles durch - » Z a h l und Harmonie bestimmt sei, kommt mit den dazugehörigen mathematischen Entdeckungen wahrscheinlich erst bei den späteren Pythagoreern des 5. Jh. auf (z. B. bei Philolaos: „Und alles gewiß, was erkannt wird, hat Zahl; denn nichts kann gedacht oder erkannt werden ohne diese"; FVS 44 B 4). Offenbar finden die Pythagoreer in der reinen und gerechten Verfassung der Seele eine Entsprechung zur Reinheit und Richtigkeit des Mathematischen, auch wenn sie beides nicht gleich wie Plato idealisieren und vergeistigen, sondern als Gestaltung des Gestaltlosen (äneipov) in den Körpern, den Tönen, den Gestirnen oder den menschlichen Handlungsweisen selbst erblicken (vgl. z. B. FVS 44 B 11; 47 B 1 - 3 ; Aristoteles, metaph. 1,5-6; außerdem die Diskussion der pythagoreischen Auffassung der Seele als einer Harmonie in Piatos Phaidon und Aristoteles' de an. I). Von Xenophanes aus Kolophon (etwa 575 bis 475 v. Chr.), der ebenfalls später nach Unteritalien ausgewandert ist, sind als gesicherter Wortlaut gut 100 Verse überliefert. Darin sagt er, daß alles aus der nach unten unbegrenzten, wasserhaltigen Erde entsteht und z.B. die Sonne sich jeden Tag in jeder Gegend neu bildet, indem aus dem Meer gestiegene Wolken sich erhitzen und entzünden (vgl. FVS 44 A 38—45; B 27—33). Aber indem Xenophanes auf diese Weise die Ansichten von Thaies, Anaximander und Anaximenes zusammenzudenken und dabei wahrscheinlicher zu machen bzw. durch wahrscheinlichere zu überbieten sucht, erfaßt er zugleich, daß es seinem wie allem menschlichen Wissen wesentlich an Klarheit oder Gewißheit fehlt (B 34). Diese Selbstkritik

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entlarvt insbesondere alle Vorstellungen von den Göttern in der Art Homers und Hesiods als anthropomorph und damit als unangemessen, lächerlich, unmoralisch und falsch (B 10-16) — und ermöglicht so die Einsicht in ein ganz anderes Gottwesen: „Ein Gott [ist] bei den Göttern sowohl wie den Menschen der größte, / weder gestaltlich den Sterblichen ähnlich noch geistig ... Aber die Sterblichen meinen, daß die Götter geboren werden / und ihre [menschliche] Kleidung und Stimme und Gestalt haben" (B 23,14). Indem er das Anfängliche und Allesumfassende der Natur selbst als -»Gott denkt, der als einziger unbewegt alles andere mühelos immer erfaßt und bewegt (B 2 3 - 2 6 ) , hat Xenophanes den Gott der Philosophen gefunden. Heraklit von Ephesos (geb. etwa 540 v. Chr.) faßt das Befremdende und Rätselhafte dieses Gottes als solches: „Der Gott: Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger" (FVS 22 B 67a). Über hundert solcher Fragmente von ihm sind uns überliefert, Rätsel und Orakel des Denkens, die das Rätsel des Orakels selbst ausdrücken: „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nicht und verbirgt nicht, sondern deutet an" (B 93). Nicht-Sagen und Nicht-Verbergen heißt: Sagen und dadurch Verbergen, heißt Verbergen und dadurch Sagen. Die zu deutende Zweideutigkeit selbst ist die verborgene Einheit von offenkundigen Gegensätzen. Diese findet sich im Feuer (B 20,31), im Streit oder Krieg (B 53,80), im Spiel (B 52), als Welt (B 30), als Meer (B 61,124), als Sonne (B 3,6), als Weg (B 60), als Fluß (B 12,49a), als Rätsel (B 56), als Name (B 32,48), als Harmonie (B 8,54), auch von Bogen und Leier (B 51), im Verhältnis von Tod und Leben, Schlaf und Wachen (B 20.21.26.62.88), im Verhältnis all dieser Verhältnisse (B 10). Immer ist es dieser Verhältnissinn (Xóyoq), mit dem Heraklit den Menschen zugleich zu verstehen gibt, daß sie ihn (den Aóyog) nicht verstanden haben und nicht verstehen werden (B 1,2,50), und mit dem er sich inbesondere gegen die anderen Weisen wendet, gegen Homer, Hesiod, Pythagoras und Xenophanes, weil sie die gegenwendige Einheit der Natur gerade in der Vielheit des von ihnen Gewußten verkannt haben (B 40.42.57.81). Das Rätsel der Einheit wird anders vertieft oder gelöst von Parmenides aus Elea (geb. etwa 540 v. Chr.), nämlich in dem Gedanken des immer nur Seienden. In seinem Gedicht, von dem uns etwa 150 Hexameter erhalten sind, schildert Parmenides, wie er am Ende einer wunderbaren Wagenfahrt von einer Göttin begrüßt wird, um von ihr „alles zu erfahren: / sowohl der wohlüberzeugenden Wahrheit nichtzitterndes Herz / als auch der Sterblichen Ansichten, in denen keine wahre Glaubwürdigkeit ist" (FVS 28 B 1,28-30). Er soll denkend unterscheiden zwischen dem Weg, „daß ist und daß nicht [möglich] ist, nicht zu sein", und dem Weg, „daß nicht ist und daß nötig ist, nicht zu sein" (B 4). Nur der erste Weg erweist sich als möglicher und wahrer Weg des Denkens, „denn dasselbe ist Denken und Sein" (B 3). Der zweite Weg aber ist ganz unmöglich; und jeder, der diesen zweiten jedenfalls nicht ganz vermeidet, sondern irgendwie mit dem ersten zweideutig zusammenzudenken versucht, verirrt sich. Also erfaßt der Denkende die Wahrheit des Seienden, daß es nämlich von allem Nichtsein frei und also ohne Werden und Vergehen ist, vielmehr immer ganz gegenwärtig, unbeweglich, unteilbar, gleichartig, dicht und in sich vollendet ist wie eine Kugel. Wenn sich das Denken und Reden nicht in dieser Wahrheit hält, wird es so trügerisch, wie sich die Menschen sonst die Welt zurechtmachen (müssen), indem sie das eine immer nur Seiende in Gegensätze auseinandernehmen, die sich wechselseitig bestimmen und ausschließen: Seiendes und Nichtseiendes, Helles und Dunkles, Feuer und Nacht, Sonne und Mond, Lebende und Tote, Männer und Frauen. Also kann diese wahr-falsche Weltansicht von der Göttin auch nur in wahr-falschen Worten bestmöglich ausgelegt werden (vgl. B 6 19). 5. Melissos,

Zenon, Empedokles,

Anaxagoras,

Demokrit

Im Seinsgedanken des Parmenides steckt der Unterschied zum (unmöglichen) Nichtsein als das immer wieder Fragliche, wie überhaupt Unterschiede (und seien es auch nur scheinbare) möglich sind. Melissos von Satnos (5. Jh. v. Chr.) beweist das eine

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Vorsokratik

wahre Seiende des Parmenides als unkörperliches Unendliches (äneipov), in dessen Unterschiedslosigkeit sich alle Paradoxien des immer und überall unteilbaren und unveränderlichen Seins auflösen (FVS 30 B 1 — 10). Für Xenon von Elea (5. Jh. v. Chr.), der ebenfalls den Gedanken des Parmenides verteidigt, ist das Unendliche dagegen eine Widersinnigkeit, mit der er die Annahme von Vielheit, Teilbarkeit und Bewegung in Raum und Zeit ad absurdum führt: Wenn es Vieles gäbe, müßte es ins Unendliche weiter durch sich selbst teilbar und vermehrbar sein; das aber hieße, daß es letztlich gar nichts Bestimmtes und also widersprüchlich wäre (vgl. FVS 29 B 1). Und jede Bewegung setzt das Unmögliche voraus, in endlicher Zeit und auf endlichem Raum unendlich viele kleine Schritte zu durchlaufen oder zugleich hier und nicht hier zu sein; also holt Achill die Schildkröte nie ein und also ruht der fliegende Pfeil in jedem Augenblick (vgl. Aristoteles, ph. VI,9). Melissos und Zenon übertreiben die Wahrheit des Parmenides, indem sie die Unvereinbarkeit von Sein und Vielheit bzw. Sein und Bewegung noch zuspitzen. Empedokles, Anaxagoras und Demokrit versuchen dagegen diese zu entschärfen, indem sie das Entstehen und Vergehen zwar auch als Schein, diesen Schein aber durch eine (je eigentümliche) ontologische Konzeption von Immer(-in-Bewegung)-Sein, Unendlichkeit, Teilbarkeit und Mischbarkeit erklären. Wir können ihre Lösungen als Entwicklungen oder als Widerlegungen des Parmenideischen Grundgedankens lesen. Von Empedokles (ca. 490 bis 430 v. Chr.) aus Akragas in Sizilien, wo er zeitweise fast als ein Gott angesehen lebte (FVS 31 B112), sind etwa 1.000 Verse überliefert. Als das allein immer Seiende dichtet er die vier Elemente („Wurzeln") Erde, Wasser, Luft und Feuer und außerdem Liebe und Hader (tpiXia und VEIKOQ), durch die jene sich mischen und trennen, wobei in beiden Richtungen die verschiedensten Zufalls- und Mischwesen, Pflanzen und Tiere erscheinen, d.h. dem Anschein nach entstehen und vergehen, indem sich eigentlich nur die immer seienden Bestandteile neu verteilen (B 6 - 2 6 ) . Auch das Wahrnehmen denkt Empedokles, ohne es vom Denken unterscheiden zu müssen, als einen durchgehenden Vermischungsvorgang (von „Ausflüssen" durch „Poren", A 86.87; B 89,109a). „Denn mit Erde sehen [verstehen] wir Erde, mit Wasser Wasser, mit Äther den göttlichen Äther, aber mit Feuer versehrendes Feuer, Liebe mit Liebe, Haß mit haderndem Haß" (B109). Deshalb denkt Empedokles, daß alles an Wahrnehmung und Denken teilnimmt - und der vieldurchmischte Mensch mit seinem Wissen an allem teilhat (B 110). So weiß Empedokles von sich selbst, daß er von den Elementarmächten wegen schwerer Schuld herumgeworfen wird („weil ich rasendem Haß vertraute", B115) und dabei zu einem übermenschlichen, zaubermächtigen Wissen (B110-112), insbesondere auch (wie Pythagoras) zu der Einsicht in die Seelenwanderung gelangt ist (B 129). „Denn ich entstand schon als Knabe, als Mädchen, als Busch, als Vogel und als meerauftauchender, feuriger Fisch" (B 117). Auch Anaxagoras aus Klazomenai (ca. 500 bis 428 v. Chr.) sieht, daß Entstehen und Vergehen in Wahrheit nur Mischung und Sonderung von immer Bestehendem sein können. Sein wohl einziges Buch, das er wahrscheinlich in Athen geschrieben hat und aus dem etwa 40 Sätze erhalten sind, beginnt so: „Zusammen waren alle Dinge, grenzenlos an Menge und Kleinheit; denn das Kleine war grenzenlos" (FVS 59 B l ) . Alles ist mit allem von Anfang an und für immer unendlich gemischt, wobei kein noch so kleiner Teil je ohne Anteile („Samen") von allem anderen ist: „Wie nämlich könnte aus Nichthaar Haar werden und Fleisch aus Nichtfleisch?" (BIO). Das Bewegende aber ist der grenzenlose Geist (voöt~), der selbst überall eingemischt zugleich als das Reinste und Feinste allein unvermischt bleibt und so alles durchdringt und bewegt. Das Geistige als Wahrnehmung und Denken vollzieht sich nämlich (im Gegensatz zu der Ansicht des Empedokles) gerade durch die Ungleichheit des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen, welche Ungleichheit alles Wahrnehmbare spürbar unterscheidet und in Bewegung setzt. Nüchtern erklärt diese geistige Einmischung als Unvermischtes die vielfältigen natürlichen Vorgänge als solche, etwa die jährliche Nilschwemme infolge der Schnee-

Vorsokratik

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schmelze auf den südlichen Gebirgen oder den Regenbogen als Zurückleuchten des Sonnenlichts (vgl. A 42; B 11-19). Empedokles und Anaxagoras denken Bewegung und Mischung als ein lückenloses Sichverschieben im durchgängig Vollen (z.B. FVS 31 B 13 oder FVS 59 A 68). Diese kaum faßbare, unendliche Übergängigkeit, die Empedokles durch seine farbige Darstellung übermalt und Anaxagoras von Anfang an in allem keimhaft versteckt, sprengt Demokrit aus Abdera (ca. 460 bis 400/380 v. Chr.) durch einen paradoxen Dualismus: „In Wahrheit gibt es (nur) Atome („Unteilbares", äxoßa) und Leeres (KEVÔV)" (B 125a). „Nicht mehr ist das ,Ichts' (zà ôév) als das Nichts (rà nrjôév)" (B 156). Wohl im Anschluß an seinen Lehrer Leukipp denkt Demokrit das Seiende als unendlich viele, kleinste, d.h. weiter nicht teilbare Festkörper. Er nennt sie auch îôéai, also Gestalten, „Sichten", obgleich sie unsichtbar sind (wie Piatos ganz andere „Ideen"). Sie unterscheiden sich (unendlich vielfältig?) ihrer Gestalt und Größe nach und können sich in verschiedenen Lagen und Anordnungen zusammenfinden, weil sie sich im Leeren ungestört bewegen. Dabei stoßen, berühren, verbinden, verhaken sie sich nach Ähnlichkeit, Passung und Notwendigkeit und bilden die uns erscheinende Welt, indem sie mit den atomaren Bestandteilen unseres Leibes wechselwirken, welchen Zusammenhang wir erkennen und nicht erkennen (B 6—11,117). Dieser desillusionierten Physik entspricht eine Ethik geistiger Nüchternheit: „Unverdutzbare Gescheitheit ist alles wert" (B 216). Diese wissenschaftliche Grundhaltung des Demokrit bezeugt sich durch über 50 Schriften zu den verschiedensten Gegenständen (von denen uns kaum mehr als die Titel erhalten sind). 6. Sophistik,

Sokratik,

Nachwirkung

und

Neubesinnung

Auch die (ältere) Sophistik gehört in den Strom der frühen griechischen Aufklärung. Das anspruchsvolle Einheitsdenken von Heraklit und Parmenides und die nachfolgenden komplexen und erkenntniskritischen Konzeptionen führen konsequent zu einem Skeptizismus (-»Skepsis/Skeptizismus) und Relativismus, der in anthropologische Findigkeit, breitangelegtes Bildungsinteresse und praktische Klugheit umschlägt. Das reicht von der urskeptischen Paradoxie des Gorgias (gest. um 380 v.Chr.), daß nichts sei, wenn aber doch etwas, dann unerkennbar, wenn aber doch erkennbar, dann nicht mitteilbar (FVS 82 B 3), über Protagoras' komo-mensura-Satz: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß [und wie] sie sind, der nichtseienden aber, daß [und wie] sie nicht sind" (FVS 80 B1) und seine entsprechend gemilderte Skepsis, über die Götter insbesondere wegen der Kürze des Lebens nichts wissen zu können (FVS 80 B4), bis zu Antiphons lebenskluger Aufklärung der Widersprüche zwischen dem Nützlichen und dem Gerechten, bzw. dem Natürlichen und dem Gesetzlichen (FVS 87 B 44) und zu den auch noch über alle Aufklärung hinaus tragisch-skeptischen Reflexionen etwa des Euripides. „Vorsokratiker" dürfen wir alle diese (von Homer bis Euripides) nennen, insofern ihre Geschichten, ihre Bilder, ihre Mutmaßungen, ihre Beweise, ihre Rätsel, ihr Wissen, ihr Relativismus und ihre Skepsis von Sokrates (399 v. Chr. hingerichtet) in Frage gestellt worden sind - nämlich durch die eine Frage, was daran eigentlich das Gute ist. Zwar ist der Sokrates der Aristophanischen Komödie noch selbst ein Sophist und Naturphilosoph, dessen wahre Götter „die Wolken" und „der Wirbel" sind. Und der platonische Sokrates beginnt mit der „Idee des Guten" selbst schon wieder über das All zu philosophieren. Aber eben im Lichte dieser höchsten Idee werden die Gedanken der Vorsokratiker einer so neuen, vertiefenden oder verwerfenden Kritik unterzogen, daß sie fortan und vollends in der Verschmelzung des Piatonismus (-»Plato/Platonismus) mit dem Christentum nur noch angepaßt oder nicht mehr verstanden, vergessen oder nur noch überliefert werden. Erst seit der -»-Renaissance, seit der christlich-platonische Transzendenzbezug und das geschlossene aristotelische Weltbild durch neue Unendlichkeitsideen (Nikolaus von Kues; G. -»Bruno; G.W. Leibniz; Georg Cantor [1845-1918]; Kurt Gödel [1906-

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Vorsokratik

1978]), durch die Gedanken einer Geschichtlichkeit der N a t u r ( - » L e o n a r d o da Vinci; Giambattista Vico [ 1 6 6 8 - 1 7 4 4 ] ; J . G . v. - » H e r d e r ; Ch. - » D a r w i n ; Edwin Hubble [1889— 1953]) und durch einen kritischen - » M a t e r i a l i s m u s ( M . E . de - » M o n t a i g n e ; T h . - » H o b bes; Julien Offray de L a m e t t r i e [ 1 7 0 9 - 1 7 5 1 ] ; K. - » M a r x ; Ernst M a c h [ 1 8 3 8 - 1 9 1 6 ] ) in Richtung auf eine philosophische - » P h ä n o m e n o l o g i e und wissenschaftliche Chaostheorie aufbrechen, werden die Vorsokratiker wieder als eigentliche Vordenker wahrgenommen. Schließlich ist die prinzipiell rationale, d.h. metaphysische Wahrheit der Vernunft, der Ideen, des Bewußtseins, der L o g i k und der Wissenschaft selbst so fragwürdig gew o r d e n (vor allem mit Nietzsche und Heidegger), daß vielleicht nur die vor-metaphysischen Denker dem Zeitalter der - » T e c h n i k noch zeigen können, wie es denkend auszuhalten ist, d a ß der M e n s c h weder der H e r r n o c h der Sinn der Welt ist.

Quellen Doxographi Graeci, ed. Hermann Diels, Berlin 1897 Nachdr. 1958. - FVS. - Poetarum Philosophorum Fragmenta, hg. v. Hermann Diels, Berlin 1901. - The Presocratic Philosophers, hg. v. Geoffrey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield, Cambridge 1957 2 1982;dt.: Die vorsokratischen Philosophen, übers, v. Karlheinz Hülser, Stuttgart 1994. - Die Vorsokratiker, griech./dt., Atsw., Ubers, u. Erläuterungen v. Jaap Mansfeld, 2 Bde., Stuttgart 1983-1986.

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Wach

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Vulgata -»Bibelübersetzungen Wach, Joachim 1. Leben

(1898-19SS)

2. Werk und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 336)

1. Leben A m 25. J a n u a r 1898 wird Ernst Adolf Felix Joachim Wach in Chemnitz als Sohn des Juristen Dr. Felix Wach und der Katharina Wach geboren, die beide der Familie Mendelssohn(-)Bartholdy entstammen. N a c h dem N o t a b i t u r in Dresden leistet Wach seinen zweijährigen Kriegsdienst, bevor er 1918 das breitgefächerte Studium der evangelischen Theologie, der Philosophie und der orientalischen Sprachen in Leipzig aufn e h m e n k a n n . N a c h Studien in M ü n c h e n bei F. —»Heiler, in Freiburg i.Br. bei E. - » H u s serl und in Berlin bei E. -»Troeltsch und A. v. - » H a r n a c k promovierte Joachim Wach 1922 schließlich an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig mit der religionswissenschaftlichen Dissertation Grundzüge einer Phänomenologie des Erlösungsgedankes. Die folgenden Studienjahre in -»Heidelberg sind von einem intensiven Austausch mit seinen Lehrern Heinrich Rickert (1836-1936), Alfred Weber (1868-1958) und dem Literaturhistoriker Friedrich Gundolf (1880-1931) gekennzeichnet, mit dem Wach zudem durch die N ä h e zum George-Kreis verbunden ist. M i t seiner für die deutsche Religionswissenschaft konstituierenden Schrift Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung habilitiert er sich 1924 an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig im Fach Religionswissenschaft und ist dort a m Institut f ü r Kultur- und Universalgeschichte zunächst als Privatdozent, a b 1929 als außerordentlicher Professor tätig. M i t dem zweiten Band des Verstehens erfolgt 1930 eine theologische Promotion in Heidelberg. Aus rassenpolitischen Gründen wird Wach 1935 seines Amtes an der Universität Leipzig enthoben. Eine Einladung nach Providence/ R h o d e Island nutzt er zur sofortigen Emigration in die USA, w o er von 1935 bis 1945 als Visiting bzw. Associate Professor an der dortigen Brown JJniversity Religionsgeschichte lehrt. 1945 n i m m t er den Ruf als ordentlicher Professor an die Divinity School der Universität -»Chicago an. Als C h a i r m a n des History of Religions Field an der interkonfessionellen Federated Theological Faculty und als Chairman der University Commission of the World Student Christian Federation bemüht sich Wach hier zunehmend u m eine Verständigung zwischen christlicher Theologie und Religionswissenschaft. N a c h d e m er noch im F r ü h j a h r 1955 auf d e m 7. Kongreß der International Association for the History of Religion in R o m den Plan f ü r ein universales Studium der religiösen - • E r f a h r u n g skizziert hatte, verstirbt Joachim Wach nach einem Herzinfarkt überraschend am 27. August 1955 in Orselina/Locarno. 2. Werk und

Wirkung

Das Werk Joachim Wachs u m f a ß t drei sich ergänzende Bereiche: a) philosophische und theologische Schriften, b) Religionssoziologie und c) herausragende Arbeiten zur Theorie und Methodologie der religionswissenschaftlichen Disziplin. In seiner Habilitationsschrift bestimmt er die Religionswissenschaft als empirische Geisteswissenschaft, die ihre Eigenständigkeit gegenüber der Theologie und Philosophie behauptet: „Die Aufgabe der Religionswissenschaft ist die Erforschung und Darstellung der empirischen Religionen. Sie ist also eine beschreibend-verstehende, keine normative Wissenschaft" (Wach, Religionswissenschaft 68). Den A u f t r a g der jungen Disziplin sieht Wach erstens in der -»Religionsgeschichte und zweitens in der materialen und formalen Religionssystematik, die vergleichend die Strukturen und Formen der Religionen herausarbeitet. Wie sein M e n t o r R. - » O t t o definiert Wach —»Religion als Erlebnis des Heiligen, das nun in der religiösen Lehre, im Kult und in der Gemeinschaft seinen Ausdruck findet. Sein dreibändiges H a u p t w e r k Das Verstehen (1926—1933), das die theologische und

Wach

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Vulgata -»Bibelübersetzungen Wach, Joachim 1. Leben

(1898-19SS)

2. Werk und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 336)

1. Leben A m 25. J a n u a r 1898 wird Ernst Adolf Felix Joachim Wach in Chemnitz als Sohn des Juristen Dr. Felix Wach und der Katharina Wach geboren, die beide der Familie Mendelssohn(-)Bartholdy entstammen. N a c h dem N o t a b i t u r in Dresden leistet Wach seinen zweijährigen Kriegsdienst, bevor er 1918 das breitgefächerte Studium der evangelischen Theologie, der Philosophie und der orientalischen Sprachen in Leipzig aufn e h m e n k a n n . N a c h Studien in M ü n c h e n bei F. —»Heiler, in Freiburg i.Br. bei E. - » H u s serl und in Berlin bei E. -»Troeltsch und A. v. - » H a r n a c k promovierte Joachim Wach 1922 schließlich an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig mit der religionswissenschaftlichen Dissertation Grundzüge einer Phänomenologie des Erlösungsgedankes. Die folgenden Studienjahre in -»Heidelberg sind von einem intensiven Austausch mit seinen Lehrern Heinrich Rickert (1836-1936), Alfred Weber (1868-1958) und dem Literaturhistoriker Friedrich Gundolf (1880-1931) gekennzeichnet, mit dem Wach zudem durch die N ä h e zum George-Kreis verbunden ist. M i t seiner für die deutsche Religionswissenschaft konstituierenden Schrift Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung habilitiert er sich 1924 an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig im Fach Religionswissenschaft und ist dort a m Institut f ü r Kultur- und Universalgeschichte zunächst als Privatdozent, a b 1929 als außerordentlicher Professor tätig. M i t dem zweiten Band des Verstehens erfolgt 1930 eine theologische Promotion in Heidelberg. Aus rassenpolitischen Gründen wird Wach 1935 seines Amtes an der Universität Leipzig enthoben. Eine Einladung nach Providence/ R h o d e Island nutzt er zur sofortigen Emigration in die USA, w o er von 1935 bis 1945 als Visiting bzw. Associate Professor an der dortigen Brown JJniversity Religionsgeschichte lehrt. 1945 n i m m t er den Ruf als ordentlicher Professor an die Divinity School der Universität -»Chicago an. Als C h a i r m a n des History of Religions Field an der interkonfessionellen Federated Theological Faculty und als Chairman der University Commission of the World Student Christian Federation bemüht sich Wach hier zunehmend u m eine Verständigung zwischen christlicher Theologie und Religionswissenschaft. N a c h d e m er noch im F r ü h j a h r 1955 auf d e m 7. Kongreß der International Association for the History of Religion in R o m den Plan f ü r ein universales Studium der religiösen - • E r f a h r u n g skizziert hatte, verstirbt Joachim Wach nach einem Herzinfarkt überraschend am 27. August 1955 in Orselina/Locarno. 2. Werk und

Wirkung

Das Werk Joachim Wachs u m f a ß t drei sich ergänzende Bereiche: a) philosophische und theologische Schriften, b) Religionssoziologie und c) herausragende Arbeiten zur Theorie und Methodologie der religionswissenschaftlichen Disziplin. In seiner Habilitationsschrift bestimmt er die Religionswissenschaft als empirische Geisteswissenschaft, die ihre Eigenständigkeit gegenüber der Theologie und Philosophie behauptet: „Die Aufgabe der Religionswissenschaft ist die Erforschung und Darstellung der empirischen Religionen. Sie ist also eine beschreibend-verstehende, keine normative Wissenschaft" (Wach, Religionswissenschaft 68). Den A u f t r a g der jungen Disziplin sieht Wach erstens in der -»Religionsgeschichte und zweitens in der materialen und formalen Religionssystematik, die vergleichend die Strukturen und Formen der Religionen herausarbeitet. Wie sein M e n t o r R. - » O t t o definiert Wach —»Religion als Erlebnis des Heiligen, das nun in der religiösen Lehre, im Kult und in der Gemeinschaft seinen Ausdruck findet. Sein dreibändiges H a u p t w e r k Das Verstehen (1926—1933), das die theologische und

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Wach

geschichtsphilosophische Hermeneutik des 19. Jh. reflektiert, wird gleichsam zur erkenntnistheoretischen Grundlage von Wachs Entwurf einer religionswissenschaftlichen Hermeneutik. In seiner neuen Konzeption rezipiert er sowohl die philologische Hermeneutik von August Boeckh (1785—1867), als auch die Verstehenslehre W. —»Diltheys und die lebensphilosophisch geprägte Erfahrungshermeneutik Georg Simmeis (1858— 1918). Die Voraussetzung der lebensphilosophisch begründeten Einheit von Erkennen und Leben bildet bei Wach die Annahme einer universalen religiösen Erfahrung, deren Nacherleben erst das Verstehen fremder religiöser Schöpfungen ermögliche. Religiöse Phänomene müssten daher vom Sinn und der Intention ihrer Herkunftsreligion respektive ihrer lebensweltlichen Kontexte her verstanden, die Einzelerscheinungen vornehmlich vom jeweiligen Zentrum der Gesamterscheinung her erklärt werden. Daneben widmet sich Wach in weiteren teils philosophiegeschichtlichen Arbeiten einer Typisierung der Orientalen und okzidentalen Anthropologie und beschäftigt sich insbesondere mit der Todesproblematik im philosophischen Denken. Während Wach die Phänomene der Religion als dreigestaltige Ausdrucksformen des religiösen Erlebens begreift, befaßt sich seine von M. -»Weber, Ernst Troeltsch und Geradus van der Leeuw beeinflußte Religionssoziologie (1944) mit den entsprechenden Wechselbeziehungen zwischen Religion und Gesellschaft. Er formuliert eine Systematik natürlicher wie auch spezifisch religiös organisierter Gemeinschaftsformen (Familienkulte, Mysteriengesellschaften, Orden, etc.), analysiert das Verhältnis zwischen sozialer Differenzierung, Staat und der Religion und entwirft schließlich eine Typologie religiöser Autoritäten, die er bereits in seiner vergleichenden Studie Meister und Jünger von 1925 skizziert hatte. Mit seiner um das Verstehen der religiösen Ausdrucksformen bemühten Religionssoziologie wollte Wach eine Brücke zwischen den Religions- und Sozialwissenschaften schlagen. Während seiner Lehrtätigkeit an der Chicagoer Divinity Scbool betonte er stärker als zuvor die Bedeutung der religiösen Erfahrung als hermeneutischen Schlüssel des Verstehens der Religionen, so daß sein in den Aufsatzsammlungen Types of Religious Experience und Understanding and Believing explizierter Ansatz oftmals als Weiterführung der Ideen von W. -»-James rezipiert wurde. Wach ist überzeugt, daß die Religionswissenschaft der christlichen Theologie dienen könne, indem sie helfe, die in allen Religionen vorhandenen Erfahrungen der Letzten Wirklichkeit und ihren Ausdrucksformen als Teile der Offenbarung Gottes besser zu verstehen. Die Vielschichtigkeit von Wachs Werk spiegelt das Bemühen um einen verstehenden Zugang zu den Phänomenen der Religion wider, da er die religiöse Thematik stets im Kontext ihrer verschiedenen Lebenszusammenhänge begreifen will. In diesem Sinne ergänzen sich die von Wach stets differenzierten religionswissenschaftlichen, soziologischen, philosophischen und theologischen Akzente, die er in verschiedenen Schaffensphasen gesetzt hat, zum Versuch einer universalen Hermeneutik der Religion. Während Joachim Wach, der entscheidend die Chicagoer Schule und die Arbeiten Joseph M. Kitagawas prägte, in den USA als einer der Väter der Religionswissenschaft verehrt wird, haben hierzulande vor allem seine theoretischen Schriften großen Einfluß auf Walter Baetke, Kurt Rudolph und Gustav Mensching ausgeübt. Die Rezeption von Max Webers Religionssoziologie verdankt ihm entscheidende Impulse. Quellen 1. Bibliographien: Joseph M. Kitagawa/Friedrich Heiler/Käthe Neumann, Bibliogr. Joachim Wachs: Gibt es ein Verstehen fremder Religionen?, hg. v. Ernst Benz, Leiden 1963 (Joachim WachVorl. der Theol. Fakultät der Philipps-Univ. Marburg/Lahn 1; BZRGG 6) 3 2 - 3 6 . - Wolf-Dietrich Schaufele, Art. Joachim Wach: BBKL 16 (1999) 1507-1512. 2. Hauptwerke: Religionswiss., 1924 (VFVRG 10). - Meister u. Jünger, Tübingen 1925. - Das Verstehen, 3 Bde., Tübingen 1926-1933. - Sociology of Religion, Chicago 1944; dt.: Religionssoziologie, Tübingen 1951. - Types of religious experience, Christian and non-Christian, Chicago 1951 5 1972. - Understanding and Believing. Ed. with an intr. by Joseph M. Kitagawa, New York 1968.

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Wahrheit/Wahrhaftigkeit I Literatur

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Altes Testament Neues Testament . . . Judentum Philosophisch Systematisch-theologisch

S. S. S. S.

340 346 347 363

I. Altes Testament (Literatur S. 340)

1. Für die deutschen Ausdrücke „Wahrheit/Wahrhaftigkeit" gibt es im biblischen Hebräisch keinen eigenständigen Begriff. Die gemeinte Sache wird vor allem mit Ableitungen des Wortfeldes 'mn und gelegentlich mit kün (Nifal — Bestand haben; Zuverlässiges; Wahres), ysr (recht; richtig; redlich) und qst (Wahrheit; Prov 22,21) zur Sprache gebracht. Dementsprechend prägen die Wurzel 'mn und ihre verbalen und nominalen Ableitungen (Qal — Erzieher; Wärter; Nifal - fest, dauerhaft oder zuverlässig sein; Hifil - trauen, glauben, sicher sein; Hofal - betraut, ermächtigt werden; 'emüti — Vertrauen, Zuverlässigkeit;'"münäh - Festigkeit, Beständigkeit, Wahrhaftigkeit; **moet Festigkeit, Sicherheit, Richtigkeit, Ehrlichkeit und Treue) die hebräische Vorstellung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Da 'mn im Akkadischen, Ugaritischen, Phönizischen und Altaramäischen bisher nicht und im Reichsaramäischen bzw. Biblisch-Aramäischen nur selten belegt ist, lassen sich Etymologie und Grundbedeutung nur schwer erhellen. Die spätere syrische (fest; bleibend) und arabische (treu; sicher) Verwendung dürfte vom Hebräischen ('mn Hifil) beeinflußt sein. Aus der N o t , die inhaltliche Konstante in der vielfältigen Verwendung der Wurzel festzulegen, machte A. Weiser eine Tugend und bestimmte 'mn als „Formalbegriff". Gesagt werde damit, daß die dem jeweiligen Subjekt „zuzuerkennenden Eigenschaften" „in Wirklichkeit entsprechend vorhanden" seien (Weiser 184). So k o m m e das Spezifische der Person oder Sache zur Sprache. Weisers Versuch einer möglichst umfassenden Bestimmung von 'mn verzeichnet offensichtlich den Sachverhalt (Jepsen 319). Wahrheit oder Wahrhaftigkeit eines Sachverhaltes oder einer Person ergibt sich alttestamentlich gerade nicht durchgängig aus ihr selbst heraus.

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Wahrheit/Wahrhaftigkeit I

Bestand und Zuverlässigkeit gelten schon im nichttheologischen und erst recht im theologischen Gebrauch häufig als das Unerwartete bzw. als das von außen Zugesprochene. 2. Im Alten Testament werden Sachverhalte (Gen 24,28; Jer 2,21; Dtn 13,15; 17,4; Jes 43,9) oder Zustände (Jer 14,13; II Reg 20,19; Jes 39,8; Jer 33,6) und Personen als wahr qualifiziert, wobei die personale Verwendung deutlich vorherrscht. Beide Aspekte ergänzen einander, so daß an dieser Stelle kein Gegensatz konstruiert werden darf. Die zutreffende Nachricht (I Reg 10,6; Gen 42,16.20) und die verläßliche Aussage im Gerichtsverfahren (Prov 12,17; Ez 18,8; Jes 48,1; 59,4) erweisen in der Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit, daß auf diesen Menschen Verlaß ist (Prov 25,13). Einem solchen wahrhaftigen und zuverlässigen Menschen (Prov 28,20; Ex 18,21) kann man auf „Treu und Glauben" Geld anvertrauen (II Reg 12,16; 22,7) oder Ämter übertragen (I Chr 9,22.26.31; Neh 13,13). Entsprechend findet sich der Wortstamm auch im Begriff „Erzieher" und „Wärter" (II Reg 10,1; Jes 49,23; Est 2,7; Num 11,12; II Sam 4,4; Huth 4,16). Wiederholt wurde versucht, zwischen einem altisraelitischen und einem altgrichischen Wahrheitsverständnis zu unterscheiden (Bultmann; Boman; Harbsmeier; vgl. TRE 13,365). Die Debatte leidet vielfach an kontradiktorisch verstandenen Gegensatzbildungen wie personal- versus sachbezogen, Satzwahrheit versus existentieller bzw. parformativer Wahrheit oder „theoretische Richtigkeit" versus „Möglichkeit zu lesen" (Berger 332). Das hebräische Verständnis von Wahrheit schließt die Übereinstimnung von Aussage und Tatbestand mit ein (Prov 8,7; Ps 15,2; Sach 8,16; Dan 8,26; 10,1; 11,2; vgl. Michel), obwohl bzw. gerade weil es mehr als eine bloß objektive Kenntnis von Tatsachen aussagen will. Zuverlässigkeit und Treue von Mitmensch und Gott erschließen sich nicht zuletzt über der wahren, an der Wirklichkeit sich bewährenden Rede oder Tat. Diesen Zusammenhang erhellen Aussage, -»-Verheißung oder -»Gebot. Wahrheit wird aus- und angesagt. In diesem Sinn kann Wahrheit auch „getan" werden (Neh 9,33). Wahrheit geschieht. Wort und Geschehen ermöglichen Erkenntnis und tragen so zu einer verläßlichen Lebensgrundlage bei (Jes 33,6). 3. Im Bereich von Weisheit und Recht schwingt wiederholt ein skeptischer Unterton mit. Eine Vielzahl der Belege warnt vor lügnerischer Rede (Prov 12,22; I Reg 22,16; Jer 9,4) bzw. prangert die fehlende Rechtschaffenheit an (Hos 4,1 ff.; Jer 5,1). Wer unkr.tisch jedem Menschen traut, erweist sich als Tor (Prov 14,15; 26,25; Hi 4,18; 15,15). Trotzdem empfehlen der Weise und der Prophet die Wahrheit als Lebensgrundlage (Sach 8,16; Ez 18,8f.; Prov 3,3; 12,19; 22,21; 23,23). Sie allein gibt der königlichen Herrschaft Beitand (Prov 29,14; 20,28; Ps 61,8). Die Weisen drängen auf das zuverlässige Wort, der verläßlichen Eid und das gerechte Richten. Der Wahrheit kommt ein hoher Wert zu: „Wahrheit erwirb, und verkauf sie nicht! - Weisheit, Zucht und Einsicht." (Prov 23,23). Die parallele Verwendung dieser zentralen weisheitlichen Begriffe macht deutlich, diß in der frühjüdischen Weisheit die Wahrheit zum Bestandteil eines umfassenden Mens:henbildes geworden ist, auf das hin erzogen werden soll (Prov 22,21). 4. Dabei gewinnt die Rede von der Wahrheit ihr Maß zunehmend an Gott. Wie eng der Zusammenhang von Wahrheits- und Gottesbegriff sein kann, zeigt sich etwa darin, daß Lüge und Wahrheit gelegentlich fundamental die Trennlinie zwischen Mensch und Gott markieren (Num 23,19; Ps 116,11). In Anwendung auf Gott wird überwiegend auf die nominalen Ableitungen "*mcet und ,Œmûna zurückgegriffen und das gehäuft im Psalter. Direkte Gottesprädikationen (Ps 31,6; Jes 49,7; Dtn 7,9; 32,4) und die hälfigen Verbindungen mit haesaed. (Ps 40,11; 57,11; 108,5; 115,1; 117,2; 138,2 u.ö.) beschreiben das Wesen und die Wirksamkeit Gottes. Der besondere Akzent liegt dabei auf leiner Verläßlichkeit. Dahinter stehen Gotteserfahrungen Israels, die wiederum selbst zun Anlaß werden, Schutz und Hilfe von ihm zu erwarten: „Seine "*mœt ist Schild und V e h r " (Ps 91,4; vgl. auch 40,12; 25,5).

Wahrheit/Wahrhaftigkeit I

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So weist die augenfällige Existenz von Himmel und Erde auf Gottes Wahrheit im Sinn seiner Zuverlässigkeit hin (Ps 146,6). Anknüpfend an die altorientalische Königsvorstellung (-»Königtum) schafft der himmlische Herrscher die Fundamente der Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung): „Ewig ist meine Huld erbaut, im Himmel steht fest meine Treue" (Ps 89,3). Diese Wahrheit kennzeichnet dauerhaft die göttliche Königsherrschaft (Ps 89,15). Wird sie vermißt, so klagt das Volk (Ps 85,llf.) oder der Einzelne (Ps 5,10; 143,1) und erbittet erneut das rettende Eingreifen Gottes und seine heilvolle Zuwendung (Ps 86,15). Gott, wie er sich in seinem Tun und Reden erschlossen hat, findet erst wieder zu sich selbst, wenn er als treu und somit als wahr erkenn- und erfahrbar wird (Dtn 32,4; Jes 25,1; Ps 89,34). In wirkungsgeschichtlich bedeutsamer Weise faßt Dtn 7,9 dies als Erweis der Bundestreue (-»Bund) Jahwes (partizipiale Rede). Auch der sog. Weissagungsbeweis in Jes 40ff. (->Deuterojesaja) erhellt den engen Zusammenhang von Gott und Wahrheit. Bewahrheitet sich die im Wort angekündigte Tat, so zeigt sich darin die Geschichtsmächtigkeit Gottes. In einer gerichtlichen Szenerie sollen Zeugen dies durch "*m6t]) ihnen Jesu Tod statt als Falsifikation seines Lebenszeugnisses vielmehr als „Erhöhung" (Joh 12,32) als das Eingeholtwordensein des Zeugen der Wahrhaftigkeit des Schöpfers und seines Wirkens in diese Wahrhaftigkeit des Schöpfers und sein ewiges schöpferisches Leben (7yepdrj). Dieses Erschließungsgeschehen, diese -»Offenbarung, begründet das christliche Bewußtsein von Wahrheit. Seine elementare sprachliche Bezeugung lautet: rjyepörj 0 KVpioq Kai &(j>6r] Zificovi („Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon zu sehen gegeben worden", Lk 24,34). Es breitet sich in der Welt aus, wo die in diesem Zeugnis steckende Verstehenszumutung erlebt und ihre Erfüllung durch das Erschlossenwerden der von ihm bezeugten Sache möglich wird; und es wird entfaltet in der theologischen Reflexion. Diese weist zwei Momente auf: Einerseits ist das Konstituiertsein von Sachwahrheit als deren Gewährtwerden durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers allein durch das Erleben des österlichen Lichtblicks auf den Gekreuzigten als den Auferweckten, den zu Gott ins ewige Leben der Wahrhaftigkeit Gottes Erhöhten für uns zu expliziter Präsenz gebracht; andererseits ist der österliche Lichtblick nichts anderes als das kontingente Erschließungsgeschehen, durch das für Menschen die Konstitution aller Sachwahrheit durch deren Gewährtwerden aus der Wahrhaftigkeit des Schöpfers präsent wird - die Konstitution aller Sachwahrheit, allen Erschlossenseins von zu Verstehendem, also einschließlich dieser österlichen Erschließung selbst, die das Gewährtsein von allem Erschlossenen aus der Wahrhaftigkeit des Schöpfers präsent macht. Durch seinen eigenen Inhalt wird somit das Ostergeschehen in und samt der Kontingenz seines geschichtlichen Anfangs und Fortwirkens als Werk der Wahrhaftigkeit des Schöpfers gesehen - und darum nicht als beliebig, sondern als in der Wahrhaftigkeit von Wesen, Wollen und Wirken des Schöpfers von Ewigkeit her begründet, „erwählt" - was schon bei -»Paulus und dann in seiner Schule nachdrücklich ausgesprochen wurde (I Kor 1,7-16; Eph 1,3— 12; Kol l,19f.; vgl. auch Rom 1,25f.; Eph 1,19; 3,4f.; Kol 1,26; I Tim 1,16; I Petr 1,20). 1.5. Der Inhalt des christlichen

Wahrheitsbewußtseins

Somit zeigt sich: Das Zustandekommen des christlichen Wahrheitsbewußtseins begründet seinen Inhalt, und sein Inhalt gibt sein Zustandekommen zu verstehen. 1.5.1. Zustande kommt das christliche Wahrheitsbewußtsein angesichts der von Jesus ausgehenden Zumutung, die Konstitution aller Sachwahrheit ( = unserer Wahrheitsfähigkeit = unserer erlebten leibhaften Lebensgegenwart) als ihr Gewährtwerden durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers zu verstehen, und durch das österliche Erfüllbarwerden dieser Zumutung. Dies Zustandekommen des christlichen Wahrheitsbewußtseins wird selbst zum Inhalt dieses Wahrheitsbewußtseins: Das Erschlossensein von allem zu Verstehenden - einschließlich der äußersten, durch Jesu Reichgottesverkündigung ergangenen Verstehenszumutung (Mk 8,27-38), die Ostern erfüllbar geworden ist - ist ein Gewährtsein durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers, durch welches diese sich selber realisiert, d.h.: für die Geschöpfe manifestiert. Dieser Inhalt des Zustandekommens des christlichen Wahrheitsbewußtseins legt sein Zustandegekommensein aus: es ist - wie

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Wahrheit/Wahrhaftigkeit V

alles Erschlossensein und -bleiben von zu Verstehendem — Gewährung durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers, und zwar genau diejenige Gewährung, durch die die Wahrhaftigkeit des Schöpfers alles zu Verstehende zu verstehen gibt als etwas durch sie Gewährtes und damit sich selbst als die, die alles überhaupt zu Verstehende gewährt. 1.5.2. Deshalb ist für das christliche Wahrheitsbewußtsein der Anspruch unvermeidbar, unüberholbar zu sein. Es muß diesen Anspruch erheben, weil der Inhalt des christlichen Wahrheitsbewußtseins sein Zustandekommen als die abschließende Klimax einer kontinuierlichen Kette von Erschließungsereignissen auslegt, in deren Licht alle früheren Gewährungen von Sachwahrheit durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers als notwendige Vorstufen ihrer Selbstvergegenwärtigung zu verstehen sind, die auf dieses Abschlußgeschehen hinstrebt, in welchem die alles zu Verstehende (alle Sachwahrheit) gewährende Wahrhaftigkeit des Schöpfers sich selbst zu verstehen gibt (Hebr 1,1). Das christliche Wahrheitsbewußtsein ist unüberholbar, weil es das Bewußtsein vom Gewährtsein aller möglichen Sachwahrheit durch die Wahrhaftigkeit des Schöpfers ist; und damit das Bewußtsein, daß in aller möglichen Sachwahrheit nichts anderes begegnet als die ewige Wahrhaftigkeit des Schöpfers mit der Verheißung ihrer selbst und mit dem Anspruch, sie vertrauend zu verstehen, indem wir uns ihrem ewigen Leben anvertrauen. 1.5.3. Dieser Anspruch auf Unüberholbarkeit muß gegen zwei Mißverständnisse geschützt werden. Er besagt nicht, daß es unter unseren Verstehensakten solche gäbe, deren Wahrsein garantiert und die unüberholbar wären. Kein menschlicher Verstehensakt, richte er sich auf empirische Einzelbestimmungen des menschlichen Umweltverhältnisses, Selbstverhältnisses, Gemeinschaftsverhältnisses, Weltverhältnisses oder Ursprungsverhältnisses oder auf die dauernde Struktur dieser verschiedenen Beziehungsdimensionen unserer leibhaften Lebensgegenwart oder auf das Gefüge dieser Dimensionen im ganzen, ist jemals unüberholbar wahr; denn erstens ist mit der generellen Fehlbarkeit unserer Verstehensakte zu rechnen, und zweitens ist die Sachwahrheit in Bewegung, in allen Beziehungsdimensionen unserer leibhaften Lebensgegenwart wird immer wieder Neues entdeckt und uns zu verstehen gegeben. Der Anspruch besagt nicht, daß es einen Stillstand auf Seiten der Sachwahrheit gäbe. Wohl aber besagt er, daß dieses Geschehen des für uns Erschlossenwerdens, -seins und -bleibens von durch uns zu Verstehendem - also von unserer leibhaften Lebensgegenwart mit all ihren Beziehungsdimensionen - und die Akte unseres dadurch ermöglichten und verlangten eigenen Verstehens ein Kontinuum sind, in dem es immer um das gleiche und nie um etwas anderes geht als: um den Anspruch der Wahrhaftigkeit Gottes auf unser vertrauendes Verstehen. Der unvermeidliche Unüberholbarkeitsanspruch des christlichen Wahrheitsbewußtseins richtet sich also allein auf die für es österlich präsente Wahrhaftigkeit des Schöpfers, also allein darauf, daß dieser kraft seiner Wahrhaftigkeit als Schöpfer zwar kontinuierlich in seinem Wirken alle seine Werke überbietet, aber eben darin eines nie negiert: seine Wahrhaftigkeit, seine Treue zu seinem schöpferischen Wollen und Wirken (Ps 57,11; 100,5; 108,5; Sir 22,19; I Kor 1,9) und darum auch ipso facto zu seinen Werken (Neh 9,6). Das christliche Wahrheitsbewußtsein ist das Bewußtsein, in allem Neuen in gewisser Hinsicht nur immer demselben zu begegnen: dem Anspruch der Wahrhaftigkeit des Schöpfers auf das Vertrauen seiner Geschöpfe (auf die vertrauende Hingabe ihres eigenen geschaffenen Lebens an das ewige Leben seiner schöpferischen Wahrhaftigkeit); zugleich ist es das Bewußtsein, diesem Anspruch zu begegnen in all dem, was täglich neu zu verstehen gegeben wird. 2. Christliches

Wahrheitsbewußtsein

und

Theologie

Das christliche Wahrheitsbewußtsein ist zu unterscheiden vom theologischen Umgang mit ihm. Es ermöglicht und verlangt ihn, bleibt aber auch das Kriterium für seine Angemessen- und Unangemessenheit.

Wahrheit/Wahrhaftigkeit V

375

2.1. Unangemessen behandelt werden kann erstens das Verhältnis zwischen dem Inhalt des christlichen Wahrheitsbewußtseins und seiner Manifestation als Gewißheit. Der Inhalt des christlichen Wahrheitsbewußtseins legt — wie gezeigt — dessen Zustandegekommensein, also auch dessen Realität als Gewißheit aus als den Effekt des unüberholbaren Abschlußgeschehens im Präsentwerden von Sachwahrheit, welcher jeweils nur der vertrauende Verstehensakt (Erwartungsentwurf) angemessen sein kann. Auch mit dem christlichen Wahrheitsbewußtsein, der christlichen Gewißheit, kann also in der Theologie nur in einem vertrauenden Verstehensakt (Erwartungsentwurf) angemessen umgegangen werden. Im Ansatz unangemessen ist jeder Versuch der argumentierenden Begründung von christlichem Wahrheitsbewußtsein. Christliche Gewißheit läßt sich nicht begründen, sondern nur explizieren. 2.2. Unangemessen kann zweitens der Umgang mit dem Verhältnis zwischen christlichem Wahrheitsbewußtsein (Gewißheit) und den Gestalten seiner Bezeugung sein. Letztere sind nur Exemplare menschlicher Verhaltenswahrheit, während ersteres der konkrete und unüberbietbare Fall von Sachwahrheit ist. In ihm begegnet der Anspruch der Wahrhaftigkeit Gottes, dem nur der vertrauende Verstehensakt (Erwartungsentwurf) angemessen ist, der aber niemals zu Recht für eine Bezeugungsgestalt des christlichen Wahrheitsbewußtseins erhoben werden kann. Für diese können nur menschliche Ansprüche für die Angemessenheit menschlicher Verstehensresultate erhoben werden. Mit Wahrheitsansprüchen (oder mit affirmativen Bezeugungen eines Wahrheitsanspruchs) wird angemessen so umgegangen, daß sie von den Adressaten dieser Ansprüche geprüft werden auf dem Boden und im Licht der ihnen jeweils erschlossenen Sachwahrheit, was das Bestimmtsein durch die bezeugte Sachwahrheit voraussetzt, im Falle einer Bezeugung des christlichen Wahrheitsbewußtseins also das Bestimmtsein durch dieses selbst, sei es, daß dieses Bestimmtsein auf Seiten des Zeugnisempfängers schon vorhanden ist oder ihm erst anläßlich des Zeugnisses durch das unverfügbare Sichtbarwerden der bezeugten Sache selbst zuteil wird. 2.3. Die beiden Fehler können auch zugleich auftreten, etwa so: Zunächst wird für eine Bezeugung des christlichen Wahrheitsbewußtseins der Anspruch der dieses begründenden Wahrheit selbst erhoben und dann der Versuch unternommen, diesen für die Bezeugung des christlichen Wahrheitsbewußtseins erhobenen Wahrheitsanspruch zu begründen. Schon dieser Aufgabenstellung liegt die Verkennung des christlichen Wahrheitsbewußtseins und seines Inhalts — nämlich des in aller Sachwahrheit selbst begegnenden Anspruchs der Wahrhaftigkeit des Schöpfers - zugrunde. Folglich kann dann auch nur eine andere als diese christliche Sicht von Wahrheit den Horizont für den Erweis der Wahrheit christlichen Glaubens und christlicher Lehre bilden. Das geschieht nicht nur dort, wo eingeschränkte Sichtweisen der Wahrheit von Aussagen über Terme einzelner Beziehungsdimensionen unserer leibhaften Lebensgegenwart (etwa von Hypothesen über das Verhalten von Umweltinstanzen) die Sicht auch auf die Wahrheit von Glaubensaussagen leiten, sondern z. B. auch dort, wo Sachwahrheit — das Erschlossensein von zu Verstehendem und die sich in solcher Erschlossenheit präsentierende Idee, etwa auf der Linie —>Platos - als das Absolute hingestellt und in diesem Sinne dann umgekehrt auch das Absolute als die Wahrheit behauptet wird (z.B. bei —>Augustin und in der mittelalterlichen -*Scholastik, soweit sie ihm folgt). In diesen Fällen wird die für die christliche Sicht der Wahrheit wesentliche Kontingenz von Wahrheit, ihr Geschehenscharakter, ihr Gewährtsein durch die Wahrhaftigkeit der schöpferischen Allmacht, verkannt - so zuletzt in —»Hegels Versuch, zwar den Geschehenscharakter von Wahrheit anzuerkennen, aber diesen dann seinerseits als logisch notwendig zu verstehen. Alle diese Programme liefern die christlichen Glaubens- und Lehraussagen so an außerchristliche Sichtweisen von Wahrheit aus, daß dann das Offenkundigwerden von deren Unangemessenheit zugleich die faktische und programmatische Zerstörung des Inhalts des christlichen Bewußtseins als eines Bewußtseins von Wahrheit zu sein scheint. Wo man

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Wahrheit/Wahrhaftigkeit V

sich diesem Eindruck hingibt (sich durch ihn täuschen und ihn gelten läßt), verliert der Glaubensdiskurs seinen Gegenstandsbezug. Er reduziert sich auf ein Sprachspiel, das nur noch der Selbstinszenierung seiner Spieler dient. 2.4. Daraus folgt: Angemessen ist nur ein solcher theologischer Umgang mit dem christlichen Wahrheitsbewußtsein, der dieses als eine spezifische Sicht auf Wahrheit, und zwar auf die unsere Fähigkeit zu Verstehenswahrheit begründende Sachwahrheit überhaupt, auf deren Charakter als kontingentes Geschehen, nämlich als bloßes Gewährtwerden und -bleiben durch die freie - also ebenfalls kontingente, aber von uns nur in eigenmächtiger Willkür und mit katastrophalen Folgen zu bezweifelnde - Wahrhaftigkeit des Schöpfers, zur Geltung zu bringen sucht. Das wird er auf zwei Weisen tun: 2.4.1. Zunächst, indem er hinweist auf die dem Glauben durch das gegenwartsbestimmende Ostergeschehen erschlossene Sicht von Sachwahrheit überhaupt als Manifestation der Wahrhaftigkeit des Schöpfers für uns. Dafür ist stets auch ein Aussagezusammenhang erforderlich. Der kann nur angemessen sein als Versuch der Artikulation des unlöslichen Konstitutionszusammenhangs von gewährter Wahrheit und schöpferischer Wahrhaftigkeit. Das Muster dafür, das nicht überboten werden kann und nicht unterboten werden darf, ist die Nachzeichnung des unlöslichen Zusammenhangs von immanenter und ökonomischer —•Trinitat, von trinitarischem Wesen und trinitarischer Struktur des Werkes Gottes. Umgekehrt sind nur solche Fassungen der Trinitätslehre angemessen, die sich als Nachzeichnung des Offenbarungsgeschehens der Wahrhaftigkeit des Schöpfers in geschaffener Wahrheit vollziehen und nicht etwa den Versuch unternehmen, die Wahrheit einer überlieferten Fassung der Trinitätslehre, etwa des altkirchlichen Dogmas, zu beweisen. Keine sprachliche Bezeugung des christlichen Blicks auf Wahrheit kann ihre Wahrheit beweisen, jede kann nur auf die aus der Wahrhaftigkeit des Schöpfers gewährte Wahrheit hinweisen, die dann selbst für ihre Bezeugung sprechen wird (ubi et quando visutn est Deo: CA V). 2.4.2. Angemessen sind dann ferner auch nur die sprachlichen Bezeugungen dieser aus schöpferischer Wahrhaftigkeit gewährten Wahrheit, die sich selbst nur als eine unverzichtbare Form im leibhaften Gesamtvollzug des angemessenen Verstehens der Wahrhaftigkeit Gottes vollziehen, also nur innerhalb eines Gesamtvollzugs, der das leibhafte Ganze unserer Verstehensaktivität umfaßt, Reden und Tun, also unsere gesamte Lebensführung als leibhaften Freiheitsgebrauch, der sich der alle Sachwahrheit gewährenden schöpferischen Wahrhaftigkeit anvertraut. Angemessen können nur diejenigen sprachlichen Bezeugungen der aus der Wahrhaftigkeit des Schöpfers gewährten Wahrheit sein, die sich präsentieren als wesentliches Element innerhalb desjenigen leibhaften Freiheitsvollzugs, welcher das Tun der Wahrheit (Joh 3,21) ist, Wandel in der Wahrheit (II Joh 4). Literatur Hendrik J. Adriaanse, Wahrheit u. Vielfalt. Zur Reichweite theol. Begründung: Joachim Mehlhausen (Hg.), Pluralismus u. Identität, Gütersloh 1995, 4 4 0 - 4 5 2 . - Svend Andersen, Hat die Rede des Glaubens einen Wahrheitsbezug? Über Religionsphil, als Syst. Phil.: NZSTh 38 (1996) 3 0 7 - 3 2 1 . - Anselm v. Canterbury, De veritate (lat./dt.), hg. v. Franciscus Salesius Schmitt, Stuttgart 1966. - Ulrich Barth, Gott - die Wahrheit? Problemgesch. und syst. Anm. zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher: Christentum u. Wahrheitsbewußtsein. Stud. zur Theol. Emanuel Hirschs, hg. v. Joachim Ringleben, 1991 (TBT 50) 9 8 - 1 5 7 . - Charles Boyer, L'idée de vérité dans la philosophie de St. Augustin, Paris 1920 2 1940. - Elke Brendel, Wahrheit u. Wissen, Paderborn 1999. - Emil Brunner, Wahrheit als Begegnung, Berlin 1938. - Rudolf Bultmann, Art. àXrjOeia: T h W N T 1 (1933) 2 3 9 - 2 4 8 . - Ders., Theol. Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, bes. 1 8 3 205. - Jean-Francois Collange, „Faire la vérité". Considérations éthiques sur Jean 3,21: RHPhR 62 (1982) 415 - 4 2 3 . - Pierre Collin, Vérité divine et Vérité humaine: L'Homme devant Dieu. Mélanges offerts au Père Henri de Lubac. III. Perspectives d'aujourd'hui, Paris 1 9 6 4 , 1 1 7 - 1 2 4 . - Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger, Wahrheit, Glaube u. Theol. Zur theol. Rezeption zeitgenössischer wahrheitstheoretischer Diskussionen: ThR 66 (2001) 3 6 - 1 0 2 . - Donald Davidson, True to the Facts: ders., Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, 3 7 - 5 4 ; dt.: Wahrheit u. Inter-

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Ellert Herms

Waisenhaus

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Waisenhaus 1. Definition 2 . Die Waisenfürsorge in der Antike 3. Findelhäuser 4 . Waisenhauserziehung zwischen Hilfe, religiöser Erziehung und Sozialdisziplinierung im 16. und 17. J h . 5 . Von der Rettungshausbewegung zur Heimerziehung 6. Arbeitsformen und P r o b l e m e heutiger H e i m e r ziehung und Familienpflege 7. Kreative P r o j e k t e für unerwünschte Kinder 8. Seelsorge an verwaisten Kindern und Eltern (Literatur S. 387)

1. Definition Der Begriff Waisenhaus steht in der Geschichte menschlichen Hilfehandelns gegenüber Schutzlosen für eine frühe Form organisierter Hilfe aus religiöser bzw. allgemeiner karitativer Motivation. Menschliches Mitgefühl für elternlose Kinder führte zur Waisenfürsorge, deren primäre Organisationsform die Waisenhäuser bzw. Waisenheime waren. Zu den verwaisten Kindern zählten auch die von den Eltern verstoßenen oder ausgesetzten Kinder, die in Findelhäuser aufgenommen wurden; ab dem 19. Jh. gehörten dazu vor allem jene Kinder, die infolge wirtschaftlicher Not und unzureichender Sozialisationsbedingungen als „verwahrloste" bzw. „schwer erziehbare" Kinder in die Waisenhäuser und Erziehungsheime kamen. Die Institution des Waisenhauses wird historisch insbesondere verbunden mit der Zeit des 17. bis 19. Jh., in der es in der Öffentlichkeit bekannt war als ein meistens von der Kirche oder christlichen Persönlichkeiten gegründetes oder geleitetes Institut, in dem die Waisen- und Findelkinder einer sozial ungesicherten Gesellschaft Aufnahme fanden, besonders in Kriegs-, Krisen- und Katastrophenzeiten, und bis zu ihrem Eintritt ins Berufsleben (-»Konfirmation) unter zumeist dürftigen Bedingungen leben mußten. Waisenhauserziehung hat in sozialkritischen Romanen (Charles Dickens) ihren literarischen Niederschlag gefunden, sie gilt als Schreckgespenst unwürdiger Behandlung von Kindern in einer Mischung aus Mildtätigkeit und Straferziehung („Heimterror"). Neben der Betreuung und Versorgung war vor allem die soziale Disziplinierung dieser angeblich gefährdeten Kinder und Jugendlichen geheime oder offene Absicht der Waisenhauserziehung, allerdings darin meist scheiternd (vgl. den autobiographischen Bericht von Wolfgang Werner, Vom Waisenhaus ins Zuchthaus, Frankfurt a. M . 1969). Bereits Anfang des 20. Jh. wurde der Name Waisenhaus von den Bezeichnungen Erziehungs-, Kinder- und Jugendheim abgelöst. Der Begriff Heimerziehung bzw. Fremdunterbringung steht heute für das Problem, das historisch mit der Institution des Waisenhauses verbunden war und muß deswegen hier ausführlich mitbehandelt werden. An die Stelle von Waisen- und Findelkindern sind heute Kinder und Jugendliche getreten, die zwar Eltern haben, deren Erziehungsfähigkeit aber vorübergehend oder auf Dauer eingeschränkt ist, so daß den Kindern auf Zeit oder dauerhaft ein anderer Lebensmittelpunkt geboten werden muß. Dieser kann auch in der Aufnahme in eine Pflege- oder Adoptivfamilie bestehen, deren Grenzen sich heute immer mehr verwischen. Heimerziehung und Familienpflege sind die beiden Grundformen der öffentlichen Fremderziehung. Sie werden seit Jahrhunderten je nach ideologischen, ordnungspolitischen und ökonomischen Positionen und Interessen favorisiert oder skandalisiert, sind heute jedoch als sich ergänzende Maßnahmen zu sehen. Schließlich: der Wandel der Familien- und Lebensverhältnisse hat zu einer „vaterlosen Gesellschaft" geführt, die den Begriff des Waisen noch einmal in ganz anderer Beleuchtung zeigt, nämlich als teilweise Unfähigkeit zur Erziehung. 2. Die 'Waisenfürsorge in der Antike Eltern sind für aufwachsende Kinder Hüter der Ordnung und Garanten des Weltvertrauens. Als Kind einen oder beide Elternteile zu verlieren, ist die schrecklichste lebensgeschichtliche Zäsur. Sie steht in der Geschichte der Menschheit darüber hinaus symbolisch für die Zerbrechlichkeit des Lebens wie für die soziale Unsicherheit des Menschen in einer Welt, die immer wieder vom Kampf des Überlebens bestimmt wird.

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Waisenhaus

Deswegen wird in den Religionen der antiken Völker der Schutz der Waisen stets von neuem eingeschärft. Die Waisen und Witwen sind im Alten Orient die Schutzbefohlenen hoher Würdenträger. In ägyptischen Grabinschriften bezeichnen sich hohe Beamte als Vater der Witwen und Waisen. In Athen wird für die Waisen im Krieg gefallener Bürger bis zum 18. Lebensjahr gesorgt. In Israel als einer Gesellschaft, in der nur der grundbesitzende freie M a n n volles Mitglied ist, wird Gott „Vater der Waisen und der Helfer der Witwen" genannt (Ps 68,6). „Er schafft Recht dem Armen und der Waise" heißt es in Ps 82,3, in dem die asozialen Götter der Umwelt abgesetzt werden (vgl. auch Ps 146,9). Ihr Schutz wird im alttestamentlichen Erbarmensrecht eingeschärft (Ex 22,21 f.), ihre Unterdrückung von den Propheten scharf kritisiert (Jes 1,17; Jer 5,28). Z u r Zeit der Reform des Josia wird der Zehnte alle drei Jahre zu einer Art Sozialsteuer für die Leviten, Witwen und Waisen und Fremdlinge als die personae miserae umfunktioniert (Dtn 14,28ff.). Jesu Aufforderung „Lasset die Kinder zu mir kommen" (Mk 10,14) hat noch vor dem geistlichen einen eindeutig materiellen Sinn (als Einspruch gegen den Verkauf und die Aussetzung von Kindern). Waisenhäuser sind eine verhältnismäßig späte Einrichtung der Kirche zur Versorgung und Unterbringung von Waisenkindern. In der frühen Kirche war es Aufgabe jedes Christen, sich der Waisen anzunehmen: „Wenn ein christliches Kind verwaist ist, so wird es ein verdienstliches Werk sein, wenn einer von den Brüdern, der kinderlos ist, den Knaben aufnimmt und an Kindes Statt erzieht" (Const. Apost. 1,2). Später berühmte Christen, wie z.B. —•Origenes, wurden so in fremder Familie aufgezogen. Zeitweilig wurden die Witwen mit ihrer Erziehung beauftragt. Besonders aber galt es seit dem 3. Jh. als Aufgabe des -»Bischofs, sie auf Kosten der Gemeinde zu erziehen, die Mädchen im heiratsfähigen Alter einem christlichen M a n n zur Ehe zu geben und bei den Jungen für die Erlernung eines Handwerks zu sorgen, damit sie sich selbst ihr Brot verdienen (ebd.). Von -»Ambrosius, -»Augustin und -»Johannes Chrysostomus wird erwähnt, daß sie in besonderer Weise das der Kirche anvertraute Witwen- und Waisenvermögen schützten und sich um die Verheiratung von Waisenmädchen kümmerten. Im Zusammenhang der Einrichtung von Fremdenherbergen im 4. Jh. n. Chr. im Osten wird es zur ersten Einrichtung von Waisenhäusern gekommen sein (Erwähnung in den Konstitutionen Kaiser Zenons hinsichtlich der Steuerbefreiung 472 n. Chr. [vgl. T R E 18,562,29-36] und bei Justinian 534 n.Chr.). -»Karl der Große anerkannte für sich und seinen Staatsapparat die Fürsorgepflicht für die Waisen, wenn auch die unmittelbare Aufsicht über ihre Erziehung bei den Bischöfen und Priestern verblieb. Im Mittelalter werden dafür die -»Klöster in Anspruch genommen. 3.

Findelhäuser

Die Aussetzung und Tötung von Kindern war bei den Römern nichts Ungewöhnliches; solche ausgesetzten Kinder wurden von berufsmäßigen Findern zu Sklaven erzogen und verkauft, die Mädchen oft zur Prostitution gezwungen. Die christliche Gemeinde nahm früh dagegen Stellung. Abtreibung und Aussetzung wurden streng verboten (Did 2,2; Tertullian, apol. 9). Das soziale Elend in der Zeit der Völkerwanderungen führte dazu, daß vermehrt Kinder ausgesetzt und auch verkauft wurden. Vergeblich versuchten die Kaiser, durch Gesetze dem Übel zu wehren. Kirchliche Liebestätigkeit fand hier ein weites Arbeitsfeld, gerade auch in Befolgung des Kinderevangeliums M k 10,14. Die N a m e n proiectus und proiecta als Bezeichnungen für Findelkinder auf christlichen Grabinschriften mehren sich in dieser Zeit. Augustin erzählt von frommen Jungfrauen, die die Kinder sammeln und zur -»Taufe in die Kirche bringen. In den Kirchen wurden Marmorschalen aufgestellt zur Aufnahme der Findelkinder. Der Fund der Kinder wurde in der Kirche abgekündigt; wenn sich nach 10 Tagen die Eltern nicht meldeten, konnte der Finder das Kind behalten. Die Synode von Toledo forderte 589 die Geistlichen und weltliche Richter auf, gemeinsam gegen das verbreitete Verbrechen einzuschreiten, daß Eltern ihre Kinder töten, um sie nicht ernähren zu müssen (III. Konzil von Toledo, c. 17).

Waisenhaus

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787 wurde in Mailand die erste Anstalt für verlassene, uneheliche und ausgesetzte Kinder gegründet. Führend in der Betreuung verwaister Kinder wurde im 12. Jh. der Heilig-Geist-Orden. Gefördert von Papst —»Innocenz III. wurde 1204 ein großes Findelhaus dieses Ordens in Rom errichtet. Derselbe Papst soll in diesem Findelhaus zuerst die Drehlade eingeführt haben, nachdem drei Kinderleichen im Tiber entdeckt wurden; junge nicht verheiratete Mütter sollten so eine Gelegenheit erhalten, ihr Kind unerkannt in den Schutz anderer Hände zu geben. Andere Städte folgten. Am Anfang des 14. Jh. war der Orden der Brüder vom Heiligen Geist im Besitz von 29 Findelhäusern. In Deutschland waren sie weniger verbreitet. Der Versuch, bei dem Hamburger Waisenhaus 1708 eine Drehlade einzurichten, wurde allerdings nach einigen Jahren wieder aufgegeben, weil das Waisenhaus durch das massenhafte Einlegen von Kindern (200 in einem Jahr) in seiner Existenz geradezu bedroht war. 1642 hatte —»Vinzenz von Paul ein vorbildliches Haus für Findelkinder in Paris gegründet. Um 1780 gab es in Frankreich ungefähr 300 Findelhäuser mit etwa 250 Drehladen. Besonders Paris mit seinen zahlreichen Findelhäusern wurde zu einem Sammelbecken für die Kinder aus der Provinz, die Sterblichkeitsrate war sehr hoch. Findelhäuser mit einer großen Zahl von Kindern gab es überall in den Hauptstädten Europas. Nachdem Napoleon I. noch 1811 in einem Dekret die offizielle Einführung der Drehlade verfügt hatte, wurde sie 1834 auch in Frankreich abgeschafft. An die Stelle der verborgenen Abgabe trat die offizielle Fürsorge für die Mütter, die Aufnahme der Kinder in Pflegefamilien und die staatlich geregelte Adoption. War früher die Einschätzung: „ein Mittel zur gewissenlosen Entledigung von dem Kinde" (Mahling 598) herrschend, so wird Kindesaussetzung heute als Ausdruck des großen Elends sozial isolierter Mütter wahrgenommen (s.u. 7.).

4. Waisenhauserziehung 25 rung im 16. und 17. Jh.

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zwischen

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Sozialdisziplinie-

Sozialgeschichtlich betrachtet war die Versorgung der Waisen im Mittelalter eine Angelegenheit der christlichen Caritas. Oberster Waisen- und Armenpfleger blieb der Bischof. Kirchliche Hospitäler versorgten diejenigen, die sich auch durch Betteln und Almosenverteilung nicht mehr erhalten konnten; dazu gehörten die elternlosen Kinder. „Die Reformation brachte dem außerreligiösen Alltag der Findel- und Waisenkinder grundsätzlich nichts Neues" (Röper 80). M. -»Luther empfiehlt den Gemeinden, für den Unterhalt der Witwen und Waisen selbst zu sorgen, und den Ratsherren, sie auch zu beschulen. Doch armenpolizeiliche Gesichtspunkte (Bettelverbot) bestimmen die Waisen- und Armenfürsorge in den evangelischen Gebieten. Die reformierten Gemeinden in den Niederlanden sind die ersten, die Waisenhäuser errichten (1579 Bürger-Waisenhaus in Amsterdam). Von ihnen angeregt entstehen Waisenhäuser im protestantischen Deutschland, so z. B. 1604 das von zwei Niederländern gegründete Waisenhaus in Hamburg. Die evangelischen wie die katholischen (Köln 1603) Waisenhausordnungen dieser Zeit lassen erkennen, daß sie neben der Verhinderung von Bettelei ansatzweise bemüht sind, zumindest den Jungen eine hinreichende Bildung und Ausbildung zu verschaffen. Im Vordergrund steht aber die religiöse Erziehung mit täglichen Gottesdiensten und Gebeten. Straferziehung war gängige Praxis. Die Überfüllung der Waisenhäuser im 17. Jh. führt zu hoher Sterblichkeit. Im Übergang von der feudalen agrarischen zur frühkapitalistischen Produktionsweise übernehmen die städtischen Räte mehr Macht, die Fürsorge wird kommunalisiert, nur ortsansässige Arme erhalten Unterstützung. In die Arbeits- und Zuchthäuser, die seit 1550 in allen entwickelten Ländern Europas gegründet werden, werden neben arbeitsfähigen Bettlern und Landstreichern auch Eltern mit ihren Kindern eingewiesen und zur Arbeit gezwungen (Bremen 1604; Hamburg 1616; Freiburg 1617 u.a.) In diesem Paradigma frühbürgerlicher Sozialpolitik zeigt sich die Pädagogisierung sozialer Probleme. Waisenhaus- und Heimerziehung wird von nun an immer auch Arbeitserziehung sein.

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Die wichtigste und einflußreichste Gründung war das Waisenhaus A.H. —»Franckes 1695 in Glaucha bei Halle. Aus den berühmten „4 Talern und 16 Groschen" in einer Kollekte gründete er eine Armenschule und sofort danach das Waisenhaus. Francke trennte das Waisenhaus von seiner Vermischung mit dem Arbeits- und Zuchthaus und baute, auf die göttliche Hilfe vertrauend, eine Schulstadt auf, in der neben 134 Waisen 2.200 Schüler und Studenten versorgt wurden. Kennzeichnend ist eine dem damaligen pädagogischen Fortschritt entsprechende religiös orientierte Erziehung, die das Spiel verpönt und sich streng auf das Nützliche bezieht, zwar ohne harte Arbeit und Strafen, wie in den städtischen Waisen- und Arbeitshäusern üblich, aber doch mit sanfter, dem Evangelium gemäßer Brechung des Eigenwillens der Kinder (Francke 44), „um sie unter den Gehorsam zu bringen" (ebd. 19). Auf der Grundlage des „sozialpolitischen" Gestaltungswillen des -»Pietismus, nämlich mehr zu tun als gesellschaftlichen Mißständen nur reaktiv zu begegnen, entwickeln sich die Franckeschen Anstalten zu einem weitausgreifenden Reformprojekt, das beispielhaft wirkt und zum Teil mit Unterstützung des preußischen Staats (so 1725 in Potsdam) Gründungen von Waisenhäusern in anderen Städten nach sich zieht (1702 in Coburg, 1724 Wiesbaden, 1730 Bayreuth). In der 2. Hälfte des 18. Jh. waren aus den Waisenhäusern Spinn- und andere Industrieschulen zur Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft geworden. Ende des 18. Jh. geraten die Waisenhäuser in eine ernste Krise. Schriftsteller und Pädagogen der Aufklärung (vor allem J.H. -»Pestalozzi; vgl. auch Christian Gotthelf Salzmanns [17441811] Brief-Roman Carl von Salzberg oder über das menschliche Elend, 4 Bde., Leipzig 1783-1787) werden auf das massenhafte Kinderelend aufmerksam. Hauptargument ist die große Sterblichkeit in den Waisen- und Findelhäusern. Ernst Moritz Arndt (17691860) spricht von einer „Mördergrube der jungen Menschheit" (Koch 174). Die Ausnutzung der Arbeitskraft, die zuvor Neugründungen hervorgerufen hatte, wird infolge der beginnenden Mechanisierung weniger attraktiv. So führt dieser „erste Waisenhausstreit" (seit 1770) zur Verbesserung des Zustandes der Waisenhäuser (so vor allem in Wien unter Joseph II. [->Josephinismus]), aber auch zu ihrer Leerung. Familienpflege wird als Alternative propagiert. Doch mit den nicht kontrollierten und beratenen Pflegestellen auf dem Lande wurde für die Kostkinder eine neue Katastrophe eingeleitet. Die Kinder werden nur wegen des Kostgeldes aufgenommen, das ihnen aber nicht zugute kommt. Ihre Erziehung und Bildung wird vernachlässigt, häufig werden sie zum Betteln angehalten. Eine grundlegende Reform des Familienpflegewesens wird erst 1922 mit dem Reichsjugend wohlfahrtsgesetz durch Berufsvormundschaften und staatliche Pflegeaufsicht durchgesetzt. 5. Von der Rettungshausbewegung

zur

Heimerziehung

Eine Erneuerung der Waisenhaus- bzw. Heimerziehung geht von einzelnen christlichen Persönlichkeiten aus. So stellt Pestalozzi in dem von ihm 1799 nur für kurze Zeit geführten Waisenhaus in Stans seine erzieherische Haltung einerseits unter den Anspruch der christlichen Agape, vertraut andererseits in seinem pädagogischen Optimismus „den Kräften der Natur, die Gott auch in die ärmsten und vernachlässigsten Kinder legte" (Pestalozzi VI, 96). Johannes Falk (1768-1826; vgl. TRE 8,637,34-39) in Weimar betreut infolge von Kriegen elternlos gewordene Kinder zunächst in Familien, dann in einer Anstalt, wo sie eine handwerkliche Ausbildung und christliche Beheimatung finden. In ähnlicher Absicht gründet Heinrich Zeller 1820 in Beuggen bei Baden mit 10 Armenschullehrern das erste süddeutsche Rettungshaus, das ganz vom Prinzip der Freiwilligkeit ausgeht: „ . . . von freiwilligen Beiträgen unterhalten, für freiwillige Jünglinge bestimmt, die aus freiem Trieb der Liebe zu Jesu Christo, seinem Dienst bei der armen Jugend sich zu weihen entschlossen sind . . . " (zit. nach Beyreuther 56). Bahnbrechend wird jedoch die von J.H. -»Wichern 1833 in Hamburg gegründete, nach dem Prinzip der Familienerziehung arbeitende Rettungsanstalt Das Rauhe Haus. Wichern hat von Anfang

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an als Zielgruppe die neue Schicht von proletarisierten entchristlichten Kindern vor Augen, die im Gefolge der industriellen Revolution und der Verstädterung verelendet waren und deren Not er als Sonntagsschullehrer in St. Georg kennengelernt hatte. Weil das Familienleben „in den untersten Volksklassen durch U n z u c h t . . . entstellt, zerrüttet, geschändet" (Wichern, Ausgewählte Schriften II, 33) ist, muß es im christlichen Geiste wiederhergestellt werden. In der Rettungshausbewegung wird zum ersten Mal das „verwahrloste" Kind als erziehungsbedürftig und nicht als bloßes Korrektionsobjekt erkannt, wobei Wichern als letzten Grund der Verwahrlosung die Gottesferne und Unchristlichkeit sieht. Er stellt in die Mitte seiner Rettungspädagogik die bedingungslose Annahme des Kindes. Er will die „schlimmsten gearteten" Kinder, die von den anderen Institutionen aufgegeben wurden, aufnehmen (Wichern, SW IV/1, 249). In einem dem Taufakt vergleichbaren Aufnahmeritual heißt es: „mein Kind, dir ist alles vergeben, . . . hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich, diese heißt Liebe und ihr M a ß ist Geduld" (ebd. 119). Er faßte nicht mehr als 12 bis 14 Kinder verschiedener Altersstufen in familienähnlichen Gruppen zusammen, die ihr gemeinsames Leben zusammen mit dem Bruder genannten Erzieher in einer Art Selbstregulation gestalten sollten. Wechselseitige Erziehung, Selbstdisziplinierung und ein vom Geist der Liebe getragenes freundlich-offenes architektonisches Arrangement der Anstalt sind weitere Prinzipien Wicherns. Allerdings schuf Wichern durch ein ausgefeiltes Berichtswesen, in dem die Arbeitshaltung und die moralische Haltung der Zöglinge ständig bewertet wurden, doch ein in gegenseitiger Kontrolle bestehendes Normalisierungssystem (vgl. Anhorn). Als Teil der -»Inneren Mission ist die Rettungshausarbeit für Wichern Reintegration der Verlorenen in eine christlich zu reformierende, sozial verantwortliche ständische Gesellschaftsordnung. Die zeitlich parallele katholische Erziehungsarbeit eines Johann Baptist von Hirscher ( 1 7 8 8 - 1 8 6 5 ) war ungleich strenger; aus den Rettungshäusern Wicherns wurden „Zuchthäuser für Kinder" (Röper 211). Katholische Frauenorden wie die „Kongregation der Schwestern vom armen Kinde Jesus" nahmen sich zwar aufopferungsvoll der verwaisten und armen Kinder an, zielten aber mit einer nahezu totalen Kontrolle der Kinder vor allem auf Frömmigkeit, Überwindung von Charakterfehlern und Gehorsam. In Großbritannien erhielt die Fürsorge für verwaiste und obdachlose Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem durch die Pionierarbeit von Thomas John Barnardo (1845-1905) eine neue Qualität. Barnardo, ein Mitglied der Plymouth Brethen, kam von Dublin nach London, um sich als Arzt für die Chinamission ausbilden zu lassen. Während seines Studiums war er von der Notlage der Jugendlichen in den Londoner Slums und der obdachlosen Jungen, die auf den Straßen übernachteten, so tief berührt, daß er in seiner Freizeit zunächst versuchte, ihnen eine gewisse Form von Betreuung zu geben, bis er 1870 von der Notwendigkeit überzeugt war, ein Haus für verarmte Jungen zu gründen. Statt nach China zu gehen, widmete er sein Leben dieser Aufgabe, deren Motto über dem Eingang seines ersten Waisenhauses angebracht war: „Keinem verarmten Kind wird je der Zugang verweigert". In der Folgezeit wurde eine Reihe von kleinen Waisenhäusern gegründet, und seine Ideen beeinflußten die soziale Wahrnehmung der Notlage von Waisenkindern in mehreren Kontinenten. In London baute Barnardo 1873 aus einer ehemaligen Kneipe eine Kirche mit Suppenküche. Drei Jahre später errichtete er in Ilford ein Dorf, um dort Mädchen in kleinen „Familien"-Einheiten ein Zuhause zu geben. Ab 1882 schickte er Jugendliche nach Kanada, da sie dort bessere Chancen hatten, eine Arbeit zu finden. Die Organisation wuchs schnell, so daß in der Zeit bis zum Tod Barnardos insgesamt 59.384 Kinder in dessen Häuser aufgenommen wurden, 20.000 die Auswanderung ermöglicht wurde und weiteren 250.000 materielle Hilfe zukam.

Zur gleichen Zeit erweiterte auch die -»Heilsarmee ihr Tätigkeitsfeld. Mit den erschreckenden sozialen Nöten des viktorianischen London und anderer Großstädte konfrontiert, baute sie innerhalb weniger Jahre im britischen Königreich 13 Häuser für Mädchen, die der Fürsorge bedurften, und bald darauf weitere 17 Häuser in anderen

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Ländern. Diese Häuser waren Teil der breiter angelegten sozialen Programme der Heilsarmee, die sich, wie auch bei Barnardo, in der Sorge um die persönliche geistliche Rettung gründeten. Ähnliche Arbeit wurde auch von römisch-katholischen Organisationen in ganz Großbritannien begonnen. Die frühen Rettungshäuser in Deutschland arbeiteten zunächst ohne Unterstützung durch den vormärzlichen, später liberalen Staat. In der 2. Hälfte des 19. Jh. veranlaßt die Verelendung in den Städten und Industriegebieten den Staat zu Zwangsmaßnahmen gegen sog. verwahrloste und kriminalitätsanfällige Jugendliche. Sie werden im Rahmen der ab 1900 gesetzlich geregelten „Fürsorgeerziehung" in vorwiegend kirchlichen Waisenhäusern und Heimen untergebracht. Nicht Wicherns offene und familienähnlich strukturierte Rettungsdorf-Gemeinschaft ist das Vorbild, sondern eher die von Graf Adalbert von der Recke (1791 -1878) konzipierte geschlossene Anstalt (Düsselthal 1822), in der die Heiminsassen, abgeriegelt gegen Einflüsse von außen, in strenger Ordnung erzogen werden. Die kleinbürgerlich-christlichen Erzieher stehen den proletarischen Jugendlichen oft hilflos gegenüber. Die Anstaltserziehung ist durch schlechte Ausstattung, Ordnungsrituale des Überwachens und Strafens sowie durch psychologische und pädagogische Unkenntnis geprägt. Ein schlecht ausgebildetes und bezahltes Personal kompensiert seine Situation durch sadistisches Erziehungsverhalten. Das „Janusgesicht der modernen Sozialpädagogik" (Peukert 306) zeigt sich in der „Zuwendung zu den Erziehbaren und Ausgrenzung der Unerziehbaren". Nach mehreren Heimrevolten kommt es in der Weimarer Republik zu einer Kampagne gegen die oft unhaltbaren Zustände in den Waisen- und Jugendheimen, in der auch das Theaterstück von Peter M. Lampel (1894-1965), Revolte im Erziehungsheim, 1928 in Berlin uraufgeführt, eine Rolle spielte. Einige Heime werden geschlossen. Auf der anderen Seite gibt es auch Reformversuche einer lebensfrohen Arbeits- und Festkultur bei Pastor Louis Plaß (1864—1910) im Fürsorgeheim Am Urban (1910) sowie unter dem Aspekt der Selbsterziehung bei Karl Wilker (1885-1980) im Berliner Lindenhof (1921). Im sog. „Dritten Reich" sind die Erziehungsheime die Vorstufe zu einer faschistischen Politik der Ausmerzung, die weite Bereiche der Arbeit mit als abweichend geltenden Kindern und Jugendlichen bestimmte (Einweisung in polizeiliche Jugendschutzlager wie das Jugend-KZ Moringen). Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ist gekennzeichnet durch eine große Zahl von Kriegswaisen (man spricht von 1,6 Millionen) und herumstreunenden Jugendlichen. Durch die Errichtung von Jugendwohnheimen und Ausbildungsdörfern (Christliches Jugenddorfwerk) versucht auch die evangelische Kirche, der sog. Berufs- und Erziehungsnot zu steuern. Vor allem Ordnungsgesichtspunkte dominieren die Heimerziehung in einer Situation notorischer Armut und fachlicher Unkenntnis. Ehemalige Soldaten als Erzieher gab es noch bis Ende der 1960er Jahre. Auch in den kirchlichen Anstalten herrschte noch zwei Jahrzehnte lang oft „Heimterror". Es war erst die Heimkampagne von durch die Studentenbewegung politisierten Sozialpädagogen Ende der 60er Jahre, die zu neuen Ansätzen führte, die es vorher vereinzelt (Albert Mehringer in München; Kinderdorfbewegung, bes. die von Hermann Gmeiner [1919-1986] gegründeten SOSKinderdörfer) bereits gegeben hatte. Lehrlingskollektive und selbstverwaltete Jugendzentren schienen zu zeigen, daß sogar eine Selbst-Organisation ohne Gängelung durch Sozialpädagogen möglich sei; letztlich führte dieses Aufbegehren jedoch dazu, daß immer mehr Erziehungsheime einen wachsenden Teil ihrer Plätze in selbständige Wohngemeinschaften auslagerten und damit das Ende der totalen Heimversorgung einläuteten. Wichtige theoretische Impulse waren die Kritik an der Anwendung sozialer Zensuren (vor allem an der Verwahrlosung als zentraler Indikation) und die kritische Analyse der Heimerziehung unter dem Begriff der „totalen Institution" (Goffman). Immer mehr setzte sich die Einsicht durch, daß Kinder mit schwierigen Biographien und störendem Verhalten Handlungsräume brauchen, die ihnen den Ausstieg aus dem Kreislauf von Auffälligkeiten und sich verfestigender abweichender Entwicklung erleichtern. Im Zuge der

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Heimkampagnen wurde die Pflegestelle wiederentdeckt und wegen ihres Familiencharakters und der geringen Kosten auch für ältere und „entwicklungsgeschädigte" Kinder als sozialpädagogische Alternative empfohlen. In der D D R gliederte sich die Heimerziehung in Normalheime für elternlose und familiengelöste sowie entwicklungsgefährdete Kinder und Jugendliche auf der einen, Spezialheime für Schwererziehbare auf der andern Seite (Jugendwerkhöfe). Die Spezialheime sollten einen Umerziehungsprozeß auf der Grundlage der sozialistischen Schulpolitik und Pädagogik leisten. Zwar war die Professionalisierung der Heimerzieher höher als in der Bundesrepublik, doch eine der westdeutschen Dezentralisierung entsprechende Entwicklung in der Jugendhilfe gab es nicht. Die Heimerziehung setzte weiter auf große Einrichtungen (80—150 Plätze). Reformpädagogische Ansätze wurden als bürgerliches Gedankengut disqualifiziert. 6. Arbeitsformen

und Probleme heutiger Heimerziehung

und

Familienpflege

Die Unterbringung, Versorgung und Erziehung von Waisenkindern ist heute Bestandteil der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie, wie sie vom Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) geregelt wird. Neue Lebensorte bzw. kurzzeitige Unterbringung finden Kinder und Jugendliche aus schwierigen Erziehungssituationen bei Adoptionseltern, Erziehungsstellen, Pflegefamilien (ca. 40 % ) , sowie in Jugendwohnungen, Erziehungsheimen und anderen betreuten Wohnformen (ca. 60 % ) . Die Zahl der Adoptionen ist zurückgegangen; es gibt sehr viel mehr Adoptionsbewerber, was zur Folge hat, daß die weitaus größere Zahl der adoptierten Kinder international vermittelt wird. Der Kreis der Kinder und Jugendlichen, die sich in schwierigen Lebens- und Familienverhältnissen befinden, hat sich in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft trotz des gewachsenen Wohlstands und des Angebots der Erziehungshilfen nicht so reduziert wie erwartet. Zwar befanden sich 1997 in den alten Bundesländern „nur" 83.515 junge Menschen unter 21 Jahren in Hilfen zur Erziehung außerhalb der eigenen Familien nach dem K J H G (dazu noch ca. 15.000, die in Frauenhäusern, Drogentherapieeinrichtungen und im Strafvollzug zumeist mit ihren Müttern untergebracht wurden). 1970 waren es noch 136.105 gewesen. Dieser Rückgang ist mit der Ausweitung ambulanter und teilstationärer Hilfen zu erklären, denn 1998 erhielten insgesamt 548.500 junge Menschen erzieherische Hilfen nach dem K J H G (Statistisches Bundesamt). Die Rede von den Scheidungswaisen oder auch von Erziehungsopfern gehört zum Repertoire heutiger öffentlicher Zeitdiagnostik. Die meisten fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen kommen aus der Sicht einer Defizitperspektive aus unvollständigen -•Familien. Neuere Untersuchungen stellen jedoch fest, daß die Benachteiligung eher auf die schlechte sozioökonomische Lage als auf die Tatsache des Alleinerziehens zurückzuführen ist. Schwierige Familiensituationen sind in materieller Hinsicht vor allem durch geringes Einkommen, Sozialhilfeabhängigkeit, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse gekennzeichnet. Hinzu kommt zunehmend eine „innere Armut" der Eltern oder des zuständigen Elternteils, die sich in einem Gemisch von Überforderung und wachsendem Desinteresse an den Kindern zeigt (das nicht auf die unteren Schichten begrenzt ist). Der Wandel der Familienstrukturen (Ein-Kind-Familie, Familien von Alleinerziehenden, vor allem alleinerziehender Mütter) und der Gesellschaft (Gleichberechtigung, Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt) führt dazu, daß der Hauptdruck der Erziehung auf der berufstätigen (oft gering qualifizierten) Mutter liegt. Entlastung der Mütter durch ambulante Hilfen wie Erziehungsbeistandschaften kann und sollte deswegen der Fremdunterbringung vorausgehen. Heimerziehung ist heute nur mit Zustimmung der Eltern möglich. Die Personensorgeberechtigten haben nach § 27 des K J H G den Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung, wenn sie „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleisten können". Bei jüngeren Kindern wird familiären Settings in Gestalt der

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Pflege- und Adoptionsstellen/-famiIien der Vorzug gegeben. Für ältere oder als schwierig (psychisch belastet) geltende Kinder werden eher die pädagogisch qualifizierten Erziehungsstellen, Sonder- und Heilpädagogische Pflegestellen und die Sozialpädagogischen Lebensgemeinschaften vorgesehen. Fremdunterbringung in Pflegefamilien und in Heimerziehung ist und bleibt aber ein gravierender Eingriff in die Lebensverhältnisse von Kindern und deren Familien. Deswegen hat die „Kommission Heimerziehung" 1977 gefordert, sich an den natürlichen Lebenszusammenhängen der Kinder und Jugendlichen zu orientieren und die Praxis der lebensfernen Anstalten zu überwinden. Es wurde ein Prozeß der Dezentralisierung, Entspezialisierung und Normalisierung eingeleitet. Mit der Dezentralisierung ist ein breites Spektrum von Unterbringungsformen entstanden. Wohngruppen bilden inzwischen die Hauptunterbringungsform, die Heime sind kleiner geworden. Die alte Zwingburg Heimerziehung ist weitgehend geschleift worden. In Hamburg sind es 1998 durchschnittlich nur noch 8 Plätze pro Einrichtung, bundesweit ca. 30. Geschlossene Unterbringung gibt es fast gar nicht mehr. Der Weg durch Spezialeinrichtungen, an deren Ende oft die geschlossene Heimerziehung stand, ist überwunden. Die Erzieher sind sozialpädagogisch qualifiziert. Heimerziehung als ein Ort zwischen Familie und Anstalt versucht mit Jugendlichen, die aus Familien am Rande der Gesellschaft kommen, verbindliche Regeln der alltäglichen Lebensführung einzuüben. Lebensweltorientierung und Regionalisierung sind zum Arbeitsprinzip der Heimerziehung geworden. Durch Integration in das Gemeinwesen und Veränderung des sozialen Raums möchte an Erfahrungen, Orientierungen und Lebenszusammenhänge der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern angeknüpft werden. Heimerziehung ist so von einem Schreckbild (Heimterror) zu einer „Erfolgsgeschichte" geworden. Großangelegte Untersuchungen haben gezeigt (Leistungen und Grenzen [1998]), daß die heutige differenzierte Heimerziehung ebenso wie die Pflegefamilien die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen verbessert haben. Auf der anderen Seite wird die Heimerziehung zum Ausfallbürge einer kapitalistisch entfesselten Gesellschaft, die systematisch unfähig zur Sozialisation und Integration eines bestimmten Teils ihres Nachwuchses zu sein scheint. Der Hilfebedarf nimmt zu, weil die gesellschaftliche Modernisierung ungebremst auf Kinder und Jugendliche durchschlägt. Die Kritik an zu liberalen Sozialpädagogen und der Ruf nach härteren Sanktionen für schwierige Jugendliche (geschlossene Heime), der gelegentlich in die Diffamierung einer ganzen Generation ausartet, zeigt, daß Diakonie nach wie vor die Rechte der Kinder und Jugendlichen als einer oft von den Eltern verlassenen, insofern „verwaisten" Generation verteidigen muß. Das Kinderevangelium bewahrheitet sich heute u.a. in der Gestaltung einer „Kultur des Aufwachsens" (10. Kinder- und Jugendbericht). 7. Kreative Projekte für unerwünschte

Kinder

Kindesaussetzungen, Kindestötungen und Kindesmißhandlungen (mit großer Dunkelziffer) zeigen, daß es in einer reichen Gesellschaft mit einem ausdifferenzierten Hilfesystem noch eine große Zahl unerwünschter Kinder und überforderter Eltern gibt. Wie durch Patenschaften für kleine Kinder junger und/oder psychisch gestörter Mütter eine Fremdplazierung vermieden werden kann, zeigt ein Hamburger Modellversuch (Pfiff e.V.). Durch eine sozialräumlich im Wohnfeld angesiedelte Patenfamilie wird diesen Müttern eine kontinuierliche und zuverlässige Entlastung von den Mutterpflichten an die Seite gestellt. Eine überraschende Aktualisierung hat die Einrichtung der mittelalterlichen Drehlade 1999 in der Babyklappe von Hamburg (und inzwischen in vielen weiteren Städten Deutschlands) gefunden. Im Eingangsbereich einer Kindertagesstätte angebracht, kann durch sie ein neugeborenes Baby in ein Wärmebett gelegt und sofort ärztlich versorgt werden. In einem rechtlich festgelegten Zeitraum von 8 Wochen hat die Mutter die

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Möglichkeit sich mitzuentscheiden, falls sie ein gemeinsames Leben mit ihrem Kind versuchen m ö c h t e . Im Mittelpunkt des Projekts stehen die R e t t u n g des Kindes und sein Recht, in einer liebevollen Umgebung aufzuwachsen, aber auch die Hilfe für die M u t t e r , der eine verantwortungsvolle Entscheidung für eine geschützte Abgabe ermöglicht wird. D u r c h den Verzicht auf eine verpflichtende Beratung sofort bei der Abgabe wird die gesellschaftlich approbierte Verdammung kindesaussetzender M ü t t e r unterlaufen und auf ein Verständnis hingearbeitet, das die Abgabe als individuelle Entscheidung e x t r e m sozial isolierter/ belasteter M ü t t e r zukünftig akzeptiert. Über die offizielle Anerkennung der weitergehenden Lösung, die a n o n y m e Geburt, wie sie bereits in A m b e r g (Bayern), Berlin und weiteren Orten praktiziert wird, wird noch verhandelt. 8. Seelsorge

an verwaisten

Kindern

und

Eltern

Eine hochtechnisierte Gesellschaft mit ca. 9 . 0 0 0 Verkehrstoten und vielen anderen Katastrophenopfern p r o J a h r , aber auch mit plötzlichen H e r z t o d e n und Krebserkrankungen von Eltern bedeuten für die kirchliche Seelsorge und Beratung eine große Herausforderung. Eine solide pastoralpsychologische Ausbildung der Seelsorger ist für die Begleitung der Waisen und ihre Trauerarbeit notwendig. Selbsthilfegruppen verwaister Eltern, die ihre Kinder durch Krankheit, Unfall, M o r d oder Selbstmord verloren (nach Schätzungen bis zu 2 5 . 0 0 0 M ü t t e r und Väter p r o J a h r ) , haben sich, von einer ersten Gründung an der Evangelischen Akademie in H a m b u r g Anfang der 1980er J a h r e ausgehend, überall in der Bundesrepublik gebildet. Es gibt inzwischen c a . 3 0 0 Gruppen und eine Bundesstelle für verwaiste Eltern e.V. mit einem Institut für Trauerarbeit in H a m b u r g . Der Austausch der verwaisten Eltern über ihre Erfahrungen hilft ihnen, daß sie mit ihren Verlust- und Schuldgefühlen nicht allein bleiben und ist so eine mitmenschliche Erfahrung von -»Auferstehung mitten im Leben. Literatur Vgl. die Art. -+Armenfürsorge, -»Diakonie I. Rose Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1971. — Roland Anhorn, Sozialstruktur u. Disziplinarindividuum. Zu Johann Hinrich Wicherns Fürsorgeu. Erziehungskonzeption des Rauhen Hauses, Egelsbach/Köln/New York 1992. - Hans-Jürgen Benedict, Kirche u. Arbeiterjugend: Yorick Spiegel (Hg.), Kirche u. Klassenbindung. Stud. zur Situation der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1974, 206 - 2 1 9 . - Erich Beyreuther, Gesch. der Diakonie u. der Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 1962 3 1983. - Verena Birtsch, Art. Heimerziehung: Dieter Kreft/Ingrid Mielenz (Hg.), Wb. Soziale Arbeit, Weinheim/Basel 4 1996, 2 7 7 - 279. - Christoph Bizer, Art. Erziehungsanstalten: R G G 4 2 (1999) 1 5 3 4 - 1 5 4 0 . - Jürgen Blandow (Hg.), Erziehungshilfen in der Bundesrepublik Deutschland. Stand u. Entwicklung, Frankfurt a.M. 1989. - Peter Brosch, Fürsorgeerziehung. Heimterror, Gegenwehr, Alternativen, Frankfurt a.M. 1975. - Joachim Döbler, Gezähmte Jugend. Regulierungsprobleme in der Strafklasse des Hamburger Werk- u. Armenhauses, Münster/Hamburg 1992. - Hanns Eyferth, Art. Heimerziehung: ders. u a . (Hg.), Hb. zur Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Neuwied u.a. 1984, 4 8 7 - 4 9 5 . - Margarete Finkel/Hans Thiersch, Erziehungshilfen: Hans Uwe Otto/Hans Thiersch (Hg.), Hb. Sozialarbeit - Sozialpädagogik, Neuwied 2 2001, 4 4 8 - 4 6 2 . - August Hermann Francke, Pädagogische Sehr., hg. v. Gustav Kramer, Langensalza 1885. - Erving Goifman, Asylums. Essays on the Social Situation of Men:al Patients and Other Inmates, Garden City, N.Y. 1961; dt.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten u. anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1972. - Franz Seraph Hügel, Die Findelhäuser u. das Findelwesen Europas, ihre Gesch., Gesetzgebung, Verwaltung, Statistik u. Reform, Vien 1863. - Karl Janssen, Art. Waisenfürsorge: R G G 3 8 (1962) 1 5 2 6 - 1 5 2 8 . - Lotte Koch, Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung, Erlangen 1933. - Herbert Krimm (Hg.), Quellen zur Gesch. der Diakonie, Stuttgart 1960. - Leistungen u. Grenzen v. Heimerziehung. Ergebnsse einer Evaluationsstud. stationärer u. teilstationärer Erziehungshilfen. Forschungsprojekt Jule, hg. vom Bundesministerium f. Familie, Senioren, Frauen u. Jugend, Stuttgart 1998. - Timm Kunstreich, Grundkurs Soziale Arbeit, 2 Bde., Bielefeld 2 0 0 0 - 2001. - Friedrich Mahling, Art. Findelhäusr: R G G 2 2 (1928) 598f. - Christian Marzahn (Hg.), Zähmen u. Bewahren. Die Anfänge bürgerlicher Sozialpolitik, Bielefeld 1984. - Mehr Chancen für Kinder u. Jugendliche. Stand u. Perspektiven der Jugendhilfe in Deutschland, hg. vom Bundesministerium f. Familie, Senioren,

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Waiden ser

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Hans-Jürgen Benedict

Waldenser 2. Die Waldenser im Zeitalter der Inquisition (ca. 1. Valdes und die ersten Waldenser 1230-1500) 3. Die Waldenser in der Provence und in den Alpen zur Zeit der Reformation 4. Die Waldensische Kirche vom konfessionellen Zeitalter bis zur Gegenwart (Quellen/Literatur S.399)

Der Begriff Waldenser wurde seit dem späten 12. Jh. im kirchlichen Sprachgebrauch zunächst für einen Kreis von Abweichlern innerhalb der abendländischen Kirche verwendet, die in wesentlichen Zügen vergleichbar erschienen, weit verbreitet waren und sich über lange Zeit behaupteten. Seit der Reformation wurde er auch zur Bezeichnung der heute Chiesa evangelica valdese genannten Kirche verwendet, in der die reformierte Tradition in Italien, insbesondere in Piemont, Gestalt fand und die auch in Übersee Ableger besitzt. 1. Valdes und die ersten

Waldenser

1.1. Die Armen von Lyon Die Bezeichnung Waldenser leitet sich von dem Namen eines wohlhabenden Lyoner Bürgers ab, den die meisten verläßlichen Quellen Valdesius nennen (es sind jedoch auch andere Namensformen überliefert). Nach der anonymen Chronik von Laon bekehrte sich Valdes unter dem Eindruck der Legende des heiligen -»-Alexius zu einem Leben in geistlich begründeter -»-Armut. Er gab seinen Besitz auf, entschädigte die, an denen er sich durch Zinsnahme (-»Zins) bereichert hatte, brachte seine Töchter in einem Kloster unter, spendete den Armen und wandte sich einem Bettlerleben zu. Nach einer anderen Quelle ließ er sich durch eine Übersetzung eine Auswahl von Texten aus der Bibel und den Kirchenvätern erschließen. Darauf gestützt, begann er bald, öffentlich zu predigen und sammelte einen Kreis von Anhängern. Die örtliche Hierarchie reagierte nicht von vornherein feindselig. Der Erzbischof von Lyon, der Zisterzienser Guichard von Pontigny (amtiert 1165-1181), untersagte Valdes, Almosen von anderen als seiner eigenen Frau zu nehmen, verbot aber nicht seine Predigttätigkeit. Es ist sogar möglich, daß Valdes' Wirken dem Bischof in seinem Bemühen um eine Reform des Domkapitels hilfreich erschien. Auf dem dritten Laterankonzil (1179 [-»Lateransynoden]) ersuchten einige seiner Anhänger Papst -»Alexander III. um offizielle Gewährung ihrer freiwilligen Armut, ihrer Predigt und ihrer volks-

Waldenser

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sprachlichen geistlichen Texte. Der Papst soll ihre Armut gebilligt, ihnen aber das Predigen ohne kirchliche Bevollmächtigung untersagt haben. 1180/81 forderten Erzbischof Guichard und sein Ordensbruder Henri von Marcy (gest. 1188) von Valdes und seinen Gefährten die Unterzeichnung eines Bekenntnisses, das ausdrücklich Lehrsätze der -*Katharer verwarf. Zudem nahmen Valdes und seine Anhänger ein propositum vitae an, in dem sie sich für ihre Lebensführung zur Befolgung der evangelischen Räte (-»Consilia Evangelica) verpflichteten. Als 1182 Jean Bellesmains (1122-um 1204, auch Johannes von Canterbury genannt) die Nachfolge Guichards (bis 1193) antrat, brachen die Beziehungen zwischen Valdes und der Hierarchie ab, weil er darauf bestand, auch ohne Erlaubnis zu predigen. Er und seine Anhänger wurden aus Lyon vertrieben und 1184 auf dem Konzil von Verona durch Papst Lucius III. (1181-1185) gebannt. Während des folgenden Vierteljahrhunderts traten unter dem Einfluß von Valdes stehende „arme Prediger", unter denen neben Männern auch einzelne Frauen begegnen, in Südfrankreich und Norditalien auf. Sie predigten freimütig in der Öffentlichkeit, ohne die Verbote durch kirchliche Amtsträger zu beachten. Von der kirchlichen Lehre wichen sie zu dieser Zeit nur in einer Ordnungsfrage ab: Sie bestritten den Bischöfen das Recht, ihnen die Predigt des Evangeliums zu untersagen. In Südfrankreich stellten sich einzelne Waldenser der Aufgabe, gegen die Häresie der Katharer zu predigen, weil den zuständigen kirchlichen Amtsträgern Einsatzbereitschaft und Fähigkeit dazu abging. Aus dieser Zeit stammt die einzige ausführliche theologische Abhandlung, von der bekannt ist, daß sie von einem Waldenser verfaßt worden ist, der Liber Antiberesis des Durandus von Osca (um 1160-um 1224). Durandus hat diese Verteidigung des rechten Glaubens in einem ausgefeilten gelehrten Latein geschrieben. Es gibt kaum Hinweise darauf, daß die Armen von Lyon zu dieser frühen Zeit ausgeprägt „häretische" Lehren vertraten; doch wurden sie zuweilen beschuldigt, den Wert von Amtshandlungen sündiger Priester und den Wert von Gebeten für die Toten im -»Fegfeuer zu bestreiten. Im Herbst 1207 nahm Durandus an einem Streitgespräch anläßlich des Besuchs des Bischofs Diego von Osma, eines führenden Katharerbekämpfers, in Pamiers in der Languedoc teil. Bei dieser Gelegenheit wurde er zur Folgsamkeit gegenüber der Kirche gewonnen. Vor Ende 1208 stellten er und eine Gruppe von Anhängern sich Papst —>Innocenz III. vor und wurden als gute Katholiken aufgenommen. Dabei unterbreiteten sie dem Papst eine Regel, nach der sie als ordensähnliche Gemeinschaft unter Einhaltung der Mönchsgelübde, Übung des -»Stundengebets und Tragen eines Mönchsgewandes leben wollten. Diese Gemeinschaft widmete sich der Abfassung weiterer Streitschriften gegen die Katharer, von denen einige erhalten sind. Unter dem Schutz von Innocenz III. behaupteten sich diese sog. Katholischen Armen ungeachtet des Argwohns und der Feindseligkeit der örtlichen Bischöfe in der Languedoc, bis sich ihre verbliebenen Mitglieder während der späten 40er Jahre des 13. Jh. anderen Orden anschlössen. 1.2. Die lombardischen

Armen

Schon sehr früh wurde die Waldenserbewegung in die verworrenen religiösen Verhältnisse in der Lombardei verwickelt. Nach fast zeitgenössischen Berichten veranlaßte ein Anführer lombardischer Ketzer namens Johannes de Ronco einige der zu den Anhängern von Valdes Gestoßenen zu einem Schisma. Seine Anhänger wurden in der Folge als Lombardische Arme (Pauperes Lombardi) bezeichnet, während die den französischen Ursprüngen der Bewegung treu Gebliebenen Ultramontanes oder Arme Leonisten genannt wurden. Unklar ist, ob de Roncos Lombardische Arme aus dem Kreis der Armen von Lyon hervorgegangen oder schon vor deren Auftreten entstanden sind und sich zunächst ihnen angeschlossen haben, bevor sie erneut eine Sondergemeinschaft bildeten. Die Lombardischen Armen bildeten offenbar eine ordensähnliche Gemeinschaft, die ihr Zentrum in Mailand hatte und fester durchorganisiert war als die der Armen von Lyon. Sie unterhielten Schulen und besaßen gemeinschaftseigene Häuser. Sie hatten eine geordnete Hierarchie unter einem als confrater bezeichneten Leiter. Wie die —»Humi-

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Waldenser

liaten, aber anders als die Armen von Lyon trieben sie zum Unterhalt ihrer Gemeinschaften Handarbeit. Es wird auch berichtet, daß einige ihrer Anführer den Anspruch erhoben, die Eucharistie zu vollziehen; die Zeugnisse dafür sind widersprüchlich, und unterschiedliche Gruppen der Lombardischen Armen scheinen unterschiedliche Bräuche befolgt zu haben. Die lombardische Sonderlehre war ebenfalls weiter entfaltet und radikaler als die der Anhänger von Valdes. Die Lombardischen Armen vertraten grundsätzlich die Auffassung, „ein schlechter Priester" sei „ohne Wert und seine Messen wertlos" (vgl. die Abschwörung von Bernardus Primus vom 14. Juni 1210: PL 216,292). Die römische Hierarchie war ihrer Meinung nach durch ihren weltlichen Reichtum unwiederbringlich verdorben; ihre Riten und Regeln konnten daher außer acht bleiben. Dieses Wiederaufleben donatistischer Vorstellungen (vgl. T R E 1,654-668) steht möglicherweise unter dem Einfluß der älteren Bewegung der ->Pataria. Weiterhin verwarfen die Lombarden den Glauben an das Fegfeuer und das Fürbittgebet für Verstorbene. Wie die Katharer behaupteten sie, daß Christen keinerlei Eidesleistung (—>Eid) erlaubt sei und sie keine Tötung billigen dürften, auch nicht in der Ausübung des Strafrechts. Nach einigen Quellen glaubten sie, daß die —»Seele des Menschen nicht einzeln erschaffen, sondern im Sinne der Vorstellung des Traduzianismus bei der natürlichen Fortpflanzung mitgeteilt werde. Im Mai 1218 trafen sich Vertreter der Lombardischen und der Ultramontanen Armen in Bergamo. Der in mehreren Handschriften in deutschen Archiven erhaltene Verhandlungsbericht dieses Treffens ist das authentischste Zeugnis für die zwischen beiden Gruppen bestehenden Unterschiede. Die Vertreter der Lyoner Bewegung gaben dabei dem Drängen der Lombarden auf eine festere Ordnung mit einem Oberen und regulären Amtsträgern sowie auf eine Übernahme der lombardischen Übung der Handarbeit nach. Es gelang jedoch nicht, ein Einvernehmen zwischen beiden Gruppen herzustellen, als die Ultramontanen von den Lombarden die Annahme ihrer Vorstellung verlangten, daß Valdes gewiß im Paradies sei, und die Lombarden hartnäckig auf ihrer Überzeugung bestanden, daß die Handlungen sündiger Priester ungültig seien. Nach Bergamo versiegen eingehendere Zeugnisse über die Lombarden mit der Ausnahme von Beschreibungen ihrer Lehre bei kirchlichen Schriftstellern des 13. Jh. wie Salvo Burci (um 1235), Petrus von Verona (vgl. T R E 16,191,39f.), Moneta von Cremona (um 1240/60) und Anselm von Alessandria (vgl. T R E 7,34,45f.; 7,37,6f.). Bald nach der Versöhnung von Durandus von Osca mit der Kirche söhnte sich auch eine aus Mitgliedern ultramontaner wie lombardischer Prägung bestehende Gruppe italienischer Waldenser mit ihr aus. In einem offenen Brief vom 14. Juni 1210 teilte Innocenz III. mit, daß Bernardus Primus und Wilhelm Arnaldi den oben beschriebenen lombardischen Irrlehren abgeschworen und gelobt hätten, ein Leben als gute Katholiken in einer Gemeinschaft zu führen, die Versöhnte Arme genannt werde. 1212 nahmen sie eine Satzung an, die das von ihnen zu führende geistliche Leben in Gemeinschaftshäusern beschrieb, das aus einer Verbindung von Handarbeit und Schriftlesung bestand. Innerhalb weniger Jahrzehnte schlössen sich ihre Angehörigen großenteils den Bettelorden, insbesondere den -»Dominikanern an. 2. Die "Waldenser im Zeitalter

der Inquisition

(ca. 1230—1500)

Trotz der Aussöhnung einiger ihrer geistigen Führer mit der Kirche bestand die volkstümliche waldensische Bewegung fort und fand bis zur Mitte des 13. Jh. in Frankreich und Deutschland weite Verbreitung. Wahrscheinlich standen dabei die französischen Waldenser in der Tradition der Armen von Lyon, und die deutschen gingen auf die Lombardischen Armen zurück. Die kirchliche Literatur der Folgezeit nennt sie jedoch unterschiedslos Waldenser. Das in den 30er Jahren des 13. Jh. festgelegte Inquisitionsverfahren (->Inquisition) und die daraus hervorgehenden Aufzeichnungen vermitteln ein teilweise verzerrtes und schematisiertes Bild der Bewegung. Waldensische Predigten

Waldenser

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wurden nicht mehr öffentlich gehalten. Sie blieben auf geheime Gesprächskreise fest geschlossener Gruppen von Anhängern oder „Freunden" beschränkt. Den Innenkreis der Waldenser bildete eine geheime Bewegung umherziehender, unverheirateter und fast ausschließlich männlicher Pastoren, die ihre Anhänger in privaten Beichten unterwiesen. Dementsprechend führten die Waldenser ein Doppelleben. Öffentlich beteiligten sie sich am kirchlichen Gottesdienst, nahmen zugleich aber den geistlichen Dienst ihrer Pastoren oder „Brüder" in Anspruch. 2.2.

Frankreich

Während der ersten Hälfte des 13. Jh. wirkten waldensische Prediger beiderlei Geschlechts öffentlich in weiten Teilen der Languedoc und Südfrankreichs. Besonders stark vertreten waren sie im Gebiet um Montauban. Anfänglich lehrten und predigten sie gegen die Katharer, die sie wahrscheinlich auch in Streitgespräche verwickelten. Bis in die 40er Jahre beteuerten ihre Zuhörer, wenn sie vor die Inquisition geladen wurden, es sei ihnen bislang nicht bewußt gewesen, daß die Waldenser in irgendeinem Gegensatz zur Kirche stünden. Dennoch setzten die Inquisitoren sowohl die Lehrer wie ihre Zuhörer fest und bestraften sie. Bis zum späten 13. Jh. gingen die Waldenser der Languedoc, vor allem die aus dem Bistum Auch, unter dem Druck der Verfolgung als Flüchtlinge außer Landes. Da sie zahlreich waren und eine fest geschlossene Gemeinschaft bildeten, zogen sie während der ersten beiden Jahrzehnte des 14. Jh. die Aufmerksamkeit der Inquisitoren von Toulouse auf sich, wurden verhört, vor das Inquisitionsgericht gestellt und verurteilt. Danach begegneten in den Ländern der französischen Krone Waldenser nur mehr im äußersten Südosten, in der Dauphiné und der Provence (s.u. 2.3.). Die Waldensischen Pastoren der Languedoc blieben in ihren Sonderlehren weiterhin recht maßvoll. Wie die Katharer, denen sie entgegentraten, unterwiesen sie ihre Anhänger, keinerlei Eid zu schwören, und verwarfen jede Form des Tötens. Desgleichen bestritten sie die Existenz des Fegfeuers und den Wert von Gebeten für Verstorbene. Dagegen begegnen in den Quellen aus dieser Zeit kaum Zeugnisse der in einigen anderen Zweigen der Waldenserbewegung geläufigen schroffen antiklerikalen Haltung. Lediglich eine Quelle, der Inquisitor Etienne von Bourbon (gest. ca. 1261), beschuldigte sie einer weitgehenden Verwerfung der Vollmacht und des geistlichen Anspruchs der Kirche; dabei stand er wahrscheinlich unter dem Eindruck der Vernehmung eines Anhängers der Lombardischen Armen. Dagegen war ein um 1320 von Bischof Jacques Fournier (dem späteren Papst Benedikt XIII. [1334-1342]) vernommener waldensischer Lehrer in fast allen Fragen seiner Theologie betont orthodox. Das geistliche Leben dieser Waldenser war schlicht. Die umherreisenden „Brüder" besuchten ihre Anhänger und leiteten sie beim Gebet an. Wie die Katharer wiederholten sie in lang dauernden Gebetsstunden, insbesondere nach Mahlzeiten in den Häusern der Gläubigen, immer wieder das Vaterunser. Während der frühen Zeit des öffentlichen Auftretens der Bewegung segneten sie am Gründonnerstag Brot, Fisch und Wein und teilten sie ihren Anhängern zum Verzehr aus. Diese Übung war offenbar keine wirkliche „Eucharistie", sondern glich eher dem in der Kirche als sacramentale (-»Sakramentalien) ausgeteilten gesegneten Brot. Der Ritus von Brot und Wein wurde auch im 14. Jh. noch geübt, jedoch nur mehr heimlich unter den Pastoren der Bewegung. Bedeutsam war, daß diese Waldenser regelmäßig, wenn auch nicht sehr häufig, ihren Anhängern die Beichte abzunehmen begannen. Nur die älteren Brüder nahmen die Beichte ab, und die Gläubigen beichteten nur in mehrjährigen Abständen. 2.2.

Deutschland

In Deutschland war die waldensische Bewegung fast von Anfang an eine weit radikalere, aggressivere Bedrohung für die Kirche als in Frankreich. Ihre ersten Spuren sind sehr undeutlich. Der berüchtigte Ketzerjäger Konrad von Marburg (gest. 1233) spürte

392

Waldenser

bei seiner Inquisitionstätigkeit in Mitteldeutschland eine große Zahl von Opfern auf; doch seine Vorliebe, aufsehenerregende Geschichten über Teufelsverehrung zu erpressen, macht ihre nähere Bestimmung schwierig. Einige leugneten die Realpräsenz Christi in der Eucharistie, andere bestritten, daß schlechte Priester die Eucharistie wirksam vollziehen könnten, und wieder andere stellten den Wert von Opfern für Verstorbene in Frage. Wahrscheinlich waren zumindest einige von ihnen Waldenser, die unter dem Einfluß des lombardischen Waldensertums standen. Eine Gruppe ließ offensichtlich Mailänder Ketzern finanzielle Unterstützung zukommen. Um 1260-1270 hatten waldensische Gemeinschaften in Österreich in vielen Gemeinden längs der Donau zwischen Passau und Krems festen Boden gefaßt. Die örtliche Geistlichkeit und die Inquisitoren hatten Schwierigkeiten, ihnen wirksam zu begegnen. Spätestens im frühen 14. Jh. hatten sie auch auf die deutschsprachigen Gemeinden im südlichen Böhmen, insbesondere im Umkreis von Budweis und Jareschau ausgegriffen. Um die gleiche Zeit fanden waldensische Vorstellungen zahlreiche Anhänger in der M a r k Brandenburg und im Oderraum südlich von Stettin. Am Ende des 14. Jh. begegneten Gruppen von Waldensern in einigen mittel- und südwestdeutschen Städten, in Augsburg, Mainz und Straßburg, sowie auch in Bern und in Freiburg im Üchtland. Alle waldensischen Gruppen im östlichen Grenzgebiet Deutschlands scheinen von denselben Pastoren versorgt worden zu sein. Der als Inquisitor von Prag aus wirkende Dominikaner Gallus von Neuhaus (um 1335-1355) war zwanzig Jahre lang vornehmlich damit beschäftigt, Untersuchungen gegen die Waldenser in Böhmen zu führen. Ein Durchbruch gelang der Inquisition in Deutschland allerdings erst, nachdem in den späten 60er und frühen 90er Jahren des 14. Jh. einige führende waldensische Pastoren zur Römischen Kirche übergegangen waren. Die von ihnen gegebenen Informationen ermöglichten den Inquisitoren, vor allem dem Coelestiner Peter Zwicker, die überwiegende Mehrheit ihrer Anhänger zu sammeln, zu absolvieren und für die Kirche zurückzugewinnen. Nach der Meinung deutscher kirchlicher Schriftsteller des späten 13. Jh. bestand die waldensische Ketzerei hauptsächlich, wenn nicht ganz, in der Ablehnung des geistlichen Anspruchs und der Autorität der katholischen Kirche. Ein in Frankreich nur beiläufig begegnender ausgeprägter Antiklerikalismus war für die deutsche Bewegung zentral. Da sie der Kirche keine Achtung abgewinnen konnten, bestritten die Waldenser den Wert der Sakramente, der Weihehandlungen und geweihter Gegenstände, des Priesterstandes und des kirchlichen Rechts. Eine Hauptquelle für diese Zeit, der Passauer Anonymus, macht offen die Mängel der Kirche für die Skepsis der Waldenser verantwortlich. Die Waldenser besaßen auch deutsche Bibelübersetzungen und lernten biblische Texte zur Unterweisung und zum Gebrauch in Auseinandersetzungen auswendig. Während der ersten Jahrzehnte unterwiesen sich die Angehörigen der waldensischen Gemeinden offenbar in einer Art geistlicher Kommunität gegenseitig: In österreichischen Städten wie Kematen an der Krems gab es „Ketzerschulen", in denen verheiratete Männer und Frauen sich gegenseitig unterwiesen und zugleich reguläre Handwerksberufe ausübten. Sehr bald allerdings setzte sich auch hier die andernorts übliche Ordnung durch, daß umherziehende unverheiratete Pastoren ortsansässige Laienanhänger unterwiesen. Nach dem Zeugnis eines Briefwechsels zwischen ihnen und den italienischen Waldensern aus der Zeit um 1368 gehörten zu diesen Pastoren auch gebildete Männer, die ein ausgefeiltes, reichlich mit biblischen Bezügen und Väterzitaten durchsetztes Latein schreiben konnten. Andere aber waren weniger gebildet, und am Ende des 14. Jh. waren die meisten Handwerker. Der heimliche Dienst der Pastoren wurde auf periodischen Treffen organisiert. Auf ihnen wurde den Pastoren ihr Wirkungsgebiet zugewiesen, das regelmäßig wechselte, um Erkennung und Verhaftung zu erschweren. Die Inquisition ließ die Pastoren außerordentlich vorsichtig und auf größte Heimlichkeit bedacht sein; nur die, denen sie vertrauten, durften mit ihnen zusammenkommen und ihnen beichten. Doch die deutschen waldensischen Laien hielten sich nicht so streng im Verborgenen, daß sie von den Katholiken ununterscheidbar gewesen wären. Ihr bescheidenes und zurückhal-

Waldenser

393

itendes Auftreten, vorab ihre Ablehnung jedes Eides und müßigen Geredes, machten sie f ü r ihre Umgebung sehr auffällig. 2.3. Der südwestliche

Alpenraum

und

Piemont

Die bekanntesten Vertreter des mittelalterlichen Waldensertums, die Waldenser des südwestlichen Alpenraums, gehören zu den letzten, die in den historischen Berichten erscheinen. Spätestens in den 90er Jahren des 13. Jh. siedelten sie in den dicht bewaldeten steilen Tälern auf beiden Seiten der Cottischen Alpen zwischen Piemont und der Dauphine; doch verwertbare Nachrichten begegnen erst in den frühen 30er Jahren des 14. Jh. Ihre Ursprünge liegen im dunkeln. Sie haben sich offenbar von Anfang an entschieden und zuweilen auch mit Gewalt verteidigt. Schon 1332 töteten sie in einem ihrer Dörfer einen Priester, den sie verdächtigten, sie an einen Inquisitor verraten zu haben, und sie belagerten diesen, um ihn an der Ausübung seines Amtes zu hindern. Durch Bestechung des örtlichen Adels und Ausnutzung aller rechtlichen Möglichkeiten verhinderten sie während des größten Teils des 14. und 15. Jh. das Wirken von Inquisitoren. Lediglich im Randbereich des von den Waldensern besiedelten Gebietes konnten diese tätig werden. Schließlich aber wurden in den Tälern der Dauphine hinreichende kirchliche und weltliche Kräfte bereitgestellt, um Papst Innocenz VIII. (1432-1492, Papst seit 1484) zur Ausrufung eines 1487-1488 stattfindenden Kreuzzuges gegen die waldensische Ketzerei zu veranlassen. Er richtete ein Blutbad mit 160 Toten an, konnte aber die Waldenser, die gegen die über sie verhängten Urteile an den französischen König und an den Papst appellierten, nicht unterdrücken. Nach langwierigen Untersuchungen wurde der Waldenserkreuzzug 1509 in Paris förmlich aufgehoben. Der Druck der Inquisition und Überbevölkerung in ihrem angestammten Gebiet veranlaßten jedoch zahlreiche Waldensergemeinden zur Auswanderung in andere, infolge des spätmittelalterlichen Bevölkerungsrückgangs brachliegende Gebiete. Einige ließen sich in Süditalien in den calabrischen Bergen hinter Paola nieder, andere etwas weiter nördlich bei Manfredonia in Apulien. Wieder andere blieben der Heimat näher und wichen in das Bergland des Luberon in der Provence östlich von Avignon aus. Die Lehren dieser Waldenser sind weniger deutlich als die anderer waldensischer Gruppen, teils wegen der unbedenklichen Art, in der einige Inquisitionsprotokolle aufgezeichnet wurden und teils infolge des Einströmens von Vorstellungen anderer regionaler Ketzerbewegungen. Papst -»Johannes XXII. bezichtigte sie der Leugnung der Inkarnation und der Bestreitung einer wirklichen Gegenwart Christi in der Eucharistie. Andere Quellen verzeichnen größtenteils die geläufigeren, gegen das Fegfeuer und das Gebet für Verstorbene gerichteten waldensischen Vorstellungen. Viele gestanden die Ablehnung des Eides ein; doch überwiegend bezeugen die Rechtsurkunden von den Waldensern der Provence, daß die Laienanhänger bereitwillig und ohne Zögern bürgerliche Eide leisteten. Z w a r glaubten sie, ihre (hier barbes genannten) Pastoren seien heiliger als die Priester; sie nahmen aber dennoch die Sakramente von den katholischen Priestern ebenso entgegen, wie sie den Barben ihre Sünden bekannten. Obwohl sie angeblich keine Heiligenverehrung kannten und das Fürbittgebet zu ihnen ablehnten, beteten viele häufig, gelegentlich auch auf Anweisung der Barben, das Ave Maria. Die Barben der Waldenser des Alpenraums waren der Herkunft nach zumeist Bauern und Handwerker, waren aber geschult, biblische Texte zu lesen und auswendig zu lernen. Unabhängig von ihnen organisierten die Laienanhänger die Bewegung zu ihrem eigenen Schutz. Schon früh erhoben sie von den Gemeindeangehörigen Steuern zur Deckung der Kosten für ihre rechtliche Verteidigung. In manchen Dörfern waren die gewählten Amtsträger selbst Waldenser und nutzten ihre Stellung zum Schutz ihrer Gemeinschaft. Die Waldenser des Alpenraums heirateten normalerweise nur innerhalb des eigenen Kreises. Diese Beschränkung behielten sie auch bei der Auswanderung in neue Niederlassungen bei; sie blieben daher eine deutlich von ihrer Umgebung geschiedene Gemeinschaft.

394

Waldenser

3. Die Waldenser in der Provence und in den Alpen zur Zeit der 3.1. Waldensische

Literatur im frühen 16.

Reformation

Jahrhundert

Abgesehen vom Liber Antiheresis des Durandus von Osca und dem italienischdeutschen Schriftwechsel der Zeit um 1368 sind aus der Zeit vor dem frühen 16. Jh. so gut wie keine schriftlichen Zeugnisse waldensischer Herkunft erhalten. Dagegen gibt es aus den zwanziger Jahren des 16. Jh. etwa 21 Bände in franko-provenzalischer Sprache, die offenbar auf die Waldenser des südwestlichen Alpenraums zurückgehen. Fünf davon sind Bibelübersetzungen, die für gewöhnlich den größten Teil des Neuen Testaments und ausgewählte Bücher des Alten Testaments (insbesondere die Bücher mit ethischer Unterweisung) umfassen. Der Rest besteht zum größten Teil aus Sammlungen katechetischer und homiletischer Stoffe in Prosa und in Versen. Viele der katechetischen Stoffe stammen aus spätmittelalterlichen katholischen Quellen, insbesondere aus der Somme le Roi von Laurent von Orléans (um 1280). Einige Stücke, darunter die Gedichte und ein Zyklus von etwa 200 Predigten, könnten waldensische Originalschriften sein (obwohl eines der Gedichte eine Schrift von Papst Innocenz III. paraphrasiert). Eine Reihe der katechetischen Abhandlungen, die sich in fünf der erhaltenen Handschriften finden, konnten als Paraphrasen und Auszüge aus der geistlichen Literatur der Hussiten, Taboriten (—»Hus/Hussiten; s.a. T R E 13,423,20ff.) und der Böhmischen —»Brüderunität identifiziert werden. Die meisten katechetischen Texte bieten ungeachtet ihrer Herkunft unstrittige, spätmittelalterlichen Vorbildern entsprechende Mahnungen zum Gebet und zu sittlicher Rechtschaffenheit. Ihrer Konzentration auf die Ethik geht jedoch das in der zeitgenössischen katholischen Homiletik zu findende Gegengewicht einer Beteuerung der Gnade ab, die durch die religiösen Rituale zu erlangen ist. Die hussitischen Texte warnen die Leser vor einem Vertrauen in den Dienst „simonistischer Priester", ein Motiv, das der Reserve der waldensischen Lehre gegenüber dem Priestertum entgegenkam sowie auch die hussitischen Angriffe auf das Fegfeuer und die Anrufung der Heiligen waldensische Vorstellungen stützte. Die Kritik der Böhmen an der Ohrenbeichte dagegen stand in direktem Gegensatz zur bekannten waldensischen Beichtpraxis. Gewiß gab es seinerzeit Beziehungen zwischen den Waldensern des Alpenraums und den -»Böhmischen Brüdern. Sie veränderten aber kaum das Erscheinungsbild des Waldensertums innerhalb seines regionalen Umfeldes und standen auch nicht seiner Kontaktaufnahme mit der räumlich viel näher liegenden frühen -»Reformation entgegen. 3.2. Waldenser und Reformation

während der 30er Jahre des 16.

Jahrhunderts

1530 nahm ein ungewöhnlich gebildeter Barbe namens Georges Morel während eines Besuchs in Neuchätel, Bern, Basel und Straßburg Fühlung mit Vertretern der -»Reformation auf. Nach dem erhaltenen, eingehenden Briefwechsel ist er offenbar mit gezielten Fragen zur Kasuistik, aber auch zur reformatorischen Theologie (Willensfreiheit [-»Wille/ Willensfreiheit] und -»Prädestination, Lohn und Verdienst [-»Werke, Gute], -»Rechtfertigung aus dem Glauben) an sie herangetreten. In Basel antwortete J. —»Oekolampad mit einer Kritik an der Lebensführung der Barben, insbesondere ihrem heimlichen Leben innerhalb der katholischen Gemeinden und ihrer geistlich begründeten Ehelosigkeit. In Straßburg verwandte M. -»Bucer weit mehr Mühe darauf, Morel eingehende Ausführungen zu einer Reihe theologischer Fragen an die Hand zu geben. Uber unmittelbare Folgen der Anfragen Morels ist nichts bekannt; doch im Herbst 1532 kam es in den Alpen zu mehreren Treffen zwischen Vertretern der Reformation aus Neuchätel unter Leitung von G. -»Farei und der alpenländischen, provenzalischen und süditalienischen Barben. Dabei wurden die Waldenser von reformatorischer Seite offenbar dazu gedrängt, ihre gottesdienstlichen Formen durchgreifend zu vereinfachen und ihre geistlich begründete Armut und Ehelosigkeit aufzugeben. Ein (üblicherweise, aber fälschlich als „Synode von Chanforan" bezeichnetes) Treffen im September 1532

Waldenser

395

in Angrogna führte zu einer Reihe entsprechender Leitsätze (zuweilen, aber irrig auch „Erklärung der Synode von Chanforan" genannt), die sich mit einigen der anstehenden Fragen befaßten und die Waldenser zur Aufgabe ihrer überkommenen Lebensweise anhielten. Welche Folgen ihre Aufnahme im einzelnen hatte, ist unklar. Im November 1532 wurden sie zudem zur Förderung des Drucks einer Bibelübersetzung gedrängt, für den sie erhebliche Mittel aufbrachten. Als Ergebnis erschien nach drei Jahren die französische Bibelübersetzung von Pierre Robert Olivetan (Neuchätel 1535; vgl. T R E 6,255,37ff.). Sie war eine durchgreifende Überarbeitung und Umgestaltung der älteren Übersetzung von Faber Stapulensis mit Verbesserungen aufgrund der Urtexte. Für den waldensischen Gebrauch war allerdings ihr für eine heimliche Verwendung zu sperriges Format ungünstig, und zudem war ihr Französisch für die provenzalisch sprechenden Waldenser nicht ohne weiteres verständlich. Während der französischen Besetzung des Piemont (1536-1559) kam eine Schwächung des regionalen Rückhalts der katholischen Kirche durch die im Dienst des französischen Königs —>Franz I. stehenden Militärbefehlshaber, insbesondere Wilhelm von Fürstenberg, den Waldensern zugute. Kirchen wurden zerstört, und die religiöse Verfolgung wurde behindert. Als das königliche Parlament in Turin während der 1550er Jahre gegen die Waldenser einzuschreiten versuchte, erweckten die Genfer Protestanten bei lutherischen wie reformierten Mächten Teilnahme für sie. Gesandtschaften an den französischen König Heinrich II. (reg. 1 5 4 7 - 1 5 5 9 ) brachten ihn offensichtlich davon ab, gegen die Häresie in Piemont mehr als symbolische Maßnahmen zu ergreifen. In völligem Gegensatz dazu kam es jedoch in den 40er Jahren zu einem scharfen Vorgehen gegen die waldensischen Exulantengemeinden im Bergland des Luberon in den französischen Voralpen östlich von Avignon. Während der 30er Jahre hatten diese Gemeinden einer Reihe umherreisender Protestanten und abtrünniger katholischer Geistlicher Schutz, gewährt. Ihre zahlenmäßige Stärke und ihr zuweilen gewalttätiger Widerstand ließen die örtlichen weltlichen und kirchlichen Herrschaftsträger befürchten, sie könnten die politischen wie kirchlichen Machtverhältnisse umstoßen. Nach erfolglosen antiwaldensischen Aktionen während der 30er Jahre erließ das Parlament von Aix-en-Provence im November 1540 eine Entscheidung, die mehrere Gemeinden insgesamt als hartnäckige Irrlehrer zum Tode verurteilte, und verfügte, daß eine ihrer Städte, Merindol, dem Erdboden gleichgemacht und nie wieder aufgebaut werden sollte. Im April 1545 schritt ein königliches Heer zur Ausführung dieses Urteils. Die waldensischen Dörfer wurden geplündert und viele ihrer Einwohner getötet. Ein Teil der Überlebenden wurde eingekerkert oder auf die Galeeren geschickt, und andere gingen ins Exil. Die Massaker im Luberon weckten in Europa erhebliche Entrüstung, und Berichte darüber fanden Eingang in die martyrologischen Sammlungen aller protestantischen Kirchen (vgl. Jean Crespin, Histoire des martyrs, o . O . 1619, fol. 141r-55v, 195v-7v; Johannes Sleidan, De Statu Religionis et Reipublicae Carolo Quinto Caesare Commentarii, Straßburg 1556, fol. 217r-19r; [John Foxe], The Acts and Monuments of John Foxe, ed. Josiah Pratt, 8 Bde., London, IV 4 1877, 474ff.). Zahlreiche Waldenser überlebten allerdings auch diese Maßnahmen und gingen unter Verlust ihrer waldensischen Identität in den französischen reformierten Gemeinden der Provence auf. Wahrscheinlich wurden während der französischen Religionskriege auch in der Dauphine ehemalige Waldenser den reformierten Gemeinden eingegliedert. 3.3. Kirchenbildung

unter Genfer Schirmherrschaft

(1555—1564)

Seit 1555 wurden die waldensischen Talschaften von Piemont-Savoyen mit reformierten Geistlichen und Genfer Leitvorstellungen christlichen Glaubens und kirchlicher Ordnung versehen. Im April 1555 berichtete Jean Vernou von Poitiers (gest. 1555) der Genfer Geistlichkeit, die Talschaften von Chisone und Angrogna wünschten eigene Geistliche und einen öffentlichen Gottesdienst. Im Herbst des gleichen Jahres wurden in Angrogna die ersten Kirchen errichtet. Im weiteren Verlauf der 50er Jahre entsandte

396

Waldenser

die Genfer Compagnie des Fasteurs wohl 20 Geistliche, darunter einige hochgebildete Männer, zum Dienst in den waldensischen Gemeinden. Seitdem wurde von den Leitern der waldensischen Kirche eine reformierte theologische Bildung gefordert. Im späteren 16. Jh. dienten einige ehemalige Barben als Geistliche; doch bald bemühten sich auch Studenten aus den waldensischen Tälern um eine Ausbildung in -»Genf. Zwischen 1558 und 1564 organisierte sich auf einer Reihe von Treffen unter Gliederung in Konsistorien und Kolloquien die Synode der waldensischen Talschaften und beschloß die Übernahme der Genfer Kirchenordnung. Diese „Waldensische Kirche" wurde schon in ihrer Geburtsstunde beinahe durch das Vorgehen von Emmanuel Philibert von Savoyen (1528—1580) nach seiner Wiedereinsetzung als Herzog durch den Frieden von Cateau-Cambresis 1559 vernichtet. Im Februar 1560 erließ er ein Edikt, das unter schwerer Strafe das Hören „lutherischer" Predigt in seinem Land verbot. Die Geistlichen antworteten mit der Übersendung einer Apologie und eines Glaubensbekenntnisses, der Confessio Gallicana, die im Jahr zuvor von den französischen Gemeinden aufgestellt worden waren (vgl. TRE 6,421,30ff.). Eingeführt wurden sie von einem Brief aus der Feder des Neapeler Gelehrten Scipione Lentolo (1525-1599). Er war auch Wortführer der waldensischen Geistlichen bei der Verteidigung der reformatorischen Position in einem Streitgespräch mit dem Jesuiten Antonio Possevino (1533/34-1611) im Juli 1560. Nachdem auf diese Weise deutlich geworden war, daß die waldensische Kirche dem Herzog den Gehorsam verweigerte, entsandte dieser 1560-1561 ein Heer zu ihrer gewaltsamen Unterwerfung in die piemontesischen Täler. Obwohl die reformierten Geistlichen zunächst Bedenken gegen eine Beteiligung an einem bewaffneten Widerstand trugen, ließen sie sich schließlich doch darauf ein und teilten, anders als die ehemaligen Barben, mit ihren Gemeinden die Gefahr dieses Unternehmens. Am 5. Juni 1561 erließ der Herzog von Savoyen ein Befriedungsedikt, das den Waldensern in eng umgrenzten Gebieten und unter eng gezogenen Bedingungen öffentlichen Gottesdienst auf der Grundlage des reformierten Bekenntnisses zugestand. Der erfolgreiche Widerstand dieser kleinen Kirche gegen einen bewaffneten Angriff fand in Europa Beachtung durch die Veröffentlichung mehrerer Berichte darüber und die Aufnahme einer Darstellung in die reformierten Martyrologien (z. B. Jean Crespin, Histoire des martyrs, o . O . 1619, fol. 583v-600r, 839r-41v; [John Foxe], The Acts and Monuments of John Foxe, ed. Josiah Pratt, 8 Bde., London, IV 4 1877, 507ff.). Die gemeinsame Verfolgungserfahrung hat offenbar auch dazu beigetragen, das Band zwischen der eingesessenen waldensischen Bevölkerung und ihren von auswärts gekommenen Geistlichen zu festigen. Scipione Lentolo allerdings, der eine Geschichte der Bewegung verfaßte, empfand seine pastoralen Erfahrungen mit dieser Bevölkerung zutiefst enttäuschend und verlegte sein Wirkungsfeld in den späten 1560er Jahren in die italienischsprachigen reformierten Gemeinden im Veltlin. 4. Die Waldensische

Kirche vom konfessionellen

4.1. Verfolgung und Überleben

Zeitalter

bis zur

Gegenwart

(1561-1730)

Als in den Jahren nach 1561 die französischen Religionskriege von der Dauphine auf Piemont überzugreifen drohten, suchte die herzogliche Regierung die politische Gefügigkeit der waldensischen Gemeinden sicherzustellen. Die Bedingungen des Friedens von 1561 wurden eng ausgelegt und der Protestantismus in anderen Gebieten außerhalb der waldensischen Talschaften wurde unterdrückt. M a n bemühte sich auf jede Weise, ein Ausgreifen der „Häresie" auf andere Teile des Herzogtums zu unterbinden. 1630 hatten die Talschaften außerordentlich unter der damals in Europa wütenden Pest zu leiden, die wahrscheinlich mehr als 9.000 Todesopfer forderte. Die Geistlichkeit wurde völlig dahingerafft und durch neue aus Genf entsandte französischsprachige Pastoren ersetzt. Seitdem war Französisch bis ins 19. Jh. die alleinige im Gottesdienst und für die amtlichen Aufzeichnungen der Kirche verwendete Sprache.

Waldenser

397

In den 40er Jahren des 17. Jh. zeigte sich, daß einzelne waldensische Familien Grundbesitz außerhalb des umgrenzten Gebietes erwarben, in dem sie nach ihrem Glauben leben und ihren Gottesdienst üben durften. 1650 hielt ein örtlicher Beamter namens Gastaldo eine enge Auslegung der herzoglichen Richtlinien für angebracht, nach denen die Waldenser in ihr „Getto" zu verweisen waren. Er nahm sie zum Anlaß, sie aus anderen Gebieten zu verweisen und Gottesdienststätten selbst in dem ihnen zugewiesenen Gebiet zu zerstören. Im Frühjahr 1655 ging der Marquis von Pianezza, Carlo Emanuele Filiberto Giacinto di Simiane (1608-1677), mit Waffengewalt gegen die piemontesischen Waldenser vor. Die Täler wurden von Truppen verwüstet; viele Bewohner wurden getötet, der Rest war der Armut preisgegeben. Die Massaker führten zu ausgedehnten Protesten im protestantischen Europa. Es ergingen Gesandtschaften an den Savoyer Hof, und in England wurde eine große Geldsammlung zur Unterstützung der Waldenser veranstaltet. Im August 1655 sah sich der Herzog veranlaßt, ihr Niederlassungs- und Gottesdienstrecht innerhalb der 1561 festgelegten Grenzen zu bestätigen. Sehr viel ernster war die Krise von 1686-1690. 1686 ordnete Herzog Viktor Amadeus II. (1666—1732) unter dem Druck Ludwigs XIV. (1638—1715) eine völlige Einstellung des protestantischen Gottesdienstes an. Erneut wurden die Talschaften mit bewaffneter Macht angegriffen; zahlreiche Piemonteser Waldenser wurden zwangsweise zum katholischen Bekenntnis bekehrt; Tausende wurden auf die Galeeren geschickt oder starben im Gefängnis. Eine kleine Gruppe hielt sich so lange im Gebirge, bis sie die Erlaubnis zur Auswanderung in die Schweiz erhielt, die Anfang 1687 erfolgte. Nachdem Wilhelm III. von Oranien (1650-1702) 1688 die Entmachtung Jakobs II. von England (1633-1701) gelungen war, bildete er eine Koalition gegen Ludwig XIV. In dieser Lage beschloß ein Teil der Waldenser, unter denen der Pastor Henri Arnaud (1641-1721) eine führende Rolle spielte, im August 1689, sich die Rückkehr in ihre Heimat zu erkämpfen. Nach dem Winter 1689/90 wechselte Viktor Amadeus II. die Seiten und schloß sich im Frühjahr 1690 den gegen Ludwig XIV. gerichteten Mächten an. Infolgedessen wurde den Waldensern wieder ihr Niederlassungs- und Gottesdienstrecht gewährt. Doch schränkte die herzogliche Regierung auch weiterhin mit allen ihr möglichen Mitteln die Ausweitung und Übung des reformierten Gottesdienstes ein. Ihren Höhepunkt fand diese Politik 1730 in einem abschließenden Edikt. Um die gleiche Zeit gerieten die waldensischen Niederlassungen im Val Pragelato (oder Chisone) am Nordrand der Waldenserenklave ebenfalls unter einen solchen Druck, daß viele auswanderten und Exulantengemeinden in Deutschland, insbesondere in Württemberg, bildeten. 4.2. Die Waldenser in der konfessionellen

Polemik

Während sich die Waldensische Kirche eng an das Bekenntnis und die Ordnung der reformierten Kirche anschloß, erhielt der Glaube ihrer mittelalterlichen Vorfahren seit der Mitte des 16. Jh. Bedeutung für die theologische Auseinandersetzung über die „wahre Kirche". Die Häretiker des Mittelalters wurden bemüht, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wo denn die wahre Kirche vor Luther gewesen sei. Apokalyptisch denkende Theologen ordneten das Aufkommen der mittelalterlichen Häresie einem chronologischen Schema ein, das auf den Prophezeiungen der Apokalypse über die Fesselung und Entfesselung Satans (Apk 2 0 , 1 - 3 . 7 f.) beruhte. Die Entfesselung Satans in der Kirche sah man dabei mit dem Aufstieg des Papsttums unter -»Gregor VII. beginnen. Seit dieser Zeit, so hieß es, habe die „wahre" Kirche nicht in der verdorbenen Hierarchie bestanden, sondern in der Minderheit der von den katholischen Theologen als Häresien gebrandmarkten Widerstandsbewegungen. Diese Deutung der Ketzergeschichte wurde u.a. von M . ->Flacius Illyricus, John Foxe (1516-1587) und James Ussher (1581-1656) vorgetragen. Sie wurde während des 17. Jh. von einer Fülle theologischer Abhandlungen und polemischer Schriften wiederholt und begegnet selbst noch im frühen 19. Jh. Römischkatholische Kontroverstheologen wie Jakob Gretser (1561-1625) oder J.-B. -»Bossuet wiesen diese „Sukzession der Kirche" zurück. Sie machten aufgrund einer eingehenden

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Waldenser

Überprüfung mittelalterlicher Inquisitionsprotokolle geltend, daß die mittelalterlichen Waldenser in vieler Hinsicht katholisch gewesen seien und andere, radikalere Irrlehrer von den Protestanten beibehaltene Lehren verworfen hätten. In diesem Diskussionsklima wurden die Waldenser zu einem wichtigen Argumentationspotential, und die Nachrichten über ihre Geschichte wurden von Gelehrten beider Seiten eifrig gesammelt. 4.3. Internationale

Unterstützung

und Bürgerrechte

(1730—1848)

Das restriktive Edikt von 1730 blieb während des größten Teils des 18. Jh. in Kraft. Zwar gab es keine gewaltsame religiöse Verfolgung mehr; doch es wurde nachdrücklich versucht, Waldenser für die katholische Kirche zu gewinnen und die Tätigkeit der sich Verweigernden zu behindern. Während der französischen Revolutionskriege (-»Französische Revolution) legten einige Waldenser jakobinische Sympathien an den Tag; doch die meisten standen politisch loyal zu Savoyen. 1799 und 1800-1814 fielen die Talschaften unter französische Herrschaft. Die Regierung Napoleons gab den Waldensern bürgerliche Verfügungsgewalt über ihren Grundbesitz und besoldete Geistliche aus dem Staatshaushalt. Von dem 1814 wiedererrichteten Königreich Sardinien wurden diese Zugeständnisse anfänglich wieder zurückgenommen, doch diplomatischer Druck und eine sich wandelnde Stimmungslage erzwangen alsbald eine teilweise Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen. Während der 1830er Jahre war die treibende Kraft einer antiwaldensischen Tätigkeit weniger der Staat als vielmehr die katholische Geistlichkeit, insbesondere der Bischof von Pinerolo, André Charvaz (1793-1870). Wahrscheinlich in der Absicht, damit dem populistischen Politiker Roberto Tapparelli, Marchese d'Azeglio (1790-1862) einen Teil seines Rückhalts zu nehmen, erließ König Karl Albert (1798-1849) am 17. Februar 1848 ein Edikt, das den Waldensern (und zugleich auch den Juden) seines Reichs das volle Bürgerrecht gewährte. Das Leiden der Waldenser wie auch die Diskussion um ihre Vergangenheit löste eine Welle des Interesses und der Teilnahme für sie aus. Sie bewegte protestantische Mächte, insbesondere Großbritannien, die -»Niederlande und -»Preußen, während des späten 18. und frühen 19. Jh. zu Solidaritätsbeweisen für ihre Kirche. Wirtschaftliche Unterstützung stellte Mittel zur Ausbildung ihrer Geistlichen und für Stipendien bereit, und diplomatische Vorstöße hielten die Bedrängung durch den Savoyischen Staat in Grenzen. Da die Pastoren ihre Bildung im Ausland erhielten, erreichten die Ideen der geistigen Führungsschicht Europas die waldensischen Talschaften früher als vergleichbare ländliche Gebiete. Englische Besucher und Förderer, insbesondere der Quäker William Allen (1770-1843) und der anglikanische Geistliche und Schriftsteller William Stephen Gilly (1789-1855), sammelten weiterhin Geldmittel und rückten die waldensischen Gemeinden in das öffentliche Bewußtsein. 1834 ließ sich der Engländer Charles Beckwith (1789-1862), der bei Waterloo ein Bein verloren hatte, in den Tälern nieder. Als glühender evangelikaler Anglikaner gründete er dort Schulen und sorgte für die 1835-1837 erfolgende Errichtung des Collegio in Torre Pellice. Außerdem förderte er die Verwendung des Italienischen und des regionalen Dialekts im Gottesdienst. Wie andere protestantische Kirchen dieses Zeitraums durchlief die Waldensische Kirche nach dem Abklingen des konfessionellen Kampfgeistes des 17. Jh. eine Strecke gedämpfter Stimmung und geistlicher Ermüdung. Das änderte sich 1825 durch das Auftreten eines Erweckungspredigers aus Frankreich, Felix Neffe (1798-1829). Während seiner kurz bemessenen Wirksamkeit (der „Wiedererweckung") drängte er auf eine Umkehr zu einem eindringlichen persönlichen Innewerden der menschlichen Sünde und der Gnade Gottes. Sein neuer geistlicher Stil erwies sich als äußerst umstritten und löste 1830—1831 eine Auseinandersetzung zwischen tonangebenden Mitgliedern der Kirche aus, die zu einer kurzen, aber ernstlichen Spaltung führte. In den 1840er Jahren bezog dann eine neue Pastorengeneration ohne die Konsequenz einer Spaltung Ausdrucksformen der Erweckung in das kirchliche Leben ein.

Waldenser 4.4. Der Weg zu moderner

399

Gestaltfindung

Bis zur rechtlichen Gleichstellung hatten die angehenden waldensischen Pastoren an auswärtigen Akademien und Universitäten studiert, insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, in Genf und —»Lausanne. Sie waren dabei auf Zuwendungen wohlgesonnener Spender und Regierungen angewiesen; doch die Anerkennung der Kandidaten und ihre Ordination lag bei der waldensischen Synode, der Table. 1855 wurde nach einer Spendensammlung in den Vereinigten Staaten von Amerika zur Ausbildung der Anwärter auf das Pastorenamt mit zunächst zwei Professoren die Waldensische Theologische Fakultät in Torre Pellice eröffnet. Allerdings wurde dabei von vornherein geltend gemacht, Torre Pellice sei für eine solche Einrichtung ein zu abgelegener Standort, und man erwog eine Verlagerung nach Turin. 1860 wurde schließlich beschlossen, sie nach Florenz zu verlegen. Das Ziel war dabei die Erleichterung der missionarischen Wirksamkeit und der Gewinn neuer Kirchenmitglieder in Mittelitalien. Theologisch war die Fakultät während der zweiten Hälfte des 19. Jh. vom evangelikalen Geist der Erweckung getragen. Im frühen 20. Jh. wurden in der Kirche neben älteren Ansätzen jedoch das (bereits im späten 19. Jh. von Emilio Comba [1839-1904] vertretene) Bestreben nach einer wissenschaftlichen Ausrichtung und Einflüsse der liberalen Theologie spürbar. Giovanni Luzzi (1856-1948) vermittelte die Theologie A.v. —»Harnacks in den waldensischen Kontext. 1919 wurde nach ökumenischen Gesprächen mit Methodisten und Baptisten die Verlegung der Theologischen Fakultät nach Rom beschlossen. Sie erfolgte 1922 dank einer weiteren großzügigen Unterstützung aus den USA. Teilweise als Folge des Aufkommens der historisch-kritischen Theologie entfaltete sich in der waldensischen Kirche ein lebhaftes wissenschaftliches Interesse an der eigenen Geschichte. Es führte zur Gründung der Société d'Histoire Vaudoise, deren Bulletin seit 1884 erschien. 1934 wurde es in Bolletino della società di storia valdese und 1936 in Bolletinio della società di studi valdese umbenannt. Die Gesellschaft richtet eine alljährliche wissenschaftliche Tagung mit internationaler Beteiligung aus. Die Leiter dieses Unternehmens, insbesondere Giovanni Gönnet (geb. 1909), begründeten bei deutlicher geistiger Verbundenheit mit der eigenen Tradition eine wissenschaftliche waldensische Geschichtsschreibung in Entsprechung zur Kirchengeschichtsschreibung der römischkatholischen Kirche. Die Waldensische Kirche zählt in Italien etwa 137 Gemeinden, darunter 37 methodistische Gemeinden, die sich, von Piémont abgesehen, zumeist in Ballungsgebieten finden, und umfaßt etwa 25.000 Mitglieder oder Unterstützer mit mehr als 100 Pastorinnen und Pastoren. Außerdem bestehen Auswanderergemeinden in Uruguay und Argentinien und in Teilen des Ostens und mittleren Westens der USA. In den 70er Jahren des 20. Jh. haben sich die meisten Gemeinden in den USA unter Beibehaltung des Namens „Waldensisch" mit der Presbyterianischen Kirche vereinigt. Infolge ihres wirtschaftlichen und anderweitigen Angewiesenseins auf die weitere reformierte Kirchengemeinschaft blieb die Waldensische Kirche, wie sie es von Anfang an war, eine Zeugin für das innerhalb dieser Gemeinschaft lebendige Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und wechselseitigen Verbundenheit. Quellen 1. Bibliographien und Literaturberichte: Augusto Armand Hugon/Giovanni Gönnet, Bibliografia valdese, 1953 (BSHV 73, n. 93). - Carl T. Berkhout/Jeifrey B. Russell, Medieval Heresies. A Bibliography 1960-1979, 1981 (SuMed 11). - Jean-François Gilmont, Sources et critique des sources: Gabriel Audisio (Hg.), Les Vaudois des origines à leur fin (xiie-xvie siècles). Colloque international ... Aix-en-Provence, 8 - 1 0 a v r i l 1988, Turin 1990, 1 0 5 - 1 1 3 . - Herbert Grundmann, Bibliogr. zur Ketzergesch. des MA (1900-1966), Rom 1967. - Grado Giovanni Merlo, Valdesi e valdismi medievali, Turin; I. Itinerari e proposte di ricerca, 1984; II. Identà valdesi nella storia e nella storiografia. Studie e discussioni, 1991. - I Valdesi e l'Europa, 1983 (CSSV 9). 2. Quellen und alte Darstellungen: Alanus de Insulis (v. Lille), De fide catholica. Contra haereticos sui temporis, praesertim Albigenses: PL 210,305 - 4 3 0 . - Joseph Hyacinthe Albanès, Un

400

Waldenser

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Waldenser

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Wales

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Euan K. Cameron Wales 1. Anfänge und Mittelalter hunderts (Literatur S. 4 0 8 )

1. Anfänge und

2. Reformationszeit

3. Neuzeit

4. Seit Beginn des 20. Jahr-

Mittelalter

Über die Anfänge des Christentums in Wales (kymrisch Cymru) ist kaum etwas bekannt. Hinweise von —»Tertullian und —»Origenes auf seine Verbreitung bis in die entlegensten Winkel des Römischen Reiches legen nahe, daß es die „Insel Britannien" (kymrisch Ynys Prydain) in römischer Zeit erreicht hat. Drei Bischöfe aus Britannien waren 314 auf dem Konzil zu Arles zugegen, und die Schriften des Mönchs Gildas (um 550) bezeugen den Fortbestand des britannischen Christentums nach dem Abzug der Römer. Es war kraftvoll genug, einen bedeutenden christlichen Denker wie —»Pelagius hervorzubringen, der sein Wirkungsfeld allerdings nicht im heimischen Britannien, sondern in Rom fand. Aus dem zur keltischen Sprachfamilie gehörenden Britannischen entwickelte sich im späten 5. Jh. das Frühkymrische, in einer Zeit geistlicher Wiederbelebung, die als „Zeitalter der Heiligen" bezeichnet wird, als Männer wie Illtud (ca. 475-ca. 525) und Dubricius (um 500) einheimische keltische Denkweisen mit der geistigen Überlieferung der europäischen Kirche verschmolzen. Die Verehrung der Heiligen Teilo (um 580) und David (gest. 601) in Südwales (und in Armorika [Bretagne]) und ihrer nordwalisischen Zeitgenossen Deiniol (gest. 584), Cybi (um 550) und Seiriol (um 500-um 550) war Ausdruck eines ausgeprägt asketischen —»Mönchtums, das die in dieser Zeit stattfindende Ausbildung des walisischen Volkes nachhaltig mitbestimmt hat. Geographisch war das frühe walisische Christentum zwar ein Teil der abendländischen Kirche, erfuhr aber durch überseeische Verkehrsbeziehungen nach Byzanz auch Einwirkungen östlichen Denkens. Erst im 8. Jh. übernahm die walisische Kirche endgültig römische Bräuche wie die Osterfestrechnung (->Ostern/Osterfest/Osterpredigt; Zeitrechnung); doch der von —»Canterbury vertretene Anspruch eines römischen Supremats nicht nur über das angelsächsische -•England, sondern über ganz Britannien stieß auf beharrlichen Widerstand (-»Keltische Kirchen). Die normannische Eroberung Englands 1066 und die anschließende Inbesitznahme eines großen Teils des Landes durch normannische Herren öffnete Wales erneut für Einflüsse vom europäischen Festland. Ein Pfarreisystem trat an die Stelle der alten monastischen Kirchenorganisation, und es wurden die vier Territorialbistümer St. Davids, Llandaff, Bangor und St. Asaph errichtet. Im 12. Jh. löste das lateinische Mönchtum das ältere keltische ab, zunächst durch die Gründung benediktinischer Klöster (—• Benediktiner) in Südwales und schließlich ganz ausgeprägt durch das Erscheinen der ->Zisterzienser. Während dieser Zeit festigten die einheimischen walisischen Fürsten ihre Stellung. Von diesen lokalen Machthabern kräftig unterstützt, entwickelte ach zwischen 1131 und 1201 ein Dutzend zisterziensischer Niederlassungen zu Mittelpunkten einer geistlichen und kulturellen Erneuerung. Diese enge Verbindung von religiösen, politischen und kulturellen Belangen überdauerte auch den Verlust der walisischen Unabhängigkeit 1282 und hielt in beschränktem Umfang bis zu der 1535- 1539 erfolgenden Aufhebung der Klöster unter der Regierung -»-Heinrichs VIII. an. 2.

Reformationszeit

Die -»Reformation war eher ein politischer Vorgang als eine geistliche Bewegung; doch ihre Einführung durch das Haus Tudor (das sich walisischer Abkunft rühmte)

Wales

403

machte sie annehmbarer, als sie es sonst gewesen wäre. Ihren wirksamen Ausdruck fand sie, als —»-Elisabeth I. ortsgebundene kymrisch sprechende Bischöfe ernannte, die eine tiefe Bindung an das kulturelle Herkommen mit dem Einsatz für eine biblisch ausgerichtete Reform verbanden. Das Welsh Prayer Book (—»Book of Common Prayer) und die vornehmlich von Bischof Richard Davies (um 1510-1581) und dem Renaissancegelehrten William Salesbury (um 1520-1584) erarbeitete Übersetzung des Neuen Testaments von 1567 hatten ebenso wie die im Jahr 1588 erarbeitete kymrische Übersetzung der Bibel durch Bischof William Morgan (ca. 1541-1604) außerordentliche Bedeutung für die weitere Entwicklung des walisischen Volkslebens. Obwohl eine starke Gruppe römisch-katholischer Exulanten die Hoffnung lebendig erhielt, Wales für den alten Glauben wiedergewinnen zu können, hatten sich im dritten Viertel des 16. Jh. die Leitvorstellungen der Reformation allgemein durchgesetzt. Erst in den 1630er Jahren stellte sich der —»Puritanismus als Nonkonformismus gegenüber den gottesdienstlichen Formen und der Ordnung der Staatskirche dar. Die erste independente (kongregationalistische) Gemeinde wurde 1639 in Llanvaches (Südostwales) gegründet, und die erste Baptistengemeinde entstand 1649 in Ilston (Südwestwales). Informelle Vereinigungen von Gläubigen außerhalb des Rahmens der Staatskirche hatte es auch schon während der voraufgehenden Jahre gegeben. Als während der Zeit des Commonwealth (1642-1660 [vgl. T R E 9,640,19ff.; 18,349,44ff.]) die Verfassung der anglikanischen Kirche in England und Wales durch eine nichtbischöfliche kirchliche Ordnung ersetzt wurde, faßte der Puritanismus in Gestalt der Independenten (-»Kongregationalismus), -»Baptisten, -»Quäker und —»Presbyterianer in unterschiedlichen Teilen von Wales Fuß, ohne überragenden Einfluß zu erlangen. Die Stärke der puritanischen Bewegung entsprach dem Format ihrer leitenden Persönlichkeiten: Walter Cradock (ca. 1610-1659), Vavasor Powell (1617-1670), Morgan Llwyd (1619-1659) und John Miles (1621-1683), deren Vermächtnis wirksam blieb, auch wenn ihr unmittelbarer Einfluß im Lauf der Zeit nachließ. 3. Neuzeit Die Wiederherstellung der Monarchie 1660 und damit auch der bischöflichen Kirchenverfassung beendete abrupt die beherrschende Stellung des Puritanismus. Bis 1689 ging der Nonkonformismus unter dem Druck scharfer gesetzlicher Restriktionen zurück. Zahlreiche Baptisten und so gut wie alle mittelwalisischen Quäker verließen das Land, um in der Neuen Welt, vorab in Pennsylvanien, eine verheißungsvollere religiöse Zukunft zu finden (-»Vereinigte Staaten von Amerika). Obwohl die anglikanische Kirche in der Zeit nach der Restauration den Dissentern wenig freundlich gegenüberstand, kam es in einem gewissen Umfang doch zu einem Zusammenwirken von Kirchenvertretern und Nonkonformisten, insbesondere im Bereich der christlichen Literatur. Irenisch eingestellte Independente wie Stephen Hughes (1622—1688) und die anglikanische Society for the Promotion of Christian Knowledge (S.P.C.K.! verbreiteten kymrische Bibeln und errichteten Schulen. Der namhafte Rektor von Llanddowror in Südwestwales, Griffith Jones (1683-1761), leistete Bildungsarbeit und brachte eine recht lebendige evangelistische Mission in Gang. Zu einer kräftigeren geistlichen Erneuerung kam es 1735 mit dem Einsetzen der von Daniel Rowland (17131790), Howell Harris (1714-1773) und William Williams aus Pantycelyn (1719-1791) angeführten evangelikalen oder „methodistischen" Erweckung. Obwohl der walisische Methodismus (-» Methodistische Kirchen) vorgeblich eine anglikanische Erscheinung und im Unterschied zu seiner englischen Schwesterbewegung theologisch vom Calvinismus bestimmt war, stand er in einem zwiespältigen Verhältnis zur Staatskirche. Da die Bischöfe ihm distanziert gegenüberstanden und er selbst sich eine eigene, vom Pfarreisystem unabhängige Organisation schuf, existierte er fast drei Generationen lang neben der Staatskirche. 1811 trennte er sich unter der etwas zögerlichen Leitung von Thomas

404

Wales

Charles aus Bala (1735-1814) von dieser und w u r d e als Welsh Calvinistic Methodist Connexion in aller Form zu einer nonkonformistischen Denomination. Z u dieser Zeit hatte sich der seit den 1780er Jahren durch die evangelikale Erweckung tiefgreifend erneuerte N o n k o n f o r m i s m u s zu einer weit verbreiteten religiösen Bewegung gewandelt. Ihr erfolgreicher Gewinn eines Rückhalts in der Arbeiterschaft w a r bemerkenswert. Was zunächst eine Bewegung einer relativ elitären, auf die größten Städte und das östliche Grenzgebiet beschränkten Minderheit war, stellte sich jetzt als ein lebendiger und dynamischer Verbund von (calvinistischen und wesleyanischen) M e t h o disten, Independenten und Baptisten dar, die gemeinsam die vornehmlichste Erscheinungsform des Christentums in Wales verkörperten. Die Staatskirche verlor demgegenüber an Bedeutung. Die Teile des Dissentertums, die sich der Erweckung verschlossen - die Presby terianer und die arminianischen Baptisten - gingen zum Unitariertum (—• Unitarier) über und schmolzen zusammen. Der N o n k o n f o r m i s m u s brachte eine Generation ungemein wirkungskräftiger Prediger hervor. Die bedeutendsten von ihnen waren der Baptist Christmas Evans (1766-1838), der calvinistische Methodist John Elias (1774— 1841) und der Independente William Williams aus W e m (1781-1840). „Es hat vielleicht noch nie ein Volk gegeben, das in solch großem U m f a n g wie die Waliser dazu gewonnen wurde, das Evangelium zu h ö r e n , " schrieb Christmas Evans. „In jedem Winkel des Landes sind Versammlungshäuser errichtet worden, in die das einfache Volk hineinströmt, u m der Botschaft zu lauschen. Es gibt so gut wie kein anderes Volk, dessen Angehörige das Evangelium so zahlreich und in so großer Breite bekannt h a b e n " (vgl. W. M o r g a n 68). Zwischen 1800 und 1850 ist schätzungsweise jede Woche eine n o n k o n formistische Versammlungs- oder Gottesdienststätte eingerichtet worden. N a c h einer Erhebung über den Gottesdienstbesuch vom M ä r z 1851 nahmen weniger als 13 % der walisischen Bevölkerung a m staatskirchlichen Gottesdienst teil, während nicht weniger als 4 3 % (etwa 400.000) nonkonformistische Gottesdienststätten besuchten (s. Tabelle 1). Bis zur Mitte des 19. Jh. w a r Wales zu einem „Volk von N o n k o n f o r m i s t e n " geworden. Tabelle 1: Relativer Anteil von Gottesdienstbesuchern im März 1851 Kirche von England

12,7%

Calvinistische Methodisten

15,5%

Independente

11,5%

Baptisten

8,3%

Wesleyanische Methodisten

6,4%

Andere Nonkonformisten

1,8%

Römische Katholiken

0,5%

Protestantische Nonkonformisten insgesamt

43,0%

von der Erhebung erfaßter Anteil der Gesamtbevölkerung

56,0%

Ihr Bildungsstand und ein gesteigerter gesellschaftlicher Einfluß veranlaßten die N o n konformisten zu politischen Anstrengungen. In den 1860er Jahren hatte sich das evangelikale Christentum mit radikalen politischen Positionen verbunden, zunächst in der Absicht, die rechtlichen Benachteiligungen zu beseitigen, mit denen die N o n k o n f o r m i s t e n seit 1660 zu k ä m p f e n hatten, d a n n aber auch mit dem Ziel, allgemeine soziale Mißstände zu bekämpfen. Wegweisend waren d a f ü r M ä n n e r wie die führenden Independenten David Rees (1801-1869) und Gwilym Hiraethog (1802-1883). Doch auch die zuvor stillen Methodisten wurden in den politischen R a u m hineingezogen. Die stärkste geistige Kraft innerhalb des evangelikalen N o n k o n f o r m i s m u s war der Leiter des calvinistischmethodistischen Colleges in Bala, Lewis Edwards (1809-1887). N a c h d e m er seine me-

Wales

405

thodistischen Glaubensgenossen von der Notwendigkeit einer gebildeten Geistlichkeit überzeugt hatte, wurde er zu einer treibenden Kraft für eine Erweiterung des geistigen Gesichtsfeldes und eine Anhebung des Bildungsniveaus des ganzen Volkes. In seiner 1845 gegründeten Vierteljahrsschrift Y Traethodydd („Der Essayist") unterrichtete er s über die neuesten Entwicklungen aus Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur. Obwohl die volkstümliche Predigt weiterhin hoch geschätzt wurde und hervorragende Vertreter wie John Jones aus Talsarn (1796-1857) und Henry Rees (17981869) fand, die mit Erfolg die Breite der Bevölkerung erreichten, hatte sich um die Mitte

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.

406

Wales

des viktorianischen Zeitalters ein Konsens ausgebildet, an dem evangelikale Frömmigkeit, soziales Engagement und geistige Befähigung gleichermaßen beteiligt waren. Der seit dem 18. Jh. so gut wie erloschene römische Katholizismus gewann unter irischem Einfluß während der 1840er Jahre und der folgenden Jahrzehnte neue Kraft. 1895 erklärte —>Leo XIII. Wales zum Apostolischen Vikariat, und drei Jahre später wurden die neuen Bistümer Menevia und Newport errichtet. 1916 folgte die Errichtung des Erzbistums Cardiff, dessen Erzbischof von 1921 bis 1939 der bedeutendste führende katholische Geistliche in Wales, Francis Mostyn (1860—1939), war. Zu dieser Zeit hatte auch die lange dahinsiechende Staatskirche wieder aufzuleben begonnen. In der Mitte des 19. Jh. hatten Persönlichkeiten wie die Bischöfe von Llandaff, Alfred Ollivant (17981882), und von St. Asaph, T h o m a s Vowler Short (1790-1872), organisatorische Änderungen in die Wege geleitet. Doch die eigentlichen Triebkräfte der geistlichen Erneuerung waren der Evangelikaiismus der „low church" und der Traktarianismus der „high church" (-»Kirche von England 5.), der erste durch eine wirksame Evangeliumsverkündigung und der zweite durch Weckung einer Empfänglichkeit für die Würde des Gottesdienstes. Evangelikaie wie der Dekan von St. Davids, David Howell (1831-1903), und Anglokatholiken wie der Dekan von Bangor, Evan Lewis (1818-1901), verkörperten und verbreiteten diese Bestrebungen. Am Ende des 19. Jh. stellte sich der walisische Anglikanismus als tragfähige geistliche Alternative zum protestantischen Dissentertum dar. 4. Seit Beginn des 20.

Jahrhunderts

Der Nonkonformismus zeigte sich äußerlich immer noch lebendig, doch es machten sich auch Anzeichen einer ernsthaften Belastungsprobe bemerkbar. Die Tradition der volkstümlichen Predigt wurde von hochbefähigten Vertretern wie John Williams aus Brynsiencyn (1854-1921) und Thomas Charles Williams (1868-1927) weitergeführt; doch hatten die nonkonformistischen Gemeinden zunehmend Schwierigkeiten, mit der doppelten Herausforderung des modernen Denkens und der Anglisierung fertig zu werden. Die von Evan Roberts (1878-1951) geführte, weit ausgreifende Erweckung von 1904/05 war für die Entfaltung der internationalen Pfingstbewegung (—•Pfingstkirchen/ Charismatische Bewegung) wichtiger als für die Erneuerung des walisischen Nonkonformismus. Verschärft wurde die Krise durch den politischen Streit um die Trennung der vier walisischen Bistümer vom Staat, in dem sich Nonkonformisten und Kirchenvertreter gegenüber traten. Die Auseinandersetzungen, die 1889 begannen, wurden von beiden Seiten in wenig christlicher Weise geführt. Sie endeten erst 1914 mit dem Welsh Church Act, der die Verbindung zwischen der anglikanischen Kirche in Wales und dem Staat aufhob. Durch die religiösen Streitigkeiten ernüchtert, hatten viele das Empfinden, daß die Werte der Z u k u n f t eher säkularer Art seien. Im weiteren Fortgang des 20. Jh. bot die einsetzende Arbeiterbewegung in Wales einer wachsenden Zahl von Menschen eine ideologische, ja eine geistige Heimat. Wie anderwärts hatte der Erste Weltkrieg nachhaltige Auswirkungen auf das religiöse Verhalten. Der Verlust einer Generation junger Männer führte zu Fragen nach dem Sinn des Lebens und der göttlichen Vorsehung, und die wirtschaftlichen Erschütterungen der Nachkriegszeit zogen Leid und Elend nach sich. Die jüngst aus der staatskirchlichen Bindung entlassene Kirche in Wales (The Church in Wales, kymrisch Yr Eglwys yng Nghymru) unter ihrem ersten Erzbischof Alfred George Edwards (1848-1937) brauchte ein Vierteljahrhundert, sich auf ihre neu gewonnene Unabhängigkeit einzustellen. Der Nonkonformismus war demgegenüber immer noch die zahlenmäßig stärkste Ausformung des walisischen Christentums. 1920 war ein Fünftel der Bevölkerung (535.000 von insgesamt 2.450.000 Einwohnern) getauftes und kommunizierendes Mitglied einer der unterschiedlichen Denominationen.

Wales

407

Tabelle 2: Statistik des Nonkonformismus 1 9 2 0 Mitglieder

Anhänger

Sonntagsschulbesuch

Calvinistische Methodisten

187.000

325.500

165.500

Kongregationalisten

170.000

200.000

135.000

Baptisten

125.000

150.000

135.500

Wesleyanische Methodisten

43.000

ca. 6 0 . 0 0 0

ca. 80.000

Andere

24.000

unbekannt

unbekannt

Der Anglikanismus stand zwar zahlenmäßig hinter dem Nonkonformismus insgesamt zurück, zog aber immer noch etwa 13 % der walisischen Bevölkerung in seine Gottesdienste. Nach der Lösung aus der staatskirchlichen Bindung war die neugebildete Kirche in Wales bedeutender als jede andere einzelne Denomination. Tabelle 3: Statistik der vier Bistümer der Anglikanischen Kirche in Wales 1 9 2 0 Taufen

25.000

Konfirmationen

17.500

Sonntagsschulbesuch

180.000

österliche Abendmahlsgäste

160.000

Zur gleichen Zeit drohte der Liberalismus die Orthodoxie als das Bekenntnis der nonkonformistischen Kirchen in den Hintergrund zu drängen. Er fand Wortführer in befähigten Theologen wie Thomas Rees (1869-1926), John Morgan Jones (1873-1946) und D. Miall Edwards (1873-1941), die viele davon überzeugten, daß der Protestantismus nur überdauern könne, wenn er sich die Leitgedanken des philosophischen ->Idealismus und die Wertvorstellungen der -»Aufklärung zu eigen mache. Doch nicht alle waren davon überzeugt, und in den 1940er Jahren kam es zu einer lebhaften, nachhaltig dem Werk Karl -»Barths verpflichteten calvinistischen Erneuerung. Theologen wie John Edward Daniel (1902-1962) und Prediger wie Lewis Valentine (1893-1986) .vereinten Barthsche Akzente mit einer engen Verbundenheit mit den theologischen Leitlinien des klassischen walisischen Nonkonformismus. Einen Evangelikaiismus konservativeren Zuschnitts verfocht der bedeutende, von London aus wirkende Prediger Martyn Lloyd-Jones (1899-1981). Bis zur Mitte des 20. Jh. gewann die Kirche in Wales, die inzwischen ihren unabhängigen Status verinnerlicht hatte, beträchtlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Ihr dynamischster Vertreter war Glyn Simon (1903-1972), der zeitweilig Bischof von Llandaff und des neu errichteten Bistums Swansea und Brecon und 1968-1971 Erzbischof von Wales war. Auch der römische Katholizismus erlebte, insbesondere unter Erzbischof Michael McGrath (1882-1961), ein beispielloses Wachstum und eine im allgemeinen zunehmende Akzeptanz in der Bevölkerung. Doch in den späten 1960er Jahren verlangte die -»Säkularisierung ihren Tribut von allen großen Denominationen. Weder die überkommene dominierende Stellung des Nonkonformismus noch der eindrucksvolle Bodengewinn von Anglikanismus und Katholizismus konnten die Waliser davon abhalten, sich zu Tausenden vom Glauben abzuwenden. Das letzte Viertel des 20. Jh. zeigt auf der ganzen Linie einen starken zahlenmäßigen Rückgang. Die unzweifelhafte Lebendigkeit der charismatischen Bewegung und die Einrichtung neuerer evangelikaler Gemeinden oder „Hauskirchen" haben dem Einfluß der Säkularisierung kaum Einhalt geboten. Sie erscheint in Wales vor dem Hintergrund der

408

Wallfahrt/Wallfahrtswesen I

a u ß e r o r d e n t l i c h h o h e n religiösen B i n d u n g , die z u v o r die G e s c h i c h t e des w a l i s i s c h e n V o l k e s g e k e n n z e i c h n e t h a t t e , b e s o n d e r s a u s g e p r ä g t . Z u r J a h r t a u s e n d w e n d e zeigten s i c h die c h r i s t l i c h e n K i r c h e n d u r c h den s c h w i n d e l e r r e g e n d e n F o r t g a n g d e r sich v o l l z i e h e n d e n V e r ä n d e r u n g e n b e u n r u h i g t und m u ß t e n ihr eigenes U n v e r m ö g e n zu einer d a u e r h a f t w i r k samen und innovativen missionarischen Präsenz erkennen. D e n n o c h behauptete sich w e i t e r h i n der G l a u b e , u n d t r o t z aller B e d r ä n g n i s fehlt es n i c h t an Z e u g n i s s e n s e i n e r K r a f t , u n t e r den W a l i s e r n H i n g a b e u n d H o f f n u n g zu w e c k e n , so w i e er es über a n d e r t h a l b Jahrtausende getan hat. Literatur Thomas M . Bassett, T h e Welsh Baptists, Swansea 1977. - E m r y s George Bowen, The Settlements of the Celtic Saints in Wales, Cardiff 1956. - Ders., Saints, Seaways and Settlement, Cardiff 1969. - Ebenezer Thomas Davies, Religion in the Industrial Revolution in South Wales, Cardiff 1965. - Ders., A New History of Wales. Religion and Society in the Nineteenth Century, Llandybi'e 1981. - Nancy Edwards/Alan Lane (Hg.), T h e Early Church in Wales and the West. Recent Work in Early Christian Archeology, History and Place Names, Oxford 1992 (Oxbow Monograph\16). - Eifion Evans, Daniel Rowland and the Great Evangelical Awakening in Wales, Edinburgh 1985. - Trystan Owain Hughes, Winds of Change. T h e Roman Catholic Church and Society in Wales, 1 9 1 6 - 6 2 , Cardiff 1999. - Geraint H. Jenkins, Literature, Religion and Society in Wales, 1 6 6 0 - 1 7 3 0 , Cardiff 1978. - Ders., Cadw Ty Mewn Cwmwl Tystion. Ysgrifau Hanesyddol ar Grefydd a Diwylliant, Llandysul 1990. - Ders., Protestant Dissenters in Wales, 1 6 3 9 - 8 9 , Cardiff 1992. - Robert Tudur Jones, Hanes Annibynwyr Cymru, Abertawe [Swansea] 1966. - Ders., Ffydd ac Argyfwng Cenedl. Cristionogaeth a Diwylliant yng Nghymru, 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , 2 Vols., Abertawe [Swansea] 1981 1982. - D. Densil Morgan, Christmas Evans a'r Ymneilltuaeth Newydd, Llandysul 1991. - Ders., T h e Span of the Cross. Christian Religion and Society in Wales, 1 9 1 4 - 2000, Cardiff 1999. - Ders., Cedyrn Canrif. Crefydd a Chymdeithas yng Nghymru'r Ugeinfed Ganrif, Caerdydd 2001. - Derec Llwyd Morgan, Y Diwygiad Mawr, Llandysul 1982. - William Morgan, Cofiant, neu Hanes Bywyd y Diweddar Barch. Christmas Evans (A Biography, or the Story of the Life of the Late Revd. Christmas Eveans), Cardiff 1839. - Robert Pope, Building Jerusalem. Nonconformity, Labour and the Social Question in Wales, 1906 - 3 9 , Cardiff 1998. - Ders., Seeking God's Kingdom. T h e Nonconformist Social Gospel in Wales, 1 9 0 6 - 3 9 , Cardiff 1999. - Geraint Tudur, Howell Harris. From Conversion to Separation, 1735 - 5 0 , Cardiff 2000. - Siän Victory, T h e Celtic Church in Wales, London 1977. - David Walker, A History of the Church in Wales, Penarth 1976. - Glanmor Williams, T h e Welsh Church from Conquest to Reformation, Cardiff 1962 *1976. - Ders., Religion, Language and Nationality in Wales, Cardiff 1979. - Ders., Grym Tafodau Tan. Ysgrifau Hanesyddol ar Grefydd a Diwylliant, Llandysul 1984. - Ders., T h e Welsh and their Religion. Hist. Essays, Cardiff 1991. - Ders., Wales and the Reformation, Cardiff 1997. D. Densil M o r g a n Wallfahrt/Wallfahrtswesen I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h II. A l t e s T e s t a m e n t III. N e u e s

S. 4 1 6

Testament

S. 4 1 8

IV. J u d e n t u m

S. 4 2 1

V. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h

S. 4 2 3

VI. Praktisch-theologisch

S.431

I. Religionsgeschichtlich 1. Begriff 1.

2. Wesen und Funktion

3. Verbreitung

(Literatur S. 413)

Begriff

Seit d e m 1 4 . J h . b e s c h r e i b t d e r d e u t s c h e B e g r i f f Wallfahrt

— abgeleitet v o n

wallen,

d e m R e i s e n in die F r e m d e - v o r n e h m l i c h die religiös m o t i v i e r t e R e i s e zu e i n e r heiligen S t ä t t e ( - » H e i l i g e S t ä t t e n ) , w ä h r e n d sich d e r s y n o n y m e B e g r i f f Pilgerfahrt peregrinatio)

(von lateinisch

d a r ü b e r h i n a u s a u f d a s g a n z e m e n s c h l i c h e L e b e n als R e i s e b e z i e h e n k a n n

(Pilgerstand; zur B e g r i f f s g e s c h i c h t e vgl. u . V . l . - 3 . ) . W a l l f a h r t b e z e i c h n e t den individuel-

Wallfahrt/Wallfahrtswesen I

409

lenoder kollektiven Besuch eines überregional bedeutenden Kultortes, der sich außerhalb der eigenen heimatlichen Umgebung befindet. Im Glauben der Pilger zeichnet sich der Wallfahrtsort durch die Präsenz einer Gottheit, einer göttlichen Macht oder eines Heiligen oder Propheten als göttlichen Mittler aus. Dabei ist die innerreligiöse Wallfahrtskritik gerade auf die Annahme gerichtet, Gott sei an bestimmten Orten präsenter als anderswo. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der vormals asketisch ausgerichteten und gefährlichen Pilgerreise und dem Pilgerziel verliert ihre Bedeutung, je stärker moderne Transportmittel die eigentliche Reise prägen - die rituellen Handlungen am Pilgerort stehen dann im Vordergrund. Die neuere religionsgeographische Forschung faßt das religiös motivierte Reisen unter dem Begriff Religionstourismus zusammen. 2. Wesen und Funktion Der Wunsch nach Hilfe im profanen Leben, Dankbarkeit für empfangene Segnungen (-•Segen/Segen und Fluch) oder der Entschluß, -»Buße zu tun, können eine Wallfahrt genauso veranlassen wie das Bedürfnis nach tieferen religiösen —• Erfahrungen. Mitunter kann man die Pilgerreise auch im Dienste eines anderen, alten oder kranken Menschen antreten. Es herrscht in vielen Religionen die Vorstellung einer Vergeltung für die künstlichen und natürlichen Erschwernisse der Reise, so daß der Weg bisweilen barfuß, auf den Knien rutschend, mit dem eigenen Körper ausmessend oder mit zusätzlichen Lasten auf dem Rücken bewältigt wird, während profane Genüsse (reiche Speisen, Alkohol, Sexualität) meist asketisch ausgeschlossen werden. Dem Tod auf der Reise oder am Pilgerort zu erliegen, gilt als besonders heilswirksam. Bestimmte Kleidung (Pilgergewand, Mantel, H u t , Stab, Abzeichen) gewährleistet dem Wallfahrer häufig Schutz vor weltlichen Ubergriffen. Lieder und Gebete an den Schutzgott oder -heiligen der Pilger dienen der Erbauung, bis endlich der Wallfahrtsort erreicht wird, wo die Reisenden im günstigsten Fall in Pilgerherbergen wohnen. Die Wallfahrer besuchen Grab-, Reliquien- und Erinnerungsstätten von Heroen, Heiligen (-»Heilige/HeiligenVerehrung), Propheten oder Göttern wie auch besondere Naturgestaltungen (Flüsse, Berge, Bäume, Quellen usw.), die Orte von Theophanien und Hagiophanien sein können oder als Ausdruck einer göttlichen Manifestation verstanden werden. Am Todestag bzw. am Erscheinungstag der Verehrten oder an astronomischen Festtagen ist der Zustrom von Pilgern besonders groß. -»Bilder, Schreine und Steine mit wunderbarer Herkunft, -»Reliquien und „natürliche" Gebilde, die durch Einwirkung einer göttlichen Macht entstanden, sind als wirkmächtige Kultobjekte bekannt. Die Wallfahrten, die im allgemeinen von Laien spontan initiiert werden, entwickeln im Zuge ihrer Institutionalisierung einen ritualistischen Formalismus, dessen strikte Beachtung den Erfolg der Pilgerreise bedingt. Literale und personale Pilgerführer auf der Reise und spezielle „Ritenmeister" am Pilgerort, die die Opferungen, Waschungen, Gebete etc. überwachen, stehen in hohem Ansehen. Das Umschreiten des Heiligtums sticht als konstantes Pilgerritual in der Vielzahl der Religionen hervor. Von erlangter Hilfe und vor allem Heilungswundern zeugen die Mirakelbücher und die häufig mit Körpermotiven versehenen Votivgaben, während die Namenslisten der Pilger ihre dauernde Fräsenz am Heiligtum garantieren sollen. Die Annahme, daß die psychischen wie physischen Heilkräfte des Kultobjekts auf weitere Gegenstände übertragbar seien, veranlaßt die Pilger, Eulogien (Wasser, Ringe, 01, Opferasche, Holz) und Andenken mit auf die Heimreise zu nehmen. Die wirtschaftliche Dimension des Handels mit Eulogien, Andenken bzw. Opfergaben darf dabei nicht unterschätzt werden. Auf verschiedenen Ebenen wirkt die Pilgerfahrt als soziale Integrationskraft: zum einen können sich Wallfahrtsorte zu Symbolen nationaler Identität entwickeln - wie Guadalupe in -»Mexiko — oder sie können durch die internationale Begegnung das Gefühl einer universalen religiösen Bruderschaft vermitteln — wie Mekka. Daß die Pilgergruppen mit der Überwindung der immanenten sozialen Differenzen die Reise soli-

410

Wallfahrt/Wallfahrtswesen I

darisch als religiöses Gemeinschaftserlebnis wahrnehmen und so das eigentliche Ziel einer communitas (Victor Turner [1920-1983]) erreichen, kann nicht verallgemeinert werden. Auf einer individuellen Ebene können die Erfahrungen der Pilgerreise im alltäglichen Leben nachwirken. 3.

Verbreitung

3.1. Vorchristliches

Europa, Amerika

und

Antike

Die außeralltägliche Verehrung von besonderen und entlegenen Naturgestaltungen (Berge, Quellen, Seen, Bäume) war vermutlich bereits in der Vorgeschichte anzutreffen. Hunderttausende von alpinen Steinritzungen in Val Camonica und auf dem Monte Bego und die monumentalen Steinsetzungen der Megalithkultur (Stonehenge, Carnac) legen die Deutung als überregionale Kultzentren nahe. Die irischen Kelten feierten in ihrem zentralen Heiligtum von Uisnech die Jahresfeste. Ebenso trafen sich die Germanen zu ihren großen Volksversammlungen (ting), die mit aufwendigen Opfern an die Götter verbunden waren, an heiliger Stätte: alle neun Jahre kamen die Schweden nach Uppsala und die Dänen nach Lejre. Auch unter den altamerikanischen Kulturen (Maya/Azteken/ Inka) sind große Pilgerzentren bekannt. Im Zentrum der altägyptischen Wallfahrt steht seit dem Mittleren Reich das Grab des Gottes Osiris in Abydos, das Pilger nicht nur zur Verehrung dieses Totengottes, sondern auch post mortem auf einer rituellen Reise zur eigenen Bestattung heimsuchen. In griechisch-römischer Zeit sind die Stätten von Sarapis in Memphis und von Isis auf der Insel Philae besonders beliebt, so daß eigene Herbergen (KaxaXv/iapa) an den Heiligtümern die Besucher aufnehmen, die meist mit Orakelfragen und Heilungswünschen anreisen. Massenhaft erscheinen die Pilger zu den Festen ihrer Götter: Herodot (11,60) berichtet von 700.000 Pilgern zu Ehren der Bastet in Bubastis. Das Ammoneion der Oase Siwa außerhalb des Reichsgebietes war als Orakel weitbekannt.

Von seinem Hauptheiligtum in Epidauros auf der Peloponnes breitete sich seit dem 5. Jh. v. Chr. der Kult des griechischen Heilgottes Asklepios, der Apollon in dieser Funktion verdrängte, mit über 200 Filialen aus, unter denen Athen, Kos, Lebena, Pergamon und später -»Rom hervorzuheben sind. Zentraler Ritus in jedem Asklepieion ist der Heilschlaf (Inkubation). Der Gott und seine Helfer vermitteln dem Kranken im Traum Heilung oder Ratschläge. Vom Erfolg dieses Rituals, das für Athen bis ins 5. Jh. n. Chr. bezeugt ist, künden unzählige Inschriften und Votivgaben in Epidaurus. Auf der nordägäischen Insel Samothrake befand sich seit dem 5. Jh. v. Chr. als wichtigstes Heiligtum der Kabiren das Mysterienzentrum der &eöl Me.yo.Xoi („der großen Götter") und der zugehörigen Kabiren. Die Pilger erhofften sich, über zwei Einweihungen in den Kult ( e n o n t e i a / fiorjoig) Seligkeit im Diesseits und Frieden im Jenseits zu erlangen, wobei die Kabiren als ausdrückliche Beschützer auf Seereisen galten. Der Artemistempel in Ephesos war wohl der populärste Wallfahrtsort Kleinasiens. Hier wurde seit dem 7. J h . v. Chr. fast tausend Jahre lang das nach der Legende vom Himmel gefallene Kultbild der großen Göttin Artemis verehrt, die ihren Anhängern als Herrin über Leben und Tod und Helferin in allen Nöten - besonders bei der Geburt - galt. Ratsuchende pilgerten zu den Orakelstätten des Apollon in Delphi, Klaros, Didyma und Seleukeia oder zur Zeuseiche in Dodona, dem Totenorakel am Acheronfluß und den Kultorten der Sybillen. Auch zahllose Heiligtümer einzelner Gottheiten - wie Hera auf Samos und Poseidon auf Tinos, Heroengräber, Reliquien und religiöse Virtuosen wie Alexander von Abonouteichos (2. J h . n. Chr.) waren Ziel der Pilger, als das griechisch-römische Wallfahrtswesen im 2. J h . n. Chr. seinen Höhepunkt erreichte. Einige dieser Pilgerorte etablierten sich in der Spätantike als Wallfahrtszentren christlicher Heiliger (Apostel Johannes in Ephesos, Thekla in Seleukeia).

3.2. Hinduismus,

Jainismus

und Sikhs

Wenn auch von frühen rituellen Badezeremonien der Industalkultur ausgegangen werden kann, so belegt erst das indische Epos Mahäbhärata (4. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n.Chr.) eine große Verbreitung der tirthayäträ („Reise zu den heiligen Furten"), der

Wallfahrt/Wallfahrtswesen I

411

hinduistischen Wallfahrt. Es wird grundsätzlich zwischen den mit Wasser verbundenen Orten (jalatlrthas), den Tempeln (mandirattrthas) und den heiligen Landschaften (ksetras) als Pilgerort unterschieden. Die bedeutendsten Wallfahrtsstätten (ttrthas) sind: Prayäga (Allähäbäd) mit dem Zusammenfluß (trivent) der drei heiligen Ströme Ganges, Yamunä und der mythischen Sarasvatl; Hardvär und VäränasT (Benares) am Ganges; die Wirkungsstätten des Gottes Visnu und seiner Inkarnationen Krisna und Räma in Puri, Mathurä, Dväraka und Ayodhyä. Berühmte Kultstätten der Hauptgötter Siva und Visnu befinden sich ferner im südindischen Känclpuram, Tirupati und Rämesvaram, in Kedärnäth und BadrTnäth in der Himalayaregion, wo in Gangötri die Gangesquelle verehrt wird. Kumbhamelä heißen die großen Pilgerfeste in Prayäga und Härdvär und kleineren Orten, zu denen alle zwölf bzw. vier Jahre Millionen von Mönchen und Laien reisen. Im tantrischen Hinduismus nehmen die Wallfahrtsstätten (pTthas) der personifizierten Urenergie Sakti in ihren verschiedenen Formen den ersten Rang ein. In jüngster Zeit entwickeln sich sowohl die Stätten der Heiligen Rämakrishna ( 1 8 3 6 - 1 8 8 6 ) und Rämana Maharshi ( 1 8 7 9 - 1 9 5 0 ) zu internationalen Pilgerzentren wie auch die großen Tempel der indischen Immigranten in den USA (Sri Venkatesvara) und Großbritannien (Sri Swaminarayan).

Vermag die Reinheit der heiligen Flüsse die Pilger von angesammeltem schlechten Karman zu befreien, so dient der Besuch in Tempelstätten eher der Verinnerlichung der Beziehung zur Gottheit. Neben der mitunter weitläufigen Umrundung des Heiligtums (pradaksinä) vollziehen die Pilger vielfältige Verehrungs-, Opfer- und Sühneriten unter Anleitung eines speziellen Priesters, des pändä, der dann entsprechende Preislieder (mahätmya) des Pilgerortes rezitiert. Er trägt die Reisenden ins Pilgerregister (nämakosa) ein, verteilt prasäda - den Göttern geweihtes Essen - und begleitet Zeremonien wie das Speiseopfer an die Verstorbenen (sräddha). Viele Wallfahrtsorte an den heiligen Strömen sind eng mit Bestattungsriten verbunden, denn der Fluß markiert den Anfangsund Endpunkt der Pilgerreise des Lebens. Auch der von MahävTra (6./5. Jh. v. Chr.) begründete Jainismus weist schon früh eine Vielzahl von Pilgerzentren auf, an denen die teils mythischen Erlösergestalten (tirthankaras = „Furtbereiter") verehrt werden. Die „große Hauptölung", mahamastakabhiseka, der Monumentalstatue des heiligen Bähubali zieht alle zwölf Jahre hunderttausende von Pilgern nach Sravana Belgola, das zusammen mit Päväpuri (Sterbeort Mahävlras) den wichtigsten Wallfahrtsort der Jainas darstellt. Ähnliche Verehrung genießen die Wirkungsstätten der zehn historischen Gurüs der Sikhs im Panjäb. Aber selbst die Geburtsstadt Kartarpur des Religionsstifters Gurü Nänak (1469-1538) steht in seiner Bedeutung für die Pilger hinter dem goldenen Tempel (Haritnand.tr) von Amritsär, in dem das heilige Buch der Sikhs, der Ädi-Granth, aufbewahrt wird. 3.3. Buddhismus Ziel der buddhistischen Wallfahrer sind vor allem die „Spuren" (caitya) des historischen Buddha: seine Wirkungsstätten in Bodh Gayä (Erleuchtung), Särnäth (erste Predigt), Kusinagara (Eingang ins Nirväna) und Kapilavastu (Geburt) ebenso wie die Stüpas - monumentale Reliquienschreine mit körperlichen Überresten (sairtra) und Utensilien des Buddha - und sonstige Spuren. Nach dem Niedergang des Buddhismus in Indien (ab 10. Jh.) erlangen die Pilgerorte in Burma (Shwe-Dagon-Pagode), Sri Lanka (Zahntempel, Bo-Baum), Nepal (Svayambhunäth- und Bodhnäth-Stüpa), Thailand und Laos eine herausragende Stellung. Wallfahrten (dharmayätra) begannen als Laienbewegung, die nur zögernd von den Mönchen als erster Schritt zur Lehre des Buddha akzeptiert wurden, wobei die frühste belegbare Pilgerreise auf den indischen Kaiser Asoka (268-232 v. Chr.) zurückgeht. Neben uneinheitlichen Verehrungsriten bildet das meist dreimalige Umrunden des Heiligtums im Uhrzeigersinn (pradaksinä) einen festen Bestandteil der Pilgerhandlungen. In Tibet nehmen Pilgerfahrten eine herausragende Stellung im religiösen und ökonomischen Leben ein - gleich ob dies den Buddhismus oder die indigene Bön-Religion betrifft. Eine umfang-

412

Wallfahrt/Wallfahrtswesen I

reiche Literatur von Pilgerführern (dkar chag) leitet den Reisenden zu Städten, Klöstern oder Naturheiligtümern. Die Städte Lhasa mit dem wichtigen Jo-khari Tempel, Bsam-yas mit dem ältesten buddhistischen Kloster in Tibet und Gsis-ka-rtse mit dem Sitz des Panchen Lamas bilden zusammen mit den Bergen Kailasa und Amne Machin die wichtigsten Pilgerzentren. Der tibetische Ausdruck für eine Pilgerfahrt (gnas-skor — Umrundung) impliziert bereits das indische Konzept der pradaksinä. Die Einhaltung von Fastenvorschriften, besondere Erschwernisse und das Rezitieren von Mantren während der Reise sollen die Chance auf eine gute Wiedergeburt oder rein profane Segnungen erhöhen. Die lebenslange Suche nach den verborgenen Ländern (sbas yul) bzw. dem mythischen Königreich Sambhala drückt den mystischen Charakter der buddhistischen Pilgerfahrt aus.

Als im China des 6. und 7. Jh. die buddhistischen Pilger Hsüan-tsang (ca. 600—664), Sung-yün, Hui-cheng u.a. ihre Reise nach Indien antraten, hatten sich bereits buddhistische Wallfahrtszentren — häufig mit taoistischer Vorgeschichte - in ihrem Heimatland etabliert. Unter den vielen tausend heiligen Bergen Chinas müssen Chiu-hua, P'u-t'o, Emei und Wu-t'ai besonders hervorgehoben werden, die die vier Elementarkräfte Erde, Wasser, Feuer und Luft repräsentieren und als Sitz der Bodhisattvas gelten. Es scheint sich abzuzeichnen, daß viele der einstigen Pilgerzentren im modernen China vor allem touristischen Zwecken dienen werden - wie die Höhlen der tausend Buddhas (Tunhuang) oder die Drachentorhöhlen (Lung-men). Buddhistische und shintoistische Pilgerfahrten (junrei) in -»Japan gliedern sich einerseits in festgelegte Rundreisen - z. B. zu den 88 Tempeln der Insel Shikökü oder zu den 33 heiligen Stätten desK(w)annon (Buddha-Avalokitesvara) bei Kyoto. Letztere wird auf den Kaiser Kazan (968-1008) zurückgeführt. Andererseits werden einzelne Heiligtümer wie der Schrein der Sonnengöttin Amaterasu von Ise, der Schrein des Meiji Kaisers in Tokyo oder heilige Berge (Fujiyama, Tateyama, Inari, Köyasan) besucht. Erst im 17. Jh. entwickelt sich die zuvor nur Adeligen, Kriegern und wandernden Asketen (shugendö) vorbehaltene Pilgerfahrt zur religiösen Praxis auch der Bauern und Städter - bis hin zur touristisch organisierten Busrundreise unserer Gegenwart, in der die Verehrung des heiligen Köbö-daishi eine zentrale Rolle einnimmt. Schon die traditionelle Kleidung der modernen Pilger verweist auf die identitätsstiftende Bedeutung der Reise zu den kulturellen Wurzeln Japans.

3.4. Islam Nicht als freiwilligen Akt besonderer Frömmigkeit, sondern als einmalige Pflicht eines jeden erwachsenen Moslem, der gesundheitlich und finanziell dazu in der Lage ist, wertet der Islam die Wallfahrt nach Mekka. Der Hdg£ ( = herumgehen) als eine der fünf Säulen (arkärt) des Islam wird auf das Gebot des Koran (2,125; 3,97) und auf Mohammeds Vorbild zurückgeführt. Mekka ist für den Moslem der Nabel des Universums, an dem Ibrahim (Abraham) das erste Gebetshaus, die Ka'ba, errichtete, die historisch schon als präislamisches Wallfahrtsziel bezeugt ist. Heute bestimmt Saudi Arabien die Einreisequoten der Pilger aus den verschiedenen Ländern. Während die eigentlichen Riten des Hagg nur drei Tage im Monat Dü'l-Higga des islamischen Mondkalenders andauern, beginnt bereits 10 Wochen zuvor die Phase der Reise und der rituellen Vorbereitung (al-mtqät al-zamähiyah). In Begleitung eines Pilgerführers, des mutawwif, beten die Wallfahrer, bevor sie im Zustand physischer und geistiger Reinheit (ihrärrt), die mit asketischen Geboten verknüpft ist, die heilige Stadt Mekka betreten. In weiße Gewänder gekleidet strömen jährlich ca. drei Millionen Pilger in die große Moschee, Masgid al Haräm, um siebenmal die mit einem schwarzen Vorhang (kiswah) verhüllte Ka'ba zu umrunden (tawäf) und den hier eingelassenen schwarzen Stein zu berühren. Ebenso werden nahe der Ka'ba der Maqäm Ibrahim (der Gebetsplatz Abrahams), die Gräber Hagars und Ismaels und der Brunnen von Zamzam mit seinem heilenden Wasser aufgesucht. Vor der Moschee laufen die Pilger siebenmal zum Gedenken an Hagars Suche nach Wasser zwischen den Hügeln al-Safä und al-Marwah hin und her. Weitere Stationen des Hagg sind der Berg 'Arafat nahe Mekka und die Stadt Minä. Hier wirft jeder Pilger sieben Steine auf die Säule von Akaba, die den Satan symbolisiert. In Erinnerung an die Opferung eines Widders statt seines Sohnes durch Ibrahim werden

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in Mina Tieropfer dargebracht - das Fleisch wird teils verspeist, teils in islamische Entwicklungsländer versandt. Wer den Hagg vollzogen hat, darf seinem Namen den Ehrentitel Haggt hinzufügen. Vom Hagg ist die 'Umra, die kleine Pilgerfahrt, zu unterscheiden, die außerhalb des Dü'l-Higga nur die Wallfahrt zur Ka'ba einschließt. Alle anderen Wallfahrten werden als Ziyära ( = Besuch heiliger Stätten) bezeichnet. Neben Mekka sind die beiden wichtigsten Pilgerzentren im Islam die Moschee und das Grab des Propheten in Medina und die al-Aqsä Moschee in Jerusalem. Die Moscheen in Kairo und Damaskus und die zahlreichen Nekropolen der islamischen Heiligen (wait) bilden einen weiteren Anziehungspunkt für viele Pilger - letztere meist im lokalen Kontext. Überregionale Bedeutung haben innerhalb des schiitischen Islam die heilige Stadt G h o m (Iran), die Gräber von Mohammeds Schwiegersohn All in Küfa und dessen Sohn Husain in Kerbalä' (Irak). 3.5.

Moderne

Die neuen religiösen Bewegungen in den modernen Industriegesellschaften haben ihrerseits eine umfangreiche Wallfahrtspraxis entwickelt, die sich meist auf die Ursprünge der Bewegung und ihre Gründergestalten bezieht: Mormonen pilgern zum Tempel von Salt Lake City (Utah) und den historischen Stätten bei N a v o o (Illinois); nach Indien reisen die Anhänger Oshos/Bhagwans (Poona), Sathya Sai Babas (Puttaparthi) und der Hare-Krishna-Bewegung (Vrindävan, Mayapur), während sich neopagane und esoterische Strömungen teils an alten Heiligtümern (Stonehenge, Externsteine) orientieren. Der religiöse Gehalt der höchst populären Wallfahrten zu den Grabstätten moderner Idole (Elvis Presley, Diana Spencer) und politischer Führer (Lenin, amerikanische Präsidenten) ist wohl nicht genau bestimmbar. Literatur 1. Allgemein: Bobby C. Alexander, Correcting Misinterpretations of Turner's Theory. An African-American Pentecostal Illustration: JSSR 30 (1991) 2 6 - 4 4 . - Barbara N. Aziz, Personal Dimensions of the Sacred Journey: RelSt 23 (1987) 247-261. - Richard Barber, Pilgrimages, Woodbridge 1991. - Iso Baumer, Wallfahrt als Handlungsspiel, 1977 (EHS R. 19 Ethnologie/Kulturanthropologie 12). - Deepak K. Behera, Pilgrimage. Some Theoretical Perspectives: Pilgrimage [1995] (s.u.) 4 3 - 6 3 . - Yoram Bilu, The Inner Limits of Communitas. A Convert Dimension of Pilgrim Experience: Ethnos 16 (1988) 3 0 2 - 325. - Simon Coleman, Pilgrimage, Past and Present. Sacred Travel and Sacred Space in the World Religions, London 1995. - Contesting the Sacred. The Anthropology of Pilgrimage, hg. v. John Eade/Michael J . Sallnow, London 1991. - Devi P. Dubey, Pilgrimage Studies. Sacred Places, Sacred Traditions, Allahabad 1995. - Diana L. Eck, Art. Circumambulation: EncRel(E) 3 (1987) 509-511. - Grundfragen der Religionsgeographie. Mit Fallstudien zum Pilgertourismus, hg. v. Manfred Büttner/Karl Hoheisel u.a., 1985 (GRel 1). - Michael Harbsmeier, Pilgrim's Space. The Centre out there in Comparative Perspective: Tem. 22 (1986) 5 7 - 7 7 . - Heiligtümer u. Opferkulte der Kelten, hg. v. Alfred Haffner, Stuttgart 1995. - Histoire des pèlerinages non chrétiens, hg. v. Jean Chélini/Henry Branthomme, Paris 1987. - Bernard Jackson, Places of Pilgrimage, London 1989. - Günter Lanczkowski, Die hl. Reise, Freiburg i.Br. 1982. - Christian Meyer, Die „rel. Reise": ZRGG 49 (1997) 1 1 - 3 3 . - Richard R. Niebuhr, Pilgrimage as a Thematic Intr. to the Comparative Study of Religion: Tracing Common Themes, hg. v. John B. Carman/Steven P. Hopkins, Atlanta, Ga. 1991, 5 1 - 6 3 . - Martyn Percy, The Morphology of Pilgrimage in the „Toronto Blessing": Religion 28 (1998) 281-288. - Pilgrimage in World Religions, hg. v. Surinder M. Bhardwaj/Gisbert Rinschede u.a., 1988 (GRel 4). - Pilgrimage in the United States, hg. v. Surinder M. Bhardwaj/Gisbert Rinschede u.a., 1990 (GRel 5). - Pilgrimage in the Old and New World, hg. v. Surinder M. Bhardwaj/Gisbert Rinschede u.a., 1994 (GRel 8). Pilgrimage. Concepts, Themes, Issues and Methodology, hg. v. Makhan Jha, New Delhi 1995. Paul Post, Raum u. Ritus. Perspektiven f. die Analyse des liturg. Raums: JLO 5 (1989) 301-332. -Gisbert Rinschede, Religionsgeographie, Braunschweig 1999 (Lit.).-Sacred Places, Sacred Spaces, hg. v. E. Alan Morinis/Robert H. Stoddard, Baton Rouge, La. 1997 (Geoscience and Man 34). Sacred Places and Profane Spaces. Essays in the Geographies of Judaism, Christianity, and Islam, hg. v. Jamie Scott/Paul Simpson-Housley, 1991 (CSRel 30). - Social Anthropology of Pilgrimage, hg. v. Makhan Jha, New Delhi 1991. - Victor W. Turner, The Centre out there. Pilgrim's Goal:

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2. Wallfahrtspsalmen

3. Wallfahrt zum Zion

(Literatur S. 418)

Festwallfahrt

Wallfahrt ist als Bestandteil des israelitischen Kultes eng mit den drei großen Jahresfesten, mit Mazzot (Fest der ungesäuerten Brote), Schawuot (—•Wochenfest) und Sukkot (Laubhüttenfest) ( - » F e s t e und Feiertage II) verbunden. Der in diesem Kontext verwendete Begriff häg wird häufig mit „Wallfahrtsfest" übersetzt. Seiner Grundbedeutung nach ist häg mit „kreisförmig" wiederzugeben, woraus sich zunächst die Bedeutung „tanzen" und schließlich „ein Fest feiern" entwickelte. Stammverwandt sind das arabische haggä' „ F e s t / W a l l f a h r t " , higga „Wallfahrt" oder aramäisch haggä' „ F e s t " . Die alttestamentlichen Belege (die Nominalform kommt 62mal vor, die verschiedenen Verbalformen der Wurzel hgg 16mal) zeigen, daß ein häg fröhliches Beisammensein einer größeren Gruppe (über den engen Kreis der Familie hinaus), Essen und Trinken, Lieder mit musikalischer Begleitung (Am 5,21—23) und auch Tanz (Jdc 2 1 , 1 9 - 2 3 ) umfaßt. In Ps 118,27 ist mit häg wohl ein Festreigen gemeint. Wenn die ursprüngliche Bedeutung von häg zunächst ganz allgemein auf den Festcharakter von Mazzot, Schawuot und Sukkot verweist, ist der im Alten Testament vorliegende Gebrauch der Bezeichnung häg doch dahingehend eingeschränkt, daß eben nur diese drei als haggim bezeichnet werden und nur sie mit einer regelmäßigen „Wallfahrt" zu einem Heiligtum und dem Entrichten von Abgaben in Verbindung gebracht werden. Neben der Verknüpfung von häg mit dem jeweiligen Festnamen (häg hammassöt, häg hassäbu'ot, häg hassukköt-, in dieser Reihung in Dtn 16,16) wird häufig die Wendung häg yhwh, häg l'yhwh oder nur häg gebraucht. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Varianten zur Bezeichnung von Sukkot, die damit gleichzeitig den Stellenwert dieses Festes im Jahreszyklus umschreiben. Es ist das Fest JHWHs oder auch das Fest; eine nähere Beschreibung ist nicht notwendig (Lev 23,39.41; Num 29,12; Dtn 16,14; Jdc 21,19; I Reg 8,2.65; 12,32.33; Ez 45,25; Hos 9,5; Ps 81,4; Neh 8,14.18; II Chr 5,3; 7,8.9). Für Feste und Feiern aller Art, sei es das Neumondfest oder eine Familienfeier, wird in der Hauptsache der Ausdruck mo'ed verwendet. Das Spezifische von häg steht folglich mit dem Erntefestcharakter der drei großen Jahresfeste in engem Zusammenhang. Auch Passa (-»Pesach) wird alttestamentlich nicht als häg bezeichnet. In Ex 34,25 handelt es sich um eine nachträgliche Zufügung von happäsah (vgl. Ex 23,18). In Ex 12,14 bezieht sich häg auf die siebentägige Feier von Mazzot und schließt den Passaabend nicht mit ein. Die Zusammengehörigkeit von Passa und Mazzot wird hier allerdings bereits vorausgesetzt.

Wallfahrt/Wallfahrtswesen II

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Zu diesen drei Festen gilt der Aufruf, sich vor JHWH sehen zu lassen (u.a. Ex 23,17; 34,23; Dtn 16,16), was zunächst allein das Erscheinen an einem Heiligtum beinhaltet. Die Abgabe von Ernteerzeugnissen am Heiligtum ist mit dieser Aufforderung verknüpft (-•Zehnt I.). Der Besuch lokaler Heiligtümer und der außerhalb der Ortschaften liegenden bämöt (Kulthöhen) entspricht dem Gebot. Eine Wallfahrt im Sinne eines Verlassens der heimatlichen Umgebung ist nicht gefordert. In bezug auf die großen Jahresfeste sollte somit erst seit der Kultzentralisation und der ausschließlichen Bindung an den -»Tempel in -»Jerusalem von Wallfahrtsfesten gesprochen werden. Es gibt aber auch Zeugnisse für „ W a l l f a h r t e n " zu einem größeren Heiligtum, ohne daß der Begriff bäg verwendet wird. Elkana reist jährlich mit seiner Familie nach Schilo (-»Silo), um zu opfern (I Sam l , 3 f f . ) . Samuel begibt sich aufgrund eines Opferfests hinauf zur Kulthöhe seiner Heimatstadt R a m a (I Sam 9 , l l f f . ) . Davids Fehlen bei einem Festmahl Sauls wird von J o n a t h a n ebenfalls mit dem Besuch eines Opferfests erklärt, einem Familienopfer in Davids Stadt Bethlehem (I Sam 2 0 , 2 8 f . ) . Eine jährliche Pflicht zur Wallfahrt zu einem der größeren Heiligtümer unabhängig von den Erntefesten ist dem aber nicht zu entnehmen.

Ein generelles Wallfahrtsgebot für das Erscheinen vor JHWH besteht nur dreimal im Jahr anläßlich der Erntefeste. Dem Gebot, obligatorisch für Männer (Ex 23,17; 34,23; Dtn 16,16 ), fakultativ für Frauen und Kinder, wird in der Hauptsache im Herbst mit Abschluß der Ernte und zur Zeit des Jahreswechsels entsprochen worden sein. Im Hinblick auf die landwirtschaftliche Arbeit ist eine Wallfahrt nach Abschluß der Ernte am ehesten praktikabel. Diese wird mit Dankgebeten für das vergangene Jahr und Bitten um Regen und aussichtsreiche Ernte auch im kommenden Jahr verknüpft. 2.

Wallfahrtspsalmen

Der Begriff bäg fällt in den sog. Wallfahrtspsalmen (Ps 12Ü-134; Psalmen/Psalmenbuch) nicht. Ihren Namen verdanken die Texte ihrer jeweiligen Überschrift str hamma'Höt (l'däwid/lislomoh). Als Stufenlieder waren diese Psalmen zur Lichtfeier im Frauenvorhof zum Ausklang des ersten Tages des Sukkotfestes von den Leviten zu singen (vgl. Ps 134,1; mSuk 5,4b). Gefestigt hat sich diese Interpretation durch die entsprechende Anzahl von 15 Psalmen und 15 Stufen, die auf dem Weg vom Frauenvorhof in den Vorhof Israels hinaufzusteigen sind (vgl. mSuk 5,4b; mMid 2,6e; bSuk 51b; 53b). Der Ausdruck Wallfahrtspsalmen, der sich durchgesetzt hat, beruht auf der Übernahme der Verbalbedeutung von 'äläh „hinaufsteigen, hinaufziehen" als terminus technicus für das Hinaufsteigen nach Jerusalem (Seybold, Wallfahrtspsalmen). Jerusalem, Zion und der Tempel stehen im Zentrum der Texte, welche eine stete Bewegung des göttlichen Segens, der von Jerusalem ausgeht und wieder dorthin führt, beschreiben. Dennoch liegen diesen Psalmen andere Themen zugrunde: die reiche Ernte, die große Kinderschar und der Frieden mit dem Nachbarn (Crow). Es sind Themen, die auch im Kontext der großen Jahresfeste ihren Ort haben. In den Wallfahrtspsalmen werden sie durch redaktionelle Arbeit in neue Bahnen gelenkt. Was durch die Kultzentralisation vorgegeben ist, wird hier auf besondere Weise überhöht. Gottes Segen geht vom Zion aus, denn diesen hat er zu seinem Wohnsitz erwählt (Ps 132,13). Wallfahrt ist nur nach Jerusalem und zum Zion denkbar. Die Texte binden Wallfahrt nicht explizit an die drei Jahresfeste. Mit der Vorstellung von JHWH-Präsenz und Heil in Jerusalem werden nun verstärkt existentielle Not wie große Freude zur Triebkraft für eine Wallfahrt nach Jerusalem. 3. Wallfahrt zum Zion Schließlich kennt das Alte Testament eine weitere, zukünftig-heilvolle Dimension der Wallfahrt zum Zion. Nach prophetischem Zeugnis werden die Völker in friedlicher Absicht zum Zion hinaufsteigen. Nicht mehr kriegerische Zerstörung, sondern die vom Zion ausgehende Weisung, das Lernen der Tora, ist ihr Ziel (Jes 2 , 2 - 4 ; Mi 4,1—3; vgl.

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Wallfahrt/Wallfahrtswesen III

auch I Reg 8 , 4 1 - 4 3 ; Jes 18,7; 51,4; 5 6 , 6 - 8 ; 60; J e r 3,17; 1 6 , 1 9 - 2 1 ; Hag 2 , 6 - 9 ; Sach 8,20-22). Sach 14,16 verbindet das T h e m a des Völkerkampfes und das friedliche Hinaufsteigen der Völker zum Zion zu einem zeitlichen Nacheinander. Wer der Vernichtung im Kampf gegen Jerusalem entgeht, wird J a h r für J a h r zum König J H W H Zebaoth kommen, um ihn dort anzubeten und Sukkot zu feiern. Die Wallfahrt der Völker zum Zion anläßlich von Sukkot wird gesegnet werden durch den Regen, um den man am Fest bittet und dessen Eintreffen Leben ermöglicht und erhält (vgl. Sach 14,17; J o h 7,37f.; mSuk 4,9f.). Thematisch schließt sich in Sach 14,16 der Kreis. In die Israel gebotene Wallfahrt zu Sukkot werden die Völker einbezogen. Sie haben Anteil an der Festfreude des Wallfahrtsfests und dem Segen, der vom Zion ausgeht. Literatur Loren D. Crow, The Songs of Ascents (Psalms 120-134). Their Place in Israelite History and Religion, 1996 (SBL.DS 148). - Irmtraut Fischer, Tora f. Israel - Tora f. die Völker, 1995 (SBS 164). - Ivan Hrbek, hg u. verwandte Wurzeln in den semitischen Sprachen: Studia Orientalia in Memoriam Caroli Brockelmann, hg. v. Manfred Fleischhammer, 1968 (WZ[H].GS 17) 95-104. Benjamin Kedar-Kopfstein, Art. hag: ThWAT 2 (1977) 7 3 0 - 744. - Corinna Körting, Der Schall des Schofar. Israels Feste im Herbst, 1999 (BZAW 285). - Shmuel Safrai, Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels, 1981 (FJCD 3). - Ludger Schwienhorst-Schönberger, Zion - Ort der Tora. Überlegungen zu Mi 4 , 1 - 3 : Zion, Ort der Begegnung. FS Laurentius Klein, hg. v. Ferdinand Hahn, Bodenheim 1993 (BBB 90) 107-125. - Klaus Seybold, Die Wallfahrtspsalmen. Stud. zur Entstehungsgesch. v. Psalm 120-134, 1978 (BThSt 3). - Ders., Die Red. der Wallfahrtspsalmen: ZAW 91 (1979) 247 -268. - Hendrik Viviers, The Coherence of the ma"löt Psalms (Pss 120-134): ZAW 106 (1994) 275-289. - Julius Wellhausen, Reste Arabischen Heidentums, Berlin 1887 31961. - Hans Wildberger, Die Völkerwallfahrt zum Zion. Jes. II 1 - 5 : VT 7 (1957) 6 2 - 8 1 . - Wolfgang Zwickel, Der Tempelkult in Kanaan u. Israel. Stud. zur Kultgesch. Palästinas v. der Mittelbronzezeit bis zum Untergang Judas, 1994 (FAT 10). Corinna Körting

III. Neues Testament 1. Evangelien und Apostelgeschichte Paulus (Literatur S. 420)

2. Völkerwallfahrt zum Zion

3. Die Kollekte des

Der in der Zeit des Zweiten -»-Tempels zunehmend an Bedeutung gewinnende Wallfahrtsgedanke spielt vor allem im Erzählkonzept der Evangelien eine bestimmende Rolle, begegnet aber auch in der -»Apostelgeschichte, bei -»Paulus und im —•Hebräerbrief, wenngleich unterschiedlich ausgeprägt und zum Teil auf motivliche Anklänge reduziert. Vorherrschender Bezugspunkt sind die Festreisen Jesu nach -»Jerusalem. In ihnen verbindet sich historische Erinnerung mit symbolischen Sinngehalten. Die Reisen werden in spezifischer Weise theologisch interpretiert und wie die übrige alttestamentlich präformierte Wallfahrtsmetaphorik transparent für die jeweils intendierte Aussage. Von den drei biblischen Wallfahrtsfesten wird das Passafest (td naoyo., ->Pesach) ( M k 14,1; in M k 14,12.14.16 [jeweils par.]; Lk 22,15; J o h 18,28 ist näherhin das P a s s a l a m m , in M t 26,18 die P a s s a f e i e r gemeint), etwas unpräzise auch „Fest/Tage der ungesäuerten B r o t e " ( e o p z r i / f i ß E p a i rcöv ä(6fi(ov) oder einfach „ M a z z o t " (ra ä(vfia) genannt (Lk 2,41; Joh 2,13.23; 6,4; 11,55; 12,1; 13,1; 18,39; 19,14; Act 12,3; 20,6; vgl. J o h 12,12), weitaus am häufigsten erwähnt. Auf das Wochenfest, wie in der Septuaginta (Tob 2,1; II M a k k 12,32) als nevTrjKOOTfi bezeichnet, wird explizit nur dreimal Bezug genommen (Act 2,1; 20,16; I Kor 16,8). Vom Laubhüttenfest (aKtjvomjyia) ist gar nur einmal die Rede (Joh 7,2). 1. Evangelien

und

Apostelgeschichte

Zu den zahlreichen jüdischen und nichtjüdischen Festpilgern, die aus ganz Israel und der -»Diaspora den Jerusalemer Tempel aufsuchten, um dort zu opfern und zu

Wallfahrt/Wallfahrtswesen III

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beten (Philo, SpecLeg 1,69; Prov 11,107; Josephus, Bell 11,41-43; VI,420f.; Ant 111,318; XVII,26.213f.254; mYom 6,4; mTaan 1,3; Lk 13,1; Joh 4,45; 12,20; Act 8,27; 20,4.16), gehörten am Passafest regelmäßig auch die Eltern Jesu (Lk 2,41 f.). Ihr ältester Sohn begleitete sie erstmals als Zwölfjähriger (2,42). Illustriert diese singuläre biographische Notiz zunächst die Frömmigkeit und Gesetzestreue der ihrer Wallfahrtspflicht nachkommenden Eltern Jesu (Ex 23,14-17; Dtn 16,16f.; weiteres bei Bill. II, 141 f.), verrät dessen Antwort an Maria den tieferen Grund für seinen Aufenthalt im Tempel (Lk 2,49): Er ist das Haus seines himmlischen Vaters, dem er, der Gottessohn, Gehorsam schuldet (vgl. Lk 19,45f.). Nach den synoptischen Evangelien hat Jesus bis zum Ende seiner knapp einjährigen galiläischen Wirksamkeit (anders zuletzt Herzer 97f.) keine weitere Festreise mehr unternommen. Das Passafest, zu dem er mit den Jüngern nach Judäa aufbricht (Mk 10,1/Mt 19,1; vgl. Lk 9,51), sollte sein Todespassa werden. Indem Markus das Wegmotiv (8,27; 9,33f.; 10,17.32.46.52) mit der Nachfolge- und Passionsthematik (8,31-38; 9,31; 10,1727.28-31.32-34) verknüpft, gestaltet er den Gang nach Jerusalem zu einem christologischen Erkenntnisweg. Erst von -> Kreuz und —> Auferstehung her erschließt sich, wer -•Jesus Christus ist (8,29.31; 16,6). Ihn zu bekennen und ihm nachzufolgen, setzt die Bereitschaft voraus, wie er ins Leiden zu gehen (8,34f. par.; vgl. M t 20,18f. par.; Lk 9,51). An welchem der drei Wallfahrtsfeste sich die Bluttat ereignet hat, auf die Lk 13,1 anspielt - Pontius Pilatus hatte galiläische Pilger während ihrer Opferhandlung im Tempelbezirk ermorden lassen —, muß offen bleiben. Mehr noch als bei den Synoptikern bilden der jüdische Festkalender und die Festreisen Jesu ein konstitutives Element der johanneischen Chronologie (Joh 2,13-3,36; 7 , 1 0 10,42; 12,12-19,42; vgl. 5,1—47). Jesus zieht mindestens zweimal zum Besuch des Passafestes nach Jerusalem (2,13.23; 12,1.12; vgl. 11,55). Anläßlich eines nicht näher bezeichneten Festes - die nur von einer Textvariante gestützte Terminierung auf das Laubhüttenfest ist kaum ursprünglich - ist er wiederum in der Stadt (5,1). Das Laubhüttenfest motiviert aber seinen nächsten Gang nach Jerusalem (7,2.10.14.37), wo er bis zum Tempelweihfest bleibt (10,22). Eine Ausnahme stellt die Festnotiz in 6,4 dar. An dem hier genannten Passa wird Jesu Anwesenheit in Galiläa vorausgesetzt. Die primäre Orientierung des chronologischen Rahmens an den Wallfahrtsfesten erhellt die dramaturgische Funktion des johanneischen Kompositionsprinzips: die Festreisen bringen Jesus an den Ort seiner Gegner. In Jerusalem führen seine öffentliche Verkündigung und Selbstoffenbarung zu immer schärferen Konflikten. Sie beginnen mit der Tempelreinigung (2,1322), provozieren Versuche, ihn umzubringen (5,18; 7,30; 8,40.59; 10,31.39), und münden in den förmlichen Todesbeschluß der jüdischen Autoritäten (11,47-53). Ihre Repräsentanten Hannas und Kaiphas greifen schließlich aktiv in das Gerichtsverfahren gegen Jesus ein (18,13.19-24), dessen irdischer Weg von Anfang an unter dem Zeichen des Kreuzes steht (1,29.36; 3,14; 8,28; 12,32f.; 15,13; 18,31 f.; 19,30 u.ö.). Mit anderen Worten, Jesu Festreisen nach Jerusalem dienen bei Johannes als Interpretament seines kreuzestheologisch akzentuierten Evangeliums (Frey 173-180). Die Apostelgeschichte datiert das Pfingstgeschehen auf ein Wochenfest (2,1.5-11; -•Pfingsten/Pfingstfest/Pfingstpredigt). Der Schauplatz Jerusalem ist für Lukas in zweifacher Hinsicht wichtig. Z u m einen sichert er die heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der mit dem Geistempfang beginnenden Zeit der Kirche. Z u m anderen unterstreicht die Präsenz der „aus jeder N a t i o n " (V. 5) in der Stadt versammelten Festpilger den universalen Horizont dieses Ereignisses (vgl. Lk 24,49; Act 1 , 4 - 8 ) . Denn der vom erhöhten Christus ausgegossene —>Geist (Act 2,33) befähigt und bevollmächtigt zum weltweiten missionarischen Zeugnis (1,8; 20,22-24; vgl. 5,32; 6,10; 8,29 u.ö.). Ebenfalls mit dem Wochenfest begründet Lukas die Eile, zu der Paulus auf der Kollektenreise drängt. Er will Jerusalem rechtzeitig erreichen, um mit seinen Begleitern dort die Festtage verbringen zu können (20,4.16). O b diese später nicht mehr berücksichtigte Zweckangabe (vgl. 21,17-26) Rückschlüsse auf eine im frühen Christentum geläufige Praxis erlaubt, erscheint zweifelhaft.

420 2. Völkerwallfabrt

Wallfahrt/Wallfahrtswesen III zum Ziott

An drei Stellen wird das im Alten Testament und Frühjudentum breit bezeugte und in unterschiedlichen Sachzusammenhängen verwandte Motiv der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion (s.o. II.3.) aufgegriffen. Dies ist zunächst in Mt 8,llf./Lk 13,28f. der Fall, wobei die matthäische Version dem Wortlaut des Q-Logions am nächsten kommt. Doch während die alttestamentlich-jüdische Tradition das eschatologische Geschick der Völker stets in das zukünftige Heilshandeln Gottes an seinem Volk integriert, wechselt Matthäus diese noch vom Referenztext vertretene israelzentrische Perspektive (beachte den Kontext!) und löst das soteriologische Junktim zugunsten der „Vielen" (sc. Heiden) auf. Aus dem ursprünglichen Drohwort gegen die „Söhne der Basileia", d.h. gegen Israel, wird so eine Verheißung für die Völker. In abgewandelter Form begegnet der Topos auch in Rom ll,25b.26. Hatte Paulus zuvor konstatiert, daß die Mehrheit Israels sich der Christusverkündigung verschließt (10,16), weil sie von Gott verstockt worden ist (11,7), gibt er nun den Grund an. Israels gegenwärtiger Unglaube dient einem von Gott gewollten Ziel, der Heilsteilhabe der SOvij. Die Verstockung ist jedoch zeitlich befristet und nur eine Etappe im göttlichen Heilsplan (vgl. 11,12-15). Wenn die „Vollzahl" der Heiden - gemeint ist deren von Gott festgesetzte Zahl - das eschatologische Heil erlangt hat, wird sie beendet und „ganz Israel" gerettet werden. In Hebr 12,22 lassen schon die Leitbegriffe „Berg Zion", „Stadt des lebendigen Gottes" und „himmlisches Jerusalem" motivliche Anleihen vermuten. Nun wird jedoch die Gemeinde des neuen Bundes (12,24) ihres durch Christus verbürgten Heilsstatus versichert, ohne daß sie das Ziel ihrer irdischen Pilgerschaft, den zukünftigen endzeitlichen Ruheort (3,7-4,13; 6,20; 13,13f.; vgl. 9,28; 10,25.37), bereits erreicht hätte. 3. Die Kollekte des Paulus Ein Sonderproblem stellt im Zusammenhang dieser Thematik die paulinische Kollektensammlung dar. Vor allem D. Georgi interpretiert sie als einen eschatologischdemonstrativen Akt, der nur auf dem Hintergrund des Theologumenons von der Völkerwallfahrt verständlich werde. Mit dem Jerusalemer Konventsbeschluß (Gal 2,10) hätten die Beteiligten den Anspruch der dortigen Gemeinde, endzeitlicher „Vorposten" auf dem Zion zu sein, offiziell anerkannt (Georgi 27). Das Überbringen der Kollekte durch eine Delegation unbeschnittener Heiden sei eine symbolische Handlung gewesen, die bei den Juden in der Stadt den Gedanken an die Völkerwallfahrt wachrufen mußte. Jedoch findet sich weder in Rom 15,22ff. noch in II Kor 8f. irgendein Hinweis auf die behauptete eschatologische Dimension der Kollekte. Zudem beabsichtigt Paulus, nach der Ubergabe des Geldes seine missionarische Tätigkeit über Rom hinaus bis nach Spanien auszudehnen (Rom 15,24.28). Allein diese Pläne sprechen entschieden gegen die vorgeschlagene Deutung. Sie wird denn auch zu Recht heute mehrheitlich abgelehnt (Zeller, Juden 279-284; Beckheuer 47-50). Literatur Dale C. Allison, W h o will come from East and West? Observations on Matt. 8 . 1 1 - 1 2 - Luke 1 3 . 2 8 - 2 9 : IBSt 11 (1989) 1 5 8 - 1 7 0 . - B u r k h a r d Beckheuer, Paulus u. Jerusalem. Kollekte u. Mission im theol. Denken des Heidenapostels, 1997 (EHS.T 611). - Siegfried Bergler, Jesus, Bar Kochba u. das messianische Laubhüttenfest: J S J 2 9 (1998) 1 4 3 - 1 9 1 . - Jost Eckert, Die Kollekte des Paulus f. Jerusalem: Kontinuität u. Einheit. FS Franz Mußner, hg. v. Paul-Gerhard Müller/Werner Stenger, Freiburg i.Br. 1981, 6 5 - 8 0 . - Sean Freyne, Jesus, der Pilger: Conc(D) 32 (1996) 3 1 5 - 3 2 1 . - Dieter Georgi, Die Gesch. der Kollekte des Paulus f. Jerusalem, 1965 (ThF 38); 2. Aufl. u.d.T.: Der Armen zu gedenken, Neukirchen-Vluyn 1994. - Erich Gräßer, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes: ders., Aufbruch u. Verheißung. GAufs. zum Hebräerbrief, 1992 ( B Z N W 65) 2 3 1 - 2 5 0 . - Ferdinand Hahn, Das Verständnis der Mission im NT, 1963 2 1965 ( W M A N T 13). Jens Herzer, Synopt. oder johanneische Passionschronologie? Bemerkungen zu einer Tendenz der neueren Forschung: Lucien-Jean Bord/David Hamidovic (Hg.), De Jerusalem à Rome. Mélanges

Wallfahrt/Wallfahrtswesen IV

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offerts a Jean Riaud, Paris 2000, 9 3 - 1 1 3 . - Joachim Jeremias, Jesu Verheißung f. die Völker, 1956 l l 9 5 9 (FDV 1953). - William G. Johnson, T h e Pilgrimage Motif in the Book of Hebrews: J B L 97 (1978) 239 - 251. - Bernhard Kötting, Peregrinatio Religiosa. Wallfahrten in der Antike u. das Pilgerwesen in der alten Kirche, 1950 (FVK 33.34.35). - Jeffrey L. Rubenstein, Sukkot, Eschatology and Zechariah 14: R B 103 (1996) 1 6 1 - 1 9 5 . - James M . Scott, Acts 2 : 9 - 1 1 as an Anticipation of the Mission to the Nations: Jostein Adna/Hans Kvalbein (Hg.), T h e Mission of the Early Church to Jews and Gentiles, 2000 ( W U N T 127) 8 7 - 1 2 3 . - Charles W.F. Smith, Tabernacles in the Fourth Gospel and Mark: N T S 9 (1962) 1 3 0 - 1 4 6 . - Franz-Josef Steinmetz, Jesu erste Wallfahrt nach Jerusalem: GuL 46 (1973) 6 0 - 6 4 . - Peter W.L. Walker, Jesus and the Holy City. N T Perspectives on Jerusalem, Grand Rapids, Mich. 1996. - Dieter Zeller, Das Logion M t 8,11 f/Lk 13,28f u. das Motiv der „Völkerwallfahrt": B Z NF 15 (1971) 2 2 2 - 2 3 7 ; 16 (1972) 8 5 - 9 3 . - Ders., Juden u. Heiden in der Mission des Paulus. Stud, zum Römerbrief, 1973 2 1976 (fzb 8).

Dieter Sänger

IV. Judentum (Literatur S. 423)

Wallfahrt Cliyyä l'rsegxl) stricto sensu ist die zeitlich begrenzte Reise nach -> Jerusalem, sie hat den Vollzug eines Rituals an heiligem Ort zum Ziel. Hingegen hat die Aliyya zwecks Übersiedlung ins Land Israel (->Heiliges Land) zwar häufig eine sehr enge Verbindung zur temporären Wallfahrt, es fehlt ihr jedoch ein spezifisches Ritual. Diese heiligen Orte in Jerusalem sind wegen ihrer göttlichen Erwählung von einzigartiger religiöser und nationaler Bedeutung, sie unterscheiden sich insofern grundlegend von den Propheten- und Heiligengräbern in Israel und von den bloß regional verehrten in der Diaspora (wie z. B. Ezechiel in AI Kifl [ca. 130 km südwestlich von Bagdad] oder Mordechai und Ester in Hamadan und viele andere mehr). Nach der Tempelzerstörung wurde die Wallfahrt nach Jerusalem in Zeiten freien Zutritts zu einem religiösen Brauch einzelner, der, obwohl weder empfohlen noch gar halachisch normiert, nach den eher spärlichen Hinweisen der rabbinischen Literatur vermutlich eine gewisse Verbreitung fand. Die Wallfahrt wurde von -»Gebet und Zeichen der -»Trauer um das zerstörte Heiligtum (-»Tempel) begleitet: dem Einreißen des Obergewandes beim Anblick Jerusalems (yMQ 3,7 [83b/c]) und teilweisem (tNed 1,4) bzw. vollständigem Fasten (yNed 1,1 [36c]). Der anonyme Pilger von Bordeaux berichtet im Jahre 333 von der Salbung des „durchbohrten Steins" ( = des Altarfelsens?) durch Juden am Jahrestag der Tempelzerstörung (9. Av). Auch wenn die frühe arabische Zeit (634-1009) vermutlich ein „Goldenes Zeitalter" der Aliyya war (Grossman 175), so ist von einem Wallfahrtsritual erstmals bei dem palästinischen Gaon Ben Meir II. zu Beginn des 10. Jh. die Rede, das im wesentlichen mit den Schilderungen des palästinischen Gaon Solomon ben Jehuda wie Elija ben Menahems aus der ersten Hälfte des 11. Jh. übereinstimmt. Danach wurden am „Priestertor" am Hosanä'Rabbä'-Fest ( = 7. Tag von Sukkot), dem eigentlichen Termin der Jerusalem-Wallfahrt in früharabischer Zeit, die Wallfahrtsfeierlichkeiten mit einer öffentlichen Zeremonie und einer anschließenden -»Prozession begonnen, die, der früheren individuellen Pilgerroute folgend und begleitet von Gebeten und Litaneien, rings um den Tempelberg durch alle Tempeltore hindurch zum Ölberg führte, näherhin zu dem Stein, wo nach der Tradition die 5ekinä in den Himmel aufstieg (dem „Fußschemel unseres Gottes", I Chr 28,2). Dort erreichten die Zeremonien mit der Umkreisung dieses Steins und der Rezitation von Hosanot, also gleichfalls Litaneien, ihren Höhepunkt. Es war dies ein Gedenkritual an jenen heiligen Orten, an denen die Sekinä bis zu ihrer Himmelfahrt verweilte (PesK 13 [Buber 114b/115a], und vielleicht galten jene Orte im Bewußtsein der Wallfahrer sogar als Wiederverkörperungen des Tempels, so daß die Zeremonien so etwas wie die Fortsetzung des Tempelkults darstellten (Reiner, ^liyyä

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Wallfahrt/Wallfahrtswesen IV

III/IV). Im Unterschied dazu steht im Zentrum des Wallfahrtsrituals der westlichen Pilger nach der Kreuzfahrerzeit (1099—1187) die historisch-kosmische Dimension der Tempelzerstörung. Nunmehr bildete eine variable Reihe von Stationen den bloß lokalen Bezug für eine weltgeschichtliche Deutung des Tempels, seiner Zerstörung und der künftigen Erlösung. Vom Beginn des 13. Jh. an ist das Ritual der Jerusalem-Wallfahrt bestimmt von a) der Trauer um den zerstörten Tempel und b) der Eschatologie, was im Bewußtsein des Pilgers der Spannung zwischen Exil und endzeitlicher Erlösung entsprach. Beiden Komplexen konnten Orte der Pilgerroute zugeordnet werden: 1) der Trauer das DavidsTor im Westen beim Eintritt in die Stadt (Einreißen der Kleider) und die Klagemauer (Gebet und Trauerritual), 2) der endzeitlichen Hoffnung entsprechend dem Weg der S e kinä beim Verlassen des Tempels zunächst die „Gnadentore" ( = heutiges Goldenes Tor), sodann der Gipfel des Ölbergs als Ort ihrer Himmelfahrt (Ez 11,23) und Wiederkunft (Sach 14,4) und, anstatt des Ölbergs, ab Ende des 15. Jh. das Tal Josafat, der Ort des Gerichts über die Völker und der Totenauferstehung (Joel 4,1 f.). Ab dem 14. Jh. wird dann zusätzlich noch das „Tempelhaus Davids" auf dem Zionsberg, wo die Lade bis zum Tempelbau gestanden haben soll, Teil der Pilgerroute wegen der Affinität von Messias und Tempelbau. Vom 13. Jh. an läßt sich unter den Juden des Orients der Besuch von Gräbern biblischer und nachbiblischer Heiliger (saddiqtm) beobachten, womit ältere hagiolatrische Gebräuche (-+Heilige/Heiligen Verehrung II) fortlebten, von denen bereits der Karäer Sahl ben Masliah im 10. Jh. berichtet (Reiner, '"liyyä 273ff.). Sie wurden in enger Verbindung mit der zeitgenössischen islamischen Volksfrömmigkeit zu einer religiösen Praxis, an der sich schließlich auch die Pilger aus dem Westen beteiligten und die im 15. Jh. eine Institutionalisierung in Form einer ritualisierten, öffentlichen Gräberverehrung bzw. Gräberwallfahrt erfuhr mit festgelegter Route und zu bestimmten Festzeiten (zwischen ->Pesach und Schavuot [->Wochenfest]): -»Hebron (Patriarchen) und Jerusalem an Pesach oder Schavuot, Meron (Hillel und Schammai) am 15. Iyyar, Ramah (Samuel) am 28. Iyyar. Die Ankunft der aus Spanien vertriebenen Juden und die Entstehung der Lurianischen Kabbalistenschule in Safed im 16. Jh. gaben dem Gräberkult trotz anhaltender Opposition des Rabbinats zusätzlichen Auftrieb. Da der - » Z o h a r , das bedeutendste kabbalistische Werk des mittelalterlichen Spanien, pseudepigraphisch R. Simon bar Yohay (2. Jh.) zugeschrieben wurde, rückte dessen Grab in Meron in den Mittelpunkt der Verehrung als bevorzugter Ort des Zohar-Studiums, dem dann weitere Funktionen zuwuchsen (Klage über das Exil, Fürbitte um Regen) und der, durch die im 18. Jh. eingewanderten osteuropäischen Chasidim zusätzlich aufgewertet, zum wichtigsten Wallfahrtsort Galiläas aufstieg. Festtag ist der 18. Iyyar (Lag bä'omser). Daran lassen sich wichtige Faktoren für die Genese eines Heiligenkults ablesen: ein bestimmter Mythos (Mystiker, Wunder der Errettung aus der Verfolgung, Quellwunder [bShab 33b]) wird in rituelles Handeln übersetzt und konstituiert in adäquater historischer Situation einen spezifischen Kult, hier den der Kabbalisten und Chasidim. Die Geschichte des RachelKults bei Bethlehem verläuft ca. 400 Jahre später dazu parallel, denn obwohl das Grab Rachels bereits ab dem 12. Jh. als eine Station auf den Pilgerrouten bezeugt ist, entwickelte sich erst ab dem späten 19. Jh. ein spezifischer Kult, indem der Mythos der über das Schicksal ihrer exilierten Kinder weinenden Rachel (Jer 31,15-17) ihr Grab zum Symbol nationaler Identität wie auch zum zentralen Fruchtbarkeits-Schrein für Frauen werden ließ: ihr Tod bei der Geburt Benjamins wurde mit den Leiden des Exils, ihre glücklichen Schwangerschaften mit der nationalen Wiedergeburt assoziiert (Sered 146f.). Seit dem Sechs-Tage-Krieg wurde mit der Westmauer des Tempels ( = Klagemauer), wo nach alter Tradition die S e kinä weilt (EkhaR 1,31), der zentrale Ort der JerusalemWallfahrt wiederum frei zugänglich. Daneben entwickelte sich in Israel die Wallfahrt zu den wichtigsten Heiligengräbern in Hebron (Patriarchen), -»Bethlehem (Rachel), Tiberias (R. Me'ir ba al han-nes) und Meron (Simon bar Yohay) kontinuierlich zu einem

Wallfahrt/Wallfahrtswesen V

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Massenphänomen von recht volkstümlichem Charakter. Es wird vor allem von Juden marokkanischer Herkunft getragen, welche die im Maghreb seit dem 18. Jh. bezeugte Praxis der Heiligenverehrung nach Israel transferierten, wo schließlich neue Zentren der Heiligenverehrung entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, wie z. B. Bäbä Sâ'lî ( = R. Yisrä'el Abûhâsêrâ) in Netivot, R. Hayyîm Huri in Beersheba und die Hillûlôt (Gedenkfeste) zu Ehren des in Marokko bestatteten R. David u-Moshe in Ashkelon und in Safed. Literatur Issachar Ben-Ami, Folk-Veneration o f Saints a m o n g the M o r o c c a n Jews. Tradition, Continuity a n d Change. T h e Case of the Holy M a n , Rabbi David u-Moshe: Studies in Judaism and Islam. FS Shelomo D o v Goitein, Jerusalem 1981, 2 8 3 - 3 4 4 . - Ders., Saint Veneration a m o n g the Jews in M o r o c c o , Detroit, Mich. 1998. - Meir Beniahu, hâ-"liyyâ l'mérôn: Z e v Vilnay's Jubilee Vol., ed. by Ely Schiller, Jerusalem, II 1987, 3 2 6 - 3 3 0 . - Y o r a m Bilu, L a vénération des saints chez les Juifs en Israël: Jean Claude L a s r y / C l a u d e Tapia (Hg.), Les Juifs du Maghreb. Diasporas contemporains, M o n t r e a l 1989. - Joseph Braslavi, "liyyôt regâlîm 'xl har haz-zêtîm batt'qûpâ h â - ' r â b î t . „ H ' d ô m raglê ""lôhênû" w e „sa ar h a k - k ô h e n " sae'ênaennû: Jerusalem T h r o u g h the Ages. T h e Twenty-Fifth Archaeological Convention October 1967, hebräischer Teil, Jerusalem 1968, 1 2 0 - 1 4 4 . - M o s h e Gil, Aliya and Pilgrimage in the Early A r a b Period: T h e Jerusalem Cathedra 3 (1983) 1 6 3 - 1 7 3 . - A v r a h a m Grossman, Aliya in the Seventh and Eighth Centuries: ebd. 1 7 4 - 1 8 7 . - Elchanan Reiner, "liyyä waMiyyä l'raegael l"xrxs yisrä'el, Diss. phil. Jerusalem 1988. - Ders., Concerning the Priest G a t e and Its Location: T a r b . 5 6 ( 1 9 8 6 / 8 7 ) 2 7 9 - 2 9 0 (hebräisch). - Shmuel Safrai, Pilgrimage to Jerusalem after the Destruction o f the Second Temple: Jerusalem in the Second Temple Period. A b r a h a m Schalit M e m o r i a l Vol., Jerusalem 1 9 8 0 , 3 7 6 - 3 9 3 (hebräisch). - Susan Starr Sered, Rachel's T o m b . T h e Development of a Cult: Jewish Studies Quarterly 2 (1995) 1 0 3 - 1 4 8 . - Alex Weingrod, T h e Saint of Beersheba, Albany, N . Y . 1990. - A b r a h a m Yaari, M a s s ä o t 'ieraes yisrä'el s«el 'ôlîm y'hûdîm mîmê hab-bênayim w " a d y'mê sîbat siyyôn, R a m a t Gan 1976.

Felix Böhl

V. Kirchengeschichtlich 1. Z u r historischen Terminologie 2. Spätantike und Frühmittelalter mittelalter 4. Neuzeit (Quellen/Literatur S. 4 2 9 )

1. Zur historischen

3. H o c h - und Spät-

Terminologie

Ein unreflektierter Umgang verschiedener historischer Disziplinen mit dem neuhochdeutschen Begriff Wallfahrt ist in den letzten Jahrzehnten besonders von Seiten der historischen Volkskunde kritisiert worden, ohne daß sich bisher eine allgemein akzeptierte Terminologie auch in Abgrenzung zu den zum Teil zu Wallfahrt synonym gebrauchten Begriffen Pilgerfahrt, Bittgang, ->Prozession etc. durchgesetzt hätte. Der Begriff ist in seinem heutigen Bedeutungsgefüge überwiegend ein Produkt des konfessionellen Zeitalters, in dem die protestantische Sicht die gesamte religiöse Mobilität, die nicht an Predigt und Sakramentsempfang in der heimischen Pfarrkirche gebunden war, als Wallfahrt abqualifizierte, die katholische Konfessionalisierung verschiedenartige ältere Formen religiöser Mobilität in die pfarramtlich beaufsichtige Territorialund Gruppenwallfahrt einschmolz. Im ersten Jahrtausend besaß die Christenheit noch keinen speziellen Begriff, um religiös begründete Mobilität von anderen Formen des Unterwegsseins abzugrenzen. Peregrinus bezeichnete im klassischen Latein entsprechend dem Römischen Recht den Nichtbürger, der nicht dem jus civile, sondern dem jus gentium unterstand. Nach der generellen Ausweitung des römischen Bürgerrechtes meinte er besonders den Aspekt sozialer Fremdheit: der peregrinus ist derjenige, der nicht zu Hause, in seiner Heimat, ist. In diesem Sinn verwendet auch die altkirchliche Literatur den Ausdruck (zuerst Tertullian, Apol. 1,2: CChr.SL 1,85, der die im Himmel beheimatete personifizierte Wahrheit als eine Fremde [peregrina] auf Erden bezeichnet) bis in das Frühmittelalter hinein:

424

Wallfahrt/Wallfahrtswesen V

Peregrinas, longe a patria positus sicut alienígena (Isidor von Sevilla, Etym. X,216: PL 82,390; Peregrinus heißt derjenige, der weit von der Heimat entfernt ist wie ein Ausländer). Eine Bedeutungserweiterung erfuhr der Begriff peregrinatio bzw. dessen griechisches Äquivalent ¿¡evizeia, als er durch die asketischen Bewegungen des 4. Jh. in das Vokabular einer monastisch-spirituellen -»Nachfolge Jesu übernommen wurde. In diesem Sinn ist „peregrinus ein Christ, der, um diese Sehnsucht nach dem Jenseits in sich zu nähren, freiwillig auf alles verzichtet, was ihn auf dieser Erde seßhaft machen könnte" (Leclercq 215), was sowohl im mobilen Asketentum syrischer Provenienz als auch im „seßhaften" Eremitentum der ägyptischen Wüstenväter praktisch vollzogen werden konnte (-> Askese; Mönchtum). Dagegen wurden die seit dem 4. Jh. massiv belegten Palästina-Besuche bei lebenden Heiligen oder an den Gräbern von Märtyrern meist mit unspezifischen Vokabeln wie visitatio ad loca sancta oder als peregrinatio religiosa bezeichnet. Während das benediktinisch bestimmte westliche Mönchtum (—•Benediktusregel) die stabilitas loci als N o r m monastischen Lebens besonders betonte und daher das Ideal der peregrinatio in einem eher spirituellen Sinn verstand, hielt das irische Mönchtum (-» Keltische Kirchen) an der Praxis der peregrinatio als tatsächlichem Verlassen der Heimat und Leben in der Fremde fest. So umfaßt der Ausdruck peregrinatio bis zum 11 ./12 Jh. ein breites Bedeutungsspektrum „als monastisches Lebensideal der asketischen Heimatlosigkeit, als mystisches Bild der Seele in ihrer Gottessuche, aber auch als jedes konkrete Herumreisen aus ehrbaren Gründen" (Berbée, Romfahrt 95). Eine spezifizierende Wallfahrtsterminologie, in der peregrinatio als zielgerichtetes Reisen zu bestimmten Heiligen Orten (-»Heilige Stätten) verstanden wurde, entstand zuerst in der rechtlichen Absicherung des Rombesuches am Ende des ersten Jahrtausends. Die seit der Spätantike sukzessive gewachsene Bedeutung -»Roms als Hort der normativen Traditionen des lateinischen Christentums, als sedes apostólica mit entsprechenden administrativen und gubernalen Funktionen wie auch als memoria der Apostelfürsten, erforderte die logistische Absicherung der Romwege (Schmugge, Anfänge 13-18) und die rechtliche Sicherstellung der Reisenden. Die Rombesucher, seit dem 10. Jh. romei oder romipetae genannt (Plötz 122), wurden zuerst in den Treuga-Bestimmungen der Gottesfriedensbewegung zu Begünstigten des Friedensschutzes (-»Frieden 2.4.) und durch das Reformpapsttum an Leib und Besitz in kirchlichen Schutz genommen (Schmugge, Pilgerfahrt 19-21). Nach dem Vorbild der Romreisenden genossen seit der Wende zum 12. Jh. auch die Jerusalemfahrer, nach den von dort mitgebrachten Palmwedeln palmieri genannt, und die Besucher des heiligen Jacobus in Santiago de Compostela kirchlichen Rechtsschutz. So sah das I. Lateranense (—• Lateransynoden) kirchliche Sanktionen vor für diejenigen, die Romipetas et peregrinos, apostolorum limina et aliorum sanctorum oratoria visitantes (Romreisende, Pilger zu den Apostelgräbern und Besucher von Gebetsstätten anderer Heiliger) beraubten und gefangennahmen (can. 14: Dekrete der ökumenischen Konzilien, übertr. u. hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn/ München, II 3 2000, 193; vgl. auch Conc. Lat. II, can. 11: ebd. 199). Die seit dem Ende des 11. Jh. den gesamten lateinischen Westen erfassende Wallfahrtsbewegung nach Santiago de Compostela identifizierte den Santiagofahrer mit dem peregrinus schlechthin als dem aus religiösen Gründen zielgerichtet und auf beschränkte Zeit Unterwegs-Seienden. Während der Ausdruck peregrinatio mit seinen volkssprachlichen Ableitungen wie dem niederdeutschen pelgrimage zunächst den sogenannten peregrinationes maiores (—»Jerusalem; Santiago de Compostela; Rom) vorbehalten blieb, wurde der Ausdruck peregrinus (Pilgram, Pilger), weil er einen kirchenrechtlich geschützten Status ausdrückte, seit dem 13. Jh. auch von Besuchern räumlich näher gelegener und weniger bedeutender Kirchen benutzt (Berbée, Klärung 71 f.). Bezeichnete man bis zum 14. Jh. die in der Forschungssprache sog. Nah- oder Territorialwallfahrt mit volkssprachlichen Ausdrücken wie dem mittelhochdeutschen wallevart (von wallaere = wandern, reisen) oder dem niederdeutschen bedevart ( = Bittgang), läßt sich seit dem 15. Jh. eine zunehmende

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Unscharfe und Austauschbarkeit lateinischer und volkssprachlicher Ausdrücke beobachten, wobei regionale Differenzierungen zu beobachten sind (Brückner). Diese begriffliche Unschärfe bereitete die im konfessionellen Zeitalter festzustellende Generalisierung der Terminologie vor, die bis heute Forschungs- und Umgangssprache beherrscht. Die gegenwärtige wissenschaftliche Diskussion läßt einen gewissen Rekurs auf die historischen Ursprünge der Begriffe erkennen, so daß die Benutzung des Begriffes Wallfahrt den zielgerichteten Aspekt religiöser Mobilität, mithin den Wallfahrtsort, Pilgerfahrt stärker das Unterwegssein betont. 2. Spätantike

und

Frühmittelalter

Wallfahrt, verstanden als Besuch Heiliger Stätten, läßt sich seit der zweiten Hälfte des 2. Jh. als latente Erscheinung im Zusammenhang der christlichen Märtyrerverehrung (—•Martyrium III; —»Heilige/Heiligenverehrung III) belegen. Der Besuch von Märtyrergräbern in den außerhalb der antiken Stadt gelegenen Coemeterien scheint zunächst eine von Akten privater Devotion getragene Praxis gewesen zu sein, deren lokale Reichweite bis zum Beginn des 4. Jh. auf einen engen Umkreis beschränkt war. Auch die ältesten bekannten christlichen Pilger(?)-Graffiti an den Wänden von San Sebastiano in Rom aus der zweiten Hälfte des 3. Jh., deren Schreiber zum Teil aus Unteritalien und Nordafrika kamen, belegen nicht zweifelsfrei eine überregionale Wallfahrtspraxis im 3. Jh. (Eck 215f.). Die Transformation privater und familiärer Devotion zu spätantiker Wallfahrt hat sich seit der zweiten Hälfte des 4. Jh. durch bischöfliche Förderung und Organisation des Kultes meist im Verbund mit monastischen Gemeinschaften vollzogen. Neben den Memorialbauten über den Gräbern von Märtyrern bildeten lebende Heilige, d.h. asketische Gestalten, die als Geistträger und Wundertäter aufgesucht wurden, ein konstitutives Element des Wallfahrtswesens im 4./5. Jh. Schon die ägyptischen Wüstenväter des 4. Jh. wurden von zahlreichen Rat- und Hilfesuchenden aufgesucht. Die bedeutendste Wallfahrt der Spätantike konzentrierte sich um die Säule des Simeon Stylites d.Ä. in Qal'at Sim an bei Aleppo, die nach seinem Tod (459) von einer monumentalen Wallfahrtskirche überwölbt wurde. Im 5. Jh. besaß jede Provinz des römischen Reiches eigene Wallfahrtszentren, deren Attraktivität sich vor allem auf die jeweilige Region erstreckte und an die sich meist Formen dauernder asketischer Existenz anlagerten (u.a. Uzalis in Nordafrika; Abu Minas in Unterägypten; Tours; Rom; Cimitile bei Nola in Mittelitalien; Ephesus; ->Konstantinopel; —»Edessa). Anders als die Märtyrergräber wurden die späteren loca sancta Palästinas (-»Heiliges Land) vor dem 4. Jh. nicht zum Ziel privater Devotion, obgleich christliche Lokaltraditionen u.a. über die Geburtsgrotte und den Ort der Kreuzigung Jesu existierten. -»Eusebius von Caesarea kannte christliche Besucher Palästinas im 2./3. Jh. (h.e. V , l l , l ; V,27: SC 41,100,129 u.ö.), deren Interesse freilich eher in einem quasi exegetisch-archäologischen Bereich lag. Die nach 326 aus kaiserlichen Mitteln finanzierten und durch den palästinischen Episkopat unter Führung Eusebius' von Caesarea inspirierten Memorialbauten in -»Bethlehem, Jerusalem und -»Hebron standen am Beginn der christlichen Palästinafahrt. Das Onomasticon des Euseb präsentiert bereits eine ausführliche Geographie biblischer Erinnerungsstätten in Palästina und begründet damit eine Vorstufe der Gattung Pilgerführer (u.a. der Breviarius de Hierosolyma aus dem 6. Jh.: CChr.SL 175,107—112). Aus dem Jahr 333 stammt das erste Itinerar eines christlichen Palästinabesuchers (Pilger von Bordeaux: ebd. 1 - 2 6 ) , das aber fast nur Streckenbeschreibungen bietet. Ausführliche Reiseberichte stellen das Itinerar der Etheria um 400 (ebd. 35-103) und des Pilgers von Piacenza um 570 (ebd. 128-174) dar, an denen auch das Wachstum der Sakraltopographie Palästinas abzulesen ist. Neben Pilgerführern und -itinerarien bezeugen Graffiti an Pilgerstätten und von den Besuchern mitgenommene Eulogien, d.h. geweihte Erinnerungsstücke (u.a. gepreßte Tonmedaillen mit einem Stylitenbild aus Qal'at Siman; Ton-

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fläschchen für geweihtes Öl aus Abu Mina; Bleiampullen mit Wasser aus Palästina), die geographische Reichweite des Pilgerverkehrs. Der Zusammenbruch der mediterranen Verkehrsbeziehungen im Frühmittelalter regionalisierte den Besuch Heiliger Orte und machte Fernreisen zur Ausnahme. Eine gewisse Ausnahme bildete Rom, das seit dem 7. Jh. von Angelsachsen und seit dem 8. Jh. auch von Franken orationis causa, um des Gebetes an den Stätten der Heiligen willen, besucht wurde. Reisen aus dem Westen nach dem seit 638 von den Arabern beherrschten Palästina waren singulär und gehörten zum Teil in den Zusammenhang asketischer Existenz, wie die rund 20jährige Pilgerfahrt des späteren Eichstätter Bischofs Willibald (um 700-787/789) im 8. Jh. (MGH.SS 15,86-106). Der Besuch der heiligen Stätten Palästinas durch den gallischen Bischof Arculf um 674 oder 685 in der literarischen Fassung Adomnans von Hy (CChr.SL 175,177- 234) bildete bis zum 12. Jh. die wichtigste Quelle des Wissens um jene loca sancta im Abendland. 3. Hoch- und

Spätmittelalter

Mit der Formierung der lateinischen Christenheit im 11. Jh. war eine Neustrukturierung religiöser Mobilität verbunden, die sich an zwei am äußersten Rande der lateinischen Christenheit gelegenen Orten ausrichtete: dem Grab Christi in Jerusalem und dem Grab des Apostels Jakobus d.Ä. in Santiago de Compostela. Seit dem 11. Jh. werden nach Hunderten zählende Gruppen von Jerusalemreisenden unter der Führung von Bischöfen oder Äbten der Reformbewegung bezeugt (u.a. Gunter von Bamberg gemeinsam mit den Erzbischöfen von Mainz und Trier: MGH.SS in us. schol. 4,66 - 7 0 ; Richard von St. Vanne: MGH.SS ll,287f.; Popo von Stablo: MGH.SS 8,176f.). Als die Reise auf dem Landweg durch Kleinasien nach dem seldschukischen Sieg bei Manzikert (1071) erschwert wurde, wandelte sich die Wallfahrtsbewegung durch den Aufruf Papst —•Urbans II. in Clermont (1095) zur bewaffneten Kreuzzugsbewegung ( - • Kreuzzüge). Die Einnahme Jerusalems durch das Kreuzfahrerheer 1099 und die Gründung des lateinischen Königreichs Jerusalem etablierten erstmals den Begriff der terra sancta (Heiliges Land). Die in den Kreuzzügen vollzogene Verbindung von Heidenkampf und peregrinatio machte die Jerusalemfahrt vornehmlich zur Sache ritterlich-adliger Gruppen. Nach dem endgültigen militärischen Verlust Jerusalems 1244 wurde der Pilgerverkehr in Palästina durch den Franziskanerorden betreut, während der Transport über See nach Jaffa in der Hand venezianischer Reeder lag. Die mit diesem Arrangement verbundenen hohen Kosten beschränkten den Kreis der Jerusalemfahrer auf den höheren Adel und vermögende Patrizier, mit denen aber ein zum Teil zahlreiches Gefolge reiste. Stellte die Jerusalemfahrt eine elitengebundene Form der Wallfahrt dar, so avancierte die Reise zum Grab des heiligen Jakobus d.Ä. seit dem 11. Jh. zu der europäischen Wallfahrt schlechthin, die von allen Gruppen der westlichen Christenheit getragen wurde. Die Verdichtung der spanischen Jakobustradition um 800 und die Auffindung des Jakobusgrabes in der ersten Hälfte des 9. Jh. zielten noch nicht auf eine Wallfahrtsbewegung, sondern waren Vorgänge im Kontext der Konstituierung des asturischen Königreichs im Gegenüber zur arabischen Herrschaft und in Abgrenzung zum fränkischen Reich. Gleichzeitig mit der Zunahme der Jerusalemfahrten im 11. Jh. häuften sich Nachrichten über außerspanische Besucher in Santiago. Eine Reihe von Voraussetzungen bedingten den Erfolg der Santiagofahrt, ohne ihn vollständig zu erklären, so die Sicherung des von den Pyrenäenpässen nach Galicien führenden Jakobsweges durch das Vordringen der spanischen Reconquista, der Ausbau des Weges durch Hospitalgründungen und die Anlage sog. Salvitates, die Propagierung des Santiagobesuches durch den Klosterverband von —»Cluny und die Förderung durch das Reformpapsttum, die unter Calixt II. (1119-1124) mit der Erhebung von Diego Gelmirez (1098/1101 Bischof, 1120/21 Erzbischof, gest. 1140) zum Erzbischof von Santiago ihren Höhepunkt erlebte. Der Liber Sancti Jacobi benennt um 1150 ein Wegesystem, auf dem die Besucher des heiligen Jacob aus ganz Europa durch Frankreich zu den Pyrenäenpässen wanderten: die Via Arelatensis (auch Via To-

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losana oder Egidii), die von St. Gilles zum Somport-Paß führte und sich von St. Gilles nordöstlich in die sog. Oberstraße über Genf nach Einsiedeln bzw. ins Rhonetal fortsetzte, die Via Podiensis, die sich von Notre Dame de Puy über die Kirche der heiligen Fides von Conques nach Roncesvalles erstreckte, die Via Viziliacensis (auch Via S. Leonardi), die von Ste. Madeleine in Vezelay über St. Leonard im Limousin führte und sich in Sorde mit der Via Podiensis und der Via Turonensis, deren Ausgangspunkt Tours war, vereinigte. Die Via Touronensis setzte sich nordöstlich in der sog. Niederstraße über Paris nach Aachen fort und bildete die Reiseroute für Besucher aus Flandern und vom Niederrhein. Im Gefolge der Santiagofahrt gelang es Kirchen an den Transitwegen im 12./13. Jh., eigene überregionale Wallfahrten zu etablieren, so u.a. in Amiens, Chartres, St. Gilles, Le Puy, St. Leonard de Noblat, Noyon, Rocamadour, Saintes. Die Ausgangspunkte der Ober- bzw. Niederstraße, Aachen und Einsiedeln, wurden seit dem 14. Jh. die meistbesuchten Wallfahrtsorte in deutschen Landen. Ebenso wurden im 12. Jh. aus Transitheiligtümern auf den Wegen nach Rom und Jerusalem eigenständige Wallfahrtszentren wie das oberitalienische Lucca und das süditalienische Bari. Die Funktion Roms als Zielpunkt religiös begründeter Mobilität ist allerdings weniger klar zu bestimmen als die Santiagos bzw. Jerusalems. Die jüngere Forschung hat deutlich gemacht, daß eine klar als Wallfahrt abgrenzbare Form des Rombesuchs ohne andersgeartete Haupt- und Nebenabsichten erst nach der Feier des ersten Jubiläums (1300; -»Jubeljahr II) erkennbar wird und ihre methodisch saubere Bestimmung sich frühestens an den Quellen des späten 15. Jh. durchführen läßt (Berbee, Romfahrt). Die im 15./16. Jh. festzustellende Konkurrenz zwischen Fern- und Nahwallfahrten läßt sich zuvor nicht beobachten. Vielmehr bildeten die peregrinationes maiores eine Klammer, durch die lokale Heiligenkulte und regional besuchte Gnadenorte in ein europäisches Verkehrsnetz religiöser Mobilität einbezogen wurden und umgekehrt die Attraktion der großen Wallfahrtszentren durch die Aufwertung der am Wege liegenden Kirchen zunahm. Von den mittelalterlichen Wallfahrten zu unterscheiden sind Bannfahrten, d.h. regelmäßige Kirchen- oder Klosterbesuche von pfarr- oder grundrechtlich abhängigen Gemeinschaften, durch die die rechtlichen Bindungen demonstriert werden sollten, auch wenn diese Bannfahrten in der Neuzeit in die katholisch-konfessionelle Wallfahrtspraxis eingeschmolzen wurden, wie z. B. die sog. Springprozession von Echternach. Seit dem 11. Jh. ist im kanonischen Recht die Bußwallfahrt zu bestimmten Kirchen üblich geworden (Hermann Joseph Schmitz, Die Bussbücher und die Bussdisciplin der Kirche, Mainz 1883 = Graz 1958,153-156), die von der älteren Form der —»Buße durch Exilierung zu unterscheiden ist. Die Bußwallfahrt hat seit dem 14. Jh. in der Sühnewallfahrt des weltlichen Rechtes ihre Entsprechung gefunden, die, meist bei Totschlag verhängt, auf die Versöhnung mit der geschädigten Partei abzielte, wozu das Gebet für den Getöteten bei Fürsprechern am Wallfahrtsort gehörte. Davon zu unterscheiden sind die Strafwallfahrten, zu denen städtische Gerichte bei geringfügigen Delikten verurteilten. Städtische Taxlisten benannten für bestimmte Delikte gleichsam als Ordnungsstrafen Wallfahrtsziele, deren Besuch auch durch eine Geldbuße abgelöst werden konnte (van Herwaarden). Seit dem Ende des 13. Jh. spielten bedeutende Ablässe eine entscheidende Rolle für die Attraktion einer Wallfahrt (—»Ablaß). Im zeitlichen Umfeld der ersten römischen Jubiläen gelang es einer Reihe von Kirchen, ähnliche Ablaßfeiern, zum Teil verbunden mit Heiltumsweisungen, zu propagieren (u.a. Portiuncula bei Assisi; San Marco in Venedig; Einsiedeln; -»Canterbury; Santiago de Compostela; Aachen/Maastricht). Daraus folgte die Konzentration des Wallfahrtsbetriebes auf Hauptkonkurstage, an denen in jährlicher oder mehrjähriger Wiederholung der entsprechende Ablaß zu gewinnen war. Ablaßfälschungen und die in der zweiten Hälfte des 14. Jh. steigende Bereitschaft der römischen Kurie, hohe Indulgenzen zu gewähren, die unter dem Pontifikat Bonifaz' IX. (1389-1404) einen inflationären Höhepunkt erreichte, steigerten die Zahl potentieller

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Wallfahrtsorte stetig. Hinzu trat, daß seit dem 13./14. Jh. neben der Präsenz der Heiligen in Grab und Reliquien auch eucharistischen Wundern (u.a. Bolsena/Orvieto in Umbrien; Gottsbüren in Hessen; Wilsnack in Brandenburg), Gnadenbildern (u.a. Elende/Thüringen; Grimmenthal bei Meiningen; die „Schöne M a r i a " von Regenburg) und lokalen Heiligenerscheinungen (u.a. Langheim/Vierzehnheiligen) kult- und damit unter Umständen wallfahrtsbegründende Qualitäten zugesprochen wurden. Daher ist seit dem Ende des 14. Jh. eine Diffusion der hochmittelalterlichen Wallfahrtsgeographie zu konstatieren, die eine Regionalisierung religiöser Mobilität einleitete. Deutliches Indiz dieser eingeschränkten Mobilität war die Entstehung zahlreicher Sekundärwallfahrten. Von Reformtheologie und -»Humanismus wurden spontan aufbrechende, kurzzeitige Wallfahrtsbewegungen (concursus oder geläuff) zu neu entstehenden, zum Teil (noch) nicht approbierten Gnadenorten oder anscheinend unkontrollierte Massenbewegungen, wie die süddeutschen Kinderwallfahrten zum M o n t Saint Michel 1456-1459 oder das Wilsnacklaufen, kritisiert. 4.

Neuzeit

Die -»Reformation führte durch die Betonung der alleinigen Mittlerrolle Christi und die Konzentration auf die Vermittlung der -»Gnade durch -»Predigt und Sakrament zur Verwerfung jeglicher Wallfahrtspraxis. -»Luther, dessen Ablaßthesen das Wallfahrten nur implizit berührten, predigte 1518 gegen den unkontrollierten concursus des Volkes und das Kirchfahrten (WA 1,422—424), äußerte sich in den Resolutiones aber noch vorsichtig zu den etablierten Fernwallfahrten, ohne sie kategorisch zu verwerfen (WA l,597f.613). In der Adelsschrift 1520 wurde die Abschaffung aller Wallfahrten zum Programm erhoben. Dies betraf gleichermaßen die Romfahrt, als Typus der etablierten Fernwallfahrten, durch die „die einfeltigen menschen ... vorfuret werden in einem falschen wahn und unvorstand gotlicher gebot", weshalb „Solch falsch, vorfurischen glauben der einfeltigen Christen ausztzurotten und widderumb einen rechtenn vorstand gutter werck aufftzurichten solten alle wallefart nydergelegt werden [sollen]" (WA 6,437), wie auch die Fahrten zu den „wilden Capellen und feltkirchen", die „zu poden verstoret" werden sollten (ebd. 447). Das rasche Verschwinden von Gnadenorten und Wallfahrtszügen in den von der Reformation erfaßten Gebieten hatte seine Ursachen nicht nur in spontanen Zerstörungen und obrigkeitlicher Reglementierung durch Visitationen und Kirchenordnungen, sondern vor allem in einer religiös-kulturellen Krise des Wallfahrens nach 1520, die in den altgläubig gebliebenen Territorien ebenso zu konstatieren war. Das Phänomen der Wallfahrten war um 1530 schon so nebensächlich, daß die Confessio Augustana sie ausdrücklich nicht mehr auf die Agenda der zu behandelnden Kontroverspunkte setzte (CA [Beschluß]: BSLK 133,7-134,14). Dennoch bestanden in lutherisch geprägten Gebieten rudimentäre Formen älterer Wallfahrtspraxis bis zum 18. Jh. fort, wie u.a. am Beispiel dänischer Brunnenkulte gezeigt wurde (August F. Schmidt, Danmarks Helligkilder, Kopenhagen 1926). Auch blieben in gemischtkonfessionellen Gebieten ältere Wallfahrtstraditionen lebendig. Nach der Krise des Wallfahrtswesens in der ersten Hälfte des 16. Jh. erlebte die Wallfahrt im nachtridentinischen Katholizismus eine Renaissance in Form der bischöflich oder pfarramtlich beaufsichtigten Nahwallfahrten. Die katholische Konfessionalisierung reaktivierte ältere Gnadenorte zum Teil mit marianischer Neuinterpretation (-»Maria/ Marienfrömmigkeit) des örtlichen Kultes (u.a. Andechs bei München) und schuf neue marianische Wallfahrtszentren (u.a. Kevelaer). Die Territorialisierung der Wallfahrt fand ihren Ausdruck in der Bindung von Territorium und Herrscherhaus an bestimmte marianische Wallfahrtszentren (u.a. Altötting; Scherpenhoevel; Maria Zell; der Jasna Göra in Tschenstochau). Die Wallfahrtspraxis wurde so im 16./17. Jh. ein wesentliches Element der katholischen praxis pietatis und stellte im Prozeß der Konfessionalisierung ein identitätsbildendes Differenzkriterium im Gegenüber zur protestantischen Konfes-

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sion dar. Den charakteristischen Typus des barocken marianischen Wallfahrtheiligtums bildeten die an Loretto orientierten Casa Sancta-Kopien. Die entstehenden kleinräumigen Kultlandschaften, in katholischer Sicht als terrae sanctae apostrophiert, wurden in der Atlas-Marianus-Literatur des 17. Jh. zu einem Bild des Maria geweihten orbis christianus zusammengeschmolzen, der sich bis in die Missionsgebiete der Neuen Welt erstreckte (Santa Maria de Guadelupe in Mexiko). Als einzige der mittelalterlichen Fernwallfahrten erlebte auch die Romfahrt in Gestalt der von Filippo —»Neri inspirierten prozessionalen Sieben-Kirchen-Fahrt eine Renaissance. Im 18. Jh. gerieten die Wallfahrten durch katholische -»-Aufklärung und -* Josephinismus in ihre schwerste Krise. Das aufklärerische Konstrukt einer „-•Volksfrömmigkeit", die von dem rational-ethischen Wesen des Christentums zu unterscheiden sei, führte, verbunden mit utilitaristischen Argumenten, zu einer staatlich sanktionierten Reduktion des Wallfahrtswesens bis hin zu den Wallfahrtsverboten Kaiser Josephs II. (reg. 1765-1790; in Österreich Mitregent bis 1780) von 1775/76. Im Gegensatz zur historischen Tendenz des 18. Jh. ist das 19. Jh. gemessen an der Quantität der „Pilger" das große Jahrhundert der Wallfahrten gewesen. Grundlegend für diese Entwicklung war die Etablierung des modernen Verkehrswesens, verbunden mit der Wiederentdeckung der vorgeblich vormodernen „Volksreligion" durch die romantische Bewegung (-»Romantik). Paradigmatisch war die Trierer Heilig Rock Wallfahrt von 1844 mit ca. 500.000 Besuchern, die als größte Massenbewegung des deutschen -»Vormärz zugleich eine Demonstration des Katholischen gegen -»Liberalismus und preußisch-protestantischen Nationalismus darstellte. Nach der Definition der Unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 (DH 2800-2804) entstanden stark frequentierte Wallfahrtszentren durch Marienerscheinungen, so 1858 im südfranzösischen Lourdes, 1916 im portugiesischen Fatima und seit 1981 im kroatischen Medjugorje. Verstärkten bereits die beiden Weltkriege bestehende Wallfahrtsbewegungen, so hat der moderne Massentourismus zu einer Ausweitung und einem Strukturwandel der Wallfahrten beigetragen, durch den alte Wallfahrtsziele (u.a. Santiago) neu entdeckt wurden und traditionale Formen wie die Fußwallfahrten sich neuerdings wachsender Popularität erfreuen. Die gegenwärtig frequentiertesten Wallfahrtsziele sind Guadelupe in Mexico mit jährlich ca. 14 Millionen Besuchern, San Giovanni Rotondo (Sterbeort des Padre Pio) in Süditalien mit ca. 7 Millionen Besuchern sowie Lourdes, Assisi, Tschenstochau, Santiago de Compostela und Fatima mit je etwa 5 Millionen Besuchern. Damit ist Wallfahrt nicht allein ein historisches Phänomen, sondern immer noch eine der signifikantesten Formen öffentlich gelebter Religion, deren Attraktion die Bindungen an Konfessionen oder Kirchenzugehörigkeiten gegenwärtig zu überwinden scheint. Quellen Codex Calixtinus de la Catedral de Santiago de Compostela. Ejemplar facsimil, hg. v. Millän Bravo Lozano, Madrid 1993; dt. Teilübers.: Libellus Sancti Jacobi. Ausz. aus dem Jakobsbuch des 12. Jh., hg. v. Klaus Herbers, Tübingen 1996. - Descriptiones Terrae Sanctae ex saeculo VIII., IX., XII. et XV., hg. v. Titus Tobler, Leipzig 1874. - Eusebius, Werke. III/l. Das biblische Onomastikon der biblischen Ortsnamen, Leipzig 1904 [GCS 11/1] = Hildesheim 1966. - Timothy Gabashvili, Pilgrimage to Mount Athos, Constantinople and Jerusalem, transl. and annotated by Mzia Ebanoidze/John Wilkinson, Richmond, Surrey 2001 (Caucasus World. Georgian Studies on the Holy Land). - Itineraria et alia Geographica, I/II1965 (CChr.SL 175/176); dt. Teilübers.: Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Hl. Land. Die ältesten Berichte christl. Palästinapilger ( 4 . - 7 . Jh.), Stuttgart 1979. - Itinera Hierosolymitana et descriptiones Terrae Sanctae bellis sacris anteriora et Latina lingua exarata, hg. v. Auguste M.L. Molinier/Titus Tobler, Genf, I 1879 II 1885 (Publications de la Societe de l'Orient latin, Ser. geographique). - Jerusalem Pilgrimage 1099-1185, ed. by John Wilkinson with Joyce Hill/William Francis Ryan, London 1988. - Palaestinae descriptiones ex saeculo IV., V. et VI., hg. v. Titus Tobler, St. Gallen 1869.

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Wallfahrt/Wallfahrtswesen V

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Hartmut Kühne

Wallfahrt VI

431

VI. Praktisch-theologisch 1. Gesamtspektrum 2. Religiöse und außerreligiöse Motive 4. Neue Formen 5. Wiederaufleben der Wallfahrt (Literatur S. 4 3 4 )

1.

3.

Wallfahrtsseelsorge

Gesamtspektrum

Als Besonderheit der Wallfahrt in praktisch-theologischer Perspektive ist herauszustellen, daß beim Wallfahrtsphänomen mit der Koexistenz der unterschiedlichen Schichten zu rechnen ist, der geschichtlichen, psychologischen, soziologischen, religiösen, „volksfrommen" und auch magischen. Dabei können längst überwunden geglaubte Motive wieder aufleben. Dies zeigt sich z. B. in der gegenwärtigen Entstehung lokaler Wallfahrten in Mitteleuropa aufgrund von mitunter dubiosen, von der kirchlichen Autorität nicht selten beargwöhnten Erscheinungen und Privatoffenbarungen. Andererseits gibt es Anzeichen für eine neue Kategorie moderner Wallfahrt, die zugleich ökumenisch konsensfähig ist. Hierzu kann man eine Reihe von Aktionen im Bereich der Friedens- und Ökologiebewegung zählen, vor allem aber die -»Kirchentage als „vor-läufige Kirche" (Schroeter). Die Motive für die Teilnahme an solchen „Wallfahrten" sind vielfältig wie eh und je, das Religiöse war nie exklusiv, oft nicht einmal ausschlaggebend. Der Übergang zum modernen Tourismus ist denn auch fließend. 2. Religiöse und außerreligiöse

Motive

Dennoch weisen Wallfahrtsforscher darauf hin, daß recht verstandene christliche Wallfahrt im Kern immer religiös empfunden wurde als „ein Gesamt-Geschehen, das die Situation des Menschen innerweltlich und religiös symbolhaft doch real abbildet und zeitlich-räumlich verkürzt deutlich macht" (Baumer/Heim 37). Wallfahrt ist also ein „Handlungsspiel" (Baumer), in dem der menschliche Lebensweg innerhalb eines christlichen Sinnhorizonts zeichenhaft zur Darstellung kommt. Dies muß zu den außerreligiösen Motivationen nicht im Widerspruch stehen, im Gegenteil: Wallfahrt ist dann wirkungsvoll, wenn sie ihre integrative Kraft entfalten kann. Ortswechsel, Erfahrung des Miteinanders, Elemente des Festes (-»Feste und Feiertage) und der Ausgelassenheit verbinden sich spätestens seit dem Barock mit den streng religiösen Formen wie -»Gebet, -»Beichte und Teilnahme am -»Gottesdienst. Die außerreligiöse Motivation kann dabei positiv aufgegriffen werden: die Chance der Wallfahrt liegt gerade darin, daß sie in menschlicher Sehnsucht nach Aufbruch und zielgerichteter Bewegung oder einfach im Bedürfnis nach „Tapetenwechsel" ansetzt. Im scheinbar Banalen wie dem Aufsuchen einer wohlbekannten Wallfahrtsstätte kann sich existentielles Suchen erfüllen: „Der Aufbruch des Menschen zu einem letzten Sinn ist zugleich Aufbruch zu konkreten Gestalten, in denen dieser Sinn anschaubar, berührbar sich uns darbietet" (Hemmerle 8). Die Wallfahrt wurde und wird neben ihrer individuellen Motivation auch als Ausdruck der Kirche als pilgerndes Gottesvolk verstanden, ein von der -»Römisch-katholischen Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum I und II) favorisiertes Kirchenbild (Kirchenkonstitution Lumen gentium Art. 9). Damit ist eine zweifache Gemeinschaft ausgesagt, die die Kirche konstituiert: Gemeinschaft mit Christus, dem Haupt, und Gemeinschaft der „Weggefährten" untereinander. Die christliche Wallfahrt soll diese doppelte Gemeinschaft erfahrbar machen, sie vertiefen oder gar neu stiften. Aus dem Bild des pilgernden Gottesvolks ist zu folgern, daß eine recht verstandene Wallfahrt immer ins Zentrum führt, auch wenn ein Heiliger (z. B. Maria oder Jakobus) und nicht Christus das Thema der Wallfahrt bildet. Faktisch geriet das Zentrum in der Geschichte jedoch oft aus dem Blick, weshalb Wallfahrtskritik nicht erst seit der Reformation an der Tagesordnung ist. Durch kirchliche Reglementierung des Wallfahrtswesens, z. B. in der Zeit der -»Aufklärung, suchte man den Mißbräuchen zu begegnen. So wurde das Programm am Wallfahrtsort mit Prozessionen, Andachten, Beichte und Feier der Eucharistie mit Teilnahme an der Kommunion strukturiert. Diesem Anliegen

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Wallfahrt VI

sollte auch das Ablaßwesen dienen, dessen Plausibilität trotz neuer Begründungsversuche etwa im „Heiligen Jahr" 2000 schwer zu vermitteln ist. Ähnliches gilt für Praktiken der Bilder- und Reliquienverehrung (-»Bilder; —»Reliquien/ReliquienVerehrung). Im Unterschied zur hierarchischen Organisation am Wallfahrtsort ist der Weg neuzeitlicher Kurzwallfahrten durch das Bruderschaftswesen laikal organisiert. Zwischen den Eckpunkten der Entlassung aus der Heimatgemeinde mit Pilgersegen, Ankunft, Aufenthalt und Verabschiedung am Wallfahrtsort sowie dem Empfang der Rückkehrenden in der Heimatgemeinde gibt es einen relativen Freiraum, der allerdings durch Konventionen geregelt ist. Diese betreffen z. B. die Prozessionsordnung, die Rhythmisierung des Weges durch Gebete (Rosenkranz, Litaneien, Lieder) und Erholungspausen. Besondere Beachtung verdienen die Wallfahrtslieder, von denen die in zahlreichen Varianten überlieferte und bis heute gebräuchliche Kreuzfahrerleise in gotes narrten fara wir aufgrund der je nach Konfession unterschiedlichen Ausdeutung der Wegmetapher wohl das bedeutendste ist. Konventionen bestimmen auch das Brauchtum am Wallfahrtsort wie das „Opfern" und Anzünden von Kerzen und die Geldkollekte, schließlich die vielfältigen, nicht selten fragwürdigen Wallfahrtsandenken. Immerhin ist das Wallfahrtswesen in der Tradition der Römisch-katholischen Kirche eine vergleichsweise demokratische Einrichtung. 3. Wallfahrtsseelsorge Besondere Bedeutung kommt der Wallfahrtsseelsorge zu, die sich nicht auf das Geschehen am Wallfahrtsort beschränken sollte, sondern auch den Kontakt zu den —•Bruderschaften und Gruppen vor Ort außerhalb der eigentlichen Wallfahrtszeit einschließt. Durch den regelmäßigen Besuch der Wallfahrtsseelsorger in den Pfarrgemeinden sowie Angebote im Bereich der Kinder- und Jugendpastoral, der Erwachsenenbildung und des geistlichen Lebens konnte z. B. die traditionelle rheinische Matthiaswallfahrt zu dem in der Trierer Benediktinerabtei St. Matthias verehrten Grab in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. intensiviert und ausgeweitet werden. Am Wallfahrtsort sollten einerseits die Angebote individueller Seelsorge (Räume der Stille, Gesprächsangebot, Beichte) gestärkt, andererseits alte und neue Formen der Liturgie und gemeinschaftlicher religiöser Praxis gepflegt werden. Dazu gehört wesentlich die qualitätvolle Predigt, die die Brücke zwischen traditionellen Andachtsformen und heutiger Lebenserfahrung zu schlagen hat. Neben den klassischen Feier-Formen wie Eucharistiefeier, Andacht (bestehend aus Betrachtungen, Litaneien, geprägten Gebeten und Liedern, traditionell mit dem eucharistischen Segen abgeschlossen) bieten sich neue bzw. wiederentdeckte Formen an (Taufgedächtnis, gemeinsames Stundengebet, Meditationen, Glaubensgespräch evtl. unter Einbeziehung eines Films, eines Musikstückes oder Kunstwerkes, Elemente der Jugendliturgie). Von besonderer Bedeutung sind Symbolhandlungen, die an Wallfahrtsorten Tradition haben, so Licht- und Wasserbrauchtum. Solche mitunter problematischen Praktiken sind nicht selten unbeholfener Ausdruck echter religiöser Suche und können durchaus auf ihren biblischen Wurzelgrund zurückbezogen werden. Die privaten Intentionen sollten dabei in gemeinschaftliche Formen des Gedenkens eingebettet werden (Einschreiben in Anliegenbücher und Fürbittengottesdienste statt des anonymen Bestellens von Meßstipendien, Lichterprozessionen als Ergänzung des individuellen „Kerzenopfers", Büß- und Dankgottesdienste). An vielen Wallfahrtsorten spielt die Kreuzwegandacht eine große Rolle, die selbst eine Art Wallfahrt in der Wallfahrt darstellt (—•Passionsfrömmigkeit 5.2.4.). Hier bieten sich Möglichkeiten für eine organische Verbindung traditioneller Frömmigkeit mit aktuellen Anliegen. Dies gilt nicht nur für die liturgischen Formen, sondern auch für die künstlerische Gestaltung, der große Bedeutung zukommt. Wallfahrtsfrömmigkeit ist immer auf Anschaulichkeit hin angelegt, was sich allein schon in den unzähligen Varianten des -»Kitsch zeigt. Das Schauen gehört wie bei der Prozession (Feibecker) zum Wesen des Pilgerns seit ältester Zeit. Anschauung des Wallfahrtsbildes ist Ziel jeder traditionellen Wallfahrt. Eine künstlerisch verantwortete Gestaltung der Wallfahrtskirche und des ganzen Wallfahrtsbereichs (z. B. in Heimbach/

Wallfahrt VI

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Eifel) ist nicht eine nur ästhetische, sondern eine seelsorgliche Aufgabe. Eine der Inkunabeln des modernen Kirchenbaus, „Unsere Liebe Frau auf der H ö h e " in R o n c h a m p von Le Corbusier (1955), ist eine Wallfahrtskirche. G r o ß e Bedeutung k o m m t auch der Kirchenmusik an Wallfahrtsorten zu. Die traditionellen Votiv- oder Devotionsgaben werden heute zuweilen ersetzt durch diakonische Z u w e n d u n g zu den Armen und Kranken (z.B. Lourdes). Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen der Wallfahrt auf die Ortsgemeinde stark frequentierter Wallfahrtsorte, die möglicherweise unter der Inflation der Wallfahrtsveranstaltungen, dem ständigen Glockenläuten und den vielen Prozessionen zu leiden hat. Hier besteht die Aufgabe, eine Kultur der Gastfreundschaft zu pflegen. 4. Neue

Formen

Die ekklesiale Dimension der Wallfahrt ist in jüngerer Zeit in den Hintergrund getreten, von Ausnahmen wie etwa Heiligsprechungen, Weltjugendtreffen usw. abgesehen. Diese werden oft durch bestimmte Gruppen mit starker Identität getragen. Daneben gewinnen andere Formen privatreligiöser bis säkularer Wallfahrt an Gewicht: die Wallf a h r t zu Museen und Ausstellungen, zu Messen und Sportereignissen, zu Events der Pop- und Medienkultur. Dies m u ß nicht als Konkurrenz angesehen, sondern kann auch als Chance neuer Evangelisierung genutzt werden. In der evangelischen wie der katholischen Kirche hat man dies teilweise erkannt und in neue Konzepte der City-Pastoral, der Touristen- und Wallfahrtsseelsorge eingebracht. Insbesondere die Wiederentdeckung des sakralen R a u m s spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Hier gibt es neue Formen des Raumerlebens, angefangen von Kirchenführungen (Kirchenpädagogik) bis hin zu Kunstwanderungen mit der Kombination von moderner Kunst und alten Kirchenräumen (Münster), Parallelveranstaltungen zur D o c u m e n t a (Kassel), multimediale ökumenische Ereignisse wie die N a c h t der offenen Kirchen (Aachen) oder kirchenmusikalische Akzente wie die N a c h t der Romanischen Kirchen (Köln). Dabei gehen religiöse und außerreligiöse P h ä n o m e n e im Kontext des Gesamtereignisses eine Synthese ein. Z u nennen sind auch Massenveranstaltungen wie Gartenschauen oder die E x p o 2000 in H a n n o v e r , auf denen Kirche mitunter auf eine neue Weise präsent ist. 5. Wiederaufleben

der

Wallfahrt

Es lassen sich mehrere Tendenzen des Wiederauflebens der Wallfahrt feststellen: Z u m einen gewinnen traditionelle Wege und Ziele neue Attraktivität. Dies gilt f ü r die klassischen Wallfahrten nach ->Jerusalem und —»Rom, wobei hier die Grenzen zum Tourismus fließend sind. Überraschend groß w a r die Beteiligung an der in unregelmäßigen Abständen stattfindenden Heilig-Rock-Wallfahrt nach —»Trier 1996, die zudem ökumenische Akzente setzte. Insbesondere hat die Jakobuswallfahrt nach Santiago di C o m postela in den letzten Jahrzehnten konfessionsübergreifend einen ungeahnten Aufschwung mit zahlreichen Facetten genommen. Neben den erwähnten religiösen und touristischen Motiven spielen hier legendarische, mythische und sogar magische Elemente eine Rolle. Auch der in den letzten Jahrzehnten weithin totgesagte Reliquienkult lebt in alter und neuer F o r m wieder auf. Neben den klassischen Wallfahrten gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg eine große Z a h l neuer Wallfahrtsformen u n d -ziele. Dies können Gemeinschaften sein wie die von Taize oder von S. Egidio in R o m , die ihrerseits wieder neue Zentren in verschiedenen Ländern gebildet haben. Neben den aus der Antike bekannten Wallfahrten zu lebenden Personen sind die zu neuen O r t e n des Gedenkens zu nennen (z. B. Auschwitz, Yad Vashem), welche nicht selten zu Stätten interkultureller und interreligiöser Begegnung geworden sind. Über die alten und neuen Formen von im Ansatz noch religiös motivierter Wallfahrt hinaus deutet vieles darauf hin, d a ß das Christentum in einer durch Mobilität und Ausdifferenzierung sozialer Milieus geprägten Gesellschaft neue Chancen hat, wenn es d o r t präsent ist, wohin die Menschen gehen. Dies war eine wichtige E r f a h r u n g mit dem Kirchenpavillon auf der E x p o 2000. Ähnliches

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gilt für die im Fußballstadion des F C Schalke in Gelsenkirchen künstlerisch anspruchsvoll eingerichtete ökumenische Kapelle, die eine O a s e der Stille und Selbstfindung inmitten der lauten Institution des M a s s e n s p o r t s bildet. Auch die erwähnten Kirchentage geben R a u m für solche Erfahrungen. Der Aachener Katholikentag 1 9 8 6 hatte d u r c h seine Verbindung mit der althergebrachten Heiligtumsfahrt eine Prägung als Wallfahrtskatholikentag mit traditionellen und innovativen Elementen. Prozessionen und Stationsgänge prägen die Kirchentage beider Konfessionen. Diese sind in ihrer Gesamtanlage als Wallfahrten zu interpretieren, insofern sie Ziel, Wandel und Wende zugleich darstellen. Die Stadt der Veranstaltung selbst wird - analog der mittelalterlichen Stadt mit ihren Klöstern und Stiftskirchen - für einige T a g e zu einer Art Wallfahrtstopographie. Dies gilt a u c h für den ö k u m e n i s c h e n Kirchentag 2 0 0 3 in Berlin. Anscheinend erlebt die Wallfahrt in ökumenischer F o r m (z. B. Taizé: Pilgerweg der Versöhnung, Friedenswallfahrt 2 0 0 0 , europäische ökumenische Pilgerwege) eine Renaissance. D a m i t scheint ihre trennende Funktion in der Reformationszeit weitgehend überwunden und ihre die Zeiten überdauernde integrative Kraft erwiesen. Literatur Vgl. auch den Art. -»Prozession. Hansjörg Auf der Maur, Feste u. Gedenktage der Heiligen: ders./Philipp Harnoncourt, Feiern im Rhythmus der Zeit, Regensburg, II/l 1994 (GdK 6/1). - Bibliogr. "Wallfahrt. Bedevaart - Pèlerinage - Wallfahrt. Maas-Rijn, Rhin-Meuse, Rhein-Maas, hg. vom Landschaftsverband Rheinland, Amt f. Rheinische Landeskunde Bonn, Köln 1982. - Iso Baumer, Wallfahrt als Handlungsspiel. Ein Beitr. zum Verständnis rel. Handelns, 1977 (EHS R. 19, 12). - Ders./Walter Heim, Wallfahrt heute, Freiburg i.Ue. 1978. - H. Bausinger u.a. (Hg.), Reisekultur, München 1992. - Roland Breitenbach, Werkbuch Wallfahrt. 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Walther von der Vogelweide

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Albert Gerhards

Walther von der Vogelweide 1. Leben

2. Werk und Wirkung

(Ausgaben/Literatur S . 4 3 8 )

1. Leben Seine Ausbildung erhält Walther ab etwa 1185 am Babenbergerhof: ze Österriche lernt ich singen unde sagen (32,14) nennt er als Grund dafür, daß er Leopold VI. (reg. 1198-1230) um Schutz bittet. Die Bindung an diesen trotz persönlicher Unstimmigkeiten läßt schließen, daß er in dessen Herrschaftsbereich auch geboren wurde, nicht in Franken oder Würzburg; die Zuweisung nach Südtirol ist ein Irrtum des 19. Jh. Walther beginnt mit Minneliedern im Stil vor allem Reinmars von Hagenau (gest. um 1210). Über die Schulbildung Walthers wissen wir nichts; er ist mit der Schulrhetorik vertraut und hat theologische Kenntnisse, die aber nicht so speziell sind, daß sie klerikale Ausbildung beweisen; selbst falls er die (von Magister Petrus von Wien geleitete) Schule besucht hätte, bedingt das keine Ausbildung zum Kleriker. Nach dem Tode Herzog Friedrichs I. (April 1198) wechselt Walther in den Dienst des staufischen Thronkandidaten Philipp (der früheste datierbare politische Spruch Walthers nimmt darauf Bezug) und an andere Höfe, kehrt aber öfters nach Wien zurück. Reinmar ist fortan, vielleicht schon früher, schärfster Konkurrent; äußerlich wohl um Engagements, literarisch um eine Neukonzeption der Minnedichtung (-> Minne). Reinmar kennt vielfältige Themen, doch gestaltet er oft ein „Sänger-Ich", das eine höchst tugendhafte, unerreichbare Dame ohne Hoffnung auf Eihörung verehrt und dessen Stolz ist, daß „niemand sein Leid so schön tragen kann" wie er, der das Leid sublimierend dichtet und dadurch die Gesellschaft erfreut. Walthcr setzt dagegen ein Ideal wechselseitiger Liebe und lehnt im „Preislied" (56,14) die Übernahme literarischer Moden aus Frankreich ab (trotzdem gestaltet auch Walther romanische Vorbilder). Zum künstlerischen Antagonismus kommt eine persönliche Feindschaft aus uns unbekanntem Grund. Walthers Nachruf auf Reinmar zeigt, trotz künstl;rischer Hochschätzung, den Tod des Gegners überdauernden Haß. Zwischen den Wienaufenthalten weilte Walther an anderen Fürstenhöfen; als Gründe für Gönnerwechsel nennt er in „Scheltstrophen" nicht erhaltenes Honorar bzw. Streitigkeiten mit der Hofgesellschaft. Er erwähnt Bindungen an: Herzog Friedrich I. und Leopold VI. von Österreich und dessen Onkel Heinrich von Mödling, König Philipp, Wolfger von Elia (Bischof von Passau, ab 1204 Patriarch von Aquileia), Landgraf Hermann von Thüringen, Graf Dieter II. von Katzenellenbogen, Markgraf Dietrich von Meißen, Herzog Bernhard von Kärnten, Kaiser Otto IV., Kaiser -»Friedrich II. und Erzbischof Engelbert von Köln. Über den Aufenthalt in Thüringen erfahren wir auch von -*'Wolfram von Eschenbach, der Walthers Schwierigkeiten, sich dort durchzusetzen, bespöttelt. Anklänge an Themen des Thüringers Heinrich von Morungen (um 1158-1222) kann man durch Begegnung dort erklären, oder Walther lernte schon früher Lieder Morungens

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kennen. Der Kontakt zu Bischof Wolfger wird auch außerliterarisch faßbar: auf dessen Reise im Herbst 1203 von Passau nach Wien vermerkt die Reiserechnung zum 12. November, als sich das Gefolge des Bischofs in Zeiselmauer (zwischen Tulln und Klosterneuburg) aufhielt, Walthero cantori de vogelweide 5 solidos longos pro pellicio. Diskutiert wird: 1) die Bedeutung von cantor im Kontext (es kann für den gebildeten musicus artificialis oder den ungebildeten joculator stehen); 2) ob die Angabe „Pelzmantel" real oder symbolisch ist (das Datum ist nach Martini); 3) für welche Leistungen in welchem Zeitraum er das Honorar erhielt, und ob für künstlerische Darbietungen oder für Botenbzw. Gesandtendienste (Ausgaben des Bischofs für Fahrende sind sonst viel niedriger); 4) ob es zufällig ist, daß auch das Nibelungenlied Zeiselmauer erwähnt, und 5) warum Wolfger mit nur wenigen Begleitern nach Wien weiterreiste. Unmöglich ist, daß es zur Hochzeit Leopolds VI. gewesen sei, die zwischen Mitte 1203 und 1204 stattfand: der Bischof wäre bei dieser doch mit zahlreichem Gefolge in Wien aufgetreten; auch ist die Anwesenheit von Passauer Bischöfen bei keiner Hochzeit in Wien bezeugt. Waithers Beziehungen zum Reich beginnen mit Parteinahme für Philipp von Schwaben (um 1176-1208), schon vor dessen Krönung. Nach Philipps Tod und Ottos IV. Krönung zum römischen Kaiser finden wir Walther sofort als Propagandist für Otto, wobei unklar ist, ob er den Seitenwechsel rasch vollzog oder Kritik an Philipp schon 1204 eine Abkehr zeigt. In den Sprüchen für Otto ist nicht eindeutig, ob sie in dessen Interesse oder als Fürbitte vor Otto für Fürsten, die die Staufer unterstützt hatten, zu verstehen sind; insbesondere für Hermann von Thüringen. Ebensowenig weiß man, wann er von der weifischen zur staufischen Partei zurückwechselte: Walther stand später auf Seiten Friedrichs II., von dem er ein Lehen erhielt, von dem wir weder wissen wo (Würzburg?), noch Wert noch Zweck (Wohnsitz? Einkünfte aus Verpachtung?). Die letzten datierbaren Gedichte Walthers sind vom Herbst 1227. Eine Kreuzzugsteilnahme Walthers könnte sich im Palästinalied spiegeln, das dann auf 1228 zu datieren wäre ( - • Kreuzzüge); doch ist das „Ich", das die heiligen Stätten erblickt, kaum autobiographisch. Als Ort seines Grabes gilt seit 1354 Würzburg. 2. Werk und

Wirkung

Erhalten sind ca. 80 Lieder und ca. 100 Spruchstrophen in um oder nach 1300 entstandenen Sammelhandschriften. Die Gedichte sind im Original titellos, Referenz ist die Seiten- und Zeilenzahl des Beginns in der 1. Ausgabe von Lachmann (z.B.: 32,14). Walther-Zitate bei Ulrich von Liechtenstein (um 1200—1275) und in der Handschrift der Carmina Burana (ca. 1230—1250) weichen wenig vom Wortlaut der Handschriften um 1300 ab, die gute alte Vorlagen suchten; die Überlieferungsfehler sind wohl großenteils durch unsorgfältige Kopie schon zu Lebzeiten entstanden. Die Handschriften geben also die Werke Walthers wider, wie die Zeitgenossen sie rezipierten; Konjekturen sind zum Verständnis der Lieder und zur Rekonstruktion des Originaltextes nur selten hilfreich. Geändert wurde jedoch oft die Strophenfolge, bzw. wurden von den Sammlern unterschiedliche Strophen eines Liedes ausgewählt (in der Aufführung trug man von einem Lied oft wenige Strophen vor); auch kann Waither je nach Vortragssituation einzelne Strophen ausgetauscht haben, so daß sich nicht alle Strophen eines Liedes zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen lassen. Eine Strophenfolge, die uns mehr befriedigt als die (unterschiedlichen) der Handschriften, rekonstruierte H. Paul für das Lied von der „Traumliebe" Nemet frouwe disen kränz (74,20). So scheint es uns künstlerisch vollkommen; ob man das als Indiz dafür nehmen darf, daß es im Original so gelautet habe, ist strittig. M a n gliedert formal in „Lieder", „(Sang-)sprüche" und den „Leich". Vor allem Walthers Altersdichtung steht aber zwischen Lied und Spruch; thematisch sagt sie der Minnelyrik ab und verbindet religiöse und politische Lyrik. Viele seiner Minnelieder enthalten ein poetologisches Element, zeigen seine Ansicht über richtiges Dichten und gesellschaftliches Verhalten, stehen in der Haltung also den Sprüchen nahe. Programma-

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tische Lieder der „Hohen Minne" sind nach Ansicht vieler das Preislied (56,14) und die Lieder der Fehde mit Reinmar. Die Forschungsmeinung, daß die Dame in Liedern der „Hohen Minne" von adeligem Stand und für den Sänger unerreichbar sei, während in pastorellenartigen „Mädchenliedern" ein einfaches Mädchen den Ritter erhöre, ist so nicht aufrechtzuerhalten. Schon im frühen Minnesang konnte eine adelige Dame auftreten, die einem nicht mit ihr verheirateten Ritter Liebe gewährt bzw. sich nach ihm sehnt. Auch bedeutet Armut des Mädchens nicht gleichzeitig mangelnde Ritterbürtigkeit. Doch gibt es Parallelen zwischen „Mädchenliedern" Waithers und Pastorellen, z. B. zwischen dem Lied JJnder der linden (39,11) und einer in den Carmina Burana überlieferten, in der ein Mädchen seine Defloration durch einen Fahrenden unter einer Linde am Wegrand schildert. Daß sich in den „Mädchenliedern" kein deutlicher Hinweis auf den Stand des Mädchens findet, ist kaum zufällig, heißt aber nicht, daß diese Lieder in einem gesellschaftsfreien Raum anzusiedeln seien. Im Rahmen der politisch-religiösen Dichtung zeigt der wertneutrale Gebrauch des Wortes pfaffen Walthers Verhältnis zum Klerus; er teilt sie in rehte und unrehte (10,22f.) und kritisiert sie nicht generell. Für die Wirren in Deutschland macht er den Papst und den italienischen Klerus verantwortlich, der die falsche Partei unterstütze, um die Schwäche des Kaisertums auszunutzen. Außenstehenden die Schuld zu geben, war für Walther, der Gönner in Deutschland in beiden Lagern suchte, verlockend und konnte auch Landesfürsten gefallen, denen die Entscheidung zwischen Staufern und Weifen schwer fiel. Höhepunkte antipäpstlicher Propaganda sind: zur Zeit des Dienstes für Philipp, vor der Krönung im September 1198, der Zweite Reichsspruch. In ihm klagt ein Klausner über das durch den „zu jungen" Papst (—»Innocenz III. war schon 37/38 Jahre alt!) verschuldete Unglück der Christenheit heftig; diese Figur, die in mancher Hinsicht für Waither steht, zitiert er bei späteren Anlässen; ein ähnlicher Klausner findet sich in Wolframs Parzival. Unter Otto IV. folgen Sprüche, in denen er Innocenz mit Judas vergleicht und der avaritia, superbia und luxuria zeiht; er schilt auch Fürsten, die dem Papst folgen und von Otto abfallen. Publikumswirksam unterstellt er, die in Deutschland gesammelten Gelder würden nicht dem geplanten Kreuzzug zu gute kommen, sondern dem Ausbau des Laterans für das 4. Laterankonzil (-»Lateransynoden). Unter Friedrich II. ruft er in der Elegie (der Name ist unpassend) die Ritter auf, deren „Ding" der Kreuzzug sei. Der Hintergrund: -»Gregor IX. hatte erklärt, zum Kreuzzugsaufruf sei nur der Papst berechtigt; er bestimme den Zeitpunkt; der Kaiser habe diesem Gebot Folge zu leisten. Friedrich II. gerierte sich jedoch als Leiter des Kreuzzuges und schob den Termin hinaus (am Ende krankheitshalber), was ihm den Bann eintrug, und befahl dann von sich aus den Aufbruch. Die Kreuzzugsdichtung Walthers ist nicht immer einem bestimmten Kreuzzug zuzuordnen, da die Argumente toposhaft sind, besonders im Kreuzlied (76,22). Auch in ihm zeigt sich pro-kaiserliche Tendenz: der Krieg gilt nur den Heiden, nicht auch den Juden, die im Gegensatz zu jenen die Gewalt des Kaisers anerkennen (77,19). Ferner erwähnt er nicht die von der Kirche angesprochenen privilegia, sondern die militärische Leitung, die Aufgabe des Kaisers. Die Kritik durch Thomasin von Zerclaere (um 1185/86 - um 1235), Walther habe ,,Tausend[e] betört, das Gebot Gottes und des Papstes zu brechen" (Thomasin, Der Welsche Gast V. 11223ff.), bezeugt den Widerhall, den die Sprüche fanden, nicht aber, daß sie entscheidend für die Ritter gewesen wären, dem Kaiser zu folgen. Walthers religiöse Einstellung zeigt das Gebet 22,3: die Anrede an Gott als „Vater" verpflichtet, die anderen.Menschen als Brüder zu betrachten; das Totengebein von Herr und Knecht ist ununterscheidbar. Christen, Juden und Heiden sind Geschöpfe Gottes; er konzediert den anderen sogar, daß auch sie ihm dienen. Andernorts (35,34f.) gesteht er Menschen aller Hautfarben die Möglichkeit zu nobilitas animi zu (ähnlich Wolfram von Eschenbach). Der Humanitätsgedanke der -»Aufklärung geht von denselben Prämissen aus, doch Waither läßt Gott den Christen Rechte auf das -»Heilige Land zusprechen, die Juden und Heiden nicht besitzen; er ruft zum Kreuzzug auf. Das Motiv

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der Gleichheit im -»-Tod ist in Büß- und Einkehrliteratur häufig; sie wendet sich an den Adel und widerspricht nicht der Ansicht, daß Gott bestimmte, wer Herr und wer Knecht sein solle. Daß Walther und Wolfram Gott wie einen irdischen Dienstherrn gestalten, fromme Einsiedler positiver zeichnen als den gebildeten Klerus und theologische Probleme vereinfachen konnten, wird oft „Laienfrömmigkeit" genannt. Eine Sonderstellung in Walthers Œuvre hat der Leich. So heißt eine lyrische Großform, ähnlich der Sequenz in paarige Versikel gegliedert, aber freier gebaut. Es wurde auch die Meinung vertreten, es handle sich um eine Sequenz, und die formalen Unregelmäßigkeiten (unpaarige Versikel) seien durch Störungen in der Überlieferung bedingt. Von Waithers Leich sind zwei Fassungen überliefert; zumindest eine hat starke Eingriffe erlitten. Mehr Zusammenhänge mit lateinischen Mariensequenzen zeigt die Version, die anscheinend dem Original ferner steht, während die formal strengere erst nach dem Preis der Dreifaltigkeit auf Maria übergeht. Datierbare politische Anspielungen fehlen; daß er das Christentum krank darniederliegen läßt, weil es nicht die richtige Lehre von Rom zu trinken bekommt, ist unter Philipp, Otto und Friedrich II. denkbar. Der Vorwurf der -»-Simonie weist auf gegen 1215, ist aber auch zu anderen Zeiten möglich und daher nicht beweisend. Die —•Trinität nennt er theologisch korrekt Vater, Sohn und den von diesen ausgesandten Geist, der mit seiner Feuchtigkeit das Herz labt, entsprechend Joh 7,37ff.; Maria zeichnet er als Himmelskönigin und Fürsprecherin korrekt, ausgenommen: der ir ze kinde wol behaget dürfte Maria nicht von Jesus sagen, sie ergibt sich in den Willen Gottes (Lk 1,38); Jesus dürfte sagen, daß sie ihm zur Mutter behagt (weil sie ohne Erbsünde empfangen wurde). Antiklerikal ist, daß Walther nur —»Reue als Voraussetzung für die -»Vergebung der Sünden nennt; Bekenntnis und -»Buße, die des Priesters bedürfen, fehlen. Ausgaben Walther v. der Vogelweide, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1827 21843; neu bearb. v. Christoph Cormeau/Thomas Bein/Horst Brunner, Berlin "1996. - Walther v. der Vogelweide, Die gesamte Überlieferung der Texte u. Melodien, hg. v. Horst Brunner u.a., Göppingen 1977 (Litterae 7).

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Warneck

439

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Hermann Reichert Warneck, Gustav 1. Leben

(1834-1910)

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 4 4 1 )

1. Leben Gustav Adolf Warneck wurde am 6. März 1834 als ältester Sohn eines Nadlermeisters in Naumburg geboren. Er arbeitete zunächst in der Werkstatt des Vaters. Als eine geplante Kaufmannslehre in Leipzig nicht zustande kam, ging er unter großen finanziellen Schwierigkeiten mit 16 Jahren an das Gymnasium (Latina in Halle), und legte nach nur fünf Jahren 1855 das Abitur ab. Im selben Jahr nahm er das Studium der Theologie an der Universität -* Halle auf, wo er besonders von der Erweckungstheologie F.A. —•Tholucks geprägt wurde. Mit M. —>Kahler verband ihn eine Studienfreundschaft. 1858 legte er sein theologisches Examen ab und verbrachte zwei Kandidatenjahre als Hauslehrer in Elberfeld, wo er auch in engen Kontakt mit der westdeutschen -»Gemeinschaftsbewegung kam. Nachdem er 1860 sein zweites theologisches Examen bestanden und danach für einige Zeit in Elberfeld das städtische Waisenhaus geleitet hatte, wurde er 1862 Hilfsprediger in Roitzsch bei Bitterfeld und 1863 Pfarrer in Dommitzsch bei Torgau. 1871 wurde er in -»Jena an der Philosophischen Fakultät promoviert. Sein damit verbundener Wunsch, in ein Lehrerseminar berufen zu werden, verwirklichte sich nicht. Von 1871 bis 1874 war er im Dienste der Rheinischen Missionsgesellschaft theologischer Lehrer am Missionshaus in Barmen und Reiseprediger. In dieser Zeit, die ihn erstmals näher mit der organisierten Missionsarbeit vertraut machte, begann sein publizistisches Engagement für die -»Mission, und er gründete im Jahre 1874 die Allgemeine Missionszeitschrift. Im selben Jahr kehrte er aus gesundheitlichen Gründen und wegen Unstimmigkeiten mit Friedrich Fabri (1824—1891), dem Direktor der Rheinischen Missionsgesellschaft, in den Pfarrdienst zurück und übernahm eine Pfarrstelle in Rothenschirmbach bei Eisleben, die er bis zu seiner Pensionierung innehatte. Im Jahre 1875 unternahm Warneck seine einzige Auslandsreise nach Brighton zu den Heiligungsversammlungen von Robert Pearsall Smith (1827-1898). 1879 rief er in Halle die Missionskonferenz für die Provinz Sachsen ins Leben („Hallesche Missionskonferenz"), und 1883 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Halle verliehen. Mit dem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand im Jahre 1896 zog Warneck nach Halle und wurde am 23. Dezember desselben Jahres zum ordentlichen Honorarprofessor für Missionswissenschaft an der Halleschen Theologischen Fakultät ernannt. Warneck hatte damit die erste Professur für -»Missionswissenschaft in Deutschland inne. 1908 stellte er aufgrund zunehmender Altersbeschwerden seine Lehrtätigkeit ein. Zwei Jahre später, am 26. Dezember 1910, starb Warneck in Halle. 2. Werk Das Lebenswerk von Warneck stand ganz im Zeichen der Förderung der christlichen Mission und ihrer theologischen Begleitung. Obwohl er kein Befürworter einer Kolonialmission war und für die Unabhängigkeit der Mission von kolonialen Behörden eintrat, sah er es als Chance an, daß durch den deutschen Kolonialismus die Mission „hoffähig" gemacht wurde und eine breitere gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfuhr. Vor diesem Hintergrund trat Warneck erfolgreich dafür ein, die Mission aus ihrer „Aschenbrödelstellung" herauszuholen, um sie im Zentrum von Kirche und Theologie zu verankern.

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Warneck

Als wichtigstes öffentliches Podium, um dieses Ziel zu erreichen, diente ihm die Allgemeine Missionszeitschrift... für geschichtliche und theoretische Missionskunde, die in Deutschland zum führenden und tonangebenden Organ der protestantischen Missionskreise werden sollte. Ein weiteres sehr erfolgreiches Mittel, die Kirchengremien und -gemeinden für die Missionsarbeit zu interessieren, waren die Missionskonferenzen, die nach dem Vorbild der Halleschen Missionskonferenz in vielen Landeskirchen entstanden. Warneck legte seine theologischen und missionswissenschaftlichen Überlegungen in zahlreichen Publikationen (ca. 50 Bücher und Broschüren, 380 Aufsätze und Artikel) nieder. Sein Hauptwerk ist die fünfbändige Evangelische Missionslehre (1892-1903), in der er eine systematische Überblicksdarstellung über die christliche Mission in Theorie und Praxis vornimmt. Die Theologie Warnecks, der sich selbst als Pietist und Vertreter eines „Bibelglaubens alter Schule" verstand, zeichnet sich nicht durch Originalität oder Kohärenz aus, sondern vielmehr durch den Versuch, zwischen unterschiedlichen theologischen Strömungen zu vermitteln, um eine gemeinsame Basis für die Missionsarbeit zu schaffen. Charakteristisch dafür ist seine Beschreibung der Missionsaufgabe: Diese nimmt zwar bei der Einzelbekehrung ihren Ausgangspunkt; hieran muß sich jedoch eine intensive „Volkschristianisierung" anschließen, in deren Ergebnis das „gesamte Volksleben" christlich beeinflußt wird. Ziel der Mission sind nach Warneck selbständige „Volkskirchen" mit einem „volkstümlichen Gepräge". Der auf Vermittlung orientierte Ansatz Warnecks führt nicht selten zu beträchtlichen theologischen Spannungen und Widersprüchen. So spricht er im ersten Band seiner Missionslehre aus systematisch-theologischer Perspektive davon, daß die -»Kirche den Sendungsauftrag hat, daß „Missionsdienst" auch „Kirchendienst" ist und nur die missionierende Kirche eine lebendige Kirche sei. Überdies hätten die Pastoren der Kirche ein geistliches -»Amt, das das Missionsamt in sich miteinschließe und sie deshalb zur missionarischen Tätigkeit verpflichte. Auf der anderen Seite lehnt er im zweiten Band desselben Werkes unter praktisch-aktuellen Gesichtspunkten jegliche Integration der freien -•Missionsgesellschaften in kirchliche Strukturen ab. Er begründet dies einmal mit dem „heiligen Recht" des „geschichtlichen Gewordenseins" und weist darauf hin, daß es kirchliche Organe gäbe, die jenseits der eigentlichen kirchlichen Körperschaften existieren. Die Territorialkirchen seien nicht die echte und wahre Gestalt der Kirche, sondern „gewordene Kirchenverbände". Deshalb hätten die freien Gesellschaften auch ein eigenes Sendungs- und Ordinationsrecht. Er tritt jedoch zugleich dafür ein, daß die Gesellschaften aus praktischen Gründen ihre Ordinationsrechte für Missionare an die Landeskirchen abtreten. Dieses widersprüchliche theologische Lavieren läßt sich nur vor dem Hintergrund einer Doppelstrategie erklären: Warneck versucht einerseits die freien Gesellschaften in ihrem Recht zu belassen, andererseits aber auch die offiziellen Kirchen möglichst weitgehend an der Missionsaufgabe zu beteiligen. Obwohl in der Regel auf Ausgleich bedacht, suchte Warneck, wo es ihm nötig schien, durchaus die theologische Konfrontation. So äußerte er harte Kritik an A.v. -»Harnacks Theorien zur Mission der frühen Christenheit, führte eine Kontroverse mit E. —»Troeltsch über das rechte Verständnis der Missionsaufgabe und lehnte vehement den angelsächsischen Missionsenthusiasmus ab, der unter der Losung „Evangelisation der Welt in dieser Generation" (J.R. -»Mott) zur Missionsarbeit aufrief. 3.

Wirkung

Warneck hatte einen Kreis von Gleichgesinnten und Schülern um sich versammelt (Theodor Christlieb [1833-1889]; Franz Michael Zahn [1833-1900]; Reinhold Grundemann [1836-1924]; August Schreiber [1839-1903]; Charles Buchner [1842-1907]; T. Oehler; Carl Mirbt [1860-1929]; Julius Richter [1862-1940] und sein Sohn Johannes Warneck [1867-1944]), die großen Anteil daran hatten, daß sein theologischer Ansatz

Warneck

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die Missionswissenschaft bis in die 1930er Jahre maßgeblich bestimmte. Entscheidende Impulse durch Warnecks Werk erhielt auch Joseph Schmidlin ( 1 8 7 6 - 1 9 4 4 ) , der Pionier der katholischen Missionswissenschaft. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg wurde Warneck vor allem dafür kritisiert, theologischer Wegbereiter einer am Volkstumsgedanken (-»Volk) orientierten Ekklesiologie gewesen zu sein, die die deutsche Missionspraxis in den 1930er und 1940er Jahren geprägt hatte und die nun in geistige Nähe zur nationalsozialistischen Volkstumsideologie gerückt wurde (Dürr; Hoekendijk). Vor diesem Hintergrund kam es in Deutschland in den 1940er und 1950er Jahren unter dem Einfluß der —»Dialektischen Theologie zu einer grundlegenden missionstheologischen Neuorientierung, die engen Anschluß an die ökumenische Bewegung (-»Ökumene) suchte und in der Warnecks theologischer Ansatz praktisch keine aktuelle Rolle mehr spielte. Seitdem geht das Interesse der Missionswissenschaft am Werk Warnecks, bis auf geringe Ausnahmen (Kasdorf), über das rein historische kaum hinaus. Quellen 1. Bibliographien: Emil Strümpfei, Verz. der schriftstellerischen Arbeiten v. Prof. D. Warneck: AMZ 38 (1911) 231-236.275-287. - Werner Raupp, Art. Warneck, Gustav: BBKL 13 (1998) 3 5 9 371. 2. Hauptwerke: Die gegenseitigen Beziehungen zw. der modernen Mission u. Cultur, Halle 1879. - Abriß einer Gesch. der prot. Missionen, Leipzig 1882 Berlin 101913. - Prot. Beleuchtung der röm. Angriffe auf die ev. Heidenmission, 2 Bde., Gütersloh 1884-1885. - Die Mission in der Schule. Ein Hb. f. den Lehrer, Gütersloh 1887 151913. - Ev. Missionslehre. Ein missionstheoretischer Versuch, 5 Bde., Gotha, I 1892 21897 II 1894 21897 III/l 1897 21902 III/2 1900 21905 III/3 1902. Das Bürgerrecht der Mission im Organismus der theol. Wiss. Antrittsvorl. an der Univ. HalleWittenberg, Halle 1897. Literatur Johannes Aagaard, Mission - Konfession - Kirche, 2 Bde., Lund 1967. - AMZ. - Heinrich Balz, Gewährenlassen, Eingreifen, Anknüpfen. Ernst Troeltsch u. Gustav Warneck in der Auseinandersetzung über Religionen u. Mission 1906-1908: BThZ 13 (1996) 159-183. - Ulrich Berner, Religionsgesch. u. Mission. Zur Kontroverse zw. Ernst Troeltsch u. Gustav Warneck: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse, hg. v. Volker Drehsen/Walter Spam, Berlin 1996, 103116. - Peter Beyerhaus, Die Selbständigkeit der jungen Kirchen als missionarisches Problem, 1956 (SMU 1). - Johannes Dürr, Sendende u. werdende Kirche in der Missionstheol. Gustav Warnecks, Basel 1947. - Es begann in Halle... Missionswiss. v. Gustav Warneck bis heute, hg. v. Dieter Becker/Andreas Feldtkeller, 1997 (MWF NF 5). - Joachim Franke, Ausbreitungsmotive in der dt. ev. Missionstheol. bei Gustav Warneck, Martin Kahler, Ernst Troeltsch, Diss.theol. Halle 1962. - Hans-Werner Gensichen, Evangelisieren u. Zivilisieren: ZMR 67 (1983) 2 5 7 - 269. - Ders., Christentum, Mission u. Kultur: EvMis 1984, 5 7 - 7 3 . - Johannes Christiaan Hoekendijk, Kerk en volk in de Duitse zendingswetenschap, Amsterdam 1948; dt.: Kirche u. Volk in der dt. Missionswiss., München 1967. - Martin Kähler/Johannes Warneck, D. Gustav Warneck 1834-1910, Berlin 1911. - Hans Kasdorf, Gustav Warnecks missiologisches Erbe, Gießen/Basel 1990. - Pierre Lefebvre, L'influence de Gustav Warneck sur la théologie missionnaire catholique: NZM 12 (1956) 288-294. - Carl Mirbt, Art. Warneck, Gustav: RE 3 24 (1913) 625-632. - Gerhard Rosenkranz, Missionswiss.: EMZ 25 (1986) 185 - 2 0 0 . - Horst Rzepkowski, Gustav Warneck u. die Anfänge der prot. Missionswiss.: VSVD 37 (1996) 391-400. - Hans Schärer, Die Begründung der Mission in der kath. u. ev. Missionswiss., 1944 (ThSt[B] 16). - Thomas Schirrmacher, Theodor Christlieb u. seine Missionstheol., Wuppertal 1985. - Seppo A. Teinonen, Warneck-tutkielmia, Helsinki 1959. - Werner Ustorf, Die Missionsmethode Franz Michael Zahns u. der Aufbau kirchl. Strukturen in Westafrika, Erlangen 1989. - Ders., Antiamerikanismus in der dt. Missionswiss.: ZMiss 15 (1989) 212-222. Michael Bergunder

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Weber

Waschungen, Rituelle -»-Reinheit

Weber, Max 1. Leben

(1864-1920) 2. Werk und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 446)

1. Leben Max Weber, am 21. April 1864 in Erfurt geboren, immatrikulierte sich 1882 in -»Heidelberg für Rechtswissenschaft, ging 1884 nach —»Berlin, wo er 1889 mit einer Arbeit über die Handelsgesellschaften der italienischen Städte promovierte. 1892 folgte seine Habilitation über Die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. 1893 wurde Weber auf eine Professur für Nationalökonomie nach -»Freiburg im Breisgau berufen, 1896 auf einen gleichnamigen Lehrstuhl nach Heidelberg, wo er bis 1918 lebte, aus Gesundheitsgründen seit 1903 ohne Hochschullehrerpflichten. Unter dem Eindruck des zu frühen Todes ihres Mannes, der am 14. Juni 1920 in München starb, schuf Marianne Weber eine Biographie ihres Mannes, in der sie es verstand, „ein Bild vom heroischen Kampf ihres Mannes um seine geistige Gesundheit und intellektuelle Kreativität zu zeichnen und mit einer Familiensaga zu verbinden, die von Generationskonflikten, Zerwürfnissen zwischen Mann und Frau, Krankheit und Tod handelt. Der Leser verfolgt ein Drama, in dem ein stolzer Held steil aufsteigt und tief abstürzt, aber dank des bedingungslosen Beistands der Heldin seine Geisteskraft und seine politischen Energien zurückgewinnt" (Roth 563). 2. Werk und

Wirkung

2.1. Die Macht der Religionsgeschichte

in der

Moderne

1904/05 veröffentlichte Weber in zwei Teilen seine bekannteste Schrift Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, die er 1920 aus Anlaß ihrer Aufnahme in die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie noch einmal überarbeitete. Webers These, daß das Arbeitsethos der modernen Kultur aus dem Calvinismus (-»Reformierte Kirchen) zu erklären sei, verdankte sich keiner Nähe zur Theologie. Es waren ökonomische Fragen, die Weber zu seiner Behauptung gebracht haben. Dabei hat Weber den „protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums" nicht selber entdeckt, sondern setzt ihn voraus (Weber, Ethik 1). Strittig aber war, wie dieser Sachverhalt zu erklären ist. W. Sombart hat die Schwierigkeit so beschrieben: „Daß der Protestantismus, zumal in seinen Spielarten des Calvinismus und Quäkertums, die Entwicklung des Kapitalismus wesentlich gefördert hat, ist eine zu bekannte Thatsache, als daß sie des weiteren begründet zu werden brauchte. Wenn jedoch jemand . . . einwenden wollte: die protestantischen Religionssysteme seien zunächst vielmehr Wirkung als Ursache des modern-kapitalistischen Geistes, so wird man ihm schwer die Irrtümlichkeit seiner Auffassung darthun können, es sei denn mit Hilfe eines empirischen Nachweises konkret-historischer Zusammenhänge" (Sombart 380f.). Diesen Nachweis hat Weber zwei Jahre später zu liefern versucht. Ausgangspunkt war seine Annahme, daß der heraufziehende -»Kapitalismus der Unterstützung einer Gesinnung bedurfte, um seinen mächtigsten Gegner niederzuringen: den Traditionalismus. Wie dieser wirtschaftlich wirkte, hat Weber am Beispiel von Akkordlöhnen illustriert. Ihre Heraufsetzung bewirke auffallend oft, daß der Arbeiter nicht mehr arbeite, sondern gegen alle Erwartung weniger. Mehrverdienst reize weniger als die Minderarbeit. Das zeige, daß der Mensch „von Natur" nicht mehr Geld verdienen möchte, sondern einfach nur so leben, wie er es gewohnt ist. „Überall, wo der Kapitalismus sein Werk der Steigerung der Produktivität' der menschlichen Arbeit durch Steigerung ihrer Intensität begann, stieß er auf den unendlich zähen Widerstand dieses Leitmotivs präkapitalistischer wirtschaftlicher Arbeit" (Weber, Ethik 20).

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Weber hatte für einen derartigen Beitrag der Religion zur modernen Kultur ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte vor Augen. Sein Heidelberger Kollege, der Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek (1851-1911), hatte 1895 nachgewiesen, daß die modernen -•Menschenrechte nicht aus dem Naturrechtsdenken der -»Aufklärung hervorgegangen seien, sondern aus dem Umkreis der -»Reformation. Es seien religiöse Nonkonformisten des 17. Jh. gewesen, die sich als erste und unabhängig von der Aufklärung für das fundamentale Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit eingesetzt und es in staatlichen Verfassungen verbrieft hätten. Weber nahm etwas ähnliches für den Bereich der Wirtschaft an. Wirtschaftliches Handeln bedürfe - wie alles soziale Handeln - einer Sinngebung, die ihm „ a d ä q u a t " ist (ebd. 24). Übrigens bestanden auch andere deutsche Sozialwissenschaftler darauf, daß Aufstieg und Funktion moderner Institutionen nicht ohne Berücksichtigung der Ideen der Handelnden untersucht werden können. Zur soziologischen Betrachtung sollte eine kulturwissenschaftliche treten, die auch die -»Religionsgeschichte einbezieht, wie umgekehrt auch die Religionsgeschichte unter dieser Perspektive zu einem speziellen Segment einer gegenwartsbezogenen Kulturwissenschaft wurde (Lenger 128f.). Weber isolierte in der Protestantischen Ethik eine methodische Lebensführung, die genetisch vom Kapitalismus unabhängig war, so wie es Sombart verlangte, die ihm jedoch adäquat war. Es war Webers herausragender wissenschaftlicher Spürsinn, entsprechende Quellen gefunden zu haben: englische puritanische Erbauungsschriften aus der zweiten Hälfte des 17. Jh. Diese Schriften, aus der seelsorgerischen Praxis hervorgegangen, hämmerten dem Gläubigen ein, er könne sein Heil nicht durch —»Sakramente erlangen. Es sei Gottes alleiniger und unerforschlicher Wille, wen er zum Heil erwähle und wen nicht. Angesichts dieser Ungewißheit solle und könne er nichts anderes tun, als unbeirrt im Alltag seiner Pflicht nachzugehen und auf jeden Genuß beruflichen Erfolges zu verzichten. Die theologische Prädestinationslehre (-»Prädestination) habe psychologisch eine innerweltliche -»Askese motiviert, die den Gütererwerb von den Hemmungen einer traditionalistischen Ethik entlastete, zugleich aber den Konsum einschnürte (Weber, Ethik 145). Auch wenn die Prediger dies nicht beabsichtigt hatten, konnte ihre Theologie bei Laien eine Lebensführung etablieren, die im Verein mit anderen, nicht weniger wichtigen Faktoren die kapitalistische Wirtschaftsordnung stabilisierte. Die Macht, die den universalhistorischen Sonderfall einer Sprengung des Traditionalismus verursacht hatte, war demnach eine Wirtschaftsgesinnung, die aus der Umorientierung katholisch-außerweltlicher Askese in eine protestantisch-innerweltliche hervorgegangen war. Mit dieser Herleitung eines konstitutiven Elements des modernen Kapitalismus aus der Religionsgeschichte wollte Weber auch zeigen, wie „,Ideen' in der Geschichte wirksam werden" (ebd. 50). Unüberhörbar ist Webers Auseinandersetzung mit einem Fortschrittsglauben und dem historischen -»Materialismus. Webers These wurde nach 1905 intensiv erörtert. Nicht alle seine Behauptungen fanden ungeteilt Zustimmung. So haben einige Historiker eingewendet, daß Weber puritanische Schriften aus einer Epoche verwendet habe, in der viele Puritaner sich von der Politik enttäuscht auf die Erfüllung ihrer beruflichen Aufgaben zurückgezogen hätten (Lehmann 19f.). Der von Weber beschriebene Puritanismus sei keineswegs für alle seine Erscheinungsformen typisch. Bedenken weckte auch, daß die Behauptung, der Calvinismus habe bei seinen Anhängern einen Aktivismus frei gesetzt, das Luthertum jedoch umgekehrt einen -»Quietismus gefördert, aus dem Arsenal konfessioneller Polemiken des 19. Jh. stammte (Graf). Gegen Webers These sind in den auf 1905 folgenden Jahren noch andere Einwände erhoben worden. Als Weber die Debatte 1910 mit einem Schlußwort von seiner Seite beenden wollte, tat er es aber in dem Bewußtsein, daß seine These bei aller Modifikation, die er anzubringen bereit war, der scharfen Kritik stand gehalten habe („Antikritisches Schlußwort zum ,Geist des Kapitalismus'": Winckelmann 2 8 3 345). Bald nach Ende der Diskussion machte M a x Weber sich daran, die These „ihrer Isoliertheit zu entkleiden und in die Gesamtheit der Kulturentwicklung hineinzustellen"

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(Weber, Ethik 203). Er begann, das Verhältnis der großen Weltreligionen Konfuzianismus (-»•Chinesische Religionen), -»Hinduismus, -»Buddhismus, -»Islam, -»Christentum sowie -»Judentum zur Wirtschaftsethik (—• Wirtschaft/Wirtschaftsethik) zu untersuchen. Lag nicht die Vermutung sehr nahe, daß nicht allein der Protestantismus, sondern auch die anderen großen Religionen von bestimmten Klassen getragen wurden und diese auch ihrerseits deren praktische Lebensführungen legitimierten? In der Verfolgung dieser Möglichkeit setzte er sich intensiv mit Fragen der Religionssystematik auseinander. 2.2.

Religionssystematik

2.2.1. Religion und Wirtschaft. Mitten in seiner Erörterung von ,,Stände[n], Klassen und Religion" im Abschnitt „Religiöse Gemeinschaften" von 'Wirtschaft und Gesellschaft nahm Weber eine schlagwortartige Zuordnung der „sog. Weltreligionen" zu sozialen Schichten vor: des Konfuzianismus zu Bürokraten, des Hinduismus zu weltordnenden Magiern, des Buddhismus zu weltdurchwandernden Bettelmönchen, des Islams zu weltunterwerfenden Kriegern, des Judentums zu wandernden Händlern, des Christentums zu wandernden Handwerkern (GA Abt. 1, XXII/2, 282f.). Doch beabsichtigte Weber alles andere als eine materialistische Konstruktion, erläutert er doch in bezug auf diese Schichten „ . . . alle nicht als Exponenten ihres Berufes oder materieller ,Klasseninteressen', sondern als ideologische Träger einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte" (ebd. 283). Beide Seiten, die Religionen wie die sozialen Schichten, sind aufeinander angewiesen. Religionen müssen den verschiedenen Schichten etwas „leisten", anders fehlt ihnen die Verankerung unter den Laien (ebd. 218.253). Das Handeln von Bauern, Kriegern, Beamten, Handwerkern, Händlern, Sklaven und Proletariern aber bedarf einer religiösen Fundierung. Gedanklich im Mittelpunkt steht der Fall des abendländischen Stadtbürgertums, das sich am weitesten von der magischen Naturgebundenheit der Bauern entfernt hat und im Unterschied zu Kriegern und Beamten eine rationale ethische Gemeindereligiosität hervorgebracht hat. Es war dies möglich, weil Handwerker und Händler in den abendländischen Städten durch die äußeren Bedingungen wenig festgelegt waren und daher besonders leicht Träger einer rationalen Ethik werden konnten (ebd. 243). Das Kräfteverhältnis, das Weber zwischen den beiden Faktoren Klassenlagen und Religionen annahm, hat er mit einer Metapher aus der Welt der Eisenbahnen zu fassen versucht. „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die .Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte" (ebd. XIX, 101). Nicht allein die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Schichten bestimmte die Wahl der Ideen und die daraus hervorgehende Bahn. Das Erlösungsbedürfnis positiv bzw. negativ Privilegierter wirkte sich gleichfalls sehr unterschiedlich auf die Leistung von Religion aus. Während das Würdegefühl der positiv Privilegierten auf dem Bewußtsein ihrer Vornehmheit, ihres „Seins" beruhe (ebd. XXII/2,253), stützten negativ Privilegierte ihr Würdegefühl auf eine ihnen verbürgte Verheißung und das Bewußtsein ihrer Mission (ebd. 252). Im ersten Fall legitimiere Religion das Glück derer, die sich ihres Besitzes sicher sind, im zweiten Fall das Bedürfnis nach Vergeltung. Als Beispiel hierfür nennt Weber das antike Judentum, auf dessen Boden sich eine -»Theodizee der negativ Privilegierten herausgebildet habe, von Weber als „Ressentiment" im Sinne F. -»Nietzsches verstanden (ebd. 257f.). Weber hielt es allerdings für einen Fehler Nietzsches, die Ressentiment-These auch auf Hinduismus und Buddhismus anzuwenden (ebd. 258.264). Das Erlösungsbedürfnis habe schließlich auch noch den Intellektualismus als eine weitere Quelle, d.h. das metaphysische Bedürfnis des Geistes, der durch innere Nötigung dazu gedrängt wird, die Welt als sinnvollen Kosmos zu erfassen (ebd. 265).

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2.2.2. Rationalisierungsprozeß der „abendländischen Kultur". Die Ausdifferenzierung, die Weber so vornahm, war auch das Ergebnis einer neuen Erkenntnis gewesen, die ihm bei seinen religionswissenschaftlichen Studien gekommen war. Marianne Weber berichtet, er habe dabei eine seiner wichtigsten Entdeckungen gemacht: daß im Abendland ein von der Religionsgeschichte vorangetriebener Rationalisierungsprozeß die Welt entzaubert und dabei alle Kulturgebilde ergriffen habe: Wirtschaft, Staat, Recht, die Wissenschaft und die Kunst. Infolge dieser Entdeckung „erweitert sich seine ursprüngliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft nun zu der noch umfassenderen, nach der Eigenart der ganzen abendländischen Kultur" (Marianne Weber 349). Die Vision eines neuartigen Zuganges zur Kulturanalyse trieb Webers Forschungen voran. „Ein Durchbruch hatte sich ereignet", heißt es bei W. Schluchter (1,102f.). Einen Eindruck, worum es geht, liefert Webers Beitrag Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte zum Grundriß der Sozialökonomik aus dem Jahre 1913/14. Weber machte bei seiner Herleitung moderner gesellschaftlicher Sachverhalte aus der Religionsgeschichte nicht mehr bei der Wirtschaftsgesinnung halt, sondern bezog auch Recht und Herrschaft auf eine fortdauernde Macht der Religionen als letzte Stellungnahmen zur Welt. Als Weber 1919 das Erscheinen seiner religionssoziologischen Aufsätze in einer Verlagsankündigung bekannt gab, beschrieb er das zentrale Problem, das sie behandelten, so: „Gegenstand ist überall die Behandlung der Frage: Worauf die ökonomische und soziale Eigenart des Okzidents beruht, wie sie entstanden ist und insbesondere in welchem Zusammenhang sie mit der Entwicklung der religiösen Ethik steht" (GA Abt. 1, XIX, 28). Das überaus vielsagende Stichwort „Entzauberung" tauchte zum ersten Mal 1913 in dem Aufsatz Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie auf. Hier unterschied Weber zwischen subjektiv zweckrationalem Handeln einerseits und einem objektiv richtigen Handeln andererseits (Kippenberg/Riesebrodt 29f.). Die objektive „richtige" Welt der Tatsachen und die subjektive Welt zweckrationaler Lebensführung sind genetisch unabhängig voneinander. Um die Welt subjektiver Zweckrationalität zu rekonstruieren, wendete Weber sich Fragen einer Religionssystematik zu (Kippenberg/Riesebrodt). Die subjektive Erwartung, daß der Weltverlauf ein irgendwie sinnvoller Vorgang sei, habe angesichts der Tatsache ungerechten Leidens „stufenweise zu einer immer weiteren Entwertung der Welt" geführt (GA Abt. 1, X I X , 515). Die Religiosität sei gezwungen worden, „mit zunehmender Entzauberung der Welt zunehmend (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten (,gesinnungshafte' oder mystische z. B.) anzunehmen" (Weber, Kategorien 433). Demnach kann zweckrationales Handeln in der Lebensführung eines Subjektes verankert sein, ohne daß damit der Anspruch auf objektive Richtigkeit erhoben werde. So gesehen kann selbst Magie zweckrationales Handeln begründen (ebd.). Webers berühmte Zwischenbetrachtung vertieft und systematisiert diese Auffassung (ebd. 4 7 9 522). Mit einer weltablehnenden Erlösungsreligiosität entstehen Spannungen zwischen gesinnungsethischen Maximen und den bestehenden Lebensordnungen. So kann sich die religiöse Ethik mit ihren karitativen Forderungen gegen die ökonomische Ordnung stellen. Sie kann in Gegensatz zum politischen Handeln zum Apolitismus oder zur Theokratie anstiften. Auch zur -»Sexualität kann Erlösungsreligiosität in Gegensatz treten, wobei auch hier das Ergebnis unterschiedlich sein kann: Sexualfeindschaft als Mittel der Heilssuche ebenso wie eine Sublimierung von Sexualität. Alle diese Fälle zeigen, daß sich unter den eigengesetzlichen Lebensordnungen der Moderne gesinnungsethische Alternativen herausbilden, die für die moderne okzidentale Kultur grundlegend sind. Der Rationalisierungsprozeß treibt nicht nur einen Keil zwischen die Welt der Tatsachen und die Welt der Sinngebung, sondern hat dabei den Charakter beider fundamental verändert. Den Zusammenhang dieser Prozesse hat Weber in die Worte gefaßt: „Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt und so die Vorgänge der Welt ,entzaubert' werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ,sind' und geschehen', aber nichts mehr ,bedeuten', desto dringlicher erwächst die Forderung

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an die Welt und Lebensführung' je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und ,sinnvoll' geordnet seien" (GA Abt. 1, XXII/2, 273). Wenn in den weltlichen Ordnungen Eigengesetzlichkeit herrscht, muß das Individuum wohl oder übel seine Subjektivität und sein Handeln unabhängig von aller vorgefundenen Wirklichkeit unter Bezug auf Werte selber neu begründen. Auf der einen Seite reduziert sich die Wirklichkeit zur bloßen Faktizität, auf der anderen Seite wird Sinn zu einer persönlichen Aufgabe. Mit der formalen Rationalisierung der Welt zu eigengesetzlichen Lebensordnungen geht deshalb eine Pluralität von divergierenden Rationalisierungen der Lebensführungen einher, die ihre Geltung aus religiösen Stellungnahmen zur Welt beziehen (Schluchter). Dieses Janusgesicht der westlichen Kultur hat Weber plastisch in seiner Rede Wissenschaft als Beruf (1917/19) beschrieben. Es sei gerade die erfolgreiche Entzauberung gewesen, die in den versachlichten Lebensordnungen jene Freiräume eröffnet habe, in denen die Religionsgeschichte unter geänderten Bedingungen weitergehe. In der modernen -»Lebenswelt sei das alltägliche Leben der Schauplatz des Kampfes letzter Stellungnahmen gegeneinander geworden. Weil das „Sinn"-Problem grundsätzlich nicht lösbar ist, geht die Religionsgeschichte in der Moderne weiter. Um im faktischen und beobachtbaren Handeln des einzelnen die Dimension objektiven Sinnes zu isolieren, verwendet Weber das Instrument von Idealtypen. Es geht dabei nicht um „Gattungsbegriffe, unter die das Wirkliche subsumiert, sondern [um] Sinnbegriffe, an denen es gemessen wird, um es, soweit es ihnen entspricht, prägnant zu fassen, und um durch sie das ihnen nicht Entsprechende deutlich als Tatbestand vor Augen zu bringen. Sie sind nicht Ziel der Erkenntnis, . . . sondern Mittel, das Eigentümliche der jeweiligen menschlichen Wirklichkeit zu klarstem Bewußtsein zu bringen", schreibt K. Jaspers (46). „Man muß die Möglichkeiten sehen, um das Wirkliche zu erfassen" (44). Dieses Instrument machte es Weber möglich, die Religionsgeschichte auch dort noch im Handeln wiederzuerkennen, wo der Handelnde selber sie nicht wahrnimmt. Weber war sich des Ungewöhnlichen seines Vorhabens durchaus bewußt, schreibt er doch am Ende der Protestantischen Ethik: „Der moderne Mensch pflegt im Ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte für die Lebensführung, die ,Kultur' und die ,Volkscharaktere' gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist" (Weber, Ethik 155). Dadurch, daß er Handlungen im Lichte des „Sinn"-Problems beobachtete, legte er in ihnen eine dem Handelnden selber nur teilweise bewußte Dimension frei. „Sinn" wird nicht vom einzelnen spontan und autonom erzeugt und muß daher von Motivation unterschieden werden (Kippenberg/Riesebrodt 2 7 - 2 9 ) . Handelnde befinden sich, ob gewollt oder nicht, in der Domäne des von den Religionen bearbeiteten SinnProblems. Dabei fehlt Webers Begriffen ein Geschichtsdeterminismus. So deutete Weber intellektuelle Strömungen im Westen als weltflüchtige -»Mystik asiatischen Typs, gab ihnen jedoch wenig Chancen auf eine Vorherrschaft wie in Asien. Umgekehrt notierte er, daß asketische Weltablehnung auch in Asien vorkäme, ebenso regelmäßig aber in Mystik umschlage. Immer bleiben die großen Optionen auf der Ebene der Handlungen der einzelnen gegenwärtig und verfügbar, werden aber von den großen Entwicklungen und den anderen Lebensordnungen in ihrer Entfaltung beschränkt. In einer Zeit, in der die einen die -»Religionskritik der Aufklärung fortsetzten und andere Religionen gegen die Zwänge moderner Rationalität reaktivierten, bezog Weber eine dritte Position: Auch noch der vergesellschaftete Mensch der Moderne ist in die Religionsgeschichte verstrickt, gerade auch wenn er nicht mehr persönlich an Götter glaubt. Weber hat es nicht anders gesehen als E. -»Troeltsch: „Geistige Mächte können herrschen, auch wenn man sie bestreitet" (Troeltsch [1911] 22). Quellen 1. Einzelschriften: Uber einige Kategorien der verstehenden Soziologie: Logos. Int. Zs. f. Phil, der Kultur 4 (1913) 253 - 294 = ders., GAufs. zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922; hg. v. Jo-

Weigel

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hannes Winckelmann, Tübingen 3/4 1968, 427-474. - GAufs. zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1920. - Religionssoziologie (Typen rei. Vergemeinschaftung) [1913]: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft, hg. v. Marianne Weber, Tübingen 1922 NA 2001 (s.u. GA Abt. 1, XXII/2). - Die prot. Ethik, hg. v. Johannes Winckelmann, Gütersloh; I. Eine Aufsatzsammlung, 1965 2 1969 5 1969 '2000; II. Kritiken u. Antikritiken, 3 1978 u.ö. - Die prot. Ethik u. der „Geist" des Kapitalismus. Textausg. auf der Grundlage der ersten Fassung v. 1904/1905 mit einem Verz. der wichtigsten Zusätze u. Veränderungen aus der zweiten Fassung v. 1920, hg. v. Klaus Lichtblau/Johannes Weiß, Bodenheim 1993. 2. Gesamtausgabe (Auswahl): GA, hg. v. Horst Baier, Tübingen; Abt. 1. Sehr. u. Reden. XVII. Wiss. als Beruf (1917/1919). Politik als Beruf (1919), hg. v. Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, 1992; XIX. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus u. Taoismus (1915-1920), hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, 1989; XX. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus u. Buddhismus (1916-1920), hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, 1996; XXII. Wirtschaft u. Gesellschaft, T. 2. Rei. Gemeinschaften, hg. v. Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitw. v. Jutta Niemeier, 2001. Literatur Friedrich Wilhelm Graf, T h e German Theol. Sources and Protestant Church Politics: H a r t m u t Lehmann/Guenther Roth (s.u.) 27 - 49. - Karl Jaspers, M a x Weber. Dt. Wesen im politischen Denken, im Forschen u. Philosophieren, Oldenburg 1932. - Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- u. Bürgerrechte, Leipzig 1895 München/Leipzig 3 1919. - Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hg.), M a x Webers „Religionssystematik", Tübingen 2001. - René König/Johannes Winckelmann (Hg.), M a x Weber zum Gedächtnis. Materialien u. Dokumente zur Bewertung v. Werk u. Persönlichkeit, Opladen 1963 M985. - Hartmut Lehmann, M a x Webers „Prot. Ethik", Göttingen 1996. - Ders./Guenther Roth (Hg.), Weber's Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993. - Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994. - Wolfgang J. Mommsen, M a x Weber. Persönliche Lebensführung u. gesellschaftlicher Wandel. Versuch einer Rekonstruktion des Begriffs der Gesch. bei M a x Weber: Gesch. u. politisches Handeln. Theodor Schieder zum Gedächtnis, hg. v. Peter Alter, Stuttgart 1985, 261-281. - Ders./ Wolfgang Schwentker (Hg.), M a x Weber u. seine Zeitgenossen, Göttingen 1988. - Guenther Roth, Max Webers dt.-engl. Familiengeschichte 1800-1950 mit Briefen u. Dokumenten, Tübingen 2001. - W o l f g a n g Schluchter, Religion u. Lebensführung. I. Stud. zu M a x Webers Kultur- u. Werttheorie. II. Stud. zu M a x Webers Religions- u. Herrschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1988. - Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. Die Genesis des Kapitalismus, Leipzig 1902. - Friedrich H . Tenbruck, Das Werk M a x Webers. GAufs. zu M a x Weber, hg. v. Harald H o m a n n , Tübingen 1999. - Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus f. die Entstehung der modernen Welt, München/Berlin 1911 = ders., Krit. GA. VIII. Sehr, zur Bedeutung des Protestantismus f. die moderne Welt (1906-1913), Berlin/New York 2001, 183-316. - Marianne Weber, M a x Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926; Nachdr. mit einem Essay v. Guenther Roth, München 1989.

Hans G. Kippenberg

Wehrdienst/Wehrdienstverweigerung -»Krieg Weigel, Valentin

(1533-1588)

1. Leben 2. Werk 3. Kirchen- und theologiegeschichtliche Einordnung (Quellen/Literatur S. 452)

4. Nachwirkung

1. Leben Valentin Weigel wurde 1533 in Großenhain in -»Sachsen geboren, vermutlich am 7. August (Wollgast, Philosophie 501 Anm. 7). Zu seinen Eltern sind keine sicheren Angaben möglich. Von 1549 bis 1554 besuchte er die Fürstenschule St. Afra in Meißen und studierte ab 1554 zunächst an der Leipziger Artistenfakultät (-»Leipzig, Universität), wo er 1558 das Bakkalaureatsexamen ablegte und im Wintersemester 1558/59 zum Magister promoviert wurde. Aus erhaltenen Disputationen geht eine Vorliebe für mathematische und astronomische Themen hervor (Wiedergabe bei Opel 335-341). Ab 1563

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Weigel

studierte er in -»Wittenberg Theologie, wurde 1567 auf die erste Pfarrstelle der Stadtkirche zu Zschopau im Erzgebirge berufen und von dem Wittenberger Theologen und Generalsuperintendenten Paul Eber (1511—1569) ordiniert. Aus der Wittenberger Zeit sind ein mit Weigels Namen und eigenhändigen Eintragungen versehenes Exemplar der Confessio Augustana von 1531 (heute Universitätsbibliothek Marburg) und ein Revers vom 2. Juli 1564 erhalten, worin er sich für ein Stipendium des Kurfürsten bedankt und zur Übernahme eines geistlichen Amtes verpflichtet (Staatsarchiv Dresden; Faksimile bei Israel). Es kann vermutet werden, daß er in Wittenberg auch gelehrt hat, da sonst der Zeitpunkt seiner 1565 erfolgten Heirat mit Katharina Beuche (Beich) nicht gut erklärbar ist (vgl. Pfefferl, Überlieferung I, 8 - 1 0 ) . Aus der Ehe sind die Kinder Theodora (geb. 1569), Nathanael (geb. 1571) und Christian (geb. 1573) hervorgegangen, deren Lebensspuren bis an den Beginn des 17. Jh. nachzuweisen sind (vgl. Kühlmann; Wollgast, Philosophie 509 und Anm. 35). In seiner Amtsführung scheint Weigel nicht ernstlich behelligt worden zu sein. Einmal wurde seine Rechtgläubigkeit durch die Anzeige des Augustusburger Pfarrers Matthias Seidel (1528-1602) angezweifelt (Nachweise bei Wollgast, Philosophie 510 und Anm. 42). Gegen die Verdächtigungen wegen des Inhalts seiner Predigten wehrte er sich erfolgreich durch eine Rechtfertigungsschrift (Vom wahren seligmachenden Glauben). Schließlich wirkte er selbst bei Lokalvisitationen der Ephorie Chemnitz mit (Georg Müller 472f.; Wollgast, Philosophie 509). Seine 1576 gedruckte Leichenpredigt für Martha von Ruxleben (Unterricht Predigte) blieb der einzige von ihm zum Druck gebrachte Text. Ein Jahr später hat Weigel die -*Konkordienformel unterschrieben. Von Anfang Dezember 1581 ist die eigenhändige Abschrift zweier Texte von —•Paracelsus erhalten (heute Forschungsbibliothek Gotha). Weigel starb am 10. Juni 1588. Die mehrfach überlieferte Inschrift auf seinem vermutlich 1748 zerstörten Grabstein schloß: „ O M E N S C H LERNE DICH SELBER ERK E N N E N V N D G O T SO HASTV G N V N G K HIE V N D D O R T " (Reichel 16). 1888 wurde eine Nachbildung des Epitaphs in der Zschopauer St. Martinskirche angebracht, die sich bis heute dort befindet (vgl. Pfefferl, Überlieferung I, 15f.). 2. Werk Weigel verfaßte seit etwa 1570 philosophische, theologische und homiletische Schriften, die er aber nur handschriftlich einem Kreis von Freunden und Bekannten zugänglich machte. Hierbei ist ihm sehr wahrscheinlich Benedikt Biedermann (um 1543-1621) zur Hand gegangen, der ab 1571 als Diakon in Zschopau tätig und nach Weigels Tod dessen Nachfolger im Amt war, elf Jahre später aber als suspekt abgesetzt wurde. Obwohl sein N a m e in der Überlieferung nicht genannt ist, kann davon ausgegangen werden, daß er bei der frühen Tradierung und Bearbeitung der Weigelschen Schriften eine Rolle gespielt und auch eigene Texte verfaßt hat, die aber nur unter Weigels Namen oder anonym überliefert sind (vgl. Pfefferl, Überlieferung IV, 57—61; Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VIII, Einl. passim). Bei der handschriftlichen Tradierung hat auch Christoph Weickhart mitgewirkt, der von 1577 bis 1583 Kantor in Zschopau war (Pfefferl, Wirkungsgeschichte 28 f.) und nach Ausweis eines auf 1601 datierten Briefes ein Konvolut von echten und unechten lateinischen bzw. ins Lateinische übersetzten Weigelschriften nach England schickte (vgl. Pfefferl, Überlieferung IV, 8—14). Die Publikation durch Drucke begann erst 21 Jahre nach Weigels Tod und ist, wie die in etwa 80 Kodizes enthaltene handschriftliche Überlieferung, relativ unzuverlässig. Ohne erkennbare Differenzierung werden Bearbeitungen, Kompilationen, in Auseinandersetzung mit seinem Werk entstandene Schriften anderer Autoren und auch völlig fremde Texte, wie z. B. —»Karlstadts Schrift Was gesagt ist / sich gelassen, unter Weigels Namen verbreitet. Der größte Teil der eingetragenen Texte ist durch polemisierende und radikalisierende Tendenzen geprägt. Mit Weigels Namen sind auf diese Weise mehr

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als 180 unterschiedliche Schriften verbunden, weniger als 50 davon zu Recht. Die Drucke stießen auf ein verbreitetes Interesse und verkauften sich anscheinend so gut, daß bis zum Ende des 17. Jh. etwa 70 Drucke zu zählen sind, einige Sammeldrucke sowie Übersetzungen ins Niederländische und ins Englische eingeschlossen. Zugleich erregten sie Anstoß und riefen eine Flut von Gegenschriften und Druckverboten hervor, mit welchen sich die offiziellen Kirchen gegen die als abweichend verstandenen Lehren zu wehren versuchten. Zu den teils sehr polemischen Kritikern gehören Johannes Schelhammer, N. -»Hunnius, Georg Rostius, Theodor Thummius, Justus Feurborn u.a. (vgl. das Verzeichnis von 36 Streitschriften aus der Zeit zwischen 1608 und 1720 bei Reichel 28f.). So entstand der Begriff des „Weigelianismus", der das gesamte 17. Jh. hindurch zur Bezeichnung jeglicher Art von Heterodoxie verwendet wurde (vgl. Wollgast, Philosophie 576). Die Abfolge der wichtigsten Schriften, die Weigel, wenn auch nicht immer mit letzter Sicherheit und in der überlieferten Form bzw. dem vorliegenden Umfang, zugesprochen werden können, ist folgende (die benutzten Kurztitel folgen dem Verzeichnis bei Pfefferl, Überlieferung und in den vorliegenden Bänden der Schriften Weigels [ed. Pfefferl]; die ohne Ort angegebenen Drucke enthalten alle den fingierten Druckort „Newenstatt" [mit orthographischen Varianten] und gehen zum überwiegenden Teil auf den Magdeburger Verleger und Drucker Johann Francke, einige auf Lukas Jennis in Frankfurt a.M. zurück): Zwei nützliche Traktate (1570; ungedruckt, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] III); Vom Gesetz oder Willen Gottes (kurz nach 1570; ungedruckt, ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] III); De vita beata (nach 1570; Druck Halle 1609); Bericht zur „Deutschen Theologie" (1571; Druck 1618, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] III); Gnothi seauton (um 1571; Erstdruck 1615, ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] III); Scholasterium christianum (um 1571; Druck 1618); Vom wahren seligmachenden Glauben (1572; ungedruckt, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] V); Gebetbuch (Büchlein vom Gebet) (ab 1572/1575; Erstdruck Halle 1612, ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] IV); Daß Gott nicht geunehret werde (1572/1577; ungedruckt); Handschriftliche Predigtensammlung (1573-1574; ungedruckt, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] VI-VII); Von Betrachtung des Lebens Christi (um 1574; Erstdruck 1618; ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VII); Vom Ort der Welt (um 1576; Erstdruck Halle 1613, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] 1); Informatorium (1576; Erstdruck 1616); Bericht vom Glauben (1576; ungedruckt); Unterricht Predigte (1576; Druck o.O. 1576; abgedruckt bei Opel 342-355); Natürliche Auslegung von der Schöpfung (1577; als Teil der Kompilation Viererlei Auslegung von der Schöpfung gedruckt Amsterdam 1701); Vom Ursprung aller Dinge (1577; ungedruckt, als vierte Auslegung dieser Kompilation überliefert); Der güldene Griff (1578; Erstdruck Halle 1613, ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VIII); Vom Leben Christi (1578; Erstdruck 1618; ed. in Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VII); Kirchen- oder Hauspostille (1578-1579; Erstdruck 1617); Von Vergebung der Sünden (um 1582; ungedruckt, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] II); Dialogus de christianismo (1584; Erstdruck Halle 1614, ed. in Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] IV).

Aus welchem Antrieb und zu welchem Zweck schrieb Weigel und warum brachte er seine Schriften nicht zum Druck? Es ist auszuschließen, daß er seine Texte als „Geheimlehre" für sich behalten wollte. Er schrieb aber auch nicht für ein anonymes Publikum, sondern offensichtlich für einen kleinen Kreis von Freunden und Bekannten und für die Mitglieder seiner Gemeinde und nicht selten aufgrund konkreter Anregungen und zu aktuellen Anlässen. Persönliche Widmungen sind dem Druck der oben genannten Leichenpredigt (an den Bruder der verstorbenen Adligen) und seiner Verteidigungsschrift Vom wahren seligmachenden Glauben (an den Chemnitzer Superintendenten Georg Langevoith [1528-1575]) vorangestellt. De vita beata ist mit einer sehr persönlich gehaltenen Vorrede an Johannes Buflerus (auch Puffer/Pufler, 1559 an der Universität Wittenberg immatrikuliert?) versehen (Halle 1609, A2 r ), den Bericht zur „Deutschen Theologie" widmete er dem Pfarrer Christoph Körner (1534-1618), einem „guten alten Bekandten" (Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] III, 91.93). In seinem Freundeskreis fand darüber hinaus ein wechselseitiger Gedankenaustausch statt. Ein Brief des Görlitzer Mediziners Abraham Behem (gest. 1599) vom 29. Mai 1579 an Weigel ist bei W. Zeller (Naturmystik

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120-122) abgedruckt. Für die in einer ersten Konzeption vorliegende Schrift Vom Ursprung aller Dinge ist der glaubwürdige Beleg vorhanden, daß sie ex diligenti conversatione et Colloquio Marci Mulleri entstanden ist (vgl. Pfefferl, Rezeption 161). Daß Gott nicht geunehret werde rezensiert eine Schrift Cyriacus Spangenbergs (vgl. Pfefferl, Uberlieferung IV, 31). Die Schrift Vom Leben Christi ist als spiritueller Gegenentwurf zur Konkordienformel zu verstehen. Mit deren umstrittener Durchsetzung rechnet Weigel in seinem Dialogus de christianismo ab. Ob er seine Unterschrift 1577 bereits mit den gleichen Vorbehalten leistete, die er im dritten Kapitel den „Auditor" aussprechen läßt (Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] IV, 59f.), ist nur zu vermuten. Aus den Pflichten seines Amtes sind die Handschriftliche Predigtensammlung von 1573—1574 und seine Beiträge zur Kirchen- oder Hauspostille von 1578-1579 entstanden. Vorwiegend seelsorgliche Impulse liegen mit Sicherheit seinen Überlegungen zum Gebet (Gebetbuch/Büchlein vom Gebet), seiner christologisch ausgerichteten Schrift Vom Betrachtung des Lebens Christi oder der Beichtschrift Von Vergebung der Sünden u. a. zugrunde. Neben einer profunden theologischen Bildung besaß Weigel eine umfassende Kenntnis der theologischen und philosophischen Literatur. Mit neuplatonischen Ideen (Seneca; -»Boethius; -»Neuplatonismus) setzt er sich in De vita beata auseinander, während er sich zur gleichen Zeit in den Zwei nützlichen Traktaten (1. Von der Bekehrung des Menschen; 2. Von Armut des Geistes oder wahrer Gelassenheit) und dem Bericht zur „Deutschen Theologie" mit der deutschen mittelalterlichen —»Mystik beschäftigt (J. —•Tauler; Meister Eckhart; -»Theologia deutsch). In seinen erkenntnistheoretischen Schriften Gnothi seauton und Der güldene Griff verbindet er Ansätze des -»Hugo von St. Viktor und des -»Nikolaus von Kues mit Gedanken und Begriffen des Paracelsus (vgl. Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] III, xxix; VIII, xxxvii). Zu Weigels wiederholt herangezogenen Quellen zählen weiterhin -*Augustin, (Pseudo-) —»Dionysius Areopagita, Hermes Trismegistos (Corpus Hermeticum; —»Hermetica) und Th. -»Müntzer. Besonderes Interesse hegte er für ein geistbetontes Schriftverständnis und die hieraus resultierende moderate Kirchenkritik S. -»Francks. Die wichtigste Quelle ist jedoch M. —»Luther - die lutherischen -»Bekenntnisschriften eingeschlossen - , der in seiner Bedeutung für Weigel nur durch die Bibel übertroffen wird. 3. Kirchen- und theologiegeschichtliche

Einordnung

Die Einschätzung Weigels als Häretiker, als „Schwärmer und Täuscher" (J. Schelhammer, zit. bei Pertz I, 10), „Enthusiast" (Arnold 222), „Fanaticus" (Walch IV, 1024) oder geradezu als „Ertz-Ketzer" (nach einer Anekdote zit. ebd. 1027), die mit dem allmählichen Bekanntwerden des mit seinem Namen verbundenen Schriftenkorpus einsetzte und vorwiegend in den untergeschobenen Texten begründet lag, ist mehr oder weniger bis heute weitergegeben worden. Die schärfste Polemik gegen Weigel geht wohl von Johannes Schelhammer aus, der ihn in seiner Widerlegung der vermeinten Postill Valentini Weigelij von 1621 „einen himmelblauen Propheten mit Kalbsgehirn, einen heiligen Pfingstfinken, eine Stachelsau ..., einen dreifröschigen Propheten ... oder kurzweg Säuweigel" nennt (zit. nach Israel 35). Sachlicher werden von J. G. Reichel in der ersten, 1721 angefertigten Dissertation über Weigel 46 angebliche dogmatische Abweichungen aufgezählt und belegt (Reichel 26f.). Es verwundert daher nicht, daß er noch im 20. Jh. in einer Textsammlung als „gewaltiger Ketzer und Schwärmer" bezeichnet wird (Walter Lehmann, Deutsche Frömmigkeit, Jena o.J. 151). In den neueren Lexikonartikeln und Handbüchern erscheint er als „Theosoph" (Karl Vorländer, Philosophie der Renaissance, Reinbek 1968 [Geschichte der Philosophie 3] 71), als „protestantischer] Mystiker, spiritualistischer Kirchenkritiker, Theo- und Kosmosoph" (Kurt Goldammer, Art. Weigel: EKL 3 [1959] 1739) oder wird zumindest als Dissident gesehen und der „Lehre außerhalb der Konfessionskirchen" zugerechnet (Benrath). Auch wenn Weigels kirchen- und theologiegeschichtliche Position umstritten bleibt (vgl. Pfefferl, Bild), ist er nicht als heimlicher Ketzer und grundsätzlich kirchenfeindlicher

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Schwärmer zu verstehen. D a ß er seine Schriften nicht selbst zum Druck brachte, muß nicht unbedingt in der Furcht vor Amtsenthebung und Verfolgung begründet sein. Dennoch sind auch in den authentischen Schriften dogmatische Positionen enthalten, die der offiziellen Theologie seiner Kirche zuwiderliefen. Hierzu gehören z.B. die Ablehnung der lutherischen Ubiquitätslehre (-»Ubiquität) oder Differenzen zu Luthers Sakramentsverständnis (vgl. Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] VI, 11 f.; Wollgast, Philosophie 536). Gelegentlich greift Weigel Luther direkt an. In Predigt 10 der Handschriftlichen Predigtensammlung ist mit dem „Lehrer ... , der da die Leuth weiset, sie sollen den Glauben auß den Sacramenten holen vnd die Sacrament nehmen vnd empfangen ad remissionem peccatorum" (Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] VI, 153; vgl. auch ebd. 76 u.ö.), Luther angesprochen. Weigel meint dabei überwiegend den Luther, der seine Theologie in Abwehr des mystischen Spiritualismus Karlstadts und der schweizerischen Abendmahlslehre weiter entfaltet hat. Andererseits nimmt er auch, wie z.B. zum Taufverständnis, Äußerungen Luthers für seine eigene Auffassung in Anspruch (vgl. ebd. 77f., in A n m . 4 5 Nachweise bei Luther). Weigel schätzte Luther im übrigen sehr, was grundsätzlich nie bestritten und neuerdings durch den Nachweis des Lutherschen Einflusses auf seine Gebetsschrift bestätigt wurde (vgl. Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] IV, x l - x l i i ) . 4.

Nachwirkung

Weigel hat es verstanden, eine Reihe vorgefundener Auffassungen und Ideen zu einem eigenständigen Gedankengebäude auszubauen. Bei allem Traditionsbezug entwickelte er originelle Anschauungen zu Themen wie Schöpfung (—•Schöpfer/Schöpfung), -»Zeit und Raum, —»Erkenntnis, -»Nachfolge Jesu oder -»Glaube. Seine nachhaltige Beschäftigung mit der deutschen mittelalterlichen Mystik hat zur Verankerung mystischer Denkansätze in der protestantischen Theologie und Frömmigkeit beigetragen (Mahlmann) und in der Verbindung mit Elementen der Paracelsischen Naturspekulation weitergewirkt (Wollgast, Philosophie 6 4 7 - 6 6 5 ; Literatur ebd. 674 Anm. 245.247). In der Erkenntnislehre forderte er mit der Einsicht, daß die Erkenntnis vom erkennenden Subjekt und nicht vom erkannten Objekt ausgeht, zum eigenen Sehen auf und n a h m philosophische Ansätze des deutschen -»Idealismus vorweg (Längin, besonders 442 Anm. 13; zurückhaltender Wollgast, Philosophie 571 und Anm. 333). Seine Überlegungen zum Gebet haben auf dem Umweg über J. —»Arndt, der zwölf Kapitel aus Weigels Gebetbuch in das zweite Buch seiner erfolgreichen Erbauungsschrift Vom wahren Christentum übernahm (vgl. T R E 4,126; Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] IV, Einl. passim; Literatur ebd. xlviii Anm. 158), die Gebetsliteratur besonders des —»Pietismus mitgeprägt und zu einer Verinnerlichung des Gebets in der protestantischen Christenheit beigetragen. Die kosmogonischen, in der kompilatorischen Schrift Viererlei Auslegung von der Schöpfung zusammengefaßten Texte dürften J. —»Böhmes kosmologische Spekulationen beeinflußt haben (Weeks 159f.l72f.; allgemeiner Wollgast, Philosophie 676 und passim). Weigels Schrift Dialogus de christianismo zeigt das Bemühen um eine persönlich erfahrbare Frömmigkeit und setzt mit der Betonung der geistlichen Selbstverantwortlichkeit des Individuums neue Akzente. In vergleichbarer Art weist sein Eintreten für eine die unterschiedlichen Konfessionen und sogar Religionen umfassende religiöse -»Toleranz, die es erst am Ende der Welt den Engeln anheimstellt, das Unkraut von dem Weizen zu scheiden (Weigel, Schriften [ed. Peuckert/Zeller] VI, 245 —256), über den Geist seines „konfessionellen" Jahrhunderts hinaus. Im einzelnen lassen sich drei Bereiche betrachten, deren Erforschung noch k a u m begonnen hat. 1) Unter dem Begriff des „frühen Weigelianismus" (W. Zeller) sind besonders die Bearbeiter, Kopisten/Sammler, Herausgeber und Übersetzer der Weigelschen Schriften zusammenzufassen. Neben Biedermann und Weickhart (s.o. zu 2.) sind der Apotheker Jakob Pistorius aus Hall am Inn (vgl. Wollgast, Philosophie 519) und der Augsburger

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Mediziner und Paracelsist Carl Widemann (gest. 1638; Literatur: Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] IV, xi) als frühe Abschreiber bzw. Sammler Weigelscher Texte zu nennen. Zu den Herausgebern gehören der „Jurist und Poet, Alchemist und Paracelsist, Mystiker und vielleicht auch Rosenkreuzer" Johann Staricius (vgl. Wollgast, Philosophie 513; Pfefferl, Valentin Weigel 83) und möglicherweise ein Mitglied der Nürnberger Familie Si(e)bmacher (vgl. Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VII, xv.xxviii). Aus Briefen ist zu erschließen, daß sich auch Widemann, der den —• Rosenkreutzern zugerechnete Adam Haslmayr (um 1560—nach 1630) und August von Anhalt (1575—1653) um den Druck Weigelscher Schriften bemüht haben (Carlos Gilly, Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer, Amsterdam 1994 [Pimander 5] bes. 1 2 5 - 1 2 7 . 1 3 1 f . ) . Als Übersetzer ins Niederländische bzw. Englische sind der Böhme-Anhänger Abraham Wilhelmsz van Beyerland ( 1 5 8 6 / 8 7 - 1 6 4 8 ) und der - » Q u ä k e r Benjamin Furly ( 1 6 3 6 1714) zu nennen (zu beiden Wollgast, Philosophie 722; Weigel, Schriften [ed. Pfefferl] VII, xvii.xxxii). 2) „ Z u rekonstruieren bleibt ein Netzwerk frommer Konventikel, die in der literarischen Öffentlichkeit nur schwer aufzuspürende Wegzeichen hinterlassen h a b e n " (Kühlmann 24). Überwiegend wissen wir von ihnen, wenn gerichtliche oder sonstige Akten oder Briefe erhalten sind. Am ausführlichsten untersucht sind Vorkommnisse bzw. Gruppen wie die um Philipp Heinrich Homagius und Georg Zimmermann in Marburg (Hochhuth), Esajas Stiefel (um 1 5 6 0 - 1 6 2 7 ) und Ezechiel Meth (gest. 1640) in Thüringen (Wollgast, Philosophie 5 8 9 - 5 9 9 ) , Nikolaus Pfaff (gest. um 1586), Wolfgang Si(e)bmacher ( 1 5 7 2 - 1 6 3 3 ) , Paul M a t h ( 1 5 8 4 - 1 6 3 2 ) und andere in Nürnberg (Clauß; van Dülmen) oder der Prozeß des Buchhändlers Eberhard Wild ( 1 5 8 8 - u m 1635) in Tübingen (Ulrich Bubenheimer, Von der Heterodoxie zur Kryptoheterodoxie: Z S R G . K 110 [1993] 3 0 7 - 3 4 1 ) . Allerdings überschneiden sich in solchen Zirkeln von K.v.-+Schwenckfeld, Paracelsus, Weigel, Böhme oder den Rosenkreutzern ausgehende Wirkungslinien (vgl. Wollgast, Philosophie 576—600 und passim). 3) Ähnlich unsicher zu beurteilen ist auch Weigels Nachwirkung in der neuzeitlichen Geistesgeschichte (vgl. ebd. 6 0 1 - 9 0 4 passim). Quellen Valentin Weigel, Sämtl. Sehr., hg. v. Will-Erich Peuckert/Winfried Zeller, Stuttgart-Bad Cannstatt, I—VII 1962-1978. - Ders., Ausgew. Werke, hg. v. Siegfried Wollgast, Berlin 1977 = Stuttgart 1978. - Ders., Sämtl. Sehr. Neue Ed., hg. v. Horst Pfefferl, 4 Bde. [v. 15 Bänden], Stuttgart-Bad Cannstatt, III 1996 IV 1999 VII 2002 VIII 1997. Literatur Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- u. Ketzer-Historie, Schaffhausen, II 21741, bes. 2 2 2 244. - Gustav Adolf Benrath, Valentin Weigel u. der Weigelianismus: HDThG 2 (1980) 594-598. -Gabriele Bosch, Reformatorisches Denken u. frühneuzeitliches Philosophieren. Eine vergleichende Stud. zu Martin Luther u. Valentin Weigel, Marburg 2000. - Hermann Clauß, Weigelianer in Nürnberg: BBKG 21 (1915) 267-271. - Richard van Dülmen, Schwärmer u. Separatisten in Nürnberg (1618-1648). Ein Beitr. zum Problem des „Weigelianismus": AKuG 55 (1973) 107-137. Karl Wilhelm Hermann Hochhuth, Mitt. aus der prot. Secten-Gesch. in der hessischen Kirche. 1/4. Die Weigelianer u. Rosenkreuzer: ZHTh 32 [NF 26] (1862) 86-159. - August Israel, M. Valentin Weigels Leben u. Sehr., Zschopau 1888. - Wilhelm Kühlmann, Paracelsismus u. Häresie. Zwei Briefe der Söhne Valentin Weigels aus dem Jahre 1596: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 18 (1991) 2 4 - 3 0 . - Heinz Längin, Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels: AGPh 41 (1932) 435 - 4 7 8 . - Theodor Mahlmann, Die Stellung der unio cum Christo in der luth. Theol. des 17. Jh.: Unio. Gott u. Mensch in der nachreformatorischen Theol., hg. v. Matti Repo/Rainer Vinke, 1996 (STKJ 200 [Jb. 1995] = SLAG 35) 72-199. - Georg Müller, Art. Valentin Weigel: ADB 41 (1896) 4 7 2 - 476. - Gerhard Müller, Die Mystik oder das Wort? Zur Gesch. eines Spannungsverhältnisses, 2000 (AAWLM.G 2000,3) bes. 3 0 - 3 8 . - Julius Otto Opel, Valentin Weigel, Leipzig 1864. - Ludolf Pertz, Beitr. zur Gesch. der mystischen u. ascetischen Lit. I. Gesch. des Weigelianismus [Kap. 1 Weigels Leben u. Sehr.; Kap. 2 Weigels Theol.]: ZHTh 27 [NF 21] (1857) 3 - 9 4 ; 29 [NF 23] (1859) 49-123. - Horst Pfefferl, Valentin Weigel u. Paracelsus: Salzburger Beitr. zur Paracelsusforschung 26 (1988) 7 7 - 9 5 . - Ders., Die Überlieferung der Sehr. Valentin Weigels (Diss.-Teildruck), Marburg

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1991 [mit Werkverz., Bibliogr., Biographie u. Forschungsber.]. - Ders., Neues zu Valentin Weigel (1533-1588) u. der krit. Ausg. seiner „Sämtl. Sehr.": Wolfenbütteler Renaissance Mitt. 17 (1993) 4 4 - 4 8 . - Ders., Das neue Bild Valentin Weigels - Ketzer oder Kirchenmann? Aspekte einer erforderlichen Neubestimmung seiner kirchen- u. theologiegesch. Position: HerChr 18 (1993/94) 6 7 - 7 9 . — Ders., Christoph Weickhart als Paracelsist. Z u Leben u. Persönlichkeit eines Kantors Valentin Weigels: Analecta Paracelsica. Stud. zum Nachleben Theophrast v. Hohenheims im dt. Kulturgebiet der frühen Neuzeit, hg. v. Joachim Teile, Stuttgart 1994 (Heidelberger Stud. zur Naturkunde der frühen Neuzeit 4) 407 - 423. - Ders., Die Rezeption des paracelsischen Schrifttums bei Valentin Weigel. Probleme ihrer Erforschung am Beispiel der kompilatorischen Sehr. „Viererlei Auslegung v. der Schöpfung": Neue Beitr. zur Paracelsus-Forschung, hg. v. Peter Dilg/Hartmut Rudolph, Stuttgart 1995 (Hohenheimer Protokolle 47) 151-168. - Ders., Z u r Wirkungsgesch. des Paracelsus a m Ende des 16. Jh. Neue Aspekte zu einem Kantor Valentin Weigels: Salzburger Beitr. zur Paracelsusforschung 28 (1995) 2 7 - 4 1 . - Ders., Die krit. Ausg. der „Sämtl. Sehr." Valentin Weigels: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Gert Roloff, Amsterdam, I 1997 (Chloe 24) 5 7 7 - 5 8 7 . - Johannes Gottlob Reichel, Vitam fata et scripta M . Valentini Weigelii ..., Wittenberg 1721. - Johann Georg Walch, Hist. u. theol. Einl. in die Religions-Streitigkeiten, welche sonderlich ausser der Ev.-Luth. Kirche entstanden, 4./5. T., Jena 1736, 1024-1090. - Andrew Weeks, Valentin Weigel (1533-1588). German Religious Dissenter, Speculative Theorist, and Advocate of Tolerance, Albany, N.Y. 2000. - Siegfried Wollgast, Phil, in Deutschland zw. Reformation u. Aufklärung 1550-1650, Berlin 1988 = 2 1993. - Ders., Valentin Weigel u. seine Stellung in der dt. Phil.- u. Geistesgesch.: ders., Vergessene u. Verkannte, Berlin 1993, 229-253. - Winfried Zeller, Die Sehr. Valentin Weigels. Eine literarkrit. Unters., 1940 (HS 370) = Vaduz 1965. - Ders., Der frühe Weigelianismus. Z u r Literarkritik der Pseudoweigeliana: ders., Theol. u. Frömmigkeit. GAufs., hg. v. Bernd Jaspert, I 1971 (MThSt 8) 5 1 - 8 4 . - Ders., Der ferne Weg des Geistes. Z u r Würdigung Valentin Weigels: ebd., II 1978 (MThSt 15) 8 9 - 1 0 2 . - Ders., Naturmystik u. spiritualistische Theol. bei Valentin Weigel: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wiss. Fortschritt ..., hg. v. Antoine Faivre/Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, 105-124. H o r s t Pfeiferl

Weihen - » A m t , —»Bischof, - » O r d i n a t i o n , —» Priester/Priestertum, -»Sakramente

—•Sakramentalien,

Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt I. Geschichte, T h e o l o g i e u n d Liturgie II. Weihnachtspredigt

S.468

I. Geschichte, T h e o l o g i e u n d Liturgie 1. Alte Kirche Literatur S. 466) 1. Alte

2. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

3. Praktische Theologie

(Quellen/

Kirche

1.1. D a s früheste Z e u g n i s für den A n s a t z der Geburt Christi ( - » J e s u s Christus) auf den 25. D e z e m b e r läßt sich auf 3 3 6 datieren. D e r v o n Philocalus herausgebrachte Chronograph von 354, eine kalendarische S a m m l u n g aus R o m , vermerkt in z w e i seiner Listen die Geburt Christi z u m 25. D e z e m b e r . Ein Verzeichnis der r ö m i s c h e n Konsuln enthält den Eintrag: I p Chr. Caesare et Paulo sat. XIII. Hoc cons. Dns. ihs. XPC natus est VIII Kai. lan de ven. luna XV [Christus ist w ä h r e n d des Konsulats v o n C. Caesar A u g u stus und L. A e m i l i a n u s Paulus am 25. D e z e m b e r , e i n e m Freitag, d e m 15. Tag des M o n d alters, geboren]. Ein n a c h d e n T o d e s t a g e n g e o r d n e t e s Märtyrerverzeichnis der r ö m i s c h e n Kirche beginnt mit d e m Eintrag der G e b u r t Christi z u m 25. D e z e m b e r , der sachlich aus d e m R a h m e n des Märtyrerverzeichnisses herausfällt und w o h l eine spätere Ergänzung ist. Eine Liste der r ö m i s c h e n Bischöfe enthält H i n w e i s e , die d a s Quellenmaterial dieser 354 zusammengestellten S a m m l u n g auf 3 3 6 datieren lassen. D i e Stellung des Eintrags der Geburt Christi am A n f a n g des Märtyrerverzeichnisses legt die A n n a h m e n a h e , d a ß

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dieses Datum den Jahresanfang markierte und zugleich ein von den römischen Christen begangenes Fest bezeichnete (Kellner 1 92-94). Das tatsächliche Geburtsdatum Christi ist nicht bekannt. Die Lk 2,Ii. erwähnte reichsweite Volkszählung ist nicht nachweisbar (Brown 413). Im späten 2. Jh. berichtet -•Clemens von Alexandrien von Spekulationen unterschiedlicher christlicher Gruppen über das Geburtsdatum Christi (str. 1,146): 6. oder 10. Januar, der bei den ägyptischen Basilidianern (-»Basilides) als Datum sowohl seiner Geburt als auch seiner Taufe galt, welche für sie als Adoptianer seine „Geburt" als Sohn Gottes darstellte; 19. oder 20. April, 20. Mai oder 18. November. Clemens hat dabei möglicherweise zwei unterschiedliche Kalendersysteme durcheinander gebracht (Bainton, Chronology 102). Eine Stelle im Danielkommentar von -»Hippolyt von Rom, zweifellos ein späterer Einschub, nennt den 25. Dezember als Geburtsdatum Christi (Dan. 24). Der vor 221 schreibende Julius —»Africanus bezeichnet den 25. März als Datum sowohl der Passion Christi als auch seiner Verkündigung, woraus ein Geburtsdatum im späten Dezember folgt. Der 243 geschriebene De Pascha computus behauptet kategorisch, Christus sei „an eben dem Tag, an dem die Sonne geschaffen wurde, dem 28. März, einem Mittwoch" geboren (Ps.-Cyprian, pasch. 19), wobei vorausgesetzt ist, daß die Frühjahrs-Tagundnachtgleiche mit dem Jahrestag der Weltschöpfung nach der Genesis zusammenfällt. Demgegenüber gibt es keine deutlichen Hinweise darauf, wie das Fest begangen wurde und was sein liturgischer Gehalt war. Nach —»Origenes „begingen lediglich Sünder" Geburtstage wie die von Herodes und Pharao (hom. 8 in Lev.). Christen feierten üblicherweise den Todestag ihrer Märtyrer als den Tag ihrer „Geburt in den Himmel" (Ambrosius, fid. 5,2; Augustinus, serm. 310 [—»Martyrium]). -»KonstantinI. d.Gr. spielte wahrscheinlich keine Rolle bei der Einrichtung des Weihnachtsfestes, da seine östliche Kaiserstadt -»Konstantinopel es erst um 380 zu feiern begann. Das früheste liturgiegeschichtliche Zeugnis ist eine Predigt, die —»Optatus von Mileve 361 während der Christenverfolgung unter Julian (-»Christenverfolgungen) gehalten hat. Er legte ihr die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem (Mt 2,16ff.) zugrunde, um seine Gemeinde dazu zu ermutigen, trotz drohender Gefahr im Glauben fest zu bleiben (Wilmart). In Mailand verfaßte -»Ambrosius von Mailand den Hymnus Intende qui regis Israel (hymn. 5), der eine Reihe von Weihnachtsmotiven anspricht, in denen eine nikänische Christologie aufklingt. 381 bezeichnete sich -»Gregor von Nazianz in einer Predigt zum -»Epiphaniasfest als Initiator oder auch Schrittmacher (e^apxoq) der Begehung des Weihnachtsfestes in Konstantinopel (or. 39,14,2). 386 predigte -»Johannes Chrysostomus mit großem rhetorischen Einsatz über das Fest der Geburt Christi, um die Gemeinde von der Angemessenheit dieses etwa zehn Jahre zuvor im Osten eingeführten Festes zu überzeugen (in dietn natalem: PG 49,351-362). Er nennt dafür drei falsche Gründe: 1) das Fest ist in hohem M a ß angemessen, weil das Datum der Geburt Christi von Anfang an bekannt war und das Fest sich jetzt so schnell verbreitet hat; 2) die Lk 2 , 1 - 3 erwähnten und in Rom aufbewahrten Unterlagen der Steuerschätzung können das richtige Geburtsdatum Christi bestätigen; 3) die Geburtsdaten Jesu und -»Johannes des Täufers lassen sich unter der Voraussetzung errechnen, daß die Verkündigung an Zacharias stattfand, als er zur Zeit des Laubhüttenfestes Hoherpriester in Jerusalem war, während er tatsächlich Priester der Ordnung des Abija war. Das läßt vermuten, daß es in —»Antiochien einen beträchtlichen Widerstand gegen die jüngste Einführung des neuen Weihnachtsfestes aus dem Westen gab. -»Augustin beschuldigt die Donatisten, sie ließen es an Solidarität mit dem Osten in Gestalt einer Begehung des Epiphaniasfestes fehlen [serm. 202,2: PL 38,1033); das wird gelegentlich als argumentum e silentio dafür gewertet, daß Weihnachten in Nordafrika (-»Afrika I) bereits vor dem Ausbruch des donatistischen Schismas 311 gefeiert wurde (Talley, Origins 87).

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Während des 20. Jh. hat eine Reihe inzwischen widerlegter Theorien zur Frage früher Quellen für die Ursprünge und die Entwicklung des Weihnachtsfestes weite Aufmerksamkeit gefunden: 1) Ein Bericht des Ambrosius (virg. 3,1-7: PL 16,231-234) über eine Papst Liberius (352-366) zugeschriebene Predigt anläßlich der Verschleierung Marcellinas (um 332-nach 397), der Schwester des Ambrosius, zur geweihten Jungfrau verbindet charakteristische Epiphaniasmotive mit der Geburt Christi. Verbunden mit der Vorstellung, daß Liberius die Kirche S. Maria Maggiore in Rom als Stätte für die Krippenreliquien und Stationskirche für die Vigil des Weihnachtsfestes gegründet habe, führte das einige Forscher zu dem Schluß, Liberius habe in der Mitte des 4. Jh. in Rom die Geburt Christi am 6. Januar gefeiert (Usener 273-281; Holl; Lietzmann, Petrus und Paulus 2 103-109). Andere haben dem entgegengehalten, Rom habe das Epiphaniasfest nicht wie gallische Kirchen vor dem Weihnachtsfest angenommen, die Predigt sei nicht sicher zu datieren, es gebe kein Anzeichen dafür, daß Ambrosius die Predigt aus dem Gedächtnis genau wiedergegeben habe, die einführende Wendung Salvatoris natale beziehe sich auf das Fest am 25. Dezember und das Zeugnis des Chronographen von 354 weise auf dessen Einführung vor 336 (Duchesne); die Ablegung der Gelübde geweihter Jungfrauen am Epiphaniastag sei nicht vor Papst —»Gelasius belegt (Caspari). Der Bericht des Ambrosius lasse die spätere Übung des Weihnachtsfestes in -»Mailand durchscheinen (Michels); die Motive der Liberiuspredigt seien durch ihren Anlaß und nicht durch das Weihnachtsfest vorgegeben (Botte, Origines 34-37). 2) Der Kult des alten ägyptischen Gottes Aion, einer Personifikation der Zeit, hat Ähnlichkeiten mit dem späteren Weihnachtsfest, und eine Reihe von Forschern hat behauptet, das Fest des Aion am 5. und 6. Januar sei ein ummittelbarer Vorläufer des Epiphaniasfestes als Geburtsfest. K. Holl etwa verwies auf die Vorstellung, die Zeit werde zur Wintersonnenwende als kleines Kind geboren, ebenso wie die Sonne wiedergeboren wird, und auf alexandrinische Riten, bei denen eihe hölzerne, mit goldenen Kreuzen verzierte Statue des Gottes in Gestalt eines Säuglings zu der Stunde in einer Prozession herumgeführt wurde, zu der er von der Jungfrau Kore geboren wurde (Epiphanius, haer. 51,22). Ausschlaggebend für diese Behauptung ist die Annahme, daß nach dem ägyptischen Kalender die Wintersonnenwende auf den 6. Januar fällt. E. Norden hat auf der Grundlage von Berechnungen (Ginzel) angenommen, daß die Wintersonnenwende nach dem ägyptischen Kalender 1996 v.Chr. auf den 6. Januar gefallen und daher bereits in der ^rühzeit des Mittleren Reiches ein Sonnenwendfest geläufig gewesen sei. Wenn auch nicht ohne Vorbehalte ist die Annahme weithin übernommen worden (Verwilst 261-263; Botte, Origines 71; Baumstark; McArthur 35; Mak, Het kerstfeest 9). T.J. Talley hat indessen 50 Jahre später auf der Grundlage der gleichen Tabellen festgestellt, daß E. Norden bei seiner Rückprojektion des julianischen Kalenders um 2000 Jahre ein Fehler unterlaufen sei und er die Richtung der dem ägyptischen Kalender innewohnenden Ungenauigkeit umgekehrt habe. Es bestehe daher kein Grund, mit einem vorchristlichen ägyptischen Geburtsfest zur Wintersonnenwende zu rechnen (Talley, Origins 107-112). 3) Vom 17. Jh. bis 1952 (Engberding) ist mehrfach ein vermeintlich von -»Cyrillus von Jerusalem als Antwort auf ein Schreiben des römischen Bischofs Julius (337-352) verfaßter Brief (PG 96, 1436-1450; PG 1,861 und PL 8,966) über das Fest der Geburt Christi am 25. Dezember angeführt worden (s. Roll, Origins 129-131). Er wiederholt die von Johannes Chrysostomus vorgetragene Begründung für die Feststellung des Geburtsdatums Christi durch Verbindung mit der Vorgeschichte Johannes' des Täufers, nennt Entsprechungen aus hebräischen und römischen Kalendern und führt zweimal den Apostel Jakobus in einer Weise an, die dem Weihnachtsfest eine apostolische Legitimation geben soll. Der Brief ist bereits im frühen 18. Jh. als Fälschung erkannt worden, begegnet aber in popularisierenden Darstellungen gelegentlich immer noch. 1.2. Aufgrund der beschränkten und unterschiedlichen D e u t u n g e n offenstehenden Quellenbasis haben sich bereits im späten 19. Jh. zwei Theorien über den Ursprung des Weihnachtsfestes herausgebildet, die sich weiterhin in der Literatur behaupten. Allerdings schließen sie sich nicht wechselseitig aus, und die Wahrheit könnte sehr w o h l Elemente v o n beiden enthalten. Historisch beruht die mehrheitlich vertretene Auffassung, die apologetisch-religionsgeschichtliche H y p o t h e s e , in ihrer gemäßigtsten Form auf einer Reihe bemerkenswerter Parallelen zwischen der heliozentrischen Religion des spätrömischen Reiches (—•Römische Religion) und d e m christlichen Fest der Geburt Christi: 1) D a s D a t u m des 25. Dezember bezeichnet die W i n t e r s o n n e n w e n d e nach d e m julianischen Kalender, das Geburtsfest des Sol invictus, nachdem dieser 275 durch Kaiser Aurelian (reg. 2 7 0 - 2 7 5 ) an die Spitze des römischen Pantheons gestellt w o r d e n ist, und das Geburtsdatum des Sonnengottes Mithras (—•Mysterien/Mysterienreligonen), dessen Kult im kaiserzeitlichen R o m blühte, s o w i e das Fest der Geburt Christi des 4. Jh.

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2) Das Weihnachtsfest entwickelte sich höchstwahrscheinlich während des Zeitraums, in welchem der römische Sonnengott-Monotheismus zunehmend Beliebtheit gewann (etwa 243—336). 3) östliche wie westliche Kirchenschriftsteller der Zeit verwenden zahlreiche Vergleiche Christi mit der Sonne. In ihrer extremsten Form behauptet die apologetisch-religionsgeschichtliche Hypothese, das Weihnachtsfest sei das Ergebnis einer unmittelbaren Übernahme und „Christianisierung" des Festes Natalis Solis Invicti, entweder um die Christen von heidnischen Festen fernzuhalten oder in bewußter oder unbewußter Aufnahme herrschender kultureller Strömungen, um dadurch die Stellung der jüngst rechtlich anerkannten christlichen Religion zu stärken. In beiden Fällen verweist der apologetische Aspekt dieses Arguments darauf, daß christliche Prediger im 5. Jh. den gottesdienstlichen Rahmen des Weihnachtsfestes zu Ausfällen gegen die nichtchristlichen Religionen nutzten, und daß nikänische Christen ihn zu Angriffen gegen christliche Sondergruppen wie die Arianer verwandten. Erstmals begegnet die Behauptung, Weihnachten sei an die Stelle eines älteren Festes der Geburt der Sonne getreten, in einer Randglosse einer Handschrift des syrischen Kirchenschriftstellers -»Dionysius bar Salibi aus dem 12. Jh. (BOCV 2,164). Sie ist zu spät, um als verläßliches historisches Zeugnis gelten zu können, ist aber von vielen Forschern als Beleg für die psychologische Wahrscheinlichkeit gewertet worden, daß die frühe Kirche das Datum eines vorchristlichen Festes für ihr Fest der Geburt Christi übernommen hat (Usener 349-350; Botte, Origines 66). Die meisten Befürworter der apologetisch-religionsgeschichtlichen Hypothese legen weit mehr Gewicht auf die zunehmende Verwendung von Vergleichen Christi mit der Sonne in den Schriften und Predigten der Kirchenväter des späten 4. und des 5. Jh. Papst -»-Leo I. d.Gr. hat zehn Jahre hintereinander zu Weihnachten gepredigt, und seine Predigten veranschaulichen sowohl die Verwendungen von Sonnen- und Lichtanalogien als auch die polemische Gestimmtheit, in der nikänische Christen sich selbst „im Licht" und andere christliche Gruppen oder nichtchristliche Religionen „in der Dunkelheit" sahen. Sein sermo 7 rügt Kirchgänger, die sich auf den Stufen der Petersbasilika umwandten, um sich vor dem Betreten der Kirche vor der aufgehenden Sonne zu verneigen. Er bezeugt so, daß Christen seiner Zeit noch an Gebräuchen festhielten, die auf eine Verehrung der Sonne als Gottheit zurückgingen. Das könnte, zumal es gerade in einer Weihnachtspredigt begegnet, die Annahme stützen, daß in der religiösen Haltung mancher Christen seinerzeit das Weihnachtsfest noch mit der Sonnenverehrung konkurrierte (Auf der Maur 169; Botte, Origines 6 2 - 6 3 ; Cullmann 38). Leo ist sich des Zusammenfallens der Festdaten deutlich bewußt und wendet sich gegen die Behauptung, die Christen verehrten am Weihnachtsfest weniger die Geburt Christi als vielmehr die der „neuen Sonne" (In nativitate, serm. 2). Augustin hält der Behauptung des Manichäers Faustus, die Christen feierten immer noch die Wintersonnenwende, entgegen, sie feierten den, der größer ist als die Sonne (Faust. 20,4). An anderer Stelle macht er geltend, daß Gott in Christus nicht die Sonne, sondern deren Schöpfer ist (serm. 186 und 187), und fordert die Christen auf, in würdiger Weise das Fest der Menschwerdung der wahren „Sonne der Gerechtigkeit" zu begehen (serm. 190 mit Anspielung auf Mal 3,20). Als Christusprädikat mit Bezug auf das Weihnachtsfest begegnet die Bezeichnung „Sonne der Gerechtigkeit" u.a. im Computus de pascha (Ps.-Cyprian, pasch. 19), in De solstitiis et aequinoctiis, bei Ambrosius (Is. 4,30: CSEL 33,660,17-661,4), -•Maximus von Turin (Serm. 3 und 4 [ = 61A extra; 62,2: CChr.SL 23,239,1-25; 262,44-48]) und Augustin (Serm. 191) (s. Roll, Origins 158-163). Erstmals ist die apologetisch-religionsgeschichtliche Hypothese 1889 von H. Usener vertreten worden, und zwar in ihrer weitestgehenden Form der Annahme einer Ersetzung des heidnischen durch das christliche Fest. Seine Position wurde von W. -»Caspari kritisiert, von H . K . A . -»Lietzmann befürwortet und von K. -»Holl und anderen abgewandelt. Die Vorstellungen von Franz Joseph Dölger ( 1 8 7 9 - 1 9 4 0 ) über Parallelen zwischen dem Christentum und der römischen Sonnenverehrung liefen ebenso wie die von O. -»Casel über griechische Mysterienkulte auf eine Befür-

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wortung hinaus. Den geistigen Hintergrund dieser Arbeiten bildeten die Bestrebungen der —•Religionsgeschichtlichen Schule, mögliche vorchristliche Quellen für christliche Riten und Feste aufzuspüren. Sie lösten im späten 19. und frühen 2 0 . J h . eine Gegenreaktion aus, die für die Einzigartigkeit des Christentums eintrat. 1932 gab B. Botte in seiner kleinen, aber bedeutsamen Arbeit einen Überblick über die Forschung zu den Ursprüngen des Epiphanias- und Weihnachtsfestes. E r vertrat darin eine gemäßigte Auffassung, nach der die vorchristlichen Sonnenwendfeste „Anregung und Ausgangspunkt", nicht aber die Ursache des Weihnachtsfestes gewesen seien (Botte, M a r a n a t h a 4 2 ) . H . Frank hat sich zwischen den frühen 1930er und den 1960er Jahren mehrfach zu den Ursprüngen des Weihnachtsfestes geäußert. Ungeachtet des spärlichen Belegmaterials erweiterte er die Argumentationsgrundlage für die Auffassung Bottes. Bis heute greift die einschlägige Literatur auf Botte zurück. Dabei sind allerdings im allgemeinen die Vertreter seiner Auffassung insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren mit ihren Vorstellungen darüber, in welchem M a ß das Sonnenwendfest das frühe Weihnachtsfest beeinflußt haben könnte, zunehmend weiter gegangen (Gunstone; Jounel; Nocent; A d a m ) . Das zentrale Problem liegt darin, daß auch starke Ubereinstimmungen nicht schon ursächliche Abhängigkeit beweisen und es bislang keine alten Quellen gibt, die unzweifelhaft eine bewußte Ersetzung des Geburtsfestes des Sonnengottes durch das Weihnachtsfest belegen könnten.

1.3. Die Kalkulations- oder Berechnungshypothese geht davon aus, daß die Ursprünge des Weihnachtsfestes bei den symbolischen Zahlen (-»Zahl/Zahlenspekulation/Zahlensymbolik) und in der Gliederung des Kalenders (-• Zeitrechnung) zu suchen sind, in deren Rahmen die frühe Kirche die Geburt Christi gestellt hat, insbesondere in den Texten, die die Kreuzigung und die Empfängnis oder Geburt Jesu im Westen am oder um den 25. März oder im Osten auf den 6. April ansetzen. Dabei wird vorausgesetzt, daß das System symbolischer Zahlen, in dem die frühen Kirchenväter eine Widerspiegelung des vollkommenen Schöpfungsplans Gottes sahen, nur vollkommene, ganze und keine gebrochenen Zahlen zuläßt. Die Patriarchen des alten Bundes konnten nur eine ganze Zahl von Jahren gelebt haben, so daß sie am Tage ihrer Geburt auch gestorben sind. Im Fall Christi führt das für seinen Todestag auf den Jahrestag seiner genesis, unter der seine Empfängnis verstanden werden konnte. War Christus am vierten Tag nach der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche, dem 25. März nach dem julianischen Kalender, gekreuzigt worden, führt die Verkündigung an Maria um den 25. März auf ein neun Monate später fallendes Geburtsdatum, den 25. Dezember, oder im Osten unter der Voraussetzung des 6. April als Datum der Passion und der Verkündigung auf den 6. Januar. Zu den Quellenbelegen gehören Sextus Julius Africanus, der den 25. März als Datum sowohl der Geburt als auch der Auferstehung nennt, der De pascha computus mit dem 28. März als Tag der Geburt Christi und die Schrift De solstitiis et aequinoctiis, für die der 25. März das Datum der Verkündigung und der Passion Christi ist (Botte, Origines 99; Scheer 57). Dieser letzte, lateinisch geschriebene Text des späten 4. Jh. aus Syrien weist eine rabbinische Form der Beweisführung auf und entwickelt ein ineinandergreifendes Netz von Empfängnis- und Geburtsdaten für Christus (empfangen zur FrühjahrsTagundnachtgleiche, geboren neun Monate danach am 25. Dezember) und Johannes den Täufer (empfangen gleich nach der Festzeit des Laubhüttenfestes im September, als sein Vater Zacharias vermeintlich als Hoher Priester das Allerheiligste betrat, und dann zur Sommersonnenwende geboren). Diese Argumentation klingt ebenso bei Johannes Chrysostomus (s.o. 1.1.) an wie bei Augustin, der einen Schriftbeleg dafür in den Worten des Täufers: „Jener muß wachsen, ich aber abnehmen" (Joh 3,30) fand; er sah darin einen Hinweis auf die Geburt des Täufers zu dem Zeitpunkt, an dem das Tageslicht abzunehmen anfängt, und die Christi zu der Zeit, zu der die Sonne kräftiger zu werden beginnt (serm. 190, vgl. auch serm. 194; 196; 287,3; 288,9; 289,5; 290,2 und 291,3). Eine Stelle aus Augustins De trinitate 4,5 spricht für die Vorstellung der vollkommenen Zahl, hier in Gestalt von neun vollen Monaten vor der Geburt Christi (Bainton, Christianity 27; Talley, Origins 96f.). L. Duchesne hat 1889 als erster den Grund für die Berechnungshypothese vorgetragen, indem er den Ansatz der Passion Christi auf den 25. März und die Vorstellung, die

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Lebensdauer der Patriarchen bemesse sich in vollen Jahren, miteinander verband; da die Montanisten ( - • Montanismus) Christi Passion am 6. April begingen, würde das im Osten auf den 6. Januar als Datum der Geburt führen. Duchesne gestand ein, d a ß diese Hypothese von anderen Forschern nicht unterstützt wurde; tatsächlich wurde sie in einer Reihe von Punkten weithin kritisiert und 1932 von Botte umfassend widerlegt. Überraschend erneuerte H. Engberding sie 1949 (publiziert 1952) in einer Diskussion mit Frank und verteidigte Duchesne nachdrücklich unter Verweis auf De solstitiis und eine Reihe anderer Zeugnisse. 1952 kam L. Fendt in einer Wertung des Diskussionsstandes zu dem Schluß, Engberding habe die Hypothese zwar diskussionsfähig gemacht, aber nicht bewiesen; daher sei es nötig, für die Anfänge des Weihnachtsfestes größeres Augenmerk auf innerkirchliche Gestaltungskräfte und nicht nur auf die religiöse Umwelt zu richten. Kurz darauf suchte A. Strobel Engberdings Gründe durch eine erneute Untersuchung der frühen Zeugnisse zu stützen, während Botte dessen Verwendung von De solstitiis mit der Begründung zurückwies, diese Schrift biete eine nachträgliche Erklärung für die Wahl des Festdatums, nicht aber die Erwägungen, aus denen es ursprünglich begründet wurde. Die Diskussion galt als faktisch festgefahren (Frank, Gründe 38-41.46; Friedhelm M a n n [vgl. T R E 9,763]; Auf der M a u r 167), bis Talley ihr in den 1980er Jahren mit neuen Argumenten beträchtlichen Auftrieb gab: 1) Er widerlegte Nordens These, der 6. Januar sei ein vorchristliches Sonnenwendfest gewesen; 2) er fand in kleinasiatischen Quellen des 2. Jh. Belege für eine frühe Form des christlichen Passa am 6. April, die auch die Menschwerdung einbezog, was grundsätzlich der Gleichsetzung der Geburts- und Todesdaten der Erzväter entspricht; 3) er machte geltend, daß, wenn die Donatisten das Weihnachtsfest schon vor 311 begingen, dessen Anfänge beträchtlich früher liegen müßten als die konstantinische Duldung der Kirche und der zunehmende Einfluß der Sonnenverehrung. Damit kehrte er in den Grundlinien, aber mit einer tragfähigeren Begründung zu Duchesnes These zurück. Allerdings bleiben dabei einige entscheidende Fragen unbeantwortet, so die Frage, warum man das Datum der FrühjahrsTagundnachtgleiche von der Geburt Christi auf seine Empfängnis verschoben haben sollte. Talley selbst gestand die Wahrscheinlichkeit von Einflüssen der Sonnenverehrung auf das frühe christliche Fest zu (Talley, Origins 107-112). In der jüngsten Literatur zeigen sich geographische Unterschiede: Veröffentlichungen auf dem europäischen Festland befürworten im allgemeinen die apologetisch-religionsgeschichtliche Hypothese, häufig in ihrer weitestgehenden Form, die sich auf der Grundlage des gegebenen Quellenmaterials nur schwierig verteidigen läßt. Talley findet dabei wenig Anklang. Angloamerikanische Veröffentlichungen sympathisieren dagegen mit Talley und messen der innerkirchlichen Entwicklung größeres Gewicht zu oder sie stellen beide Hypothesen als gleichgewichtig vor. In nordamerikanischen liturgiewissenschaftlichen Studienprogrammen wird gegenwärtig die Berechnungshypothese als diskussionsfähige, wenn nicht maßgebliche Position gelehrt, während anderwärts die apologetischreligionsgeschichtliche vorherrscht. Keine von beiden beweist zwingend einen unmittelbaren Anlaß für das Aufkommen des 25. Dezembers als Datum der Geburt Christi oder bietet eine klare Begründung für die Entstehung des Weihnachtsfestes; doch die apologetisch-religionsgeschichtliche Hypothese wird von unserer Kenntnis soziokultureller Parallelen in frühchristlicher Zeit und von heutigen Einsichten in Abläufe liturgischer Inkulturation gestützt. Eine ausgewogene Berücksichtigung beider Theorien trägt zu einer Wahrnehmung zugleich der innerkirchlichen Entwicklung als auch des Einflusses des kulturellen Umfeldes auf die Kirche bei. 2. Vom Mittelalter

bis zur

Gegenwart

Zur Zeit des Sacramentarium Gelasianum (—»Agende 5.3.) aus dem 7. Jh. war das Weihnachtsfest aus der Liste von Märtyrergedenktagen, in der es 336 begegnet, hinübergewechselt in den jährlichen Zyklus der Herrenfeste (-»Kirchenjahr). Augustin (Epistula 55) nannte Weihnachten eine memoria, ein im solaren Kalender vermerktes Fest

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geringeren Ranges gegenüber dem Osterfest ( —>Ostern/Osterfest/Osterpredigt) als sacramentum weit höheren Ranges, was zum Teil mit seinem Ort im alten lunaren Kalender und einem symbolischen Zahlensystem zusammenhängt (Gaillard). Fünfzig Jahre später hatte Leo I. d.Gr. keine Bedenken, Weihnachten als sacramentum nativitatis Domini zu bezeichnen, ein Fest mit unmittelbarem Bezug auf das sacramentum salutis, das heilsbegründende Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi, auch wenn es seinen Ort immer noch im Heiligenkalender hatte (Sermo 26, 27 und 64). Die ältesten überlieferten liturgischen Texte für das Weihnachtsfest finden sich im Sacramentarium Veronense aus der Mitte des 6. Jh. (-»Agende 5.1.), das in fünf seiner neun Formulare für das Weihnachtsfest und die zugehörige Vigil von sacramentum spricht; das Fest hat darin seinen Platz wie in einem bürgerlichen Kalender am Ende der Sammlung (Mohlberg). Zur Zeit des Gelasianischen Sakramentars aus dem 7. Jh. waren die drei Gebetsformulare für die Vigil und die zwei Formulare für Weihnachten an den Beginn des jährlichen Festkreises gerückt. Die wichtigsten theologischen Motive der Weihnachtsliturgie begegnen bereits in der späten patristischen Literatur: die Metapher von Christus als dem Licht, das in der Dunkelheit scheint, Christus als die neue Sonne, die Fleischwerdung des ewig präexistenten Gottessohnes in menschlicher Zeit und die Verkündigung - Motive, die alle mit dem Ostergeheimnis verbunden werden. Vor der Mitte des 5. Jh. wurde in Rom nur eine Weihnachtsmesse gefeiert, und zwar während des Tages in St. Peter. Die danach eingerichtete zweite Messe wurde als Mitternachtsmesse in der Basilika S. Maria Maggiore begangen, die bald nach der Definition des Marienprädikats „Gottesgebärerin" (deozÔKOÇ [—•Maria/Marienfrömmigkeit]) auf dem Konzil von -»Ephesus (431) errichtet wurde und in der Krypta eine Nachbildung der Bethlehemer Geburtsgrotte sowie eine Krippenreliquie enthielt. Diese Messe folgte wahrscheinlich dem von Egeria (9,1) bezeugten Jerusalemer Brauch, die Inkarnation am 6. Januar mit einer nächtlichen Messe in der Geburtsgrotte zu feiern. Es gibt jedoch bis zum 6. Jh. kein liturgisches Zeugnis für sie, weder bei Leo noch in der Veroneser Sammlung. Mitte des 6. Jh. kam aufgrund besonderer in Rom bestehender pastoraler Gegebenheiten die dritte, bei Tagesanbruch gehaltene Messe hinzu. Als Entgegenkommen gegenüber in Rom ansässigen byzantinischen Griechen hielt der Papst in der Kirche der Märtyrerin Anastasia von Sirmium eine Frühmesse, die spezifische Weihnachtsmotive, aber nur ein auf die Märtyrerin bezogenes Gebet enthielt. Papst -»Gregor I. d.Gr. nimmt Bezug auf diese drei Messen am Weihnachtstag (hom. ev. 8,1) und bietet damit das früheste Zeugnis für die charakteristischen drei einzelnen Weihnachtsliturgien. Im 11. Jh. wurde die Tagesmesse ebenfalls in S. Maria Maggiore gefeiert. Bis zum 8. Jh. hatte sich die Übung dreier Meßfeiern auch im gallisch-fränkischen Raum verbreitet und wurde zur Zeit -»Karls d. Gr. verbindlich. Sie wurden nach dem Sacramentarium Gellonense nun nicht mehr als Stationsgottesdienste begangen. Der Comes von Würzburg (wohl aus dem 8. Jh.) zeigt, daß die ältesten Lesungen in der nächtlichen Messe Jes 9, Tit 2 und Lk 2,1—14, in der Frühmesse Jes 61, Tit 3 und Lk 2,15-20 und in der Tagesmesse Jes 52, Hebr 1 und Joh 1 waren. Das Sacramentarium Gregorianum weist neben dem Evangelium nur eine Lesung für jede der Liturgien aus. Obwohl viele lokale Traditionen bis ins 18. Jh. drei Lesungen kannten (Auf der Maur 170), wurde das Muster von zwei Lesungen (Epistel und Evangelium) in das Missale Romanum von 1570 (-»Agende 7) übernommen, welches die neutestamentlichen Lesungen aus dem Comes von Würzburg enthält, ergänzt durch die Episteln für die Vigil aus dem Comes Alkuins. Das Missale von 1570 beruht auf den Vorreden der gregorianischen Sakramentare. Ein eigener Zug der römischen Weihnachtsliturgie im 9. Jh. war ein zweifaches nächtliches Offizium, die Vigil in S. Maria Maggiore in Gegenwart des Papstes und etwas später die Laudes in der Peterskirche (Nocent 248-254). Die comités Christi genannten Begleitfeste (Tage des Stephanus am 26., des Evangelisten Johannes am 27. und der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember) begegnen im altgelasianischen Sakramentar (-»Agende 5.2.). Die Veroneser Sammlung enthält je eine Reihe von Formularen für

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den „Geburtstag des Evangelisten Johannes" und den „Geburtstag der Unschuldigen Kinder". Der 1. Januar, der Oktavtag des Weihnachtsfestes, erhielt einen eigenen Rang durch das älteste in Rom begangene Marienfest (Geburt Mariens, später Fest der Beschneidung Jesu). Wenig Zeugnisse gibt es für eine der Oster- und später auch Pfingstoktav (-»Pfingsten/Pfingstfest/Pfingstpredigt) entsprechende spezielle Weihnachtsoktav, auch wenn einzelne Quellen (das Altgelasianum und das Gregorianum) vom 1. Januar als in octabas Domini sprechen. Im Missale von 1570 umfaßt die Reihe der Begleitfeste die Tage des Stephanus, des Johannes und der Unschuldigen Kinder, den Sonntag in der Oktav und den Tag des Märtyrers Thomas von Canterbury (Th. —•Becket), den sechsten Tag der Oktav oder Silvestertag und den Oktavtag als das Fest der Beschneidung Jesu. Für eine christliche Neujahrsliturgie gibt es keine Belege außer einem Hinweis bei Augustin (serm. 197 und 198) und einer frühen spanischen Missa de initio anni (Auf der Maur 172). Eine Vigil des Weihnachtsfestes begegnet bereits in der Mitte des 6. Jh., ein Fasten mit einer Frühmesse zum Abschluß der Adventszeit mit Schriftlesungen aus Jes 62, Rom 1 und Mt 1,18-22. Das hohe Mittelalter erlebte eine reiche Weiterentfaltung sowohl der gottesdienstlichen Feier als auch der volkstümlicheren Frömmigkeit. Im 9. und 10. Jh. war eine große Zahl von Sequenzen (s. TRE 15,759,35-760,11; 18,607,16-39) in Gebrauch, die allerdings im Missale von 1570 nicht mehr erscheinen. Im 11. Jh. wurden in Frankreich und anderwärts im Gottesdienst geistliche Spiele nach dem Muster der Osterspiele (-•Mysterienspiele; -»Theater 2.3.1.) aufgeführt, die wahrscheinlich auf Tropen aus der Tagesmesse basierten und großen Einfallsreichtum zeigten (Jounel 86). Eine Form war das mit der Matutin verbundene Officium pastorum, das ein auf Lk 2 beruhendes Wechselgespräch der Hirten bot und dem Vorbild des österlichen Quam quaeritis verpflichtet war. Eine andere war das Fest des Esels im Januar, das an die Flucht nach Ägypten (Mt 2,13ff.) erinnerte. Ähnliche Spiele sind vom 11. bis zum 13. Jh. in Frankreich und Deutschland für die Unschuldigen Kinder bezeugt (Auf der Maur 173). Wahrscheinlich aufgrund der Nähe zum Neujahrsfest erlaubten im 11. und 12. Jh. Narrenfeste der niederen Geistlichkeit, die höhere zu parodieren, bis sie im 15. Jh. verboten wurden. Im Volksbrauch hatte die Krippenszene große Bedeutung für die dramatische Inszenierung der Geburt in Bethlehem. 1223 stellte -»Franciscus von Assisi in Greccio in Umbrien eine Krippe mit einem lebenden Ochsen und Esel auf, verlas in einer dort gefeierten Messe das Evangelium und hielt eine Predigt. Die Darstellung der Krippenszene hat sich insbesondere seit dem 16. Jh. bis heute weit verbreitet und wurde im -»Barock breit ausgestaltet (Jounel 86). Im 18. Jh. wechselte sie zumal nach dem Verbot solcher Darstellungen durch Kaiser Joseph II. (reg. 1765-1790) am Vorabend der -»Aufklärung aus den Kirchen über in den häuslichen Bereich (Auf der Maur 174). In der Zeit zwischen dem römischen Missale von 1570 und dem von 1970 hat die römisch-katholische Ordnung der Weihnachtsfestzeit wenig Änderungen erfahren, abgesehen von der Aufnahme des Name-Jesu Festes, eines 1520 von den Franziskanern eingerichteten Festes, das 1721 gesamtkirchliche Geltung erhielt. Die in das vorkonziliare Missale von 1962 eingegangenen liturgischen Richtlinien bestimmen die Weihnachtsfestzeit als die Zeit zwischen Weihnachten und dem 5. Januar und die Epiphaniaszeit als den Zeitraum vom 6. bis zum 13. Januar. In der Weihnachtsoktav sollen außer den Festen der drei comités Christi keine Heiligenfeste begangen werden. Die Grundordnung des Kirchenjahres und des Neuen Römischen Generalkalenders von 1969 (Die Meßfeier - Dokumentensammlung, hg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1990 61996, 117-130, hier 122f.) beschreibt die Weihnachtsfestzeit als die Zeitspanne von der ersten Christvesper am Heiligen Abend bis zum Sonntag nach Epiphanias oder - in Gebieten, in denen dieses Datum gesetzlicher Feiertag ist - bis zum 6. Januar. Der Sonntag innerhalb der Weihnachtsoktav wird als Fest der Heiligen Familie bezeichnet, die drei überkommenen comités Christi behalten ihren Platz, und der 1. Januar wird

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„Hochfest der Gottesmutter Maria" benannt (c. 32-35). Für das Weihnachtsfest sind zwar drei unterschiedliche, für die jeweiligen Tageszeiten bestimmte Messen vorgesehen, aber nicht mehr gefordert. Für die Vigilmesse sind als Schriftlesungen Jes 6 2 , 1 - 5 , Act 13,16-25 (eine Neuerung) und Mt 1,1-25 (18-21 im Missale von 1570) vorgesehen. Die Lesungen für die Mitternachtsmesse sind Jes 9 , 1 - 6 (beide Jesaja-Lesungen begegnen im Comes Alkuins), Tit 2 , 1 1 - 1 4 und Lk 2 , 1 - 1 4 . Für die Frühmesse sind Jes 62,llf., Tit 3 , 4 - 7 und Lk 2 , 1 5 - 2 0 vorgesehen, und für die Meßfeier am Tag Jes 52,7-10, Hebr 1 , 1 - 6 und Joh 1,1-18. Die Themen der Lesungen lassen ein Fortschreiten im Tagesverlauf erkennen. Die Vigil dient als Bindeglied zwischen der Erwartungshaltung des Advent und dem geschichtlichen Kommen Christi, das im Stammbaum Jesu nach Mt und der Verkündigung an Joseph angesprochen wird. Die Mitternachtsmesse gibt ihm aktuelle Relevanz mit der Verkündung der allem Volk widerfahrenen „großen Freude". Die Frühmesse berichtet von den Hirten, die den neugeborenen Christus sehen, und spricht die in der Menschwerdung beschlossene Hoffnung auf Erlösung an. Die Tagesmesse richtet sich auf die Erkenntnis des Heilsplans Gottes, der sich in dem theologisch abstrakteren, sprachlich tiefen Johannesprolog erschließt. Das Tagesgebet der Messe für den Tag ist eines der aus der Veroneser Sammlung übernommenen Formulare und bringt Leos Motiv des „wunderbaren Wechsels" zur Sprache: „Laß uns teilhaben an der Gottheit deines Sohnes, der unsere Menschennatur angenommen hat" (Schott-Meßbuch für die Sonn- und Festtage des Lesejahres A, Freiburg i.Br. 1983, 45). Das alte Motiv von Christus als Licht und wahrer Sonne klingt u.a. in dem aus dem altgelasianischen Sakramentar übernommenen Tagesgebet für die Mitternachtsmesse auf: „Herr, unser Gott, in dieser hochheiligen Nacht ist uns das wahre Licht aufgestrahlt" (ebd. 35). Die zweite Präfation für das Weihnachtsfest spricht das Paradox der Menschwerdung und eine Vorausnahme des Ostergeheimnisses an: „Vor aller Zeit aus dir geboren, hat er sich den Gesetzen der Zeit unterworfen. In ihm ist alles neu geschaffen. Er heilt die Wunden der ganzen Schöpfung, richtet auf was darniederliegt und ruft den verlorenen Menschen ins Reich deines Friedens" (ebd. 409).

Die östlichen Kirchen legten herkömmlich größeres Gewicht auf das heute als Epiphaniasfest bezeichnete Fest der Theophania, das bereits vor der Einführung des westlichen Weihnachtsfestes am 25. Dezember bestand und der Feier der Menschwerdung Christi innerhalb des Gesamtzusammenhangs des Ostergeheimnisses gewidmet war. Die Predigten von Gregor von Nazianz von 380 und 381 kennzeichnen für Konstantinopel den Übergang von Epiphanias als umfassendem Inkarnationsfest zu einer Aufspaltung in ein Weihnachtsfest, das dem Gedächtnis der Geburt Christi und dem Besuch der Magier gewidmet ist, und dem Fest am 6. Januar, das auf seine Taufe im Jordan Bezug nimmt. Wie die Predigt von Johannes Chrysostomus von 386 zeigt, hat Antiochien im gleichen Jahrzehnt das neue Weihnachtsfest aufgenommen. Jerusalem dagegen verweigerte sich ihm bis ins 6. Jh. Die armenische Kirche (-»Armenien) hat es niemals angenommen und feiert die Geburt Christi immer noch am 6. Januar. Heute haben alle -»Orthodoxen Kirchen mit Ausnahme der Kirchen von Jerusalem, -»•Rußland und Serbien (-»-Jugoslawien) für ihre Festrechnung mit Ausnahme der Bestimmung des Osterdatums den gregorianischen Kalender angenommen und halten Weihnachten am 25. Dezember; die am julianischen Kalender festhaltenden verzeichnen es unter dem 7. Januar gregorianischer Rechnung. Vierzig Tage vor Weihnachen beginnen die orthodoxen Christen mit einem vorbereitenden Fasten, das weniger streng ist als das der vorösterlichen Fastenzeit (-»Fasten/Fasttage). Während dieser Zeit werden in der Liturgie Zug um Zug weihnachtliche Motive aufgenommen, so z.B. zur Vigil des Festes der Darstellung Marias im Tempel das Thema: „Christus ist geboren, preise ihn!". Am 20. Dezember beginnt die Vorfeier des Weihnachtsfestes, die die Geburt Christi als Voraussetzung des Ostergeheimnisses vorwegnimmt. Die Liturgie des 24. Dezember beginnt mit einer Vesper mit acht Schriftlesungen, die Christus als Erfüllung aller Prophetien darstellen. Die auf die Vesper folgende Basiliusliturgie (s. T R E 1,761,15-25) war die alte Taufliturgie für die Katechumenen, deren Thema: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt" sowohl das Motiv der Geburt Christi als das der Taufe aufklingen läßt. Die Vigil beginnt mit der großen Komplet. Zur Matutin wird der ganze Kanon „Christus ist geboren" gesungen, während die Gläu-

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bigen vor der Ikone der Geburt Christi beten. Die Liturgie des Weihnachtstages nimmt das Thema des Besuchs der Magier auf und betont die Herrschaft Christi. Am zweiten Tag der Weihnachtsfestzeit begehen die Orthodoxen die Synaxis der Theotokos, ein altes Fest der Verehrung Marias, in der die Menschwerdung möglich wurde. In der deutschen evangelischen Kirche liegt der Höhepunkt der liturgischen Weihnachtsfeier bei der Christvesper am Heiligen Abend. Sie umfaßt Lk 2 als Evangelienlesung, die durch eine Auswahl von Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament im Wechsel mit traditionellen, von der Gemeinde gesungenen Weihnachtsliedern erweitert ist, und eine Predigt. In jüngerer Zeit ist mancherorts auch die Feier eines nächtlichen Weihnachtsgottesdienstes üblich geworden, während in anderen Gebieten eine frühe Christmette gefeiert wird. Schriftlesungen finden sich im Lektionar für das Christfest I und Christfest II, den ersten und zweiten Weihnachtstag; als Evangelium ist für den ersten Lk 2 und für den zweiten Joh 1 vorgesehen, doch können die Lesungen auch ausgewechselt werden. Amerikanische Lutheraner, Episkopalisten und Methodisten benutzen das von der Consultation on Common Texts erstellte Common Lectionary, nach dem die gottesdienstliche Feier der „Geburt unseres Herrn" jeweils eine der folgenden Textreihen verwenden kann: Jes 9, Tit 2 und Lk 2 , 1 - 2 0 ; Jes 52, Hebr 1 und Joh 1,1 — 14; Jes 62, Tit 3 und Lk 2 , 1 - 2 0 . M. -»Luther hat das Weihnachtsfest nicht nur durch Weihnachtslieder wie Vom Himmel hoch (1535) bereichert, sondern auch den noch bis Mitte der dreißiger Jahre in seinem eigenen Haus gepflegten Brauch der Nikolausgeschenke auf das Weihnachtsfest verschoben. Erst das 19. Jh. hat allerdings das nun zum Fest der bürgerlichen Familie ausgestaltete Weihnachtsfest mit der häuslichen Weihnachtsfeier und Weihnachtsbräuchen wie dem Christbaum auf den Reformator zurückprojiziert. In der gleichen Zeit verselbständigt sich auch der Begleiter des Gabenbringers Nikolaus, Knecht Ruprecht, zum Weihnachtsmann. Die reformierten Kirchen stellten sich im allgemeinen gegen das Weihnachtsfest, da sie unterstellten, es entspringe heidnischem Brauch und sei mit Riten der römischen Kirche verbunden. 1550 wurden in Genf alle nichtbiblischen Festtage untersagt. Es kam darüber zu erheblichen Auseinandersetzungen, und -» Calvin selbst nahm keine so starre Position ein wie andere Reformierte. In -»-Schottland unterband 1560 John ->Knox das Weihnachtsfest und alle anderen kirchlichen Feste, und die schottischen Presbyterianer hielten bis weit ins 20. Jh. an ihrer strengen Praxis fest. Die -+ Quäker hielten wie die englischen Puritaner des 17. Jh. (s.u.) am 25. Dezember trotz äußeren Drucks ihre Schulen und Geschäftsräume offen. Heute reicht die Praxis der -»Presbyterianer und Quäker von einer nicht herausgehobenen Einhaltung des Weihnachtsfestes bis zu seiner häuslichen Feier im Einklang mit den kulturellen Verhaltensmustern des weltlichen Umfeldes. Zur englischen Weihnachtsfeier des 17. Jh. gehörte nicht nur der Gottesdienst, sie schloß auch Gelage, Trunkenheit, Glücksspiel, Tanzen und ungebärdiges Auftreten in der Öffentlichkeit ein. Daher wandte sich die puritanische Bewegung (—»Puritanismus) schroff gegen die Weihnachtsfeier, und 1647 wurden durch ein Parlamentsgesetz alle derartigen Festtage untersagt. Geschäfte und Gerichte sollten am 25. Dezember wie gewöhnlich geöffnet sein; doch es kam auf den Straßen auch zu Schlägereien zwischen Befürwortern und Gegnern des Weihnachtsfestes (Durston 211-223). Nach der Restauration der englischen Monarchie 1660 wurde die Einhaltung der Verbote nicht mehr durchgesetzt. Doch es dauerte bis ins 19 Jh., bevor sich Weihnachten in —»England, zum Teil unter dem Einfluß des aus Deutschland stammenden Prinzen Albert, des Gemahls der Königin Victoria (1819—1901), zu einem verbreiteten und überschwenglich gefeierten volkstümlichen Fest mit eigenen Bräuchen wie dem Weihnachtsbaum entwikkelte. In den -»-Vereinigten Staaten von Amerika ist ein ähnlicher Verlauf zu beobachten: In Neuengland und Pennsylvanien, Kolonien, die von einer großen Zahl englischer Puritaner sowie von Presbyterianern, Quäkern und Mennoniten (-»Menno Simons/Mennoniten) besiedelt wurden, wurde Weihnachten bis zur Mitte des 19. Jh. nicht gefeiert. Demgegenüber behielten in den südlicheren Kolonien die englischen Siedler seit dem

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17. Jh. ihre anglikanischen Gottesdienstformen und Gebräuche bei, und in New York begingen die niederländischen Siedler ihre eigene Weihnachtsfeier. In der Gestalt der anglikanischen Weihnachtsliturgie gibt es in jüngerer Zeit einige Unterschiede zwischen Anglokatholiken und Evangelikaien; doch bildet für die meisten kirchlich aktiven Gemeindeglieder die heilige Kommunion den Höhepunkt. Während das —*Book of Common Prayer den Heiligen Abend lediglich durch eine Kollekte im Abendgebet gekennzeichnet hatte, wird er nach modernen anglikanischen Agenden wie dem englischen Common Worsbip von 2000 mit Gebeten und Schriftlesungen begangen, die auf das Weihnachtsfest einstimmen. Es sind kennzeichnende Kollekten und Schriftlesungen für die mitternächtliche Eucharistiefeier als den Beginn des Weihnachtstages und für weitere Feiern im Tagesverlauf vorgesehen. Traditionelle englische Weihnachtslieder tragen die musikalische Gestaltung des unmittelbar vor Weihnachten stattfindenden Gottesdienstes der Nine Lessons and Carols, dessen bekannteste Form im King's College in Cambridge gehalten wird. 3. Praktische

Theologie

Im 5. Jh. stand die Feier des Weihnachtsfestes unter dem spürbaren Einfluß eines Umfeldes, das noch von einer verbreiteten Sonnenverehrung bestimmt war. Heute wird Weihnachten in den nordatlantischen Gesellschaften durchgängig von Kommerzialisierung, Tourismus, Sentimentalität, Streß und einer allgegenwärtigen Verkitschung (-•Kitsch) durchdrungen. Die Bemühungen von Pastoren und Katecheten, in den Gemeinden auf eine Einstellung zum Weihnachtsfest zu drängen, die sich den herrschenden Tendenzen des kulturellen Umfeldes widersetzt, dürften unter dem starken Druck einer hochgradig säkularisierten, von hohen Erwartungen an materielles Wohlergehen und relative Sicherheit bestimmten Gesellschaft wenig Uberzeugungskraft besitzen. Erst seit kurzem beginnt man unter kulturhermeneutischer Perspektive die heute verbreitete Weise, Weihnachten zu feiern, als theologisch relevanten Kontextualisierungsprozeß des Christentums zu verstehen (vgl. Morgenroth). 3.1. Advent, Weihnachten, Epiphanias. Der Festkreis ist bestimmt durch eine besinnliche Vorbereitungszeit eigener Prägung, die auf das Kommen Christi ausgerichtet ist (Advent), und durch das Weihnachtsfest, an das sich eine eigene Festzeit mit kleineren Festen anschließt, und sie gipfelt schließlich zwei Wochen später im Epiphaniasfest, das die tiefgreifende Bedeutung der Menschwerdung Christi bedenken läßt. Schon lange vorher beginnt der weltliche Weihnachtsbetrieb mit dem Auftauchen der ersten Weihnachtsartikel in den Läden und verstärkt sich ab Mitte November mit Weihnachtsmärkten, Weihnachtsfeiern in Betrieben und Vereinen und Weihnachtskonzerten und -spielen, bis dann nach dem 26. Dezember abrupt alles zu Ende ist. Die Christen sehen sich beständig in widerstreitende Zeitrhythmen versetzt. Während der Adventszeit vom allgemeinen Weihnachtsbetrieb in Anspruch genommen, begehen sie das kirchliche Weihnachtsfest zu einer Zeit, zu der ihre Begeisterungsfähigkeit bereits erschöpft ist. 3.2. Gelegenheitschristen. Trotz einer beständigen Abnahme der regelmäßigen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst ziehen die Weihnachtsgottesdienste die meisten Gottesdienstbesucher im ganzen Jahr an, von denen viele auch nur zu Weihnachten in den Gottesdienst kommen. Das kann einerseits eine begrüßenswerte Gelegenheit zu einer kirchlichen Öffnung sein, die diesem Personenkreis das Gefühl zu vermitteln sucht, in der Kirche willkommen zu sein, und sich bemüht, sein Interesse und seine Anteilnahme wachzurufen. Andererseits umfaßt so die gottesdienstliche Gemeinde am Weihnachtsfest eine beträchtliche Zahl von Kirchenbesuchern, die wenig von der Liturgie verstehen und nicht in vollem Umfang an ihr teilnehmen können oder die von Erwartungen bestimmt sind, die auf der Liturgie ihrer Kindheit beruhen. Ihnen erschließt sich möglicherweise nur ein vordergründig kindliches Verständnis der Menschwerdung und des

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tieferen Sinnes der traditionellen Weihnachtsgeschichte aus Lk 2. In gewisser Weise ist auch das ein Niederschlag der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes: Der Weihnachtsgottesdienst wird neben Konzerten und Weihnachtsfeiern zu einem weiteren festtäglichen Ereignis, das die eigene festliche Gestimmtheit bereichern soll. 3.3. Bindung an klimatische Gegebenheiten. Die mit dem Weihnachtsfest verbundene und es mitprägende Symbolik ist weithin von ihren nordeuropäischen Wurzeln bestimmt. Die Vorstellungswelt der frühesten Weihnachtspredigten aus dem Mittelmeerraum, die Christus als die wahre Sonne zeichnet, die zur Wintersonnenwende Kraft gewinnt, und als das Licht, das einem Volk aufscheint, das im Finsteren wohnt, wirkt weiter nordwärts infolge des scharfen Kontrastes zwischen der Dunkelheit im Dezember und dem strahlenden Glanz des Lichtes von Kerzen, Kaminfeuern oder der glitzernden Festbeleuchtung städtischer Straßen noch eindringlicher und kraftvoller. Physiologisch erfahren Menschen das Licht als ein Medium, das Depressionen und Energielosigkeit entgegenwirkt. Das jedoch hängt ganz von der geographischen Lage ab. Auf der Südhalbkugel liegen die Jahreszeiten umgekehrt, und Weihnachten fällt mitten in den Sommer, wenn die Menschen Ferien am Strand machen und nach Kühlung verlangen. Manche Klimazonen kennen auch keinen spürbaren Wechsel der Jahreszeiten. Für die unter solchen klimatischen Bedingungen lebenden Christen muß die traditionelle Weihnachtssymbolik von Licht und Finsternis, die so eng mit Bibelworten und zumindest implizit mit der Wintersonnenwende verbunden ist, gänzlich neu bedacht werden. Auf der anderen Seite müssen die Christen der nördlichen Klimazonen lernen einzusehen, daß viele ihrer mit dem Weihnachtsfest verbundenen Symbole klimabedingt sind und daher nur eine relative Geltung und keine allgemeinverbindliche Aussagekraft haben. 3.4. Soziales Bewußtsein. In Deutschland waren während der 70er und 80er Jahre des 20. Jh. Handreichungen für den Unterricht und die Gemeindearbeit in weitem Umfang darauf ausgerichtet, im Zusammenhang mit Weihnachten das Bewußtsein sozialer Verantwortung zu fördern. 20 Jahre später scheint der Schwung dieses Engagements weithin abgeklungen, obwohl die großen Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt, Adveniat und Misereor nach wie vor ihre Spendenaktionen in der Adventszeit starten. Demgegenüber stehen in den USA weihnachtliche Wohltätigkeitsvorhaben in hoher Blüte, aber näherhin als Unternehmen privater Wohltätigkeit, die ein festzeitliches Selbstgefühl von Warm- und Großherzigkeit auf Seiten der Geber fördern mögen, aber wenig dazu beitragen, ungerechte soziale oder wirtschaftliche Grundbedingungen zu verändern. 3.5. Leitbilder des Weihnachtsfestes. Einzelne Seiten der vorherrschenden kulturellen Einstellungen zum Weihnachtsfest können ungesunde oder unrealistische Erwartungen an die eigene Person oder an das Festgeschehen auslösen. Eine davon ist der starke Druck auf Eltern, ihren Kindern ein eindrucksvolles und beglückendes Weihnachtsfest zu bereiten, als sei Weihnachten an sich ein Konsumartikel. Insbesondere Frauen sind dem Druck ausgesetzt einzukaufen, zu backen, Geschenke einzuwickeln, zu organisieren, einzuladen, die Wohnung herzurichten und als Gastgeberin aufzutreten. Dabei ein Kräftepotential aufrecht zu erhalten, das hinreicht, das Fest mit der Familie zu genießen, ist oft schlechterdings unmöglich. Eine andere Seite ist das Vorbild einer idealen Familie, das in den Gestalten der Heiligen Familie in der klassischen Krippenszene künstlerischen Ausdruck findet. Deren Mittelpunkt ist das Kind in der Krippe, das von der ganzen Welt geliebt und erwartet und von beiden Eltern angebetet wird. Wenige Familien leben in einer solch idyllischen Dreierbeziehung. Das Kind hat keine Geschwister, die seine Stellung im Mittelpunkt der Familie in Frage stellen könnten, und es mag unterschwellig auch ein egozentrisches Bedürfnis widerspiegeln, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, verehrt nicht nur von den eigenen Eltern, sondern auch von Fremden, Engeln und auswärtigen Königen mit kost-

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baren Gaben (Uleyn). Gesellschaftliche Bedeutung hat die Tatsache, daß dieses heiß ersehnte Kind männlich ist; denn in patriarchalischen Gesellschaften ist ein Junge der Familienerbe, der den Familiennamen weiterträgt und dessen Geburt ein weit größerer Anlaß zur Freude ist als die eines Mädchens. Alles das kann weiterwirken als normatives Muster eines Familienbildes, das letztendlich einer emotionalen Reifung und der Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau entgegensteht. 3.6. Volksbrauch. Wohl kein anderes religiöses Fest ist so sehr wie das Weihnachtsfest von einer Fülle liebgewordener volkstümlicher Traditionen (-* Volksfrömmigkeit) umgeben, die sich auch gegenüber der Säkularisation und gesellschaftskritischen Einwänden behaupten. Der Weihnachtsbaum, der zuerst 1521 im Elsaß bezeugt ist und im 19. Jh. allgemeine Verbreitung fand, wurde ursprünglich mit Äpfeln und Oblaten geschmückt. Er wurde Paradiesesbaum genannt, da er mittelalterlichen Mysterienspielen entstammte, die den Fall im Garten Eden darstellten und am 24. Dezember, dem Gedächtnistag Adams (—•Adam) und Evas, aufgeführt wurden. Das Aufstellen des Weihnachtsbaums wurde schnell häuslicher Brauch, und die Oblaten wurden durch Weihnachtsgebäck und Lebkuchen ersetzt (Cullmann 54-61). Heute erstrahlen Weihnachtsbäume im Licht elektrischer oder herkömmlicher Kerzen und sind mit gläsernem oder hölzernem Baumschmuck behängt. Die hölzerne Weihnachtspyramide mit Kerzen ist aus dem Weihnachtsbaum entstanden. Die Sitte der Weihnachtsgeschenke wird oft geistlich als Symbol der von Gott den Menschen geschenkten Gabe des Christuskindes gedeutet; sie haben aber Vorgänger in den im alten Rom gebräuchlichen Neujahrsgaben. Kinder erwarten gespannt reiche Gaben, in deutschsprachigen Ländern vom Weihnachtsmann oder dem Christkind, in englischsprachigen von Santa Claus, in den Niederlanden und in Flandern am 6. Dezember von Sinterklaas, in Frankreich von Père Noël, in Italien zu Epiphanias von der Hexe Befana oder in Spanien, ebenfalls zu Epiphanias, von den Heiligen -»Drei Königen. Auf den in deutschen Städten üblichen, heute auch auf die Nachbarländer ausgreifenden Weihnachtsmärkten werden bestimmte Geschenkartikel und Genußmittel (Glühwein, Gebäck, Stollen, geröstete Mandeln) angeboten. Das Verschicken von Weihnachtskarten an Verwandte und Freunde bietet Gelegenheit, in jährlicher Verbindung zu bleiben und Neuigkeiten auszutauschen. Das Backen von Weihnachtsgebäck und die Vorbereitung festlicher Mahlzeiten für die Familie oder einen Freundeskreis sind ebenso beliebte Elemente der häuslichen Weihnachtsfeier wie selbstgefertigter und kunstgewerblicher Weihnachtsschmuck. Krippenspiele in Kirchen, Schulen und auf öffentlichen Plätzen setzen die biblische Weihnachtsgeschichte in Szene. 3.7. Musik. Eine spezifische Weihnachtsmusik läßt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Sie hat ihren Ursprung in der musikalischen Gestaltung der drei Weihnachtsmessen mit ihren Tropen und Sequenzen (vgl. TRE 15,759,35-760,19) und dem auf Lk 2,14 beruhenden Gloria (vgl. T R E 11,267,23 - 4 7 ) . Zu den beliebten Weihnachtsliedern gehört nicht nur Luthers Vom Himmel hoch, sondern auch Adeste Fideles, Stille Nacht, Heilige Nacht, Es ist ein Ros entsprungen und Nun komm, der Heiden Heiland. Anspruchsvollere Choralwerke enthalten das Weihnachts-Oratorium von J.S. -»Bach und die auf Weihnachten bezüglichen Stücke aus G.F. -»Handels Messias. Heute wird ein reicher Schatz anspruchsvoller Weihnachtsmusik in Kirchen und Konzertsälen aufgeführt. Volkstümliche und auch weltliche Weihnachtslieder werden gelegentlich von Sängern vorgetragen, die in ihrer Nachbarschaft von Tür zu T ü r ziehen, und sie werden beständig über den Rundfunk und in Kaufhäusern und Supermärkten verbreitet. 3.8. Kommerzialisierung. Letztendlich mag die Instrumentalisierung des Weihnachtsfestes durch Produktion, Vermarktung und übersteigerten Konsum Christen wie Nichtchristen gleichermaßen bedauerlich erscheinen, nicht nur, weil sie der dem Fest eigenen geistlichen Tiefe und den in ihm gefeierten Werten widerspricht, sondern auch, weil

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sich darin vergrößert und verstärkt die Einstellungen einer hochgradig pragmatischen, auf sich selbst fixierten Gesellschaft widerspiegeln. Mehr als andere christliche Feste ist dieses von der allgemeinen Kultur vereinnahmte christliche Fest in der Lage g e w e s e n , sein Gewicht und seine Bedeutung auch in pluralistischen, nachchristlichen Gesellschaften zu wahren, in denen Funktionalität leicht zum höchsten Wert wird. Es ist möglich, daß Weihnachten trotz eines Überbordens von Kitsch und Sentimentalität eine Art v o n -•Spiritualität bietet, die auch denen zugänglich ist, die überkommenen christlichen Symbolen gegenüber Unbehagen empfinden, und ein konkretes, verständliches Bild einer H o f f n u n g für die Z u k u n f t vor Augen führt. Quellen Alkuin, Comes: s.u. Comes. - Ambrosius v. Mailand, De virginibus, ed. Otto Faller, 1933 (FlorPatr 31). - Ders., De fide, ed. Otto Faller, 1962 (CSEL 78). - Ders., Hymnen: Ambroise de Milan, Hymnes. 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II. Weihnachtspredigt 1. Aufgaben und Probleme 1. Aufgaben

und

2. Gestalten

(Quellen/Literatur S. 471)

Probleme

Die homiletische Situation von Weihnachten ist in sich so unterschiedlich wie nie. Die Vielfalt der Gottesdienste am Heiligen Abend (Krabbel-, Kinder-, Familien-, Jugend-, Singegottesdienste, Christvesper, -mette, Meditationen mit Bild, Musik, Literatur, „Hirtenfeuer", Nachtwachen) wird durch Gottesdienste unterschiedlichen Charakters an den beiden Feiertagen, sowie im gesamten Weihnachtskreis vom 1. Advent bis zum letzten Epiphaniassonntag noch erweitert. Trotz besonderer Zielgruppen-Angebote ist die Gemeinde jeweils so vielfältig wie nie. Besonders zu klären ist das Verhältnis von denen, die regelmäßig und denen, die nur zu Weihnachten zum Gottesdienst kommen samt ihrer unterschiedlichen Erwartungen. Unbeschadet dieser Vielfalt stellen sich für die verschiedenen Situationen zahlreiche gemeinsame Aufgaben und Probleme. 1.1. Alle Welt sieht: „Es ist ein Kind zur Welt g e k o m m e n " , die Weihnachtspredigt läßt hören, was kein M e n s c h sich selbst sagen kann: „Darin ist G o t t zur Welt gekomm e n " . Es ist Gottes gnädige Zuwendung zur Welt: der -»Schöpfer beginnt innerhalb seiner alten Schöpfung ganz neu, mit etwas noch nie Dagewesenem. E r k o m m t ihr so nahe, daß er selbst ein Geschöpf wird. So wird er seiner Schöpfung gerecht, erweist ihr Treue und Gerechtigkeit. D a r u m das „Fest der Versöhnung". In seiner Menschwerdung zeigt G o t t seine Menschenfreundlichkeit, seine Menschlichkeit und gibt damit der des Menschen einen M a ß s t a b . D a r u m das „Fest der Liebe". Die Weihnachtspredigt hat dem Paradox der Menschwerdung Gottes Sprache zu leihen und der ihr innewohnenden Spannung von Vertrautem und Fremdem als Geheimnis und Wunder Ausdruck zu geben. „Inkarnation wird nur durch Inverbation zur Inspiration unserer E x i s t e n z " (Schröer, Probleme 713). Dazu bedarf es „kreatorischer" Arbeit und der Suche nach aufmerkenden, unverbrauchten Formulierungen: z.B. „Der heruntergekommene Gott" (Kurt Marti), „Gott verfremdet sich" (Schröer, Überlegungen 396), „Der eingefleischte Gott", „Gott fällt aus der Rolle, dem Rahmen", „Gottes Liebe bekommt Hand und Fuß", „Gott wird zum Windelträger", „Gott wird zu einem,

Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt II

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der nicht immer kann", „Gott macht sich abhängig", „In Gottes Wohngemeinschaft". Dazu korrespondiert die Predigt mit der Kunst (Poesie, Literatur, Malerei, Musik), die auf ihre Weise von der Spannung zwischen Fremdem und Vertrautem lebt und so -»Transzendenz erfahren läßt.

1.2. Der Satz „In Jesus ist Gott zur Welt gekommen" ist nur richtig im Zusammenhang mit dem anderen: „Gott ist zuvor in Israel zur Welt gekommen". Die Weihnachtsbotschaft ist das Geheimnis der Selbsterniedrigung Gottes, die zum Profil des Gottes Israels gehört: Gottes Größe ist, daß er sich klein macht - um seines Volkes, um seiner Schöpfung willen. Darum bleibt die Weihnachtspredigt auf alttestamentliche Texte angewiesen und erweist sich als ein neuralgischer Punkt im christlich-jüdischen Dialog. Damit sie nicht Mißverständnisse weckt bei Menschen, die undifferenziert „monotheistisch" denken (und mehrheitlich gerade an Weihnachtsgottesdiensten teilnehmen), hat sie die Aufgabe der Christusverkündigung in der Perspektive des Ersten Gebotes. Die Aussage der Menschwerdung radikalisiert die Deszendenz Gottes so, daß die Judenheit damit den Grundkonsens jüdischer Rede von -»Gott verlassen sieht. Gleichwohl ist sie aus christlicher Sicht keine Korrektur des Judentums, sondern eine jüdische Zuspitzung jüdischer Erwartungen (die grundsätzlich für Unerwartetes offen sind). Die Asymmetrie der beiden Sichtweisen ist auszuhalten und ihr insoweit homiletisch Rechnung zu tragen, daß einerseits die Kontinuität mit dem jüdischen Bekenntnis zum Einen Gott gewahrt und andererseits Gottes radikale Selbsterniedrigung in seiner Menschwerdung nicht „arianisch" verkürzt und gemildert wird.

1.3. Gewagt wird die den Konsens mit dem Judentum verlassende Aussage „Gott wird in Jesus Mensch", weil es sich um die Geburt dessen handelt, der als einziger Mensch vorab von den Toten auferweckt und darum von allen anderen Geschöpfen unterschieden wurde. Die Weihnachtspredigt bleibt also, unbeschadet ihres eigenen Themas, (historisch wie theologisch) auf die Auferweckung des Gekreuzigten bezogen. Die Geburtsgeschichte ist lediglich der Beginn der „ausführlichen Einleitung" zu seiner Passionsgeschichte (Krippe-Kreuz). Sie erzählt, daß Gottes Neuschöpfung, die mit der Auferweckung Jesu sichtbar geworden ist, bereits verborgen im Leib der Maria begonnen hat. Dementsprechend ist die biblische Textbasis für die Menschwerdung Gottes schmal und marginal. Neben der „Störy" (der „heiligen Geschichte", der „Festlegende") in Mt 1 - 2 ; Lk 1 - 2 stehen die „Messias-Verheißungen" im Alten Testament, die allerdings nur in Jes 7 und 9 von einer „Geburt" sprechen. Auch die übrigen traditionellen Predigttexte bieten zur Menschwerdung nur verwandte Motive, wie Epiphanie, Theophanie, Fleischwerdung des Wortes oder Sendung des Sohnes. Homiletisch reizvoll, weil verfremdend, ist die (an diesem Fest) „ungepredigte Bibel": z.B. Jes 6 6 , 1 0 - 1 4 ; Mt 6,10/Mk 10,51; Mt 10,34; 18,3; 2 1 , 1 4 - 1 7 ; Mk l,14f.; 2,21 f.; Lk l l , 2 7 f . ; 17,5f.; Joh 3,3; 7 , 2 - 9 ; 1 2 , 1 - 8 ; 16,33; Apk 22,16; Ich-bin-Worte im Johannesevangelium.

1.4. Das Verhältnis von biblischem Text zum „Text des Festes", zu dem sich „die Geschichten, die Bräuche und die Menschen, von denen das Fest lebt, verbinden" (Bieritz 8), ist zu klären. „Niemand kann Weihnachten nicht feiern . . . Weihnachten ist eine totale Institution in der Zeit" (Josuttis 88). Im Rahmen einer „Theorie des Festes" (-»-Feste und Feiertage), die der „Konvergenz zwischen biblisch begründeter und außerkirchlicher Festgestaltung" (Josuttis 91) Rechnung trägt, „Berührungspunkte und Wechselbeziehungen" (Breit 34) zwischen beiden reflektiert und damit die traditionelle Abgrenzung eines christlichen Kerns von heidnischen Rändern des Festes überwindet, „leistet (die Predigt) Arbeit am kollektiven Gedächtnis durch Aktualisierung einer spezifischen Situation" (Josuttis 94). Nach Josuttis tut sie das bei Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium" auf dreifache Weise als Zuspruch und Kritik (im Indikativ) und als Wegweisung (im Imperativ). 1.5. Gegen die Tendenz, die Präsenz des Heils zu betonen, ist das Fragmentarische des Kommens Gottes in die Welt im Blick zu behalten (Bohren 258). Statt des (sublim antijüdischen) Auslegungsmodells „Verheißung und Erfüllung" muß die Weihnachtspredigt (bekräftigte) Verheißung bleiben. Auch sie versetzt in den Wartestand. Es gibt einen Überschuß an Verheißung, auf deren Erfüllung die Christen- mit der Judenheit gemeinsam wartet.

470 2.

Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt II Gestalten

Wenn die Weihnachtspredigt vor allem zu sagen hat, was Gott getan hat und darum tut und tun wird und wer Gott deshalb ist, dann kann das nicht geschehen ohne dessen Bezug zu Lebensgeschichten (2.1.), Weltgeschichte (2.2.) und Kosmos (2.3.). „Credo und Erfahrung" (Knieling) sind wesentlich aufeinander bezogen. 2.1. Daß Gott mit der Menschwerdung den elementaren Lauf menschlichen Lebens teilt, nötigt zu ihrer lebensgeschichtlichen Auslegung und ihrer Feier als „Fest der Geburt". So macht die Weihnachtsgeschichte Geschichte in Lebensgeschichten. Das Fest des Kindes: Wenn Gott -»Kind geworden ist, dürfen wir „werden wie die Kinder" (vertrauen, empfangen, angewiesen bleiben) und zugleich wachsen (Infantilismus überwinden, Regression vermeiden) und die Kunst des Lebens einüben (als Starke Schwäche zeigen, als Macher empfangen, als Planer vertrauen). Das Fest der Mutter-, Wenn die Menschwerdung Gottes im Bauch einer Frau beginnt („Gottesgebärerin"), ist sie keine „Mannwerdung". Sie öffnet den Blick für Gottes „weibliche Züge" und befreit zur Menschlichkeit von destruktiven Männer- wie Frauenbildern. Sie kritisiert omnipotente Männerphantasien wie „abwesende Väter" und hilft, partnerschaftliche Gemeinschaft von Frauen und Männern einzuüben. Das Fest der -»Familie: Die „heilige Familie" weckt Visionen heilen Lebens (Schutz, Geborgenheit, verläßliche Beziehungen). Ohne biblisches Korrektiv familienkritischer Texte (z.B. Lk 2,41-52; Mk 3,31-35) führt das zu illusionärer Kleinbürger-Idylle, in der Familie quasi-religiös zelebriert, Harmonie eingefordert und der Kontrast zwischen Wunsch und Wirklichkeit gerade zu Weihnachten (mit oft katastrophalen Folgen) unübersehbar wird. Demgegenüber befreit die Weihnachtsbotschaft von zwanghaftem Verhalten, Verdrängung und Harmoniesucht zu Redlichkeit und Offenheit, in der Auseinandersetzung ermöglicht und Streit kultiviert werden kann. Das Fest der Lebensfülle: Wenn Gott sich schenkt, ist das allemal ein Fest wert, das vor Freude, Uberschwang und Lebensfülle strotzt und dem Schenken und Beschenktwerden, Schlemmen, Singen und Tanzen höchst angemessen sind. Wie Gott sich schenkt, ist dafür aber auch das Maß, das die ökonomisierung und Kommerzialisierung des Festes ebenso kritisiert, wie es für alternative Feierformen beispielgebend ist. 2.2. Bedeutet die Menschwerdung Gottes die Aufrichtung seiner Gerechtigkeit in sie bestreitenden Verhältnissen, so ist auch die Weihnachtsgeschichte Kampfgeschichte Gottes. Sie bewegt Weltgeschichte. Das messianische Kind ist Gegenkönig - im Alten Testament zu Herrschern jedweder Art, bei Matthäus zum Kinderschlächter Herodes, bei Lukas zum römischen Imperator und seinen Statthaltern. Die dem innewohnende gewalt- wie herrschaftskritische Tendenz ist homiletisch aufzunehmen und zu aktualisieren. Die Kritik an der Tempelaristokratie (Mt 2 , 3 - 6 ) führt hermeneutisch reflektiert zur Kirchen- statt zur (traditionellen) Judenkritik. Bringt der „Friedefürst" einen streitbaren „Frieden auf Erden", gewaltfreie Gegenkraft zum imperialen Gewaltfrieden (Pax Romana; -•Frieden), kann sich die Weihnachtspredigt die darin liegenden Provokationen für die je neuen Aktualisierungen als „Fest des Friedens" kaum ersparen. Gott schafft Gerechtigkeit durch seine Parteilichkeit. Damit, daß er ein „marginalisierter" Mensch wird, ist über Gottes Platz in der Welt entschieden. Gerade dieses Motiv hat in den Bildenden -»Künsten seit dem Mittelalter bis heute und in zahllosen „Krippenspielen" zum Stilmittel des Anachronismus geführt: Die Geburt Jesu wird in den Elendsquartieren der jeweiligen Zeit in Szene gesetzt. Analog kann die Predigt verfahren, nämlich „Geschichten so zu erzählen, daß sie ihren doppelten Boden behalten" (Bieritz 14). Die Geburtsgeschichte Jesu ist ein Glied in der Kette menschlicher Passionsgeschichten. Darin ist sie uns vertraut. Sie ist uns aber zugleich fremd, weil sie auch die Passionsgeschichte Gottes ist. Die (in der Passion Gottes begründete) befreiende und verändernde Kraft für alle menschlichen Passionen hat die Predigt zu entbinden. Die fremde damals geschehene Geschichte wird nicht nur illustriert durch das uns heute Vertraute, sie verändert es auch. Der von klein- wie großbürgerlicher Harmoniesucht genährte Wunsch nach einer „unpolitischen" Weihnachtspredigt kann also nur um den Preis der Entpolitisierung der Weihnachtsgeschichte und der Reduzierung von Wesentlichem ihrer Botschaft erfüllt werden. Für eine Predigt aber, die sich nicht auf Ethik beschränkt, ist „politisch" kein Gegensatz zu „seelsorglich". 2.3. Wenn Gott seine Treue zu seiner alten Schöpfung darin bewährt, daß er in ihr seine Neuschöpfung beginnt, dann hat das auch kosmische Dimensionen. Der Neugeborene ist Herr über Natur und Kosmos, nimmt deshalb denen, die ihm trauen, Angst

Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt II

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und Feigheit und gibt ihnen Verantwortung für die Hege und Pflege der Schöpfung und befähigt und ermutigt dazu. Darum wandern im Lauf der Tradition die Tiere (Ochs und Esel aus Jes 1,3) an die Krippe Jesu, und das Reis aus Jes 11,1 wird zur im Winter erblühenden Rose. Die Sterne werden bewegt, und die Repräsentanten der Weltvölker verneigen sich (Mt 2, 1 - 1 2 ) . Das Geschehen „in der Nacht" (Lk 2,8) wird zum Sieg des Lichtes über die Dunkelheit. Die darin liegende Metaphorik (Mitternacht, Wintersonnenwende) führt zur Identifikation von Christus mit dem sol invictus, macht Weihnachten zum „Fest des Lichtes" und bestimmt später sein Datum. Quellen (Predigtsammlungen

und -Studien)

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Weihrauch I. Religionsgeschichtlich II. Praktisch-theologisch

S. 475

I. Religionsgeschichtlich (Literatur S. 474) 1. Von den ca. 15 Arten der Gattung Boswellia liefern die in Südarabien, auf der Insel Sokotra und Nordostsomalia wachsenden Sorten den sog. echten Weihrauch mit dem für den Duft verantwortlichen hohen Anteil an ätherischem Öl. Es handelt sich um Boswellia Carteri und der in Somalia vorkommenden Subspezies. Diverse BoswelliaArten wachsen auf der Insel Sokotra. Das Gedeihen des Weihrauchbaumes, der in Südarabien bis 3 Meter hoch werden kann, hängt von bestimmten klimatischen Bedingungen ab (Feuchtigkeit, Temperatur, Bodenbeschaffenheit), weshalb Kultivierungsversuche in anderen Regionen nicht erfolgreich waren. Der Weihrauch besteht im wesentlichen aus Harzen bzw. Harzsäuren, Gummi und ätherischem Öl. Ein weihrauchähnliches Produkt liefert die an der Koromandelküste in Indien wachsende Boswellia serrata Roxb. (Boswellia thurifera Colebr.). Von Boswellia papyrifera, die im Sudan, in Äthiopien und Uganda gedeiht, wird ebenfalls ein Räucherwerk minderer Qualität gewonnen. Am Stamm und den Ästen des Weihrauchbaumes werden im Frühsommer (Mai) Einschnitte gemacht, aus denen dann ein milchiges Harz ausläuft. Man läßt dieses Harz an der Luft 7 - 1 0 Tage trocknen, was zu einer gelblichen bis rötlichen Tönung führen kann, und schneidet dann die tropfenförmigen Gebilde, den Weihrauchklumpen, ab. Nach einer längeren Ruhepause (mindestens ein halbes Jahr) wird ein neuer Einschnitt vorgenommen. Je nach Färbung des Weihrauchs unterscheidet man verschiedene Sorten. Weißes Weihrauchharz galt am wertvollsten. Normalerweise hat das Harz eine gelbliche Farbe. Die regio turifera liegt in Hadramaut. Im wesentlichen ist es das Bergland von Dofär (klassisch-arab. Zafär), wo der Weihrauch auch noch wild wächst. Vereinzelt kommt der Weihrauch in der Region Mahra und der Provinz Hagr vor. 2. Da kein antiker Kult ohne den Weihrauch auskam und der Weihrauch obendrein bei Leichenbegängnissen und säkularen Festen, für Parfüm und Kosmetik sowie als materia medica verwandt wurde, war die Nachfrage groß und der Preis dafür entsprechend hoch. Seine Wirkung als Analgen bzw. Stimulans verdankt der Weihrauch wohl dem durch eine Reaktion von Olivetol mit Verbenol entstehenden Delta-9-Tetrahydrocannabinol, das ansonsten ein typischer Inhaltsstoff von Cannabis indica ist. Die seit Herodot und der Dichterin Sappho belegten Worte libanos und libanötos (für Weihrauch, Weihrauchbaum) scheinen, vermittelt durch das Phönikische, auf ein altsüdarabisches libän bzw. *libänöt (als dialektischer Pluralform im Femininum) zurückzugehen, sofern es sich bei dem letzteren Nomen nicht um einen phönikischen femininen Plural (im Sinn von „Weihrauchkörner") handelt. Etymologisch ist das Wort von der semitischen Wurzel Ibn „weiß sein" abgeleitet. Den Griechen war die Heimat des Weihrauchs anfangs nicht bekannt. Man verlegte seine Herkunft wohl wegen der Homophonie mit dem Libanon-Gebirge in den syrischen Raum, was wohl auch den Intentionen der phönikischen Händler entsprach. Erst Herodot kennt das eigentliche Anbaugebiet. Das Weihrauchland in Arabien werde - so Herodot (111,107) - sorgsam von kleinen geflügelten Schlangen bewacht. Zur Zeit der Weihrauch-Ernte müßten sie durch Storax-Rauch verjagt werden. Die Beschreibungen des Weihrauchs bei Theophrast und Plinius lassen in manchen Details (z. B. Weihrauchgewinnung) auf genaue Informationen schließen. Andere Nachrichten dienten vermutlich der Abschreckung, um das Weihrauch-Monopol nicht zu gefährden. Nach dem Periplus Maris Erythraei (§29), dessen Autor mit den Regionen am Roten Meer vertraut

Weihrauch I

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war, herrsche in den Anbaugebieten des Weihrauchs ein sehr ungesundes Klima, das den d o r t arbeitenden Sklaven und Sträflingen den Tod brächte. Selbst Schiffe, die vor der Küste der regio turifera kreuzten, w ü r d e n Schaden nehmen. Hierher gehört auch die oben e r w ä h n t e N o t i z H e r o d o t s über die Weihrauchgebiete. Sofern nicht bereits die südarabischen H ä n d l e r solche Gerüchte zur Abschreckung unliebsamer Besucher in Umlauf brachten, sind solche Informationen aus d e m N a m e n der Landschaft H a d r a m a u t , „Land des T o d e s " , erschlossen, in deren Ostteil die Weihrauchregion lag. Entsprechend seiner Färbung, Erntezeit, der Intensität des Geruchs unterschied man in der Antike verschiedene Weihrauchsorten. Interessant ist dabei, d a ß zwei bei Plinius zitierte Bezeichnungen latinisierte südarabische Worte sind. Cartiathum, der im Herbst geerntete Weihrauch, u n d dathiathum, der Weihrauch der Frühjahrlese, gehen auf ein altsüdarabisches *hrfyt und *dt'yt zurück. Weihrauchsorten vom H o r n von Afrika hießen Peritikos („von der anderen Seite s t a m m e n d " [ = Somalia]) oder Mokrotu. Das letztere Wort ist südarabischer Herkunft (im Mehri und Sahri, neusüdarabischen Dialekten: magräi bzw. mgsrot, „Weihrauchbaum"; als Lehnwort im Klassischen Arabisch: mug[u]r, „Weihrauch") und wurde in Somalia und Äthiopien als Bezeichnung für Weihrauch rezipiert (Somali: mohor, Tigre: mägär, Tigrenna: mäqär, Amharisch: mäqär). 3. M i t der Domestikation des Kamels (ca. 13./12. Jh. v.Chr.) n a h m der Handel mit südarabischem Weihrauch seinen großen Aufschwung. Um die gleiche Zeit unternahmen die Ägypter Seeexpeditionen nach Punt (Somalia), die u . a . Weihrauch mitbrachten. Die sog. Weihrauchstraße, eine R o u t e mit vermutlich wechselnder Streckenführung, verlief im H o c h l a n d des Westteils der arabischen Halbinsel. Der H a u p t e n d p u n k t w a r Gaza a m Mittelmeer. Z u v o r verlief die R o u t e durch das Reich der N a b a t ä e r , dessen Blüte o h n e die E i n n a h m e n aus d e m Aromatahandel nicht denkbar ist. N a c h Plinius (XII,63) w u r d e der Weihrauch nach der Ernte in Sabota (Sabwat), der H a u p t s t a d t von H a d r a m a u t , vermarktet. Plinius beziffert die Reisedauer auf 65 Tage (von T i m n a ' [lat. T h o m n a ] bis Gaza). Die Karawanen konnten unter Umgehung von T i m n a ' , M a r i b und Yatill unmittelbar nach Q a r n ä w u , der H a u p t s t a d t von M a ' I n , dem nördlichsten südarabischen Reich, ziehen, bis sie schließlich in die Oase N a g r ä n (arab. Nagrän) gelangten, der wichtigsten Stadt der gleichnamigen Landschaft. Hier gabelte sich der Handelsweg. Eine R o u t e f ü h r t e nach N o r d e n in Richtung Gaza, die andere quer durch die arabische Halbinsel a m nördlichen R a n d der großen arabischen Sandwüste entlang bis in die Gegend von Bahrayn an den Persischen Golf. Die erste große Station w a r Q a r y a t dätKähil (Qaryat al-Faw), das Z e n t r u m des Reiches der Kinda; dann ging es weiter durch die Yamäma bis nach H a g a r in der al-Hasä-Oase und nach Gerrha, das entweder gegenüber von Bahrayn (bei al-Qätif) oder im Hinterland lag ( = Täg). Von hier w u r d e n die Handelsgüter entweder auf dem Land- oder Seeweg weiter nach Babylonien geschafft. Der Handel lag in den H ä n d e n gerrhäischer Kaufleute, die auf den M ä r k t e n der hellenistischen Welt mit den M i n ä e r n konkurrierten, wie Inschriften von der Insel Delos belegen. Die Minäer besaßen in der Blütezeit ihres Reiches in Dedän (h. al-Ula, im Higäz) eine Handelskolonie und kontrollierten auf diese Weise große Teile der Weihrauchstraße. Die Kaufleute aus M a i n und Gerrha vermarkteten den in H a d r a m a u t a n g e k a u f t e n Weihrauch als minäische bzw. gerrhäische Produkte, was die Käufer über das eigentliche Anbaugebiet im Unklaren ließ und eventuelle Konkurrenz von einer Reise ins südliche Arabien abschrecken sollte. Weihrauch w u r d e auch über die wenigen Seehäfen ausgeführt, was aus dem zuvor erwähnten Seefahrerhandbuch, dem Periplus, hervorgeht (Okelis, M u z a , Kane [lat. Cane]). Q a n a ' (beim heutigen BIr 'Ali) mit der Festung M i w i y a t (auf einer vorgelagerten Vulkaninsel [heute: H u s n al-Guräb]) ist der einzige natürliche H a f e n an der Südküste der arabischen Halbinsel. Von hier aus trieb man H a n d e l mit Barygaza (Bharukacha, heute: Broach) in Indien, O m a n a ( = Suhar in O m a n ) und Persien. Das H a u p t a u s f u h r p r o d u k t w a r Weihrauch. Von Indien aus gelangte er auf der Landroute bzw. Seeroute

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der Seidenstraße bis nach China, wo er sehr begehrt war. Auf Ceylon unterhielten chinesische Händler Handelskontore, zu deren angekauften Waren Weihrauch gehörte. Indien ist bis heute ein Hauptabnehmer des südarabischen Weihrauchs. Teilweise wurde der somalische Weihrauch über südarabische Häfen vermarktet. Bis der Weihrauch ans Mittelmeer gelangte, hatte sich sein Preis um ein vielfaches verteuert. Nach Plinius (XII,63) mußten entlang der Weihrauchstraße pro Kamellast 688 Denare an Zollgebühren entrichtet werden, so daß ein (römisches) Pfund ( = ca. 327 g) des besten Weihrauchs 6 Denare kostete, was zwei Wochenlöhnen eines Arbeiters entsprach. 4. Die hellenistisch-römische Welt bezog aus der regio turifera den Weihrauch in erster Linie als Rohprodukt, der dann in Werkstätten weiterverarbeitet wurde. Ein Zentrum des Aromatahandels war aufgrund seiner günstigen Lage für den Mittelmeerhandel bis in mittelalterliche Zeit -»Alexandrien, das über einen Kanal per Schiff vom Roten Meer aus erreichbar war. Ab dem 1. Jh. n.Chr. gewann die Seeroute für den Weihrauchhandel eine größere Bedeutung als der Landweg. Versuche Roms, die Kontrolle über die Weihrauchstraße zu erlangen, waren nur teilweise erfolgreich. Die von Augustus initiierte Südarabienexpedition von Aelius Gallus im Jahre 25/24 v. Chr. war trotz nabatäischer Unterstützung ein Mißerfolg. Nach der Belagerung Maribs mußten die römischen Truppen wieder abziehen. Die Nabatäer kontrollierten einen großen Teil der nördlichen Weihrauchstraße, ehe ihr Reich 106 n.Chr. durch Trajan (98-117) in eine römische Provinz verwandelt wurde. Bereits die Ptolemäer hatten den Versuch unternommen, durch einen verstärkten Seehandel dem Karawanenweg Konkurrenz zu machen. Eine große Rolle spielte der Weihrauch (¿Mir, demotisch sntr, koptisch CONTG [sonte]) seit alters in -»Ägypten. Durch Weihrauch und Räucherwerk tauchten die Kultteilnehmer in die Sphäre der göttlichen Welt ein (sntr, wohl „Göttlichmacher"). Im Alten Testament bezeichnet der Terminus l'bonä den echten Weihrauch, als dessen Herkunftsland Saba angegeben wird (Jer 6,20; Jes 60,6); er war ein Bestandteil des qetorcet genannten Räucherwerks (Ex 30,34—38, vgl. bKer 6a.b), das morgens und abends auf dem Räucheraltar dargebracht wurde (Ex 30,7), indem der diensthabende Priester es auf glühende Holzkohlen streute. Nach bjoma 38a soll die Herstellung des Räucherwerks ein Berufsgeheimnis der Priesterfamilie Abtlnas gewesen sein. Weihrauch gehörte ferner zum vegetabilischen Opfer (minhä). Davon wurde ein Teil samt dem Weihrauch als sogen, 'azkara verbrannt, was als re'b nihö"h für Jahwe galt (Lev 2,2.9.12). Auf die zwölf Schaubrote wurden Weihrauchkörner gestreut, die dann am Sabbat, wenn die Brote erneuert wurden, ebenfalls als 'azkara in Rauch zu Jahwe aufstiegen (Lev 24,7). Nach Neh 13,5.9 gab es im Tempel ein Magazin, in dem Weihrauch unter Aufsicht der Leviten aufbewahrt wurde (vgl. I Chr 9,29). In Griechenland war Weihrauch als Ingredienz des Rauchopfers in homerischer Zeit unbekannt. Erst als sich der Kontakt mit dem Orient intensivierte, hielt Weihrauch als Opfermaterie Einzug. Dabei spielte der Kult der Aphrodite, die nach dem Mythos aus Zypern stammte, d. h. östlicher Herkunft war, eine besondere Rolle als Vermittler. Durch Weihrauchopfer hoffte man, die Götter gnädig zu stimmen. Literatur Lionel Casson, The Periplus Maris Erythraei. Text with Intr., Transl., and Comm., Princeton, N . J . 1989. - Günther Dembski, Der Handel auf der Weihrauchstraße: Weihrauch u. Seide. Alte Kulturen an der Seidenstraße, hg. v. Wilfried Seipel, Mailand 1996, 4 9 - 5 1 . - Klaus Dornisch, Die Weihrauchstraße. Ein vergessener Welthandelsweg der Antike: Nürnberger Bl. zur Archäologie 10 (1993) 9 - 3 0 . - Ahmed Yusuf Farah, The Milk of the Boswellia Forests. Frankincense Production among the Pastoral Somali, hg. v. Tiia Riitta Hjort af Ornäs, Uppsala 1994. - Nigel Groom, Frankincense and Myrrh. A Study of the Arabian Incense Trade, London 1981 (Arab Background Ser.). - Ursula Heimberg, Gewürze, Weihrauch, Seide. Welthandel in der Antike, Stuttgart 1981 (Kl. Sehr, zur Kenntnis der röm. Besetzungsgesch. Südwestdeutschlands 27). - Frank Nigel Hepper,

Weihrauch II

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Jürgen Tubach II. Praktisch-theologisch (Literatur S. 477)

1. Die Alte Kirche stand der Verwendung von Weihrauch innerhalb der -»-Liturgie strikt ablehnend gegenüber. Das ist zum einen durch die Überzeugung begründet, daß alle -»Opfer durch das Opfer Christi endgültig überholt sind. Zum anderen ließen die Erfahrungen der Verfolgungszeit (-• Christenverfolgungen) den Weihrauch als Kennzeichen des Kaiserkults erscheinen, so daß ein Gebrauch im Gottesdienst auch von daher nicht in Frage kam. Einer profanen Verwendung von Weihrauch und anderen Duftstoffen im Haushalt, aber auch beim Begräbnis, stand nichts entgegen, wobei der Übergang zu einem apotropäischen Verständnis fließend ist. Erst nach dem Ende der Verfolgungen konnte der Gebrauch von Weihrauch in der christlichen Liturgie rezipiert werden. Ein frühes Zeugnis ist der Pilgerbericht der Egeria (Ende 4. Jh.; -»Jerusalem), die über die Verwendung von Weihrauch im Rahmen des sonntäglichen Jerusalemer Morgengottesdienstes, näherhin in Verbindung mit dem an dieser Stelle gelesenen Evangelium von der Auffindung des leeren Grabes, berichtet. In -»•Rom wurde der Weihrauch, der dem Pontifex als Ehrenzeichen vorangetragen wird, aus dem höfischen Zeremoniell in die Liturgie übernommen. In der kathedralen Form der Abendliturgie fand das Weihrauchsymbol Aufnahme als Veranschaulichung von Ps 141,2; der Psalm und der Weihrauchritus gehörten zum regelmäßigen Gebetsbestand der Vesper. Gegen Ende des ersten Jahrtausends führten die Hochschätzung alttestamentlicher Riten und die Tendenz zu deren Nachahmung dazu, daß der Weihrauch in zahlreiche weitere Formen der Liturgie aufgenommen wurde bis hin zu einem regelmäßigen und manchmal auch ausufernden Gebrauch, wie ihn spätmittelalterliche und tridentinische Liturgiebücher voraussetzen.

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Weihrauch II

Als Räuchersubstanz wird bevorzugt Olibanumharz (Weihrauch im engeren Sinn; s.o. I) verwendet. Einige Kirchen bestehen auf dessen ausschließlichem Gebrauch, andere lassen die Beifügung von anderen Harzen (Myrrhe, Mastix, Benzoe, Perubalsam u.a.), Pflanzenteilen (Blüten, Rinden, Wurzeln, Säften) und ätherischen Ölen zu. Bei den Griechen und in einigen anderen östlichen Kirchen hat die Komposition von charakteristischen Mischungen, die einzelnen Festen zugeordnet werden, Tradition. Im Westen ist eine solche Differenzierung kaum ausgeprägt. 2. Die Verwendung von Weihrauch ist in der gegenwärtigen katholischen Liturgie weitgehend freigestellt. Einer starken Zurückhaltung nach dem Zweiten Vatikanum (—»Vatikanum I und II), die bis zur völligen Ablehnung des Weihrauchs in manchen Gemeinden führte, folgte vielerorts eine Neubelebung in den letzten Jahren des 20. Jh., die wohl auch durch die zunehmende Popularität des Weihrauchs in außerkirchlichem Zusammenhang (z. B. in der Aromatherapie) angestoßen wurde. Für gewöhnlich wird der Weihrauch in einem an Ketten hängenden Metallgefäß (Rauchfaß) auf glühender Kohle verbrannt. Die durch den Weihrauch herauszuhebende Person, die Personengruppe oder der Gegenstand (Kreuz, Evangelienbuch etc.) wird durch gezieltes Schwenken des Rauchfasses in eine Weihrauchwolke eingehüllt (Inzens[ierung]). Innerhalb der Messe kann Weihrauch zum Einzug gebraucht werden, zur Beräucherung des -»Altars am Beginn der Feier, zur Evangeliumsprozession und zur Verkündigung des Evangeliums, zur Beräucherung der auf der Mensa niedergelegten Gaben von Brot und Wein, des Altars, des Vorstehers und der Gemeinde bei der Gabenbereitung und zum Zeigen der konsekrierten Gestalten nach den Einsetzungsworten innerhalb des Eucharistiegebets. Obligatorisch ist die Inzens der Monstranz bei festlichen Formen der Eucharistieverehrung außerhalb der Messe. In der feierlichen Tagzeitenliturgie (—»Stundengeber) findet Weihrauch Gebrauch zum Gesang des Magnificat in der Vesper und analog zum Benedictus in den Laudes. Verbreitet ist die Verwendung innerhalb der Begräbnisliturgie und bei feierlichen Segnungen. Eine Sonderform stellt das Verbrennen von Weihrauch zusammen mit Wachs auf der Platte eines zu konsekrierenden Altars im Rahmen der Kirch- bzw. Altarweihe dar. Die in manchen Regionen beliebte Segnung von Weihrauch am Epiphaniefest greift volkstümliche, z.T. auf außerchristlichen Wurzeln gründende Räucherbräuche auf und deutet sie als Erinnerung an die Weihrauchgabe der Magier und damit als Christusbekenntnis. Das Einfügen von fünf Weihrauchkörnern in die Osterkerze, historisch entstanden durch ein Mißverständnis des Exsultet-Textes, später allegorisch auf die fünf Wundmale Christi gedeutet, ist hingegen nur noch selten üblich. Neben diese durch die liturgischen Bücher vorgegebenen Verwendungsweisen treten zunehmend neue Formen. Das einfache, nicht rituell vollzogene Beduften eines liturgischen Raumes zur Schaffung einer angenehmen oder sakralen Atmosphäre ist hier zu nennen. Vor allem in der Vesper und in freieren Formen des Abendlobs verbreitet sich der Brauch, ein Kruzifix, eine Ikone, ein Evangeliar oder ein anderes Christussymbol durch eine davor aufgestellte Schale mit brennendem Weihrauch - oft auch von den Mitfeiernden selbst eingelegt - ehrend herauszustellen. 3. Der Gebrauch des Weihrauchs in den Kirchen des byzantinischen Ritus ist der katholischen Verwendungsweise ähnlich; allerdings wird der Weihrauch hier mit größerer Regelmäßigkeit eingesetzt. Die Kopten und Äthiopier kennen in der „Beichte über dem Rauchfaß" einen gezielten Einsatz des Weihrauchs in der Bußliturgie. In den Kirchen der -»Reformation war die Benutzung von Weihrauch bis zum 19. Jh. ausgestorben, von den hochkirchlichen Anglikanern abgesehen. Heute reicht die Position gegenüber dem Weihrauchgebrauch von völliger Ablehnung über zurückhaltende Wiedergewinnung bis hin zu kreativem Experimentieren mit neuen Formen.

Weihrauch II

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4. Pharmazeutische und - bei exzessivem Mißbrauch - auch toxische und suchterregende Wirkungen des O l i b a n u m s und anderer verwendeter Räucherstoffe sind nachg e w i e s e n , sind aber bei den in der Liturgie angewandten geringen D o s e n nicht zu erwarten. Der Geruch als entwicklungsgeschichtlich sehr alter Sinn ist eng an das e m o tionelle Empfinden gekoppelt; daß angenehme D ü f t e einen positiven Einfluß auf die S t i m m u n g haben und insofern zum Gelingen einer Feier beitragen können, ist weitgehend unbestritten. D i e neuere Diskussion weist unter Berücksichtigung der psychosozialen Bedeutung des Geruchssinns auf die gemeinschaftsbildende Funktion des Weihrauchs und anderer Duftstoffe hin. Der gemeinsame D u f t im Sinn eines „Nestgeruchs" nimmt die Bedeutung des Individuums zurück und trägt zum Erleben v o n Gemeinschaft bei. D i e D e u t u n g e n , die d e m Weihrauchsymbol einerseits durch die begleitenden Texte und Gesänge, andererseits durch die Liturgieerklärungen gegeben werden, sind vielfältig. D a s apotropäische Verständnis, w i e es in mittelalterlichen Weihrauchbenediktionen oft im Vordergrund stand, spielt k a u m mehr eine Rolle. Vor allem gilt der Einsatz des Weihrauchs als Zeichen der Verehrung, die den Christussymbolen - d e m Kreuz, dem Altar, der versammelten Gemeinde als Leib Christi, d e m Vorsteher der liturgischen Vers a m m l u n g und den eucharistischen Gestalten - zugewendet wird. Die d e m Weihrauch zugeschriebene heilende und reinigende Wirkung ermöglicht dessen Verständnis als —•Symbol der inneren Reinigung. Der aufsteigende Weihrauch symbolisiert das Aufsteigen der Gebete zu Gott. D i e Weihrauchwolke wird als Anspielung auf die Rolle der Wolke in Theophanieerzählungen verstanden, das Einhüllen in Weihrauch in Anlehnung daran als H i n e i n n a h m e in die Sphäre des Heiligen. Der D u f t schließlich dient vielfach als sinnenfällige Veranschaulichung des „Wohlgeruchs Christi" (II Kor 2,15). Literatur Edward G.C.F. Atchley, A History of the Use of Incense in Divine Worship, London 1909. Rupert Berger, Naturelemente u. technische Mittel: GDK 3 (1987) 252-288. - Ders., Art. Weihrauch. 3. Verwendung im Westen: LMA 8 (1997) 2111. - D e r s . , Art. Weihrauch: Neues Pastoralliturg. Handlexikon, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1999, 546-547. - Hansjakob Becker, Zur Struktur der „Vespertina Synaxis" in der Regula Benedicti: ALW 29 (1987) 177-188. - Peter Conolly, The Use of Incense in the Roman Liturgy: EL 43 (1929) 171-176. - Markus Eham, Segensbrauchtum an Epiphanie: Heute segnen. Werkbuch zum Benediktionale, hg. v. Andreas Heinz/Heinrich Rennings, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1987, 177-191. - Hans-Jürgen Feulner, Art. Weihrauch. 2.Liturg. Gebrauch in den Ostkirchen: LMA 8 (1997) 2111. - Adolph Franz, Die kirchl. Benediktionen im MA, Graz, I 1909. - Guido Fuchs, Plädoyer f. den Weihrauch: Liturgie konkret 13 (1990) H. 1, 1. - Ernst Hammerschmitt, Das Sündenbekenntnis über dem Weihrauch bei den Äthiopiern: OrChr 43 (1959) 103-109. - Dorothea Hentschel, Vom Weihrauch: EuA 67 (1991) 214-222. - Franz Kohlschein, Von der „duftenden Wolke" als liturg. Symbol: Gottesdienst 21 (1987) 7 3 - 7 5 . - Georg Langgärtner, Der Weihrauch: Liturgie konkret 9 (1986) H. 12, 3 - 4 . - Die Macht der Nase, hg. v. Joachim Kügler, 2000 (SBS 187) (Lit.). - Heinrich Marzell, Art. Weihrauch: HWDA 9 (1941 = 2000) 283-285. - Dieter Martinetz/Karlheinz Lohs/Jörg Janzen, Weihrauch u. Myrrhe. Kulturgesch. u. wirtschaftliche Bedeutung. Botanik, Chemie, Medizin, Stuttgart 1988 (Lit.). - Elpidius Pax, Art. Weihrauch: LThK 2 10 (1965) 990-992. - Michael Pfeifer, Wohlgerüche: Gottesdienst 27 (1993) 104. - Ders., Ein wohlgefälliger Duft f. den Herrn. Weihrauchherstellung am Berg Athos: COst 49 (1994) 2 2 6 - 229. - Ders., Der Weihrauch, Regensburg 1997 (Lit.). - Ders., Art. Weihrauch: LThK 5 10 (2001) 1024-1025. - Hermann Reifenberg, Mit allen Sinnen. Gottesdienst in der Vielfalt der menschlichen Ausdrucksformen, Bamberg 1979. - Ders., Duft - Wohlgeruch als gottesdienstliches Symbol: ALW 29 (1987) 321-351. - Neil J. Roy, Rite, Gesture, and Meaning. Incense in Worship of the Eucharistie outside Mass: EL 116 (2002) 175-196. - Maria Ruß, Der Duft des Weihrauchs: BiKi 50 (1995) 2 0 - 24. - Christian Trappe, Die Weihrauchstraße in den Himmel: PTh 87 (1998) 484-505. - Jakob Thekeparampil, Weihrauchsymbolik in den syr. Gebeten des MA u. bei Pseudo-Dionysios: Typus, Symbol u. Allegorie bei den östlichen Vätern u. ihre Parallelen im MA, hg. v. Margot Schmidt, Regensburg 1982, 131-145. - Gabriele Winkler, Über die Kathedralvesper in den verschiedenen Riten des Ostens u. Westens: ALW 16 (1974) 53-102. - Peter Wünsche, Liturgiewiss. Perspektiven: Die Macht der Nase (s.o.) 173-191. Peter W ü n s c h e

478

Weisheit/Weisheitsliteratur I

Weisheit/Weisheitsliteratur I. II. III. IV. V. VI.

Religionsgeschichtlich Altes Testament . . . . Judentum Neues Testament . . . Systematisch-theologisch Praktisch-theologisch

S. S. S. S. S.

486 497 508 515 520

I. Religionsgeschichtlich 1. Allgemeines zur Terminologie 2. Weisheit, Religion und Philosophie Typologie 4. Gestalten und Vielfalt der Weisheit (Literatur S.485)

1. Allgemeines zur

3. Problem einer

Terminologie

W i e viele derartige Begriffe ist auch „Weisheit" schwer zu definieren, da seine Verwendung im Laufe der Geschichte unterschiedliche Bedeutung a n g e n o m m e n hat. Eine vergleichende Ubersicht mithilfe dieses metasprachlichen Wortes aus europäischer Tradition kann schnell zeigen, daß jede Kultur ihr Weisheitsideal, sei es in mündlicher oder schriftlicher Überlieferung, bes. in den Spruchdichtungen, besitzt bzw. besessen hat. Insbesondere ist d a v o n auch das Verhältnis von Weisheit zu - » R e l i g i o n und ••Philosophie berührt, sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht. Hier kann nur ein Ausschnitt davon gegeben werden. Soweit wir sprachlich und historisch nachprüfen können, ist Weisheit ursprünglich eine praktische Angelegenheit gewesen, nämlich die „ E i n s i c h t " in gewisse Lebens- und Weltzusammenhänge und daraus abgeleitete Verhaltensweisen, die der Belehrung und -•Erziehung (Schule!) dienten. Die dem Wort Weisheit zugrundeliegende indogermanische Wurzel *ueid hat mit „erblicken, sehen" zu tun (vgl. griech. olSa, \f-id-], ISeiv, iSsa, lat. videre, altindisch vedas). Im Deutschen ist der alte Zusammenhang von Weisheit, Wissen und -»Wissenschaft noch gut erhalten (germanisch *weis[sla, althochdeutsch vis). Weisheit beruht auf dem, was man gesehen und somit erkannt hat. Sie ist daher praktische Erkenntnis, eine Urform menschlichen reflektiven Verhaltens gegenüber der Umwelt. Diese praktische Seite ist auch in anderen Kulturen nachweisbar. So hat das hebräische bäkmäh mit „Fertigkeit, Können" (hkm), das akkadische nemequ mit „Geschick und Fertigkeit", das griech. ocxpia mit „Geschicklichkeit, Können" (z. B. im Handwerk, in der Medizin, Dichtkunst, Musik u.a.) zu tun. Das akkadische Wort für Weisheitslehrer, Gelehrter, ummänu, ist ein sumerisches Lehnwort und bedeutet hier ursprünglich „Handwerksmeister". Die Pflege und Weitergabe der gesammelten Erfahrung in der geistigen Weltbewältigung erfolgte meist in den Schulen, den Pflanzstätten der Schreibkultur und den Vorläufern der späteren „Weisheitsschulen" oder -»Universitäten. Auch die mündliche Überlieferung lag in der Hand bestimmter Gruppen, die für die Traditionspflege verantwortlich waren. Als Repräsentant gilt oft der König (-»Königtum).

2. Weisheit, Religion und Philosophie F a ß t m a n Religion allgemein als eine Weise der theoretischen und praktischen Bewältigung von Welt-, N a t u r - und Gesellschaftsproblemen auf, so ist Weisheit Teil dieser Bemühungen. Tatsächlich haben beide enge Beziehungen gehabt, auch wenn das nicht durchweg gilt. Weisheit ist oft Teil religiöser Überlieferungen und wird durch Bezug auf bestimmte Gottheiten (besonders der Sonne, wie in M e s o p o t a m i e n und -»Ägypten) oder religiöse Sachverhalte (z. B. Weltordnungsideen, wie die altägyptische Ma'at) legitimiert. In dieser Form hat sie zur Ausbildung theologischen Denkens beigetragen, ist Teil dieser Geschichte (sog. „Priesterweisheit"). Es gab bestimmte Gottheiten, die als Hüter oder Repräsentanten religiösen Wissens in Kult und -»Magie (beides läßt sich schwer trennen) verehrt wurden (Ea und Marduk in Babylonien, Ptah in Ägypten). Dazu gehört auch die Autorisierung von Weisheitsüberlieferungen durch mehr oder weniger religiöse Gestalten, wie Ahnen, Könige, Lehrer, Priester. Es gibt Personifizierungen der Weisheit in Form einer göttlichen Eigenschaft als Hypostase oder

Weisheit/Weisheitsliteratur I

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als eine G o t t h e i t bzw. G ö t t i n (—»Buddhismus; - » J u d e n t u m ; —»Gnosis; Z o r o a s t r i s m u s ) . In vielen Religionen ist Weisheit Attribut von Gottheiten, in den monotheistischen ist es eines der ersten G o t t e s . D i e Weisheit Gottes übersteigt die des M e n s c h e n und läßt sie verblassen, oder, wie im C h r i s t e n t u m , zur Torheit werden (s.u. II u. IV). Diese U m w e r t u n g der antiken Weisheitswerte hat zwar nicht zu deren Aufgabe geführt, aber zu ihrer Relativierung und tiefgreifenden Veränderung (s.u. V ) .

Neben diesen mehr oder weniger positiven Beziehungen von Weisheit und Religion steht der Tatbestand eines eigenen Weges, den die Weisheit neben der offiziellen Religion gegangen ist und gerade heute geht. S p a n n u n g e n und Auseinandersetzung zwischen beiden sind schon im Alten O r i e n t zu b e o b a c h ten, auch die Bibel kennt sie (—»Koheletbuch). Hier ist sie „ p r o f a n e , s ä k u l a r e " Lebens- und Weltbewältigung, die den R ü c k g r i f f auf traditionelle religiöse Sachverhalte (Götter, Kult, Priester) vermied oder b e w u ß t ausschaltete. In dieser F o r m ist sie Wegbereiter „ p h i l o s o p h i s c h e n " und schließlich auch des „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " D e n k e n s . Diese E n t w i c k l u n g läßt sich a m eindrücklichsten bei den Griechen b e o b a c h t e n , w o der Begriff Philosophie, d.h. „ L i e b e zur W e i s h e i t " geprägt worden ist. Der Uberlieferung nach geht der Ausdruck auf Pythagoras zurück und wurde von - » P l a t o und -•Aristoteles ü b e r n o m m e n und m a ß g e b e n d geformt (Diog. L a e r t . 1,12; C i c e r o , Tusc. V , 8 f . ) . D a b e i wird auch deutlich, wie durch die Rückprojizierung der platonischen Konzeption von Philosophie und W i s s e n s c h a f t auf Pythagoras dessen schlichte, vorwissenschaftliche Weisheitslehre umgedeutet worden ist. Pythagoras w a r o h n e Z w e i f e l ein Weisheitslehrer, kein wissenschaftlicher D e n k e r im späteren Sinne; seine Kosmosdeutung kreiste um eine noch nicht wissenschaftlich zu nennende Z a h l e n s y m b o l i k ( - • Zahl/Zahlenspekulation/Zahlensymbolik), in der Z a h l , - » R i t u s und Seelenlehre n o c h eine Einheit bildeten (Burkert). Die praktische Bedeutung von Philosophie als „Weg des L e b e n s " hält sich allerdings durch J a h r h u n d e r t e und ist bis heute nicht verblaßt. D i e alte griechische Weisheit, dokumentiert in der gnomischen Poesie (Hesiod, M i m n e r m o s , Solon, Phocylides, T h e o g n i s ) mit ihrer schlichten Einsicht „ N i c h t s im U b e r m a ß " oder „ E r k e n n e den rechten Z e i t p u n k t " , setzt sich e x t r e m angewendet bei den sog. Sophisten fort, die die Weisheit (aoia) in praktisches R ä s o n n e m e n t umsetzten und damit erstmalig ihre Gefährlichkeit demonstrierten. D e m g e g e n ü b e r hat —»Sokrates den Begriff vermieden und ihn nur G o t t bzw. dem G ö t t l i c h e n vorbehalten (so Plato, ap. 20—22). F ü r Plato ist Sophia die höchste der - » T u g e n d e n (vgl. resp. 4 4 1 C D ) . Aristoteles trennte die praktische Weisheit des täglichen Lebens (pövt]oi Offenbarung" als Schrift mit der „Weish e i t " in Gang setzte, sei es um der Kanonizität der Schriften erhöhte Bedeutung zu verleihen oder eine Erweiterung derselben zu ermöglichen (z. B. in der PrajnäpäramitäLiteratur oder christlich-gnostischen Schriften). Aus der literarischen Dokumentation der Weisheit lassen sich ebenfalls gewisse typologische Bestimmungen gewinnen. So ist ihre typische Gattung die yvw/ir] (lat. sententia), d.h. der prägnant formulierte „Sinnspruch" (Maxime) oder überhaupt die Spruchform. Die ältesten Sammlungen der Weisheitsüberlieferungen sind Spruchsammlungen, die im Laufe der Zeit zu thematischen Literaturwerken ausgebaut werden können (sog. „Lehren", „Auseinandersetzungsliteratur", Dialoge). Omina, Rätsel, Fabeln, Gleichnisse und Metaphern sind häufig Hort der Weisheit. Sie ist also nicht an eine Form gebunden, doch bleibt sie mit dem Spruch- und Maximencharakter eng verbunden. Sein Ursprung in der mündlichen Tradition der vorliterarischen Zeit läßt sich oft nur durch Rückschlüsse ermitteln, wobei das Vorhandensein oraler Traditionen (z. B. in Afrika) ein wichtiges Hilfsmittel sein kann. Es gibt kaum ein Volk, daß nicht einen gewissen Bestand an Weisheitstraditionen besitzt; ihre Anfänge verlieren sich im Dunkel der Vorgeschichte. Die Frage, ob der oft thematisierte „internationale" Charakter der Weisheitsdichtungen evolutionär (aus einem gemeinsamen Urbesitz) oder diffusionistisch (durch Ausbreitung und Übernahme) zu erklären ist, kann nicht immer sicher beantwortet werden (z.B. im Hinblick auf die bekannte „-»-Goldene Regel"). Vieles spricht für die zweite Annahme, obwohl in manchen Kulturen die erstere Theorie auch zur Erklärung herangezogen werden kann (z.B. Alter Orient). Beides hat es jedenfalls im Laufe der Geschichte gegeben. Wesentlich bleibt aber, was die einzelnen Kulturen, Literaturen und Religionen aus dem gemeinsamen Schatz der Weisheit gemacht haben: dies hat den Reiz des Vielseitigen und der Pluralität. Dafür gibt es auch im islamisch-arabischen Orient ein wenig behandeltes Beispiel, insofern sich hier seit dem 9. Jh. eine eigene Literaturgattung aus dem vorislamischen, vornehmlich dem griechischen und persischen, Erbe entwickelte, die sich dem „guten, richtigen Benehmen" (arab. adäb) in Form von Handbüchern und Anthologien widmete, zunächst dem des Hofes und seiner Beamten, dann bald überhaupt dem des Gebildeten, besonders des Gelehrten. Die Kritik strenggläubiger Theologen (z.B. al-Gähiz, gest. 868/69) vermißte dabei zwar den Bezug auf Koran und Sünna, aber das Thema der guten Manieren eroberte auch die Moscheen und bildete eine eigene Tradition (sunna) aus, die schließlich zur „schönen Literatur" (al-Adäb, belles lettres) mutierte. Mit ihr wird auch die „Weisheit" (arab. al-hikma) Teil der arabischen Literatur, gespeist aus altarabischen, indischen, persischen und vor allem griechischen Quellen, vornehmlich in Form von Spruchsammlungen (hikäm). Im Unterschied zum engen islamischen Zusammenhang von Glauben und Wissen (V/m) ist allerdings hikma (sophia; philosophia) dem religiösen „Wissen" (V/m) untergeordnet und bleibt im Bereich der Philosophie, die wiederholt dem Ketzereiverdacht ausgesetzt war. „Hikma ist das entlaufene Kamel des Gläubigen" heißt ein treffendes bon mot aus dem 10. Jh. (Biesterfeldt 382). Es ist dem „Glaubenswissen" einzubinden und so dem richtigen Handeln und Denken dienstbar zu machen, denn Gott schuf zuerst das „Wissen" (V/m), daraus die „Weisheit" (hikma) und daraus Gerechtigkeit und Wahrheit (nach al-Hakim at-Tirmidl, zit. bei Biesterfeldt 380). So bleibt der „Weisheit" im islamisch-arabischen Bereich ihre vorislamische, „heidnische" Herkunft erhalten und führte nicht zu einer religiös motivierten „Weisheitsliteratur" aus biblischorientalischen Quellen, von einer Personifikation der Weisheit ganz zu schweigen.

Weisheit/Weisheitsliteratur I 4. Gestalten

und Vielfalt

der

481

Weisheit

Im folgenden kann nur ein kleiner Überblick über einige dominante Formen der Weisheitsüberlieferung gegeben werden. Dabei liegt das Schwergewicht auf dem alten Vorderen Orient, der das Bild der Weisheit maßgebend (bis in die Terminologie) geprägt hat, vermittelt durch das biblische Erbe. Nur ein kurzer Blick kann auf Indien und Ostasien (-> China) geworfen werden, die eine eigenständige Form der Weisheit ausgebildet haben, die bis heute Kultur und Leben dieser Völker beeinflußt hat. 4.1. Mesopotamien

(Sumer,

Babylonien)

Der Vordere Orient hat sehr früh Zeugnisse der Weisheit besessen, die allerdings auch später nicht zu einem einheitlichen Weisheitsbegriff geführt haben. Kunst und Fertigkeit im Erkennen und Verstehen von Welt, Mensch und Gesellschaft bleibt der herrschende Zug. Am göttlichen Ursprung der Weisheit wurde nicht gezweifelt, auch wenn in der späteren Literatur zusehends die Differenz zwischen göttlicher und irdischer bzw. menschlicher Weisheit bewußt wurde und zu einer Krise in ihrer Tradition geführt hat. Der Grundgedanke der Weisheit lag hier in der frühen Einsicht, daß ein bestimmtes Tun eine bestimmte Folge im Leben des Menschen hat oder haben kann (sog. „TunErgehen-Zusammenhang") . So trachtete man aus den Beobachtungen der menschlichen Umwelt Regeln des Verhaltens zu finden, ohne zu systematischen Überlegungen überzugehen oder gar eine Verhaltensethik zu entwickeln, wie sie Griechen und Chinesen entfalteten. Die Beobachtungen, überliefert in Sentenzen, gaben wertvolle Ratschläge für Könige, Beamte, Schreiber und Priester. Zentrum dafür war die Schule, die Lehrer waren die Schreiber, die daher vornehmlich als „Weise" galten. Die Legitimation erfolgte durch den Rückbezug auf Gottheiten (besonders Utu/Schamasch, Ninurta, Enki/Ea, Inana) oder auf urzeitliche Weise (Gilgamesch). Auf Grund ihres Ansatzes trägt sie oft eudämonistischen, ja mitunter mantischen Charakter, aber in der Spätzeit auch einen pessimistischen und skeptischen Zug. Die Lehre von der „Tun-Ergehen-Folge" verhinderte weithin den Durchbruch zu neuen Fragen; wurden diese gestellt, endeten sie in skeptischer Ratlosigkeit, dem sog. Hiobproblem des leidenden Gerechten oder der gerechten Weltordnung (s.u.). Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Bedachtsamkeit gelten als Haupttugenden, deren Befolgung Leben, Glück, Nachkommen (Söhne!) und Gottes Fürsorge nach sich zieht. Die maßgebende Ausbildung der Weisheit verdankt das alte Mesopotamien den Sumerern. Die Akkader haben in der Hauptsache übersetzend überliefert, interpretiert und einige neue Formen (Lehre des Achikar, Omenliteratur) eingefügt. Die Anfänge liegen in den frühzeitlichen sog. „Listen" oder „Inventaren", d.h. die Welt wurde anhand der Sprache „inventarisiert" und damit gewissermaßen geordnet oder systematisiert. Man hat dies daher auch „Listenweisheit" genannt und sie als erste Ansätze wissenschaftlichen Bemühens verstanden (von Soden). Weitere Fragestellungen führten aus der bloßen Auflistung der Gegenstände zu ihrer Bewertung, wie sie in Form von „Streitgesprächen" (Rangstreitliteratur) überliefert und unter der Bezeichnung „Weisheit der Werte" bekannt sind (Schmid). Das Aufkommen von Sprichwörtern, die auf Vorgänge in Natur und Gesellschaft zielen, formuliert erstmalig einfache Tatbestände, daher auch „Weisheit der Vorgänge" genannt. Sie sind die Vorstufe der eigentlichen Weisheitssprüche. Zu dieser Form kommt es durch die Beobachtung des menschlichen Verhaltens, ohne daß zunächst der Zusammenhang von Tun (Tat) und Ergehen (Folge) thematisiert wurde, wie in den Maximen, deutlich aber dann in den sog. „Lehren" oder ,,Ratschläge[n]", die leider nur fragmentarisch erhalten sind (Schultexte aus Schuruppak, Weisheitslehren). Im weiteren Verlauf dringt die Weisheit in verschiedene andere Gattungen ein oder verbindet sich mit sozialethischen und rechtlichen Ideen aus den Königs- und Gesetzestexten (z. B. der Schutz der Schwachen, Witwen und Waisen; Gutes tun - Böses hassen, Gerechtigkeit üben). So sucht die Weisheit Grundregeln des Kosmos zu formulieren und damit zu erkennen. Die Gottheiten haben eine gerechte Weltordnung gesetzt; sie gilt es zu erkennen und sein Verhalten entsprechend einzurichten. Wird diese Vorstellung in Frage gestellt, etwa durch historische Ereignisse veranlaßt, so kommt es zur Krise, indem der Zusammenhang von Tun und Ergehen problematisiert und das Thema des „leidenden Gerechten" aktuell wird.

482

Weisheit/Weisheitsliteratur I

Dies beschäftigt die sog. „Hiob-Dichtungen" (—>Hiob/Hiobbuch), die dem „Klage-ErhörungsParadigma" (erschahunga) folgen. Dazu gehören u.a. folgende Werke: der „sumerische Hiob", das „Gedicht über den gerechten Dulder", auch nach dem Anfang Ludlul bei nemeqi („Ich will den Herrn der Weisheit preisen") genannt, die „babylonische Theodizee", auch mit „babylonischer Kohelet" oder „Dialog über die Ungerechtigkeit der Welt" bezeichnet, ferner der satirische, wahrscheinlich nicht zur Weisheit gehörige, aber dafür aufschlußreiche „Dialog zwischen Herr und Knecht" oder „Pessimistische Dialog". Das Ergebnis dieser Werke ist, daß der Götter Handeln unerforschlich, ihre Weisheit von der der Menschen sehr verschieden ist. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird zurückgedrängt, nicht aufgegeben, da dem Menschen nur die Einsicht in die Weltordnung versagt ist. Die Weisheit ist hier auf dem Wege, die Erde zu verlassen, um als überirdisches und -zeitliches Element Teil der göttlichen Welt zu werden, wozu sie ja eigentlich immer schon gehört hat (vgl. die biblische Weisheit s.u. II u. III). 4.2.

Ägypten

Ägypten besitzt keine Vorstufe der Weisheit in Form einer „Listenweisheit", aber auch hier ist der Weisheitsspruch (Maxime) der Ausgang dafür gewesen. Dieser enthielt entweder eine bloße Aussage über Welt und Gesellschaft oder ordnet bereits „Ergehen" als Folge einem bestimmten Tun zu, vor dem gewarnt oder das empfohlen wird. Im Unterschied zu Mesopotamien haben die alten Ägypter das Konzept einer kosmischen „Ordnung, Wahrheit" (Ma'at) entwickelt, das für die Weisheit konstitutiv geworden ist. Die Göttin Ma'at ist Tochter des Sonnengottes Re und versinnbildlicht „Wahrheit", „ R e c h t " und „Ordnung" in Kosmos und Gesellschaft. Der Pharao ist ihr Vertreter auf Erden. Der Weise hat entsprechend der Ma'at zu handeln; Übereinstimmung mit ihr schenkt Erfolg, Abweichung zieht Strafe (Unglück) nach sich. Unterordnung unter die Ma'at ist daher Tun der Weisen. Die Weisheit bietet dafür die Regeln, die auf Tradition und Erfahrung, einschließlich wiederholter Interpretation, beruhen. Zeugnisse der Weisheit oder, ägyptologisch korrekter, der „Lehren" (sb 'jt) reichen bis ca. 2800 v. Chr. zurück. Die ältesten sind nur dem Namen nach bekannt (die „Lehre des Imhotep" und die des Djedefhor). Die „Lehre des Ptab-hotep" ist die älteste erhaltene Literatur dieser Art (5. Dynastie). Sie lebt vom Optimismus der bestehenden und anerkannten Ordnung {Ma'at) und dem ungebrochenen Vertrauen in die Tun-Ergehen-Folge. Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Unterordnung, Schweigen sind Tugenden der Weisen. Das Ideal des schweigenden Weisen beeinflußte die biographische Literatur der Ägypter. Zitate der Weisheit lassen sich in zahlreichen Inschriften nachweisen. Die meisten der weiteren „Lehren" entstammen dem Mittleren Reich (ca. 2190-1786 v. Chr.) und haben den Charakter von „Tendenzschriften", die sich mit den Problemen der Weisheit auseinandersetzen, daher auch „Auseinandersetzungsliteratur" genannt. Dazu gehören die „Lehre für König Merikare" (10. Dynastie), in der erstmalig auf das Totengericht Bezug genommen wird; die „Lehre des Königs Amenemhet /." (12. Dynastie), die wahrscheinlich ein Vorbild für Prov 22,1724,22 gewesen ist, allerdings pessimistischer und weniger idealistisch; die „Lehre des Cbeti, Sohn des Duauf", eine Werbeschrift für das Beamtentum. Die Gefährdung der alten Ordnung schlägt durch in den „Klagen eines ägyptischen Weisen" und in den „Klagen des Bauern". In das Neue Reich (ca. 1550-1069 v. Chr.) gehören die „Lehre des Ani" (18. Dynastie), die die traditionelle Autorität gegenüber kritischen Einwänden verteidigt, und die „Lehre des Amenemope" (22. Dynastie), die einen streng pietistischen Charakter hat und Demut gegenüber dem verborgenen Walten des Sonnengottes Re fordert. Aus der Spätzeit (1. Jahrtausend v. Chr.) sind nur die recht hausbackene „Lehre des Papyrus Ittsinger" und eines gewissen Anch-Scheschonki bekannt. Das Charakteristische für die spätere Weisheit (seit der 18. Dynastie) ist, wie in Babylonien, die Einsicht in die Grenzen menschlichen Wissens und die Freiheit der Gottheit, d.h. der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist gelockert, nicht aufgegeben, aber in die göttliche Unerforschlichkeit verschoben worden. Autorität, Tradition, Demut, Vorsicht und schweigende Haltung bleiben Themen, doch rücken Frömmigkeit und Weisheit stärker zusammen. Die Ma'at wird zugunsten der Gottheit (Re) ausgeschaltet. Die individuelle Frömmigkeit hat den Gott als Partner, nicht mehr die Ma'at. Die Gottheit ist der Garant für die TunErgehen-Folge, die dem Menschen verborgen ist, aber demutsvoll akzeptiert wird. Weisheit besteht jetzt in diesem Wissen von Gott und seinem freien Willen, eine Erkenntnis, die der Bibel vertraut und wahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf sie gewesen ist. Eine heno- oder monotheistische Linie zieht sich übrigens durch die ganze Weisheitsliteratur hindurch.

Weisheit/Weisheitsliteratur I 4.3. Iran und

483

Zoroastrismus

Auch der alte Iran (-»Iranische Religionen) besitzt eine umfangreiche Literatur der Weisheit, die den mittelpersischen Namen Handarz (neupersisch Andarz), „Rat, Belehrung", führt und in verschiedenen Formen von Gnomai tradiert worden ist. Erhalten ist sie nur in Mittelpersisch, doch gab es ohne Zweifel davon awestische (altiranische) Vorläufer. Im Zentrum steht die „Weisheit", mittelpersisch Xrat (Khrat, auch „Wissen, Vernunft"), deren Vertreter oder Überlieferer entweder Könige der Vorzeit (Yam, Osnar) oder der Sasanidenzeit (Xrusro /.), aber auch Wesire (Vazurg-Mihr T Boxtakän) und Priester (Aturpat 7 Mahraspandän) sind. Die Sammlung und Tradierung erfolgte auch hier in den Priesterschulen oder in den (Feuer-)Tempeln. Da das Denken im Zoroastertum zusammen mit Reden und Handeln eine dominante Rolle spielt, gilt der Erziehung im religiösen Wissen große Aufmerksamkeit. Dieses Wissen gilt als Weisheit, doch handelt es sich nicht nur um religiöses, kultisches oder theologisches Wissen. Der Iran hat (über das Griechische) auch säkulare Weisheit übernommen und selbst hervorgebracht. Der religiöse Rahmen, in den diese Überlieferung gestellt ist, ist allerdings sehr beherrschend. Alle Weisheit gilt als Ausfluß der einen Weisheit, die auf Gott (Ohrmazd) zurückgeht (so nach dem Menök t Xrat). Es sind vor allem zwei Werke, die hier von Bedeutung sind. Einmal das 6. Kapitel der Enzyklopädie „Angelegenheiten der Religion" {Denkart), zum anderen die „Entscheidungen des Geistes der Weisheit" (Dätistän i Menök t Xrat). Beide stammen aus der Sasanidenzeit, haben aber älteres Gut bewahrt. Denkart VI geht teilweise auf das nicht erhaltene awestische Baris Nask zurück, anderes entstammt der mündlichen Überlieferung. Der Inhalt ist weithin religiös und hat mit der zoroastrischen Reinheitslehre zu tun, ist also sehr ritualistisch orientiert, d.h. an den sog. guten Taten. Weisheit ist hier das richtige Wissen um das korrekte Verhalten in religiösen Dingen. „Diese Welt wurde von Ohrmazd mit Weisheit (dänägth) geschaffen. Er erhält sie mit Klugheit (frazänagth) und Mannhaftigkeit (mardäbagTh); letztlich wird er freudvoll durch sie" (§311). Ferner heißt es: „Die Substanz der Weisheit (xrat) ist dem Feuer gleich. Denn nichts in dieser Welt kann so vollkommen werden als das, was durch Weisheit gemacht ist" (§313). Weisheit ist im Charakter (xem), Religion (den) ist sowohl in der Weisheit als auch im Charakter (§2.6), daher schuf Ohrmazd die Geschöpfe durch Charakter, erhält sie mit Weisheit und führt sie zurück durch Religion (§ 11), daher steht der Charakter noch über der Weisheit. In anderen, mehr säkularen Handarz-Texten steht die Weisheit an der Spitze der Tugenden und leitet den Menschen zur Erkenntnis seiner Pflichten. Ohrmazd schuf folgende geistige Dinge, die dem Menschen dabei helfen: „angeborene Weisheit, erworbene Weisheit, Charakter, Hoffnung, Zufriedenheit, Religion (den), und die Beratung durch den Weisen" (Abiyätkär T Vazurk-Mihr § 43). Die erworbene Weisheit wird durch Erziehung erreicht, die angeborene bewahrt vor Furcht und Sünde.

Man sieht, wie im Zoroastertum die Weisheit stark in den religiösen Kontext eingebaut ist; sie ist primär am zoroastrischen Wissen orientiert. Daher ist es Pflicht des Gläubigen, den „Weisen" (Lehrer, Priester) zu folgen und sie zu befragen; der Umgang mit ihnen bringt Gott nahe. Durch den Einfluß der iranischen Schicksalslehre (Zurvänismus) sind allerdings Teile der Handarz-Literatur auch von einem fatalistischen Pessimismus bestimmt, der an Kohelet erinnert (vgl. Denkart VI, D). Das -»Schicksal (baxt, breh, zamän) ist dann das, was den Menschen bestimmt; sein Handeln ist darauf abgestellt. Diese Züge setzen sich in der neupersischen Literatur fort, wo diese in vormuslimischen Weisheitstraditionen eine Rolle spielen, wie in der Spruchliteratur und der didaktischen Dichtung. Deutlich als himmlische Person oder Hypostase tritt die Weisheit als „Geist der Weisheit" (oder Vernunft: menök t xrat) in dem gleichnamigen Werk auf. Hier gilt sie als eine der „heiligen Unsterblichen" (Amahraspandän) _und wird mit Gebeten angerufen (1,53). Sie ist die „ursprüngliche Weisheit" (äsn-xrat), die bei Ohrmazd weilt und alle Weisheit in sich vereinigt (57,3-32). Sie wurde von Ohrmazd geschaffen (8,3.8), und er schuf durch sie die Welt (1,11.49; 57,5), durch sie wird diese auch erhalten (1,12). Wichtigste Funktion ist die Belehrung bzw. Offenbarung. Jedes der 62 Kapitel des Buches nach der Einleitung (Kap.

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Weisheit/Weisheitsliteratur I

1) beginnt mit Fragen des (anonymen) „Weisen" (dänäg) an die Weisheit, die dann der Länge nach antwortet. So ist das Buch ein Kompendium oder ein Katechismus des Zoroastrismus, das durch die himmlische Weisheit Gottes autorisiert ist. Der „Weise", der es überliefert hat, ist offenbar der Repräsentant der zoroastrischen Gemeinde oder Priesterschaft. Er wanderte durch die Welt, von Land zu Land, Stadt zu Stadt, um Weisheit zu erlangen, bis er erkannte, daß die wahre Weisheit

in seiner Religion zu finden ist und ihm diese als „Geist der Weisheit" (menök I xrat) Ohrmazds

persönlich erschien und ihn belehrte ( 1 , 1 4 - 6 1 ) . Ein Äquivalent dazu bietet im Avesta am ehesten

Vohu Mänah (Vahumätt, Vahmärt), der „gute Geist". Die „präexistente oder innewohnende Weisheit" (äsn xrat) findet sich in Yasna 22,25 und 25,18 (äsnö xratus) in Verbindung mit dem zoroastrischen Glaubensbegriff.

4.4. Indien und

Buddhismus

Die indische Weisheitsliteratur läuft unter dem Namen niti, was soviel wie „gnomisch" bedeutet. Sammlungen von Spruchweisheiten wurden für die Herrscher oder Könige angelegt, wie das bekannte Tancatantra oder Hitopadesa („heilsame Belehrung"). Das indische Nationalepos Mahäbhärata enthält in seinen didaktischen Teilen viel alte Weisheitstraditionen, wozu vor allem die Bhagavadgitä gehört. Im Buddhismus ist das Dhatnmapada eine derartige Sammlung. Die große Rolle, die das Wissen, die Erkenntnis oder „Einsicht" (jnäna) in der altindischen Theologie (Upanishaden [-»Veda und Upanishaden]) spielt, hat auch der Weisheit eine zentrale Stellung in Indien verschafft. Sie ist hier schwer von der Philosophie zu trennen, und diese wiederum von Religion; alle partizipieren aneinander, indem sie dem gerechten Leben, d.h. dem dharma (Weltgesetz bzw. -Ordnung), dienen wollen. In der Bhagavadgitä wird der „Weg der Erkenntnis/Weisheit" gegenüber dem der Tat (karmä) gepriesen. „Dem Gläubigen fällt Erkenntnis (jnäna) zu, der nach ihr sucht, die Sinne zähmt; wer die Erkenntnis fand, gelangt zum höchsten Seelenfrieden" (IV,39f.). Zu einer Personifizierung der Weisheit bzw. „Erkenntnis" ist es allerdings in der indischen Religion und Philosophie nicht gekommen. Dies erfolgte erst im Buddhismus, wo das indische Erkenntnisideal, der Weg zur Befreiung vom Kreislauf der Geburten (samsära) unter Absage an die priesterliche Tradition und die extreme Askese neue Formen fand. Der Schritt zur Vergegenständlichung der erlösenden Erkenntnis oder Weisheit (sanskrit prajnä, pali pahhä) ist allerdings erst im Mahayana-Buddhismus geschehen, und zwar ca. 200 v. Chr. in Südoder Nordindien. Es entstand eine ganze Literatur (zunächst in Sanskrit) unter dem Namen „Vollkommenheit der Erkenntnis/Weisheit" (prajnäpäramitä). Die ältesten Werke entstanden zwischen dem 1. J h . v. und dem 2. J h . n. Chr. Vom 4. bis 7. J h . wurden dazu Kompendien und Kurzfassungen verfaßt, die unter dem Einfluß der Yogäcära-Schu\e standen; seit dem 6. J h . bemächtigt sich auch der Tantrismus dieser Texte und gibt ihnen ritualistische Deutungen bis hin zu antinomistischen Praktiken. Wie schon erwähnt (s.o. 3.), gibt es eine Reihe von Parallelen zur frühjüdischen Sapientia.

In den „buddhistischen Weisheitsbüchern" (vgl. Conze) wird eine spezifisch neue Erkenntnis über die Erlösung vertreten: es ist die Einsicht in die „Leerheit" (sünyatä) des Seins, die Befreiung verspricht. Dargestellt wird das in Form von Dialogen zwischen dem Buddha und einigen seiner Jünger. Auf diese Weise wird die neue Lehre autorisiert und erhält quasi kanonische Geltung. Die alte, schon immer bedeutsame Tugend der „Einsicht" rückt an erste Stelle und wird, vielleicht unter Einfluß der südindischen Muttergottheit, zu einer Göttin Frajnäparamitä personifiziert. In dieser Form wird sie als „Mutter aller Buddhas" (buddha-mäti, jinäna mätä) und Bodhisattvas aufgefaßt und verehrt. Ikonographisch wird sie mit zwei, vier, sechs, zehn oder zwölf Armen dargestellt. Ihre Farbe ist entweder gelb oder weiß, ihre Symbole sind Lotos und Buch (entweder blau oder rot bemalt). Sie ähnelt oft den Darstellungen von Manjusri, der die männliche Personifizierung der Weisheit repräsentiert, oder der hinduistischen Göttin des Wissens und der Künste Sarasvati, ferner Avalokitesvara, Tara und Cundä. Für das buddhistische Volk ist sie eine anrufbare Gottheit, die Verdienste, Heil und Segen schenkt. Die buddhistischen Theologen sehen in ihr nur eine „geistige Manifestation" der erlösenden

Weisheit/Weisheitsliteratur I

485

bzw. erleuchtenden (fcocMi'-schenkenden) Weisheit, die die „Mutter der Erleuchtung" genannt wird, alles umfaßt und trägt. Die buddhistische Lehre hat hier in ihrem Wesen selbst Gestalt gewonnen. Die verschiedenen Auslegungen derselben in den Mahäjanaschulen (Yogäcära, Tantra, Dhyäna) spiegeln sich in dieser Gestalt und ihrer Literatur wider. Eine der bekanntesten Hymnen auf sie hat Rähuläbhädra (um 150 n. Chr.) verfaßt: „Ehre Dir, Vollkommene Weisheit, / Unbegrenzt transzendenter Gedanke. / All Deine Glieder sind ohne Makel, / Fleckenlos, ungehindert, schweigend, / Wie die Ausdehnung des Raums; / Wer in Wahrheit wirklich Dich sieht, / Der nimmt den Tathägata (Buddha) wahr... So, Gesegnete, bist Du / Große Mutter aller Wesen . . . Von allen Buddhas, Einzelbuddhas, / Und den Schülern auch verehrt, / Bist Du der einzige Weg zum Heil Du, / Wahrlich keinen andern gibt's . . . " (Conze, Zeichen 123 f.). Die tantristische Schule schuf dazu Beschwörungen bzw. Formeln (mantra), die auf Prajnäparamitä selbst zurückgehen. Die Rezitation dieser Sprüche hat erlösende Wirkung und schafft Verdienste auch für andere. So hat in dieser Form des Buddhismus die Figur der Weisheit alle Seiten in Theorie und Praxis in sich vereinigt. Diese „vollkommene Weisheit" ist wahrscheinlich ihre bemerkenswerteste Ausprägung überhaupt. 4.5.

China

Demgegenüber ist in China, um darauf noch kurz einzugehen, die Weisheit am wenigsten im religiösen Kontext verankert. Sie hat im Konfuzianismus (-»Chinesische Religionen 4.) eindeutig moralisch-ethische Bedeutung. Es erinnert an die Griechen, wenn Weisheit darin besteht, E x t r e m e zu vermeiden und dem Mittelweg zu folgen. „Weisheit" (zhi, chih) ist eine der fünf konfuzianischen Kardinaltugenden, die den „Weisen/Gelehrten" (shih) auszeichnen. Ihr Schriftzeichen setzt sich aus „Wissen, Kenntnis" und „sagen, sprechen" zusammen. Z u ihr gehört Wissen um Mensch und Gesellschaft, Sprach vermögen und das praktische Verhalten nach den konfuzianischen Regeln (Ii). „Der Sinn für richtig und falsch ist der Anfang der Weisheit (zhi)". Das Zeug, ein Weiser zu werden, hat jeder, es bedarf nur der Belehrung und Übung, denn die menschliche N a t u r ist nach chinesischer Auffassung gut (was ebenfalls an die Griechen erinnert). Trotzdem kennt der Konfuzianismus das Ideal des „ E d l e n " (jun-zi) und „Heiligen" (sheng ren), der noch über dem Weisen (shih) steht, da er alle Grundsätze (Ii) vollkommen befolgt, in Harmonie mit Natur und Gesellschaft lebt und so der (moralisch) vollkommene Lehrer seines Zeitalters ist. Der spätere Konfuzianismus sah darin das Ideal des Herrschers. Die alte Bedeutung von Weisheit als praktische Lebensbewältigung durch Erkenntnis von Welt und Mensch ist in China wohl am eindrucksvollsten ausgebildet worden und hat über die Jahrhunderte den Charakter dieses Volk geprägt. Weisheit realisiert sich im Verhalten und kann eingeübt werden, dann wird sie zur Haltung. Literatur Rudolf Anthes, Lebensregeln u. Lebensweisheit der Alten Ägypter, Leipzig 1930 (AO 32/2). Aleida Assmann (Hg.), Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation, München, III 1991. - Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit u. Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990 3 2001. - Bibl. u. außerbibl. Spruchweisheit, hg. v. Hans-Joachim Klimkeit, 1991 (StOR 20). - H.H. Biesterfeldt, Weisheit als mot juste in der klass.-arab. Lit.: Aleida Assmann (s.o.) 367-386. - Hellmut Brunner, Altäg. Weisheit. Lehren f. das Leben, Zürich 1988; 2. Aufl. u.d. T.: Die Weisheitsbücher der Ägypter, Zürich 1991. - Friedrich Wilhelm v. Bissing, Altäg. Lebensweisheit, Zürich 1955. Walter Burkert, Weisheit u. Wiss. Stud. zu Pythagoras, Philolaos u. Piaton, Nürnberg 1962. - Giorgio Buccellati, Wisdom and Not. The Oase of Mesopotamia: JAOS 101 (1981) 3 5 - 4 7 . - Edward Conze, Buddhist Wisdom Books Containing the Diamond Sutra and the Heart Sutra, London 1958 2 1975. - Ders., The Large Sutra on Perfect Wisdom, Berkeley, Calif. 1984. - Ders., The Perfection of Wisdom in Eight Thousand Lines and Its Verse Summary, San Francisco 1973 2 1983. - Ders., The Prajnaparamita Literature, 's-Gravenhage 1960 (Indo-Iranian Monography 6). - Ders. (Hg.), Im Zeichen Buddhas, Frankfurt a.M. 1957. - Sara Denning-Bolle, Wisdom in Akkadian Literature. Expression, Instruction, Dialogue, Leiden 1992 (Ex Oriente Lux 28). - Jan van Dijk, La sagesse sumero-accadienne, Leiden 1953. - Fung Yu-lan, A History of Chinese Phil., 2 Bde., Princeton, N.J. M952-1953. - Burkhard Gladigow, Sophia u. Kosmos, Hildesheim 1965. - Edmund I. Gordon, Sumerian Proverbs, Philadelphia, Penn. 1959. - Marcel Granet, Das chinesische Denken, Frankfurt a.M. 1985. - Gustav Grunebaum, Der Islam im MA, Zürich 1963, bes. 320-328. - D. Gutas,

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Weisheit/Weisheitsliteratur II

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Kurt Rudolph II. Altes Testament 1. Zum Begriff der alttestamentlichen Weisheit 3. Theologische Konturen alttestamentlicher Weisheit licher Weisheit (Literatur S. 494)

1. Zum Begriff der alttestamentlichen

2. Weisheitsliteratur im Alten Testament 4. Zur Forschungsgeschichte alttestament-

Weisheit

Der hebr. Terminus häkmäh - gewöhnlich mit Weisheit übersetzt - umfaßt eine breite Palette differenzierter Bedeutungen, die untereinander in Beziehung stehen. 1) Das intellektuelle Vermögen eines Menschen im Sinne von „Klugheit", „Wissen", „Intelligenz" wird im Hebräischen mit der Wurzel häkam („weise sein") bezeichnet (vgl. Jud 5,29; II Sam 13,3; 14,2; Jer 9,22). 2) Mit Weisheit wird das wissensmäßige und technische Vermögen umschrieben, das zur Ausübung einer Tätigkeit gehört, d.h. die Voraussetzung einer Tätigkeit im Sinne von „Geschick", „Fertigkeit", „Meisterschaft". Auch JHWHs Schöpfertätigkeit wird vor diesem Hintergrund als Weisheit bezeichnet (Prov 3,19f.). 3) Als weise im eigentlichen Sinn gilt im Alten Testament das Resultat von Intelligenz, Bildung und Geschick im Sinne von Lebensklugheit, Einsicht und sozialer Kompetenz. Vor allem das Proverbienbuch zeichnet in vielfacher Annäherung das Bild vom aufrichtigen, verschwiegenen, zurückhaltenden, fleißigen, sparsamen, höflichen und verantwortungsbewußten „Weisen", der über Einsicht (fbünäh, binäh) und Zucht (müsar) verfügt (Prov 14,13.21). Synonyme zu häkam/häkmäh unter diesem Aspekt sind z.B. yäsär „rechtschaffen, aufrichtig": Ps 7,11; Hi 4,7) und täm („geradlinig, integer": I Reg 9,4). 4) Vor allem der ethische Aspekt weisen Verhaltens im eben geschilderten Sinne zieht eine religiös-moralische Konnotation von Weisheit nach sich, die häufig mit dem Begriff „Gottesfurcht" (yir'at lohim: Prov 1,7 u.ö.) synonym gesetzt wird, häufiger jedoch noch mit „gerecht/Gerechtigkeit" (saddiq/s'däqäh: Prov 9,9; 11,30; 23,24 u.ö.). Jemand, der sich — willentlich und wissentlich - dieser Weisheit entzieht, gilt als „böse" (ra': Prov 15,21) oder „Frevler" (räsä': Prov 15,28). Es ist deutlich, daß die einzelnen angeführten Bedeutungsaspekte nicht trennscharf gegeneinander abzugrenzen sind. Es gilt darüber hinaus zu beachten, daß häkmäh in keinem Falle eine abstrakte und/oder theoretische Kategorie ist; vielmehr ist das hebräische „weise sein" immer in gleichem Maße sowohl auf Aneignung, Ein- und Ausübung als auch auf Weitergabe ausgerichtet. Die erkenntnistheoretische und theologische Komplexität des alttestamentlichen Weisheitsbegriffs wird vor allem dort deutlich, wo häkam!häkmäh innerhalb einer Reihe von Synonymen oder verdeutlicht durch eine Fülle von Beispielen erscheint (zu solcher Synonymhäufung vgl. v. Rad 47). Als exemplarischer Weiser gilt dem Alten Testament —»Salome), von dessen außergewöhnlicher Weisheit I Reg 9 , 5 - 1 4 berichtet. Die Verse schließen den Bericht über Salomos Herrschaft ab. Als gerechter Richter (I Reg 3,16-28), erfolgreicher Herrscher (I Reg 4,20), Sicherer von Frieden und

Weisheit/Weisheitsliteratur II

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Wohlstand (I Reg 5,4f.) und mit Reichtum Gesegneter entspricht Salomo dem Idealbild des Königs, das auch Prov 1 6 , 1 0 - 1 5 ; 20,2.8.26 u.ö. zeichnen. Entsprechend werden das Proverbienbuch, das -•Koheletbuch, das -»Hohelied und Ps 72 Salomo zugeschrieben, außerdem die apokryphen Schriften Psalmen Salomos und Weisheit Salomos (s.u. III.3.3.). Stärker dem gedanklichen Konstrukt der Weisheit an sich verpflichtet ist das „ M o t t o " des Proverbienbuchs, Prov 1 , 1 - 7 , das dem Begriff häkmäh nicht weniger als 13 Synonyme zuordnet. Es erscheinen Allgemeinbegriffe für Bildungsziele (Erziehung, vollständige Rede, Klugheit, Wissen, Kenntnisse), auf Lebenspraxis zielende Termini (Einübung kluger Verhaltensweisen, Gerechtigkeit, Rechtsordnung, Geradlinigkeit, Führungseigenschaften) und schließlich die weisheitlich konnotierte Frömmigkeit (Gottesfurcht). Diese Anordnung läßt ein Bemühen um eine vollgültige Definition von Weisheit erkennen. Die Termini sind in eine dramaturgische Struktur eingebunden, die Ausgangs- und Zielpunkt des Bemühens um Erkenntnis transparent machen soll: Verstehen, um zu lernen (V. 2 - 3 ) , und Lehren, damit andere verstehen (V. 4 - 6 ) , sind aufeinander bezogen und gipfeln schließlich in Gottesfurcht, von der sie auch ihren Anfang nehmen (zu Prov 1 , 1 - 7 ; vgl. Schäfer 7ff.). Unter d e m Einfluß eines so umfassend verstandenen Weisheitsbegriffs wird in der alttestamentlichen Wissenschaft der Bereich alttestamentlicher Literatur und Theologie als Weisheit bezeichnet, der eine (systematische) Reflexion der ethisch und theologisch konnotierten häkmäh darstellt (zur Forschung s. Delkurt, Grundprobleme 4 1 ff.). 2. Weisheitsliteratur

im Alten

Testament

Als Weisheitsliteratur wird in der Regel ein relativ fest umrissener K a n o n alttestamentlicher T e x t e bezeichnet, der um eine Anzahl weisheitlicher oder weisheitlich beeinflußter Schriften erweitert werden kann. Zur Weisheitsliteratur im strengen Sinne werden die Bücher Proverbien, Kohelet, —»Hiob und -•Sirach gezählt. Die Zusammenschau dieser Bücher ist bereits in der Septuaginta nachzuweisen. Außerdem sind die sog. „Weisheitspsalmen" 1; 37; 39; 49; 73; 119 zur Weisheitsliteratur zu rechnen (-»Psalmen). Als weisheitliche Literatur gelten darüber hinaus die -»Josephnovelle (Gen 3 7 . 3 9 - 5 0 ) sowie die Bücher -»Ruth, -»Jona und -»Esther. Für das -»Deuteronomium, für -»Arnos und -»Jesaja sowie für eine Reihe weiterer Texte wird der Einfluß weisheitlichen Denkens geltend gemacht. Hinsichtlich der Differenziertheit der allgemein als „weisheitlich" bezeichneten Schriften und im Interesse der Herausarbeitung eines klaren formalen und inhaltlichen Profils alttestamentlicher Weisheit bietet es sich an, sachlich zwischen Weisheitsliteratur und weisheitlich beeinflußter Literatur zu unterscheiden. 2.1.

Weisheitsliteratur:

Gattungen

und

Texte

Die Bücher Proverbien, Kohelet und Sirach - nicht jedoch das Hiobbuch! — sowie die Weisheitspsalmen zeigen klare gemeinsame inhaltliche und formale Konturen, die es erlauben, von einem theologisch-literarischen Bereich „Weisheitsliteratur" im Alten Testament zu sprechen. In durchgehend poetischer Stilisierung und hoher sprachlicher Dichte und Gebundenheit reflektieren die genannten T e x t e die Weisheit und ihre Implikationen für Theologie, Individuum und Gesellschaft. Die vorliegende alttestamentliche Weisheitsliteratur ist dabei als Literatur zu begreifen, die einem hohen ästhetischen und theologischen Anspruch Rechnung trägt. Es kann nicht grundsätzlich bezweifelt werden, daß der Weisheitsliteratur gelegentlich sog. „Volkssprichwörter" zugrunde liegen, wie sie außerhalb des weisheitlichen Korpus z. B. Gen 10,9; Jud 8,21; 1 Sam 10,12; 24,14; Ez 16,44 überliefert sind (vgl. dazu ausführlich Fontaine). Indes ist schon das „Volkssprichwort" durch poetische Elemente (Metaphorik, Reim, Rhythmus, rhetorische Stilfiguren) deutlich von der Alltagssprache abgesetzt, so daß sich auf literarischem Niveau kaum ein prinzipieller Unterschied zwischen „Volkssprichwort" und „Kunstspruch" geltend machen läßt, vgl. etwa den - wohl volkstümlichen - Satz „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Söhnen werden die Zähne stumpf" (Jer 31,29; Ez 18,2) mit der weisheitlichen Einsicht „Es kommt vor, daß ein Weg gerade ist vor einem Mann, doch sein Ende sind Todeswege" (Prov 14,12). Zwischen „Volkssprichwort" und „Kunstspruch" läßt sich - wenn überhaupt - allenfalls im Hinblick auf die inhärente Funktion differenzieren, insofern das Sprichwort auf Orientierung und

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konkrete situative Belehrung hin tendiert, der Kunstspruch hingegen auf Bildung und Erziehung (Klein), doch daraus ergibt sich keine qualitative Differenz der Gattungen (so aber Hermisson, Studien). Es ist daher auch fraglich, inwieweit sich bestimmte weisheitliche Gattungen unterschiedlichen Ursprüngen (Volksweisheit, Bildungsweisheit, Erfahrungsweisheit) zuordnen lassen. Alle Gattungen der Weisheit liegen im Alten Testament in literarischem Kontext vor.

Als Grundgattung alttestamentlicher Weisheitsliteratur läßt sich der kurze Spruch, auch Kunstspruch oder Sentenz genannt, (hebr. mäsäl) bezeichnen. In der Regel zweigliedrig im Parallelismus membrorum formuliert und zumeist durch poetische Stilmittel (Metaphorik, Reim, Rhythmus, Paronomasie) weiter verdichtet, bringt er eine Einsicht zur Sprache und damit zur Welt, vgl. „Vor dem Zusammenbruch Hochmut und vor dem Fall ein stolzer Sinn" (Prov 16,18), „Ein Boshafter merkt auf unheilvolle Lippe, Lüge hört auf verderbliche Z u n g e " (Prov 17,4), „Betrübnis im Herzen eines Menschen bedrückt es, aber ein gütliches Wort macht es f r o h " (Prov 12,25). Die Formulierung einer Aussage ist bereits ein Akt der Weisheit: Die gehobene Form des mäsäl „ist sowohl im erkennenden Subjekt als auch im erkannten Objekt begründet. Die Freude, eine Erkenntnis gewonnen und nach viel M ü h e präzise formuliert zu haben, drückt sich genauso in gehobener poetischer Form aus, wie es die Würde dieses Teils der erkannten Wirklichkeit selbst erfordert. ... Der Kunstspruch gibt seinen Fund, das Stück erkannte Ordnung, nicht einfach bekannt, sondern er zelebriert diese Erkenntnis" (Klein 59). Die Möglichkeiten solcher Wirklichkeitsaneignung, die die Welt nicht auf den Begriff bringt und damit zum bloßen Objekt macht, sondern sich der Wirklichkeit und ihrer Wahrheit beschreibend annähert, stellt die Stilform des Parallelismus membrorum bereit. Die Dynamik eines Erkenntnisaktes wird umgesetzt in die Dynamik einer (vergleichenden, kontrastierenden oder identifizierenden) Aussage (vgl. dazu Alter; Berlin). Erst in der späteren Weisheitsliteratur wird die Wahrnehmung des Weisen auch begründet (Prov 16,12.26; 19,19; 21,7.25; 22,9; 29,25; Koh 2,15f.; 3,18f. u.ö.; Sir l,26f.; 3,lf.; 4,5f. u.ö.; vgl. dazu Hermisson, Studien). Hierin läßt sich eine Tendenz zur stärkeren rationalen Durchdringung der Welt erkennen, wie sie für Prov 1 - 9 , Kohelet und Sirach typisch ist. Eine solche Tendenz liegt möglicherweise auch den tob- oder Evaluativsprüchen zugrunde, die einen Vergleich zweier Phänomene nach dem Schema „A ist besser als B " formulieren (Prov 17,1; 16,16; 27,5.10; Sir 16,3; 19,24; 20,31; 29,12f.22; 30,14.17; 41,15; 42,14; zu den ¿¿¿-Sprüchen bei Kohelet vgl. Klein 97ff.). Viele dieser Evaluativsprüche formulieren Paradoxien und/oder überraschende Einsichten, die eine allgemeine Sicht auf die Dinge bewußt konterkarieren und so neue Facetten der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. So zwingt z. B. der Satz „Besser das Wenige des Gerechten als der Reichtum vieler Gottloser" (Ps 37,16) zu Korrelation von - als Segen zu bewertendem — Reichtum mit — anzustrebender - Gerechtigkeit, die gerade nicht analog gesehen werden (vgl. dagegen die positive Einschätzung des Reichtums Prov 19,4.7) und zur Neubewertung dieser Korrelation. Ein ähnlich differenziertes Verhältnis zwischen möglichst genauer Aneignung eines Phänomens und seiner poetischen Verrätselung läßt der Zahlenspruch erkennen. In ihm werden eine Anzahl verschiedener Sachverhalte unter einem übergeordneten Gesichtspunkt zusammengestellt und dann aufgezählt, so etwa Prov 30,24-28; Sir 25,1.2, in Form des „gestaffelten" Zahlenspruchs Sir 26,28. Dabei kann es zur Zusammenschau anscheinend nicht zusammenhängender Größen kommen, die zur völligen Neubewertung der Wirklichkeit führt, vgl. Sir 25,7-11; Prov 30,18ff., wo bezeichnenderweise die Dinge aufgezählt werden, die der Weise nicht versteht. Drückt sich in den genannten Spruchgattungen im wesentlichen das Interesse an Aneignung und Weitergabe der Weisheit aus, so bleibt die Möglichkeit der Funktionalisierung doch weitgehend offen. Die Paradigmatik der Sprüche tendiert zunächst auf verschärfte Wahrnehmung und erst in zweiter Linie - und meist nur indirekt - auf praktische Umsetzung, die durch Reflexion, Initiative und Verantwortlichkeit erfolgt. Aus diesem Grund sind die Spruchformulierungen in der Regel generalisierend und ty-

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pisierend (vgl. Hausmann, Studien 248; auch G . Boström; Klein; anders L. Schmidt; Delkurt, Einsichten). Indes kann sich schon in den Sprüchen das Gewicht zur Handlungsmaxime hin verschieben, so etwa Prov 10,1 (vgl. Hermisson, Studien; Plöger). Auch viele föfc-Sprüche drängen auf ein (verändertes) Verhalten hin, vgl. z. B. Koh 7,8b. Die Mahnworte, die aus Imperativ/Vetitiv und Begründung zusammengesetzt sind, tendieren vollends auf den Aufruf zum rechten Handeln. Auffallenderweise finden sich Mahnworte in der älteren Weisheit nur in dem von ägyptischen Texten abhängigen Komplex Prov 2 2 , 1 7 - 2 4 , 2 2 und gehäuft in der jüngeren Weisheit bei Kohelet, Sirach und in Prov 1 - 9 . Der Tendenz nach formulieren Weisheitssprüche Einzelwahrnehmungen, sie verweisen auf „Ordnungsparzellen". Die möglichst vollständige Erfassung der Wirklichkeit nach dem Vorbild altorientalischer Listenweisheit oder Onomastika fehlt im Alten Testament bzw. läßt sich nur fragmentarisch in Texten wie Ps 104; Hi 38—39 nachweisen. Solche Texte dienen auffallenderweise hauptsächlich dem Lob J H W H s . Fehlt der alttestamentlichen Weisheitsliteratur auch das gewissermaßen enzyklopädische M o m e n t , so läßt sich doch ein systematisierendes Interesse nicht übersehen, das sich in generalisierenden Aussagen niederschlägt: In Wahrnehmungen des Menschen und seiner sozialen Lebenszusammenhänge wird durch typisierende Zuspitzung der Hintergrund der gesamten menschlichen Wirklichkeit als Erkenntnis- und Handlungsperspektive angesprochen. Die jeweilige Situation wirft dann immer nur ein Schlaglicht auf den Menschen an sich, vgl. die Zuordnung von Weisheit und Torheit, Eltern und Kind in Prov 10,1: „Ein weiser Sohn erfreut den Vater, aber ein törichter Sohn bedeutet Gram für seine Mutter." Die inhärente Tendenz der frühen Weisheitsliteratur (Prov 10-22) zur allgemeinen Aussage wird durch Sammlung, Komposition und Redaktion verstärkt. Wie A. Scherer für Prov 10,1-22,16 gezeigt hat, erfolgt die Zusammenstellung der Einzelsprüche zu Spruchgruppen nicht nach Zufallsprinzipien oder anhand loser Gruppierung (vgl. die Diskussion älterer Ansätze bei Scherer 5ff.). Vielmehr läßt sich für die Sammlung der Einzelsprüche das Prinzip der Kontextbildung nach inhaltlichen, semantischen und poetischen Gesichtspunkten geltend machen (ebd. 35ff.). Das Resultat ist ein planvoll komponiertes Textgebäude, das den Lesenden die Möglichkeit gibt, „die kompositorisch intendierte Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Sprüchen zu erkennen und so die Wirkung, die das Wort des einzelnen Spruchs im Zusammenspiel mit anderen Sprüchen entfaltet, besser wahrzunehmen" (ebd. 335). Ein besonders instruktives Beispiel dafür ist Prov 16,16-17,1, in dem das Thema „Weisheit und Erziehung" systematisch um die Motive „Rede" und „Weg" herum gruppiert wird. Sammlung, Komposition und Redaktion erweisen sich somit als integraler Bestandteil alttestamentlicher Weisheitsliteratur. Im Entstehungsprozeß der alttestamentlichen Weisheitsliteratur läßt sich eine Entwicklung vom kurzen Einzelspruch zum längeren Weisheitsgedicht, zur Lehrrede und zum Traktat erkennen. Diese Formen liegen hauptsächlich in Prov 1 - 9 , Kohelet und Sirach vor. Die einzelnen Gattungen sind dabei häufig nicht klar voneinander abgrenzbar, umstritten ist dabei auch, einen wie großen Anteil die Sammlung und Komposition beim Zustandekommen größerer Texteinheiten hat. M i t B. Lang (Lehrrede) dürfte die weisheitliche Lehrrede, die in (fiktiver) Dialogsituation Elemente der Weisheit pädagogisch-paränetisch entfaltet, eine Gattung der späteren Weisheitsliteratur sein (anders Römheld). Tatsächlich setzen alle Gattungen der alttestamentlichen Weisheitsliteratur eine gewissermaßen dialogische Situation voraus, insofern sie auf Weitergabe und Aneignung der Einsicht tendieren. Indes wird erst im M a h n w o r t und in den Lehrreden diese dialogische Situation zum Bestandteil der Texte. Die Aneignung der Einsicht durch den Hörer/die Leserin wird nicht nur vorausgesetzt, sondern im Text thematisiert und meist in konkrete Handlungsanweisungen umgesetzt, die den Text leitmotivartig durchziehen, vgl. z . B . Prov 3 , 1 - 2 6 . In den späteren Weisheitstexten ist allerdings der pädagogischparänetische Impuls unterschiedlich ausgeführt. Wollen Prov 1—9; Sir 2 - 4 deutlich den „ S o h n " , d.h. den Leser oder die Hörerin zur weisen Lebensführung und Zucht mahnen, so bleibt die Anrede bei Kohelet relativ offen. Dort soll anscheinend die Zustimmung

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zu Kohelets Reflexion zu bestimmten Handlungen führen, wobei die Lebenserfahrung des Sprechers als Garant für die Wahrheit der Einsicht steht (vgl. Koh 7,8-15). Eine Sonderform der Weisheitsliteratur stellen die Weisheitspsalmen dar. In diesen Texten findet die Reflexion über die Wirklichkeit vor Gott statt. Der dialogische Impuls wird hierbei in zwei Richtungen umgesetzt. Die Aufforderung zu einem weisen Leben kann - unter Verwendung des Makarismus - abseits von der spezifischen Lehrsituation allgemein jedem gemacht werden, der bereit ist, die Worte zu hören und zu bewahren. Die Weisheit und die Möglichkeit ihres Erwerbs werden dann in Gotteslob umgesetzt (Ps 1; 119,10-18). Umgekehrt kann der Beter die Grenzen der Erkenntnis und sein Leiden an diesen Grenzen im Gebet vor Gott bringen und ihn bitten, dem Beter Weisheit und Einsicht zu verleihen (Ps 119,19ff.; 73). Im letzteren Fall sind die Grenzen der Erkenntnis häufig mit der Frage nach Tod und Leiden verbunden. 2.2. Weisheitliche

Literatur: Texte und

Themen

Die Zusammenstellung der genannten, literarisch und theologisch ausgesprochen heterogenen Texte zu einem Gesamtkorpus „Weisheitsliteratur" erfolgt in erster Linie unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Diesen werden die Fragen der literarischen Gestalt deutlich untergeordnet. Dabei sind die in der Forschung verwendeten Termini „Weisheit", „weisheitlich" und „weisheitlich beeinflußt" häufig nicht ganz deutlich gegeneinander abgegrenzt. Neben der genuinen Weisheitsliteratur läßt im Alten Testament eine Reihe von Texten das Interesse erkennen, Themen und Anliegen weisheitlichen Denkens nicht im allgemeinen zu reflektieren, sondern auf einen Sonderfall zuzuspitzen. Diese Sonderfälle werden in Form einer Prosaerzählung dargestellt. Die Josephnovelle, die Bücher Jona, Ruth und Esther sowie das Hiobbuch sind in diesem Sinne zur weisheitlichen Literatur zu rechnen. Der weisheitliche Charakter der genannten Texte ist im einzelnen umstritten, zumal sie teilweise in bestimmte literarische Großkontexte eingebunden sind, die keinen Bezug zur Weisheit aufweisen, so die Josephnovelle in den -»Pentateuch, Jona in das Korpus der Prophetenbücher. Außerdem scheint die Stilisierung als Prosaerzählung der Einordnung in die Weisheitsliteratur entgegenzustehen. Der beispielhafte Charakter des geschilderten Geschehens und der Hauptfiguren weist indes Beziehungen zu den generalisierenden und typisierenden Menschenschilderungen der Weisheitsliteratur auf: Joseph läßt sich geradezu als Paradigma der weisheitlichen Tugenden Weitblick, Geduld und Tüchtigkeit verstehen, im Buch R u t h wird familiäre Solidarität exemplifiziert, im Buch Esther Klugheit, in der Rahmenerzählung des Hiobbuches Gottesfurcht. Folgerichtig hat H.-P. Müller im Vergleich mit altorientalischen Parallelen die genannten Texte der Gattung „weisheitliche Lehrerzählung" zugeschrieben. Indes ist gerade die lehrhafte Tendenz der Texte problematisch, sie läßt sich allenfalls im Jonabuch mit hinreichender Deutlichkeit erkennen (so - allerdings mit umfangreichen literarkritischen Überlegungen - L. Schmidt).

In den Erzählungen von Ruth, Joseph, Jona, Esther und Hiob (einschließlich der Dialogdichtung Hi 3 - 4 2 , 6 ) liegen komplexe narrative Texte vor, die sich nicht auf eine einzige Tendenz und Absicht reduzieren lassen (vgl. dazu Köhlmoos). Tatsächlich liegt die lehrhafte Absicht dieser Texte eher auf dem Niveau, das auch die pädagogische Funktion der Weisheitssprüche charakterisiert: Sie tritt nur indirekt zutage für das Publikum, das sich davon ansprechen läßt und die Impulse der Erzählung umsetzen will. M a n sollte für die weisheitlichen Erzähltexte daher eher von Beispielerzählungen oder Paradigmata sprechen. Trotzdem sind die Weisheitserzählungen durchaus zur weisheitlichen Literatur zu rechnen. 3. Theologische

Konturen

alttestamentlicher

Weisheit

Hinsichtlich der theologischen Aussagen ist die alttestamentliche Weisheitsliteratur vom übrigen Alten Testament deutlich unterschieden. Es fehlt nahezu durchgängig der Rekurs auf spezifisch „israelitische" Theologoumena wie heilsgeschichtliche Ereignisse, -•Bund, -»Erwählung, Tora usw. (eine Ausnahme bildet Sir 4 4 - 5 0 ) . Selbst die Erwäh-

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nung Gottes findet sich nur sehr selten. Tatsächlich weist die alttestamentliche Weisheit eine eigene Theologie auf, die von den anderen theologischen Schulen des Alten Testaments deutlich unterschieden und mit diesen häufig nur lose verbunden ist. Der Schlüssel zum theologischen Verständnis der frühen Weisheit dürfte in der Verwendung des Begriffs scedceq/saddtq/s'däqäh (Gerechtigkeit/gerecht) zu suchen sein, der besonders gehäuft in Prov 1 0 - 1 5 begegnet. -»Gerechtigkeit ist die Summe weisen Handelns und Verhaltens, gelegentlich können Gerechtigkeit und Weisheit der Sache nach austauschbar erscheinen, vgl. „Weise halten mit ihrem Wissen zurück, aber der Toren Mund führt schnell zum Verderben" (Prov 10,14) mit „Des Gerechten Zunge ist kostbares Silber, aber der Gottlosen Verstand ist wie nichts" (Prov 10,20). Tatsächlich ist aber Gerechtigkeit nahezu der einzige Begriff, der auch außerhalb der Weisheit eine theologische Bedeutung konnotiert: sie gehört zum Wesen Gottes, konkretisiert sich in Segen, Leben und Fülle. JHWHs Gerechtigkeit ermöglicht rechtes Handeln als Anteilgabe an seiner Gerechtigkeit (vgl. Koch, Art. pis; Johnson). Dies gilt auch für die anthropologisch und ethisch ausgerichtete Reflexion der Gerechtigkeit in der Weisheitsliteratur, obwohl dort der Gabecharakter der Weisheit selten reflektiert wird (vgl. H.H. Schmid, Wesen; Hausmann, Studien). Vielmehr bezeugt die Weisheit das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit vor dem Hintergrund eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen (vgl. Koch, Prinzip 131; Janowski). Im Rahmen der frühen Weisheit ist dies ein relativ ungebrochenes Verhältnis, obwohl die wenigen JHWH-Sprüche des Proverbienbuchs durchaus ein Bewußtsein der Grenzen des Erkennens und Verhaltens zeigen, vgl. „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber JHWH allein lenkt seinen Schritt" (Prov 16,12), „Einen jeglichen dünkt sein Weg recht, aber JHWH prüft die Herzen" (Prov 21,2). Die Frage, wie der thematische Schwerpunkt der frühen Weisheit, der in der anthropologischen Reflexion liegt, mit einem sachlichen Zentrum und/oder einem theologischen Begründungszusammenhang zu korrelieren sei, wird häufig durch die (Re-)Konstruktion einer Ordnungstheologie beantwortet. Nach einer Einordnung der Weisheitstheologie in eine schöpfungstheologische Perspektive (Zimmerli, Ort; Murphy, Wisdom) wurde immer mehr erwogen, ob nicht hinter der Weisheit eine Theologie der Schöpfungsordnung steht (Perdue, Wisdom [1994]; Hermisson, Observation). Tatsächlich sind die wenigen JHWH-Sprüche in der frühen Weisheitsliteratur häufig auf die Schöpfung bezogen (Prov 14,31; 22,2; 20,2 u.ö. vgl. dazu Doli), eine Schöpfungsordnung ist daraus jedoch nicht abzuleiten. Aus diesem Grund kann die der Weisheit zugrundegelegte Weltordnungsvorstellung auch ohne explizit schöpfungstheologischen Bezug begründet werden (Gese, Lehre; von Rad; Skladny; Bauer-Kayatz; H . H . Schmid, Wesen). Problematisch ist hierbei, daß der Ordnungsgedanke häufig aus der ägyptischen Ma'at-Konzeption hergeleitet wird (Gese, Lehre), für die es in der alttestamentlichen Weisheit jedoch kein begriffliches oder theologisches Äquivalent gibt. Falls man daher eine „Ordnungs"-Vorstellung als Hintergrund der alttestamentlichen Weisheit annehmen will, hat der Bezug auf die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen die breiteste textliche Bezeugung für sich (vgl. H . H . Schmid, Gerechtigkeit).

Die Suche nach einem übergeordneten theologischen Begründungszusammenhang oder gar einer theologischen Norm verkennt sowohl die erkenntnisbezogene Bewegung der Weisheit als auch ihre Sprachgestalt: JHWH ist der, „der zur Wirklichkeit des Menschen in allen ihren Bezügen gehört, und was von ihm gesagt wird, soll in eine einzelne, bestimmte Situation etwas sagen, was nur so kurz in einem Satz gesagt werden kann. Es ist kein Reden von Gott in spezifisch theologischen Zusammenhängen, sondern ein Reden von Gott mitten in der Alltagswirklichkeit des Menschen" (Westermann, Forschungsgeschichte 47). In Sammlung und Redaktion des Proverbienbuchs läßt sich allerdings das Bemühen erkennen, den Bezug der Weisheit zu JHWH stärker herauszustellen, indem die Addition eines JHWH- mit einem Weisheitsspruch häufig den Auftakt einer größeren Spruchsammlung bildet (Scherer), vgl. Prov 1 0 , 1 - 3 als „Motto" über Prov 10,1-32. Die nachexilische Weisheit sieht sich vor dem Problem, den nunmehr nicht mehr generell vorauszusetzenden Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen im Rahmen von

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Reflexion, Mahnung und Lehre neu zu begründen (sog. „Krise der Weisheit", vgl. dazu Preuß, Einführung). Hier werden die Lösungsansätze vielfältig. Die Sammlung des Proverbienbuches bindet, wie gezeigt, die einzelnen Aspekte weisheitlicher Lehre stärker als vorher an J H W H selbst (Prov 10-22). Mit dieser Rückbindung verbindet sich die nun stärker erkennbare Mahnung zu rechtem Verhalten (Prov 22,17ff.). Eine weitere Möglichkeit ist die personale Verbindung von JHWH mit der Weisheit, wie sie in Prov 1—9 zutage tritt. Das „Motto" des gesamten Proverbienbuches „JHWH-Furcht ist der Anfang der Weisheit" tendiert nun stärker als in der Gerechtigkeitstheologie der frühen Weisheit auf eine Entsprechung zu JHWHs Wesen als Weisheit in rechtem, weisem Handeln. Stärker als vorher tritt dabei auch JHWHs Schöpferweisheit hervor (programmatisch in Prov 3,13ff.), so daß man für Prov 1 - 9 durchaus von einer weisheitlichen Schöpfungstheologie sprechen kann. Im Prozeß dieser Theologie wird die Weisheit mehr und mehr personifiziert: „Sie ist sein transzendentes Geschöpf und vermittelt, ermöglicht durch ihr Wissen um die Weltordnung JHWHs ein Ethos an die Menschen, das im Ergebnis der Befolgung seiner Tora ähnelt" (Baumann 313). Hier setzen die Weisheitsschriften der nachalttestamentlichen Zeit vielfach an (vgl. u. III.). In der späten Weisheit wird insgesamt das Anliegen deutlich, Bildung, Lehre und Mahnung stärker an die normativen Theologoumena alttestamentlicher Theologie anzubinden. Besonders augenfällig wird dieses Bemühen im Sirachbuch. Hier werden die konkreten Ermahnungen gerahmt durch die Beispiele weisen Verhaltens, die die Schrift bereitstellt (Prolog; Lob der Väter Sir 44ff.) und immer wieder durch Anbindung an die Weisheit der Tora akzentuiert. JHWHs Wort in der Tora und sein Handeln in der Geschichte werden so zur Norm allen rechten Lebens. Weisheit und -»Gesetz gehen derart eine enge Bindung ein, in der sie sich gegenseitig interpretieren (vgl. dazu Blenkinsopp 130ff.). Eine vergleichbare Theologie zeigen die Psalmen 1 und 119, die dem Psalter eine weisheitliche Lesehilfe geben. So wird Weisheit in ihrer späten Form vor allem zur Frömmigkeit: Leben in Weisheit ist Gotteslob (vgl. Ps 119,1-8; Prov 1,1,-7; Sir 51,13ff.) und bewährt sich in jeder Lebenssituation. In diese Richtung weisheitlichen Denkens sind auch die paradigmatischen weisheitlichen Erzählungen (s.o. 2.2.), vor allem aber ihre redaktionellen Bearbeitungen (vgl. besonders Hi 28; 32—37) einzuordnen. Mit diesen Ansätzen hat die späte Weisheit einen Weg gefunden, auch in der Brüchigkeit des Lebens und den theologischen Anfechtungen nach der Katastrophe des Exils weiterhin Orientierung und heilvolles Leben zu ermöglichen. Eine andere Richtung spätweisheitlichen alttestamentlichen Denkens reflektiert die Problematik sowohl der Schöpfungstheologie als auch der Hingabe an JHWH kritisch. In dieser sog. „kritischen Weisheit" im Hiobbuch und bei Kohelet wird nicht die Welt auf formulierbare Ordnungen hin geprüft, sondern die formulierten Ordnungen werden auf ihren Sinn hin befragt (vgl. TRE 19,349,53-350,4). Die weisheitliche Hiob-Dichtung führt vor allem die Vorstellung einer Entsprechung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit ad absurdum, verzichtet auf die Zuordnung Gottes zu irgendeiner alttestamentlichen Heilstradition und läßt allein in der Hoffnung auf die personale Begegnung mit Gott einen Ansatz zur Lösung theologischer und anthropologischer Probleme erkennen (Hi 42,1-6; vgl. dazu Köhlmoos). Einen noch extremeren Weg geht Kohelet, für den Gott als Schöpfer in gleicher Weise absolut anwesend wie gleichzeitig aber auch absolut abwesend ist, weil nichts begreifbar ist. Hinsichtlich menschlicher und auch theologischer Möglichkeiten der Lebensführung muß Kohelet daher skeptisch werden (Koh 3,11). Es ist umstritten, wie die verstärkte theologische Reflexion in der nachexilischen Weisheit zu bewerten ist. Zwei Lösungsmöglichkeiten werden dabei erwogen. Die „Theologisierung" kann der Weisheit inhärent sein und tritt nur durch die gesamte Krise der Theologie Israels im und nach dem Exil stärker zutage (von Rad; Hermisson, Studien; Kaiser, Mensch). Andererseits wird erwogen, ob nicht die verstärkten theologischen Reflexionen eine Reaktion auf die „Krise der Weisheit" seien, die an ihre Grenzen stößt und externe theologische Deutungsmuster in ihr System

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einbezieht (Preuß, Einführung; H . H . Schmid, Wesen). Ein Antwort hängt von der Einschätzung des theologischen Gehaltes der vorexilischen Weisheit ab. Die sog. „kritische Weisheit" ist dabei jedoch nicht überzubewerten. Daß Hiob und Kohelet die Grenzen weisheitlichen Denkens zum Mittelpunkt ihrer Reflexion machen, muß nicht unbedingt ein Ende der Weisheit anzeigen, sondern läßt sich auch als kritischer Sonderweg innerhalb der Weisheit verankern (von Rad). Die beiden Texte haben innerhalb des Alten Testaments einen Ausnahmecharakter. Sowohl Hiob als auch Kohelet sind durch Redaktionen (vgl. vor allem Hi 2 4 - 2 8 ; Koh 12) als auch durch intertextuelle Auseinandersetzungen (vgl. Sir 1 5 , 1 1 - 1 8 , 1 4 mit Koh) in den Klärungsprozeß deralttestamentlichen Weisheit einbezogen worden.

Nähert sich die nachexilische Weisheitsliteratur sowohl in nachexilischen Schriften als auch in der redaktionellen Bearbeitung vorexilischer Texte den dominanten Themen der nachexilischen Theologie des Alten Testaments - Tora, Monotheismus, Geschichte — an, so läßt sich doch andererseits auch ein Impuls beobachten, den die späte Weisheit von sich aus ins Alte Testament einbringt, nämlich die Beschäftigung mit dem -»Tod. Schon in der frühen Weisheit wird der Tod als Mahnung zur weisen Lebensgestaltung eingesetzt, vgl. Prov 14,12; 10,2; 15,24. Dabei liegt das Hauptinteresse auf der Erhaltung und Ermöglichung gelingenden Lebens. Die Existenz des Frevlers ist bereits dem Tod verfallen (vgl. dazu Krieg; Hausmann, Studien); den Hochmütigen und Toren wird vor Augen gestellt, daß nichts vor dem Tod bewahren kann. Indes wird dieser gleichmachende Tod mehr und mehr zum Problem weisheitlichen Denkens. Der mahnende Impuls, das Leben angesichts des Todes in Weisheit und Gerechtigkeit zu führen, tritt hinter dem Wissen zurück, daß der Tod trotz allen weisen Verhaltens unausweichlich ist und zur Unterscheidung zwischen Frevlern und Frommen nicht taugt. In Hiob und Kohelet nehmen Todesreflexionen breiten Raum ein und verschärfen das Problem noch, indem sie bewußt machen, daß JHWH die Grenze zwischen Leben und Tod nicht überschreiten kann (vgl. Koh 3,14ff.; Hi 3,13ff.). In der Reflexion dieses Problems vor Gott gelangen vor allem die Weisheitspsalmen zu der Hoffnung, daß weises Leben von JHWH auch über den Tod hinaus anerkannt wird, vgl. bes. Ps 49,14—16; 37,28f.; 73,23f.; Hi 19,25-27. In der —• Apokalyptik wird diese Differenzierung zwischen Frommen und Frevlern weitergeführt (Dan 12) und auf diesem Wege später zum Bestandteil christlicher Auferstehungshoffnung (-»Auferstehung). Die Todesthematik erweist sich somit als wichtige und fruchtbare Konstante alttestamentlicher Weisheit. 4. Zur Forschungsgeschichte

alttestamentlicher

Weisheit

Die Erforschung alttestamentlicher Weisheit, ihrer Theologie und Literatur ist gut dokumentiert (vgl. Smend; Westermann, Forschungsbericht; Hausmann, Weisheit), so daß an dieser Stelle lediglich auf Schwerpunkte und offene Fragen hinzuweisen ist. Das Fehlen zentraler theologischer Themen des Alten Testaments und die gleichzeitige anthropologische Zuspitzung der alttestamentlichen Weisheit hat häufig zu theologischen Vorbehalten und zu exegetischer Vernachlässigung der Weisheit geführt (am stärksten bei Preuß, Einführung). Demgegenüber betonen die Untersuchungen zur weisheitlichen Schöpfungstheologie (von Rad; H . H . Schmid, Wesen), zur Gerechtigkeit (Koch, Prinzip; H . H . Schmid, Gerechtigkeit) und zur Verbindung zwischen Recht und Weisheit (Blenkinsopp; Delkurt, Einsichten) die Relevanz der Weisheit für die Literatur und Theologie des Alten Testaments. Die Möglichkeit des Brückenschlags von der Weisheit ins Alte Testament und umgekehrt ist jedoch von Fall zu Fall zu überprüfen (vgl. Hausmann, Weisheit). Offen ist nach wie vor die Frage nach der ursprünglichen Heimat der Weisheit, die häufig auf die Antithese „Volksweisheit oder Bildungsweisheit" zugespitzt wird (vgl. v.a. Hermisson, Studien). Auch hier ist letzte Klarheit nur durch die jeweilige Analyse des Einzeltextes zu gewinnen, wobei allerdings der literarische Charakter der Weisheit in Rechnung zu stellen ist (s.o. 2.1.). Z u r Eigenart der Weisheit im alttestamentlichen Kontext gehört ihre Internationalität: Prov 22,17-24,11 beruhen auf der ägyptischen Vorlage der Lehre des Amenemope. Diese Entdeckung (1923) hat die Erforschung der alttestamentlichen Weisheit von Seiten der Ägyptologie und Assyriologie her befruchtet und weitere strukturelle und inhaltliche Parallelen zutage gefördert. Damit wird deutlicher als in anderen Literaturbereichen des Alten Testaments die Verankerung des Denkens und Glaubens Israels in seiner Umwelt herausgestellt. Es ist zu prüfen, ob damit eine

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Weisheit/Weisheitsliteratur II

Universalisierung der alttestamentlichen Weisheit gegenüber der Umwelt verbunden ist. Ähnlich wie bei der Erhellung des altorientalischen Hintergrundes können Impulse vom Strukturvergleich alttestamentlicher Weisheitssprüche mit afrikanischen Sprichwörtern erwartet werden (Westermann, Wurzeln; Golka).

Bei den genannten Forschungsschwerpunkten ordnet sich die Erforschung der alttestamentlichen Weisheit in die allgemeine Forschung am Alten Testament ein (chronologische Darstellung bei Westermann, Forschungsgeschichte). An zwei Stellen hat jedoch die Erforschung der Weisheit der alttestamentlichen Exegese entscheidende Impulse gegeben. An erster Stelle ist hier die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen zu nennen. Die Arbeiten von K. Koch (weitergeführt und präzisiert durch Janowski; Johnson) haben der Einsicht Geltung verschafft, daß in der Weisheit — wie auch im Alten Testament überhaupt - die Korrelation von Tat und Folge nicht im normativen Kausalzusammenhang eines „Vergeltungsdogmas" zu denken ist, sondern daß Tun und Ergehen als Wirkkräfte aufeinander bezogen sind und daß darüber hinaus J H W H situativ in diese Korrelation einbezogen ist. So wird deutlich, daß die Weisheit nicht von einem naturhaften Automatismus von Lohn und Strafe ausgeht, sondern in ihren offenen Formulierungen zur individuellen Entscheidung aufruft. Die „Entdeckung" des Tun-Ergehen-Zusammenhangs hat sich nachhaltig positiv auf die Erforschung anderer Literaturbereiche des Alten Testaments (—>Deuteronomium; —»Propheten/Prophetie) ausgewirkt. Durch die Arbeiten der feministischen Theologie zur Weisheitsgestalt in Prov 1 - 9 sind der alttestamentlichen Exegese wichtige Aspekte zur Integration weiblicher Aspekte in das Gottesbild zugewachsen. Dabei ist die personifizierte Weisheit in Prov 1 - 9 eine durchaus vielschichtige Figur, die sich teils als Mittlerin, teils als Hypostase J H W H s , teils als Geschöpf auch feministisch nicht einlinig erfassen läßt. Überdies ist ihr die „fremde Frau" oder „Frau Torheit" antithetisch entgegengestellt (zur Forschungslage vgl. Baumann). Vorläufig ist jedoch festzuhalten, daß in der personifizierten Weisheit ein weibliches Wesen göttlicher Sphäre dargestellt wird, dessen Rede göttliche Autorität beanspruchen kann. Im Rahmen des nachexilischen Monotheismus nimmt J H W H so auch weibliche Züge an, die gerade in der Weisheit erkennbar werden und von dort aus in anderen Texten des Alten Testaments (wieder) zu entdecken sind. Gleichzeitig erfährt die menschliche Weisheit durch die Synthese von göttlicher und menschlicher Weisheit in der Weisheitsgestalt eine große Aufwertung, die auch Frauen in den Prozeß der Weisheit mit einbezieht. Auf diesem Hintergrund sind auch die weisheitlich paradigmatischen Erzählungen von Ruth und Esther zu lesen. So erweist sich die Anrede der Weisheit am Ende der alttestamentlichen Weisheitsliteratur als offen für alle, die sie hören wollen. Literatur Vgl. auch die Art. -»Gerechtigkeit, -»Hiob/Hiobbuch, ->Koheletbuch u. -»Proverbia (Lit.). Albrecht Alt, Die Weisheit Salomos: ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, II 1953 3 1964, 9 0 - 9 9 . - Robert Alter, T h e Art of Biblical Poetry, Berkeley, Calif. 1985. - Ernst-Günter Bauckmann, Die Proverbien u. die Sprüche des Jesus Sirach. Eine Unters, zum Strukturwandel in der israelit. Weisheitslehre: Z A W 72 (1960) 3 3 - 6 3 . - Christa Bauer-Kayatz, Einf. in die atl. Weisheit, 1969 (BSt 55). - Gerlinde Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1 - 9 . Traditionsgesch. u. theol. Stud., 1996 (FAT 16) (Lit.). - Walter Baumgartner, Die israelit. Weisheitslit.: T h R 5 (1933) 2 5 9 - 2 8 8 . - Ders., Israelit, u. altorient. Weisheit, 1933 (SGV 166). - Joachim Becker, Gottesfurcht im AT, 1965 (AnBib 25). - Adele Berlin, T h e Dynamics of Biblical Parallelism, Bloomington, Ind. 1985. - Joseph Blenkinsopp, Wisdom and the Law in the OT. T h e Ordering of Life in Israel and Early Judaism, Oxford 1983. - Henry Blocher, T h e Fear of the Lord as „Principle" of Wisdom: TynB 28 (1977) 3 - 2 8 . - Gustav Boström, Paronomasi i den äldre hebreiska Maschalliteraturen, 1928 (AUL.T 23/8). - Lennart Boström, T h e God of the Sages. T h e Portrayal of God in the Book of Proverbs, 1990 ( C B . O T 29). - Bernard Botte, La Sagesse dans les Livres Sapienteaux: R S P h T h 19 (1930) 8 3 - 9 4 . - Georg Braulik, „Weisheit" im Buch Deuteronomiun: Bernd Janowski (Hg.),

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Weisheit/Weisheitsliteratur III

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Melanie Köhlmoos

III. Judentum 1. Weisheit in den Apokryphen und Pseudepigraphen aus dem Land Israel 2. Weisheit in den Schriftrollen vom Toten Meer 3. Hellenistisches (griechischsprachiges) Judentum 4. Weisheit in rahbinischer Uberlieferung (Literatur S. 507)

1. Weisheit in den Apokryphen

und Pseudepigraphen

aus dem Land

Israel

1.1. Sieht man vom Buch Ben Sira (-»Sirach/Sirachbuch) ab, gibt es im herkömmlichen Corpus der -»Apokryphen und -»Pseudepigraphen des Alten Testaments nur wenig Weisheitsliteratur, die sich palästinischer Verfasserschaft zuschreiben läßt. Das Buch Baruch (-»Baruch/Baruchschriften), das in 1,15-2,19 wahrscheinlich von Daniel abhängt, enthält in 3 , 9 - 4 , 4 einen Weisheitshymnus. Dieser stammt allerdings nicht notwendig vom selben Autor wie 1,15-2,19, weshalb die Datierung ganz unsicher ist. Stellenweise erinnert der Hymnus an Hi 28 („Wer hat ihre Stätte gefunden?", Bar 3,15), doch anders als bei ->Hiob heißt es hier, wie in Sir 24, daß die Weisheit Israel gegeben wurde. Wie Ben Sira behauptet auch Baruch: „Sie ist das Buch der Gebote Gottes, das Gesetz, das ewig besteht" (Bar 4,1). Das -»Gesetz wird als die einzige, wahre Weisheit begriffen, an der Weisheit anderer Völker besteht kein Interesse. Der Hymnus schließt: „Selig sind wir, Israel, da uns kund ist, was Gott wohlgefällt" (4,4). 1.2. Eine sehr andere Sicht von Weisheit dokumentiert ein in die Bilderreden Henochs aufgenommenes Fragment, das wahrscheinlich auf das frühe 1. Jh. n.Chr. zurückgeht (äthHen 42). Wir erfahren dort, daß „die Weisheit keine Stätte fand, an der sie wohnen konnte, und ihre Wohnung war im Himmel", so daß sie „an ihren Ort zurückkehrte und ihren Sitz inmitten der Engel einnahm". Hinsichtlich des Vorhandenseins der Weisheit in Israel und im Gesetz gibt sich dieser apokalyptische Text weniger optimistisch; er hofft vielmehr auf eine endzeitliche Offenbarung der Weisheit vom Himmel. In der Vision Henochs in äthHen 48,1 gibt es „viele Quellen der Weisheit", und alle, die dürsten, trinken daraus und werden von Weisheit erfüllt. 1.3. Die Unterweisungen in testamentarischen Texten wie der Epistel Henochs (äthHen 91-104) oder den -» Testamenten der XII Patriarchen tragen häufig weisheitlichen Charakter, doch handelt es sich dabei um eine sekundäre Verwendung weisheitlichen Materials, die außerhalb des Rahmens unseres Überblicks liegt. 2. Weisheit in den Schriftrollen

vom Toten

Meer

Ein Corpus von hebräischen Weisheitstexten aus der Zeit zwischen Ben Sira und der Mischna haben die Schriftfunde vom Toten Meer (-»Qumran) an den Tag gebracht. Einige dieser Texte enthalten Weisheit traditionellen Typs; sie sind vermutlich keine Sektenschriften, sondern gehörten zum breiteren Bestand der Qumranbibliothek. Andere weisen eigentümliche Weiterbildungen auf, die an die Sektenschriften erinnern; bei ihnen ist das Verhältnis zur Qumrangemeinde umstritten. Eindeutig als Sektenschriften bestimmbar sind nur wenige qumranische Weisheitstexte. 2.1. Traditionelle Weisheit ist in verschiedenen fragmentarischen Texten vertreten; hierzu gehören 4Q420-421 (4Q Ways of Righteousness), wo die Eigenschaften eines Gerechten beschrieben werden, und 4Q424, wo es um die Charaktermerkmale von Menschen geht, denen vertraut oder nicht vertraut werden kann. In 4Q525 (4Q Beatitudes) wird seliggepriesen, wer an der Weisheit festhält. Zudem scheint dieser Text den Menschen, „der Weisheit erlangt hat", gleichzusetzen mit dem, „der nach dem Gesetz des

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Weisheit/Weisheitsliteratur III

Höchsten wandelt". Damit erinnert er an die Identifikation von Weisheit und Gesetz bei Ben Sira. Dieselbe Gleichsetzung ist in Ps 154 in der Psalmenrolle impliziert ( l l Q P s a 2 18,1-16). Hier hat die Stimme der Weisheit ihren Ort in der „Versammlung der Frommen" (q'hal hasidim): „Wenn sie essen in Fülle, wird sie genannt, und wenn sie in Gemeinschaft miteinander trinken, ist ihr Nachsinnen über das Gesetz des Höchsten". Diese Worte erinnern an die Gemeinderegel ( - » Q u m r a n 1.3.3.3.), die gemeinsame M ä h ler und gemeinsames Torastudium vorschreibt (1QS 6). Allerdings könnte es in dieser Zeit auch andere jüdische Konventikel gegeben haben, die die Weisheit im Studium des Gesetzes suchten. Einer der bekanntesten Weisheitstexte aus Qumran ist 4Q184, den der Erstherausgeber, John Allegro, mit The Wiles of the Wicked Woman überschrieben hatte. Dieser Text ist offenkundig der Schilderung der „fremden F r a u " {'tssäh zäräb) in Prov 7 nachempfunden. Im Proverbienbuch ist diese Frau der Gegentyp von Frau Weisheit und versinnbildlicht die Wege der Torheit. Ihre Wege, heißt es dort, führen in die Unterwelt. Der Qumrantext sagt von der Frau, sie sei „der Anfang aller Wege der Sünde" (1,9). Sie versucht, „den Menschen auf Wege der Grube irrezuleiten und Menschenkinder mit Schmeicheleien zu verführen" (1,17). Mit der Hypothese, die Frau verkörpere eine konkurrierende Sekte oder Lehrergestalt, hat man diesen Text vor einem sehr speziellen qumranischen Hintergrund zu deuten versucht. Reizvoller ist die Vermutung, daß es sich bei der Frau um die Dämonin Lilith handelt. Am wahrscheinlichsten ist aber, daß sie wie ihr Pendant in den Proverbien als ein Sinnbild der Wege der Torheit und des Todes zu verstehen ist. Von Prov 7 unterscheidet sich 4Q184 in zweierlei Hinsicht: An die Stelle der lebendigen Verführungserzählung des biblischen Textes tritt hier eine abstraktere Symbolsprache, und, bedeutsamer, es wird von der törichten Frau eine Assoziation zu Tod und Unterwelt ausgebildet: „inmitten ewigen Feuers. Ihr Erbteil ist nicht unter all denen, die hell erstrahlen" (1,7-8). Die ältere Weisheit, wie sie in den Proverbien und bei Ben Sira begegnet, kannte den Ausblick auf eine Feuerstrafe für die Frevler nicht. Dieses Motiv zeigt den Einfluß der apokalyptischen Literatur vom 2. Jh. v. Chr. an. Weiter heißt es von der Frau in 4Q184, sie habe ihre Wohnungen „in Betten der Finsternis" und ihre Zelte „in den Tiefen der N a c h t " (1,6). Eine Deutung im Sinne des —»Dualismus der Qumransekte bietet der Text mit dieser Bildsprache an, auch wenn er ursprünglich nicht in diesem Kontext geschrieben worden ist. Ein weiterer vergleichsweise traditioneller Weisheitstext liegt in 4Q185 vor. Er redet seine Adressaten variierend mit „ihr Einfältigen", „meine Söhne", „Menschensöhne" und „mein Volk" an und schließt mit einer Seligpreisung des „Menschen, dem sie [vermutlich die Weisheit] gegeben ist" (1Q185 1 + 2 ii8). Einige Züge des Textes weichen jedoch von traditioneller Weisheit ab: Erstens spricht der fragmentarische Einleitungsteil von einem drohenden Gericht durch Engel, ein apokalyptisches Motiv. Zweitens ruft der Sprecher „mein Volk" auf, über Gottes Macht nachzusinnen und der Wunder zu gedenken, die er in Ägypten getan hat. Die herkömmliche Weisheit war d a f ü r bekannt, daß sie die Geschichte Israels überging. Allerdings hatte schon Ben Sira mit dieser Tradition gebrochen, indem er in seinem „Lob der Väter" die Heilsgeschichte als Quelle von Beispielen benutzte. Endlich dringt 4Q185 in seine Leser, sich nicht gegen die Worte des Herrn aufzulehnen. Diese Betonung der Gebote in einem Weisheitstext ist eine Folge der Gleichsetzung von Weisheit und Gesetz bei Ben Sira und in Texten wie 4Q525 und Ps 154. 2.2. Der bei weitem wichtigste qumranische Weisheitstext ist die ausgedehnte, früher als 4Q Sapiential Work A bekannte Schrift, die nun unter dem Titel 4Q Instruction ediert wurde (Müsär lemebtn). Dieses Werk hat sich in Q u m r a n in wenigstens sechs Exemplaren erhalten: 1Q26, 4Q415, 416, 417, 418 und 423 (oder sieben, wenn man 4Q418a gesondert zählt). Obwohl sein Zustand sehr fragmentarisch ist, läßt sich doch

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abchätzen, daß es im Volumen durchaus an die längsten Qumranschriften, etwa die Tenpelrolle, heranreichte. Die Anzahl der Handschriften und der Umstand, daß eine vor ihnen in Höhle 1 deponiert war, zeigen, daß der Text für die Qumrangemeinde wichtig war. Wie die meisten Weisheitsschriften ist auch diese lose strukturiert. Wie Ben Sira und späe ägyptische Weisheitstexte verbindet sie praktische Weisheit mit allgemeineren theologschen Betrachtungen. Anders als Ben Sira kennt sie keine personifizierte Weisheit. Der Anang des Werks ist in 4Q416 Frgm. 1 erhalten, wo zunächst von Gottes Herrschaft übe- den Kosmos und dann vom Gericht über Gerechte und Frevler die Rede ist. Am Enie steht ein Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und auf den „Trieb" (yascer) des Fleisches. Gottes Herrschaft über den Kosmos und die Funktion des „Triebs" sint auch bei Sirach herausragende Themen; die Vorstellung eines endzeitlichen Gerichts ist 1er vorqumranischen hebräischen Weisheitstradition jedoch fremd. Die praktische Weisheit in diesem Text handelt vor allem von finanziellen Dingen unc Familienbeziehungen. Der Adressat wird davor gewarnt, Darlehen aufzunehmen unc seine Habe als Bürgschaft einzusetzen (4Q416 2 ii 4 - 7 ; 4Q417 2 ii 6 - 9 ; vgl. 4Q417 2 i 21—24), ein traditionelles Thema der Weisheitsliteratur. Der Qumrantext zeichnet siel allerdings insofern aus, als er seinen Leser beharrlich daran erinnert, daß er arm ist.Die Armut ist offensichtlich materiell: „Übersättige dich nicht mit Essen, wenn es keiie Kleidung gibt. Trinke keinen Wein, wenn es kein Essen gibt. Verlange nicht nach Leccerbissen, wenn du nicht [einmal] Brot hast" (4Q416 2 ii 18-20). 4Q417 2 i 25 gibt Venaltensratschläge für den Fall, „daß dich ein Schlag treffen sollte" - eine Lebenslage, mitder mit einiger Wahrscheinlichkeit nur ein Armer etwas verbinden konnte. Diese Arnut ist kein Ideal: „Brüste dich nicht in deinem Mangel, wenn du arm bist, damit du licht dein Leben verächtlich machst" (4Q416 2 ii 20-21). Wenn sich die Gelegenheit bieet, zu Wohlstand zu kommen, soll man sie ergreifen (4Q416 2 iii 9 - 1 1 ) . Man soll abe nicht mehr begehren, als was einem im Leben zugeteilt ist: „Begehre nicht über deii Los/Erbteil hinaus, und laß dich von ihm nicht verwirren, damit du nicht deine Grenze verrückst" (4Q416 2 iii 8 - 9 ) . I-Q Instruction tritt für Demut ein, eine Tugend, die der niedere Stand des Adressaten bedngt: „Denn was ist unbedeutender als ein Armer?" (4Q417 2 i 10). Wie Ben Sira beveist der Autor Sensibilität für Fragen von Ehre und Scham: „Erniedrige deine Seele niclt vor einem, der dir nicht ebenbürtig ist ... Schlage niemanden, der nicht deine Kraft hat, daß du ihn nicht zu Fall bringst und deine Schande sehr groß wird" (4Q416 2 ii 15—16). n Fragen der Familienbeziehungen herrscht eine traditionelle patriarchale Auffassung Dem Adressaten wird beschieden: „Ehre deinen Vater in deiner Armut und deine Muter in deinem niedrigen Stand. Denn wie Gott [Konjektur für „Vater"] für den Meischen, so ist sein Vater, und wie der Herr für den Mann, so ist seine Mutter" (4Q16 2 iii 15-16). Das Ehren der Eltern ist in der jüdischen Weisheit ein allgegenwätiges Thema, doch in dem Qumrantext kommt eine ungewöhnliche Motivation hinzu: „Sie haben dein Ohr geöffnet dem Geheimnis des Werdenden" (4Q416 2 iii 18) — denEltern hat der Mensch seine religiöse Erziehung zu danken. Beiläufig zeigt der Passus, datdas Zuhause ein wichtiges Erziehungsfeld war. Im folgenden behandelt der Text dasVerhältnis zwischen Mann und Frau. In Anlehnung an die Genesis wird daran erinnrt, daß der Mann Vater und Mutter verlassen soll, um seiner Frau anzuhangen, die als ,Gehilfin deines Fleisches" bezeichnet wird (4Q416 2 iii 21). Anschließend aber wirl betont, daß der Ehemann Herrschaft über die Ehefrau hat, nicht ihr Vater oder ihrtMutter. Wer immer sonst über sie verfügt, „hat die Grenze seines Lebens verrückt" (4Q416 2 iv 6). Insonderheit ist der Ehemann befugt, die Gelübde seiner Frau zu lösen (vgl Num 30,13), vermutlich wegen der Kosten, die sie ihm verursachen würden (4Q416 2 iv?-9). Gemildert wird die Autorität durch Ehrerbietung: Der Adressat wird ermahnt, „da Gefäß deines Schoßes" (vermutlich die Ehefrau; vgl. den Ausdruck „Frau deines

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Schoßes" Dtn 13,7; 28,56) nicht unehrenhaft zu behandeln (4Q416 2 ii 21). In scharfem Kontrast zu Ben Sira läßt 4 Q Instruction jedoch die Ehescheidung unerwähnt. Scheidung (oder zumindest Wiederverheiratung) wurde auch von der Damaskusschrift ( - » Q u m r a n 1.3.4.) verboten (CD 4 , 2 0 - 2 1 ) , war hingegen sonst im antiken Judentum allgemein akzeptiert. Das Schweigen in 4 Q Instruction hat demnach einige Bedeutung, was die Herkunft dieses Textes angeht. Das wohl eigentümlichste Merkmal von 4 Q Instruction gegenüber der älteren hebräischen Weisheit ist die häufige Rede von einem „Geheimnis des Werdenden" (räz tiihyceh). Ein Mensch soll seine Eltern ehren, weil sie ihm dieses Geheimnis enthüllt haben. Ein Mann, der sich eine Frau nimmt, soll sich vorsehen, daß er sich nicht von ihr abwenden läßt ( 4 Q 4 1 6 2 iii 2 0 - 2 1 ) . Die Wendung begegnet in 4 Q Instruction mehr als 30mal und findet sich auch im Buch der Mysterien (1Q27) und in der Gemeinderegel (1QS 1 1 , 3 - 4 ) . Gewöhnlich nimmt man an, daß sie futurische Bedeutung hat, doch wird dies ihrer Verwendung nicht vollauf gerecht. Häufig spricht 4Q Instruction von dem Geheimnis des Werdenden als einem Gegenstand des Studiums und der Reflexion. Doch nur wenige Stellen verraten den Inhalt des Geheimnisses. 4Q417 2i 1 0 - 1 2 deutet an, daß es um Eschatologie geht: „[Schaue auf das Geheimnis] des Werdenden und erfasse die Geburtsstunde des Heils. Und erkenne, wer Herrlichkeit und Mühsal ererbt ... und den Trauernden unter ihnen ewige Freude". Ein anderer Akzent tritt in 4Q417 1 i 8 - 9 hervor: „Denn der Gott der Erkenntnis ist der Grund der Wahrheit, und durch das Geheimnis des Werdenden hat er ihren Grund gelegt ...". In einer Weise, die an die Zwei-Geister-Lehre (s.u. 2.3.) erinnert, wird hier das Geheimnis mit der Schöpfung assoziiert. So scheint es, daß das Geheimnis den gesamten göttlichen Plan von der Schöpfung bis zum Gericht betrifft. Wer es studiert, erkennt „die Herrlichkeit [seiner] M[acht, zusa]mmen mit seinen wunderbaren Geheimnissen und seinen mächtigen Taten" (4Q417 1 i 13). Anscheinend handelt sich um einen Lehrstoff, der von der Tora verschieden ist, vielleicht analog der Zwei-Geister-Lehre in 1QS. Es scheint freilich nicht, als lasse sich das „Geheimnis" mit einem bestimmten Text identifizieren. Eher ist es der Inhalt, auf den sich verschiedene Texte, einschließlich des rätselhaften Buches Hagu (oder „Buches des Nachsinnens"), beziehen. Der tiefgreifendste Unterschied gegenüber der älteren hebräischen Weisheit liegt in der eschatologischen Perspektive von 4Q Instruction. Sie setzt die Einteilung der Geschichte in Perioden voraus. Im Einleitungsteil in 4Q416 heißt es, alles Übel werde aufhören, und die Zeit der Wahrheit (qes hä"mtzt) werde vollendet (1,13). Die erwähnte Wendung „Geburtsstunde des Heils" deutet an, daß diese Zeit zu einem bestimmten Punkt eintreten wird. Das herausragendere Thema des Werks ist allerdings die Zukunft des Individuums nach dem Tode. In 4Q418 wird den Toren beschieden: „In die immerwährende Grube wird eure Rückkehr führen. Denn sie [sc. die Grube] wird erwachen, [um] eur[e] Sünde [zu verdammen] ... Und alle, die ewig Bestand haben, die die Wahrheit erforschen, werden aufwachen, um eu[ch] zu richten. [Und dann] werden die, die törichten Herzens sind, vernichtet werden" (69 ii 6 - 8 ) . Hingegen werden die „Söhne des Himmels, deren Los ewiges Leben ist" (69 ii 1 2 - 1 3 ) , wandeln in immerwährendem Licht mit Herrlichkeit und Glanz. Mit den „Söhnen des Himmels" könnten Engel gemeint sein, die dann freilich als Vorbilder eines gerechten Menschseins erscheinen. An anderer Stelle heißt es, daß das „geistliche Volk" nach dem „Modell der Heiligen" geformt ist (4Q417 1 i 17). Die Herausgeber von 4Q Instruction, J . Strugnell und D.J. Harrington, sind der Auffassung, daß dieser Text ein fehlendes Bindeglied in der Geschichte der nichtqumranischen jüdischen Weisheit liefere, das zwischen dem Proverbienbuch und Ben Sira anzusetzen sei. Ihr Befund gründet sich auf eine Analyse des Vokabulars: 4Q Instruction erwähnt nirgends einen yahad oder eine Sektengemeinde, polemisiert nicht gegen den Tempel, nimmt nicht Bezug auf die Tora, zeigt kein Interesse an Reinheitsfragen und läßt die differenzierte Eschatologie und den Dualismus vermissen, die für die Sektenschriften charakteristisch sind. Am erstaunlichsten ist das Fehlen expliziter Hinweise auf die Tora, besonders angesichts der Identifikation von Weisheit und Tora bei Ben Sira und in anderen Weisheitstexten aus Qumran. Hinweise auf einen Bund fehlen auffälligerweise. Allerdings enthält der Text Anspielungen auf die Gesetzespraxis - so in der Diskussion über die Ehe in 4Q416 2 iii-iv - , und die Ausklammerung der Scheidung läßt auf eine strenge Schriftauslegung schließen, die dem, was wir in den Sektentexten vorfinden, nahekommt. Ist das Fehlen einer Bezugnahme auf die Tora also auch bemerkenswert, so kann es doch nicht als einziges Indiz für die Datierung herhalten. Während Themen wie die nationale Restauration, ein messianisches Zeitalter oder die Zerstörung der Welt in 4Q Instruction nicht angesprochen werden, herrschen klare Vorstellungen

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Schoßes" Dtn 13,7; 28,56) nicht unehrenhaft zu behandeln (4Q416 2 ii 21). In scharfem Kontrast zu Ben Sira läßt 4 Q Instruction jedoch die Ehescheidung unerwähnt. Scheidung (oder zumindest Wiederverheiratung) wurde auch von der Damaskusschrift ( - » Q u m r a n 1.3.4.) verboten (CD 4 , 2 0 - 2 1 ) , war hingegen sonst im antiken Judentum allgemein akzeptiert. Das Schweigen in 4 Q Instruction hat demnach einige Bedeutung, was die Herkunft dieses Textes angeht. Das wohl eigentümlichste Merkmal von 4 Q Instruction gegenüber der älteren hebräischen Weisheit ist die häufige Rede von einem „Geheimnis des Werdenden" (räz tiihyceh). Ein Mensch soll seine Eltern ehren, weil sie ihm dieses Geheimnis enthüllt haben. Ein Mann, der sich eine Frau nimmt, soll sich vorsehen, daß er sich nicht von ihr abwenden läßt ( 4 Q 4 1 6 2 iii 2 0 - 2 1 ) . Die Wendung begegnet in 4 Q Instruction mehr als 30mal und findet sich auch im Buch der Mysterien (1Q27) und in der Gemeinderegel (1QS 1 1 , 3 - 4 ) . Gewöhnlich nimmt man an, daß sie futurische Bedeutung hat, doch wird dies ihrer Verwendung nicht vollauf gerecht. Häufig spricht 4Q Instruction von dem Geheimnis des Werdenden als einem Gegenstand des Studiums und der Reflexion. Doch nur wenige Stellen verraten den Inhalt des Geheimnisses. 4Q417 2i 1 0 - 1 2 deutet an, daß es um Eschatologie geht: „[Schaue auf das Geheimnis] des Werdenden und erfasse die Geburtsstunde des Heils. Und erkenne, wer Herrlichkeit und Mühsal ererbt ... und den Trauernden unter ihnen ewige Freude". Ein anderer Akzent tritt in 4Q417 1 i 8 - 9 hervor: „Denn der Gott der Erkenntnis ist der Grund der Wahrheit, und durch das Geheimnis des Werdenden hat er ihren Grund gelegt ...". In einer Weise, die an die Zwei-Geister-Lehre (s.u. 2.3.) erinnert, wird hier das Geheimnis mit der Schöpfung assoziiert. So scheint es, daß das Geheimnis den gesamten göttlichen Plan von der Schöpfung bis zum Gericht betrifft. Wer es studiert, erkennt „die Herrlichkeit [seiner] M[acht, zusa]mmen mit seinen wunderbaren Geheimnissen und seinen mächtigen Taten" (4Q417 1 i 13). Anscheinend handelt sich um einen Lehrstoff, der von der Tora verschieden ist, vielleicht analog der Zwei-Geister-Lehre in 1QS. Es scheint freilich nicht, als lasse sich das „Geheimnis" mit einem bestimmten Text identifizieren. Eher ist es der Inhalt, auf den sich verschiedene Texte, einschließlich des rätselhaften Buches Hagu (oder „Buches des Nachsinnens"), beziehen. Der tiefgreifendste Unterschied gegenüber der älteren hebräischen Weisheit liegt in der eschatologischen Perspektive von 4Q Instruction. Sie setzt die Einteilung der Geschichte in Perioden voraus. Im Einleitungsteil in 4Q416 heißt es, alles Übel werde aufhören, und die Zeit der Wahrheit (qes hä"mtzt) werde vollendet (1,13). Die erwähnte Wendung „Geburtsstunde des Heils" deutet an, daß diese Zeit zu einem bestimmten Punkt eintreten wird. Das herausragendere Thema des Werks ist allerdings die Zukunft des Individuums nach dem Tode. In 4Q418 wird den Toren beschieden: „In die immerwährende Grube wird eure Rückkehr führen. Denn sie [sc. die Grube] wird erwachen, [um] eur[e] Sünde [zu verdammen] ... Und alle, die ewig Bestand haben, die die Wahrheit erforschen, werden aufwachen, um eu[ch] zu richten. [Und dann] werden die, die törichten Herzens sind, vernichtet werden" (69 ii 6 - 8 ) . Hingegen werden die „Söhne des Himmels, deren Los ewiges Leben ist" (69 ii 1 2 - 1 3 ) , wandeln in immerwährendem Licht mit Herrlichkeit und Glanz. Mit den „Söhnen des Himmels" könnten Engel gemeint sein, die dann freilich als Vorbilder eines gerechten Menschseins erscheinen. An anderer Stelle heißt es, daß das „geistliche Volk" nach dem „Modell der Heiligen" geformt ist (4Q417 1 i 17). Die Herausgeber von 4Q Instruction, J . Strugnell und D.J. Harrington, sind der Auffassung, daß dieser Text ein fehlendes Bindeglied in der Geschichte der nichtqumranischen jüdischen Weisheit liefere, das zwischen dem Proverbienbuch und Ben Sira anzusetzen sei. Ihr Befund gründet sich auf eine Analyse des Vokabulars: 4Q Instruction erwähnt nirgends einen yahad oder eine Sektengemeinde, polemisiert nicht gegen den Tempel, nimmt nicht Bezug auf die Tora, zeigt kein Interesse an Reinheitsfragen und läßt die differenzierte Eschatologie und den Dualismus vermissen, die für die Sektenschriften charakteristisch sind. Am erstaunlichsten ist das Fehlen expliziter Hinweise auf die Tora, besonders angesichts der Identifikation von Weisheit und Tora bei Ben Sira und in anderen Weisheitstexten aus Qumran. Hinweise auf einen Bund fehlen auffälligerweise. Allerdings enthält der Text Anspielungen auf die Gesetzespraxis - so in der Diskussion über die Ehe in 4Q416 2 iii-iv - , und die Ausklammerung der Scheidung läßt auf eine strenge Schriftauslegung schließen, die dem, was wir in den Sektentexten vorfinden, nahekommt. Ist das Fehlen einer Bezugnahme auf die Tora also auch bemerkenswert, so kann es doch nicht als einziges Indiz für die Datierung herhalten. Während Themen wie die nationale Restauration, ein messianisches Zeitalter oder die Zerstörung der Welt in 4Q Instruction nicht angesprochen werden, herrschen klare Vorstellungen

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über das Gericht und über Lohn und Strafe im Jenseits. Tatsächlich steht die Eschatologie der Epistel Henochs (äthHen 9 1 - 1 0 4 ) und der Zwei-Geister-Lehre (1QS 3 , 1 3 - 4 , 2 6 ) sehr nahe, die beide ewige Belohnungen und Strafen betonen, doch weder von leiblicher Auferstehung noch von der Wiederherstellung Israels reden. Auf einer Entwicklungslinie von den Proverbien zu Ben Sira läßt sich diese Eschatologie nicht ansiedeln; sie deutet vielmehr hin auf eine Abfassung nach dem Sirachbuch in Kreisen, die von apokalyptischem Denken beeinflußt waren. Überdies vertritt 4Q Instruction einen zumindest impliziten Dualismus, auch wenn dieser zugestandenermaßen nicht so voll entfaltet ist wie der der Zwei-Geister-Lehre: 4Q417 1 i 1 5 - 1 8 spricht von einem rätselhaften „Buch des Gedächtnisses", das mit der „Vision Hagus" (oder: „Vision des Nachsinnens") identisch ist. Wir erfahren, daß Gott dieses Buch dem Menschen/Enosch gab, gemeinsam mit dem „geistlichen Volk", weil dessen ycescer dem Modell der Heiligen gemäß ist; dem Geist des Fleisches hingegen gab er es nicht, da dieser nicht zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermochte. Die Interpretation dieser Passage ist sehr umstritten. Das „Modell der Heiligen" (tabnit q'dösim) entspricht höchstwahrscheinlich dem „Bild Gottes" (scelem "lóhim) in Gen 1,27. Enosch steht wahrscheinlich wie in der Zwei-Geister-Lehre (1QS 3,17) für Adam. Der nach dem Bilde der Heiligen geschaffene Mensch wird jedoch mit dem Geist des Fleisches kontrastiert, der Gut und Böse nicht auseinanderhalten kann (Gen 2f.). Es wird also zwischen zweierlei Menschheit, dem „Volk des Geistes" und dem „Volk des Fleisches", unterschieden. Auch wenn der Text den Begriff der Geister des Lichts und der Finsternis noch nicht kennt, so scheint er doch eine dualistische Zweiteilung der Menschheit formulieren zu wollen. Auch damit steht er typologisch zwischen Ben Sira, mit dem er die Vorstellung des „Triebs", des ycescer, teilt, und den eigentlichen Sektenschriften. Schließlich sei bemerkt, daß 4 Q Instruction starke deterministische Anklänge hat. Sie werden besonders beim Thema Erbe vernehmlich. In 4Q418 heißt es, daß Gott „dich absonderte von allem fleischlichen Geist, auf daß du von allem abgesondert seist, was er haßt ... Denn er hat alles gemacht, und er hat sie, einen jeden sein Erbteil, in Besitz nehmen lassen. Er aber ist dein Teil und dein Erbe unter den Menschenkindern" (81 + 8 1 a , 1 - 3 ) . Hier wird auf Num 18,20 angespielt, wo Gott zu Aaron sagt: „Ich bin dein Anteil und dein Besitz unter den Israeliten." Dies würde offensichtlich gut zu einer priesterlichen Herkunft passen, doch sonst deutet in 4Q Instruction nichts auf eine priesterliche Prägung hin. Sodann ruft der Passus die Adressaten auf, die Heiligen zu segnen, und mit einer plausiblen Textergänzung heißt es weiter: „Unter alle [Gö]tt[lichen] hat er dein Los fallen lassen" (4Q418 81 + 8 1 a , 4 - 5 ) . Auch das Thema der Gemeinschaft mit Engeln oder Heiligen hat dieser Text mit den eigentlichen Sektenschriften wie den Hodayot und den Sabbatopferliedern (—»Qumran 1.4.1. und 1.4.2.) gemeinsam. 4 Q Instruction kann daher nicht als „gemeinweisheitliche" Schrift in der Traditionslinie des Proverbienbuchs und Ben Siras gelten. Denn fehlt ihr auch jeder eindeutige Bezug auf eine konkrete Sektengemeinde, so dokumentiert sie d o c h ein frühes Ringen um einige ganz typische T h e m e n der Q u m r a n s e k t e wie den Dualismus und die Gemeinschaft mit Engeln. Vermutlich w a r sie eine Quelle, aus der spätere A u t o r e n schöpften, die der Sekte angehörten. Wahrscheinlich ist sie auf das 2 . J h . v . C h r . zu datieren, in den Z e i t r a u m zwischen der makkabäischen Erhebung und der Blüte der Q u m r a n g e meinde im frühen 1. J h . v . C h r . 2.3. Einige andere Weisheitsschriften aus Q u m r a n tragen deutlichere sektenspezifische M e r k m a l e : Das Buch der Mysterien ( 1 Q 2 7 1 i 1 - 1 2 ; 4 Q 2 9 9 1 , 1 - 4 ; 4 Q 3 0 0 3 , 1 - 6 ) hat mit 4 Q Instruction das M o t i v des „Geheimnisses des W e r d e n d e n " gemeinsam. W i e 4 Q Instruction sieht es einer Z e i t entgegen, in der „die der Sünde Entsprossenen ausgeliefert werden und der Frevel vor der Gerechtigkeit w e g g e n o m m e n wird, wie die Dunkelheit vor dem Licht w e g g e n o m m e n wird ... Der Frevel wird auf immer aufhören, und die Gerechtigkeit wird offenbart werden wie die Sonne über das M a ß des Erdkreises h i n " ( 1 Q 2 7 1 i 5—7). Der T e x t fährt fort mit einer Anklage gegen Z a u b e r e r , die Übertretung lehren; ihnen ist die Vision verschlossen ( 4 Q 3 0 0 1 ii 1 - 2 ) . E c h t e Weisheit erscheint als Ergebnis von Offenbarung: „ M i t viel Einsicht öffnete er unsere O h r e n , auf daß wir [hören k o n n t e n ] " ( 4 Q 2 9 9 8 6). D a ß hier mit einer besonderen Offenbarung gerechnet wird, unterscheidet diesen T e x t von der traditionellen Weisheit und deutet auf einen möglichen Sektenhintergrund hin.

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4Q298, Worte des Maskil, die er an alle Söhne der Morgendämmerung richtete, in kryptischer Schrift geschrieben, ist durch den Titel als eine Sektenschrift ausgewiesen. Der Inhalt ist im allgemeinen nicht außergewöhnlich („Ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, versteht meine Worte"), doch findet sich auch ein apokalyptischer Fingerzeig: „damit ihr das Ende der Zeitalter versteht". Ein weiterer auf einen Sektenkontext zielender Text findet sich in der Damaskusschrift (CD), col. 2. Das Textstück beginnt: „Gott liebt Erkenntnis; Weisheit und Einsicht hat er vor sich hingestellt, und Klugheit und Erkenntnis dienen ihm". Im folgenden handelt die Passage von der Vernichtung der vom Wege Abtrünnigen durch die Engel des Verderbens und von der Erwählung eines Rests. Die Zwei-Geister-Lehre (1QS 3,13-4,26; —>Qumran 1.3.3.2.) hat ebenfalls die Form einer Belehrung: „Der Unterweiser soll unterrichten und belehren alle Söhne des Lichts über den Ursprung aller Menschenkinder gemäß jeglicher Art ihrer Geister, über die Kennzeichen für ihre Werke während ihres Lebens, ihre Heimsuchung zur Züchtigung und die Zeiten ihres Lohnes". Wegen seines dualistischen und apokalyptischen Inhalts wird dieser Text kaum je als weisheitlich betrachtet; formal stellt er allerdings eine Unterweisung dar, und viele seiner Themen begegnen schwächer ausdifferenziert auch in 4Q Instruction. Die Aufnahme apokalyptischer Themen, sowohl hinsichtlich der übernatürlichen Welt als auch hinsichtlich der Eschatologie, ist präzise das, was die qumranische Weisheit von der älteren Weisheitstradition unterscheidet. 3. Hellenistisches

(griechischsprachiges)

Judentum

Das griechischsprechende Judentum der hellenistischen Diaspora entwickelte die Weisheitstradition in unterschiedlicher Weise fort. Auf der einen Seite finden wir gnomisch formulierte praktische Weisheit in den Aussprüchen Pseudo-Phokylides', auf der anderen Seite rhetorisch gewandete Weisheit stärker philosophischer Ausprägung in der Weisheit Salomos. 3.1. Die Aussprüche des Pseudo-Phokylides stellen ein Lehrgedicht von 230 Versen dar, das dem griechischen Gnomiker Phokylides zugeschrieben wird, der um die Mitte des 6. Jh. v. Chr. im ionischen Milet lebte. Im Mittelalter galt das Gedicht gemeinhin als authentisch, bis Joseph Scaliger (1540-1609) 1606 seine Unechtheit nachwies. Damit gehört es zur Gruppe der unter paganen Pseudonymen umlaufenden jüdischen Schriften, wie sie in der ägyptischen Diaspora verbreitet waren (vgl. Sibyllinische Orakel [-»Sibyllinen]; —• Aristeasbrief; Orphische Verse usw.). Entstehungsdatum und Herkunft sind unsicher, aber gewöhnlich nimmt man einen Ursprung in —»-Alexandrien in früher römischer Zeit an. Auf Phokylides hatten sich in ethischen Fragen schon -»Plato und -•Aristoteles berufen, von seinen Gedichten sind jedoch nur Fragmente erhalten. Sie gehören zur Gattung der gnomischen Dichtung (ein weiteres Beispiel hierfür ist das Werk des Theognis, eines Dichters des 6. Jh.). Die yvcbfit] ist eine kurze Sentenz mit einer Verhaltensregel für den Alltag. Gnomische Dichtung besteht aus Einzeilern, die sich zur Übernahme in andere Kontexte anbieten; hierin ähnelt sie der Spruchweisheit, wie sie in den Proverbien und bei Ben Sira begegnet. Wie die meisten Weisheitstexte hat Pseudo-Phokylides eine lose Struktur. Die Verse 3 - 8 , die mitunter als eine Zusammenfassung des Dekalogs betrachtet werden, geben dem Werk eine allgemeine Einleitung. Die erste Hälfte, V. 9 - 1 3 1 , handelt von verschiedenen Tugenden (Gerechtigkeit, Mäßigung, Weisheit), die Ausführung ist jedoch unsystematisch, und einige Passagen haben mit Tugenden nur entfernt zu tun. Die zweite Hälfte, V. 132-227, thematisiert soziale Beziehungen. Ein kurzer Prolog und Epilog nennen den Autor und informieren über den Zweck des Gedichts. Der Einleitungsabschnitt (V. 3 - 8 ) führt die Verbote von Ehebruch, Mord, Diebstahl und Lüge auf und endet: „Vor allen Dingen ehre Gott, sodann deine Eltern" — eine Zusammenfassung der ersten Tafel des Dekalogs, vergleichbar dem, was wir in Lev

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1 9 , 2 - 4 finden. Anders als in Lev 19 bleiben allerdings Götzendienst und Sabbat bei Pseudo-Phokylides unerwähnt. Statt dessen wird ein Verbot der Homosexualität eingefügt, welches nicht im Dekalog erscheint, aber in Lev 18,22 und 20,13 eine biblische Grundlage hat. Den Gedanken der vier Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit hatte Plato im vierten Buch der Politeia formuliert; durch die —>Stoa hatte er weite Verbreitung erfahren. Pseudo-Phokylides behandelt das Thema Gerechtigkeit in V. 9 - 2 1 , einem Abschnitt mit biblischen Anklängen. In V. 11 wird eine interessante Aussage zur Motivation angefügt: „Wenn du übel richtest, wird Gott dich hernach richten". Der Vergeltungsgedanke, in der Weisheitsliteratur allgegenwärtig, bezieht sich bei Pseudo-Phokylides höchstwahrscheinlich auf die Vergeltung nach dem Tode. Die Verse 22—41 runden die Ausführungen über die Gerechtigkeit mit Mahnungen zur Barmherzigkeit und Mildtätigkeit ab. Auch hier gibt es biblische Anklänge, etwa in V. 38: „Beschädige keine wachsende Frucht des Ackers", was an Dtn 20,19 erinnert. Die auffälligsten Parallelen sind jedoch griechisch, so V. 27: „Leiden ist allen gemein; das Leben ist ein Rad; der Wohlstand ist unbeständig" - ein gängiger Topos der griechischen Tragödie. Die Aussprüche über Mäßigung und Besonnenheit (V. 4 2 - 9 6 ) sind ebenfalls größtenteils hellenistische Topoi: Geld ist die Wurzel allen Übels; Mäßigung ist das allerbeste (V. 69; vgl. Theognis 335). Es folgen Abschnitte über den Tod und das Leben danach und über die Unbeständigkeit des Daseins. Pseudo-Phokylides scheint eine leibliche Auferstehung anzunehmen (V. 103), kann aber auch von der Unsterblichkeit des Geistes sprechen. Manche Forscher sehen diese Abschnitte auf die Tugend der Tapferkeit bezogen, womit das Schema der vier Kardinaltugenden vollständig vorläge; besonders betont wird die Tapferkeit hier aber nicht. In V. 1 2 2 - 1 3 1 gibt es hingegen einen Passus über Rede und Weisheit. Der Abschnitt über die sozialen Beziehungen warnt den Leser, er solle „einem Bösen nichts Gutes tun, das ist wie Säen ins M e e r " (152). Im großen und ganzen ist für diesen Abschnitt aber eine humane Grundhaltung kennzeichnend. V. 140 zitiert die biblische Anweisung: „Wenn das Vieh eines Feindes auf dem Wege niedergestürzt ist, so hilf mit, es aufzurichten" (vgl. Dtn 22,4). Die Verse 131-142 warnen davor, jemanden wegen einer Übertretung zu tadeln, da einen Freund zu gewinnen besser sei als einen Feind. Höchst bemerkenswert ist V. 150: „Lege nicht gewalttätig Hand an zarte Unmündige", denn dies läuft der gesamten orientalischen Weisheitstradition zuwider, die regelmäßig die körperliche Züchtigung empfiehlt. Außerdem wendet sich Pseudo-Phokylides gegen unnatürliche Verhaltensweisen wie das Essen von Fleisch, das von wilden Tieren gerissen wurde. Ein ausgedehnter Abschnitt (175-227) handelt von innerfamiliären Beziehungen. Die Ehe wird hochgehalten, weil sie dem Gesetz der N a t u r entspricht: „Gib auch du der N a t u r das Deine, zeuge wieder, wie du gezeugt wurdest" (176). Mit der Ächtung von Intimbeziehungen zu engen Verwandten einschließlich der Nebenfrauen des Vaters folgt Pseudo-Phokylides dem Buch Leviticus, doch waren derartige Verbindungen auch nach römischem Recht verboten. Ferner wird geraten: „Demütige nicht deine Frau mit schändlichem Beilager" (189), was an den Rat in 4Q Instruction erinnert, sein „ G e f ä ß " nicht unehrenhaft zu behandeln (s.o. 2.2.). Außerdem werden Homosexualität, Abtreibung und Kindesmord untersagt, Verbote, die in hellenistischer Umwelt charakteristisch jüdische Positionen markieren. Auch wird eine humane Behandlung von Sklaven befürwortet. In weiten Teilen überschneidet sich Pseudo-Phokylides mit den Zusammenfassungen der Tora bei Josephus, Ap 11,190-219, und Philo, Hypothetica 7 , 1 - 9 . Die Parallelen umfassen die Verbote des Ehebruchs, der Homosexualität, der Abtreibung und der Aussetzung von Kindern sowie ein breites Spektrum weiterer Punkte, darunter auch die Pflicht, Tote zu bestatten. Die Annahme liegt nahe, daß alle drei Texte eine gemeinsame Quelle haben. Pseudo-Phokylides bezieht sich allerdings nirgends offen auf das Gesetz und unterscheidet sich auch insofern von Philo und Josephus, als er das Thema Todes-

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strafe umgeht und die von Frauen geforderte Unterordnung nicht betont. Pseudo-Phokylides hat eindeutig die Tora im Sinn, gibt aber keine Zusammenfassung des ganzen Gesetzes. Kultische und rituelle Vorschriften ignoriert er wie die meisten weisheitlichen Autoren. Überraschender ist, daß er auch keine Verurteilung des Götzendienstes ausspricht, obwohl dies zu den gängigen Topoi des hellenistischen Judentums gehört. Es heißt allerdings: „Der eine Gott ist weise und mächtig" (V. 54). Man kann dies wohl auch lesen: „Einzig Gott ist weise und mächtig", doch die Wendung eiq OeÖQ erinnert an das Höre-Israel (Dtn 6,4) und bekräftigt Gottes Einzigkeit. Wenn es ferner heißt, die Toten „werden Götter" (V. 104), so sollte man dies im Sinne des verbreiteten jüdischen Glaubens verstehen, wonach die verstorbenen Gerechten wie Engel werden. Über den Zweck, zu dem diese Aussprüche verfaßt worden sind, haben die Exegeten viel gerätselt. Man hat angenommen, Pseudo-Phokylides habe „eine Art Kompendium von miswot für den Alltag geschrieben, das Juden in einem gänzlich hellenistischen Umfeld eine Hilfestellung geben sollte" (vgl. van der Horst [1990] 48). Deutlich ist, daß die Aussprüche nicht auf einen Übertritt zum Judentum zielen können, denn der Text enthält keine offenen Hinweise auf das Judentum. Daß sie die Bindung ihrer Leser an das Judentum stärken sollen, ist ebenso unwahrscheinlich, da der jüdische Charakter der Lehren nirgends hervorgehoben wird. Im allgemeinen zielte gnomische Dichtung auf einen erzieherischen Gebrauch, und hierzu wurden diese Aussprüche in späterer Zeit tatsächlich verwendet. So liegt es nahe, daß sie für den Erziehungsgebrauch bereits verfaßt worden sind. Nichts deutet allerdings darauf hin, daß sie des näheren für einen jüdischen Kontext konzipiert sind. Der Name Phokylides mußte in einem intellektuellen Milieu anziehend wirken, ob die Interessenten Juden waren oder nicht. Zum Gegenstand hatten die Aussprüche freilich nicht das Judentum, sondern die Moral. Demnach hätte der Autor eher für seine Auffassung von moralischer Lebensführung und weniger für das Judentum als solches werben wollen. Möglicherweise war er ein „Gottesfürchtiger", ein heidnischer Sympathisant des Judentums; seine Verwendung der Tora mag sich aber leichter erklären lassen, wenn er ein Jude war. 3.2. Den Aussprüchen des Pseudo-Phokylides in gewisser Weise ähnlich sind die auf Syrisch erhaltenen, aber offenbar aus dem Griechischen übersetzten Worte des weisen Menander. Menander war der berühmte Komödiendichter des hellenistischen Zeitalters, doch vom 1. Jh. n.Chr. an sah man in ihm auch einen Gnomiker, und es wurden ihm mancherlei Aussprüche zugeschrieben. Der syrische Text ist eine Sammlung von Sentenzen praktischer Weisheit, ohne Betrachtungen über eine personifizierte Weisheit und ohne philosophische Vertiefung. Er enthält eine Formulierung der -»Goldenen Regel (Ps.-Menander 40). An vielen Punkten berührt er sich mit Ben Sira und den Proverbien (z. B. Ehrerbietung gegenüber den Eltern, Mäßigung im Weingenuß, Hochschätzung des Schweigens); zum Erweis einer literarischen Abhängigkeit reicht dies aber nicht aus. Auch gibt es zahlreiche Parallelen zur syrischen Fassung der Sprüche Achikars. Das Hauptargument für eine jüdische Verfasserschaft ist der offenkundige Monotheismus der Sentenzen, wobei man aber nicht übersehen darf, daß selbst solche ägyptischen Texte, die unzweifelhaft einem polytheistischen Milieu entstammen, oft ohne nähere Spezifizierung von „dem Gott" sprechen. Manches deutet auf eine ägyptische Herkunft hin (so die offensichtliche Verwechslung von vößoq als ägyptischem Verwaltungsdistrikt und vöfiOi; als Gesetz in Ps.-Menander 65). Eine Entstehung in römischer Zeit ist durch die Erwähnung von Gladiatorenschulen erwiesen (V. 6). Man hat das Werk auf das späte 2. Jh. n. Chr. datiert, weil es Beschränkungen der Rechte von Sklavenhaltern gegenüber ihren Sklaven voraussetzt (V. 24). Von daher nimmt man an, daß es ein spätes Produkt hellenistisch-jüdischer Weisheit in der Tradition von Pseudo-Phokylides darstellt, das sich mit Individualethik befaßt, der Geschichte Israels hingegen keine Aufmerksamkeit schenkt. Leider wissen wir über das Judentum in Ägypten nach dem Scheitern des großen Diaspora-Aufstandes zur Zeit Trajans sehr wenig. Die Worte des weisen

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Menander haben verhältnismäßig geringe wissenschaftliche Beachtung gefunden. Ehe sie mit Sicherheit in die jüdische Weisheitstradition eingeordnet werden können, wird noch weitere Forschung nötig sein. 3.3. Eine ganz andere Weiterentwicklung sapientialer Tradition ist in der Weisheit Salomos (-»Salomo/Salomoschriften III.l.) dokumentiert, die wie Ben Sira in die griechische Bibel aufgenommen wurde. Man geht im allgemeinen davon aus, daß sie in Alexandrien verfaßt wurde, teils aufgrund von Ähnlichkeiten mit dem Denken Philos, teils wegen der prominenten Rolle Ägyptens und der Ägypter. Die Polemik gegen Götzendienst und Tierkult paßt ebenfalls sehr gut zu einem ägyptischen Kontext. Zeitlich läßt sich die Abfassung am plausibelsten in der frühen römischen Epoche ansetzen, etwa gleichzeitig mit Philo (Winston). Man gliedert das Werk üblicherweise in drei Hauptstücke: das „Buch der Eschatologie" in 1,1-6,21, das „Buch der Weisheit" in 6,22-10,21 und das „Buch der Geschichte" in Kap. 1 1 - 1 9 . Zwischen diesen Partien gibt es allerdings Überschneidungen. Manche lassen das „Buch der Weisheit" mit 6,1 und das „Buch der Geschichte" mit 10,1 beginnen. Als ganzes ist die Schrift eine einheitliche Komposition. Anders als Ben Sira oder PseudoPhokylides bietet sie in schlüssiger Form Argumentation und Ermahnung. Thema ist die Liebe der Gerechtigkeit und Weisheit. Was auf dem Spiel steht, zeigt das „Buch der Eschatologie" mit einer Präsentation gegnerischer Argumente, die es mit der Beschreibung eines postmortalen Endgerichts zurückweist. Das „Buch der Weisheit" handelt vom Ursprung und Wesen der Weisheit und davon, wie sie erworben wird. Das „Buch der Geschichte" schließlich vertieft das Thema mit Beispielen aus der biblischen Geschichte. Die Gattung der Schrift als ganzer hat man als Xöyoq npoxpznxlKbc, oder didaktische Mahnrede bestimmt. Das „Buch der Eschatologie" argumentiert, daß die, die nach Ungerechtigkeit trachten, „irrtümlich schließen", daß der Tod das Ende des menschlichen Daseins sei. Folglich jagen sie dem Tag nach und plagen sogar den Gerechten, weil sie dessen Anwesenheit stört. Aber die Geheimnisse Gottes begreifen sie nicht. Die Gerechten sterben nur scheinbar, sind aber in Wirklichkeit unsterblich, und im Endgericht wird ihnen zu ihrem Recht verholfen. Die Betonung der Unsterblichkeit und der postmortalen Rechtfertigung steht in stärkstmöglichem Gegensatz zu Ben Sira, der entschieden davon überzeugt war, daß im Hades keine Untersuchung über den Lebenswandel stattfinde. Die Weisheit Salomos hingegen steht unter dem Einfluß zweier Traditionen, die Ben Sira anscheinend unbekannt waren: zum einen die Eschatologie der jüdischen Apokalyptik, wie sie im Daniel- und im Henochbuch entfaltet ist, und zum anderen die platonische Philosophie. Die volle platonische Seelenlehre hat die Weisheit Salomos zwar nicht übernommen, erhofft wird aber Unsterblichkeit, keine leibliche Auferstehung. Platonischer Einfluß wird in Weish 9,15 sichtbar, wo es heißt: „Ein vergänglicher Leib beschwert die Seele." Die Schilderung der Weisheit im „Buch der Weisheit" ist dem stoischen Begriff des Xöyoc, oder nveößa (Geist) verpflichtet. Das nveöfia galt als eine sublime, feuerartige Substanz, die das Universum durchdringt und es belebt. Stoische Anklänge lassen sich besonders in Weish 6,22-8,1 vernehmen. Es heißt hier von der Weisheit, sie habe einen vernunfthaften Geist und „erstreckt sich von einem Ende zum anderen voller Kraft und verwaltet das All trefflich" (8,1). Der stoische Logos/nveofia ist eine immanente Gottheit, die entweder mit der Welt selbst oder mit der in ihr wirkenden Kraft identisch ist. Die Weisheit Salomos hingegen hält im Einklang mit der jüdischen Tradition an einem transzendenten Schöpfergott fest. In dieser Hinsicht steht sie dem Piatonismus näher als dem Stoizismus; ihr philosophischer Hintergrund läßt sich damit näherhin als Mittelplatonismus bestimmen, eine Stufe der platonischen Tradition, die Elemente des Stoizismus aufgenommen hatte. Das Verhältnis zwischen Weisheit und Schöpfergott wird explizit in Weish 7,25f. angesprochen: „Sie ist ein Atemhauch der Macht Gottes, ein lauterer Ausfluß der Herrlichkeit des Allmächtigen ... Sie ist ein Abglanz ewigen Lichts,

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ein ungetrübter Spiegel der Wirkkraft Gottes." Die Weisheit ist eine eigenständige Größe, die von Gott stammt und Gottes Herrlichkeit spiegelt, dann aber zum Medium von Gottes Gegenwart in der Schöpfung wird. Im Grunde ist die Weisheit gleich dem stoischen Logos die Vernunft oder der Geist des Universums, nur daß sie einem transzendenten Gott untersteht, der ihr Ursprung ist. Da die Weisheit zwischen Gott und dem Universum eine Brücke bildet, ist eine Art von natürlicher Theologie möglich: „Aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe wird entsprechend (ävalöycoc,) ihr Urheber erschaut" (13,5). Der Autor ist sich unschlüssig, ob Heiden dafür zu tadeln sind, daß sie nicht zur Erkenntnis des wahren Gottes vorgedrungen sind, hält ihnen aber immerhin zugute, daß sie danach streben. Keine Zurückhaltung übt er dagegen in seinem Urteil über den heidnischen Götzendienst. Im „Buch der Geschichte" findet sich in 13,10—14,31 und 15,7—19 eine ausgedehnte Polemik zu diesem Thema. Ähnlich wie Jes 4 4 , 9 - 2 0 spottet der Autor über die, die sich hölzerne Idole machen. Eine eher philosophische Kritik bietet er in 14,12-31. Zur Veranschaulichung führt er zwei Beispiele an: den Vater, der ein Bild von einem toten Kind verfertigt, und den Herrscher, der befiehlt, daß man in seiner Abwesenheit seiner Statue zu huldigen habe. Die Verwendung dieser Beispiele ist vermutlich von den Theorien des Euhemeros von Messene (um 300 v. Chr.) inspiriert, der behauptet hatte, daß Kronos und Zeus große Könige der Vorzeit gewesen seien, die nach ihrem Tod als Götter verehrt wurden. Auch wenn die Idolatrie aus der paganen Religion der Antike nicht wegzudenken war, konnte der jüdische Verfasser bei manch einem griechischen Philosophen auf wohlwollendes Gehör hoffen. Die ägyptische Tierverehrung wurde zwar generell verabscheut, doch aufgeklärte Heiden, vornehmlich Stoiker und Kyniker, wußten Argumente gegen jedwede Art von Idolatrie zu schätzen. Das „Buch der Geschichte" verwendet die Geschichte, ohne viel Gespür für erzählerische Zusammenhänge, als Quelle von Beispielen. Die Helden der biblischen Geschichte sind Typen des „Gerechten". Israel ist „ein heiliges Volk und eine untadelige Nachkommenschaft" (10,15). Man könnte von daher den Eindruck gewinnen, daß das Buch in ganz allgemeiner Weise vom Konflikt des Gerechten mit dem Frevler handelt. Doch wäre dieser Eindruck irreführend, denn die Gerechten sind hier sehr speziell das Israel des Auszugs aus Ägypten. Ihre Feinde sind „eine von Anbeginn an verfluchte Nachkommenschaft" (12,11). Ohne Zweifel spiegeln sich in der Exodus-Nacherzählung die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden im Alexandrien der frühen römischen Zeit. Die Ägypter, so hören wir, hatten ihr Schicksal verdient, „weil sie einen besonders argen Fremdenhaß pflegten" (19,13). Sosehr diese Erläuterung auch zur Auszugsgeschichte paßt, die von der Versklavung der Israeliten erzählt, so spiegelt sie doch zugleich die Opposition, der sich die jüdische Gemeinde im 1. Jh. n.Chr. ausgesetzt sah. Das wunderbare Eingreifen Gottes in der Auszugserzählung erklärt die Weisheit Salomos im Einklang mit stoischen Theorien: Elemente des Kosmos wurden ausgetauscht, doch seine Integrität wurde nicht verletzt. Geschichte wird als Veranschaulichung allgemeiner Prinzipien, nicht willkürlicher, unvorhersagbarer Handlungen begriffen. Gleichwohl wird das Bemühen des Autors um die Formulierung einer natürlichen Theologie von den höchst partikularen ethnischen Spannungen zwischen Israeliten und Ägyptern durchkreuzt. Israel bleibt das erwählte Volk, ein Anspruch, der sich nicht mit hellenistischer Philosophie zum Ausgleich bringen läßt. Anders als Ben Sira oder Pseudo-Phokylides gibt die Weisheit Salomos keine Belehrungen über soziale Beziehungen. Dennoch hat ihre Sicht der Weisheit - und namentlich ihr Unsterblichkeitsglaube - ethische Konsequenzen. Der Gedanke, daß „ein vergänglicher Leib die Seele beschwert", impliziert eine Reihe bestimmter Wertsetzungen: Unfruchtbarkeit ist keine Schande, solange die Frau „keinen in Übertretung geschehenen Beischlaf" kennt (3,13). Es ist besser, kinderlos und tugendhaft zu bleiben, als in Sünde Kinder zu zeugen (4,1). Und, ganz grundlegend, die Gerechten sind bereit, eher zu sterben, als ihr Ethos aufs Spiel zu setzen, weil „ihre Hoffnung der Unsterblichkeit voll"

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ist (3,4) und es nur scheint, als stürben sie. Derartige Gedanken stellen eine radikale Abkehr von der diesseitsbezogenen Weisheit der Proverbien und Ben Siras dar. Wie in den qumranischen Weisheitstexten wandelt sich das Gefüge weisheitlicher Wertbegriffe durch den Glauben an ein Gericht nach dem Tode. 4. Weisheit in rabbinischer

Überlieferung

4.1. Wie zu erwarten, stehen die weisheitlichen Stoffe der rabbinischen Literatur der Tradition Ben Siras näher als der der griechischsprachigen Diaspora. Der Mischnatraktat —•Avot enthält Aussprüche, die verschiedenen Rabbinen („den Vätern") zugeschrieben werden. Er ist in fünf Kapitel unterteilt; ein sechstes kam im Mittelalter hinzu. Kap. 1 befaßt sich mit der Sukzession der Übermittler der Tradition, die Mose am Sinai empfangen hatte, bis hin zur Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Jedem der Gelehrten, beginnend mit Simon dem Gerechten, werden eine oder mehrere ethische Maximen zugeschrieben. Diese Aussprüche sind mitunter sehr allgemeinen Charakters. Nach Simon dem Gerechten etwa gründet die Welt auf drei Dingen: der Tora, dem Tempeldienst und den Liebeswerken (1,2). Andere erteilen eher praktische, traditionell weisheitliche Ratschläge. So warnt Jose ben Jochanan davor, viel mit einer Frau zu reden (1,5) ein Rat, der sich schon in alten ägyptischen Belehrungen findet. Die Maximen in den folgenden Kapiteln werden ohne eine chronologische Ordnung ganz verschiedenen Lehrern zugeschrieben. Die Zuschreibung von Aussprüchen an einzelne Rabbinen bedeutet eine bemerkenswerte Abkehr vom Proverbienbuch, steht aber im Einklang mit dem Anspruch auf Verfasserschaft bei Ben Sira. Insgesamt ist der Traktat durch eine hohe Wertschätzung der Tora geprägt. Aus der Schrift gewonnen sind die Aussprüche der Väter darum aber nicht notwendig. Eher sind sie mündliche Tora, die die schriftliche Offenbarung ergänzt und abrundet; mit Rabbi —• Akiba ben Josef gesprochen: die Tradition ist ein Zaun für die Tora (3,17). Anders als Ben Sira behauptet der Traktat Avot ein künftiges Gericht; andererseits spiegelt sich aber in den meisten Aussprüchen jene Verschmelzung von Weisheit und Tora, die Ben Sira in hellenistischer Zeit vorangetrieben hatte. Weitere Vertiefung findet die im Traktat Avot dokumentierte Tradition der ethischen Maxime in Avot de-Rabbi Natan. 4.2. Endlich verdient auch die Weisheitsschrift aus der Kairoer Geniza Erwähnung, die vor einigen Jahren von K. Berger wiederveröffentlicht wurde. Mit ihren häufigen Ermahnungen, die Weisheit zu lieben und die Torheit zu meiden, erinnert sie an Ben Sira. Sie ist jedoch von einem zweifachen Gegensatz geprägt, dem zwischen Leib und Geist und dem zwischen dieser und der kommenden Welt. Hinsichtlich des irdischen Daseins teilt der Verfasser weithin die Skepsis —>Kohelets, löst aber die Schwierigkeiten mit einem festen Glauben an die zukünftige Welt. Berger hatte sich für eine antike Herkunft des Textes ausgesprochen, seine Argumente wurden aber von H.-P. Rüger definitiv widerlegt; höchstwahrscheinlich stammt die Schrift aus dem Mittelalter. Allerdings gibt sie damit ein interessantes Beispiel sowohl für die Fortdauer einiger weisheitlicher Themen im späteren Judentum als auch für ihre Umformung unter dem Einfluß wechselnder philosophischer Moden. Literatur Zu 1.: John J. Collins, Wisdom, Apocalypticism and Generic Compatibility: ders., Seers, Sibyls and Sages in Hell.-Roman Judaism, Leiden 1997 (Suppl. to the JSJ 54) 385 - 4 0 4 . - M a x Küchler, Frühjüd. Weisheitstraditionen, 1979 (OBO 26) 6 2 - 87.415 - 5 4 6 . - Carey A. Moore, Daniel, Esther and Jeremiah. The Additions, 1977 (AncB 44) 255 - 316 (zu Baruch). Zu 2.: John J. Collins, Jewish Wisdom in the Hell. Age, Louisville, Ky. 1997, 1 1 2 - 1 3 1 . Torleif Elgvin, An Analysis of 4Q Instruction, Diss. Jerusalem 1997. - Ders. u.a., Qumran Cave 4. XV. Sapiential Texts, Pt. 1, 1997 (DJD 20). - Ders./Gregory Sterling with Ruth Clements, Sapiential Perspectives. Wisdom Literature in Light of the Dead Sea Scrolls, Leiden 2003. - M . J . Goff, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstruction, Leiden 2003. - Daniel J. Harrington, Wisdom Texts from Qumran, London 1996. - Charlotte Hempel/Armin Lange/Hermann Lieh-

508

Weisheit/Weisheitsliteratur IV

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John J. Collins

IV. Neues Testament 1. Weisheit im Neuen Testament (Uberblick) 2. Weisheit in der Jesusüberlieferung heitschristologie 4. Weisheit in der urchristlichen Paränese (Literatur S. 514)

1. Weisheit im Neuen Testament 1.1. Neutestamentliche

3. Weis-

(Überblick)

Weisheitsliteratur?

1.1.1. Jakobusbrief. Wegen seiner engen Berührung mit der frühjüdischen Weisheitsliteratur wird der Jakobusbrief verschiedentlich als „neutestamentliche Weisheitsschrift" (Frankemölle) eingestuft. Da die Weisheitstradition hier jedoch nicht allein prägend ist, kann sie nicht als Gesamtcharakteristik gelten. Eher zutreffend ist - trotz nötiger Modifikationen - das seit M . Dibelius geltende Verständnis als paränetische Schrift (s.u. 4.4.). 1.1.2. Logienquelle Q. Seit J . Robinson diese Quellenschrift für Matthäus und Lukas als Xóyol aocöv klassifiziert hat, wird die Frage kontrovers diskutiert, ob der weisheitliche Anteil in Q als der grundlegende (Kloppenborg) und gegenüber dem eschatologisch-apokalyptischen überwiegende zu sehen ist. Die Frage betrifft dann auch das Gewicht der Weisheitstradition in der Verkündigung Jesu. Befunde und Argumente reichen aber nicht, um Q in die Kategorie einer genuinen Weisheitsschrift einzuordnen (s.u. 2.3.1.).

1.2. Hauptlinien der

Weisheitstradition

Die unterschiedlichen Stränge alttestamentlich-frühjüdischer Weisheitstradition wirken im Urchristentum und demnach im Neuen Testament fort (vgl. Küchler). Die Form

Weisheit/Weisheitsliteratur IV

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der Spruchweisheit und weitere weisheitliche Gattungen prägen wesentliche Teile der Jesusüberlieferung (s.u. 2.). Einbezogen sind hier Elemente apokalyptisch umgeprägter Weisheitstradition. Auf der Linie von Spruchtradition liegen weisheitliche Bestandteile der neutestamentlichen -»-Paränese (s.u. 4.), die aber außer der alttestamentlich-jüdischen Tradition auch hellenistische Einflüsse zeigt. Eine andere Linie der Weisheitstradition schlägt sich in der Weisheitschristologie nieder (s. u. 3.), wo alttestamentlich-frühjüdische Vorstellungen von der Weisheitsgestalt als Personifikation und göttliche Hypostase einwirken. Durch diesen differenzierten Befund ist eine Auffassung abzuweisen, wonach im Urchristentum eine umfassende Weisheitstheologie und ein grundlegendes weisheitliches Weltordnungsdenken prägend gewesen seien (Luck u.a.). So wenig das Frühjudentum eine geistige Einheit war, so wenig kann eine einheitliche weisheitliche Tradition als Basis für das frühe Christentum vorausgesetzt werden. 1.3. Sonstige weisheitliche

Befunde

Weitere Bezüge zur Weisheitstradition, aber ohne maßgeblichen Umfang, sind festzustellen: zunächst ausdrückliche Zitate, dazu Anspielungen aus der alttestamentlichfrühjüdischen Weisheitsliteratur (z. B. Rom 2,6; 3,10; I Kor 3,19; II Kor 9,7; Hebr 12,5f.; Jak 4,6 = I Petr 5,5); sodann weisheitliche Sentenzen und Sprichwörter, wie sie auch außerhalb der Jesustradition in den meisten neutestamentlichen Schriften vorkommen (z. B. Act 20,35; II Petr 2,22; Gal 5,9; I Tim 6,10a; II Tim 2,5). Weisheitliche Terminologie aus dem Wortfeld „Weisheit" (Weisheit, weise) samt Äquivalenten (Einsicht, Erkennen, Wissen u.ä.) und Oppositionen (Torheit, töricht, unverständig u.ä.) kann Bestandteil des normalen Sprachgebrauchs sein, ohne auf spezifische weisheitliche Tradition hinzuweisen. Manche in der exegetischen Literatur vorgenommenen Klassifikationen sprechen von „Weisheit", „weisheitlich", „Weisheitsstil" und „Weisheitslehre" ohne klare Kriterien zur Erfassung des Gemeinten. Das gilt auch für die Rede von der „dualistischen Weisheit" (Brandenburger) oder „alexandrinischen Weisheit" (Sandelin), wobei die Zuordnung zur alttestamentlich-jüdischen Weisheitstradition doch unklar bleibt. 2. Weisheit in der 2.1. Weisheitliche

Jesusüberlieferung Befunde in der Verkündigung

Jesu

2.1.1. Methodische Fragen. Der Befund von Weisheit in der Jesusüberlieferung ist nicht nur als literarisches Phänomen in den Evangelien relevant. Es geht letztlich um die Frage, welche Rolle der Weisheit in der Verkündigung des historischen Jesus zugemessen wird. In Frage steht vorrangig die Zuordnung von Weisheit zur -»-Eschatologie bzw. —»Apokalyptik und damit ihre Zuordnung zur Botschaft von der Gottesherrschaft (-•Herrschaft Gottes/Reich Gottes). War Jesus reiner Apokalyptiker, wobei die weisheitlichen Überlieferungen sekundär sind (Schmithals 402)? War Jesus Prophet, der sich weisheitlicher Redemittel bediente (vgl. Sato), oder ein subversiver Weisheitslehrer mit kynischer Prägung (Crossan u.a.)? Weisheitliche Elemente kommen innerhalb der verschiedenen Traditionslinien der Jesusüberlieferung vor (Kriterium der „vielfachen Bezeugung"); sie sind also ein unstrittiges Element der Verkündigung Jesu. Offen ist die Frage der relevanten Quellen (gehört z.B. auch das Thomasevangelium dazu?, vgl. Crossan u.a.). 2.1.2. Weisheitliche Formen und Inhalte. Die Klassifizierung von Texten als „weisheitlich" geschieht sinnvollerweise auf der Grundlage der Formen und Inhalte, wie sie die alttestamentlich-jüdische Weisheitstradition ausgeprägt hat (vgl. von Rad): Das Anliegen der Weisheit, aus Erfahrung Erkenntnis zu gewinnen und weiterzugeben, hat seinen Niederschlag in verschiedenen typischen Gattungen gefunden (vgl. von Rad 39—73; von Lips, Traditionen 18-21).

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Weisheit/Weisheitsliteratur IV

Das weisheitliche Vorgehen, auf alltägliche Sachverhalte und Erfahrungen Bezug zu nehmen, wird vielfach in Jesusworten sichtbar. Beobachtungen aus verschiedenen Lebensbereichen werden formuliert: das menschliche Individuum (Mt 25,1 ff.: klug und töricht), das zwischenmenschliche Verhalten (Lk 11,11 f. par.: väterliche Fürsorge), soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten (Lk 16,13 par.: Herr und Diener), die Bedingtheit menschlichen Lebens (Lk 12,25 par.), die den Menschen umgebende Natur/Schöpfung (Lk 12,6.24.27f.: Pflanzen und Tiere). Bei den in der Jesusüberlieferung festzustellenden weisheitlichen Gattungen ist grundlegend der Spruch in Form der Aussage und der Mahnung. Die indikativisch formulierte Sentenz beschreibt eine Gegebenheit (Lk 6,40: ein Jünger ist nicht über dem Meister) oder eine Geschehensstruktur (Lk 12,2: was verborgen ist, wird doch offenbar). Im Kontext kann sie die Funktion des Kommentars (als „Bildwort": M k 2,17) oder des Vergleichs („wie") erhalten. In ausgeführter, narrativer Form bezeichnen wir sie dann als „Gleichnis". Die Gattung der Mahnung reicht vom einfachen Spruch über die weisheitlich begründete Mahnung (Zeller) hin zu eschatologisch-apokalyptisch geprägten Mahnungen. Weisheitliche Mahnungen betreffen traditionell das Verhältnis zu den Mitmenschen (Lk 6,27ff. par.), zum eigenen Leben, zu den Lebensbedürfnissen (Lk 12,22f. par.) und zum Besitz (Lk 12,33f. par.) sowie zu Gott (als Schöpfer, als Adressat des Gebets, als Richter). Weitere mögliche weisheitliche Gattungen - jedoch prophetischapokalyptisch angewendet - sind Makarismen (Lk 6 , 2 0 - 2 2 par.) und Weherufe (Lk 6,24-26). 2.2. Weisheit und Eschatologie

in der Verkündigung

Jesu

Vor allem für die Ethik (weisheitliche Mahnsprüche) besteht die Spannung eines mit der Dauer der Welt rechnenden Denkens im Verhältnis zur -»Eschatologie, die mit einer Wandlung bzw. dem Ende der bisherigen Welt rechnet. Zu einer Klärung sind aber auch die (nicht ethisch ausgerichteten) Gleichnisse und Sentenzen zu berücksichtigen. Mittels der Analogie aus alltäglicher Erfahrung verdeutlichen Gleichnisse eschatologische Aussagen vom Kommen der Gottesherrschaft (vgl. M t 13,24.31.33.44ff.). Dabei kann der Aspekt der Zukünftigkeit neben dem der Gegenwärtigkeit nicht außer acht gelassen werden. In Gleichnissen und Sentenzen wird eine Analogie der Gottesherrschaft zu Vorgängen in N a t u r und Schöpfung sichtbar (z. B. Saatgleichnisse Mk 4; Sonne und Regen M t 5,45), während zu Vorgängen im zwischenmenschlichen Bereich meist ein Gegensatz besteht (z.B. M t 20,1-15). Die weisheitliche Welterfahrung ist Erfahrung in der geschaffenen Welt, in der Gott als Schöpfer wirksam ist: „Wachsen und Reifen wurden im damaligen Judentum allgemein nicht als Folge eines natürlichen Prozesses verstanden, sondern auf Gottes wunderbare Tat zurückgeführt" (Lohse 28). Weisheitliche Betrachtung kann daher anhand der gegenwärtigen Erfahrung des Schöpferhandelns dem Hinweis auf sein eschatologisches Handeln dienen. Geht es dabei um den Antritt Gottes als des Schöpfers zur vollen Herrschaft nach der Entmachtung des Satans, so setzt dies kein apokalyptisch verstandenes Ende der alten Welt voraus. Die „Dualität von Eschatologie und Weisheit bei Jesus" kann daher ohne unvereinbare Antithetik positiv gewürdigt werden (Weder 25). 2.3. Weisheitliche

Textbefunde

in den

Evangelien

2.3.1. Da in der Logienquelle die älteste Jesustradition vermutet wird, gilt ihr besondere Aufmerksamkeit. Deutlich sind größere weisheitliche Logienkompositionen, die aus kleinen Einheiten zusammengewachsen sind: Lk 6 , 2 7 - 3 6 . 3 7 - 4 5 par.; 11,9-13 par.; 12,2-12 par.; 12,22-34 par. Vorwiegend sind hier weisheitliche Mahnworte zusammengestellt, aber Q enthält auch weitere einzelne Logien bzw. Sentenzen (vgl. die Zusammenstellungen bei Küchler; von Lips, Traditionen). Ebenso finden sich eindeutig eschatologische Texte (zukünftige Basileia), die gegenüber der Jesusverkündigung stärker apo-

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kalyptisch ausgerichtet sind (Gerichtsankündigung, Erwartung Jesu als des kommenden Menschensohns). Das Verständnis von Q als eher weisheitliche oder eher prophetische Logiensammlung bleibt strittig. Näherliegend ist die prophetische Ausrichtung durch die dahinter stehende Gemeinde, deren missionarische Aktivität und Erfahrung eher von der eschatologischapokalyptischen Prägung verständlich werden als von einer rein weisheitlich-präsentischen. 2.3.2. In den Synoptischen Evangelien (außer Q) zeigt sich ein deutlicher, zahlenmäßig geringerer Befund an einzelnen Logien bei Markus (zum Teil „Dubletten" mit Q) sowie im Sondergut von Matthäus und Lukas. Für Markus ist bemerkenswert die Verortung von Logien in Apophthegmata anstatt in Logienkompositionen (Ebner). Verbunden mit der gegenüber Q großen Zahl von Gleichnissen bei Markus, Matthäus und vor allem Lukas wird die stärker narrative Form der weisheitlichen Texte in diesen Traditionen sichtbar. Weisheitliche Mahnworte sind in geringerer Zahl festzustellen. Bei Matthäus und Lukas stehen Mahnungen als Ergänzungen des Q-Materials (differentes Q-Exemplar bei Matthäus und Lukas?). 2.3.3. Das -* Johannesevangelium enthält einige weisheitliche Sentenzen mit Parallelen zu den synoptischen Evangelien (4,35.44; 12,25; 13,16; 14,13f. u.a.), einige mit Parallelen zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur (3,8.12.20; 4,37). Auffällig ist aber eine Vielzahl weisheitlicher Sentenzen, die johanneisches Sondergut sind und in ihrer Form große Einheitlichkeit zeigen (2,10; 3,4; 7,4 u.ö.). Auch für Logien nichtweisheitlichen Inhalts hat der Evangelist auf die syntaktische Form weisheitlicher Logien zurückgegriffen (3,2.3.5 u.ö.: „kann nicht ..., wenn nicht ..."; 3,8.15.20f.29; u.ö.: „wer das tut (Partizip), der ..."; von Lips, Traditionen 259ff.). 3.

Weisheitschristologie

3.1. Frühjüdische

Voraussetzungen

In der alttestamentlich-jüdischen Tradition hat sich das Reden von der „Weisheit" dahin entwickelt, daß sie als Person verstanden werden kann, die dem Menschen gegenübertritt (Prov l,20ff.; 8,1 ff.). Letztlich wird sie zur selbständigen Wesenheit im Sinne einer Hypostase, z. B. mitwirkend bei der Schöpfung (Prov 8,22-31; Weish 7,12.21; 8,5f.; vgl. von Lips, Traditionen 153ff.; s.o. II u. III). Die personifizierte Weisheit ist den Menschen gegenüber nahe (Prov l,20f.), oder aber sie wird als entschwunden erfahren (Prov 1,28; äthHen 42). Unter anderem Aspekt wird die menschliche Einsicht formuliert, daß die Weisheit verborgen ist (Hi 28), während solche Grenze des Erkennens durch göttliche Offenbarung überwunden werden kann (Sir 1,6; Dan 2,19ff.). Beide Gegensatzmodelle sind in der genuinen Weisheitstradition zu Hause, erfahren aber dann eine bemerkenswerte Umgestaltung in der apokalyptischen Tradition. 3.2. Neutestamentliche

Befunde

3.2.1. Jesus und die Weisheit in den synoptischen Evangelien. Die sog. „SophiaLogien" in Q (Lk 7 , 3 1 - 3 5 par.; 11,29-32 par.; 11,49-51 par.; 13,34f. par.; vgl. auch 9,58 par.) wenden Motive der personifizierten (fraglich, ob hypostasierten) Weisheit auf Jesus an. Vorstellungshintergrund ist hier — eschatologisch-apokalyptisch geprägt — das Motiv der nahen, einladenden, aber abgelehnten und daher entschwundenen Weisheit. Jesus wird als Bote oder Prophet der Weisheit gesehen, ohne ausdrücklich mit ihr gleichgesetzt zu werden (dies allenfalls im besonderen Logion Lk 10,21f. par.). Bei Matthäus kommt es zur Identifizierung Jesu mit der Weisheit (z. B. 23,34: „Ich" Jesu anstelle der Weisheit). In Mt 1 1 - 1 3 werden bei der Darstellung des Wirkens Jesu

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betont weisheitliche Aspekte eingebracht (Begriff „Weisheit" 11,19; 12,42; 13,54; Sondergut 11,28-30, vgl. Sir 6,18ff.; 51,23ff.). Matthäus hat also eine Sophia-Christologie, aber als Teil einer umfassenderen Christologie. Bei Lukas rückt der Begriff der Weisheit nahe an den des Geistes heran (vgl. 2,40.52 mit Act 6,3.10; vgl. Lk 21,15 mit Mk 13,11), so daß die Sophia-Aussagen auf die Geistbegabung Jesu hinzielen. 3.2.2. Weisheitschristologie in den Briefen. In christologischen Hymnen und Bekenntnissen werden Attribute der personifizierten bzw. hypostasierten Weisheit auf Christus übertragen, nämlich in Aussagen über den Präexistenten und sein göttliches Wesen wie auch über seine Schöpfungsmittlerschaft: I Kor 8,6; Phil 2 , 6 - 1 1 ; Kol 1,15-20; Hebr 1,2f. Hinter I Kor 10,1—4 steht die Vorstellung vom Wirken der Weisheit in der Geschichte Israels (vgl. Weish 10; Philo, Det 115-118 u.a.). In II Kor 3,17f.; 4,4 wird die EIKCÜVVorstellung von der Weisheit (Weish 7,26) auf Christus übertragen. Auch bei der „Sendungsformel" in Gal 4,4f. und Rom 8,3f. (sowie Joh 3,16f.; I Joh 4,9) dürfte jüdischhellenistische Weisheit zugrundeliegen (vgl. Weish 9,10.17f.). In I Kor 1 - 2 findet das Wortfeld Weisheit (und Torheit) konzentrierte Verwendung. Strittig ist, ob Paulus eine Sophia-Christologie vertritt (Feuillet) oder ob er eine solche seiner Gegner bekämpft (Wilckens). Aber die Aussagen von Christus als „Weisheit" (1,24.30) werden durch den engeren Kontext (1,24: Gottes Kraft und Weisheit; 1,30: von Gott zur Weisheit „gemacht", usw.) eingeschränkt, so daß keine Gleichsetzung mit der hypostasierten Weisheit vorliegt. Ingesamt haben in I Kor 1 - 2 verschiedene weisheitliche Traditionslinien eingewirkt (l,18ff.: Weisheit - Torheit; 2,4: Weisheit und Rhetorik; 2,6ff.: verborgene und offenbarte Weisheit). Aus I Kor 2,6ff. hat sich das vor allem in deuteropaulinischen Texten (Kol l,26f.; Eph 3 , 4 - 7 . 8 - 1 1 ; Rom 16,25f.; vgl. auch II Tim l,9f.; Tit l,2f.; I Petr 1,20) zu findende „Revelationsschema" (Dahl; —•Offenbarung) entwickelt. Hier wird das Motiv von der verborgenen und dann offenbarten Weisheit - verbunden mit dem apokalyptischen Schema „einst - jetzt" — zur Interpretation des Christusgeschehens verwendet. 3.2.3. Weisheitschristologie im Johannesevangelium. In Joh 1,1 — 18 finden sich neben den aus den Hymnen bekannten Aussagen über den Präexistenten und Schöpfungsmittler (1,1-3) einige Besonderheiten: die Verwendung des religionsgeschichtlich prägnanten Begriffs Logos (1,1; vgl. Philo, Her 36 u.ö.: Verbindung Weisheit und Logos); die Anwendung der Bezeichnung „Gott" auf den Präexistenten (1,1; vgl. Philo, Quaest in Gn 11,62: Logos als „zweiter Gott"); die Einbeziehung der Reaktion der Schöpfung durch das Motiv der abgelehnten Weisheit (l,10f.). Noch in weiteren Texten des Johannesevangeliums kommt das Motiv der nahen und einladenden (7,37f.; 4,10: Einladung zum Trinken; vgl. Sir 15,3; 51,23f.), aber abgelehnten und daher scheidenden Weisheit (7,33f.; 8,21; vgl. Prov 1,28—32) zum Zuge. Die Ich-bin-Worte bringen teilweise weisheitliche Motive zum Ausdruck (6,35: Brot zum Essen; 15,1.5: Weinstock). 3.3. Ein Fazit Angesichts des Befundes weisheitlicher Tradition innerhalb der neutestamentlichen Christologie ist zugleich auch die Vielfalt und Differenz der Motive festzuhalten. Eine einheitliche Weisheitschristologie kann dem Neuen Testament nicht entnommen werden: weder im Sinne einer stringenten Entwicklung einer Weisheitschristologie bis zum Höhepunkt im Johannesevangelium (Hengel) noch im Sinne der feministischen These von der umfassenden Bedeutung einer Weisheitschristologie im Urchristentum. Untersuchungen feministischer Theologie hätten „die versunkene frühchristliche Tradition der Weisheit-Sophia zurückerobert und wiederentdeckt" (vgl. Schüssler Fiorenza 198). Die personifizierte und hypostasierte göttliche Weisheit in alttestamentlich-jüdischer Tradition wird als Integration der Weiblichkeit (bzw. der Göttin) in das Gottesbild

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verstanden. Dementsprechend soll die Weisheitschristologie die Konsequenz haben, in Jesus das Element der Weiblichkeit integriert zu sehen anstelle der einseitig auf das Männliche festgelegten traditionellen androzentrischen Christologie (Johnson). Für das Neue Testament ist aber der auffällige Befund festzuhalten, daß da, wo in Verbindung mit Jesus explizit von Sophia gesprochen wird, eben keine Identifizierung vorgenommen wird — und andererseits da, wo durch die Übertragung von Attributen der Weisheit auf Christus faktisch eine Identifizierung erfolgt, der Begriff Sophia nicht verwendet wird. 4. Weisheit in der urchristlichen

Paränese

4.1. Paränese und weisheitliche

Tradition

Nach Form und Inhalt steht Paränese in engem Zusammenhang mit weisheitlicher Tradition - sei es, daß weisheitliche Schriften didaktisch-paränetische Funktion haben (Proverbien, Jesus Sirach), sei es, daß Paränese, wo immer sie praktiziert wird, weisheitliche Inhalte aufgenommen hat. Wichtig ist das Fortwirken der gegenseitigen Relation und zugleich Differenzierung von Weisheits- und Gesetzestradition aus dem Judentum ins Urchristentum. Da die urchristliche Paränese wohl im Zusammenhang mit der Ablösung von der Tora als vorgegebener verbindlicher Verhaltensnorm zu sehen ist, ist hier gerade das Einwirken der weisheitlichen Tradition naheliegend. 4.2. Weisheit in der

Spruchparänese

Spruchparänese findet sich in der Antike entsprechend der internationalen Verbreitung des Phänomens Weisheit ebenso im griechischen wie im alttestamentlich-jüdischen Bereich (vgl. Küchler). So kann der Mahnspruch in der neutestamentlichen Briefparänese deutlich in Verbindung mit der Weisheitstradition gesehen werden. Sowohl der begründete Mahnspruch als auch Reihen kurzer, unbegründeter Mahnungen haben ihre Analogie in weisheitlicher Paränese. Manche Begründungen der Mahnung sind weisheitlicher Art (Hinweis auf allgemein Anerkanntes, auf eigenes Urteilsvermögen, Alltagsvergleiche). Die kurzen Mahnungen innerhalb von Reihen zeigen viele weisheitliche Motive und Motiv-Zusammenhänge (z.B. Rom 12,10ff.: Ehrerbietung, Warnung vor Trägheit, Ausdauer/Geduld und Gebet, Gastfreundschaft, Segnen statt Verfluchen, Anteilnahme, Besonnenheit statt Hochmut, Friedfertigkeit und Nichtvergelten des Bösen). Auch Stellung und Funktion solcher Mahnreihen im Textzusammenhang haben Entsprechungen in weisheitlich-paränetischer Literatur (von Lips, Traditionen 391 ff.). 4.3. Weisheit in der katalogischen

Paränese

Haustafeln (Kol 3,18-4,2; Eph 5,21-6,9 u.a.; ->Haus III.3.) haben ebenso wie die Tugend- und Lasterkataloge (Gal 5,19-23; Kol 3,5.8.12 u.a.) ihre formalen Vorbilder in der hellenistischen Tradition. Aber für die jeweiligen Inhalte lassen sich auch Einflüsse alttestamentlich-jüdischer Weisheitstradition feststellen, z. B. vergleichbare Mahnungen an einzelne Personengruppen, wie sie die Haustafeln enthalten (Sir 3,1; vgl. TestRub 5,5; TestSim 7,3). Viele der in den Katalogen aufgezählten Tugenden und Laster sind Verhaltensweisen, die Gegenstand weisheitlicher Beobachtung sind (Güte, Treue, Sanftmut, Geduld usw.; Neid, Streit, Zorn, Lüge usw.). Auf die Ausbildung zweier Arten von Lasterkatalogen weist Kol 3,5 („Unzucht, böse Begierde, Habsucht, Götzendienst": offensichtlich als Verstöße gegen das Gesetz ) und 3,8 („Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung": negative Verhaltensweisen in allgemein-weisheitlichem Horizont). Hier hat wohl das Nebeneinander von weisheitlicher und gesetzlicher Tradition im Alten Testament und Frühjudentum seinen Niederschlag gefunden (von Lips, Traditionen 363ff.).

514

Weisheit/Weisheitsliteratur IV

4.4. Weisheit in der Paränese des

Jakobusbriefes

F o r m a l e und inhaltliche M e r k m a l e sprechen für die Einordnung des Jakobusbriefes als paränetische Schrift mit brieflichem Charakter (Hahn/Müller 24ff.). Gegen die These einer zusammenhanglosen Paränese (Dibelius) erkennt die Forschung zunehmend die innere Einheit des Jakobusbriefes, der auch eine eigene theologische Position entspricht. Weisheitliche Tradition (vgl. Sir 1 - 2 ) prägt den inneren Z u s a m m e n h a n g des Eingangsteils 1 , 2 - 1 2 (als „summarischer E x p o s i t i o n " ) . Auch zeigt der Verfasser weisheitliches Denken (Erfahrungshinweise, Verwendung von Vergleichen und Gleichnissen). D o c h gilt der weisheitliche Charakter nicht für alle Teile des Briefes (vgl. eschatologischapokalyptische Elemente: z. B. 5,8 f.), so daß weder die Einordnung als „Weisheitsschrift" (Baasland; Frankemölle) noch die Rede von einer „Weisheitstheologie" (Luck, T h e o logie; Hoppe) den Jakobusbrief als ganzen erfassen. Der Begriff Weisheit (1,5; 3 , 1 3 . 1 5 . 1 7 ) läßt sich nicht als Schlüsselbegriff des gesamten Briefes erweisen. Das wichtige T h e m a der Anfechtung wird als innerchristliches T h e m a behandelt (Popkes) und gibt damit den weisheitlichen Inhalten eine christliche Prägung. Literatur Ernst Baasland, Der Jakobusbrief als ntl. Weisheitsschrift: StTh 36 (1982) 1 1 9 - 1 3 9 . - Gregory A. Boyd, Cynic Sage or Son of God?, Wheaton, 111. 1995. - Egon Brandenburger, Fleisch u. Geist. Paulus u. die dualistische Weisheit, 1968 (WMANT 29). - Felix Christ, Jesus Sophia, 1970 (AThANT 57). - John Dominic Crossan, The Hist. Jesus, San Francisco 1991; dt.: Der hist. Jesus, München 1994. - Nils Alstrup Dahl, Formgesch. Beobachtungen zur Christusverkündigung in der Gemeindepredigt: Ntl. Stud. f. Rudolf Bultmann, hg. v. Walther Eltester, 1954 (BZNW 21) 1 - 9 . Celia M . Deutsch, Lady Wisdom, Jesus, and the Sages. 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Das Kapitel über das Evangelium am Ende der Israelitischen und jüdischen Geschichte, das Jesus nach den Evangelien und dem Geschmack der Zeit als Künder des Reiches Gottes und Lehrer der Moral darstellt, war in diesem Sinne gemeint. Die Kritik der Quellen führte ihn jedoch auf eine andere Spur. Mit W. —»Wrede erkannte er in dem ältesten Evangelium, dem des Markus, ein Dokument der nachösterlichen Christologie. Da er die Redequelle Q und alle anderen Evangelien für jünger hielt, blieben für den historischen Jesus nicht mehr als nur ein paar Fragmente übrig, darunter das Gleichnis vom Sämann, das immer und immer wieder als Paradigma erscheint. „Es hilft nicht, sich zu sträuben. Die Worte Jesu sind nicht im eigentlichen Sinne authentisch erhalten." (Einleitung2 168). Jesus selbst hatte sich weder als Messias noch als Menschensohn verstanden oder gepredigt. „Jesus war kein Christ, sondern Jude" (ebd. 102). Wurde er als Messias angesehen, so ist mit seinem Tod das jüdische Ideal gestorben. Doch das war der Anfang seiner Auferstehung: „Ohne seinen Tod wäre er überhaupt nicht historisch geworden" (ebd. 104). So aber lebte er als Messias und Menschensohn wieder auf: „Es geschieht also ein ungeheurer Sprung von dem eigentlichen Messias zu einem anderen, der mit ihm nur den Namen gemein hatte und in der Tat keiner war. Und dieser Sprung läßt sich nicht a priori, sondern nur post factum begreifen." (Einleitung1 81; ähnlich ebd. 149, wo die „plötzliche Metamorphose" mit den „Christophanien" erklärt wird). Tod und Auferstehung sind das Evangelium, aus dem der Evangelienstoff und die Evangelien geflossen sind. Daher kann Wellhausen sagen: „Das Evangelium deckt sich mit dem Christentum" (ebd. 102). Es ist aus dem Judentum hervorgegangen, das sich seinerseits aus dem alten Israel „emporgearbeitet" hat und auf dem Gipfel dieser Entwicklung zum „Fundament einer neuen Religion" geworden ist (ebd. 90 am Beispiel der Eschatologie). Der historische Jesus, „von dem sich kaum etwas sagen läßt" (Grundrisse 131), spielt dabei eine historisch vermittelnde, aber keine zentrale Rolle. Wie das alte Israel mußte er untergehen, damit - so wie Israel im Judentum - er im Christentum überlebte. Er „erscheint jedoch immer nur im Reflex, gebrochen durch das Medium des christlichen Glaubens" (Einleitung2 104). Für die Evangelien hat Wellhausen die Konsequenz gezogen und, mit Ausnahme von wenigen Fragmenten, den gesamten Stoff für christlich erklärt. Im Alten Testament hat er das Judentum entdeckt, die überlieferungsgeschichtliche Konsequenz aus lauter Liebe zum alten, „historischen" Israel vielfach aber noch nicht gezogen. Das bleibt nachzuholen. Was im Neuen Testament der Tod Jesu, das ist im Alten das Exil, und was im Neuen Testament die Auferstehung ins christliche Evangelium, das ist im Alten die Wiederbelebung Israels in der Heilsgeschichte und im jüdischen Gesetz. 2.3. Arbeitert auf dem Gebiet der

Arabistik

Die Liebe zur Arabistik hatte Ewald geweckt. Gegen Ende der Greifswalder Zeit, seit etwa 1879, beschäftigte sich Wellhausen mit arabischen Handschriften, die er in Leiden, Paris und London exzerpierte (Smend, Wellhausen in Greifswald 163), und hielt, vermutlich als Vorbereitung für den Artikel Mohammedanism (I) in der Encyclopaedia Britannica (erschienen 1883), eine Vorlesung über Mohammed, von der Wilamowitz schwärmte (Schwartz 60 [347]; vgl. Wilamowitz-MoellendorfP 190). Im Jahr seines Ausscheidens aus der theologischen Fakultät und des Wechsels nach Halle erschien die erste Frucht der arabistischen Studien: Muhammed in Medina. Das ist Vakidi's Kitab alMaghazi in verkürzter deutscher Wiedergabe herausgegeben (Berlin 1882), eine deutsche Paraphrase des dem al-Wäqidl (gest. 823) zugeschriebenen Buches über die Feldzüge Mohammeds. Mit dieser Publikation meldete sich Wellhausen als Orientalist zu Wort, als der er hinfort in Halle, Marburg und Göttingen wirkte. Viel zitiert ist das programmatische Selbstzeugnis, in dem er den Wechsel begründet (Muhammed in Medina 5). Darin betont er zum einen die Kontinuität zu den alttestamentlichen Arbeiten, die noch sehr von der Vorliebe für die urwüchsigen, hinter der jüdischen bzw. islamischen Überlieferung liegenden Anfänge geprägt ist, zum anderen optiert er für die arabischen Quellen als religionsgeschichtliche Analogie anstelle der gerade wiederentdeckten mesopo-

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tamischen, von denen er durchaus Notiz nahm (Über den bisherigen Gang und den gegenwärtigen Stand der Keilentzifferung, RMP NF 31 [1876] 153 - 1 7 5 ; Grundrisse 65 f.). Doch der Bezug zum Alten Testament, obwohl fast überall spürbar, war nicht die Hauptsache. Die arabistischen Arbeiten haben ihre Bedeutung in sich und für die Arabistik selber. Das macht ihre Qualität aus, die von Fachleuten hoch veranschlagt wird (Theodor Nöldeke in Rezensionen sowie Littmann; Becker; Schaeder; Fück), und nur so sind sie auch für das Studium des Alten Testaments interessant (eine Übersicht gibt Rudolph). Die Arbeiten erstrecken sich, insoweit sich dies überhaupt trennen läßt, auf zwei Gebiete, die religiös-politische Geschichte und die Religionsgeschichte des vor- und frühislamischen Arabertums (-»Islam I.). In den historischen Arbeiten wird die Zeit von den Anfängen Mohammeds in Mekka (um 610) und Medina (622- 632) bis zum Untergang der Dynastie der Omajjaden (661-750), vor der Machtübernahme der Abbasiden (750-1256), behandelt. Die Anfänge sind Gegenstand von Muhammed in Medina sowie dreier Studien in den Skizzen und Vorarbeiten IV, 1889. Über die Zeit der ersten Kalifen nach dem Tod des Propheten und die Omajjaden handeln die Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams (Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten VI, 1899, 1-160), zwei weitere Einzelstudien (Rahlfs Nr. 164.165) und schließlich, als krönender Abschluß, die Monographie Das arabische Reich und sein Sturz von 1902. Letztere ist gewissermaßen die Fortsetzung der (arabistischen) Prolegomena, die - nach der zugrunde gelegten Tradition des Saif b. 'Umar (gest. 797) bei at-Tabarl (gest. 923) - bis zur sogenannten Kamelschlacht unter dem Kalifen Othman (reg. 644-656) reichen, worauf Das arabische Reich, das von da an anderen Tradenten (besonders Abü Mikhnaf [gest. 775]) aus derselben Hauptquelle folgt, nach einem Überblick über das Ganze mit dem Kalifen Ali (reg. 656—661), dem Schwiegersohn des Propheten und Nachfolger Othmans, einsetzt. Mit der Religionsgeschichte ist vor allem die Monographie über die Reste arabischen Heidentum(e)s von 1887 (Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten III) befaßt, die 1897 in einer zweiten, stark veränderten und um die Verbesserungen und Nachträge von Theodor Nöldeke vermehrten Auflage erschien. Schon die Ausgabe der Lieder der Hudhailiten (Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten I, 1884, 103ff., deutsch und arabisch; Nachträge in ZDMG 39 [1885] 104-106.411-480) läßt, außer dem sprachlichen Interesse, den Sinn für die vorislamischen Altertümer erkennen, denen weitere Arbeiten über die Ehe, die Poesie und das Recht gewidmet sind (Rahlfs Nr. 116.128.194 sowie 156). Eine Vielzahl von Rezensionen gibt auch hier Aufschluß über das Umfeld und manche Hintergründe der eigenen Publikationen. Die Arbeitsweise ist dieselbe wie in den Werken zum Alten und Neuen Testament. Der Ausgangspunkt ist immer der T e x t und seine Uberlieferung, das Mittel die Quellen- und Tendenzkritik, das Ziel die historische und religionsgeschichtliche Rekonstruktion. Die Uberlieferungslage ist allerdings, schon der Masse wegen, sehr viel schwieriger. Die Quellen waren noch kaum erschlossen. Mit den Handschriftenexzerpten, Ubersetzungen, textkritischen N o t e n und nicht zuletzt mit einer vereinfachten Umschrift leistete Wellhausen Grundlagenarbeit. Dasselbe gilt für die kritische A n a lyse. Die einschlägigen T e x t e stammen ausnahmslos aus islamischer Zeit und tragen ihren Stempel. Es handelt sich, wie die von Wellhausen bevorzugt benutzte, in den Jahren 1 8 7 9 - 1 8 8 9 gerade im Erscheinen begriffene Chronik des a t - T a b a r i , um Sammelwerke, die E x z e r p t e verschiedener, namentlich genannter Tradenten (wie die oben erwähnten Saif b. ' U m a r , Abü Mikhnaf, al-Wäqidi u.a.) enthalten, welche sich ihrerseits für den Beweis der Zuverlässigkeit ihrer Überlieferung auf eine Kette von Zeugen berufen. Wellhausen verglich die Tradenten auf ähnliche Weise wie die verschiedenen Uberlieferungen im Alten und Neuen Testament, um die älteste und zuverlässigste Quelle zu eruieren. Mit diesem Verfahren, das er mit Uberblick und Scharfsinn anwendete, betrat er Neuland in der Arabistik. M a n hat es als seine große Leistung, zugleich aber auch als Grenze angesehen, daß er sich nicht, wie seine Vorgänger, an den Einzelnachrichten, sondern fast immer an einem A u t o r orientierte. D o c h das Hauptproblem ist nicht das Verfahren, sondern die Beschaffenheit der Quelle, und sei sie noch so alt. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß man auch in der alten Uberlieferung stärker differenzieren muß (Rudolph 144f.). Das ist im Alten Testament nicht anders, zumal man sich im klaren sein muß, daß selbst die ältesten Quellen die Geschichte nicht eins zu eins abbilden, sondern aus dem Abstand verfaßt sind. Vor- und frühislamische ara-

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bische wie vorexilische hebräische Uberlieferung ist nur in Resten oder „im Reflex", gebrochen durch die verschiedenen Richtungen des Islams hier, das jüdische Gesetz dort, zu greifen. Das höhere Alter einer Quelle ist immer ein relatives. Wie die jüngeren literarischen Schichten oder Traditionen, die zwar auch einmal ältere Nachrichten bewahrt haben mögen, in aller Regel aber von den älteren direkt oder indirekt abhängig sind, tragen schon die älteren die Vorstellungen und Hoffnungen ihrer Zeit in die Vergangenheit ein. In dieser Hinsicht ist Wellhausen nur im Neuen Testament konsequent verfahren. Am weitesten ist er auf dem Gebiet der Religionsgeschichte in die vorislamische Welt vorgedrungen, und zwar in dem Buch Reste arabischen Heidentums (Berlin 1897). Hauptquelle ist das geographische Lexikon des Yäqüt (1179-1229), aus dem Wellhausen das bis 1924 verloren geglaubte „Buch über die Götzen" (Kitäb al-Asnäm) des Ibn al-Kalbl (gest. 819/820) rekonstruierte (zu den neueren Ausgaben vgl. Rudolph 126). Darüber hinaus bezog er nabatäische und griechische Inschriften sowie verstreute Nachrichten in verschiedenen anderen arabischen Quellen mit ein. Das Buch behandelt zuerst Götter und Kultstätten ( 1 8 8 7 , 1 - 6 4 ; 2 1897, 1 - 6 8 ) , danach den „öffentlichen Cultus der Götter", vorzugsweise in Mekka (1887, 6 4 - 1 3 5 . 1 6 4 - 1 7 1 ; 2 1897, 6 8 - 1 4 7 ) , danach das „niedere Heidentum", also die Volksreligion, wie wir heute sagen würden (1887, 1 3 5 - 1 6 4 ; 2 1897, 1 4 7 - 2 0 7 ) . Am Schluß steht ein Resümee, das die vorislamische Religion, den aufkommenden Islam und die Rolle von Judentum und Christentum ins Verhältnis setzt (1887, 1 7 1 - 2 1 2 ; 2 1897, 2 0 8 - 2 4 2 ; vgl. vorher schon 1887, 1 6 4 - 1 7 1 ; 2 1897, 1 4 1 - 1 4 7 ) . In gewisser Weise entspricht das Buch den Prolegomena zur Geschichte Israels, vor allem in ihrem ersten, kultgeschichtlichen Teil. Es arbeitet sich durch die „Verdunkelung" der islamischen Quellen zu den vom Islam verworfenen oder übernommenen und umgedeuteten Kultpraktiken hindurch wie die Prolegomena durch die jüdische Übermalung - sei es Polemik oder sei es Verklärung - des altisraelitischen bzw. judäischen Kults. Die Gegensätze zwischen Kult und Religion oder Staat und Religion bestimmen auch hier den kritischen Blick. Das Ergebnis ist ein lebendiges Bild von den ursprünglichen Verhältnissen in der Wüste und eine klare Sicht der - teilweise mit der israelitischen Religionsgeschichte parallelen, teilweise abweichenden (Reste 2 , 215.217) - Entwicklung vom Polytheismus über den Synkretismus zur vorislamischen Monolatrie und zum Monotheismus des frühen Islams, dessen Gottesbegriff in manchem (ebd. 224f. zur „Moral") an den der alttestamentlichen Propheten, der „Begründer der Religion des Gesetzes" (Israelitische und jüdische Geschichte 7 110), erinnert, nach Wellhausen aber wesentlich vom Christentum beeinflußt ist. W i e im Alten Testament schlägt Wellhausens H e r z auch auf dem Gebiet der Arabistik bei den ursprünglichen, noch unverfälschten Anfängen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, d a ß er sich hier ebenso wie d o r t mehrheitlich mit der für die „Verfäls c h u n g " verantwortlichen späteren (früh)islamischen bzw. jüdischen Überlieferung beschäftigt und auch sie nicht ohne Verständnis und Sympathie dargestellt hat. Solange der Teig noch a m G ä r e n w a r , fanden auch der Islam und das arabische Reich, das J u d e n t u m und das Gesetz, das Christentum und das Evangelium sein Interesse. E s erlosch, sobald die Dinge sich verfestigt und die Gestalt der O r t h o d o x i e , des allumfassenden I m a m a t s , des R a b b i n a t s und der Kirche, angenommen hatten. 3.

Wirkung

Wellhausen w a r ein Gelehrter. Als akademischer Lehrer hat er k a u m gewirkt. E r hat keine „ S c h u l e " begründet, sondern mit seinen Werken Schule g e m a c h t . Vor allem die Prolegomena zur Geschichte Israels schlugen ein wie eine B o m b e und lösten einen internationalen kirchlichen und (pseudo)wissenschaftlichen Feldzug gegen ihn aus (vgl. Smend, Julius Wellhausen [ 1 9 7 8 ] ) . Die Vernünftigen erkannten sofort seine G r ö ß e und zollten ihm vorbehaltlos Respekt (vgl. Schwartz). Die deutlichsten Spuren hat er in der alttestamentlichen Wissenschaft hinterlassen. A u f dem Grund, den er gelegt hat, baut sie bis heute, ob sie es w a h r h a b e n will oder nicht. D a ß er zeitweilig in Vergessenheit geriet (vgl. Smend: Grundrisse 5), liegt daran, d a ß m a n - vor allem n a c h d e m allzu penible Diffenzierungen die von Wellhausen souverän praktizierte Quellenscheidung im Pentateuch ad absurdum geführt hatten - die literarkritische Arbeit für getan hielt und die neuen altorientalischen Funde neue Fragen aufgaben, die über Wellhausen hinausführten (Baumgartner). Die Religionsgeschichtliche Schule, für die stellvertretend H . - » G u n k e l und W. - » B o u s s e t genannt seien, und das d a r a u s hervorgegangene f o r m - und überlieferungsgeschichtliche Erklärungsmodell des

Wellhausen

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Alten T e s t a m e n t s (—•Formgeschichte/Formenkritik), das sich mit den N a m e n A. - » A l t , M . - > N o t h und G . v. - > R a d verbindet, sollten die W e r k e Wellhausens eigentlich fortsetzen, traten a b e r m e h r und m e h r an ihre Stelle. D o c h n a c h d e m sich h e r u m g e s p r o c h e n h a t , d a ß m a n das Alte T e s t a m e n t schwerlich auf vorliterarische G a t t u n g e n und Stoffe reduzieren k a n n , sondern es m i t genuin literarischen Quellen zu tun hat, wird Wellhausen h e u t e wieder öfter zitiert und auch n a c h g e d r u c k t . D a s altorientalische Vergleichsmaterial verliert dadurch keineswegs seine Bedeutung. Im Gegenteil: es eignet sich, wie wir heute wissen, weitaus besser als die von Wellhausen bevorzugte a r a b i s c h e Überlieferung, um „ d e n Wildling k e n n e n zu lernen, auf den von Priestern und P r o p h e t e n das R e i s der T h o r a J a h v e ' s gepfropft i s t " ( M u h a m m e d in M e d i n a 5 ) . D o c h wie sich dies in der a l t t e s t a m e n t l i c h e n Überlieferung niedergeschlagen h a t , d a r ü b e r erfährt m a n bei Wellhausen m e h r als in den R e l i k t e n der altorientalischen Kulturen. E r hat den Weg gewiesen, das Alte T e s t a m e n t als D o k u m e n t des J u d e n t u m s zu verstehen. Weniger R e s o n a n z haben die n e u t e s t a m e n t l i c h e n A r b e i t e n gefunden, vielleicht weil sie nicht ganz so p r o v o k a n t geschrieben oder weil die A r b e i t e n des Außenseiters von den F a c h g e n o s s e n leichter zu übergehen w a r e n . D o c h a u c h sie h a b e n , z. B . bei R . - > B u l t m a n n , ihre W i r k u n g nicht verfehlt und ihre W i e d e r e n t d e c k u n g n o c h vor sich (vgl. das V o r w o r t von M a r t i n Hengel im N a c h d r u c k der Evangelienkommentare [Berlin/New Y o r k 1987], v - x i i ) . Sie sind a b e r nicht n u r für den N e u t e s t a m e n t i e r , sondern auch für den A l t t e s t a m e n t i e r von Interesse. D i e hellseherische K l a r h e i t , m i t der Wellhausen das P r o b l e m des „historischen J e s u s " , der „ W o r t e J e s u " und der Evangelienüberlieferung a u f den P u n k t g e b r a c h t hat, wirft auch ein L i c h t auf die D e b a t t e um das „ h i s t o r i s c h e I s r a e l " und die S u c h e nach den „ e c h t e n W o r t e n " der P r o p h e t e n . In der A r a b i s t i k gilt Wellhausen unbestritten als eines der H ä u p t e r des F a c h s . Seine H y p o t h e s e n h a b e n sich in den G r u n d z ü g e n bestätigt, a u c h w e n n sich das Bild im einzelnen, vor allem was die Beurteilung der Q u e l l e n a n b e l a n g t , inzwischen geändert h a t (Rudolph 1 1 1 ff.). Von Seiten der B i b e l w i s s e n s c h a f t wird den arabistischen W e r k e n zu Heidentums wenig B e a c h t u n g geschenkt. A m meisten ist aus d e m B u c h Reste arabischen zu lernen. D a s B u c h „ R e s t e h e b r ä i s c h e n H e i d e n t u m s " , das unter E i n b e z i e h u n g des arc h ä o l o g i s c h e n , epigraphischen und i k o n o g r a p h i s c h e n M a t e r i a l s die im Alten T e s t a m e n t versteckten Splitter der israelitischen und judäischen R e l i g i o n vor ihrer redaktionellen (jüdischen) Fassung s a m m e l t e und systematisch z u s a m m e n s t e l l t e , ist n o c h zu schreiben. Quellen 1. Werke: Alfred Rahlfs, Verz. der Sehr. Julius Wellhausens: Stud. zur semitischen Philologie u. Religionsgesch. FS Julius Wellhausen, hg. v. Karl Marti, 1914 (BZAW 27) 3 5 1 - 3 6 8 . Danach erschienen: Grundrisse zum AT, hg. v. Rudolf Smend, 1965 (TB 27). 2. Briefe und Akten: Ernst Bammel, Judentum, Christentum u. Heidentum. Julius Wellhausens Briefe an Theodor Mommsen 1 8 8 1 - 1 9 0 2 : ZKG 80 (1969) 2 2 1 - 2 5 4 . - Ernst Barnikol, Wellhausens Briefe aus seiner Greifswalder Zeit (1872-1879) an den anderen Heinrich Ewald-Schüler Dillmann. Ein Beitr. zum Wellhausen-Problem (1956/57): Gottes ist der Orient. FS Otto Eißfeldt, Berlin 1959, 2 8 - 3 9 . - Alfred Jepsen, Wellhausen in Greifswald (1956): ders., Der Herr ist Gott. Aufs, zur Wiss. vom AT, Berlin 1978, 2 5 4 - 2 7 0 . — (Auszüge aus unveröffentlichtem Material bei Boschwitz [s.u. Lit.], Schwanz [s.u. Lit.] u. Smend [s.u. Lit.]; eine Gesamtausgabe der erhaltenen Briefe wird v. Rudolf Smend vorbereitet). Literatur Walter Baumgartner, Wellhausen u. der heutige Stand der atl. Wiss.: ThR NF 1 (1930) 2 8 7 - 3 0 7 . - Carl Heinrich Becker, Julius Wellhausen (1918): ders., Islamstud., Leipzig, II 1932 Nachdr. Hildesheim 1967, 474 - 480. - Friedemann Boschwitz, Julius Wellhausen. Motive u. Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung, Marburg 1938 Nachdr. Darmstadt 1968 (Libelli 238). - N.A. Dahl, Wellhausen on the NT: Douglas A. Knight (s.u.) 8 9 - 1 1 0 . - Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen (1920): ders., KS, Tübingen, 1 1 9 6 2 , 5 6 - 7 1 . - Ders., Art. Wellhausen, Julius: RGG 3 6 (1962) 1594f. - Johann Fück, Die arab. Stud. in Europa bis in den Anfang des 20. Jh., Leipzig 1955, 223 - 226. - Hermann Gunkel, Art. Wellhausen, Julius: RGG 2 5 (1931) 1820-1822. - Herbert F. Hahn, Wellhausen's Interpretation of Israel's Religious History. A Reappraisal of His Ruling Ideas: Essays on Jewish

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Welt/Weltanschauung/Weltbild I

Life and Thought. FS Salo Wittmayer Baron, hg. v. Joseph L. Blau u.a., New York 1959, 299-308. - W i l l i a m A. Irwin, The Significance of Julius Wellhausen: JBR 12 (1944) 160-173. - Douglas A. Knight (Hg.), Julius Wellhausen and His „Prolegomena to the History of Israel", Chico, Calif. 1983 (Semeia 25). - Reinhard G. Kratz, Die Entstehung des Judentums. Z u r Kontroverse zw. E. Meyer u. J. Wellhausen: Z T h K 95 (1998) 167-184. - Ulrich Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil dt. Alttestamentier, 1991 (SKI 12). - Enno Littmann, Julius Wellhausen. Trauerfeier auf dem Friedhofe am 10. Januar 1918, Oldenburg 1918 = ders., Erinnerungen an Julius Wellhausen: Z D M G 106 (1956) 1 8 - 2 2 . - Johannes Meinhold, Wellhausen: CW 11 (1897) 4 6 1 465.487-492.539-543.555-557.577-583. - Lothar Perlitt, Vatke u. Wellhausen, 1965 (BZAW 94). - Ders., Julius Wellhausen (1966): Allein mit dem Wort. Theol. Stud. FS Lothar Perlitt, hg. v. Hermann Spieckermann, Göttingen 1995, 251-255. - Ders., Pectus est, quod theologum facit? Z u m 50. Todestag Julius Wellhausens (1968): ebd. 2 5 6 - 262. - Kurt Rudolph, Wellhausen as an Arabist: Douglas A. Knight (s.o.) 111-155. - H a n s Heinrich Schaeder, Die Orientforschung u. das abendländische Geschichtsbild: Grete Schaeder u.a. (Hg.), Der Mensch in Orient u. Okzident. Grundzüge einer eurasiatischen Gesch., München 1960, 397-432. - Eduard Schwartz, Julius Wellhausen (mit zwei Beil.): N G W G Geschäftl. Mitteilungen (1918) 4 3 - 7 3 = ders., Vergangene Gegenwärtigkeiten. GS, Berlin I, 1938 2 1963, 3 2 6 - 3 6 1 [ohne Beil.; oben im Text in Klammern zit.]. - Ernst Sellin, Wellhausen, Julius: DBJ (Jahre 1917-1920) 2 (1928) 341-344. - Rudolf Smend, Wellhausen in Göttingen: Theol. in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Bernd Moeller, Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschr. A 1) 306-324. - Ders., Julius Wellhausen 1844-1918 (1976/1985): ders., Dt. Alttestamentler in drei Jh., Göttingen 1989, 9 9 - 1 1 3 . - Ders., Wellhausen u. die Kirche: Wiss. u. Kirche. FS Eduard Lohse, hg. v. Kurt Aland u. Siegfried Meurer, Bielefeld 1989, 225 - 2 3 1 . - Ders., Wellhausen u. das Judentum (1982): ders., Epochen der Bibelkritik. GSt, III 1991 (BEvTh 109) 186-215. - Ders., Julius Wellhausen u. seine Prolegomena zur Gesch. Israels (1978): ebd. 168-185; engl.: Douglas A. Knight (s.o.) 1 - 2 0 . - Ders., Israelit, u. jüd. Gesch. Zur Entstehung v. J. Wellhausens Buch: Gesch. - Tradition - Reflexion. FS Martin Hengel, hg. v. Peter Schäfer, Tübingen, I 1996, 35 - 4 2 . - Ders., Wellhausen in Greifswald (1981): ders., Bibel, Theol., Univ. Sechzehn Beitr., 1997 (KVR 1582) 135-165. - Ders., Art. Wellhausen, Julius: Dictionary of Biblical Interpretation, Nashville, 2 (1999) 629 - 631. - Ders., Art. Wellhausen, Julius: Dt. Biographische Enzyklopädie, München, 10 (1999) 425f. - Ders., Der Alttestamentler Julius Wellhausen u. Wilamowitz: Wilamowitz in Greifswald. Akten der Tagung zum 150. Geburtstag Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorffs in Greifswald, 1 9 . - 2 2 . Dezember 1998, hg. v. William M. Calder III u.a., Hildesheim 2000 (Syndasmata 81) 197-215. - Hermann Spieckermann, Exegetischer Individualismus. Julius Wellhausen 1844-1919: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh, II/2 1993, 2 3 1 - 2 5 0 . - Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848-1914, Leipzig 1928 2 1929. Reinhard G. Kratz

Welt/Weltanschauung/Weltbild I. E i n l e i t u n g II. W e l t III. W e l t a n s c h a u u n g IV. W e l t b i l d

S. 5 3 8 S. 5 4 4 S. 5 6 2

I. Einleitung D a s s e m a n t i s c h e Feld d e r T e r m i n i „ W e l t " , „ W e l t a n s c h a u u n g " , „ W e l t b i l d " ist s o w o h l in h i s t o r i s c h e r als a u c h in s y s t e m a t i s c h e r H i n s i c h t ü b e r a u s k o m p l e x . Es u m f a ß t B e d e u t u n g s m o m e n t e , d i e sich a u f d i e a l l t ä g l i c h e , v o r t h e o r e t i s c h e E r f a h r u n g n a t ü r l i c h e r w i e geschichtlicher P h ä n o m e n e beziehen; aber auch solche, die mit d e m Prozeß der wissenschaftlichen E r f o r s c h u n g der Erde u n d ihres O r t e s im Universum u n d mit der A u f g a b e ihrer übersichtlichen u n d populären Darstellung für den gesunden Menschenverstand gegeben sind; u n d schließlich solche, die d a s Streben n a c h d e m geschlossenen System verraten, das wissenschaftliche Kontrollierbarkeit und Lebensorientierung verknüpft. In d e n v e r s c h i e d e n e n B e d e u t u n g s m o m e n t e n d e r S p r a c h - u n d B e g r i f f s g e s c h i c h t e spiegelt sich n i c h t n u r d i e s o z i a l e F u n k t i o n w i e d e r , d i e d i e - » W i s s e n s c h a f t f ü r d a s B i l d u n g s w e s e n ,

Welt/Weltanschauung/Weltbild I

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für die Ökonomie und für die Technik zumal seit der frühen Neuzeit gewonnen hat, sondern auch der „Kampf um das Christentum" (W. -»Eiert), in dem die Ansätze einer —» Zivilreligion (Jean-Jacques -»Rousseau; Auguste -»Comte), die radikale -»Religionskritik, die theoretischen Überzeugungen der exakten -» Naturwissenschaften, die Ästhetik der Epiphanie (F. -»Nietzsche; James Joyce [1882-1941]) und nicht zuletzt die ideologischen Massenbewegungen des Bolschewismus, des Faschismus und des -»Nationalsozialismus zu dominierenden Bildungsmächten geworden sind. Der vorliegende Gesamtartikel erhebt den Anspruch, die hohe Komplexität des semantischen Feldes historisch wie systematisch zu reduzieren. 1. Er geht zunächst davon aus, daß der Terminus „Welt" weder für das philosophische Denken der Antike noch für das Denken des -»Glaubens ein Begriff für einzelne Erscheinungen ist, sondern ein Inbegriff für den Zusammenhang des -»Lebens, der - sei es in der ihm eigenen Schönheit und Ordnung, sei es als Werk Gottes des —»Schöpfers — die Totalität des zu Erkennenden wie des zu Gestaltenden bedeutet. Insofern bezeichnet „Welt" unter verschiedenen Perspektiven das Weltverhältnis des Menschen. Es bildet einerseits den Einstieg in das Interesse an der Einheit kategorialer (metaphysischer) und empirischer Erkenntnis („Weltweisheit"), andererseits den Ansatz für die im spätmittelalterlichen Nominalismus angestoßene Erforschung einzelner Phänomenbereiche. Vorbereitet durch den transzendentalen Kritizismus I. -»Kants (Welt als regulative Idee), sucht der phänomenologische Weltbegriff E. -»Husserls den Totalitätsanspruch des erkennenden und handelnden Subjekts zurückzunehmen auf den Gedanken einer alltäglich erfahrbaren Pluralität verschiedener Weltperspektiven. Er korrespondiert der Deutung des menschlichen Weltverhältnisses in der Sicht des christlichen Glaubens, die allerdings erhebliche Schwierigkeiten hat, sich zwischen den Intentionen von „Weltanschauung" und von „Weltbild" zu behaupten. 2. „Weltanschauung" - ein eher beiläufig von Immanuel Kant eingeführter Terminus — changiert zwischen den Bedeutungen eines umfassenden, realenzyklopädischen Wissens, das sich seines konstruktiven und seines fehlbaren Charakters bewußt bleibt, und einer prinzipiellen Überzeugung hinsichtlich des Ursprungs, des Wesens und der Bestimmung des Menschen in der Welt, die sich durchaus - unter dem Titel einer „wissenschaftlichen Weltanschauung" - mit einem zusammenhängenden Erkenntnisanspruch verbünden kann und die als solche immer auch handlungsleitenden Charakter hat. Aus diesem Grunde ist es verständlich, daß die neuere Theologiegeschichte gegenüber dem Pathos der Weltanschauungen, die „Welträtsel" gelöst zu haben (Ernst Haeckel [1834-1919]), und gegenüber ihren zahlreichen Organisationsformen, Gesellschaften und Vereinen ein ambivalentes Verhältnis entwickelt hat. Einerseits sieht sie jedenfalls den christlichen Glauben von seinem Wesen her in Kontraposition zu aller Weltanschauung; andererseits aber kann sie nicht umhin, die Wahrheitsgewißheit des Glaubens als einen besonderen und authentischen „Blick" (R. -»Bultmann) für das Ganze der -»Wirklichkeit, also als „Wirklichkeitsverständnis" des christlichen Glaubens (Wilfried Härle/Eilert Herms) zu entfalten. Kommt die Theologie metakritisch auf das Pathos der christentumskritischen Weltanschauungen der Moderne zurück, so nimmt sie damit unter veränderten Bedingungen die bleibende apologetische bzw. dialogische Aufgabe des Glaubens in Angriff. 3. In diesem Zusammenhang ist die Frage aufzuwerfen, wie sich der Begriff des Weltbilds zum Erkenntnis- und Orientierungsanspruch des Weltanschauungsbegriffs verhält. Im Gegensatz zum Sprachgebrauch M. -»Heideggers spricht vieles dafür, die Intention des Weltbildbegriffs mit Hilfe des Begriffs variabler „Weltmodelle" zu erklären. Diese Erklärung geht davon aus, daß die christlich-religiöse Symbolik nicht ohne Aussagen über den Natur- wie Kulturzusammenhang des menschlichen In-der-Welt-Seins auskommt, so gewiß sie die Erkenntnis der Welt als Schöpfung einschließt. In der Geschichte der Weltmodelle aber, in denen wir diesen Natur- wie Kulturzusammenhang

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Welt/Weltanschauung/Weltbild II

zu erfassen suchen, macht sich gegenüber dem Totalitätsanspruch namentlich der wissenschaftlichen Weltanschauungen das leibhafte In-der-Welt-Sein des Menschen (-» Leib/ Leiblichkeit) geltend, für das auch die wissenschaftlich begründete -»Erfahrung im Zusammenspiel von sprachlicher Deutung und Sinnlichkeit gegeben ist. Indem die christlich-religiöse Symbolik dazu anleitet, den theoretischen, praktischen und ästhetischen Weltbezug des Menschen auf das sinnenfällige Erleben zurückzuführen, bietet sie ein unausgeschöpftes Potential für den Kampf gegen jedwede Zerstörung der Sinnlichkeit. Konrad Stock

II. Welt 1. K o s m o s ratur S. 5 4 4 )

2. Weltlichkeit

3 . Z u m Weltbegriff in Schleiermachers Glaubenslehre

(Lite-

Weil der Mensch nicht wie das -»Tier instinktgebunden in eine artspezifische Merkwelt und Umwelt eingeschlossen ist, sondern durch Weltoffenheit ausgezeichnet ist (—»Mensch X), weil er „in einer ,Umwelt' [lebt], aber . . . eine ,Welt' [hat]" (Tillich 51), ist sein Weltverhältnis durch Immanenz und -»Transzendenz zugleich bestimmt. Das Verhältnis von Selbst und Welt wird erst angemessen begriffen, wenn theologisch gezeigt wird, wie Gottes- und Weltverhältnis ineinandergreifen, bzw. wenn religionstheoretisch erkannt wird, daß Religion immer auch durch eine spezifische Weltsicht gekennzeichnet ist. Für die Weltsicht des christlichen —»Glaubens signifikant ist vor allem die (asymmetrische) Unterscheidung von —»Schöpfer und Geschöpf, die sich kritisch gegen die Selbstgenügsamkeit des menschlichen Weltverhältnisses und darum gegen die Vertauschung von Gott und Welt (-»Sünde; -»Augustin/Augustinismus) richtet. Abgewehrt werden dabei stets auch die pantheistische Identifikation wie die dualistische Trennung von Gott und Welt, aber auch Vorstellungen der Emanation, insofern sie als Beschränkung der Freiheit Gottes angesichts der Weltentstehung gelten muß. Im Horizont des Schöpfungsglaubens liegt auch die Rede von der Weltregierung Gottes (—»Vorsehung) und von Gottes Eingreifen in die Welt (-»Wunder). Aber auch Erlösungslehre (-»Heil und Erlösung) und -»Eschatologie handeln in besonderer Weise vom Sein der Welt. Zu vergleichen ist schließlich vor allem das Verhältnis von -»Kirche und Welt bzw. von Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) und Welt. Angesichts dieser Komplexität können hier nur zwei unterschiedliche Weltbegriffe und ein exemplarischer Fall systematisch-theologischer Reflexion vorgestellt werden. 1.

Kosmos

Der griechische und der lateinische Begriff (KÖafj.OQ/tnundus) qualifizieren Welt als Ordnungsphänomen, näherhin als Wohlordnung (euza^ia) oder Harmonie, in der Güte und Schönheit (Koafieco = schmücken) gleichursprünglich sind. Gegenbegriff ist das Chaos, das wie die Nacht oder die Leere keine Unterscheidungen zuläßt. Der Begriff des Weltalls (näv, universum) als Totalität und Einheit aller Dinge erhält so normative Qualität. Entsprechend äußert sich das (oft als Weltfrömmigkeit beschriebene) Grundgefühl der Griechen, das Dasein des Menschen rechtfertige sich in der Betrachtung des Himmelsgebäudes und der Ordnung im Weltall (Aristoteles, eth. Eud. 1/5,1216 a 1 1 - 1 5 ) . Die biblischen Texte kennen ebenfalls einen Begriff der Totalität („Himmel und Erde": Gen 1,1; in Jes 44,24 als „All", häkol zusammengefaßt) und partizipieren am altorientalischen Ordnungsdenken, ihnen fehlt aber ein dem Kosmos vergleichbarer Begriff. Vor allem ist -»Gott nie Teil dieser Totalität, sondern stets als Schöpfer von ihr unterschieden. Dieser Befund ist auffällig, seine Interpretation stellt die Weichen für die theologische Reflexion des Welt-Begriffs. Nach G. von Rad liegt die „tiefe Ursache" dieses Sachverhaltes darin, „daß die ,Welt' für Israel viel weniger ein Sein als ein Geschehen war" (von Rad 165). Differenzen

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zwischen griechischem Substanz- und hebräischem Relationsdenken, zwischen Natur und Geschichte, aber auch zwischen gegebener Ordnung und sich ereignendem Offenbarungswort indizieren deshalb unterschiedliche Weltzugänge. Im Horizont der ontologischen Unterscheidung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem (mundus sensibilis/ intelligibilis) ist der Kosmos als sinnliches und bewegtes Abbild der nur dem Denken zugänglichen —»Ideen deutbar: der platonische Demiurg bildet die Welt (vgl. Titnaios), gewissermaßen als „Kompromiß] zwischen der Unerträglichkeit des Chaos und der Unerreichbarkeit der Idee" (Blumenberg 522). Für die jüdisch-christliche Tradition dagegen ist die Schöpfung Anfang einer Verheißungs- und Erwählungsgeschichte, so daß die Welt erst vermöge eines zukünftigen Handelns Gottes an ihr Ziel kommt. Trotz darin begründeter Abständigkeit haben sich Judentum (-»Philo von Alexandrien) und frühes Christentum (-»Justin der Märtyrer; -»Clemens von Alexandrien; —»Origenes; die Kappadozier -»Gregor von Nyssa, -»Gregor von Nazianz, -»Basilius von Caesarea) im Dialog mit dem Mittelpiatonismus (-»Plato/Platonismus) um die Entfaltung einer eigenen Kosmologie bemüht, die den Glauben an Gott den Schöpfer mit der Erfahrung und der philosophischen Deutung der Welt verbindet. Vor allem die Lehre von der creatio ex nihilo bestimmt das Sein der Welt durch Ausschluß eines metaphysischen Dualismus zugunsten der Einzigkeit Gottes. Zugleich bewahrt der Schöpfungsglaube vor der gnostischen bzw. marcionitischen Spaltung Gottes in Erlöser- und Weltgott, mit der die Welt als Falle und Gefängnis ausschließlich negativ besetzt wird (-»Gnosis/Gnostizimus; -»Marcion/Marcioniten). Deren „symbolische Grundgleichung" lautet: „Welt = Finsternis, KÖA/iog = OKÖZOQ" (Jonas 103). Diese Dämonisierung der Welt ergibt sich als ultima ratio einer -»Theodizee, für die der Erlösungsglaube in der Auslöschung des Weltbewußtseins bzw. der Weltverstrickung besteht. Der Kampf um die Gnosis war insofern die kritische Phase in der Entstehung eines christlichen Weltverständnisses (vgl. Bultmanns Vorrede zu Jonas [1934]), so nachhaltig dieses weiterhin zwischen Weltbejahung und Weltverachtung schwanken mochte. Im Rahmen einer empirischen Wende des Wissenschaftsbegriffs und unter Konzentration auf die Physik adaptiert -»Thomas von Aquino die aristotelische Kosmologie. Die Welt als Sphäre der (sublunar auf- bzw. absteigenden und der supralunaren Kreis-) Bewegungen setzt einen ersten, unbewegten Beweger voraus (kosmologischer Gottesbeweis), sonst geriete alle Welterfahrung in einen regressus ad infinitum. Weltbegriff und Gottesgedanke verweisen deshalb aufeinander: wie Gott reine Aktualität ist, zeigt sich Welt in der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit und folglich als Streben. Anschlußprobleme ergaben sich im Blick auf die aristotelische These von der Ewigkeit der Welt, aber auch hinsichtlich des Bewegungsbegriffs. Thomas hatte die Lizenz für die den biblischen Texten widersprechende Vorstellung von der Anfangslosigkeit der Welt durch die Unterscheidung von philosophischer und theologischer Erkenntnis gewonnen. Durch Dekret des Pariser Bischofs Stephan Tempier (gest. 1279) wurden 1277 (nach einem Vorlauf 1270) solche aristotelisch-averroistischen Aussagen verurteilt, die als Beschränkung der Freiheit Gottes gegenüber der Welt erschienen. In der Folge wird die Welt als durchgängig kontingent verstanden. Sie ist weder an sich noch für Gott notwendig, sondern wird allein durch den Willen des Schöpfers im Sein gehalten (creatio continua als Auslegung der creatio ex nihilo). Die Korrelation von Gott und Welt setzt dem notwendigen Wesen so die Zufälligkeit der Welt entgegen. Verläßlichen Bestand bietet allein die Treue des Gemeinschaftswillens Gottes, nicht aber die Weltordnung als solche. Die Bewegung hatte Aristoteles als Streben aller Weltelemente zu ihrem natürlichen Ort gedeutet, wobei die Rotation der Fixsternsphäre als vollkommenste (gottähnlichste) Bewegung erschien. Die Widerlegung beider Annahmen durch N. -»Kopernikus (die ontologisch höchste Bewegung erweist sich als bloßer, durch Eigenrotation des Beobachterstandpunktes entstandener Schein) und die durch J. -»Kepler und I. —»Newton voll-

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Welt/Weltanschauung/Weltbild II

zogene Erklärung himmlischer und irdischer Bewegungen unter einem einheitlichen Gesetz (Ersetzung des teleologischen durch einen mechanischen Bewegungsbegriff) zerschlägt das geozentrische Weltbild des Mittelalters. Die Mathematisierung der Natur, die experimentelle, d.h. subjektiv konstituierte -»Erfahrung (G. -»Galilei; I. -»Kant) konfigurieren den Weltzugang neu. Die rationale Kosmologie der metaphysica specialis begreift Kant als Schauplatz fruchtloser Streitigkeiten einer sich in Antinomien verstrikkenden reinen Vernunft (Kant A 406-567). Diese bedarf der Kritik, durch die der - auf „Erscheinungen in (!) der Welt" bezogene, die selbst „niemals ganz.... gegeben werden" kann (A 522) - „Weltgebrauch unserer Vernunft" (A 698) in dem Maße gewinnt, in dem auf Kosmologie verzichtet wird. Der Weltbegriff wird zu einer bloß regulativen Idee (A 684), die sich in keiner wirklichen Totalität erfüllt. Welt und Gott entsprechen sich nun als gegenständlich nicht darstellbare Ideen, deren Funktion darin liegt, den unendlichen Prozeß der empirischen Erkenntnis der Natur voranzutreiben. Indem er „das Wissen aufheb[t], um zum Glauben Platz zu bekommen" (B xxx), schafft Kant eine folgenreiche Differenzierungsfigur. Die moderne protestantische Theologie und die exakten -»Naturwissenschaften kommen in gemeinsamer Ablehnung von -»Metaphysik und Kosmologie überein, erschöpfen aber auch mit diesem Minimalkonsens alle ihre Beziehungen. So begreift F.D.E. -»Schleiermacher „den Abschied von der Kosmologie" als „Befreiung der Religion zu sich selbst" (U. Barth). E. -»Troeltsch betont: „wie der Gottesgedanke, so [ist] auch der Weltgedanke von Hause aus kein wissenschaftlicher Begriff, sondern eine religiöse Idee ... Die Wissenschaft verarbeitet nur den Begriff einheitlicher Weltgesetze als Voraussetzung der Erkenntnis und bleibt im übrigen in den Antinomien des Weltbegriffs stecken. Nur im Zusammenhang mit dem Begriff einer ordnenden Weltvernunft oder eines schaffenden göttlichen Willens entsteht der Begriff der Welt als einer in sich geschlossenen Einheit der Wirklichkeit" (Troeltsch 240). Für das religiöse Weltempfinden „ist von entscheidender Wichtigkeit, daß alle religiöse Stellungnahmen zur Welt keine Auflösungen wissenschaftlicher Probleme sind, also die wissenschaftliche Kosmologie und Naturlehre überhaupt nicht in ihren Bereich fällt" (ebd. 241). Entsprechend kann K. -»Barth formulieren: „Kosmologie entsteht immer nur dort — in dem toten Winkel —, wo das Wort Gottes . . . das Gehör und den Gehorsam des Menschen noch nicht gefunden oder wieder verloren hat. Da und nur da kann der Kosmos als ein Drittes zwischen Gott und dem Menschen zum Gegenstand selbständiger Aufmerksamkeit und Betrachtung werden" (KD III/2, 10). Kosmologie ist Ausdruck von Geistlosigkeit: „zu einer Ontologie des Alls" (ebd. 13) führt weder von ,,echte[r] Naturwissenschaft" (ebd. 239) noch von rechter Theologie ein Weg. Die Lehre von der Schöpfung kennt „schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfestellungen" (KD III/l, Vorwort), sondern legt die Einsicht aus, „daß der Kosmos dazu bereitet ist, die Existenz und Fortexistenz des Menschen als des Partners Gottes . . . möglich zu machen" (ebd. 234). Gegenwärtig ist zu beobachten, daß das kosmologische Thema gerade von Seiten der Astrophysik neu aufgeworfen wird (Hawking). Die Naturgesetze der klassischen Physik erhalten eine Geschichte, der deterministische Mechanismus wird durch Quantenphysik (Unschärferelation) und durch Beobachtungen an nicht-linearen dynamischen Systemen (Chaostheorie, Musterbildung) bereichsspezifisch korrigiert. Phänomene der Selbstorganisation und Emergenz verändern die Möglichkeiten der rationalen Vorhersagbarkeit von Ereignissen. Das führt zu Wandlungen der Weltwahrnehmung, die überall dort von erneuter Annäherung der Theologie an die Naturwissenschaften begleitet wird, wo das Programm einer —»Natürlichen Theologie in Kraft blieb (vgl. Peacocke; Polkinghorne) oder wo in Anschluß an den Tychismus-Agapismus von Ch.S. -»Peirce (vgl. Deuser), an die Prozeßphilosophie A.N. -»Whiteheads oder das Evolutionsdenken -»Teilhard de Chardins das Ausloten neuer Kosmologien seinen Reiz behielt. Auch W. Pannenberg (Wirken; ders., Theologie 96ff.) nimmt den Aspekt der Zufälligkeit der Welt, der Veränderlichkeit ihrer Ordnung sowie die historische und sachliche Nach-

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barschaft zwischen physikalischen und theologischen Grundbegriffen (Kraft- und Feldbegriff) zum Anlaß für den Versuch, den Schöpfungsglauben auf die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt zu beziehen. Den Schulterschluß zwischen einer naturwissenschaftlichen Theorie offener Systeme und einer von Protologie auf Eschatologie umgestellten Schöpfungslehre sucht auch J. Moltmann. Offenbar gehört zum Schicksal der durch nicht-beantwortbare Fragen belästigten menschlichen -»Vernunft (vgl. Kant A VII) auch die Wiederkehr der eskamotierten Kosmologie. Die Theologie scheint sich dem nicht entziehen zu können, denn der für sie unverzichtbare Weltbegriff bildet seine Prägnanz im Gegenüber zu den Veränderungen der Kosmologie und des menschlichen Weltbewußtseins aus. 2.

Weltlichkeit

Für die -»Phänomenologie wird Welt zum Horizontphänomen. Darin liegt eine eigentümliche Doppelung, die für den modernen Weltbegriff charakteristisch ist: einerseits kann dieser zur Kennzeichnung spezifischer Gegebenheits- und Erfahrungsformen pluralisiert werden (als Arbeitswelt, Nachwelt, Dritte Welt, Welt des Sports, der Musik usw.), andererseits bleibt Welt als umfassender, aber unabschließbarer Gesamthorizont, als Horizont der Horizonte, vorausgesetzt. E. -»Husserl hat beide Momente in seinen Weltbegriff integriert. Jeder Gegenstand steht in einem räumlichen und zeitlichen Verweisungszusammenhang, der mitgesetzt ist, ohne ausdrücklich thematisiert zu sein. Als Sphäre des fraglos Selbstverständlichen ist die -»Lebenswelt der umfassende Glaubensboden aller Erfahrung (natürlicher Weltbegriff), von dem aus Grenzverschiebungen und Horizonterweiterungen möglich werden. Diese können immer noch weitergetrieben werden, ohne daß das Ineinander von vorgängiger Vertrautheit und Novum, von Bekanntheit und Fremdheit zugunsten des reinen Gegebenseins der Sachen überschreitbar wäre. Weil solche Horizonte mit kulturell-sozialen Lebensformen verknüpft sind, ergibt sich eine (alltäglich erfahrbare) Pluralisierung möglicher Welten. Diese zunächst in der antiken Kosmologie (Epikur [341-271 v. Chr.]) entworfene und dann in der Neuzeit (Bernard Le Bovier de Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes, Amsterdam 1686) erneuerte Vorstellung bestimmt das menschliche Selbstverständnis im Verhältnis zum Weltbegriff. N u n wird dieser selbst differenziert. M . -»Heidegger prägt im Ausgang von Husserl den Begriff des (von dem durch Innerweltlichkeit und Vorhandenheit charakterisierten Seins der Dinge unterschiedenen) In-der-Welt-Seins und nennt diesen existenzialen Charakter menschlichen Daseins Weltlichkeit (Heidegger 65). Der Begriff der „Weltlichkeit der Welt", der in der Theologie eine rasche Verbreitung findet, steht für die Einsicht, daß das Weltverhältnis auf unterschiedliche Weise erschlossen oder verdeckt werden kann in Abhängigkeit zum Selbstverhältnis, auf das sich menschliches Dasein versteht. So meint der neutestamentliche KÔafioç-Begriff nach R. -»Bultmann (§ 26) nicht einen räumlichen Ordnungsbegriff, sondern einen zeitlich-geschichtlichen, letztlich eschatologischen Begriff menschlichen Selbstverständnisses. Welt erscheint als „Atmosphäre": begreift sich der Mensch ausschließlich aus dem sichtbar Vorhandenen, so verstrickt er sich in den Zusammenhang der Werke und ihrer Gerechtigkeit. Im Glauben an Christus als dem Ereignis des Sieges über die Welt (vgl. I Joh 5,4) empfängt er dagegen Freiheit, so daß er im M o d u s der Entweltlichung in der Welt leben kann (vgl. die paulinische cbç ^ - B e s t i m m u n g in I Kor 7,29f.). Der Begriff der Weltlichkeit kennzeichnet auch die der Freiheit eines Christenmenschen entsprechende Lebensform als „tiefe Diesseitigkeit" und Weltzugewandtheit der Glaubenden angesichts einer mündig gewordenen Welt (Bonhoeffer 257 f.306.401). Die theologische Kategorie der -»Säkularisierung als (im Unterschied zur Ideologie des Säkularismus) „notwendige und legitime Folge des christlichen Glaubens" (Gogarten 143) zeigt, daß der Weltbegriff auch an der Schnittstelle von Dogmatik und Ethik theologisch unverzichtbar ist. Der Mensch steht so zwischen Welt und Gott, daß er im Glauben an den zur Welt gekommenen Gott (Jüngel 521) frei wird zu verantwortlicher Weltgestaltung. Gegen das apo-

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Welt/Weltanschauung/Weltbild II

kalyptische M o t t o „Es komme die Gnade, und es vergehe die Welt" und gegen naive Weltverbesserung steht die Gemeinschaft der Glaubenden in kritischer Solidarität zu der „noch unerlösten Welt, in der auch die Kirche lebt" (Barmen V). Dieser Impuls hat auch zu Formen der Begründung einer „politischen Theologie" geführt (Metz). Setzt sich gegen die positivistische Auskunft „Die Welt ist alles, was der Fall ist" (Wittgenstein 1) die Überzeugung von der Erschlossenheit der Welt in unterschiedlichen Dimensionen durch, so bestimmt die Ausdifferenzierung gleichursprünglicher, nicht aufeinander reduzierbarer Welten (objektive Fakten, soziale Regeln, individuelles Selbstverständnis) auch die soziologische Analyse der -»Religion in der —»Moderne, so daß die positiven Religionen als Formen unterschiedlicher Welteinstellungen beschrieben werden können (in Anschluß an M . -»Weber: Habermas 262-331). Auch die Theologie kann ihren Weltbegriff nur in der Pluralität unterschiedlicher Perspektiven zur Geltung bringen (Dalferth 4 9 - 5 1 ) . 3. Zum Weltbegriff in Schleiermachers

Glaubenslehre

Perspektiven des systematisch-theologischen Weltbegriffs lassen sich am exemplarischen Fall am besten erkennen. Bereits in den Reden (1799) nutzt Schleiermacher den Weltbegriff sowohl zur Kennzeichnung der Religion („wer einen Unterschied macht zwischen dieser und jener Welt, bethört sich selbst, alle wenigstens welche Religion haben, glauben nur an Eine" [Schleiermacher, Religion 203]) wie auch zur Herleitung unterschiedlicher Gottesbegriffe („daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt" [ebd. 245]). Das systematische Leitwort „Anschauen des Universums" als „allgemeinste und höchste Formel der Religion" ist dabei eine „Kategorie . . . für die noch ungeschiedene Einheit von Gottes- und Weltidee" (Fischer 53). Bemerkenswert ist Schleiermachers Kommentierung des neuzeitlichen Blicks auf den bestirnten Himmel, liegt doch ihr Akzent auf der Selbstrelativierung aller Ordnungen. Diese ergibt sich, weil die jeweils zugänglichen Gegenstände in perspektivischer Abhängigkeit vom Beobachterstandpunkt stehen. Deshalb folgt: „Ihr könnt nicht sagen, daß Euer Horizont, auch der weiteste, alles umfaßt, und daß jenseits deßelben nichts mehr anzuschauen sei" (Schleiermacher, Religion 216). Allerdings liegt die den religiösen Sinn ansprechende Unendlichkeit nicht in der arithmetischen Menge, der Masse oder der Vielzahl möglicher Welten, sondern in den Gesetzen (ebd, 225). Auch wird die äußere Anschauung erst durch das innere Leben des Betrachters (ebd. 227) und vor allem durch die soziale Welt prägnant. Seinen „Sinn für die Welt" (ebd. 228) entdeckt der Mensch an der Menschheit (ebd.). Die Art der Anschauung des Universums unterscheidet die Religionen voneinander. Präzisere Fassungen der Gott-Welt-Unterscheidung bietet die Glaubenslehre (2. Aufl. 1830/31). Der methodische Ausgangspunkt beim Selbstbewußtsein faßt dieses immer auch als Weltbewußtsein, und zwar in der doppelten Form des „Bewußtsein unseres Seins in der Welt" wie des Bewußtseins „unseres Zusammenseins mit der Welt" (§ 4.2 [I, 26]). Welt ist dabei charakterisiert als Bereich der „Wechselwirkung", nämlich als dasjenige immer schon mitgesetzte Andere, in dem teilweises Abhängigkeits- und teilweises Freiheitsgefühl einander korrespondieren. Das Wort „ G o t t " ist davon kategorial unterschieden, weil es als unmittelbarer Reflexionsausdruck für ein im Gefühl nicht teilweiser, sondern schlechthinniger Abhängigkeit mitbestimmendes (nichtgegenständliches) Anderes gilt. Welt ist ein Totalitätsbegriff, durch den „das gesamte Außeruns . . . mit uns selbst zusammen als Eines" (ebd.) gesetzt wird. Welt ist mithin nicht nur für das Bewußtsein, vielmehr dieses ist selbst welthaft. Weil das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als allgemeines Endlichkeitsbewußtsein „die ganze Welt mit in die Einheit unseres Selbstbewußtseins auf[nimmt]", wird eine Religionstypologie nach Maßgabe des jeweils mitgesetzten Weltbezuges möglich. Denn: „solange der Mensch sich nur . . . mit einem kleinen Teil des endlichen Seins identifiziert", wird „sein Gott noch ein Fetisch sein" (§8.2 [I, 53]). Die allmähliche Her-

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ausbildung des Monotheismus ist mit der Ausbildung eines Bewußtseins für die Einheit der Welt vermittelt. Auch erklärt das Bewußtsein für das Zusammensein mit der Welt den Vorrang der teleologischen vor der ästhetischen Frömmigkeit. Denn: nur in jener wird Intersubjektivität so zum Problem, daß „die Idee einer Gesamtheit sittlicher Zwecke" (§9.2 [I, 62]) erfaßt und Religion auf die tätige Gestaltung einer sittlichen Welt bezogen wird. Das Mitgesetztsein der Welt hat Folgen für die Glaubenssätze, können diese doch stets auch „als Aussagen von Beschaffenheiten der Welt" aufgefaßt werden (§ 30 [I, 163]). Diese Nebenform scheint freilich das, was aus dem Gebiet der inneren Erfahrung stammt, in die Nachbarschaft von naturwissenschaftlichen Aussagen über die Welt zu rücken, so daß sie Mißverständnisse provoziert. Wird das Verhältnis von Welt und Gott, das in jedem christlich-frommen Selbstbewußtsein immer schon vorausgesetzt und enthalten ist, in dieser Nebenform expliziert, so kann und muß von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt gesprochen werden (§§ 5 7 - 6 1 [I, 307-337]). Denn: „wenn nicht alle Welteindrücke . . . darin zusammenstimmten, daß die Richtung des Geistes auf das Gottesbewußtsein ihnen kompossibel ist", so ließe sich das höhere Selbstbewußtsein gar nicht auf das niedere beziehen (§ 57.1 [I, 307]). Die „göttliche Billigung der Welt" (§ 57.2 [I, 310]) besteht folglich in ihrer durchgängigen Tauglichkeit zur Offenbarung Gottes und zur Gestaltung durch den Menschen. Sie schließt (mit Konsequenzen für die christliche Sittenlehre) die Überzeugung ein, „daß alle jene Anlagen, vermöge deren der Mensch dieser bestimmte Bestandteil der Welt ist"(§ 58.2 [I, 312]), durch das Gottesbewußtsein gestaltet werden können. Ohne Übergriff in das Gebiet der „kosmologische[n] Aufgabe" (ebd.) verbinden sich Kosmologie und Glaubenslehre darin, daß zur ursprünglichen Vollkommenheit der Welt ihre Erkennbarkeit und durchgängige Bestimmbarkeit gehört, „wovon wiederum alle Erfahrung und zuletzt auch alle Wissenschaft abhängt" (§59.1 [I, 314]). Hinsichtlich des durch den Gegensatz von Sünde und Gnade bestimmten christlichen Selbstbewußtseins erscheint die Welt als ein „ O r t beharrlich wirkende[r] Ursachen von Lebenshemmungen, d . h . Übel" (§75 [I, 411]) sowie als „Schauplatz der Erlösung" (§ 169 [II, 455]), vor allem aber als Kontrastbegriff zum göttlich gestifteten neuen Gesamtleben: „Welt" ist derjenige Teil der Menschen, der noch bleibt, was das Ganze des Menschengeschlechts einst war - sie ist noch nicht durch den Heiligen Geist bestimmt (§ 126.1 [II, 275]). Das kontinuierliche Entstehen des neuen Gesamtlebens aus der Welt impliziert deren Einfluß auf die Kirche, so daß diese neben ihren konstitutiven auch veränderliche Bestimmungen hat. Aufgrund der „noch nicht"-Bestimmung hat Welt aber nicht das Format einer Konkurrenz, ist sie doch kein ebensolches Ganzes wie die Kirche (um dualistische Mißverständnisse zu vermeiden, möchte Schleiermacher den Gebrauch des Ausdrucks Welt auf streng dogmatische Zusammenhänge beschränkt wissen [ebd.]). Welt erscheint jedoch nicht nur als retardierendes, „störendes Element" (§ 150 [II, 391]). Vielmehr ist der Heilige Geist „weltbildende K r a f t " (§ 169 [II, 457]), und die göttliche Weltregierung ordnet in ihrer Weisheit alles auf die Erlösung hin. Die mannigfaltige Abstufung des Lebens, die als solche Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens ist (§120.3 [II, 244]), stützt die Annahme, daß sich auf allen Weltkörpern organisches Leben bis hin zur Vernunft entwickelt. Doch obwohl für diese Annahme auch die Überzeugung spricht, die Welt sei die „reichste Offenbarung Gottes", bleibt sie für unser Selbstbewußtsein nur eine leere Stelle (§164.2 [II, 442]). Der Blick auf den bestirnten Himmel führt insofern vom kosmologischen Raum auf die irdische Nahwelt zurück: im Ausgang vom zum Gattungsbewußtsein erweiterten Selbstbewußtsein „kennen wir auch keinen anderen Umfang der Weltregierung als unsere Welt, also das Gebiet, in welchem die Erlösung ihre Kraft beweist" (ebd.). Trotz der Zentralstellung der KircheWelt-Differenz wird der Weltbegriff nicht auf diese verengt. Er hat einen umfassenden Sinn, weil er durch den Gedanken des Naturwerdens des Göttlichen, also letztlich durch den Gegenstand der Christologie (§13 [I, 86-94]) vermittelt ist. Fazit: nur gemeinsam

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k o n s t i t u i e r e n S c h ö p f u n g s l e h r e , C h r i s t o l o g i e u n d P n e u m a t o l o g i e d a s c h r i s t l i c h e Vers t ä n d n i s der W e l t . Literatur Karl Barth, KD III. - Ulrich Barth, Abschied v. der Kosmologie - Befreiung der Religion zu sich selbst: Urknall oder Schöpfung?, hg. v. Wilhelm Grab, Gütersloh 1995, 1 4 - 42. - Hans Blumenberg, Die Genesis der Kopernikanischen Welt, Frankfurt a . M . 1975 3 1996. - Dietrich Bonhoeffer, Widerstand u. Ergebung, hg. v. Eberhard Bethge, München 1951 NA 1970 M977. - Rudolf Bultmann, Theol. des NT, Tübingen 1 9 4 8 - 1 9 5 3 '1984. - Ingolf U. Dalferth, Kombinatorische Theol. Probleme theol. Rationalität, 1991 (QD 130). - Hermann Deuser, Gott. Geist u. Natur. Theol. Konsequenzen aus Charles S. Peirce' Religionsphil., 1993 ( T B T 56). - Hermann Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001. - Friedrich Gogarten, Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theol. Problem, Stuttgart 1953 Gütersloh 2 1987. - Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. I. Handlungsrationalität u. gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a . M . 1981. - Stephen W. Hawking, A Brief History of Time, Toronto/London 1988; dt.: Eine kurze Gesch. der Zeit, Hamburg 1991 2 0 2001. - Martin Heidegger, Sein u. Zeit, Halle 1927 Tübingen " 1 9 7 2 . - Hans Jonas, Gnosis u. spätantiker Geist. I. Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934 '1954. - Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theol. des Gekreuzigten im Streit zw. Theismus u. Atheismus, Tübingen 1977 *1982. - Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. II. Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt 1975. - Ludwig Landgrebe, Welt als phänomenologisches Problem: ders., Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963 2 1967. - Johann B. Metz, Zur Theol. der Welt, Mainz 1973. - Jürgen Moltmann, Wiss. u. Weisheit. Zum Gespräch zw. Naturwiss. u. Theol., Gütersloh 2002. - Wolfhart Pannenberg, Syst. Theol., Göttingen, II 1991. - Ders., Das Wirken Gottes u. die Dynamik des Naturgeschehens: Urknall oder Schöpfung? (s.o. bei Ulrich Barth) 1 3 9 - 1 5 2 . - Arthur Peacocke, Theology for a Scientific Age, Oxford 1990; dt.: Gottes Wirken in der Welt, Mainz 1998. - John C. Polkinghorne, Science and Providence, London 1989. - Ders./Michael Welker, T h e End of the World and the Ends of God. Science and Theology on Eschatology, Harrisburg, Pa. 2000. - Gerhard v. Rad, Theol. des AT, München, I 1957 1 0 1992. - Georg Scherer, Welt - Natur oder Schöpfung?, Darmstadt 1990. - Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799]: ders., Krit. GA. 1/2. Sehr, aus der Berliner Zeit 1 7 9 6 - 1 7 9 9 , hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1 9 8 4 , 1 8 5 - 3 2 6 = ders., Uber die Religion (1799), Berlin/New York 1999 Nachdr. 2001. - Ders., Der christl. Glaube (1830/31), hg. v. Martin Redeker, Berlin ' i 9 6 0 = 1999. - Paul Tillich, Systematic Theology, Chicago, III 1963; dt.: Syst. Theol., Stuttgart, III 1966 *1984 = Berlin 1987. - Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorl. aus den Jahren 1911 u. 1912, hg. v. Gertrud v. le Fort, München 1925 Nachdr. Aalen 1981. - Ludwig Wittgenstein, Logisch-phil. Abh.: Annalen der Naturphil., Leipzig, 14 (1921) 1 8 5 - 2 6 2 ; engl.: Tractatus logico-philosophicus, London 1922; dt.: NA Frankfurt a.M. 1960 u.ö. Michael Moxter

III. W e l t a n s c h a u u n g I I I / l . Dogmatisch und Philosophisch III/2. Kirchengeschichtlich (Neuzeit)

S.556

III/3. Praktisch-theologisch

S.559

I I I / l . D o g m a t i s c h u n d Philosophisch 1. Ursprung des Begriffs 2. Dimensionen des Begriffs Theologie (Quellen/Literatur S. 554) 1. Ursprung

des

3. Weltanschauung als Thema der

Begriffs

O f f e n b a r ist I. - + K a n t der e r s t e , d e r v o n W e l t a n s c h a u u n g s p r i c h t , freilich g e b r a u c h t e r d a s W o r t e h e r b e i l ä u f i g - s e l b s t v e r s t ä n d l i c h , o h n e d a s B e w u ß t s e i n , ein n e u e s Begriffsk o m p o s i t u m zu p r ä g e n . E r s t die s p ä t e r e R e z e p t i o n , v o r allem die des 1 9 . J h . , verschafft d e m B e g r i f f „ e i n e d u r c h V i e l d e u t i g k e i t b e g ü n s t i g t e f a t a l e K a r r i e r e " , die e h e r „ein B e g r i f f s s c h i c k s a l als e i n e B e g r i f f s g e s c h i c h t e " d a r s t e l l t ( H a n s B l u m e n b e r g , L e b e n s z e i t u n d Weltzeit, Frankfurt a . M .

3

1986, 9f.).

Welt/Weltanschauung/Weltbild III/l

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In Kants Kritik der Urteilskraft (1790, § 26) ist „Weltanschauung" begrifflich klar bestimmt, insofern der Anschauungsbegriff konstitutiv für die -»Welt der Erscheinungen (mundus sensibilis/pbaenomena) ist. Reicht mögliche Erkenntnis nur so weit, wie Gegenstände unter den Anschauungsformen endlicher Subjektivität gegeben werden, so gilt „Welt" als das Insgesamt der durch Anschauung verbürgten Erkenntnisgegenstände. Andererseits aber läßt sich der Begriff nicht auf diesen erkenntniskritischen Ursprungssinn begrenzen, da zugleich gilt, daß „die Welt niemals ganz", nicht einmal „als Weltreihe ganz gegeben werden" kann. Sie bleibt ein Totum, das in keiner „kollektiven Anschauung" repräsentierbar, also „ f ü r sich selbst gar nicht anzutreffen" ist (vgl. Kritik der reinen Vernunft [1781] A 505 mit 522f.). Weltanschauung im strengen Sinne ist daher nicht zu haben, die Einheit der Welt wirkt nur als regulative Idee im unabschließbaren Prozeß empirischer Erkenntnis einzelner Gegenstände. Deshalb ist es folgenreich, daß der Begriff „Weltanschauung" erst in einem Zusammenhang eingeführt wird, in dem Kant neben die theoretische Erkenntnis der Natur eine andere Art der Naturbetrachtung stellt, bei der es um „Erweiterung des Gemüts" aufgrund einer bloß subjektiven Übereinstimmung der Vermögen Sinnlichkeit und Vernunft geht, nicht aber um Naturerkenntnis. Leitend ist dafür das mathematisch (und dynamisch) Erhabene (Kritik der Urteilskraft A92). Das Mathematisch-Erhabene entsteht angesichts einer Natur, die jeden in Zahlen angebbaren Maßstab der Sinne übertrifft, aber am Ort einer bloß subjektiven Tätigkeit der Urteilskraft, die „die Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet,... der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat" unterlegt (ebd.). Der Begriff entspringt also zwar im Schnittfeld von Welt- und Anschauungsbegriff, sein Einführungskontext ist aber gerade Kants Interesse an Deutungspotentialen und -hinsichten, ohne die das Subjekt nicht auskommt, so wenig es sich in die Naturwissenschaft einmischen darf. Mit der ersten Verwendung des Begriffs öffnet sich daher bereits die Schere zwischen Wissenschaftswelt und menschlichem Interpretationsbedarf, die für die Geschichte des Begriffs eigentümlich wird. Weltanschauung kann folglich sowohl theoretische Erfassung von Welt unter dem Gesichtspunkt ihrer Einheit (mit dem Fluchtpunkt sog. wissenschaftlicher Weltanschauung) (2.1.) wie auch individuelle, stets perspektivische Deutung (mit dem Fluchtpunkt pluraler, Gesinnungen und Handlungsorientierungen repräsentierender Weltanschauungen) (2.2.) meinen. Letztere geraten in Nachbarschaft zum Religionsbegriff (-»Religion), z. B. in der verfassungsrechtlichen Gleichstellung „des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses" (Grundgesetz der BRD, Art. 4 [1], vgl. Art. 33 [3,2]; entsprechend auch die Weimarer Verfassung Art. 137 u. 146f.; sowie zahlreiche Länderverfassungen) (2.3.). In jedem dieser drei Begriffsmomente wird Weltanschauung auch zum Thema der Theologie (3.1.-3.3.). 2. Dimensionen

des Begriffs

Abkünftig vom griechischen Theoriebegriff (-»Theorie und Praxis) und in Nachbarschaft zur Kosmologie erhält Weltanschauung die Bedeutung einer betrachtenden Erfassung der Welt in Konvergenz mit dem nur unwesentlich jüngeren Begriff des Weltbildes (s.u. IV). Treten die Momente der Ganzheit, der Gesamtsicht oder der Einheit der Wirklichkeit in den Vordergrund der Definitionen, so wird Weltanschauung zum Nachfolgebegriff von —• Metaphysik: dementsprechend meint Weltanschauung „eine Gesamtsicht von Gott, Welt und Menschen" (De Vries) oder einen „Inbegriff der Ergebnisse metaphysischen Denkens und Forschens" (Georgi Schischkoff, zitiert nach H.G. Meier 54), mithin sogar ein geschlossenes wissenschaftliches System (Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg. v. Heinz Heimsoeth, Tübingen ls 1957, 487). Als weltanschauliche Aussagen gelten „Sätze über allgemeine Prinzipien, die es uns ermöglichen, unsere Kenntnisse über die Welt zu einem Ganzen abzurunden" (Albrecht 10). Diese, vor allem für den Marxismus-Leninismus typische, affirmative Verwendung kann in eine pejorative umschlagen, wenn Weltanschauung als Produkt einer

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totalitären Verfallsgestalt philosophischer Theorie angesehen wird (vgl. H.G. Meier 2f.), jedoch verbleiben solche, auch beim Ideologiebegriff ( - • Ideologie/Ideologiekritik) beobachtbaren Umwertungen im Horizont der Erwartung, „ein abschließendes Bild der W e l t . . . zu gewinnen" (Frischeisen-Köhler ixf.). 2.1. Theoretische

Erfassung von Welt

Im Sinne umfassender Welterkenntnis wird Weltanschauung im Deutschen Idealismus gebraucht. J.G. -»Fichte verwendet das Wort 1792 im Versuch einer Kritik aller Offenbarung, um die Einheit von Natur- und Moralgesetz, von -»Kontingenz und Notwendigkeit, in einem Letztprinzip zu fundieren: Was für uns verschieden bleibt, sei in der Weltanschauung Gottes eins (Fichte, Versuch 108). In seiner Grundlage des Naturrechts (§ 1) von 1796 nennt Fichte das der freien Wirksamkeit im Wollen gegenüberstehende Vorstellen der Vernunftwesen eine an die Objekte gebundene, aber dennoch freie Tätigkeit (!) der Weltanschauung. Entsprechend gebraucht F.W.J.-> Schelling in seiner naturphilosophischen Phase den Begriff, wobei er die Perspektivität einer durch die menschliche Organisation (d.h. durch die Leiblichkeit) begrenzten Weltanschauung betont (Schelling 182). Im System des transzendentalen Idealismus (1800) ist gemeinsame Weltanschauung eine Bedingung der Anerkennung anderen Bewußtseins und damit der freien Einwirkung verschiedener Intelligenzen aufeinander: „Denn da alle Bestimmtheit in die Intelligenz nur durch die Bestimmtheit ihrer Vorstellungen kommt, so würden Intelligenzen, die eine ganz verschiedene Welt anschauten, schlechterdings nichts unter sich gemein . . . haben" (ebd. 543). Weltanschauung ist „das, was übrig bleibt" (ebd.), wenn alle individuellen Bestimmtheiten getilgt werden. Der Begriff hat seinen ursprünglichen Ort also in einer -*Transzendentalphilosophie, die für Objektivität unter der Bedingung unhintergehbarer Subjektivität aufkommen will und den erkennenden Weltbezug als ganzen „Weltanschauung" nennt. Im Vordergrund steht die Tätigkeit, nicht das Resultat. Wenn F.D.E. -»-Schleiermacher notiert: „In dem M a a ß als die Weltanschauung mangelhaft ist bleibt die Idee der Gottheit mythisch" und das Wissen um Gott daher erst mit der Weltanschauung „vollendet" sein läßt (Dialektik I, 38), so ist Weltanschauung Inbegriff menschlichen Weltwissens. Für Alexander von Humboldt (1769-1859) ist solches Wissen nicht mehr Metaphysik, sondern Resultat einer umfassenden physischen Weltbeschreibung, die als Theorie des Kosmos (Untertitel: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung) „Weltanschauung" heißt: diese begreift die Natur als ein zusammenwirkendes Ganzes von Kräften. Die Nähe zwischen Weltanschauung und Wissensbegriff setzt sich im Begriff der wissenschaftlichen Weltanschauung fort, den später S. -»Freud (376) geradezu emphatisch gebraucht. Der ursprüngliche Sinn löst sich in dem M a ß e auf, in dem die konstruktiven Tätigkeiten weltsetzender Subjektivität nicht mehr im Horizont einer letztbegründeten Theorie des Wissens stehen, sondern historistisch betrachtet werden. Dies setzt freilich erst ein, nachdem der Begriff bei G.W.F. -»Hegel eine herausragende Stellung erhalten hat. Der Entwurf einer Systemkonzeption, die gleichermaßen Selbstproduktion der -»'Vernunft wie objektive Totalität sein und die schlechte Entgegensetzung von Endlichem und Absolutem wie deren leere Ineinssetzung überwinden soll, gibt sich den Titel einer „unendlichen Weltanschauung" (Hegel, Differenz 47). Die entfaltete Theorie des Absoluten hebt eine bloß subjektive Weltanschauung auf, bewahrt aber die historischen Gestalten des Bewußtseins als Verkörperungen je ihres Zeitgeistes in einer „Stufenfolge bestimmter Weltanschauungen" (ders., Ästhetik 80). Das Bewußtsein für die Pluralität der Weltauffassungen - nach H.-G. Gadamer (93) erhält der Begriff erst durch Hegels Ästhetik seine plurale Prägung — bleibt indes mit einem Vollendungsanspruch verbunden. Den kritischen Sinn solcher Aufhebung entfaltet die Phänomenologie des Geistes (1807), in der „Weltanschauung" erstmals in der Überschrift eines Textes erscheint, und zwar unter dem Titel „Die moralische Weltanschauung" (Hegel, Phänomenologie III, 442ff.):

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Thema ist Kants Ethik, die Hegel in „Verstellung" und „Heuchelei" umschlagen sieht. Seine Ausführungen zur „Antinomie der moralischen Weltanschauung" sind ein Vorspiel eines ideologiekritischen Wortgebrauchs, so sehr der transzendentaltheoretische Ursprungssinn von Weltanschauung als im System erfüllt gilt. Mit W. v. -»Humboldt rückt der Begriff in den Horizont der Sprachphilosophie (-> Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie) und damit der These von der sprachlichen Erschlossenheit von Welt ein (Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues [1836]). Sprachbildung schöpft aus der sinnlichen Weltanschauung und wirkt zugleich auf die Ausbildung von Weltsichten zurück. Perspektivität wird nun das charakteristische Leitmotiv. Gibt es keinen archimedischen Punkt, der die Welt gleichsam von außen (als view front nowhere) zu betrachten erlaubt, so werden Weltanschauungen in konstitutiver Pluralität zum Ausdruck je kontingenter Standorte und ihrer Interpretationsleistungen. An die Stelle der wissenstheoretischen These, „in der objectiven Weltanschauung" sei „keiner Person" (Johann Gottlieb Fichte, Berliner Vorlesung von 1813, zitiert nach H.G. Meier 109), Individualität finde sich also nur am Ort der inneren, nicht der äußeren Anschauung, tritt allmählich die Auffassung, jedes Individuum präge seine eigene Weltanschauung aus. Der Begriff wechselt die Fronten. Ableger der ursprünglichen Bedeutung begegnen gleichwohl auch noch im 20. Jh. So gebraucht H. Gomperz, an die Formierungsphase des Begriffs noch einmal anknüpfend, „Weltanschauungsphilosophie" als Synonym für „Kosmostheorie". In der Weiterentwicklung der Sprachphilosophie ist das Interesse am sprachlichen Weltzugang in Positionen präsent, die sich gegen einen realistischen Bedeutungsbegriff wenden, also z. B. den Gebrauch eines Wortes als Übereinstimmung in der Lebensform begreifen, durch die wir etwas als etwas sehen (L. -»Wittgenstein), oder die in den symbolischen Formen je prägnante Weltsichten (Ernst Cassirer [1874-1945]) erkennen. Die menschlichen Symbolsysteme sind ebensoviele Varianten des „worldmaking" (Goodman) bzw. Ausdruck eines „world-view". Aufgrund der Verwandtschaft von transzendentalphilosophischem und kunsttheoretischem Ästhetikbegriff bleibt auch die Deutung des Kunstwerks als eines Ausdrucks der Weltanschauung aktuell. Sie verkürzt sich nicht auf die Vorstellung, Kunst sei ein Vehikel weltanschaulicher Überzeugungen des Künstlers (vgl. den um 1850 zwischen Christian Friedrich Hebbel [1813—1863] und Julian Schmidt [1818-1886] geführten Streit; H.G. Meier 154). Vielmehr ist ästhetische Weltanschauung Darstellung von Welt. In dieser Bedeutung wird der Begriff gegenwärtig im Grenzbereich zwischen Neuro- und Kognitionswissenschaften einerseits und philosophischer Aisthesislehre andererseits wieder aufgegriffen (Breidbach). 2.2. Weltanschauung

als Deutung der Welt

Wenn F. —»Rosenzweig Weltanschauung als ,,Gedanke[n]" beschreibt, „mit dem ein individueller Geist auf den Eindruck [reagiert], den die Welt auf ihn macht" (Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1921, 116), so liegen in dieser Definition das Moment des subjektiven Ausdrucks und der Bezug auf eine vorgegebene, gemeinsame Welt noch ineinander. Übernimmt jedoch die Deutungskategorie die Führung, so verliert der Anschauungsbegriff seinen Außenhalt. Weltanschauung wird zum Inbegriff von Überzeugungen, praktischen Einstellungen und Lebensorientierungen. Als Haltung oder Gesinnung verschafft sie Gruppen (vgl. -»Monismus/Monistenbund; Eucken-Bund, nach Rudolf Eucken [1846-1926]) oder Parteien eine innere Einheit durch äußere Abgrenzung. Die von M . -»Weber (167f.) beschriebenen „Weltanschauungsparteien" rekrutieren Wählerstimmen durch die Befriedigung gesinnungsbezogener Identifikationsbedürfnisse. Das Interesse an Weltanschauung soll hier den Sinndeutungsmangel kompensieren, den ein naturalistischer bzw. positivistischer Wissensbegriff oder die gesellschaftliche Vorherrschaft zweckrationaler Einstellungen erzeugen. Wer Weltanschauungsfragen aufwirft, polemisiert in der Regel gegen eine als bloß formal begriffene Rationalität „gesinnungsloser" Wissenschaft zugunsten fundamentaler Orientierungen, die dann auch

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„Lebensanschauung" genannt werden können. Ist die Weltanschauung vor allem Ausdruck für eigenes Erleben, so löst sich der ursprüngliche Begriff vollständig in ein Syndrom auf, das nur mentalitätsgeschichtlich, ideenpolitisch oder wissenssoziologisch beschrieben werden kann. Vor allem die Usurpation des Begriffs Weltanschauung durch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei macht den vorwurfsvollen Ton verständlich, der sich heute in die Verwendung des Begriffs mischt. Galt er früher dem gänzlichen Mangel an Weltanschauung, so richtet er sich heute gegen weltanschauliche, d.h. ideologische Elemente. 2.3.

Weltanschauungsphilosophie

Anders stellt sich der Begriff einer Weltanschauungsphilosophie dar. Diese will nicht selbst weltanschaulich sein, sondern in quasi-objektiver Einstellung eine Typologie möglicher Weltanschauungen beschreiben. Bei W. —»Dilthey (Wesen; ders., Bewußtsein) entspringt dieses Interesse aus einer Kritik an der Reduktion von Philosophie auf Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre. Das Leben bzw. die durch Gefühl, Trieb und Willen gesättigte Lebenserfahrung sind die Wurzeln der Weltanschauung als einer Totalansicht, auf die der menschliche Geist hindrängt. Kann kein Erkennen das Leben hintergehen, so stehen die Haupttypen metaphysischer und religiöser Weltanschauungen „selbstmächtig, unbeweisbar und unzerstörbar nebeneinander" (Dilthey, Bewußtsein 86f.). Sie sind historisch und psychologisch zu beschreiben und zu klassifizieren: als religiöse, dichterische und philosophische Weltanschauung, aber auch als Naturalismus, subjektiver und objektiver Idealismus. Solche philosophische Selbstbesinnung am Leitfaden des Weltanschauungsbegriffs hält sich im Medium geschichtlicher Relativierung. Deshalb bringt E. —»Husserl Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) in Kontraposition zur Weltanschauungsphilosophie, die in ihrer historistisch-psychologistischen Wendung Begründungsfragen sistiere und insofern das Verfallsprodukt einer skeptisch gewordenen nachhegelschen Generation sei: die Weltanschauungsphilosophie kokettiere mit Hegels Einsicht in die relative Berechtigung jeder Philosophie für ihre Zeit, gebe aber den Begriff absoluter Philosophie auf. Heinrich Rickert (1863-1936) nimmt dagegen den Weltanschauungsbegriff insofern positiv auf, als er ihn zur Bezeichnung einer vortheoretischen, auf letzte Fragen des Menschen zentrierten Einstellung gebraucht. Philosophie muß in der Differenz von Weltwissen und Lebensweisheit verbleiben, also zwischen einem Positivismus der Wissenschaften und einem „Weltanschauungsgerede, das sich auf Glauben, Eingebung, Intuition oder .Ahndung' stützt" (Rickert 35) hindurchkommen. Daher soll sie ein formales Wertesystem ausbilden. Eine Psychologie der Weltanschauungen (1919) unterscheidet K. -*Jaspers sowohl von einer „prophetisch" genannten Philosophie (Bedenken gegen diese Wortwahl in der 4. Auflage 1954), die polemisch oder affirmativ die ihr richtig erscheinende Weltanschauung vorträgt, als auch von einer Historie, die Weltanschauungen inhaltlich in ihren zeitlich-kulturellen Zusammenhängen darstellt. Sie will weltanschauliche Gestalten psychologisch begreifen, aber auch systematisch entwickeln, und zwar als Einstellungen, als Weltbilder und als Geistestypen unter den Gesichtspunkten Echtheit, Formalisierung, Differenzierung und Verabsolutierung. Wirkmächtig erwies sich dabei Jaspers Rede von den Grenzsituationen, in denen sich die Auflösung traditioneller Weltanschauungen vollziehe und in denen die individuelle Existenz ihre Entscheidung treffen müsse. Die dabei Halt gebende Kraft nennt Jaspers Glaube. 2.4. Religion und

Weltanschauung

Es macht einen Unterschied, ob man mit dem älteren Begriff in der Religion eine Weltanschauung verkörpert sieht oder ob man Religion und Weltanschauung identifiziert. Geschieht letzteres, so meint Weltanschauung nicht nur Weltsicht oder wertorientierte Lebenshaltung, sondern darüber hinaus eine letzte Einstellung, mit der ein symbolisches Universum als Grund der Welt wie des menschlichen Handelns repräsentiert

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wird. Besteht Äquivalenz hinsichlich ihrer sinnsetzenden Funktionen, so kann sowohl jede Weltanschauung „religiös" genannt werden, wie auch Weltanschauung als quasisäkulare Alternative zu den historischen Religionsgestalten erscheinen. Das eine zeigen die verfassungstheoretisch-religionspolitische Rede von der weltanschaulichen Neutralität des Staates (ein theologisches Beispiel bei K. -»Barth, Rechtfertigung und Recht, Zollikon 1938, 42) und die nach dem Ersten Weltkrieg eingerichteten „Weltanschauungsprofessuren", die vor allem der akademischen Repräsentation des Katholizismus in Deutschland dienen sollten (beispielhaft R . -»Guardini, Vom Wesen katholischer Weltanschauung, Basel 1953). Das andere gilt z . B . für die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen (1950), die den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach in allen Schulen macht - „mit Ausnahme der Weltanschauungsschulen". Diese heißen also in dem Sinne des Wortes „weltanschaulich", daß sie Freiheit von jedem religiösen Bekenntnis reklamieren. Dieselbe Intention artikuliert das im Land Brandenburg eingeführte Fach Lebensgestaltung - Ethik - Religion (LER) unter dem Titel weltanschaulich neutraler Religionskunde. Offenbar kann die unverzichtbare Neutralität des Staates sowohl die Gleichsetzung von Religion und Weltanschauung erforderlich machen als auch ihre bewußte Entgegensetzung anerkennen. Selbstbeschreibungen von Positionen, die sich als atheistisch-religionslos begreifen, bedienen sich daher des Titels Weltanschauung, so sehr eine funktionale Religionstheorie solche Trennschärfe unterläuft. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß in den Niederlanden der Studienbereich „Religious Studies" jüngst offiziell in „ T h e Study of Religions and Life Views" umbenannt wurde.

3. Weltanschauung

als Thema der

Theologie

3.1. Der ursprüngliche Bedeutungssinn des Wortes kommt in der protestantischen Theologie dort am prägnantesten zum Ausdruck, wo der christliche -»Glaube in Kontraposition zur Weltanschauung gebracht wird. Für R. -»Bultmann ist Weltanschauung „eine Theorie über die Einheit der Welt, bzw. über Mensch und Welt als Einheit, über Entstehung und Zweck der Welt" (Bultmann, Enzyklopädie 104f.). Diese „spricht sich in allgemeinen Wahrheiten aus", deren zeitlose Gültigkeit von der Geschichtlichkeit der Existenz abstrahiere und darum im Modus der Vorhandenheit fundiert sei. In jeder dieser Hinsichten ist Bultmann zufolge Weltanschauung „dem Glauben . . . entgegengesetzt" (ebd.), ja als Existenzentlastung Teil desjenigen Fluchtverhaltens und Selbstsicherungsbedürfnisses, das theologisch als Sünde erscheint — auch und gerade dann, wenn eine solche Weltanschauung religiös, theistisch oder genuin christlich sein will. Nicht ganz unähnlich erscheint die Bemerkung Robert Musils ( 1 8 8 0 - 1 9 4 2 ) , „daß alle Religionen in der Erläuterung des Lebens . . . einen irrationalen, unberechenbaren Rest vor[...]sehen . . . , den sie Gottes Unerforschlichkeit nannten; ging dem Sterblichen die Rechnung nicht auf, so brauchte er sich bloß an diesen Rest zu erinnern, und sein Geist konnte sich befriedigt die Hände reiben. Dieses Auf die Füße Fallen und Sich die Hände Reiben nennt man Weltanschauung" (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frise, Reinbek 1978, 520).

Vor diesem Hintergrund erhält der Begriff zentralen Stellenwert in Bultmanns Auseinandersetzung mit dem sog. naturwissenschaftlichen Weltbild, das durch Einheit am Leitfaden des Kausalgesetzes der mythischen Vorstellung vom Eingreifen transzendenter Mächte in den Weltlauf ein Ende bereitet. Deshalb definiert sich Bultmanns Programm über den Weltanschauungsbegriff: „Entmythologisieren heißt verneinen, daß die Botschaft der Schrift und der Kirche an eine alte, veraltete Weltanschauung gebunden ist" (Bultmann, Jesus Christus 156). Weltanschauung ist als Inbegriff objektiven Weltwissens freilich insoweit legitim, als die Welt durch den Rechtfertigungsglauben erst wahre Profanität erhält und zu einem Gebiet menschlichen Handelns wird. Da die Welt als die uns verfügbare Arbeitswelt ohne „Vorstellung der Natur" nicht bearbeitet werden kann (ders., Frage 224f.), gilt auch hinsichtlich der Weltanschauung der in Anlehnung an I Kor 7,29ff. formulierte paradoxe Status entweltlichten In-der-Welt-Seins: „Die da eine moderne Weltanschauung haben, sollen leben, als hätten sie keine" (ders., Jesus Christus 189). Bultmanns auf breiter Front vorgetragene Entgegensetzung von Glaube und Weltanschauung schließt allerdings nicht aus, daß der Glaube seinen eigenen „Blick in die

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Welt" wirft, der z. B. ihrem Schöpfungscharakter gilt (ders., Jesus Christus 225; vgl. zum Zusammenhang auch: ders., Geschichte 176ff.). Mit seiner Frontstellung gegen den Weltanschauungsbegriff, die ihre Vorformen bei M. -»Rade und W. -»Herrmann hat, partizipiert Bultmann an der Umformung des christlichen Glaubens in der Neuzeit. Insofern diese durch die Entfaltung der Naturwissenschaften und (am Ende des 19. Jh.) auch der historischen Wissenschaften nötig wurde, fokussieren sich die diesbezüglichen Probleme auf den Begriff der Weltanschauung. Gelingt es nicht mehr, die Infragestellung des Glaubens durch die Wissenschaften mit dem Hinweis auf die durch die Wissenschaften angeblich heraufbeschworene materialistische, deterministische, atheistische und darum letztlich unsittliche Weltanschauung abzuwehren, und soll die Antithetik zwischen der „neuen, modernen Weltanschauung" und der „christlich-kirchlichen Weltanschauung" auch nicht nach dem Vorbild von D.F. -»Strauß (Der alte und der neue Glaube, Leipzig 1872) durch eine Substitution des mit einer antiken Weltanschauung identifizierten christlichen Glaubens durch zeitgenössische Weltanschauung beendet werden, so bleibt nur die Neutralisierung des Problems der Weltanschauung. Einen entsprechenden Effekt haben Strategien, die auf der Vereinbarkeit des christlichen (näherhin: römisch-katholischen) Glaubens mit unterschiedlichen Weltanschauungen bestehen (vgl. Söhngen). Auch K. -»Barth vollzieht eine Abgrenzung zwischen der christlichen Schöpfungslehre (-»Schöpfer/Schöpfung) und der „Lehre aller Weltanschauungen", und zwar hinsichtlich ihres Ursprungs, ihres Gegenstandes und ihres Erkenntnisweges: „das göttliche Schaffen . . . kann nämlich nie der Gegenstand einer Weltanschauung werden" (KD III/l, 390). Aber dies besagt für Barth nicht, daß das „Problem des reinen Werdens", das bisher von ontologisch oder noologisch entworfenen Geneseologien vernachlässigt worden sei, nicht „faktisch in ihrem Blickfeld" liege. Die Abgrenzung rechtfertige insbesondere nicht die Annahme, es sei jeder zukünftigen Weltanschauung prinzipiell unmöglich, ein „mindestens diskutables Äquivalent" zur Lehre von der Schöpfung zu formulieren: „größte Teilnahme und . . . gespannteste Aufmerksamkeit" verspricht Barth deshalb der weiteren Entwicklung „weltanschaulicher Fragen" (ebd. 391). Freilich wäre es das Schicksal einer solchen als Kosmologie, als „Anschauen und Begreifen des Kosmos" (ebd. 393) definierten Weltanschauung, daß sie im M a ß ihrer Vollendung „aufhören" würde, „bloß Weltanschauung zu sein; sie müßte an der entscheidenden Stelle mit der christlichen Lehre von der Schöpfung identisch werden" (ebd. 392). Da letztere ihr besonderes Thema in der als Wohltat erkannten Schöpfung hat, geht sie unabhängig von solchen Möglichkeiten ihren eigenen Erkenntnisweg, ohne selbst Weltanschauung zu werden oder eine solche zu stützen (ebd. 393; zu Barths Beurteilungen der anderen Bedeutungsebenen vgl. unten 3.2.).

Die Beobachtung, daß sich im Streit um Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Theologie, Naturwissenschaft und Theologie (Berlin 1904) anbahnt, wird man den Bemühungen K. -»Heims um eine einheitliche Weltanschauung zugute halten können. Im übrigen aber malt Heim mit breitem Pinsel ein Bild der abendländischen Tradition, die aufgrund ihrer perennierenden Subjekt-Objekt-Spaltung in Dichotomisierungen ende, welche in einen höheren Monismus zu überführen auch noch das Ziel des Hauptwerkes Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart (1931-1952) - mit dem Untertitel „Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung" — ist. Daß Heim die „Entwicklung der Weltanschauungsproblematik zu einem Höhepunkt" geführt habe, der „gleichzeitig als ihr Abschluß begriffen werden kann" (Neukirch 184), dürfte nicht jedem einleuchten. E. Herms möchte - gegebenfalls unter Preisgabe des Ausdrucks „Weltanschauung" - an der „ursprünglich damit bezeichnete[n] Sache" festhalten, da diese für den christlichen Glauben unverzichtbar sei: „Eines einheitlichen systematischen Zusammenhangs kritisch-rationaler Welterkenntnis" bedarf der Glaube, wenn anders er „seinen nicht beliebigen, sondern wahren und nicht privaten, sondern öffentlichen Charakter" begreifen und „sein Verpflichtet- und Befähigtsein zu kritisch-rationaler Weltanschauung" als „Konsequenz seines Gottesgedankens" anerkennen will (Herms 142). Weltanschau-

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ung wird dabei als „vernünftige Welterkenntnis ü b e r h a u p t " (ebd. 143) definiert. Der E i n d r u c k eines fundamentalen Gegensatzes zu Bultmann s c h w ä c h t sich insofern ab, als sich der Anspruch auf Weltanschauung nur decken läßt, indem erneut Subjektivität als methodischer Dreh- und Angelpunkt dient. Auf die Weltanschauungsproblematik ist die Theologie nämlich in der Weise bezogen, daß sie als transzendental-theologische Reflexion G o t t als „den Grund aller Möglichkeiten vernünftiger E r k e n n t n i s " (ebd.) zur Geltung bringt. Von bloßer Beschreibung eines Selbstverständnisses unterscheidet sich die Position durch ihren kategorialen Anspruch: Weil der christliche Glaube als Rechtfertigungsglaube „alle kategorial möglichen Wissensgebiete: Sowohl das Reich der N a t u r als auch das Reich der sinnhaften Freiheit in ihrer jeweiligen Gliederung" erschließe, sei er: „ W e l t - a n s c h a u u n g " ( H ä r l e / H e r m s 137). Aus der Kombination von kategorialer Anschauung und unter ihr gewinnbarem Erfahrungswissen erwächst so Weltanschauung als „ Z u s a m m e n f a s s u n g von vernünftigen . . . Kenntnissen über die Welt im einzelnen und ganzen, die lebenspraktisch wirksam und gleichzeitig rational korrigierbar i s t " (ebd.). Dieser bewußte Rückgriff auf die transzendentalphilosophische Herkunft des Begriffs (nicht: auf Kants eigene, bescheidenere Position) verbindet sich mit einer historischen These. Herms appliziert die von H.G. Meier (179.196.226 u.ö.) herausgearbeitete Differenz zwischen ursprünglichem Weltanschauungsbegriff und dessen Degeneration zum Inbegriff subjektiver Einstellungen auf die protestantische Theologie des 19. Jh., und zwar auf die beiden Protagonisten einer theologischen Rezeption des Weltanschauungsbegriffs, auf Schleiermacher und A. —•Ritschi. Jener schaffe den dem Einführungssinn entsprechenden „Fußpunkt", dieser stelle eine „Wendemarke" dar (Herms 123), die in eine Verfallsgeschichte münde, zu der auch die Weltanschauungskritik der dialektischen Theologie gehören soll. H e r m s ' theologische Rehabilitierung des Weltanschauungsbegriffs ist insofern Bestandteil einer systematischen Schleiermacherinterpretation. In der T a t erhält der Begriff bei Schleiermacher eine zentrale religionstheoretische Stellung. Dies zeigt vor allem die erste Auflage der Reden über die Religion (1799). (In den Monologen von 1 8 0 0 spricht Schleiermacher dagegen von „ W e l t a n s i c h t " , ein Begriff, der deutlicher an der später mit „ W e l t a n s c h a u u n g " konnotierten subjektiven Einstellung orientiert ist.) N a c h der dritten R e d e finden sich im Bewußtsein drei verschiedene Richtungen des Sinns: „ n a c h innen zu auf das Ich selbst, die andere nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung und eine dritte, die beides verbindet" (Schleiermacher, Reden 129). M i t diesen drei Richtungen sind (in anderer Terminologie gesprochen) innerer, äußerer und ästhetischer Sinn gemeint. Jede Sinnrichtung fundiert eine eigentümliche Religionsgestalt. So entspricht dem Ausgang von der Ichanschauung der ,,morgenländische[n] Mysticismus" und der ästhetischen Erfahrung die Kunstreligion. „Von der Weltanschauung" aber „ging jede Religion aus, deren Schematismus der Himmel war oder die organische Natur". Als historisches Beispiel nennt Schleiermacher „das vielgöttrige Ägypten", in dem sich „die reinste Anschauung des ursprünglichen Unendlichen und Lebendigen" habe bilden können (ebd. 130). Religion und Weltanschauung werden also nicht identifiziert. An der Wandlung der Weltanschauung wird festgehalten, und ihr Einfluß auf die Ausbildung religiöser Vorstellungen wird betont (ohne eine gegenläufige Beeinflussung zu bestreiten). Als Urphänomen der Weltanschauung gilt die Betrachtung des (Nacht-)Himmels als Darstellung der sinnlich nicht erfaßbaren Idee der Unendlichkeit, aber auch das Lebendige und seine Kräfte. Der Begriff der Weltanschauung steht damit in sachlicher Nachbarschaft zu Kants Analyse des Erhabenen, in deren Kontext die terminologische Prägung ursprünglich erfolgte. Erst abgeleitet wird Weltanschauung zum Inbegriff erkennender Weltbetrachtung, die sich auf dem Weg vom „rezeptiven Chaos zur Weltanschauung" entwickelt (Schleiermacher, Erziehungslehre 622) und mit deren Vollendung auch die Gotteserkenntnis erst vollständig wird (s.o. 2.1.). Daß in den Reden Schleiermachers (81) der Begriff des ,,Anschauen[s] des Universums" als „allgemeinste und höchste Formel der Religion" gilt, darf nicht zu Verwechslungen mit dem Begriff der Weltanschauung Anlaß geben, nimmt diese Anschauung doch alles Beschränkte als Darstellung des Unendlichen (ebd. 82). Religion ist nicht in der Anschauung für sich, sondern erst in ihrer Beziehung zu dem fundiert, was Schleiermacher Gefühl nennt.

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Steht Schleiermachers Weltanschauungsbegriff paradigmatisch für dessen ursprünglich theoretische Komponente, so läßt sich im Ausgang von ihm zusammenfassen, welche Probleme sich der Dogmatik hier stellen. Diese ergeben sich im Verhältnis von a) Theologie und empirischer Wissenschaft, b) Schöpfungsglaube und Kosmologie, c) Wahrnehmung und Perspektivität, d) Weltbildwandel und Religion und e) individuellem und allgemeinem Weltzugang. Ob es glücklich ist, diese Fragen unter dem Titel „Weltanschauung" zu behandeln, kann dahingestellt bleiben. Häufig wird er durch den weniger belasteten Begriff „Wirklichkeitsverständnis" ersetzt (vgl. Härle/Herms). 3.2. Nennt man diejenigen Annahmen über die -»Wirklichkeit, die unsere handlungsleitenden Einstellungen strukturieren, „weltanschauliche Gewißheiten" (Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der evangelischen Kirche, Berlin/New York 1997, 162), so ist damit erneut ein Verhältnis von Weltanschauung und Ethik im Blick. Die Rolle solcher Annahmen über die Wirklichkeit ist allerdings nicht so zu verstehen, als sollten ethische Normen aus empirischem Faktenwissen gewonnen werden. Der Begriff eines handlungsleitenden Wirklichkeitsverständnisses unterliegt also nicht dem Verdikt eines Übergangs vom Sein zum Sollen angesichts einer vorausgesetzten Disjunktion von Fakten und Werten. Die Rehabilitierung des Weltanschauungsbegriffs in praktischer Absicht stellt vielmehr die Vollständigkeit dieser Disjunktion gerade in Frage. Sie ist ein Symptom eines naturalistisch verengten Wirklichkeitsbegriffs. Erst wenn man die Welt nicht auf „alles, was der Fall ist", reduziert, erst wenn auch die Rede von Handlungs- und Lebenswelten einen spezifischen Sinn erhält, ergibt sich dasjenige Verhältnis von Praxis und Weltanschauung, das hier gemeint ist. In diesem Sinne will T. Rendtorffs Ethik die ethische Lebensführung auf ihre Wirklichkeitsgemäßheit befragen. Denn: „Eine Ethik impliziert immer eine Welt" (Rendtorff 77). Daraus folgt für das methodische Vorgehen: „Der Aufbau der Ethik verläuft von der Faktenkenntnis zur Errichtung einer Weltsicht" (ebd. 80). Die spezifische Weltsicht, auf die Rendtorff hinauswill, baut sich theologisch auf, da die Ethik eines unbedingten, mit der Annahme des eigenen Lebens zusammenfallenden Ja zur Wirklichkeit bedürfe, dies aber nur unter einem Verständnis der Welt gewinnen könne, „das den der Sünde des Menschen gegenüber resistenten Bestand zum Inhalt hat". Ein solches Verständnis begreift die „Welt als Welt Gottes" (ebd. 94). Soll die Art und Weise, wie uns Welt erschlossen ist (wie wir sie sehen), konstitutiv sein für die Beantwortung ethischer Fragen, so bewegen wir uns im Umfeld des Weltanschauungsbegriffs, so sehr das Wort vermieden sein mag. Umstritten bleibt, wie ein solcher Aufbau der Ethik einzuschätzen ist. Ersetzt er im Ausgang von der formalen, wissenssoziologisch ausweisbaren Einsicht in den Zusammenhang von Weltbild und ethischer Urteilsbildung jede Verständigung über Begründungsfragen bzw. jede auf Allgemeinheitsfähigkeit abzielende Rechtfertigung subjektiver Maximen durch die Artikulation letztlich nicht-rationaler Gesinnungen? Dann würde der Umweg über den Begriff einer perspektivisch gebrochenen, individuellen Weltsicht zu einem emphatischen Bekenntnis der eigenen (christlichen) Weltanschauung zurückführen, wie es für die älteren Weltanschauungsdebatten charakteristisch war (ein markantes Beispiel, das den Mangel an argumentativer Einsehbarkeit durch exemplarische Überzeugungskraft auszugleichen versucht, ist A. -»-Schweitzers Ethik, in der der Weltanschauungsbegriff gleichsam omnipräsent ist und die sich als „Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben" im Dienst der ,,große[n] Aufgabe des Geistes" sieht, „Weltanschauung zu schaffen ... Nur wenn wir zu einer Kulturweltanschauung gelangen, sind wir der zu einer Kultur erforderten Ideen, Gesinnungen und Taten fähig"; Schweitzer 63). Oder ist das Abgleiten ethischer Kontroversen ins Weltanschauliche deshalb vermieden, weil der Begriff der impliziten Weltsicht auf ontologische oder intersubjektiv ausweisbare Voraussetzungen von Handlungen verweist (z. B. an Güter und Institutionen, kurz an den Begriff des objektiven Geistes gebunden bleibt)?

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Wo diese Frage nicht selbstkritisch bearbeitet wird, baut sich jene Gleichsetzung von Weltanschauung mit Gesinnung auf, die den Begriff der philosophischen und theologischen Diskussion entfremdet hat. Theologiegeschichtlich hebt diese Entwicklung mit A. Ritschis Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (18701874) an. Nach Ritsehl ist es die Eigenart der Religion, zwischen Gottesgedanken, Weltanschauung und Selbstbeurteilung zu vermitteln. Der Glaube an die „väterliche Vorsehung Gottes" ist „die christliche Weltanschauung in verkürzter Gestalt": sie ist Beurteilung unserer „Lage zur Welt gemäß unserer Erkenntnis der Liebe Gottes" (Ritsehl, Unterricht § 60). Diejenige Anschauung der Welt, die sich selbst schon einem praktischen Interesse, einer Ausrichtung auf das Reich Gottes (ebd. §§ 5.12), verdankt, ist durch ihren Freiheitsbezug ausgezeichnet und insofern jeder empiristisch-deterministischen Weltinterpretation überlegen. Weltanschauung ist insofern praktische Sinnstiftung angesichts einer von Haus aus sinnindifferenten Welt. Sie ist subjektive Weltinterpretation. Aufgrund ihres dezisionistischen Charakters vermag sich solche Weltanschauung von Ideologie nicht zu unterscheiden. Wird die Subjektivität des Wert setzenden Urteilens einseitig und abstrakt, so schlägt sie in ein bloßes Meinen um, das beliebige Inhalte transportiert. Zugleich verliert der Begriff seine Prägnanz durch den inflationären Gebrauch, den der -»Nationalsozialismus (vgl. Alfred Rosenbergs [1893-1946] Antrittsrede Der Kampf um die Weltanschauung vom Februar 1934) und der Marxismus-Leninismus (-»Marx/Marxismus) von ihm machen. Vor dem Hintergrund dieser Weltanschauungssemantik erklärt sich der Protest der dialektischen Theologie gegen die Bindung des Wortes Gottes „an eine eigenmächtig gebildete Weltanschauung" (Barth 17). Noch die Frage der Kirchlichen Dogmatik, wie das Verhältnis von Schöpfungsglaube und kosmologischem Diskurs entwickelt werden soll, ist daher von der Überzeugung geprägt: „Eine recht belehrte exakte Wissenschaft hat aber mit der recht belehrten theologischen Wissenschaft... dies gemeinsam, daß sie als solche keine Weltanschauung in sich schließt. Sie begnügt sich damit, Phänomene festzustellen . . . Sie entfaltet keine Ontotogie des Kosmos" (KD III/2, 12). Theologische Kritik der Totalitätskategorie geht denn auch stets in Reserve zum Weltanschauungsbegriff, so daß ideologisierte Formen des Christentums geradezu durch ihren Anspruch auf absolute Wahrheit in Weltanschauungsfragen identifiziert werden können (so Rieh 119). Diese Abgrenzung trifft jedoch nicht solche Positionen der systematischen Theologie, die eine „Gesamt-Weltanschauung" entwerfen wollen oder einen entsprechenden Entwurf einfordern, ohne in Abrede zu stellen, daß dies nur „mit dem Anspruch hypothetischer Geltung" gelingen kann (so Wobbermin 423). Das Argument lautet dann: so wenig der christliche Glaube (bzw. die Religion) mit Weltanschauung identifiziert werden kann, so wenig kann er auf die Erörterung von Weltanschauungsfragen verzichten. Nach H. Stephans Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung (1921) werden die Eigenart und die Selbständigkeit der Religion falsch gedeutet, wenn man ihr einen solchen Verzicht abverlangt. Zwar komme das apostolische Bekenntnis ohne besondere Sätze über die Welt aus, aber auf dem Wesen des Glaubens baue sich nicht nur die Erkenntnis des überweltlichen, zeitüberlegenen Offenbarungswirken Gottes auf, sondern auch, gleichsam als ein weiteres Stockwerk, ein Bereich, in dem sich der Glaube die fremde Religion, das allgemeine Geistesleben und das Weltganze spezifisch erschließt. Die Glaubenslehre wird daher auf ihrer Außenlinie Weltanschauungslehre (Stephan 17). Diese artikuliert auf der Basis der GlaubensertkewHiw« auch Glaubensgedanken, die einen inferioren Gewißheitsstatus haben, aber dennoch unverzichtbar sind. Weil der Glaube in der Welt lebt, muß er auch versuchen, diese sub specie der eigenen Erkenntnis zu verstehen. Freilich ist Weltanschauung stets „Glied der praktischen Stellungnahme in der wirklichen Welt; sie ist nicht ein ,Bild', das wir genießen, noch ,System', sondern Auswirkung des lebendigen Glaubens in den jeweiligen, bestimmte Entscheidung (!) fordernden Kämpfen des geistigen Lebens" (ebd. 270). Weltanschauungsgehalte liegen nach Stephan schon in der altkirchlichen Trinitätslehre (ebd. 245), erst recht formen Wissenschaft, Ästhetik und Religion je eigentümliche Weltbegriffe (ebd. 264). Das

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wissenschaftliche, stets ein Torso bleibende (ebd. 267) Weltbild ist von Weltanschauung scharf zu unterscheiden (ebd. 264f.), es strebt aber „über sich selbst hinaus nach Gewißheit, Einheit, Inhalt, d.h. nach Weltanschauung" (ebd. 268). Der Mangel des wissenschaftlichen Weltbildes besteht darin, den Bedarf an „Wirklichkeits- und Sinngewißheit" zu erhöhen, ohne ihn befriedigen zu können (ebd. 269). Dagegen ermöglicht der Glaube weltanschauliche Gewißheit, ohne selbst wissenschaftlich fundiert und abgeleitet zu sein. Darum aber zieht er auch schon „alle anderen Versuche einer Weltanschauung, religiöse wie nichtreligiöse, in „[sein] eigenes Ringen hinein", und zwar in der „Spannung von Bejahung und Kritik ... in einem" (ebd. 269). Dieser unabgeschlossene Grundzug wird erst am Ende des Buches von der Uberzeugung abgelöst, der christliche Monismus sei jeder anderen Weltanschauung überlegen (ebd. 387). (Martialischer spricht E. -»Troeltsch vom „geistigen Schlachtfeld der Gegenwart, auf welchem die großen Weltanschauungen um die Herrschaft über die Gemüter kämpfen" und sich die christliche Weltanschauung als „an Kraft und Tiefe unübertroffene Antwort" erweise [Troeltsch 324.326]). Man wird den Einwand schlecht unterdrücken können, daß auch Stephans, eher am Recht der Weltanschauungsfragen als an der Statuierung von Weltanschauung interessierte, auf „Kulturvertiefung" durch „Weltanschauungsarbeit" (Stephan 271) abzielende Denkbewegung zuletzt wiederum weltanschaulich wird. 3.3. Die theologische Resistenz der Weltanschauungsproblematik gegenüber der Verabschiedung des Weltanschauungsbegriffs verdankt sich der Verbindung mit dem Sinnund Deutungsbegriff. Der Gegensatz zwischen mathematisch-physikalischer Welt und der —• Lebens weit markiert den Bedeutsamkeitsbedarf des Menschen, der nur in verschiebbaren Horizonten gedeckt werden kann. Als animal symbolicum (E. Cassirer) repräsentiert der Mensch seine Welt in einer Pluralität von symbolischen Formen. Religion hat es nicht nur mit der Erzeugung solcher Deutungen und Symbolsysteme zu tun. In ihr wird die Deutung reflexiv und unter Umständen kritisch. Die unhintergehbare Pluralität der Symbolsysteme muß gewahrt, aber auch vor wechselseitiger Immunisierung bewahrt werden. Die Weltanschauungsfrage stellt sich daher stets in einem doppelten Sinn: als Frage nach der nicht allein durch Anschauung fundierbaren jeweiligen Interpretation und Darstellung von Welt, aber auch als Frage nach der Wahrheitsfähigkeit und rationalen Rekonstruierbarkeit solcher Deutungssysteme. Wie läßt sich der durch Zeicheninterpretation imprägnierte Weltzugang vermitteln mit der intersubjektiven Korrigierbarkeit von Deutungen? L. Wittgenstein notiert in Über Gewißheit (§ 94): „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide." Dies zuzugeben, besagt jedoch nicht, sich einer überkommenen (traditionalen) Mythologie einfach auszuliefern: „Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben" (ebd. §97). Das Verhältnis von konstitutivem Hintergrund (Weltsicht) und faktisch Gesehenem wird von Wittgenstein als ein Verhältnis von Festem und Beweglichem gedacht, aber als eines, das selbst beweglich bleibt. Dem entspricht es, daß die theologischen Wahrheitsmomente, die sich um den älteren Weltanschauungsbegriff gruppieren, heute vor allem unter der Frage nach der Veränderungsdynamik religiöser Weltsichten bearbeitet werden. Kontinuität und Umbruch in der Entwicklung der Weltbilder (Dux), Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen der -•Moderne und der von ihr als Prämoderne oder —•Postmoderne unterschiedenen Zeit, historische Analysen von Epochenschwellen und ihren spezifischen Semantiken werden zum Kontext theologischer Analysen der Weltanschauung. Insofern darf vermutet werden, daß die Begriffe „theologische Weltdeutung" (Honecker 11; vgl. Colpe) bzw. „christliches Wirklichkeitsverständnis" diejenigen Nachfolgebegriffe der älteren Weltanschauung sind, die es erlauben, den einst inflationären Wortgebrauch zu deflationieren, ohne den Problembestand abzubauen. Quellen Karl Barth, Lutherfeier 1933, 1933; repr. 1980 (TEH 4). - Rudolf Bultmann, Theol. Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984. - Ders., Jesus Christus u. die Mythologie: ders., GuV IV, 141-189. - Ders., Zur Frage des Wunders: ebd. I, 214-228. - Ders., Gesch. u. Eschatologie, Tübingen 1958. - Wilhelm Dilthey, Das Wesen der Phil. (1907): ders., GS,

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III/2. Kirchengeschichtlich (Neuzeit) (Quellen und Literatur S. 558)

1. Die Karriere und Vieldeutigkeit des Weltanschauungsbegriffs (s.o. III/l.) resultiert nicht zuletzt aus seiner kulturellen und politischen Verallgemeinerung. Der theoretische Diskurs in Deutschland wurde spätestens seit den 40er Jahren des 19. Jh. mit politischen Zielsetzungen sowie grundlegenden Sinn- und Orientierungsbedürfnissen breiterer Bevölkerungsschichten verknüpft. Aus dem Streit der Philosophen und dem Indifferentismus weltanschaulicher Gesinnung erwuchs das Prinzip der „Parteiung", das über den Vermittlungsweg der wissenschaftlichen und „Religionsparteiung" zur Herausbildung sog. „Weltanschauungsparteien" (Max Weber) und Weltanschauungsgemeinschaften führte. Eine nicht unwichtige Rolle fiel hierbei der sich in freien Vereinen außerhalb der Kirche etablierenden -»Freireligiösen Bewegung (vgl. -»Lichtfreunde und -»Deutschkatholiken) zu. Reste dieser nach der Revolution von 1848/49 in die Krise geratenen Gruppen schlössen sich 1859 im Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands (BfGD) zusammen. Sie bildeten aufgrund ihrer je eigenen vernunftreligiösen Überzeugungen, die bei einigen ihrer Prediger von einem modernisierten Katholizismus und aufklärerischen Protestantismus bald bis zu -»Materialismus und -»Atheismus reichen konnten, die inhaltlichen und organisatorischen Ursprünge der späteren „Weltanschauungsbewegung". Im Kaiserreich nahm die Ausdifferenzierung alternativer Weltanschauungen im Sinne grundlegender, quasi-religiöser Lebensorientierungen stark zu. Seit den 1860er/70er Jahren avancierte die Arbeiterbewegung (-» Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte), sofern sie sich in ihrer sozialdemokratischen Variante von bürgerlicher Kultur und Religion dezidiert abwandte und ihrer Klientel eine alternative geistig-kulturelle Heimat schuf, zu einer wichtigen „Weltanschauungsbewegung". Spätestens seit den 1880er Jahren kamen weitere Impulse aus der „Gebildetenreformbewegung". Deren Ziele reichten von kulturliberalen und kulturnationalen politischen über sozialethische, pädagogische, ästhetisch-künstlerische, naturverbundene, theosophisch-anthroposophische bis hin zu deutschvölkischen, vielfach diffusen, religiös-ideologisch aufgeladenen Reformprojekten. Die Weltanschauungen basierten auf Elementen eines naturwissenschaftlich-freigeistigen, atheistisch-materialistischen, aber auch christlich-idealistischen Weltbildes. Synkretistische und eklektizistische Elemente waren konstitutiv. Langfristig folgenreich war ein optimistischer Glaube an den naturwissenschaftlichen Fortschritt, der in Industrie und Gesellschaft zu einer eigenen Weltanschauung bürgerlichen Zuschnitts führen und auch Brücken zu radikalen Politikoptionen (Sozialdarwinismus, Völkische Bewegung, Rassenhygiene, -»Euthanasie, Shoah) schlagen konnte. Andererseits boten die sich etablierenden Weltanschauungen vielfach „ganzheitliche" Antworten auf elementare Lebensfragen in einer durch Zweckrationalität und gesellschaftlich-kulturelle Differenzierung geprägten Moderne. 2. Wichtige organisatorische Entwicklungsschritte innerhalb der Weltanschauungsbewegung bestanden außer den im engeren Sinne politischen Parteiungen in der Gründung des Deutschen Freidenkerbundes (DFB) 1881, von dem sich 1908 ein proletarischer Freidenkerbund abspaltete (-»Freidenker). Aus den freireligiösen Gemeinden hervor ging die Vegetarierbewegung. Eng verbunden waren Freikörperkultur-, Reformhausund Antialkoholbewegung. Andere weltanschaulich festgelegte Gruppen entstanden in den vielfältigen Reformbewegungen der Jahrhundertwende: Umwelt und Heimat, Erziehung und Lebensreform, Wohnen und Arbeiten, Kunst und Kultur sowie schließlich Religiosität und Spiritualität bildeten die Brennpunkte weltanschaulicher Debatten. Die 1892 in Berlin gegründete Gesellschaft für ethische Kultur trat für die nichtreligiöse Begründung humaner Werte ein und spiegelte weithin die geistige und politische Haltung des liberalen Berliner Großbürgertums wider. Sie war Teil einer internationalen Bewe-

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gung ethischer Idealisten, die von New York ihren Ausgangspunkt in mehrere Länder Europas genommen hatte. Weitere, unterschiedlich motivierte, aber im kulturkritischen Milieu angesiedelte Weltanschauungsgruppen vor dem Ersten Weltkrieg konstituierten sich in Form des Goethebundes (1900), des Dürerbundes (1902), des Deutschen Monistenbundes (1906; -• Monisten/Monistenbund) sowie des Keplerbundes (1907). Letzterer etwa versuchte, naturwissenschaftliches Denken und christlichen Glauben zu verbinden. Ernst Haeckel (1834-1919), der Begründer des Monistenbundes, stieg dagegen um die Jahrhundertwende zum „Künder" einer antireligiösen Weltanschauung auf. Die meisten der aus der freigeistigen Tradition kommenden Gruppierungen gaben sich 1907 im sog. Weimarer Kartell eine Dachorganisation. Sie fanden zum Teil im Komitee Konfessionslos (1910/11) ein gemeinsames politisches Sprachrohr, das für den Kirchenaustritt (-»•Kirchenentfremdung/Kirchenaustritt) agitierte. Vor dem Ersten Weltkrieg konstituierten sich auch die aus der -»'Theosophie kommende Anthroposophische Gesellschaft (1913; —•Anthroposophen) sowie eine Reihe von „neugermanischen Weltanschauungsgruppen", die für eine —•Germanisierung des Christentums eintraten. Der vielfältigen religiösen und weltanschaulichen Differenzierung Rechnung tragend, fanden die freien „Religionsgesellschaften" und die ihnen gleichgestellten Weltanschauungsgemeinschaften ihre verfassungsrechtliche Berücksichtigung in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, deren Artikel 136-139 und 141 später in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurden. Im 20. Jh. verschärfte sich der inzwischen zum topos avancierte „Kampf um die Weltanschauung" (die Formulierung findet sich bei liberalen Pfarrern oder Ernst Haeckel im 19. Jh. ebenso wie später bei Alfred Rosenberg [1893-1946]). Neben apologetischen und repräsentativen Bemühungen der Kirchen und ihrer Gruppen um eine „christlichkirchliche Weltanschauung", nicht zuletzt in Form von „Weltanschauungsprofessuren" (s.o. III/l.) oder „Weltanschauungswochen", kann auf unterschiedliche Zusammenschlüsse verwiesen werden: etwa den aus Freidenkern und Freireligiösen gebildeten Volksbund für Geistesfreiheit (1922), den sich gegen den Intellektualismus der Gelehrtenphilosophie wendenden und für ein ethisch verwurzeltes Geistesleben einsetzenden Eucken-Bund (1920) oder die aus der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgehende, sich als neue Kirchengründung verstehende Christengemeinschaft (1922). Die Bemühungen um eine „neugermanische Weltanschauung" mündeten nach vielen organisatorischen Zwischenstationen (—•Deutschgläubige Bewegungen) in die Deutsche Glaubensbewegung (1933), die den weltanschaulichen Kampf als Alternative zwischen „Siegfried oder Christus" zuspitzte. Gleichwohl gab es hier auch Sonderentwicklungen, etwa in Form des Tannenbergbundes. Er kämpfte gegen „überstaatliche Mächte" wie Freimaurer und Juden, Jesuiten und Marxisten, wurde 1933 aufgelöst und bestand nach 1945 unter verschiedenen Namen weiter. Im Nationalsozialismus wurde der Weltanschauungsbegriff auf unterschiedliche Weise instrumentalisiert, was sich nicht nur in „Hitlers Weltanschauung" (Jäckel) oder in Alfred Rosenbergs antichristlichem und antikirchlichem Mythus des 20. Jahrhunderts niederschlug. Rosenberg, der seit 1934 formell als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP" zuständig war, konkurrierte im Ämter- und Konzeptionschaos des „Dritten Reiches" mit einer ganzen Reihe von Weltanschauungsfragen behandelnden Instanzen und Personen. Inhaltlich reichten die weltanschaulichen Konzeptionen von den Vorstellungen eines angeblich wissenschaftlich begründeten rassebiologischen Welt- und Menschenbildes über eine neue „Gottgläubigkeit" (jenseits einer besonderen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft) bis hin zur Undefinierten Vorstellung eines „positiven Christentums", wie es im Parteiprogramm der NSDAP hieß. Im Kommunismus wurde der Weltanschauungsbegriff ebenfalls instrumentalisiert, vor allem im Sinne einer Rückbindung der jeweiligen Weltanschauungen an die jeweilige Klassenlage, die sich im Falle der Arbeiterklasse in der vermeintlich überlegenen Einheit

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von Wissenschaft und Weltanschauung in F o r m des Marxismus-Leninismus ( - > M a r x / M a r x i s m u s ) manifestierte. 3. Die Situation in den europäischen und westlichen Ländern nach 1 9 4 5 ist bis heute zum einen durch das vielfach postulierte „ E n d e der Weltanschauungsparteien", zum anderen durch die weiter bestehende Vielfalt von Weltanschauungen und Weltanschauungsbewegungen charakterisiert. Z u m Teil gibt es auffällige Verbindungslinien zwischen früheren Bewegungen und heutigen Gruppierungen, etwa im Fall des 1 9 5 0 neugegründeten Bundes freireligiöser Gemeinden Deutschlands (BfGD) oder der aus der A n t h r o posophie k o m m e n d e n Waldorf-Pädagogik (seit 1919). An die Gottgläubigenbewegung der N S - Z e i t knüpfte die Religionsgemeinschaft Deutscher Unitarier ( 1 9 5 0 ; - » U n i t a r i e r 2.4.) an. In der Tradition der ethischen Gesellschaften des 19. J h . stand die Humanistische Union, die sich zu Beginn der 6 0 e r J a h r e gegen den „christlichen T o t a l i t a r i s m u s " (Religion ohne Kirche 180) der A d e n a u e r - Ä r a wandte. Internationale Bünde mit freireligiösen und ethisch-humanistischen Zielen sind die International Association for Keligious Freedom (IARF) sowie die International Humanist and Ethical Union (IHEU). D a r ü b e r hinaus ist die weltanschauliche L a g e von einer Auffächerung in Sondergemeinschaften und ->Sekten über N e u - und Jugendreligionen (—>Neue Religionen), esoterischneugnostische und religiös-philosophische Weltanschauungsgruppierungen bis hin zu Psychoorganisationen (etwa Scientology) gekennzeichnet. W i e schwierig die kategorialen Differenzierungen bleiben, läßt sich an den wechselnden Z u o r d n u n g e n in den einzelnen Auflagen des Handbuchs religiöse Gemeinschaften exemplarisch verdeutlichen. Quellen und Literatur Peter Badura, Der Schutz v. Religion u. 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- Rudolf Wimmer, Im Kampf um die Weltanschauung. Bekenntnisse eines Theologen, Freiburg i.Br. 1888.

Frank-Michael Kuhlemann III/3. Praktisch-theologisch 1. Weltanschauungen im Kontext des religiösen Pluralismus lungsperspektiven (Literatur S.561)

1. Weltanschauungen

irrt Kontext

des religiösen

2. Voraussetzungen

3. Hand-

Pluralismus

Die Ausbreitung verschiedener Weltanschauungen erfolgte vor allem seit Mitte des 19. Jh. reaktiv und parallel zum Vorgang kultureller -»Säkularisierung. In geschichtlicher Perspektive vollzog sich dieser Prozeß Hand in Hand mit einem rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die Herrschaft der instrumentellen -»Vernunft mit ihrer Verdinglichungssucht rief Gegenkräfte hervor. Zahlreiche religiöse und weltanschauliche Bewegungen lassen sich als Protest gegen ein säkulares Wirklichkeitsverständnis interpretieren. Sie entwerfen „nichtsäkulare", nicht selten „vormoderne" Weltkonzeptionen, die in ihrem Protest jedoch an die Determinanten der Moderne gebunden bleiben. Während die großen säkularen Ideologien Marxismus (-»-Marx/Marxismus) und - » N a tionalsozialismus, denen eine revolutionäre (politischer Messianismus) bzw. rassistische Weltbetrachtung zugrunde liegt, gescheitert sind und öffentliche Geltung weitgehend eingebüßt haben, stellen die sogenannten „Okkultkonfessionen" (Kurt Hutten) wie Spiritismus, Astrologie, esoterisch-gnostische Weltdeutungen und Ufologie (-»Neue Religionen; —»New Age) einen Teil des heutigen religiösen Pluralismus und eine Herausforderung für kirchliches Handeln dar. W.J. Hanegraaff hat an der sogenannten „NewAge-Spiritualität" gezeigt, daß sich in dieser ein neuer Typ säkularer Religion ausdrückt, für den die Verselbständigung der „-»Spiritualität" gegenüber traditionellen Religionen und Weltanschauungen und seine direkte Einbindung in die säkulare Kultur charakteristisch ist. Zugleich wirkt sich der moderne Konsumismus und Eklektizismus auch in weltanschaulicher Hinsicht aus. Religiös-säkulare Mischphänomene werden marktförmig angeboten und kommerzialisiert. Religiöses erscheint in säkularem Gewand, beispielsweise als Entspannungstechnik oder Therapieangebot, oder Nichtreligiöses umgibt sich aus strategischen Gründen mit dem Schein des Religiösen. Es ist vor allem ein esoterisch und synkretistisch geprägter Religionstyp, der gegenwärtig auf Resonanz stößt und keineswegs nur ein Phänomen außerkirchlicher Religiosität darstellt. Zwar hat die moderne naturwissenschaftlich und rational orientierte Weltauffassung einer mythologischen Weltbetrachtung den Kampf angesagt, diese jedoch nicht zu einer religionsgeschichtlich überholten Alternative machen können. Mit dem Schwinden eines bewußt gestalteten Glaubens breitet sich nicht nur religiöse Indifferenz aus, sondern auch vagabundierende Religiosität, die durch einen synkretistischen Religionsvollzug bestimmt ist und offen für die Aufnahme von Weltanschauungen und religiösen Praktiken aus unterschiedlichen Traditionen (u.a. -»Buddhismus; japanische Heilungsreligionen; -»Schamanismus; -»Magie). Ihr Gegenbild sind fundamentalistische Strömungen, die von starren, dualistischen Wahrnehmungsmustern bestimmt sind (-»Fundamentalismus). Zahlreiche weltanschauliche Bewegungen stellen den Versuch dar, die im Rahmen kultureller Säkularisierung verlorengegangene Einheit von Weltbild und Religion, von Vernunft und Glaube wiederherzustellen. In ihrem Anspruch auf umfassende Sinndeutung und universale Geltung gleichen sie der Religion. Differenzen bestehen insofern, als es neben religiösen Weltanschauungen (—»Pantheismus; Neuoffenbarungen; -»Theosophie; -»Anthroposophie) auch dezidiert nichtreligiöse und christentumskritische gibt (—»Freidenker; -»Materialismus; -»Monismus), die nach 1989 teilweise an Bedeutung gewonnen haben (u.a. Humanistischer Verband Deutschlands und seine Angebote für

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Welt/Weltanschauung/Weltbild III/3

—Jugendweihe und Lebenskundeunterricht). Der erklärte Wille, Glaube und Wissen miteinander zu versöhnen und ein alternatives Orientierungswissen zu begründen, geschieht durchweg um den Preis, zwischen wissenschaftlicher Rationalität und weltanschaulichem Interesse nicht mehr unterscheiden zu können. 2.

Voraussetzungen

Grundlegende rechtliche Voraussetzung von weltanschaulichem Pluralismus ist die durch die Verfassung garantierte Freiheit der individuellen und kollektiven Religionsausübung. Weltanschauungsgemeinschaften sind verfassungsrechtlich den zu schützenden Religionsgemeinschaften gleichgestellt (vgl. Art. 140 GG bzw. Art. 136-139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919). Migrationsprozesse, moderne Kommunikationsmedien, religiöser Tourismus, ein neu erwachtes Sendungsbewußtsein nichtchristlicher Religionen und neuer religiöser Bewegungen verstärken den kulturellen und religiösen Austausch und tragen zur Pluralisierung und Ausdifferenzierung weltanschaulicher Orientierungen bei. Die Globalisierung schafft universale Gleichzeitigkeit und beseitigt geschlossene Milieus. Mediale Vernetzungen eröffnen neue Möglichkeiten der Kommunikation und heben Grenzen auf. Während in geschlossenen Gesellschaften für abweichende Weltanschauungen kein Raum gegeben ist (Fundamentalismus, Totalitarismus), entwickeln sich in offenen pluralistischen Gesellschaften religiös-weltanschauliche Deutungsmuster weniger durch vorgegebene Muster, sondern durch individuelle Wahl, die allerdings an kulturelle Vorgaben gebunden bleibt. Religiöse Identitätsbildung wird auch unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse sozial konstituiert und bedarf der Einbindung in einen sozialen Bezugsrahmen. Sie ist insofern institutionsbedürftig und verliert ohne solche Einbindung ihre Stabilität und Kontinuität. 3.

Handlungsperspektiven

Im Kontext kirchlicher Handlungsfelder stellt sich die Weltanschauungsthematik vor allem als Frage der Wahrnehmung des Kontextes des christlichen Zeugnisses, der Kommunikation der Kirchen mit dem religiösen Pluralismus und als Aufgabe, zur christlichen Lebensorientierung und Identitätsbildung beizutragen. Kirchliche Konzepte, die für unterschiedliche Handlungsfelder kirchlicher Arbeit relevant sind (Gemeindeaufbau; ->Diakonie; -•Mission; -•Bildung; -»Publizistik/Presse; Seelsorgelehre; -•Homiletik; Liturgiewissenschaft/Liturgik), enthalten direkte oder indirekte Wahrnehmungen ihres religiös-weltanschaulichen Kontextes. „Religiöse Aufklärung" (Walter Sparn) ist eine wichtige praktische Aufgabe der Kirchen, die gleichermaßen analytisch wie hermeneutisch ausgerichtet ist und dabei Elemente der klassischen Apologetik aufgreifen kann. Gewisse spezialisierte Ausformungen dieser im Grundsatz das gesamte Handeln der Kirche betreffenden Aufgabe finden sich in Lehrstühlen für Philosophie bzw. in Weltanschauungsprofessuren und im Kontext christlicher Publizistik. Die -»Evangelische Kirche in Deutschland errichtete 1960 die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, die unter veränderten Bedingungen und mit neuem N a m e n das fortsetzte, was in Berlin 1921 als Apologetische Centrale begonnen hatte und durch die Nationalsozialisten 1937 ein erzwungenes Ende nahm. Information, Deutung und Aufklärung über religiös-weltanschauliche Gruppierungen und Strömungen aus der Perspektive des trinitarischen Gottesglaubens und des christlichen Verständnisses von Welt und Mensch haben sich in den evangelischen Landeskirchen wie in den katholischen Bistümern als übergemeindliches kirchliches Handlungsfeld etabliert. Zu diesem Praxisbereich gehören Bildungs-, Informations- und Beratungsangebote, die der Gesamtkirche, Gemeinden, Einzelpersonen, darüber hinaus auch kommunalen Einrichtungen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es gleichermaßen um Dialog und Unterscheidung, um Religions- bzw. Ideologiekritik und die Darstellung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Die alltägliche Begegnung mit fremden Religionen und Weltanschauungen fordert heraus, den eigenen Glauben neu

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zu entdecken und auf andere, fremde Glaubensweisen zu beziehen (Hermeneutik des F r e m d e n ) . Dabei geht es nicht einfach um R e p r o d u k t i o n der kirchlichen Lehre, sondern um ein kreatives Geschehen: die Artikulation christlicher Identität unter Einbeziehung ihres Gegenübers. „ D i e Menschen ... brauchen das fruchtbare Wechselspiel von gewachsener Identität und anzustrebender Verständigungsfähigkeit" (Identität und Verständigung 82). Die christlichen Kirchen verbinden ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder religiös-weltanschaulicher Orientierungen und treten für eine aktive - » T o l e r a n z ein, die freilich eine Unterscheidung der Geister einschließt. Harmonisierungsstrategien sind als A n t w o r t auf die Situation einer nicht aufhebbaren weltanschaulichen Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen. Z u r aktiven Toleranz gehört die Anerkennung widerstreitender Überzeugungen. Religiöse Aufklärung m u ß angesichts der Vielfalt weltanschaulicher Orientierungen die W a h r n e h m u n g für den fremden und den eigenen Glauben gleichermaßen schärfen. Literatur Peter L. Berger, The Sacred Canopy, Garden City, N.Y. 1967; dt.: Zur Dialektik v. Gesellschaft u. Religion, Frankfurt a.M. 1973. - Ders., The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, Garden City, N.Y. 1979; dt.: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. - Ders./Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1969. - Christoph Bochinger, „New Age" u. moderne Religion, Gütersloh 1994 2 1995. - Christentum u. politische Kultur. Uber das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum. Eine Erklärung des Rates der EKD, 1997 (EKD.T 63). - Wolfgang Dennert (Hg.), Wandlungen u. Fortschritte in Wiss. u. Weltanschauung, Leipzig 1931. - Wilhelm Dilthey, GS. VIII. Weltanschauungslehre. Abh. zur Phil., Stuttgart/Göttingen 1962. - Volker Drehsen/Walter Sparn (Hg.), Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996. - Karl Gabriel, Christentum zw. Tradition u. Postmoderne, 1992 (QD 141). - Gestaltung u. Kritik. Zum Verhältnis v. Protestantismus u. Kultur im neuen Jahrhundert, Hannover 1999. - Wilhelm Gräb/Gerhard Rau/Heinz Schmidt/Johannes A. van der Ven (Hg.), Christentum u. Spätmoderne. Ein int. Diskurs über Prakt. Theol. u. Ethik, Stuttgart 2000. - Guardini Weiterdenken, hg. im Auftrag der Guardini Stiftung v. Hans Maier u.a., Berlin, II 1999. - HRGem 1978 5 2000. - Wouter J . Hanegraaff, New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden u.a. 1996. - Hansjörg Hemminger/Wolfgang Hemminger, Jenseits der Weltbilder. Naturwiss., Evolution, Schöpfung, Stuttgart 1991. — Reinhard Hempelmann u.a. 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Apologetik im Weltanschauungskampf der Moderne: Glaube u. Denken. Jb. der Karl-Heim-Gesellschaft, 5 (1992) 7 7 - 1 0 5 . 1 5 5 - 1 6 4 . - Fritz Stolz, Weltbilder der Religionen. Kultur u. Natur, Diesseits u. Jenseits, Kontrollierbares u. Unkontrollierbares, Zürich 2001. - Falk Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995. - Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit. Wie wir wissen, was wir zu wissen glauben? Beitr. zum Konstruktivismus, München/Zürich 1981. Reinhard H e m p e l m a n n

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Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/1

IV. Weltbild IV/1. IV/2. IV/3. IV/4. IV/5.

Religionsgeschichtlich Altes Testament . . . . Neues Testament . . . Kirchengeschichtlich Systematisch-theologisch

S. 569 S. 581 S. 587 S. 605

IV/1. Religionsgeschichtlich (Literatur S. 568)

1. Obwohl der Begriff Weltbild sehr uneinheitlich verwendet wird, läßt sich doch vereinfachend sagen, daß er in der Regel eine umfassende und möglichst einheitlichgeschlossene Gesamtsicht der Welt bezeichnet. Nach M. -»Heidegger ist die -»Neuzeit die „Zeit des Weltbildes", in der sich eine reduktionistische Betrachtungsweise durchsetzt, für die als Seiendes nur gilt, was vom Menschen selbst vor- und hergestellt („Gestell") werden kann (Heidegger 82ff.). Die Rede von einem „religiösen Weltbild" wäre demnach problematisch, weil sie sich einer neuzeitspezifischen Anthropozentrik verdankt. Zuweilen wird der Begriff des Weltbildes als vorgeblich wertneutrale Zusammenfassung einzelwissenschaftlicher Forschungsergebnisse (z. B. physikalisches Weltbild) ausdrücklich von der Weltanschauung (s.o. III) unterschieden, die deshalb in die Nähe der Religion rückt, weil auch sie eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen und eine lebenspraktische Orientierung bieten will. Die wissenschaftsimmanent häufig vorgenommene Unterscheidung zwischen dem wertneutral-wissenschaftsförmigen Weltbild und der zu ganzheitlich-ideologischen Betrachtungsweisen tendierenden Weltanschauung konnte sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht durchsetzen. Im religiösen Feld kann zwischen Weltbild und Weltanschauung ohnehin nicht scharf unterschieden werden, da religiöse Weltbilder immer auf den Sinn des Ganzen zielen. So spricht F. Stolz in einem religionsgeschichtlichen Kontext unbefangen von „Weltbildern der Religionen". Daß die Welt existiert und daß sie so ist, wie sie ist, ist keineswegs selbstverständlich. Auf eine einfache Formel gebracht, besteht daher die Funktion eines Weltbildes darin, dem Menschen die Welt verständlich zu machen. Alle Religionen auf jeder kulturellen Entwicklungsstufe geben eine Antwort auf die Frage, warum die Welt existiert und wie sich der Mensch in ihr verhalten soll. Unter einem religiösen Weltbild kann daher das Insgesamt der die jeweilige Religion bestimmenden Konzeptionen über den Aufbau des Kosmos und die Stellung des Menschen in ihm verstanden werden. Die Religionen sind Antwortversuche auf die Frage nach dem Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des menschlichen Lebens. In kulturwissenschaftlicher Perspektive (vgl. Geertz; Dux) implizieren die jeweils kulturbedingten unterschiedlichen religiösen Antwortversuche uneinheitliche „Bilder" von der Welt. Die Sprach- und damit Kulturbedingtheit von Weltbildern wird auch durch das „linguistische Relativitätsprinzip" (Whorf) betont, demzufolge die Grammatik nicht nur einzelne Bausteine der Weltbilder bestimmt, sondern deren grundsätzliche Strukturen. Weltbilder sind demnach unvermeidbar sprachimprägniert. Im Unterschied zum abstrakten wissenschaftlichen Weltbild versuchen die Religionen den Ursprung der Welt mit zumeist lebensnahen und trotz ihres Bilderreichtums übersichtlichen Schöpfungsmythen (-»Schöpfer/Schöpfung; —»Mythos) zu erklären. Eine zentrale Übereinstimmung aller religiösen Weltbilder liegt darin, daß ein gutes, gelingendes Leben auf Erden die Orientierung an Vorgegebenem, an der numinosen Ordnung bzw. an den Geboten Gottes, mithin an einem nicht erst vom Menschen selbst gesetzten Maß, voraussetzt. Religiöse Weltbilder implizieren immer Wege zum Heil als Wege zu einer Wirklichkeitsdimension, die nicht (nur) von dieser Welt ist. Überall dort, wo zwischen Profanem und Heiligem unterschieden wird, haben wir es mit einem religiösen Weltbild zu tun (Otto; Eliade, Das Heilige; Colpe; Gantke). In dieser Perspektive

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sind die Weltdeutungsversuche der großen Religionen auch nach der -»Aufklärung noch ernsthafte „Weltbildkonkurrenten" zum wissenschaftlichen Weltbild, in dem die Dimension des Heiligen keine Rolle spielt. Es wird so geforscht, als ob es Gott oder Heiliges nicht gäbe. 2. Es ist die -»-Wissenschaft, die heute das Definitionsmonopol für das, was die Welt ist, beansprucht und diese „Vorfestlegung" ist in umfassender religionsgeschichtlicher Perspektive keineswegs selbstverständlich. Nach C.E v. Weizsäcker spielt „der Glaube an die Wissenschaft die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit" (v. Weizsäcker 3), wodurch die Wissenschaft als heute wirklichkeitsbestimmende Macht dann doch wieder in die Nähe religiöser Weltbilder rückt. Es ist unmöglich für sie, einen metaparadigmatischen, völlig weltbildfreien Standort einzunehmen. Als ein neues, schwieriges Problem kann die durch die gegenwärtige Begegnung der Kulturen verursachte, historisch wohl unvergleichbare Pluralität von Weltbildern, die einander in grundsätzlichen Fragen widersprechen, betrachtet werden. Die gegenwärtige Konfrontation der Menschen mit unterschiedlichen Weltbildern führt kulturübergreifend zu einem Zerbrechen der überlieferten Plausibilitätsstrukturen und zu einem „Zwang zur Häresie" (Berger). Wo im Gegenzug gegen diese Pluralisierung (-»Pluralismus) die Interpretationen und Bewertungen einseitig in den Dienst eines in sich geschlossenen Weltbildes treten, wo also kulturbedingte Teilwahrheiten über die Welt so verabsolutiert werden, daß die Offenheit für fremde und neue Welterfahrungen fehlt, da besteht die Gefahr einer Reduzierung der Religion auf eine politische -»Ideologie. Alle in sich geschlossenen, fundamentalistischen Weltbilder sind daher zumeist auch ideologiedurchtränkt. Der moderne religiöse -»Fundamentalismus als politische Reaktion auf die heute weltweite Vormachtstellung des säkularistischen Weltbildes ist dabei explizit zu unterscheiden von den traditionellen religiösen Weltbildern, für die ein „unbewegtes" Zentrum existiert, das z. B. als Berg, als (Zeit-)Achse, Pfahl oder Nabel gedacht wird und um das sich die ganze Welt in verläßlicher Weise ordnet. Das Weltzentrum kann auch ein „heiliger Ort" (-»Heilige Stätten), ein -»Tempel, eine -»Stadt oder ein Mensch sein. Im Christentum wird -»Jesus Christus als Sohn Gottes und zugleich als Welt- und Zeitzentrum (Christozentrik) betrachtet. In der Anerkennung einer sinnhaften, maßgeblichen, nicht-endlichen Wirklichkeitsdimension liegt ein Charakteristikum religiöser Weltbilder. Der religiöse Mensch ist ein „zweidimensionaler Mensch" und das religiöse Fest (-»Feste und Feiertage) gewährleistet die Offenheit für „das Andere" des Alltags und der Profanität (Assmann 13). Umgekehrt kann die „eindimensionale" Beschränkung auf die „endliche", empirisch faßbare Wirklichkeit als ein Kennzeichen des homogenisierten wissenschaftlichen Weltbildes interpretiert werden, das keine besonders ausgezeichneten Räume und Zeiten anerkennt. In seiner Analyse religiöser Weltbildkonstruktionen verwendet F. Stolz die Begriffspaare Diesseits/Jenseits, Kultur/Natur und Kontrollierbares/Unkontrollierbares als orientierungsgebende Leitdifferenzen, die es erlauben, den Verlauf von Transzendenzlinien in den Religionen in vergleichender Weise näher zu bestimmen. Wenn sich das ,,kultur"-wissenschaftliche Weltbild auf den dem Menschen zugänglichen und von ihm gestaltbaren diesseitigen „Weltraum" beschränkt, dann bleibt die für die Religion wichtige, unverfügbare Wirklichkeitsdimension a priori ausgeblendet. Es besteht kein Interesse am Nichtfaßbaren. J. Mohn hat auf den unvermeidbar konstruktiv-interpretationistischen Charakter auch unserer modernen Mythostheorien hingewiesen. Theorien über alte und fremde Weltbilder verraten viel über unser eigenes, niemals ganz auszuschaltendes Weltbild. Die Überwindung der Zeit-, Raum- und Bewußtseinsabstände bleibt für den Religionsgeschichtler ein schwieriges Problem. Er muß sich grundsätzlich mit Approximationen an die fremden religiösen Weltbilder begnügen, auch wenn er über relativ genaue Kenntnisse der einzelnen Fakten verfügt. 3. In mehrdimensionalen religiösen Weltbildern wird häufig unterschieden zwischen dem Himmel (und hier oft zwischen mehreren Überwelten), der Erde (dem Lebenszen-

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trum des Menschen) und der —» Hölle (und hier oft zwischen mehreren Unterwelten). In einigen religiösen Systemen (-»Buddhismus; -»Hinduismus) entsprechen unsere „Bilder" von der Welt unseren jeweiligen Bewußtseinszuständen, so daß von einer psycho-kosmischen Parallelität gesprochen werden kann. Das religiöse Weltbild ist dann gleichsam bewußtseinszustandsrelativ, zwischen Innen- und Außenwelt kann nicht scharf unterschieden werden. Das sich in der Subjekt-Objekt-Spaltung bewegende und damit in die Vielheitswelt verstrickte „Welt-Ich" vermag im Rahmen seines „unerleuchteten" Bewußtseinszustandes nur eine „Ich-Welt" wahrzunehmen. Eine Uberwindung dieser Bewußtseinsstufe und damit die Transzendierung des durch Unwissenheit und Lebensgier verursachten Täuschungszusammenhanges, der uns als relativ festgefügtes Weltbild „erscheint", ist auf unterschiedlichen Wegen möglich. Die verschiedenen Heilswege des Hinduismus (Weg der liebenden Hingabe [Bhakti-märga], Weg der Erkenntnis [Jnäna-märga], Weg der Tat [Karma-märga]) haben letztlich alle die Befreiung (Moksa) von unseren egobedingten Weltbildkonstruktionen zum Ziel. Durch Techniken innerer Machtgewinnung (-»Meditation; -»Yoga usw.) kann der einzelne Mensch sich selbst aus der Unwissenheit befreien. Das vielgestaltige Weltbild des Hinduismus, das sich kaum vereinheitlichen läßt, läßt Raum sowohl für eine Gnadenreligiosität als auch für eine Religiosität, die der Kraft des eigenen Bewußtseins vertraut. Fast alle hinduistischen Richtungen stimmen in dem Grundgedanken überein, daß das menschliche und das göttliche Bewußtsein in der Tiefe identisch sind, so daß von einem nicht-dualistischen Weltbild gesprochen werden kann. Im Rahmen fast aller religiösen Weltbilder wird der Ursprung der Welt als ein sakraler Akt gedeutet, der im Mythos erzählt und im -»Ritus „wiederholt" wird. In den monotheistischen Religionen wird die Welt als die einmalige Schöpfung Gottes und in den polytheistischen Religionen (zumeist) als die Hervorbringung vieler, unterschiedliche Funktionen ausübender Götter betrachtet. Bei Naturvölkern, denen ein abstraktiver Abbau von Wirklichkeit noch fern liegt, wird die Welt als ein von sich selbst her geordnetes, heiliges Ganzes betrachtet, auch wenn sich noch kein abstrakter, das Ganze der Welt umgreifender numinoser Ordnungsbegriff herausgebildet hat. In zahlreichen Zeugnissen indianischer Welterfahrung wird die Natur als heilig betrachtet (Müller). Wenn neuerdings R. Sheldrake von einem „neuen Animismus" und der „Heiligkeit der Natur" zu sprechen wagt, dann werden die Grenzen zwischen religiösem und wissenschaftlichem Weltbild wieder fließend, wobei es sich bei vielen Formen eines evolutionären Geistesmonismus um „umstrittene" Weltbilder handelt, denen gemeinsam ist, daß sie auf der Grundlage eines erweiterten, „spirituellen" Wissenschaftsverständnisses das heute vorgeblich vorherrschende „materialistische" Weltbild überwinden wollen. Nach dem Durchgang durch Aufklärung und -»Säkularisierung scheint indes ein Zurück in prärationale Denk- und Lebenswelten ausgeschlossen zu sein. Dies schließt nicht aus, daß auch der moderne Mensch eine unauslöschbare „Sehnsucht nach dem Ursprung" (Eliade) in sich verspürt. Nach J. Gebser können zwischen „Ursprung und Gegenwart" verschiedene Bewußtseinszustände, die entsprechende Weltbilder implizieren, unterschieden werden: das archaische, das magische, das mythische, das rationale und das integral-aperspektivische Bewußtsein, dessen unaufhaltsamer Durchbruch gegenwärtig erfolgt. Der heutige, unvermeidbare Bewußtseinswandel verursacht tiefe Krisen und Verunsicherungen, gerät doch das scheinbar festgefügte „rationale" Weltbild ins Wanken. 4. Es ist in diesem Kontext auch von Refatalisierungstendenzen gesprochen worden, denn das in der Moderne weitgehend entmächtigte „—»Schicksal" und damit vorgeblich längst überholte magisch-mythische Bewußtseinsformen kehren in die nur scheinbar „entzauberte" Welt zurück, wofür auch das wiedererwachte Interesse an esoterischen Weltbildern spricht. Das Band zwischen den archaisch-mythischen Bewußtseinsformen und der „entmythologisierten" Gegenwart scheint immer noch nicht ganz zerrissen. Dabei ist freilich zu beachten, daß gerade „unbewegliche" religiöse Weltbilder, durchaus

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vergleichbar mit Minderheitensprachen, angesichts des weltweiten Modernisierungsprozesses (Globalisierung, Beschleunigung, Mobilität, Migration u.ä.) heute ernsthaft vom Untergang bedroht sind. Zukunftsfähiger erscheinen Religionen, die der heute notwendigen Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen des modernen rationalen Weltbildes nicht ausweichen. Die Wiederherstellung der Fraglosigkeit prärationalschicksalsergebener Grundhaltungen, wie sie die Menschen in den archaischen Kulturen weithin bestimmte, ist im Rahmen nachaufklärerischer religiöser Weltbilder unmöglich geworden. Der archaische Mensch versuchte, die ihn beängstigenden, chaotischen Schicksalsmächte durch magische Kulthandlungen, insbesondere durch numinos-rituelle Verbotsvorschriften (Tabus [—>Mana und Tabu]), wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu beeinflussen und zu bannen. Religiöse Weltbilder sind auf all ihren kulturellen Entwicklungsstufen geprägt vom Bemühen des Menschen um die Rettung der numinosen Ordnung vor den Mächten des Chaos, die seit jeher mit dem Bösen, mit Finsternis, Unordnung, Unheil, Krieg und Tod in Verbindung gebracht werden. Als im September 2001 das „Zentrum" der modernen Wirtschaftswelt, das New Yorker World Trade Center, durch einen beispiellosen Terroranschlag vernichtet wurde, wurde zugleich ein Symbol des modernen, rational-optimistischen Fortschrittsdenkens getroffen. Man konnte hier innerhalb weniger Minuten den Zusammenbruch eines Weltbildes beobachten, in dessen Rahmen man relativ fraglos an den modernen Mythos von der totalen Unverwundbarkeit durch technisch-militärische Hochrüstungsleistungen glaubte. Dieses aktuelle Beispiel verdeutlicht, daß sich archaische Bewußtseinsstrukturen offenbar auch in den unbewußten Tiefenschichten des vorgeblich rationalen Weltbildes der Moderne verbergen können. Im Unterschied zum modernen Bewußtsein, das sich die aktive Weltgestaltung zum Ziel gesetzt hat, war die Orientierung an der vorgegebenen kosmischen Ordnung charakteristisch für das traditionelle religiöse Bewußtsein. Grob vereinfacht gesprochen: während die Welt für die vormodernen Kulturen nachahmenswerte Vorgabe war, ist sie für die moderne Kultur ein unvollendetes Projekt, eine Aufgabe. Die „Perfektion der Technik" (Jünger) hat daher die Perfektion des Menschen und seiner Welt zum Ziel. Die uralte religiöse Menschheitsfrage nach dem angemessenen Verhältnis von Freiheit und Schicksal beunruhigt in zunehmendem Maße auch den heute verstärkt an die Grenzen seiner Machtentfaltung stoßenden modernen Menschen. Im Rahmen der griechischen Religiosität etwa wurde die Welt, wenn man von den Tragikern absieht, zumeist als harmonischer Kosmos gedeutet, während die biblischen Religionen die Vollendung der Welt erst am Ende der Zeiten erwarten. Dieses eschatologische Weltbild verleiht diesen Religionen ihre religionsgeschichtlich unvergleichbare Veränderungsdynamik, wobei das christliche Weltbild insofern ausgesprochen christozentrisch orientiert ist, als Gott sich den Menschen in der Gestalt des Jesus von Nazareth bereits in einmaliger und unüberbietbarer Weise geoffenbart hat (H. Waldenfels). Nach K. Löwith ist der profane Fortschrittsglaube ohne den jüdisch-christlichen Gedanken einer religiösen Heilsgeschichte nicht zu verstehen. Für alle monotheistischen Religionen gilt gleichermaßen, daß nicht der Mensch, sondern Gott der Herr der Welt ist. 5. Diese Idee der souveränen Gottesherrschaft wird im islamischen Weltbild, in dessen Zentrum der Koran steht (-»Islam), diesseitiger gedacht als im Christentum, so daß eine strenge Trennung zwischen Politik und Religion kaum möglich ist und der islamische Gottesstaat durchaus mit der Gottesherrschaft auf Erden identifiziert werden kann. Im Islam kann also das Gottesreich durchaus von „dieser Welt" sein. Judentum, Christentum und Islam stimmen in dem Grundgedanken überein, daß Gottes Schöpfung gut ist, so daß diese Religionen im Vergleich mit den indischen Religionen, deren Heilsziel die Befreiung des Menschen aus dem unheilvollen Weltenkreislauf ist, als weltbejahend bezeichnet werden können. Ein wesentlicher Grundgedanke der in Indien entstandenen Religionen ist das KarmaGesetz, das eine gerechte numinose Ordnung insofern garantiert, als jeder Mensch im

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Sinne einer Tatvergeltungslehre in diesem oder in einem späteren Leben das ernten wird, was er selbst gesät hat. Im Rahmen dieses religiösen Weltbildes gibt es innerhalb des Geburtenkreislaufes (samsara) einen engen Zusammenhang zwischen dem Tun und cem Erleiden des Menschen. Die Kombination des Karma-Gedankens mit der Reinkamationsvorstellung erlaubt durch die Relativierung eines Erdenlebens eine prima facie plausible Antwort auf die Frage nach dem leidenden Gerechten (Klimkeit, Gerechte). Frei ich besteht durch die Zurückführung des Leides auf das angehäufte schlechte Karma die Gefahr der Vernachlässigung der „entwirklichten" sozialen Dimension und schicksalsergebener Gleichgültigkeit gegenüber ungerechten Lebensbedingungen. Ein metaphysisch-prophetischer Protest und eine entsprechend radikale Religions- und Gesellschaftskritik konnte sich daher im Rahmen des indischen Weltbildes vor der Begegnung mit westlich-christlichen Ideen nicht entwickeln. Als Grundgedanke des religiösen Weltbildes der Chinesen kann die Harmonie zwischen Mensch und Kosmos (Taoismus) bzw. zwischen Mensch und Gesellschaft (Konfuzianismus) bezeichnet werden (-»Chinesische Religionen). Für den Taoismus ist das Tao der Urgrund der Welt, aus dem Himmel und Erde hervorgehen. Himmel und Erde wiederum erzeugen die vielen Weltdinge. Die Sehnsucht nach dem Ursprung ist die Sehnsucht nach der über allen Gegensätzen anzusiedelnden „letzten" Einheit, nach der Harmonie. Das Tao kann als numinoser Ordnungsbegriff bezeichnet werden unc ist insofern vergleichbar mit dem indischen Dharma-, dem ägyptischen Ma'at-, dem Dersischen Asha- und dem heraklitischen Logos-Begriff. Während die mystischen Religionen Asiens zu einem nicht-dualistischen Weltbild tendieren, in dessen Rahmen die numinose und die profane Sphäre in der Tiefe identisch sind, unterscheiden die biblisch-prophetischen Religionen scharf zwischen Schöpfer and Geschöpf, Gott und Welt, so daß (in dieser Hinsicht) von einem dualistischen Weltbild gesprochen werden kann. In der —•Gnosis und insbesondere im —•Manichäismus vird der Dualismus zwischen Geist und Materie derart zugespitzt, daß von einem weltfendlichen Weltbild, in dem der Mensch als „selbstvergessener" Fremdling auf Erden weilt, gesprochen werden kann. Es ist auffällig, daß die Zunahme weltfeindlicher Einstellutgen in der Religionsgeschichte in Zeiten einer zerbrechenden Weltordnung verstärkt in Erscheinung treten (Klimkeit, Gerechte). In religionsgeschichtlicher Perspektive ist es durchaus sinnvoll, in Orientierung an F. Stolz Weltbilder als Ausdruck von Religionen zu interpretieren. Die Religionsgeschichte erscheint dann als die Geschichte von religiösen Weltbildkonstruktionen, die je eigene Sinnzusammenhänge bilden, sich einander im Laufe der Zeit wechselseitig beeinflussen, gegenseitig ablösen und von Religionsgeschichtlern vergleichend untersucht werden. Religionsgeschichte ist in dieser Perspektive mehr als nur die Aneinanderreihung unorganisierter Einzelinformationen ohne Btzug auf eine umfassendere, den Einzelheiten erst einen Sinn verleihende Ganzheit (Kippenberg). Weltbildkonstruktionen zielen immer auf ein Ganzes, mithin auf Geschlosserheit und Verbindlichkeit. 6. Das Ganze der Welt aber ist für ein exzentrisch-weltoffenes Wesen (Plessner nie vollständig erfaßbar. Weltbilder können daher als Interpretationskonstrukte gedtutet werden, die durch bestimmte reduktionistische Zugriffe auf die verwirrende Phänonenvielfalt des Ganzen eine möglichst einheitliche und damit verbindliche Betrachtungsveise erlauben. In den vormodernen Kulturen lebte man zumeist in einer fraglosen Siche.'heit im Vorverständnis des je eigenen Weltbildes. Das „wohlgeordnete" Weltbild der Antike kann als ein Sinnzusammenhang interpretiert werden, in dem alles, auch der Mersch, seinen „festen" Platz innehatte, wodurch eine vergleichsweise große Orientierungs-und Verhaltenssicherheit gewährleistet wurde. Eine freie Wahl zwischen verschiedenen Bildern von der Welt war nahezu ausgeschlossen. Demgegenüber wird der moderne Mensch mit einer Pluralität unterschiedlicher, kaum miteinander zu vereinbarender, profaner und religiöser Weltbilder konfrontiert (Berger). So sind heute die weiterhin Verlind-

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lichkeit beanspruchenden, uneinheitlichen religiösen Weltbilder vom gegenwärtig alltagspraktisch vorherrschenden, „vereinheitlichten" naturwissenschaftlichen Weltbild zu unterscheiden. Die religiösen Weltbilder wirken dabei aufgrund ihrer Pluralität im Vergleich zum ausschließlich an meß- und mathematisierbaren Beziehungen interessierten naturwissenschaftlichen Weltbild ausgesprochen uneinheitlich. Dies ist sicherlich ein entscheidender Grund für die Zurückdrängung aller religiösen Weltbilder in der modernen Kultur. Das in Europa bis zum neuzeitlichen Traditionsbruch nahezu uneingeschränkt dominierende „christliche Weltbild" wurde, ungeachtet aller Verteidigungsversuche auf vergleichsweise hohem intellektuellem Niveau, durch den naturwissenschaftlichen Desakralisierungsprozeß immer stärker „entmythologisiert" (R. -»Bultmann) und in seinen Plausibilitätsstrukturen erschüttert. Nicht nur die Auseinandersetzung mit dem modernsäkularistischen Weltbild, sondern auch die Konfrontation mit den immer stärker in Europa an Einfluß gewinnenden, „ f r e m d e n " religiösen Weltbildern, insbesondere mit dem Islam und der asiatischen Geistigkeit, wird in Z u k u n f t vermutlich zu einer großen intellektuellen und spirituellen Herausforderung für das Christentum. So werden z. B. in Europa zyklische Weltalter- und Reinkarnationslehren, die, obwohl es auch im Abendland bedeutende Vertreter dieser Lehren gab und gibt (Zander), mit dem linear-eschatologisch orientierten christlichen Weltbild kaum vereinbar sind, immer populärer. Hier k o m m t es in der Gegenwart zu synkretistischen Religionsformen wie der New AgeBewegung, deren Anhänger sich ihr religiöses Weltbild oft eigenständig und unabhängig von religiösen Experten zurechtlegen, indem sie die Lehren und Praktiken aus ganz unterschiedlichen Religionen, mitunter recht willkürlich, vermischen und zusammenbasteln ( - » N e w Age; Bochinger). Festzuhalten ist: im Unterschied zum modernen anthropozentrischen Weltbild, in dessen Rahmen der Mensch nun sogar seine Religion selbständig herzustellen versucht, stimmen alle traditionellen religiösen Weltbilder darin überein, daß nicht der Mensch das M a ß aller Dinge ist, sondern eine wie immer benannte, vom Menschen nicht beherrschbare, personal oder apersonal interpretierte Sinndimension der Wirklichkeit (Gott, das Heilige). Genau hier liegt die entscheidende Differenz zwischen den traditionellen religiösen Weltbildern und dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild, in dessen Rahmen Wert- und Sinnfragen systematisch ausgeklammert werden, was wiederum ein Grund für die vielbeschworene Werte- und Sinnkrise der Gegenwart sein mag. Im Verlaufe der Religionsgeschichte konnte es durchaus, wie sich insbesondere am Beispiel Zentralasiens gut dokumentieren läßt, zur Begegnung und Verschmelzung recht unterschiedlicher religiöser „Weltbilder" kommen (Klimkeit, Seidenstraße). Derartige Begegnungen haben immer wieder zu „Horizontverschmelzungen" (Gadamer) und „Horizontüberschreitungen" (Bernhardt), aber auch zu scharfen Ausgrenzungen „fremder" Weltbilder geführt. Ein besonderes Problem der Moderne liegt in der mit der Globalisierung unvermeidbar zusammenhängenden völligen Entgrenzung, die die Entstehungsbedingungen jeder Zentralperspektive systematisch zerstört, was gegenwärtig in allen Kulturen zu Sinn-, Identitäts- und Verbindlichkeitskrisen führt. Eine Vereinheitlichung der Weltbilder scheint angesichts ihrer Inkommensurabilität kaum möglich. So kann z. B. schon innerhalb des abendländischen Weltbildes von einer wirklichen Versöhnung von jüdischchristlichem, griechisch-antikem und modern-naturwissenschaftlichem Weltbild im Ernst nicht die Rede sein (Scheler 9). Aspekte dieser unterschiedlichen Weltbilder stehen immer noch relativ unverbunden nebeneinander, woraus sich dann die schwerwiegenden Probleme ergeben, mit denen Wissenschaft, Religion und Ethik in der Moderne konfrontiert werden. In jüngster Zeit wird etwa in der bioethischen Diskussion die kaum überbrückbare Kluft zwischen dem religiös-transzendenzbezogenen, die Heiligkeit und Unverfügbarkeit des Lebens betonenden und dem säkularistisch-naturalistischen, unmittelbar auf Verfügungswissen zielenden Weltbild sehr deutlich. Die ohnehin schon unübersichtliche Situation wird zusätzlich dadurch kompliziert, daß heute im interkulturellen Kontext die Vormachtstellung sowohl des christlichen als auch des säkularistischen

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Weltbildes in Frage gestellt und von Seiten der nichtchristlichen Religionen auch die in sich uneinheitlichen, nicht-abendländischen „Weltbilder" verstärkt in den sogenannten Dialog der Kulturen Eingang finden. Im Zusammenhang mit der Weltbildthematik liegt das heutige Zentralproblem wohl darin, daß den unterschiedlichen religiösen und profanen Weltbildern eine diese Pluralität transzendierende, einheitliche Idee von der Welt und ihrem Sinn fehlt. Gegenwärtig ist daher eine verstärkte Suche nach einem einheitlichverbindlichen, für alle Menschen zustimmungsfähigen Weltbild zu beobachten. In seinem berühmten, interkulturell orientierten „Projekt Weltethos" arbeitet H. Küng Gemeinsamkeiten zwischen den religiösen Ethikformen heraus. Seine im Rahmen des christlichen Weltbildes entstandene Programmatik weist für viele Zeitgenossen in die richtige Richtung, zumal auch von einigen Vertretern nichtchristlicher Religionen wie etwa S. Radhakrishnan, Sri Aurobindo und K. Nishitani bereits bedeutsame Beiträge zur Vereinheitlichung der Weltbilder mit dem Ziel einer zukünftigen Einheit der Menschheit geleistet wurden. Nach dem weltweiten Siegeszug von Aufklärung und Pluralisierung scheint jedenfalls ein Zurück in ein von fremden Weltbildern abgeschottetes, „orthod o x e s " religiöses Weltbild nur um den Preis der Ignoranz gegenüber fremden Weltbildern möglich. Während die fundamentalistischen Antwortversuche auf das Problem der Pluralität kaum zu vereinbarender Weltbilder mit der Ausgrenzung alles Fremden (Exklusivismus) reagieren, tendieren die synkretistischen Antwortversuche zu voreiligen, sich dem „Stachel des Fremden" (B. Waldenfels) nicht wirklich aussetzenden Vereinnahmungen (Inklusivismus). Dem Problem der Grenzen des Verstehens fremder Weltbilder und damit dem Ernst der Wahrheits- und Sinnfrage wird in beiden Fällen ausgewichen. Im Rahmen der Religionsgeschichte scheint ein anthropozentrisches Weltbild ohne Transzendenzbezug, in dem sich der Mensch als uneingeschränkter Herrscher über seine „ U m w e l t " begreift, ein relativ spätes und neues Phänomen, dessen Nichtselbstverständlichkeit gegenwärtig angesichts der „Krise der Immanenz" immer deutlicher ins Bewußtsein tritt. Immer stärker artikuliert sich daher auch die wohl unauslöschbare Sehnsucht des Menschen nach einem umfassenden, die auseinanderstrebenden Weltaspekte wieder in ein harmonisches Ganzes einfügenden religiösen Weltbild, in dem der Mensch seine ihm angemessene Stellung im Kosmos zwischen Transzendenz und Immanenz, Geist und Materie findet. Literatur Jan Assmann (Hg.), Das Fest u. das Heilige. Rel. Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991. - Sri Aurobindo, The Ideal of Human Unity, Pondicherry 1950. - Peter L. Berger, The Heretical Imperative, Garden City, N.Y. 1979; dt.: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. - Reinhold Bernhardt (Hg.), Horizontüberschreitung. Die Pluralistische Theol. der Religionen, Gütersloh 1991. — Christoph Bochinger, „New Age" u. moderne Religion. Religionswiss. Analysen, Gütersloh 1994. - Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das „Heilige", Darmstadt 1977. - Günter Dux, Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Gesch., Frankfurt a.M. 1982. - Mircea Eliade, Le sacre et le profane, Paris 1957; dt.: Das Heilige u. das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957. - Ders., The Quest, Chicago 1969; dt.: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Wien 1973. - Hans-Georg Gadamer, Wahrheit u. Methode. Grundzüge einer phil. Hermeneutik, Tübingen 1975. - Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswiss. Unters., 1998 (RWR 10). - Jean Gebser, Ursprung u. Gegenwart, München 1973. - Clifford Geertz, Religion als kulturelles System: ders., Dichte Beschreibung. Beitr. zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983, 4 4 - 95. - Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1972, 6 9 - 1 0 4 . - Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt a.M. 1946 u.ö. - Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgesch. Religionswiss. u. Moderne, München 1997. — Hans-Joachim Klimkeit, Der leidende Gerechte in der Religionsgesch. Ein Beitr. zur problemorientierten „Religionsphänomenologie": Hartmut Zinser (Hg.), Religionswiss. Eine Einf., Berlin 1988, 1 6 4 - 1 8 4 . - Ders., Die Seidenstraße. Handelsweg u. Kulturbrücke zw. Morgen- u. Abendland, Köln 1988. - Hans Küng. Projekt Weltethos, München 1990 u.ö. - Karl Löwith, Weltgesch. u. Heilsgeschehen. Die theol. Voraussetzungen der Geschichtsphil., Stuttgart u.a. 1953. - Jürgen Mohn, Mythostheorien. Eine religionswiss. Unters, zu Mythos

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u. Interkulturalität, München 1998. - Werner Müller, Indianische Welterfahrung, Berlin/Wien 1981. - Keiji Nishitani, Was ist Religion?, Frankfurt a.M. 1986. - Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen u. sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917 München 1979 = 1997. - Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen u. der Mensch. Einl. in die phil. Anthropologie, Berlin 1928 Berlin/New York 3 1975. - Sarvapelli Radhakrishnan, Die Gemeinschaft des Geistes, östliche Religionen u. westliches Denken, Darmstadt/Genf 1952. - M a x Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern 1978. - Rupert Sheldrake, T h e Rebirth of Nature, London 1990; dt.: Die Wiedergeburt der Natur. Wiss. Grundlagen eines neuen Verständnisses der Lebendigkeit u. Heiligkeit der Natur, Bern u.a. 1991. - Fritz Stolz, Weltbilder der Religionen. Kultur u. Natur. Diesseits u. Jenseits. Kontrollierbares u. Unkontrollierbares, Zürich 2001. - Hans Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheol., Paderborn u.a. 1985 3 2001 (UTB). - Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990. - Carl Friedrich v. Weizsäcker, Die Tragweite der Wiss., Stuttgart 1990. - Benjamin Lee Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beitr. zur Metalinguistik u. Sprachphil., Reinbek 1963. - Helmut Zander, Gesch. der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt 1999.

Wolfgang Gantke IV/2. Altes Testament 1. Grundsätzliches 2. Der Ursprung der Welt 3. Die Ordnung der Welt Welt 5. Die Wertung der Welt (Literatur S. 579)

1.

4. Das Ende der

Grundsätzliches

1.1. Fehlende Begriffe für „Welt" und „Weltbild" Weltbildkompetenz

und dennoch hoher Anspruch

auf

Es gibt im Alten Testament keinen abstrakten Oberbegriff „Welt", der die Ganzheit und Einheit des Seienden bezeichnete und in Ergänzung oder Opposition zu Gott und Mensch gleichsam einen dritten Pol des Wirklichkeitsverständnisses darstellte. Der gemeinte Sachverhalt wird am ehesten durch mehrgliedrige Formeln (vgl. A. Krüger) bezeichnet, die zwei oder mehr „Etagen" oder kosmologische „Schichten" — Himmel, Erde, Unterwelt bzw. Luft, Land, Wasser - zusammenstellen. Hervorzuheben ist einerseits der Merismus der Räume: hassamayim weha'ärces „Himmel und Erde" (Gen 1,1; 2,1.4.5; 14,19.22; Ex 20,11; 31,17; Dtn 4,26; 30,19; II Reg 19,15; Jes 1,2; Ps 73,25 u.ö.), selten im eigentlich sachgemäßeren Paar „Himmel und Scheol" (Hi 11,8; vgl. Prov 15,24), andererseits der Merismus der Zeiten: meolam ad olarn = „vom fernsten Vergangenen bis zum entferntesten Zukünftigen" (I Chr 16,32; 29,10; Ps 103,17). „Welt" ist etwas Zeitliches, Vergängliches, wobei olarn zur Bezeichnung der Weltzeit, der Epoche, des diesseitigen Wirklichkeitsbereiches werden kann (so auch im Mischna- und Neuhebräischen). Relativ spät begegnen Wortkombinationen mit dem Allquantor, z.B. kol ha'ärces „die ganze Erde" (I Sam 17,46; I Chr 16,30 u.ö.), kol tebel „der ganze Erdkreis" (Jer 10,12; Hi 34,13) oder der substantivierte Allquantor hakkol (Jer 10,16; Ps 49,18; 103,19; Koh 1,2.14; 6,6; 7,15; 9,1 u.ö.; L X X ra n&vxa). Köafiog kommt erst in den Spätschriften (SapSal 11,22; 18,24), in L X X (Gen 2,1; Dtn 4,19; Jes 13,10 u.ö.), bei den jüdischen Philosophen und -»Philo von Alexandrien vor. Nirgends expliziert das Alte Testament sein „Weltbild"; eine zusammenhängende systematische Darstellung, die von ferne an eine philosophische Kosmologie nach Art eines -»Aristoteles oder der -»Stoa heranreichte, fehlt - Gen 1 - 3 ; Hi 28; 3 8 - 4 1 und einige Hymnen (z.B. Ps 104; 137) kommen dem noch am nächsten. Gleichwohl kann man kaum bestreiten, daß das Alte Testament ein Weltbild impliziert, wenn auch keineswegs in allen literarischen Schichten das gleiche. Der moderne Interpret muß sich diese „Weltbilder", die sich - für das Alte Testament charakteristisch - im facettenreichen Diskurs und in geschichtlichem Wandel (jedoch auch mit gewissen Konstanten) präsentieren, aus verstreuten Bruchstücken in Erzählungen, Sprüchen oder Gebeten sowie aus impliziten Anspielungen, die oft erst im religionsgeschichtlichen Vergleich aussagekräftig werden, zusammensetzen, wobei Randunschärfen bleiben. Nicht nur die Kopfstellung der Schöpfungsaussagen in Gen

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l f . signalisiert den Anspruch des Alten Testaments auf Weltbildkompetenz; die Anleitung zur Betrachtung der Welt aus der Perspektive des JHWH-Glaubens und Motivation zur Gestaltung der Welt gemäß diesem Glauben stehen im Zentrum seines Kerygmas. 1.2. Theozentrik

und Freiheit des

Menschen

Das alttestamentliche Weltbild ist nach allen Seiten hin geprägt von Gotteserfahrung. Anfang und Ende von Raum und -»Zeit sind Gottes Werk. Im Unterschied zu den altorientalischen Vorstellungen läßt das Alte Testament die Welt weder physisch aus einer sexuellen Verbindung von Göttern (Zeugung, Geburt) noch aus Theomachien hervorgehen (der Chaoskampf ist längst abgeblaßt), sondern stellt sich die Schöpfung als handwerkliches Produkt vor, das der Deus faber am Anfang hergestellt (Keel, Weltbilder) oder als Wirkung seines machtvollen Wortes, das das Chaos ordnete oder das Nichtseiende ins Dasein gerufen hat (creatio ex nihilo allerdings erst II Makk 7,29). Die Zeit der Geschichte von der Erschaffung der Welt und des Menschen über N o a h , die Erzeitern, Mose, Landnahme, Gründung, Blüte, Untergang des Staates, des Exils und der nachexilischen Neukonstituierung Israels erscheint als von Gott gewollt, geplant und ausgeführt. Auch wenn über längere Erzählpassagen fast gar nichts von Gott gesagt wird (z. B. in der -» Josephnovelle oder in den Erzählungen vom Aufstieg und der Thronfolge Davids), so sind doch auch in solchen scheinbar rein „profanen" Erzählungen Gottes unsichtbare Hände lenkend am Werk (Gen 50,20; II Sam 5,10; 17,14; I Reg 2,4). Das Alte Testament rechnet damit, daß der personal gedachte Gott direkt auf -»Gebete oder -» Opfer von Menschen reagieren und jederzeit in den Weltlauf einschreiten kann, es bietet somit das theistische Weltbild par exellence. Gott gilt nicht etwa als Uhrmacher, der sich nach der Erschaffung des Weltwerkes zurückgezogen hätte (-»Deismus), nicht als ein Element in aller Weltwirklichkeit (-»Pantheismus), sondern als der freie, souveräne -»Schöpfer, der der Welt gegenübersteht, nicht in ihr aufgeht und auch durch nichts in ihr adäquat dargestellt werden kann (-»Bild Gottes; -»Bilder). Die Welt ist die Bühne Gottes, die er nach seinem Willen gestaltet sehen will (-»Ethik) und in die er andauernd eingreift, unbemerkt und stetig im —»Segen, auffällig und punktuell im -»Wunder. Der weltüberlegenen -»Transzendenz entspricht ein „penetranter Immanenzwillen" (v. Rad, Theologie I, 219) Gottes. In teilweise harter Spannung zur Allmacht Gottes und zur strengen JHWH-Zentrik ist das Weltverständnis des Alten Testaments dadurch gekennzeichnet, daß es den Menschen und ihren freien Fähigkeiten eine herausragende Rolle zuweist. Als „Ebenbild Gottes" (Gen 1,26f.) sind M a n n und Frau dazu bestimmt, die Erde zu unterwerfen und zu gestalten. Der Mensch wird zum „Mitschöpfer", zum Ko-Kreator (Welker), der eine Gott ähnliche Erkenntniskraft (Gen 3,22) und Macht (Ps 8,6) besitzt, die ihm ungeheure Leistungen ermöglicht: technische Fortschritte wie Schmiedekunst und Städtebau, ja Riesenwerke wie den Turm von Babel, militärische Großtaten wie die Eroberung ganzer Imperien mithilfe riesiger Heere und deren Organisation und Verwaltung durch geschulte Beamte (das Feuer und das Rad werden im Alten Testament nicht so hoch ästimiert wie in der Umwelt). 1.3. Formen der

Weltwahrnehmung

Die Weltsicht des Alten Testaments ist konkret, sinnlich, körperbezogen (Weippert), d.h. die Benamung der Welt erfolgt mit Eigenheiten des Menschen: das „Angesicht" oder „Auge der Erde" ( = Quelle), der „ M u n d des Flusses", der „Kopf des Berges"; das „ H e r z " des Himmels und der Erde (Ez 27,4.25 - 2 7 ; 28,2; Jon 2,4; Ps 46,3; Prov 23,34). Der Mensch verlängert sich in seine Umwelt hinein, indem er seine Körperteile zum Maßstab macht: Fingerbreite, Spanne, Elle. Größere Distanzen werden durch menschliche Leistungskraft gemessen: etwa nach Tagereisen. Hohlmaße prolongieren das Fassungsvermögen der H a n d . Der Tag endet, wenn die Sonne untergeht; der neue Tag beginnt, wenn zwei Sterne am Nachthimmel sichtbar werden; daher ist ganz der

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sinnlichen Wahrnehmung entsprechend der Anbruch des Abends der Beginn des neuen Tages. Die Naturzeiten werden vom menschlichen Empfinden her gewertet: der Morgen ist die Zeit des Heils (Janowski, Tempel), ist aber auch die Zeit der gerechten Rache (Jes 37,36; Jer 20,16; Hos 7,6; Est 9,13), die Nacht ist die Zeit des Unheils, des Unrechts und der Gefahr (Ex 12,12; Ps 104,20). Der Mensch lebt in einem engen Kontakt zum Tier und mit dem Rhythmus der Natur. 1.4. Kausalkette

und

Wunder

Die Welterklärung des Alten Testaments ist auffällig rational; sie erfolgt vor allem in der Kategorie der Kausalität; alles hat seinen Grund (Am 3,3ff.), auch Israels Geschichte in der Deutung sowohl des deuteronomistischen als auch des chronistischen Geschichtswerks wie auch der Propheten. M . -»Weber sprach zu Recht vom „alttestamentlichen Rationalismus" (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920; I, 122; III, 415) und von der „Entzauberung der Welt, welche mit der altjüdischen Prophetie einsetzte" (I, 94f.; vgl. Schluchter 127-196). Dennoch gibt es immer wieder Wunder, wobei keineswegs jedes Handeln Gottes an der Welt als „Wunder" gilt (zum Problem der Identifikation von Wundern vgl. Zakovitch, bes. 9—20). Obgleich alles Sein und Leben als Wunder gelten kann (vgl. Ps 8), werden nur herausragende „Heilstaten Gottes, die für die menschliche Seite unerklärlich und unbeschreibbar sind, von dieser aber als äußerst wirkungsmächtige und ihre Existenz bestimmende Ereignisse erfahren werden" (Joachim Conrad, Art. pl': T h W A T 6 [1989] 576), als Wunder angesprochen. 1.5. Gerechtigkeit

als

Weltordnung

Als höchste Kausalität, die die Welt durchwaltet, gilt die göttliche. Der Schöpfer hat der Welt ein grundlegendes Ordnungsprinzip eingestiftet, den Zusammenhang von Tun und Ergehen. Durch dieses Urprinzip der Ethik erhält die Welt einen inneren stringenten Zusammenhalt, wodurch eine universale Einsichtigkeit der Weltordnung entsteht (vgl. bes. H . H . Schmid). In der Forschung wird ein Streit darüber geführt, in welcher Form sich die göttliche Gerechtigkeit realisiert (vgl. Koch, Prinzip): als eine Art Naturgesetz, das man je nach Akzentsetzung als Tun-Ergehen-Zusammenhang, „Existentialzusammenhang von Tat und Folge" (v. Rad, Theologie I, 398, vgl. 278f.; 397-399), schicksalswirkende Tatsphäre (Koch, Vergeltungsdogma), synthetische Lebensanschauung (Fahlgren) oder konnektive Gerechtigkeit (Assmann) bezeichnet, oder eher um ein je aktives Tun Gottes, der je und je eingreifen kann (Vergeltung) oder aber auch nicht (vgl. Janowski, Tat). Wie die Debatten um die Geltung dieses Prinzips u.a. im Hiobbuch und bei Kohelet zeigen, handelt es sich hierbei um ein Element des Glaubens. 2. Der Ursprung der Welt Im Ursprung liegt das Wesen der Dinge (vgl. TRE 30,253ff.); daher entfalten Schöpfungsaussagen Ätiologien der gegenwärtigen Welt- und Lebensumstände. Charakteristischerweise wird die Erschaffung von Himmel und Erde erzählt, nicht aber die Erschaffung der Unterwelt. Nach Gen 1 f. ist die Welt sehr klar geordnet. Allein das Wort des einen Gottes ordnete das Chaos und gab ihm eine feste Struktur. Die nüchterne Beschreibung der Funktionen der Geschöpfe im Gesamtplan Gottes (vgl. z. B. die Einordnung der Gestirne als „ L a m p e n " für Nacht und Tag statt als Götter Gen 1,14) trägt zur Entdämonisierung und Entmythisierung der Welt bei (vgl. ->Mythos). Das priesterliche Weltbild wird damit geradezu M o t o r des wissenschaftlichen Fortschritts. Bei —>Deuterojesaja findet sich eine stärkere Betonung der kämpferischen Auseinandersetzung mit Rahab und dem Urmeer, zugleich aber Verspottung dieser Gottheiten als Nichtse. Ansätze dualistischen Denkens, das die Welt(-geschichte) als Kampfplatz antagonistischer Mächte begreift, kommen erst in der —• Apokalyptik auf, evtl. Hi 3 8 - 4 1 (Keel, Entgegnung). Nach Kohelet gibt es im Ursprung eine schöne Weltordnung, die dem Menschen nur ahnbar, aber nicht erkennbar ist (Koh 3,1—15); alles vergebliche Mühen

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unter der Sonne beruht darauf, daß diese anfänglichen Schöpfungsordnungen permanent tragisch verfehlt werden. 3. Die Ordnung der Welt In der Hauptmasse der Texte wird ein Drei-Etagen-Weltbild vorausgesetzt, wobei von oben nach unten die Präsenz des Göttlichen abnimmt: oben liegt der (Wohn-)Bereich des ewig Göttlichen, der durch die Himmelsfeste nach unten begrenzt ist. In der Mitte befindet sich der Lebensraum der Menschen und Tiere, in den das Göttliche permanent einwirkt; unten der Bereich des ->Todes, der von J H W H denkbar weit entfernt ist. Freilich kann dieses Modell sehr viel komplexer gedacht werden, z. B. in der Vorstellung vom „Himmel der Himmel" (I Reg 8,27) oder in der hellenistischen Anschauung, daß die Toten bzw. der Teil der Toten, der es verdient hat, zu Gott in den Himmel kommen. Moderne graphische Darstellungen des biblischen Weltbildes legen unterschiedliche Akzente: B. Lang (Art. Weltbild 1099; Abb. 1) hebt die symmetrische Ordnung aller Weltteile hervor, B. Meissner (II, 109; Abb. 2 nach W. Schwenzner), F. Johannsen (76) oder Th. Schwegler (Taf. 1; Abb. 3) beschränken die Welt auf ein differenziertes, aber geschlossenes System, in dem der Himmel als Wohnung Gottes und die Verwobenheit von Gott und Welt nicht vorkommen. Diese Abschirmung der Welt gegen die Einwohnung Gottes ist anachronistisch und unhaltbar. K. Koch (Reclams Bibellexikon 546; Abb. 4), O. Keel (Weltbilder 11, Abb. 5) und I. Cornelius (218) betonen die numinosen Mächte in der Welt, chiffriert als göttliche Arme, Schlangen oder Schriften (Abb. 5). Zu beachten ist hierbei zudem die Parallelität von Gottes Präsenz in der Welt in Gestalt des Cherubenthrons im -*Tempel und dem himmlischen Thron in seinem oberirdischen Palast (s.u. 3.4.). O. Keel (Bildsymbolik 39) unterstreicht, daß die Welt „ebenso gut vier- oder fünf- wie dreiteilig gedacht werden kann ... von den Abb. 1 Weltbild der Bibel - vertikale verschiedenen Bereichen des Himmels Kosmographie ganz zu schweigen", was er an einem Kudurru-Relief verdeutlicht (Abb. 6): nach seiner Interpretation bietet dies eine sinnbildlich-mythische Darstellung der Welt. Die gewaltige Festung ist die Unterweltstadt, deren Türme die Fundamente der Erde bilden, auf der eine aus Männern, Frauen, Tieren und Pflanzen gemischte Prozession einherschreitet, wobei die beiden Schlangen den unteren und den oberen Ozean symbolisieren. Insgesamt muß man sich davor hüten, durch bildliche Vorstellungen eine lebendige Erfahrung mit vielen Brechungen, Übergängen und Unschärfen unsachgemäß zu fixieren und zu simplifizieren. Das Alte Testament weiß, daß es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als die Schulweisheit sich träumen läßt. 3.1. Himmel und Sterne „Der im Himmel wohnt" (Ps 2,4) ist König und universaler Richter der Welt. Von seinem überlegenen Standpunkt aus kann J H W H alles, was auf der Erde geschieht, übersehen, und als Supervisor umsichtig beurteilen und gegebenenfalls eingreifen. Sein Wohnen im Himmel garantiert die Unvergänglichkeit seiner Herrschaft; über allen Din-

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E»WW W Schweriner del. Erde (Oberwelt). A: 2. o. 3. Erde (Unterwelt). i . 2. 3. Himmel. M: Himmlischer Ozean. Irdischer Ozean. D: Tiefe u. Grund des ird. Ozeans. TR:

E.: E,, E.: Hy H|) H|! HO: 0: T, G: Abb. 2

Abend (Westen); die beiden Berge des Sonnenuntergangs. Morgen (Osten) ; die beiden Berge des Sonnenaufgangs. Damm des wtmin.ic, Die 7 Hauern u. der Palast (P.) des Totenreiches.

Das babylonische Weltbild (nach einer Skizze von W. Schwenzner)

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Abb. 3

IV/2

Altorientalische Vorstellung vom Weltall (nach einer Zeichnung von Alexander Schober)

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gen stehend ist er der Welt und damit dem Tod enthoben. Eine ausführlichere Beschreibung der himmlischen Wohnung J H W H s findet sich im Alten Testament nicht, erst im ersten Henochbuch, wo sie im höchsten Himmel gelegen nach Analogie eines irdischen Tempels beschrieben wird. Der Himmel ist nicht leer, sondern dicht besiedelt (vgl. Houtmann; Wright). Um J H W H s Thron herum findet sich der himmlische Hofstaat der Engel und „Göttersöhne" (Gen 6,1.4; Hi 1), die in eigentümlicher Zwischenstellung einerseits klar von J H W H geschieden werden, andererseits übermenschliche Entitäten sind. —»Engel (male'ak) sind Boten Gottes, die in der Welt in Menschengestalt auftauchen können, manchmal mit Flügeln (Jes 6,2; Dan 9,21), manchmal ohne, Botschaften von Gott zu den Menschen bringen (z. B. drei Männer in Mamre, Gen 18; Gabriel, Dan 8,16f.) und umgekehrt (Tob = Palast und Thron Gottes 12,15). Über eine Rampe, eine Art = dessen Stützbalken „Himmelstreppe" verkehren sie zwiHO = Himmelsozean HG = Himmelsgewölbe schen Himmel und Erde (Gen Gottesberg im Norden G 28,12.17). J H W H ist im Himmel auch Bäume/Berge des Sonnenaufgangs O den Engeln hinter einem Vorhang verE Erdscheibe borgen. Auch in jener Welt gibt es eine Nabelberg N Urflut UF Hierarchie, denn nur einige wenige ErzStützpfeiler der Erde S2 engel (die Zahl schwankt zwischen vier u w Unterwelt und sieben: Michael, Gabriel, Uriel, Jerachmiel, Jeremiel, Phanuel, Raguel) Abb. 4 Das Weltbild des Alten Testaments dürfen hinter den Vorhang unmittelbar zu J H W H vortreten (vgl. Hofius). J H W H ist auch der Herr der atmosphärischen Erscheinungen sowie des Sternenhimmels (vgl. Albani); er fährt mit einem Wagen - wohl eine Art Streitwagen nach ägyptischem Muster — sehr schnell durch den ganzen Himmel und kommt seinen Erwählten auf Erden zu Hilfe, indem er deren Feinde von oben überfällt. 3.2. Der bewohnte

Erdkreis

Von der Beobachtung ausgehend, daß aus dem Himmel Wasser fällt und daß aus der Erde Grundwasser hervortritt, stellte man sich vor, daß das grundlegende und ursprüngliche Element das Wasser ist. Bewohnbarer Lebensraum ist überhaupt nur dadurch entstanden, daß J H W H im allumfassenden Wasser wie eine riesige Luftblase einen Lebensraum schuf. Kartographie gab es in Israel nicht; die Angaben der Völkertafel Gen 10 sind in manchen Zügen unklar. Der Horizont ist relativ beschränkt, primär Vorderasien und Nordafrika, Europa nur ganz am Rande; Ostasien, Australien und Amerika waren völlig unbekannt. Die Erde wird als Scheibe mit Grenzen vorgestellt, es gibt aber auch „Inseln", die von dieser „Zentralerde" abgetrennt im Wasser liegen. Die Erde ist überspannt mit einer Himmelfeste (raqia), einem transparenten Schutzpanzer, der das Einströmen des

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Abb. 5

Versuchte Rekonstruktion eines alttestamentlichen Weltbildes

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Abb. 6

Kudurru (Grenzstein) aus mittelbabylonischerkassistischer Zeit (Mesopotamien)

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himmlischen Ozeans verhindert. Die Landplatte schwimmt auf dem Wasser und wird auf Säulen (I Sam 2,8; Ps 75,4) entweder verankert (Luther: „Grundfesten", aber worauf sollten die Säulen ruhen?) oder aber durch „Stabilisatoren" im Wasser in Position gehalten. Inwieweit dabei numinose Kräfte mitwirken, ist umstritten. 3.3. Die

Unterwelt

Die Etymologie des im Alten Testament 66mal belegten se'ol ist unklar; es konkurrieren zahlreiche Ableitungen: „der hohle oder der tiefe O r t " , „Ort der Befragung", „Wohnung des Tammuz, Unterwelt", „Teich des Horus", „Teich des El", „Ort des Chaos, des Lärms" oder (wohl am wahrscheinlichsten) „das, wo Nichts ist", „Ort der Nichtigkeit". Durch die zahlreichen präpositionalen Verbindungen ist jedoch klar, daß s"ol als Ort unten verstanden wird, zu dem man sich nach dem Leben hinabbegeben muß (I Kön 2,9; Hi 7,9; 21,13), wo man postmortal in einem völligen Dämmerzustand verweilt, in Form eines absolut geminderten Seins wie das eines Vogels auf der Stange im abgedeckten Käfig. In den älteren Texten bedeutet das Sein in der Unterwelt eine völlige Trennung von Gott. Es existieren „Wege" (Prov 7,27), „Tore" (Hi 17,16) und „Tiefen" (Spr 9,18) der s"ol. Auch die Vorstellung, daß man sich in der s"6l verstecken könnte (Hi 14,13), unterstreicht die lokale Bedeutung der „Unterwelt". In hymnischer Sprache kann die Errettung aus der Sphäre des Todes (Krankheit) als Heraufführung aus der Scheol besungen werden (I Sam 2,6; Hi 7,9). In der Spätzeit bricht sich die Hoffnung Bahn, daß J H W H auch der Herr der Unterwelt ist (Ps 139,8), ja daß die Gerechten postmortal nicht in die Scheol, sondern in den Himmel kommen. 3.4. Tempel — ein Konzentrat des Weltbildes? Im Tempel ist J H W H symbolisch anwesend (die neuerdings wieder beliebte Annahme, im Allerheiligsten habe in vorexilischer Zeit - hinter dem Vorhang? - nicht die Lade, sondern eine JHWH-Plastik gestanden, steht auf tönernen Füßen). Mit den symbolträchtigen Ornamenten wie dem Ehernen Meer als Verweis auf den Süßwasserozean oder den gestickten Verzierungen des Vorhangs oder den Granatäpfeln als Repräsentanzen des Gartens Eden komprimiert sich die Welt in ihren besseren Teilen im Heiligtum, dem „Nabel der Welt" (Ez 38,12); Unreinheit, Krankheit und Tod haben gerade keinen Zutritt. Es ist vielfach aufgezeigt worden, daß sich in der Architektur und Ausstattung der antiken Tempel eine Art „ritualistisches Weltbild" realisiert (Janowski, Tempel). Der Kultus begleitet nicht die jahreszeitlichen Rhythmen der Natur, sondern umgekehrt: aufgrund der immer neu rite et rede begangenen Observanzen bleibt der Rhythmus der Natur intakt. Genau wie ethische Verfehlungen können auch kultisch-liturgische die Welt aus dem Gleichgewicht bringen und großes Verderben bewirken. Die Frage, ob Gott wirklich im Tempel wohnt, ob er überhaupt auf der Erde wohnt (I Reg 8,26; Jes 66,1), wird unterschiedlich beantwortet: daß der Tempel in Jerusalem der erwählte Ort der Einwohnung Gottes ist, sagen nur bestimmte Zirkel im Alten Testament; die —•Samaritaner identifizieren Moria auf dem Garizim (—•Garizim und Ebal). Die Vorstellung vom außerhalb Israels gelegenen Gottesberg —»Sinai ist damit nicht leicht zu vermitteln, erst recht nicht die Einwohnung Gottes in einem mobilen „Zelt" und einem transportablen Heiligtum wie der Lade. J H W H läßt sich mit keinem Stück Welt glatt verrechnen. 4. Das Ende der Welt Das Alte Testament rechnet damit, daß die Ordnung dieser Welt zeitlich begrenzt ist (—•Eschatologie). In der Spätzeit erwarten apokalyptische Kreise „einen neuen Himmel und eine neue Erde" (Jes 65,17; 66,22), in denen Gerechtigkeit wohnen werden (—• Apokalyptik). Mit dem Ende dieser Welt sind dramatische kosmische Ereignisse verknüpft: die Vorstellung vom Erdbrand, der alles bis in den Abgrund niederbrennt (vgl. Jes 26,11; Hi 31,12), eine radikale Veränderung der Herrschaftsverhältnisse, eine totale

Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/2

579

Umgestaltung der Schöpfung; so soll z. B. der Tempelberg zum höchsten Berg werden (Jes 2,2; Mi 4,1). 5. Die Wertung

der

Welt

Das Alte Testament hat ein sehr nüchternes Verhältnis zur Welt; animistische Vorstellungen begegnen ebenso selten wie angstbesetzte Ideen über -»Dämonen, Totengeister oder Heroen. Obgleich das zeitliche Ende der Welt erwartet wird, gibt es keine Formen der Weltverachtung, sondern im Gegenteil eine erhabene und zugleich fröhliche Weltlichkeit (Essen, Trinken, Erotik, Naturerleben)! Daß Gott die Welt geliebt hat (Joh з,16), ist eine Kurzformel alttestamentlichen Schöpfungsglaubens. Die Vorstellungen einer Zwei-Äonen-Lehre mit einer weitreichenden Skepsis gegenüber „dieser Welt" sind nicht kanonisiert worden. Leo Baeck hat recht, wenn er die Frömmigkeit der hebräischen Bibel auf den Begriff „Weltreligion" bringt (Wesen des Judentums [1905], Wiesbaden '1995, 5 6 - 8 1 ) , womit er die Bejahung und die Freude an der Welt als guter Schöpfung J H W H s meint. Literatur 1. Bibliographien: Bernd Janowski/Beate Ego (Hg.), Das bibl. Weltbild u. seine alttorient. Kontexte, 2001 (FAT 32) 543-558. - Bernhard Lang, Art. Weltbild: NBL 3 (2001) 1098-1105. - Ernst Topitsch, Art. Weltbild: HRWG 5 (2001) 355-366. 2. Zu Schöpfung und Welt: Matthias Albani, Der eine Gott u. die himmlischen Heerscharen, Leipzig 2000. - Rainer Albertz, Schöpfungsmythos u. Umweltethik: ders., Zorn über das Unrecht. Vom Glauben, der verändern will, Neukirchen-Vluyn 1996, 6 5 - 8 4 . - Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit u. Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. - Michaela Baucks, Die Welt am Anfang. Zum Verständnis v. Vorwelt u. Weltentstehung in Gen 1 u. der altorient. Lit., 1997 (WMANT 74). - Jean Bottéro, Les origines de l'univers selon la Bible: ders., Naissance de Dieu. La Bible et l'historien, Paris 1986 (Bibliothèque des histoires) 155 - 202. - Izak Cornelius, The Visual Representation of the World in the Ancient Near East and the Hebrew Bible, JNSL 20 (1994) 193-218. - La Création dans l'Orient ancien, hg. v. Louis Derousseaux, 1987 (LeDiv 127). - Creation in the Biblical Traditions, hg. v. Richard J. Clifford, 1992 (CBQ.MS 24). - Creation in the OT, hg. v. Bernhard W. Anderson, 1984 (IRT 6). - Peter Doll, Menschenschöpfung u. Weltschöpfung in der atl. Weisheit, 1985 (SBS 115). - Jürgen Ebach, Leviathan u. Behemoth. Eine bibl. Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch die Zweckrationalität, Paderborn и.a. 1984 (Phil. Positionen 5). - Karl Eberlein, Gott der Schöpfer - Israels Gott. Eine exegetischhermeneutische Stud, zur theol. Funktion atl. Schöpfungsaussagen, 1986 (BEAT 5). - Karl H. Fahlgren, Sedaka nahestehende u. entgegengesetzte Begriffe im AT, Uppsala 1932. - Tikva FrymerKensky, Biblical Cosmology: Backgrounds for the Bible, hg. v. Michael P. O'Connor/David N. Freedman, Winona Lake, Ind. 1987,231-240. - Sue Gillingham, „Der die Morgenröte zur Finsternis macht". Gott u. Schöpfung im Amosbuch: EvTh 53 (1993) 109-123. - Garrett Green, Myth, History, and Imagination. The Creation Narratives in Bible and Theology: HBT 12 (1990) 19-38. - Jürgen Hübner, Schöpfung, Weltbild u. Weltverantwortung: JBTh 5 (1990) 219-237. - Bernd Janowski, Tempel u. Schöpfung. Schöpfungstheol. Aspekte der priesterschr. Heiligtumskonzeption: JBTh 5 (1990) 3 7 - 6 9 . Ders., Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs": ders., Beitr. zur Theol. des AT. II. Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999, 167-191. - Jörg Jeremias, Schöpfung in Poesie u. Prosa des AT. Gen 1 - 3 im Vergleich mit anderen Schöpfungstexten des AT: JBTh 5 (1990) 11-36. - Friedrich Johannsen, Atl. Arbeitsbuch f. Religionspädagogen, München 1987 2 1998. - Othmar Keel, Die Welt der altorient. Bildsymbolik u. das AT, Zürich 1972 Göttingen s 1996. - Ders., Jahwes Entgegnung an Ijob 3 8 - 4 1 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, 1978 (FRLANT 121). - Ders., Altäg. u. bibl. Weltbilder, die Anfänge der vorsokratischen Phil. u. das äpxij-Problem in späten bibl. Sehr.: Bernd Janowski/Beate Ego (Hg.) (s.o. zu 1.) 2 7 - 63. - Rolf Knierim, Cosmos and History in Israel's Theology: HBTh 3 (1981) 59-123. - Klaus Koch, Um das Prinzip der Vergeltung in Religion u. Recht des AT, Darmstadt, 1972. - Ders., Wort u. Einheit des Schöpfergottes in Memphis u. Jerusalem. Zur Einzigartigkeit Israels: ders., Stud, zur atl. u. altorient. Religionsgesch., Göttingen 1988, 61-105. - Ders., Gibt es ein Vergeltungsdogma im AT? (1955): ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beitr. zur atl. Theol. GAufs., Neukirchen-Vluyn, I 1991, 65-103. - Annette Krüger, Himmel - Erde - Unterwelt. Kosmologische Entwürfe in der poetischen Lit. Israels: Janowski/Ego (s.o. zu 1.) 65-83. - Thomas Krüger, „Kosmo-theologie" zw. Mythos u. Erfahrung. Psalm 104 im Horizont altorient. u. atl. „Schöpfungs"-Konzepte: BN 68 (1993) 49 - 7 4 . - Karl

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Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/2

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Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/3

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IV/3. Neues Testament 1. Vorbemerkungen ratur S. 586) 1.

2. Allgemeines zum frühchristlichen Weltbild

3. Besonderes

(Lite-

Vorbemerkungen

1.1. Das frühe Christentum partizipierte an dem mehr oder weniger verbreiteten mythischen Seinsverständnis der antiken Mittelmeerwelt und Mesopotamiens ( - • M y thos I). Das bedeutet, daß in dieser Ontologie keine strikte Trennung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen durchgeführt wurde: Allgemeines wird nicht nur immer am Besonderen erfahrbar, sondern auch bevorzugt am Besonderen typisiert. Ähnlich verhält es sich bei dem Gegenüber von Gegenständlichem und Idealem. Orte und Zeiten sind nicht einfach Punkte in einem Euklidischen R a u m mit linearer Zeitskala, sondern tragen Werte (je höher oder je ursprünglicher, desto besser). Ein bloßes Nacherzählen frühchristlicher Weltbilder kann leicht im Sinne des physikalistischen Objektivismus mißverstanden werden. Das frühe Christentum wurzelt im wesentlichen in der vielgestaltigen religiösen Kultur des antiken Judentums, das seinerseits als Teil der hellenistischen Welt trotz einiger sich durchhaltender Elemente kein einheitliches Weltbild hervorgebracht hat. In dieser Hinsicht teilt das frühe Christentum mit dem antiken Judentum den -> Monotheismus und, für das mythische Weltbild untypisch, ein weitgehend lineares Geschichtsbild (-•Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie). Aus der jüdischen —• Apokalyptik hat es weiterhin eine Relativierung traditioneller Mythologie übernommen: Die Schöpfung (->Schöpfer/Schöpfung) verliert ihre urbildhafte Bedeutung und ist nicht mehr transparent für den Willen Gottes; statt dessen nimmt die Äonenwende mit dem Gottesgericht (-»Gericht Gottes) die Funktion eines endzeitlichen Mythos ein, dem der apokalyptische Prophet per -»Offenbarung den ansonsten unerkennbaren Willen Gottes entnimmt; aus dem Monotheismus folgt freilich, daß zugleich offenbart wird, daß das scheinbar gottferne Weltgeschehen schon im ursprünglichen Schöpfungsplan Gottes verankert war. Ein mit dem mythologischen Denken verbundenes Problem stellt sich, weil weder frühjüdische noch frühchristliche Autoren große Sorgfalt auf Konsistenz in ihren Weltbild-Aussagen verwandt haben. Darin zeigt sich nicht nur das Fehlen der modernen „Selbstverständlichkeit", daß das Wesen eines Gegenstandes sich in seiner mathematisch-

582

Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/3

logischen Idealisierbarkeit enthüllt. Vielmehr dürfte diese Inkonsistenz ihren Grund darin haben, daß eben keine strikte Trennung zwischen Sein und Sollen angestrebt war und den unterschiedlichen Lebensbereichen mit ihren jeweiligen Anforderungen auch unterschiedliche, teilweise sogar nicht mehr zu vereinheitlichende Weltbildelemente zugeordnet wurden. Zwei Beispiele mögen die Diversität der antik-jüdischen Weltbilder und zugleich den Zusammenhang von Kosmologie und theologischer Anthropologie illustrieren. 1.2. In bezug auf die verbreiteten Kalenderstreitigkeiten im antiken Judentum liegt dem Astronomischen Buch in äthHen 7 2 - 8 2 die Annahme eines Idealjahres von 360 Tagen (zwölfmal 30 Tage in Verbindung mit zweimal sechs Sonnentoren) zugrunde, in welchem angeblich Sonne, Mond und Sterne eine vollkommene Harmonie ergeben (äthHen 72,1). Zwecks Synchronisation mit dem Sonnen- bzw. Sternenjahr wird pro Quartal aber je ein Schalttag eingefügt, der Sternenengeln zugeordnet ist und die Teilbarkeit des Jahres in viermal 13 Wochen erlaubt (äthHen 72,13.19.25.31; 75,1). Die Abweichungen zu dem ca. 354tägigen Mondjahr wurden wohl durch Einfügung eines 30tägigen Schaltmonats alle 3 Jahre ausgeglichen (äthHen 74,10-16; 79,4f.; Jub 6,23-38 behauptet eine Ubereinstimmung zwischen 364tägigem Sonnenjahr und 12 Mondmonaten, die folglich gegen die Realität idealisiert wurden). Die offensichtlichen Fehler (synodischer Mondmonat ca. 29,53, tropisches Sonnenjahr ca. 365,24 Tage) wurden einem Konzept der kosmologischen Harmonie geopfert, in dem sich die gerechte Schöpfungsordnung Gottes widerspiegeln sollte und das zu entsprechendem menschlichem Gehorsam gegenüber den Ordnungen Gottes anleitet (äthHen 75,3; 82,4; vgl. 2,1). Mißachtung des henochitischen Kalenders stellt daher eine schwere Sünde dar (82,46), verursacht auch durch die sündige Abweichung der Planetenbahnen (in antiker Astronomie schon über Epizyklen idealisierend angenähert) und des Mondes im Vergleich zu den Sternen (vgl. 75,2; 80,6f.; 82,5; s. Albani). In ->Qumran wurden Fragmente (4Q259 u.a.) zu einem Kalendersystem entdeckt, dem zwar ebenfalls das 364tägige Sonnenjahr zugrunde liegt; die Abweichungen zum tatsächlichen Sonnenjahr hat man hier aber offensichtlich nicht durch Monats-, sondern durch Wochen-Interkalationen behoben. Dieses Interkalationssystem orientierte sich an einer Kombination von sechsjährigem Priesterdienst- (vgl. I Chr 24,7-19), siebenjährigem Sabbat- und 49jährigem Jubiläen-Zyklus: wenn innerhalb eines Sieben-Jahre-Zyklus in dem durch das Jubiläum charakterisierten Jahr (z. B. im 2. Jubiläum das jeweils 2. Jahr) die erste Woche die Dienstwoche für die Gamul- oder SchechanjaPriester war und dieses Jahr nicht in oder direkt nach einem Erlaßjahr-Zyklus liegt, dann und nur dann wird eine zusätzliche Woche interkaliert (Gleßmer). Dieses System produziert in 343 Jahren einen Fehler von 1,75 Tagen und war damit fast genauso präzise wie das babylonische System und präziser als der Julianische Kalender (ca. 3 Tage Fehler in 400 Jahren).

Das am Jerusalemer Tempel praktizierte System entsprach wohl dem babylonischen: innerhalb von 19 Jahren wurden nach einem festgelegten System sieben Schaltmonate eingefügt. Die Monatslänge richtete sich dabei nach der tatsächlichen Zeit von Neumond zu Neumond, die evtl. durch Bezeugung festgelegt wurde (vgl. mRH 1,7). Die richtige Wahl des schöpfungsgemäßen Kalenders entschied also darüber, ob die Festtage zum gottgewollten Zeitpunkt gefeiert wurden oder nicht. Die Kalenderstreitigkeiten hatten somit religiöse und gesellschaftliche Zersplitterung zur Folge (vgl. aus dem 2. Jh. n. Chr. die christlichen Streitigkeiten über die Festlegung des Osterfestes mit den Quartodecimanern [—•Ostern/Osterfest/Osterpredigt I]). 1.3. —»Philo von Alexandrien verwendet in seinen Traktaten mehrere kosmologische Modelle (Früchtel). In De Opificio Mundi herrscht die Beschreibung des Kosmos als nóXiQ Öeoü vor: die Welt ist nach Art einer monarchischen Verfassung geordnet (Op. 3.10Í.142—144). Die Schöpfung gilt als Akt eines Architekten (19). Während die sinnlich wahrnehmbare Welt (KÓopoq aia0r¡TÓq) auf einem Urbild in der Vernunft des kosmischen Architekten (kóo[1oq vorjTÓg, mit dem -»Logos identifizierbar, 24) basiert, ist dieser seinerseits ein Abbild (eiKtbv) des göttlichen Urbildes. Zwei Grundkräfte Gottes (oder auch des Logos) haben den Kosmos geschaffen {öovafiiQ noir¡xiKf¡) und erhalten ihn weiterhin (Súvafiiq ßaaifotcrj: VitMos 11,99). Auch der Mensch wurde zunächst als androgyner Himmelsmensch (Prototyp als eiKcbv zum KÓa/ioq vorjxóq) und erst danach als sinnlich wahrnehmbarer Mensch (Protoplast als eikcóv eiKÓvog zum KÓa/iOQ aiuötjröt;) geschaffen (Op. 134).

Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/3

583

Aus der philosophischen Tradition über die logische Diäresis baut Philo eine kosmologische Ausweitung, eine Schöpfung durch Teilung (vor allem in Quis Kerum Divinarum Heres sit), welche die qualitätslose Materie betrifft und zu entsprechender Vielfalt im geistigen Bereich führt. Das verbindende Element dieser Vielheiten ist der -»Logos, der gut stoisch alles Existierende erfüllt. Ein weiteres Bild für die Struktur der Welt liefert der früchtetragende Baum. Vor allem der Traktat De Plarttatione beschreibt den Kosmos als einen Baum mit vier Hauptschößlingen, den vier Elementen, die ihrerseits viele Seitentriebe besitzen (Plant 2 4.14ff.). Dieser Baum besitzt sein Hegemonikon jedoch entgegen antiker Wissenschaft nicht in der Wurzel im Boden, sondern in einem Zentrum, das kreisförmig von den Wurzeln und Astspitzen umgeben ist (VitMos 1,189) und mit der Sonne identifiziert wird (Her 263). Die unterschiedlichen Qualitäten der Elemente (kalt - warm, trocken — feucht) werden durch den Logos zu einer Einheit verbunden (Migr 220). Auch der Mensch entspricht im Kleinen einer Pflanze, im Unterschied zu den Tieren allerdings einer aufrecht gehenden Himmelspflanze. Gegen das ansonsten transzendente Gottesbild Philos gilt Gott hier als immanent. Besonders breit bezeugen die philonischen Schriften das Verständnis des Kosmos als Heiligtum Gottes. Nach SpecLeg I,66ff. spiegeln die Tempelvorschriften die Struktur des sichtbaren Kosmos wider: der Himmel ist der Tempelraum, die Sterne sind die Weihegeschenke, die Priester sind die göttlichen Kräfte. Auch das bunte Priestergewand ist eine Nachahmung des Kosmos (1,85ff.). Ebenso entspricht das Stiftszelt dem Aufbau des Kosmos (VitMos II,67ff.): dem inneren Bereich des Zeltes korrespondiert die Welt des geistig, dem äußeren die des sinnlich Wahrnehmbaren. Die vier Farben der trennenden Teppiche symbolisieren die vier Elemente. Auch einige Kultgeräte erfahren eine symbolische Deutung. Auch in den philosophischen Bemühungen Philos zeigt sich die Bedeutung der Kosmologie für die wahre Erkenntnis und damit auch für die Soteriologie, für das Beschreiten des „Königsweges". Im Bild vom Kosmos als Baum Gottes liefert die Entsprechung zum Menschen als mikrokosmischem Baum, der seine Wurzeln zum Himmel ausstreckt, die Ermöglichung des Aufstiegs der dreigeteilten menschlichen —»-Seele aus dem Kerker sterblicher Körper (Erde) über die Mondregion (Äther-Luft-Gemisch) bis in den reinsten Äther (Plant 12; Som 1,134ff.). Den beiden kosmologischen Heiligtumsdeutungen entsprechen die schattenhafte Erkenntnis Gottes im Schlußverfahren vom Geschaffenen auf den Schöpfer (-»Tempel; als Sohnschaft des Logos) und die wahre Schau des Ungewordenen (Stiftszelt; als Sohnschaft Gottes). Wie der Priester beim Eintritt in das Allerheiligste das bunte Gewand ab- und das weiße anlegt, so befreit sich die Seele von den körperlichen Dingen, um sich ganz Gott zu weihen (All 11,56). 2. Allgemeines

zum frühchristlichen

Weltbild

Die Verfasser der frühchristlichen Schriften stehen zunächst einmal auf einem breiten Fundament kosmologischer „Selbstverständlichkeiten", die sie vor allem mit Strömungen des antiken Judentums verbinden. Die Welt gilt als von Gott geschaffen (I Kor 8,6; Rom 1,25; M k 13,19; M t 19,4; Act 17,24; I Tim 4,13; I Petr 4,19). Damit ist in der Regel eine Ordnung und Gestaltung der Materie gemeint, keine creatio ex nihilo. Letzteres (vgl. dazu II Makk 7,28; slHen 24,2; Philo, Op. 81; syrBar 48,8) steht wohl nur hinter Rom 4,17 (Gott als der KaÄcöv zä ¡if\ övza dbq ovxa) und vielleicht auch dem oö in I Kor 8,6 in bezug auf Gottes Schöpferwillen. Nach II Petr 3,5 erscheint bei der Schöpfung die Erde aus dem Wasser. Bei der Schöpfung wirkte im Sinne einer abgestuften Transzendenz Gottes der Kyrios -•Jesus Christus mit (I Kor 8,6; Kol 1,15-17; Hebr 1,2; Apk 3,14; Joh 1,3). Neu gegenüber frühjüdischen Theologien, welche neben der Präexistenz der -»-Weisheit bzw. des Logos auch deren Schöpfungsmittlerschaft kennen (vgl. Prov 8,30 LXX; Weish 7,21; 8,6; 9,1 f.; Philo, Sacr 8; Fug 95; SpecLeg 1,81), ist ihre Identifizierung mit Jesus.

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Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/3

Die geschaffene Welt selbst, als ö KÖafioq (I Kor 8,4; Rom 1,20; Mt 24,21; 25,34; Lk 11,50; Joh 7,24; 21,25; Hebr 4,3; Apk 13,8), rd navza (I Kor 8,6; Rom 11,36; Kol 1,16.20; Eph l,10f.23; Hebr 1,3; 2,10; Apk 4,11) oder q KxiaiQ (Mk 10,6; 13,19; II Petr 3,4) bezeichnet, läßt sich als Summe von Himmel und Erde beschreiben (Mt 5,18.34f.; 6,10; Lk 10,21 [Q]; 12,56; Act 17,24; Hebr 12,26; Apk 20,11; vgl. Gen 1,1). Gelegentlich wird weiterhin die Unterwelt (Phil 2,10; Apk 5,3) oder das Meer (Act 4,24; 14,15; Apk 14,7) aufgeführt. Apk 5,13 nennt einen vierstufigen Aufbau der geschaffenen Welt: Himmel, Erdoberfläche, Unterwelt und Meer. Der sichtbare Himmel gilt als Kuppel oder Zelt (Hebr 9,11; Apk 7,15) über der flachen Erdscheibe. An ihm sind die Gestirne befestigt (Hebr 11,12; vgl. Mk 13,25 par. Mt 24,29). Über dem sichtbaren Himmel befindet sich die Welt Gottes, der irdischen Perspektive normalerweise verschlossen (Ausnahmen z. B. bei der Taufe und Verklärung Jesu Mk 1,9-11; 9 , 2 - 1 0 ; bei einer Entrückung oder Offenbarung II Kor 12,2-4; Apk I,9ff.; in der Endzeit Mk 13,26; Mt 23,39; Apk 1,7). Dieser Himmel ist der gewöhnliche Aufenthaltsort der -»Engel als Diener Gottes (Gal 1,8; Eph 3,15; Mk 12,25; 13,32; Mt 18,10; Apk 12,7), teilweise aber auch des gottfeindlichen Satans (-*Teufel; Lk 10,18; vgl. Apk 12,7-9). An höchster Stelle steht der Thron Gottes (Hebr 4,16; 8,1; vgl. Mt 5,34; 23,22; Act 7,49; Apk 3,21). Der Himmel als Bereich Gottes kann in hierarchische Schichten gegliedert vorgestellt werden. Mindestens drei Himmel setzt II Kor 1 2 , 2 - 4 voraus, wovon der dritte als das -»Paradies (vgl. slHen 8; grBar 4) wohl zugleich der Ort Gottes und damit der oberste ist. Die unterschiedlichen Himmelszonen in Eph 4,9 f. sind hingegen offensichtlich Sphären gottfeindlicher Mächte (z.B. von Planeten), die durchschritten werden müssen, um in den darüberliegenden Bereich Gottes zu gelangen. Die Himmel (plur.) im Hebräerbrief gliedern die Hierarchien der Engel (Hebr 4,14; 7,26) als Vorhof zum Allerheiligsten, dem Himmel (sing.; 9,24). Als Ort Gottes, des (präexistenten) Kyrios und der Engel ist der Himmel Ausgangspunkt oder Ort göttlichen Handelns in Vergangenheit (z.B. Gal 3,19), Gegenwart (Mt 2,12f.l9f.) und Zukunft (I Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20; II Thess 1,7; Mk 13,26f.). Die Luft zwischen Himmelsfirmament und Erdscheibe, in antiker Kosmologie oft ein Mischbereich zwischen dem Element Luft und dem Äther (vgl. Philo, Som 1,138), ist die Sphäre der -»Dämonen und ihres Herrschers (Paulus in I Kor 8,4f.; Eph 2,2; Lk I I , 2 4 - 2 6 [Q]; vgl. TestBenj 3,4; slHen 31). Da die Erde als eine Scheibe gilt, besitzt sie auch Ränder (Mt 12,42; Lk 11,31; Act 1,8; 13,47). Möglicherweise implizieren die vier Ecken der Erde in Apk 20,8 eine quadratische Form dieser Scheibe (vgl. die vier Himmelsrichtungen in Mk 13,27; Apk 7,1). Das Meer als Teil des Kosmos spielt keine bedeutende Rolle im erhaltenen frühchristlichen Schrifttum. Lediglich die Apokalypse setzt, teilweise nur noch metaphorisch, eine allumfassende Urflut um den aus Erdscheibe und Himmelsfirmament gebildeten Hohlraum voraus: göttliche Stimmen klingen wie das Brausen vieler Wasser (Apk 1,15; 14,2; 19,6; vgl. die im Lobpreis lärmenden Himmelswasser Hab 3,10, in Ps 46,7 als Deutung zu V. 3f.; Jer 10,13a par. konjiziert). Die alte Mythologie von den gott- und schöpfungsfeindlichen Chaoswassern, schon in frühjüdischer Zeit auf feindliche Völker gedeutet (Hab 3 , 3 - 1 5 ; Ps 18 par.; 46,7; 77,16-21; Jes 64,1 nach L X X , lQJes*, Syr.), spiegelt sich in Apk 17,1.15. Der Terminus äßoaaog für die Unterwelt hat vor allem den Aufenthaltsort oder das Gefängnis gottfeindlicher Mächte im Blick (des Tieres in Apk 11,7; 17,8; des VerderberEngels Abaddon 9,11; vgl. 20,3; der Dämonen Lk 8,31; aber auch der Toten Rom 10,7); qSrjt; als der Ort der Toten (Act 2,27.31) gilt auch als Strafort (Mt 11,23 par. Lk 10,15). Letztere Bedeutung haftet jedoch vor allem dem Begriff yeevva an (das Tal Hinnom südlich von Jerusalem, frühjüdisch als endzeitlicher feuriger Vergeltungsort äthHen 26,4; 5 4 , 1 - 6 ; 90,26f.; Jdt 16,17; LibAnt 63,4): Mk 9,43.45.47; Mt 10,28 par. Lk 12,5; Mt 5,22; 23,15.33; Jak 3,6. Dieser räumlichen Gliederung der Welt entspricht weitgehend auch eine wertende (vgl. Gal 4,25f.; Phil 3,14; Kol 3,lf.; Joh 8,23): der Himmel als der obere Bereich ist

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die Welt Gottes, in der Gottes Wille erfüllt wird (vgl. M t 6,10; Ausnahmen s.o.), während die Unterwelt den Sitz gottfeindlicher Mächte bildet (vgl. Kol 3,1 f.; Eph 4,8ff.; Joh 3,13.31; 6,62; 8,23; Jak 3,15ff.). Die Erde dazwischen ist der Bereich menschlicher, mehr oder weniger freier Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod. Das Ausmaß dieser Wertung steigert sich oft in antik-jüdischer und frühchristlicher Literatur bis zu einem mehr oder weniger konsequenten Dualismus räumlicher oder zeitlicher Art. Satan und sein Reich gelten als mächtige Gegner Gottes (Jub 10,8; Testlss 6,1; 1 Q M XIII,10ff.; 1QS 111,20-25; II Kor 4,4; 6,14f. [Paulus?]; 11,14; Eph 2,2; M k 3,22 - 2 7 mit Lk 11,14-23 [Q]; Joh 12,31; 14,30; 16,11; Apk 12,12), die erst am Ende der Welt unterworfen werden (TestLev 3,3; 18,12; Testjud 25,3; AssMos 10; I Kor 15,26.54; Rom 16,20; Lk l l , 2 1 f . ; Apk 20,7-10.14; 21,4). Diesen Machtbereichen sind die Termini Licht und Finsternis zugeordnet (äthHen 108,11-15; TestLev 19,1; 1QS 111,19; I Thess 5 , 5 - 9 ; II Kor 6,14f. [Paulus?]; Rom 13,12; Eph 5,8f.; Joh 3,19ff.; 12,35f.; I Joh 2,9ff.). Die Apokalyptik kennt daher zwei Äonen (im Neuen Testament Gal 1,4; Eph 2,2). Die menschliche Existenz wird von zwei Geistern (TestLev 20; Testjud 19,4; 1QS III, 17ff.; I Joh 4,6) oder den Machtsphären aäpi, und nveßfia bestimmt (Gal 5,16ff.; Rom 7,15-23; Joh 6,63; vgl. TestSeb 9,7; 1 Q H IV,29-32; M k 14,38). Leib und Seele stehen im Gegensatz (Weish 9,15.17; IV M a k k 1 , 1 - 4 ; Philo, All 1,108; Her 84f.; Rom 7,22f.; I Petr 2,11; II Petr 2 , 7 - 1 8 ; I Joh 2,16; dichotomisch II Kor 4,16f.). Irdische Substanz hat in der Himmelswelt nichts zu suchen (I Kor 15,35—50). Die Sendungs-Christologie operiert mit dem denkbar schärfsten Gegensatz zwischen himmlischer Seinsweise des Gottessohnes und seiner Übernahme menschlichen Geschicks bis zum Tod (Gal 4,4f.; Phil 2 , 6 - 8 ; Röm 8,3f.32; Joh 1,1 ff.; 3,16; I Joh 4,9; I Tim 3,16; Hebr 5,8ff.). Im Kontext der weithin im frühen Christentum vertretenen Endzeit-Erwartung k o m m t eine Verwandlung der instabilen, gefährdeten menschlichen Existenz in den Blick, die oft auch kosmische Dimensionen einschließt. Ein bereits in der Himmelswelt bereitetes -»Jerusalem wird sich in der Endzeit auf die Erde herabsenken (Apk 3,12; 21,2.10; Hebr 12,22; vgl. Gal 4,25f.), die Erde und der geschaffene Himmel werden ersetzt werden (Apk 20,11; 21,1; vgl. II Petr 3,7.13; Kaivrj Kxiaiq ist allerdings in II Kor 5,17; Gal 6,15 Bekehrungsterminus, nicht kosmisch gemeint). Die satanischen Mächte und der Tod werden vernichtet werden (s.o.), nachdem sie einschließlich der ungläubigen Menschen gerichtsdoxologisch der Herrschaft des Kyrios erst- und letztmalig huldigen mußten (Phil 2,10; M t 23,39). Möglichkeitsbedingung dieses endzeitlichen Wandels ist die souveräne Herrschaft Gottes (bzw. Christi) über die gesamte geschaffene Welt und seine Macht auch über den Satan (Mt 16,18; Lk l l , 2 1 f . ; Hebr 13,20; Apk 1,18; 2,27.31; 9,1; 20,1.3.13 f.). 3.

Besonderes

Die Trennung zwischen Himmel und irdischer Sphäre wird nach verbreiteter Auffassung der neutestamentlichen Forschung in Verkündigung und Wirken Jesu auf eine eigentümliche Weise aufgehoben oder doch zumindest aufgeweicht. Texte wie Lk 11,1423 (Q) mit M t 9,32-34; M k 3 , 2 2 - 2 7 (Beelzebul-Streit), M k 4 , 2 6 - 2 9 (selbstwachsende Saat), M t 13,31-33 par. Lk 13,18-21 mit M k 4 , 3 0 - 3 2 (Senfkorn und Sauerteig) und Lk 10,18 (Satansvision) zeigten, daß Jesus in seinem Wirken die endzeitliche Königsherrschaft Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) schon zeichen- oder keimhaft anbrechen gesehen habe. Doch Lk 11,14-23 (Q) thematisiert eher Gottes immerwährendes Weltkönigtum, eben auch über dämonische Mächte, die Gleichnisse beschreiben nicht das endzeitliche Gottesreich, sondern Themen im Zusammenhang seiner Verkündigung, und Lk 10,18 gibt wahrscheinlich eine vergangene Vision über eschatologische Ereignisse wieder. Möglicherweise vertrat Jesus sogar eine terminierte Enderwartung: das endzeitliche Gottesreich sollte am 15. Nisan ( = 30. April) 28 n. Chr. anbrechen (vgl. -»Clemens von Alexandrien, ström I,145,4f.; -»Eusebius von Caesarea, hist.eccl. 1,13; Chronologie des Paulus [s. Scriba, Korinth 158-165]; Sabbatjahr-Zyklus [s. Wacholder] u.a.).

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Welt/Weltanschauung/Weltbild I V / 3

Widerstand gegen das eschatologische Weltbild läßt sich wahrscheinlich zum ersten M a l in der Korinther-Korrespondenz des Paulus beobachten (-»Korintherbriefe). Die Bestreitung der -»Auferstehung, auf die Paulus in I Kor 15 reagiert, hat wohl nicht nur den Widersinn leibhafter Präsenz in der Himmelswelt als Argument herangezogen (dazu V. 41—48), sondern a u c h das in der außerjüdischen Welt verbreitete Befremden gegenüber geschichtlicher - » E s c h a t o l o g i e artikuliert (die Unterschiede zu Weltbrand-Zyklen oder Goldenen Zeitaltern dürften bemerkt worden sein), weshalb Paulus in zwei gewichtigen E x k u r s e n die endzeitlichen Abläufe vor Augen führt (V. 2 3 - 2 8 . 4 9 - 5 7 ) . Konsequent verwandelt das - » J o h a n n e s e v a n g e l i u m traditionelle eschatologische Erwartungen in ein gegenwärtiges Geschehen. Die Auferstehung der Toten und das Gericht spielen sich nicht in der Endzeit ab, sondern ereignen sich in der A n n a h m e oder Ablehnung des Offenbarungsgeschehens (Joh 1 1 , 2 5 gegen V. 2 4 ; 3 , 1 8 f . 3 6 ; 5 , 2 4 ) . Der Übergang in die Sphäre des (ewigen) Lebens aufgrund der glaubenden A n n a h m e des Offenbarerwortes bewirkt, daß der Glaubende n a c h seinem T o d in die Welt der himmlischen Wohnungen versetzt wird, während die anderen in der Todessphäre verbleiben ( 1 2 , 3 2 ; 1 4 , 2 ) . Spätere Glossen fügen eine eschatologische E r w a r t u n g wieder ein, um dem J o hannesevangelium sachliche Apostolizität zu verleihen ( 5 , 2 8 f . ; 14,3 u.ö.). Literatur Edward Adams, Constructing the World. A Study in Paul's Cosmological Language, Edinburgh 2000 (Studies of the N T and its World). - Matthias Albani, Astronomie u. Schöpfungsglaube. Unters, zum astronomischen Henochbuch, 1994 ( W M A N T 68). - William M . Alexander, Demonic Possession in the NT. 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I V / 4 . Kirchengeschichtlich 1. Begriff 2. Alte Kirche und Mittelalter und Gegenwart (Quellen/Literatur S.602) 1.

3. Renaissance und Reformation

4. Neuzeit

Begriff

Der Begriff „Weltbild" wurde im Deutschen erst u m 1 9 0 0 allgemein gebräuchlich, im Gegenüber zu „ W e l t a n s c h a u u n g " (s.o. III) sowie im Z u s a m m e n h a n g der Unterscheidung zwischen N a t u r - und Geisteswissenschaften. Anders als die mittelalterlichen Termini itnago muttdi oder cosmograpbia meint „ W e l t b i l d " nicht nur die Beschreibung der Welt, sondern auch ein eigens vorgestelltes, gefertigtes Bild. Eine Vorlage dafür dürfte das reformpädagogische Werk J . A . —•Comenius', Orbis sensualium pictus (1658), sein; das systema mundi zum Gegenstand objektiver, empirisch-mathematischer Wissenschaft zu m a c h e n , heißt seit Ch. - » W o l f f Cosmologia generalis (Frankfurt/Leipzig 1 7 2 8 / 3 1 ) . Welche Gehalte für ein Weltbild besonders wichtig sind - die raumzeitliche Struktur des „ U n i v e r s u m s " , die materiellen und energetischen U r s a c h e - W i r k u n g - Z u s a m m e n h ä n g e der „ - • N a t u r " , der evolutionäre Prozeß des „ - » L e b e n s " - , hängt von der jeweiligen wissenschaftlichen und kulturellen Situation ab. Von „ W e l t b i l d " kann m a n aber auch in den vorneuzeitlichen Beschreibungen der Welt im ganzen sprechen, die unter den Titeln Tä tpocriKä/Physica (Aristoteles) oder Historia naturalis (C. Plinius d . J . ) der Alten Kirche überliefert und als Philosophia naturalis in g r o ß e r Breite bis in die Neuzeit philosophisch kommentiert und theologisch diskutiert w u r d e n . Sie hatten jedoch stets die Welt des -»-Menschen und seiner -»-Erfahrung zum Gegenstand und sahen hierfür meist die R e d e von - » G o t t oder Göttlichem als unverzichtbar an, verbanden also rationale Beschreibung mit religiöser bzw. christlicher Deutung; „ W e l t b i l d " und das, was heute oft „ W e l t a n s c h a u u n g " heißt, w a r e n eng verwoben. D o c h auch neuzeitliche Weltbilder sind nicht trennscharf auf naturwissenschaftliche Theoriebildung beschränkt, sondern spiegeln methodische und kulturelle Kontexte, die Deutungsaspekte eintragen.

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2. Alte Kirche und Mittelalter 2.1. In der Alten Kirche wurde die richtige Beschreibung der Welt zum theologischen Thema erst in Auseinandersetzung mit der Philosophie. Die Bibel sprach von „Himmel und Erde" fast nur, um den Raum der Geschöpfe Gottes (-»-Schöpfer/Schöpfung) und die Zeit der Geschichte zwischen den Menschen und Gott zu benennen; aber die gelehrte Bibelauslegung, besonders des Hexaemerons, dann auch die christliche -»-Apologetik und die sich ausbildenden theologischen Systeme, nötigten dazu, die Gehalte der vorliegenden Weltmodelle (Ekschmitt; Audretsch/Mainzer 40ff.) zu bestätigen oder zu verändern oder als heidnisch abzuweisen. Diese eklektische, zum Teil das monotheistische Weltbild des hellenistischen Judentums (-»Philo von Alexandrien) beerbende Rezeption der -»Naturphilosophie in die Oikonomia Gottes bemaß sich daran, was dem Glauben durch Offenbarung gewiß war und was ihn gegenüber nichtchristlichen Weltbildern von vornherein ins Recht setzte. Die biblische -»Offenbarung erforderte, daß von der sinnlich wahrnehmbaren, aus Himmel, Erde und Unterwelt bestehenden Welt ein von ihr kategorial verschiedener Gott angenommen, die Welt somit als geschaffen gedacht und daß sie zugleich als Welt um den Menschen und seinen Erdkreis herum vorgestellt wurde, der Mensch also als der wichtigste Gegenstand göttlichen Wirkens in der Weltmitte zu wohnen kam. Diese doppelte Anforderung wurde vor allem in der Verknüpfung der Physik des -»Aristoteles mit dem Schöpfungsmythos des Timaios von —»Plato erfüllt. Die Erklärung der Vorgänge in der Welt und an ihren natürlichen örtern zwischen Unten und Oben widersprach dem Schöpfungsglauben nicht: die sublunarischen, kraft ihrer elementaren Zusammensetzung werdenden und vergehenden, auch von Zufälligkeit bestimmten Dinge; die supralunarischen, kreis- und gleichförmig laufenden Planetensphären einschließlich der Sonne; die äußerste Fixsternsphäre, die ihrerseits von einem selbst unbewegten, sie als liebendem bewegenden „Ersten Beweger" im Umlauf gehalten wird (Aristoteles, ph. 5 [ 1 9 6 b l 0 - 197a35]; metaph. 12,7 [1072al9-1073al3]). Dieser Kosmos hatte nichts außerhalb seiner selbst, auch keinen leeren Raum, sondern war numerisch einer, d.h. einzigartig, und die Vorgänge in ihm waren zweckmäßig geordnet, d.h. waren „sehr gut". Gestirngötter wurden mit Gen 1 ausgeschieden, und die schöpferische Tätigkeit des Ersten Bewegers fand man im „Demiurgen" Piatos bezeugt, dem Werkmeister- oder Künstlergott, der den Kosmos als „Bild des Schöpfers" (Ti. 30d.68e.92c) harmonisch, d.h. nach mathematisch-geometrischen Zahl- und Maßordnungen (wie Weish 10,21) geformt und nach teleologischen Prinzipien beseelt hatte (wie Gen 2,7; Act 17,25ff.). Zwar war auch das platonische Weltbild nicht eindeutig monotheistisch; „den Bildner und Vater dieses Alls aufzufinden ist schwer" (Ti. 28c). Dies zugestanden, konnte es jedoch als natürliche Gotteserkenntnis gewürdigt werden. Dies bedeutete zugleich die Ablehnung des epikureischen Weltbilds, das die ziellose Entstehung unendlich vieler Welten aus unendlich vielen Atomen annahm (vgl. T R E 4,406,41-51), als atheistisch und sensualistisch. Das religiöse (und moralische) Verdikt gegen diesen „-»Materialismus" oder „Naturalismus" (-»Natur) verhinderte von vornherein (und bis in die Neuzeit) die Diskussion der physikalischen These des Atomismus als solcher. Auch das Heraklit (-»Vorsokratik) aufnehmende stoische Weltbild (-»Stoa/ Stoizismus/Neustoizismus) war christlich nicht zu adaptieren, insofern es periodische Ausgänge der Welt aus dem Urfeuer und die Rückkehr zu ihm in einem Weltenbrand annahm und von der Welt nur den höchsten Gott, nicht die Gestirngötter, und ihn nur im Blick auf den jeweils neuen Kosmos unterschied. Nicht der -»Pantheismus und Determinismus (-»Wille/Willensfreiheit) dieses Weltbilds, wohl aber bestimmte Aspekte desselben wurden gleichwohl stark rezipiert, vor allem die These, daß Gott als ordnender und zwecksetzender „ - » L o g o s " bzw. als spannungsgebendes „Pneuma" (-»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben) die Welt überall durchdringt und zugleich als rationales Prinzip, d.h. als „-»Vorsehung", die gesamte Körperwelt bestimmt (Stead 35ff.). Daß Gott auf-

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grund der kontinuierlichen (vakuumfreien) Materialität der Welt selber körperlich sei, wurde stets abgelehnt, sieht man von der Ausnahme -»Tertullians (Prax. 7: Evans 9 6 , 5 12 mit Anm. 234ff.) ab. Die These der Ekpyrosis bzw. Apokatastasis (-»'Wiederbringung [aller]) wurde ebenfalls seit -»Justin dem Märtyrer abgelehnt (2 apol. 7). Der kirchlichen Verurteilung verfiel die abweichende Meinung —»Origenes', daß Gott, Schöpfer von Ewigkeit her, die sinnenfällige Welt als eine Art großes Lebewesen innerhalb einer unendlichen Abfolge von Welten, in denen auch menschliche Seelen präexistierten, erschaffen habe (Origenes, princ. 1,6,3: Origenes [GCS 22] 5,82ff.). Während Plato und Aristoteles die Zeit an der wiederkehrenden Kreisbewegung der Gestirne abgelesen (vgl. Blumenberg, Genesis 509ff.), die Welt im ganzen somit als fertige („ewige") beschrieben hatten, wurde die teleologische Struktur der Vorgänge in der Welt mit den Stoikern auf die Welt übertragen, die nun im ganzen Gegenstand der göttlichen „Vorsehung" war. In dieser Welt war überdies der Mensch, wiederum stoisch pointiert als „Mikrokosmos", der Höhepunkt und eigentlicher Zweck des Kosmos (—•Makrokosmos/Mikrokosmos). So ließ sich die Heilsgeschichte mit ihrem inkarnatorischen „ u m des Menschen willen" zugleich als kosmische Zeit interpretieren. Folgenreich wurde auch die platonische Rede von der Welt als „beseeltem Lebewesen" (Ti. 30b) mittels der stoischen Vorstellung der „Weltseele" oder des „ P n e u m a " in der Welt akzentuiert. Die attima mundi, wie sie vor allem Cicero (Somniutn Scipionis), sein Kommentator -»Macrobius (Commentarii 1,14,16-18) und Vergil (Aeneis VI,724-727) überlieferten, wurde mit dem biblischen Glauben verbunden, daß Gott den Geschöpfen das Leben mitteilt. Die nichtchristlichen Weltbilder entsprachen dem biblischen Schöpferglauben darin jedoch durchweg nicht, daß sie, auch wenn nicht mehr theogonisch, die Welt als numinoses Wesen deuteten, dem Ersten Beweger gleichewig und „göttlich" (Aristoteles, cael. 1,9), unvergänglicher „sichtbarer G o t t " (Plato, Ti. 92c). An die Stelle der Annahme der Ewigkeit der Welt tritt der Gedanke der Schöpfung ex nibilo (Stead 49ff.61ff.75ff.). Die platonische Kosmogonie nahm zwar die Entstehung der Zeit mit dem Himmel an, aber auch die Gestaltung der Welt als Ordnung des schon vorhandenen Chaos (Ti. 30a.38c); das wörtliche Verständnis von „Erschaffung" konnte sich nur auf wenige Autoren wie Plutarch (eth. 68) oder Cicero (n.d. I,18f.) berufen. Den Anfang der Welt im Sinne völliger Voraussetzungslosigkeit des göttlichen Schaffens zu verstehen, nötigte zur Uberbietung der weisheitlichen Tradition des Schaffens „ a u s " gestaltlosem Stoff (so noch Justin, 1 apol. 59) mit der These, daß das göttliche Schöpfungswort, welches „das nicht Seiende ruft, daß es sei" (Rom 4,17), auch die „erste Materie" ins Sein gerufen hat; so seit Irenäus (haer. IV,20,2) allgemein akzeptiert. Aber nicht zufällig hatte der Gedanke der Schöpfung aus dem Nichts auch ein Motiv im gnostischen Dualismus, der die Entsprechung der materiellen Welt zum guten Gott bestritt. Wie schon Philo kannte auch das christliche Weltbild einen vermittelnden köyoq, gleichermaßen Kraft und Wort, aufgrund der neutestamentlichen Bezeichnung -»Jesu Christi als Schöpfungsmittler (Joh 1; Kol 1,16), und im Weltbegriff wurde unterschieden nach materiellem mundus sensibilis und dem in Gott von Ewigkeit her bestehenden mundus intelligibilis. Die platonische Figur (Beierwaltes 236ff.) der idealen (intelligenten und intelligiblen) Welt entsprach der Redeweise, daß Gott das Nicht-Seiende „ r u f t " , und es verband das geistige Sein, die —»Engel und die unsterbliche -»Seele des Menschen, mit Gott (Origenes, princ. 2,3,6: Origenes [GCS 22] 5,124; ders., Jo. XIX,22,146: SC 290,134,15-32). Das stoffliche Sein wurde damit allerdings abgewertet; unwichtig war z. B. die Gestalt der Erde (Basilius, hex. 1,2), wo sie nicht wegen der biblischen Vorgabe als Scheibe angesehen wurde (z.B. Lactantius, opif. 1,3.24). Die Entsprechung der Welt zum Schöpfer wurde schließlich thematisiert im Gottesbegriff selbst: vollkommene Einheit, die, ohne etwas anderes als sich selbst vorauszusetzen, das Viele aus sich entläßt. Die pythagoreische Kosmogonie aus der Eins, dem in sich ununterschiedenen Grund der vielen Zahlen und Dinge, konnte zumal in ihrer (neu)platonischen Transformation rezipiert werden, d.h.

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als Emanation der intelligiblen Welt aus dem höchsten Prinzip des Einen und Guten. —»Plotin, dem zufolge die Weltseele die materielle Welt im Aufschauen zu den -»Ideen schuf, Seelen- und Weltentstehung somit einen Schöpfungsakt meint, konnte daher als fast christlicher Philosoph gelten. —»Augustins Weltbild spiegelt die neuplatonische Überwindung des manichäischen Dualismus, aber auch die christliche Umbildung des neuplatonischen Weltbilds und ihrer Kosmosfrömmigkeit; sie scheidet auch die Magie- und Astrologiegläubigkeit aus, wie sie etwa im Corpus Hermeticum (—»Hermetica) vorlag. Das Bild der Welt als aliud Dei sucht die Vorstellung einer Emanation der Welt, die zwar nicht den Überfluß Gottes selbst, wohl aber im M a ß der materiellen Entfernung vom geistigen Ursprung die Ähnlichkeit der Welt mit ihm verringert (conf. 1,3; civ. IX,17), auszugleichen mit der Augenblicklichkeit der Schöpfung der Dinge aus Nichts (auch der materia informis, sowie Raum und Zeit) kraft des erleuchtenden göttlichen Wortes. Der Mittelbegriff dafür ist mundus intelligibilis, christlich umgeformt als der im Wort vorgeformte Grund der Schöpfung, die daher im ganzen licht- und worthaft ist, d.h. eine zusammenhängende Kette des Seins bildet (Lovejoy; Beierwaltes 238f.). So werden die Koexistenz von Welt und Zeit, die Art der Präsenz des Schöpfers im geschaffenen Raum sowie der Unterschied zwischen der philosophischen Rede von einer Weltseele und der christlichen vom Heiligen Geist klar erfaßt (conf. XI,3,5-9,11). Erstmalig auch fügt Augustin eine Analyse der menschlichen Zeiterfahrung (conf. X,8,12-24,35) in das Weltbild ein; dies bezieht sich seither nicht mehr nur auf räum-, d.h. himmelsorientierte, zyklische Zeit, sondern auch auf die dimensionale Zeitstruktur der kulturellen Geschichte. Die biblisch begründeten Lehren von den sechs Weltwochen, d.h. der auf 6.000 Jahre begrenzten Weltzeit, und von den Vier Monarchien -»Daniels (civ. 20,23: CChr.SL 48,741-743) haben die Orientierung des christlichen Abendlandes in der abendlichen Zeit zwischen der Menschwerdung Gottes und der Wiederkunft Christi bis in die Neuzeit geprägt. In der weiteren Entwicklung wurde auch das neuplatonische Weltbild des -» Proclus über den -•Dionysius Areopagita wirksam. So versteht - » M a x i m u s Confessor die intelligible Welt als Vielheit im Unterschied zu den Logoi Gottes, die jene schaffen, selbst aber ewig eins sind in der Weisheit Gottes; also ist die intelligible Welt nicht selbst göttlich. Elemente des aristotelischen Weltbilds wurden neu wirksam vor allem durch -»Boethius; -»Johannes Philoponus präzisiert die Unterscheidung von Gott und Welt, indem er die supralunarischen Sphären wie die sublunarischen Elemente der veränderlichen Materie zurechnete. Anders als Aristoteles schreibt er die Andauer angestoßener Bewegung nicht dem umgebenden Medium (z.B. Luft), sondern der dem gestoßenen Körper mitgeteilten Kraft (Impetus) zu (Evans 67f.; Mainzer 983; Schölten).

2.2. Das Mittelalter erweiterte das Weltbild durch erneuten Rückgriff auf antike Quellen, aber auch durch selbständige empirische und theoretische Fortentwicklung. Dabei wurden naturphilosophische und theologische Weltbilder zunehmend unterschieden, ohne daß jene sich völlig aus der theologisch definierten Korrelation von Natur und Gnade als einer hierarchisch-harmonischen Gesamtordnung des Seins hätten lösen und selbst ein umfassendes Weltbild hätten formulieren können. Die Unmöglichkeit, reinlich zwischen den theologischen Fragen des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes und den philosophischen Fragen seines schöpferischen und erhaltenden Handelns zu unterscheiden, nötigte aber auch zur andauernden Reflexion des Weltbilds (Wildiers 60ff.; Simek). Fragloser Bestandteil des Weltbilds war die sublunarische Naturkunde (Mineralien, Pflanzen, Tiere, Wetter usw.) auf der Grundlage -»Isidors von Sevilla, ferner Plinius' (23/24-79 n.Chr.) Naturalis Historia, Senecas (um 1 v . C h r . - 6 5 n.Chr.) Naturales quaestiones, seit dem 13. Jh. auch der Libri naturales des Aristoteles. Die irdischen Vorgänge galten als verläßlich ablaufend aufgrund der mitgeschaffenen Eigenschaften der Dinge. Anders als noch -»Ambrosius von Mailand nahm -»Beda Venerabiiis an, daß trotz möglicher -»Wunder solche Eigenschaften von Gott nicht zusätzlich geschaffen wurden, sondern natürlich mit den Dingen verbunden sind (Beda, hex. I: CChr.SL

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198A,10,241-12,324). Die augenblickliche Schöpfung der Welt aus dem Nichts konnte zugleich neuplatonisch verstanden werden als Ausgang von Erscheinungen (Formen, Ursachen, Elemente, Körper) aus Gott und deren Rückgang zur intelligiblen Welt, die ewig aus Gott hervorgeht; so -» Johannes Scottus Eriugena (divisione III,16.24ff.). Während -»Abaelard das Sechstagewerk noch unmittelbar auf den Willen des Schöpfers zurückführte, wird das göttliche Handeln in der Folgezeit auf die Elemente, ihre Eigenschaften und natürlichen örter beschränkt, wo sie die weitere Entstehung der Welt selber bewirken, z.B. der Pflanzen in der richtigen Jahreszeit (Thierry von Chartres). Hierfür wird auch die „Natur" als zweite Schöpferin oder Bittstellerin beim göttlichen Geist und Licht eingeführt, durch das Feuer und Bewegung die Elemente ordnen und zur weiteren Wirksamkeit veranlassen (Bernardus Silvestris). Noch weitergehend erklärt R. —»Grosseteste die Entstehung der Dinge aus dem die Materie von Anfang an bewegenden Licht. Dieses wird, mit Augustin, dem Areopagiten, aber auch mit der aristotelischen Lehre vom Himmelsäther, als „Quintessenz" aufgefaßt und zugleich als das Medium der Erkenntnis der Schöpfung (Nitschke 1146f.; Evans 70). Eher aristotelisch nennt -» Albert d. Gr. vier erstgeschaffene, gleichewige Dinge: den Erststoff, die Zeit als Maß der Bewegung, das Empyreum, die Engel als immaterielle Intelligenzen (Albertus Magnus, Summa. De quatt. coaequ.). Aber auch hier, wie in -»Bonaventuras Exemplarismus und bei -»Thomas von Aquino, ist der augustinische mundus intelligibilis die grundlegende Weltbild-Annahme. Die in Codices und Kirchen reich belegte imago tnundi (Clausberg; Zahlten), abstrakt als universitas omnis (Beda Venerabiiis) oder universitas tnundi (Bernardus Silvestris) bezeichnet, stellte eine kugelförmige Welt aus neun Himmelssphären und der Erde in der Mitte vor, mit den sublunaren vier Elementen, den unbelebten und belebten Körpern und den mit ihnen räumlich und zeitlich verbundenen Vorgängen. Diese Welt ist umgeben vom „Himmel über den Himmeln" (Ps 148,4; II Kor 12,2), d.h. von Gott selbst, freilich in unräumlich-ewiger Weise: anders als die geschaffene Kugel ist der sie umgebende Gott eine anfangs- und endlose Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren unendlicher Umfang nirgends ist (Alanus ab Insulis VII). Um den Überhimmel als nichtlokales Wo der Engel und der Seligen von Gott selbst zu unterscheiden, griff man auf die neuplatonische, von den Kirchenvätern als chaldäisch (astrologisch) abgelehnte Vorstellung des „Empyreum" zurück. Seit -»Petrus Lombardus wird dies verstanden als der unter dem Thron Gottes gelegene zehnte Himmel jenseits der Fixsternsphäre, unräumlich, ewig, völlig ruhig, aber feurig im Sinne des goldflammigen lumen gloriae. Als sinnlich nicht zugängliches caelutn intellectuale ist dieser Himmel Gegenstand nicht philosophischer, sondern nur theologischer Erkenntnis (z.B. Thomas von Aquino, S.th. I q 66 a3; q 68; Lang/McDannell); er gehört zu den vier zuerst und für ewig geschaffenen Dingen. Fraglich war, wo die als feurig anzunehmende -»Hölle ihren Ort hat, der elementar gesehen oben sein müßte. Auf die biblischen Gerichtstexte und auf Macrobius gestützt und durch ethisch-pädagogische Qualifikation begründet, lokalisiert man sie weiterhin unterhalb der Weltmitte, d.h. unter -»Jerusalem, und stellt sich ihre konischen Stufen so vor, wie -»Dante Alighieri es in der Divina Commedia beschreibt (Inferno). In der lokalen Mitte des Universums wohnt der Mensch, im „Welthaus", wenn auch nicht mehr im -»Paradies (Albertus Magnus, Summa. De homine). Er ist seinerseits eine Welt im kleinen, ein Mikrokosmos, der an der intelligiblen und an der sensiblen Welt (Engel bzw. Tiere, Pflanzen, Steine) teilhat und dadurch ein Bindeglied in der Hierarchie des Seienden ist. Die Vorstellung begründet zunächst nur die Möglichkeit, daß der Mensch durch seine Sinneswahrnehmungen die Welt gleichwohl vernünftig und als durch Zahlen ausdrückbar proportioniert erkennen kann (Bonaventura I,2ff.l0), und hebt die besondere Stellung des Menschen als Ebenbild Gottes und Mittelpunkt der Schöpfung hervor (Thomas von Aquino, S.th. I, q91 a l ) . In hermetischer und stoischer Tradition wird aber auch die Entsprechung von Mikrokosmos und, mit einem neuen Wort, „Mega-" oder „Macrocosmus" betont: daß der Mensch in sich alle Ele-

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mente und Kräfte der Welt enthält und an der zwischen ihnen waltenden Sympathie und Harmonie, also an der Weltseele, teilhat (Bernardus Silvestris; Roger Bacon). Ihre Unterscheidung von Gott selbst wird festgehalten durch die Übertragung der Lehre von den Vier Ursachen, dem „aristotelischen" (neuplatonischen) Liber de causis folgend: Gott ist die Wirkursache, seine Weisheit die Formursache, seine Güte die Zielursache und die von ihm geschaffenen Elemente sind die stoffliche Ursache der Welt. Die vier innerweltlichen Ursachen werden nun von der göttlichen Erstursache als „Zweitursachen" unterschieden, die immer aus der Kraft der Erstursache wirken, aber in begrenztem Umfang auch selber die Wirkrichtung bestimmen können. Das göttliche Handeln bewirkt somit alles, aber doch nicht alles unmittelbar, sondern mittelbar und auch mit Folgen, die dem göttlichen Sein nicht vergleichbar sind (Thomas von Aquino, S.th. I q 45 a 3f.; q23 a 5). Schwieriger war es, die Weltseele, d.h. die in den Dingen liegende Lebenskraft vom Heiligen Geist zu unterscheiden. Es bedurfte hermetischer Bilder von der Hochzeit der Welt mit der vom Himmel herabsteigenden Weltseele, die den ungestalten Erststoff in harmonische Proportionen, d.h. in die Elemente verwandelt (Thierry von Chartres). Problematisch wurde die Figur, als die einschlägigen aristotelischen Schriften einschließlich der Metaphysik zugänglich wurden: Man konnte Gott als die alleinige Substanz nicht nur der Körper, sondern auch der Seelen verstehen und die Welt wieder als den „sichtbaren Gott" bezeichnen (David von Dinant; vgl. Evans 68f.). Die neue Rezeption des Aristoteles, seines Kommentators Averroes und des Almagestum Ptolemäus' brachten dieses Weltbild in Bedrängnis: von Seiten der Wahrnehmung, weil man sich an eine größere Welt gewöhnen mußte (etwa 20.000 Erdumfänge), vor allem aber, weil die beobachtbaren Umlaufbahnen der Planeten nicht wie bei Aristoteles homozentrisch sind, sondern, wenn man (wie auch Ptolemäus) die Mittelpunktstellung der Erde voraussetzt, exzentrische Kreise und Epizyklen ergeben. Thomas von Aquino entscheidet sich für die Priorität der evidenten Prinzipien gegen das Zeugnis der Sinne (S.th. I q32 a l ) . Von Seiten der Theorie wurde die neue Sicht angefochten, weil das Weltbild Aristoteles' die Ewigkeit auch der sublunaren Dinge in der Gesamtbewegung der Welt philosophisch alternativlos nahe legt (—»Siger von Brabant u.a.). Den heterodoxen Philosophen gibt etwa Thomas zu, daß die Welt als Idee im Geist Gottes ewig sei, bestreitet dies aber für die geschaffene Welt. Er muß aber auch zugeben, daß dies nicht vernünftig bewiesen werden kann, sondern Gegenstand des durch Offenbarung belehrten Glaubens ist (S.th. I q46 a 2). Das christliche Weltbild konnte nur durch die Verurteilung des radikalen Aristotelismus (1270/1277) gegenüber der Gefahr einer widersprüchlichen „doppelten Wahrheit" als alleingeltend erhalten werden (Leinsle 121 ff.). Für die Entwicklung des Weltbilds wurde es bis in die Neuzeit folgenreich, daß formale Distinktionen die Diskrepanzen zwischen dem philosophischen Weltbild und der theologischen Lehre überbrücken mußten. So entwickelte z. B. die Transsubstantiationslehre die Unterscheidung, daß der Leib Christi sich localtter im Himmel befinde, sacramentaliter jedoch in jeder Eucharistie gegenwärtig sei. Das führte zur Ablösung eines rationalen Weltbilds von der Theologie, zunächst durch die Beschränkung der naturphilosophischen Aufgabenstellung, wie sie Thomas von Aquino mit Averroes unterstellt hatte. ->Duns Scotus gliedert mit Avicenna (um 980-1037) den Gottesgedanken bzw. die Metaphysik aus der Naturphilosophie aus, und Wilhelm von -+Ockham bestimmt die Physik nominalistisch als Realwissenschaft, die ihre Begriffe in erster Intention, d.h. für Einzeldinge, gebraucht. Umgekehrt wird die Mathematik, die bislang auf die supralunare Welt beschränkt war, in die Physik hineingenommen, und erstmals wird gefordert, die Sinnenbeobachtung methodisch zu verbessern, d.h. eine scientia experimentalis zu entwickeln (R. —• Grosseteste; Roger Bacon). Die Möglichkeit von Experimenten, von mathematischen Argumentationen, die das Endliche transzendieren, und das Globusspiel mit der figura mundi als vollkommener Kugel werden im Weltbild des -»Nikolaus von Kues noch einmal der (neuplatonisch-

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mystischen) christlichen Theologie dienstbar gemacht. Im Ergebnis werden zwei wesentliche Elemente des mittelalterlichen Weltbilds verabschiedet: die Analogie alles Seienden und die geschlossene Endlichkeit der Welt. Weil Endliches und Unendliches nicht proportional sind und das Widerspruchsprinzip nur auf endliche Größen angewandt werden kann, ergeben sich die coincidentia oppositorum und die complicatio bzw. explicatio als Modi der teilhabenden Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem; (nur) Gott ist absolutes Maximum und absolutes Minimum gleichermaßen (Nikolaus von Kues, De docta ign. I,4f¥.; Cassirer, Individuum 7ff.); die Welt stellt eine Kontraktion Gottes zu einem zweiten Maximum dar, das als „Universalität" die Einheit des Vielen ist (Nikolaus von Kues 11,4). Diese Welt ist nicht unendlich, stellt aber auch keine endlich große Kugel dar; sie ist unbegrenzt derart, daß sie keinen Umfang und keinen Ort außerhalb ihrer hat. Daher hat sie auch keinen Mittelpunkt; diesen und ihren Umfang bildet vielmehr Gott (ebd. 11). Wegen der Relativität des Ortes und der Bewegung befindet sich die Sinnenwelt nicht notwendig in der Weltmitte, die eben nicht ruhend, sondern beweglich angenommen werden muß und in der nicht zwischen sub- und supralunarem Stoff unterschieden werden kann; eine Vielheit solcher Welten ist im intelligiblen Universum durchaus denkbar (ebd. 12f.; Cassirer, Individuum 183ff.; Koyre [1969] 15ff.). Der Weltort des Menschen ist nicht geozentrisch verbürgt, sondern durch die mikrokosmische Teilhabe am Universum und seiner Form, der Weltseele, von der zugleich mit der Materie der bewegende Geist des dreifaltigen Alls ausgeht (Nikolaus von Kues 11,9f.) - D e r Ort des Menschen ist letztlich aber das (nach Gott und Welt) dritte Maximum: Jesus Christus, die Koinzidenz des absolut Größten mit der mikrokosmischen menschlichen Natur (ebd. III,2ff.). 3. Renaissance

und

Reformation

Das kusanische Weltbild wurde erst im Übergang zum 17. Jh. (die Kalenderreform etwas früher) aufgegriffen (Blumenberg, Legitimität 433 ff.). Auf der Basis eines hermetisch und kabbalistisch geprägten Neuplatonismus geht die Frühe Neuzeit angesichts der astronomischen Kritik des geozentrischen Weltbilds schließlich doch „von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum" über (Koyre; Teichmann; Heidelberger/Thiessen). Die vielfältigen Motive für diesen Ausbruch bündeln sich im neuen Selbstverständnis des Menschen (G. -»Pico della Mirandola): Als Körperwesen findet er sich vor in der irdischen Weltmitte, als gottähnliches Geistwesen aber hat ihn Gott bestimmt zur freien Bestimmung seiner selbst, zu seinen möglichen Gestalten und zur Beherrschung der äußeren Natur. Außerhalb des hierarchischen kosmischen Ordo stehend, befindet er sich kraft seiner erkennenden und schöpferischen Vernunft in seiner eigentümlichen Weltmitte. Damit beginnt sich das bisherige Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos zugunsten der Maßstäblichkeit des Vernunftmenschen umzukehren; vor allem wird die asketische Beschränkung der curiositas, der theoretischen Neugierde, hinfällig (Blumenberg, Legitimität 201 ff.; Hirdt). Sie bestätigt sich in der Erweiterung des irdischen und des himmlischen Horizonts im Zeitalter der Entdeckungen, gespiegelt in der neuen Kartographie oder in der Herstellung von Globen, deren ältester heute erhaltener 1491 von Martin Behaim (1459-1507) in Auftrag gegeben wurde; das Weltbild steht erkennbar in Wechselwirkung mit den politischen und ökonomischen Aspekten des Plus ultra. Der Renaissance-Platonismus unterscheidet wie der Cusaner drei Welten, aber nicht die geistige, die sinnliche und die mittlere, sondern eine überhimmlische, eine himmlische oder astrale und eine sinnliche oder elementare Welt, welche dem archetypischen Urbild unter den Bedingungen der Endlichkeit entspricht und vom Empyreum umschlossen wird; so vertreten von M. -»-Ficino bis zu F. Patrizi (1529-1597; Nova de universis philosophia) und Tommaso Campanella (1568-1639). Relativiert werden jene Bedingungen aber durch eine vitalistische Auffassung der Welt als empfindendes, beseeltes, von anti- und sympathetischen Kräften belebtes Wesen sowie eine ästhetische Naturerfahrung (Groh/Groh 93ff.). Die anima mundi ist göttliches Leben im Makrokosmos,

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das alles in ihm durchdringt und erfüllt und das die machina mundi zu einer harmonischen Einheit macht (Agrippa von Nettesheim II, 57; Patrizi, Panpsychia: ders., Nova ...)• Diese Welt hat aber ihre besondere Entsprechung im Mikrokosmos Mensch, der als irdisches Wesen die körperliche Welt, als siderisches Wesen alles erkennt. Durch seine Teilhabe am Weltgeist, der mit der himmlischen quinta essentia gleichgesetzt wird, kann der Mensch die himmlischen Kräfte in den Dingen und, wie —»Paracelsus meint, auch in sich selbst aufspüren, herausziehen und einsetzen. Dieses Weltbild hat seinen Sitz daher vor allem in der iatrochemischen und ganzheitlichen, d.h. Physik und Ethik verbindenden Medizin als „weißer Magie" (Paracelsus von Hohenheim, Paragranum; Pagel), aber genauso in der geheimwissenschaftlichen Alchemie und mantischen Astrologie (Goldhammer; Mulsow; Grafton). Paracelsus' Weltbild beruht auf dem engen Zusammenhang und der wiederherzustellenden Harmonie zwischen dem kosmischen und dem individuellen Organismus (Astronomia magna). Die paracelsische Schule hat es in emblematischen Bildern eindrücklich vor Augen geführt (Fludd). In das neuzeitliche Weltbild führte es dadurch, daß es die bisherige Abhängigkeit des Mikro- vom Makrokosmos in eine Korrelation brachte, in der die bewußte menschliche Gestaltung der Welt der Bestimmtheit des Menschen durch die Welt gegenüber tritt (Cassirer, Individuum 115ff.). Im besonderen ist es das Handeln im alchymischen, zielbewußt in die N a t u r eingreifenden und sie nötigenden Experiment, das eine wesentliche Voraussetzung der exakten (die präparierte N a t u r dann messenden) Naturwissenschaften bildet (Heidelberger/Thiessen 84ff.l44ff.). Verknüpfungen von Naturmystik, naturwissenschaftlichem Weltbild und technischer Praxis sind in dieser Zeit charakteristisch; für die Raumtheorie und die Kosmologie z.B. bei Athanasius Kircher (1601-1680) oder Otto von Guericke (1602-1686; vgl. Wollgast 65ff.). N . —»Kopernikus führt Hermes Trismegistos an, wenn er die Sonne, die sein Weltbild ins Zentrum setzt, als „sichtbaren G o t t " bezeichnet (De revol. I, 10). Aber trotz der Formel „kopernikanische Revolution", von I. -»Kant veranlaßt (KrV B Xllf.; vgl. Blumenberg, Genesis 691 ff.) und bis T h . Kuhn gebraucht, gehört Kopernikus insofern dem alten Weltbild zu, als er an der planetarischen Kreisbewegung sowie an der antiken Zeitdefinition festhält und die Fixsternsphäre als Ort der Welt ansieht. Seine Korrektur der an Ptolemäus oft kritisierten Abweichung von Aristoteles, d.h. an der Annahme von Epizyklen und exzentrischen Kreisen, erforderte die (ebenfalls schon antike) Annahme der Mittelpunktstellung der Sonne. Die Erde wurde zum „vornehmen Stern", denn die figura terrae mußte dieselbe sein wie die forma mundi, d.h. dieselbe zeitgenerierende Gleichförmigkeit der Bewegung aufweisen (Nikolaus Kopernikus, De revol. I, 2ff.; Blumenberg, Genesis 505ff.567ff.). Die hinsichtlich der Erdbewegung um die Sonne noch lange unbewiesene (Teichmann 33ff.l02ff.) Heliozentrik entsprach der Mittelpunktstellung des Menschen als Vernunftwesen und deren Symbolisierung durch die Sonne als Emblem der göttlich-herrschaftlichen Vernunft. Den Abschied vom geozentrischen Weltbild verbindet dann G. —•Bruno mit dem kusanischen Begriff der Unendlichkeit und dem pantheistischen Pathos der Renaissance (Blumenberg, Legitimität 433ff.). Die unendliche Schöpferkraft Gottes vorausgesetzt, ist das Universum notwendig das Größte: eines, unendlich und unbeweglich, ewig. Alle in ihm vorkommenden Veränderungen und Gegensätze lassen sich auf die absolute Einheit Gottes zurückführen, dessen Vorsehung die Vollkommenheit und Harmonie dieses magnum animal und seiner vielen, aus dem Chaos entstehenden und in es zurückkehrenden Welten für immer verbürgt. Bruno wendet die Vorstellung der Weltseele so auf die Polarität von Makro- und Mikrokosmos an, daß das Universum aus unendlich vielen, dem mathematischen Punkt oder dem physikalischen Atom entsprechenden Minima oder „ M o n a d e n " besteht, die das Universum im kleinen und auf besondere und allgemeine Weise, um die jeweilige Sonne und um sich selbst kreisend, widerspiegeln. Die körperlich-geistigen Monaden sind endliche und individuelle, aber zugleich eine lebendige und unvergängliche Daseinsform des ganzen Gottes (Bruno; Blum 29ff.).

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Die Reformation, auf das Thema „Gott und die Seele" konzentriert, hatte für die Geschichte des Weltbildes nur mittelbare Bedeutung. Die Rechtfertigungslehre schloß pantheistische Verknüpfungen von Gott und Welt aus, und sie bedeutete Förderung, aber auch Beschränkung der wissenschaftlichen Vernunft auf die Welt als Schöpfung. Das überlieferte Weltbild wurde nicht in Frage gestellt; die Bibelillustration der Genesis und der Apokalypse des Johannes (1534) bilden die mittelalterliche Welt ab. M. -»-Luthers „Kreaturgefühl" (Eiert 393ff.) blieb vorwissenschaftlich physikotheologisch; er lehnte die Astrologie ab, keineswegs aber den überkommenen Engels-, Dämonen- und Hexenglauben; Kopernikus nahm er nur unsachlich zur Kenntnis (Bornkamm, Jahrhundert 177ff.; ders., Welt 167ff.). Umgekehrt stellte Ph. -»Melanchthon, der dem hermetischen Weltbild näher stand, Horoskope; seine Physik, Psychologie, Geographie und Historiographie stehen einem magischen Weltbild aber fern (Büttner; Eiert 366f.380ff.). Die erforderte religiöse Kompatibilität ließ ihn im Blick auf die heliozentrische These negativ votieren (Melanchthon, Initia 216ff.), ohne daß dies ihn (und den Autor der Vorrede, A. -»Osiander) hinderte, die Publikation der kinematischen Hypothese Kopernikus' zu fördern (Blumenberg, Genesis 341ff.). An zwei Stellen kam es jedoch im Bereich der lutherischen Reformation zur „Relativierung des Weltbilds" (Eiert 363ff.). Das lutherische Abendmahlsverständnis - die These der Präsenz des zur „Rechten Gottes im Himmel" erhöhten Christus im Sakrament auch nach seiner menschlichen Natur - erforderte die Auflösung der lokalen, an den natürlichen Örtern orientierten Vorstellung des Empyreum (Luther 317ff.; Eiert 220ff.273f.; J. -»Brenz). Die christologische Begründung der „Realpräsenz" hatte die These finitum capax infiniti und die Einordnung des „Ortes" in die Kategorie des „Wo", also die These der Relativität der Raumörter zu Folge. Beide wurden von der lutherischen Schulphilosophie gegen die reformierte, hierin konservative Schulphilosophie bis zum Ende des 17. Jh. verteidigt (Eiert 387ff.; Sparn, Wiederkehr 57ff.l28ff.; vgl. Jammer [1960] 55ff.). Die zweite Veränderung des Weltbilds bestand in einer neuen Auslegung des kosmischen Aspekts der Eschatologie am Vorabend des -»Dreißigjährigen Krieges. Anders als die Tradition verstand die lutherische Theologie die Verheißung eines „neuen Himmels und einer neuen Erde" nicht als Erneuerung der geschaffenen, sondern als Schöpfung einer neuen Welt aus Nichts (außer den unsterblichen Seelen); das Weltende bedeutete also die annihilatio mundi (Eiert 447ff.; Stock). Diese nicht dualistische (das Interesse am corpus gloriosum war groß), sondern apokalytische Verdüsterung des Weltbilds löste sich erst um 1700 wieder auf. Dagegen nahmen spiritualistische Lutheraner das hermetisch-paracelsische Weltbild auf und bildeten es theosophisch-mystisch oder rosenkreutzerisch um (-»Rosenkreutzer). Der Akzent lag hier auf der Maßstäblichkeit der Selbsterkenntnis des dreifachen (leiblichen, siderisch-seelischen, geistig-göttlichen) Mikrokosmos für die Erkenntnis der Weltseele oder des Weltgeistes bzw. des Makrokosmos (Weigel, rvöOi aeavzöv Kap. 7ff.l6; Böhme, Aurora II, 19ff.30ff.) sowie auf der Einzeichnung des Dramas von Gut und Böse in die „Geburten Gottes" in drei Welten: ein trinitarisches Weltbild einschließlich Himmel und Hölle (Weigel, Ort; Böhme III, 18ff.; Bornkamm, Jahrhundert 331ff.; Wollgast 499ff.677ff.). 4. Neuzeit

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Gegenwart

4.1. Die neuzeitliche Aufsprengung des durch unmittelbare Sinneswahrnehmung begrenzten Erfahrungshorizontes (Teichmann 165ff.), von Technikern und Astronomen betrieben, bedeutete im Ergebnis eine Mechanisierung des Weltbilds (Maier; Dijksterhuis; Heidelberger/Thiessen 52ff.). Das mit den Mitteln experimenteller Physik und empirischer Kosmologie formulierte Weltbild löste sich aus dem christlichen Interpretationsrahmen; naturwissenschaftliche Weltbeschreibung und religiöse Weltdeutung traten methodisch auseinander. Dies hatte jedoch selbst religiöse Voraussetzungen; das naturwissenschaftliche Weltbild konnte seinerseits wieder religiös besetzt werden. Die Entzauberung der Welt (vgl. Bekker) wurde überdies stets auch kontrastiert durch re-

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ligiöse Weltbilder, die einer alleingeltend auftretenden naturwissenschaftlichen Rationalität widersprachen. J. -»Kepler entwarf aufgrund genauerer Beobachtungen (durch Tycho Brahe [15461601]) eine der Metaphysik der Unendlichkeit widersprechende Himmelsphysik — die eigentliche Revolution des Weltbilds (Koyré [1969] 36ff.639ff.). In ihr konnten die ungleichförmigen Planetenbahnen als Ellipsen um die magnetische Sonne mathematisch dargestellt werden (Kepler, Astronomía). Damit war die „Sphärenharmonie" erst recht bestätigt (und Astrologie möglich); Kepler bezieht die Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos auch auf Sonnensystem und Universum. Die Entschlüsselung des „kosmographischen Mysteriums", der geometrischen Struktur der Welt als Ineinanderschachtelung der fünf regelmäßigen platonischen Körper, zeigt immer noch ihren göttlichen Ursprung. Die Welt ist, da anderes nicht beweisbar wäre, endlich; sie ist jedoch der Raum der Präsenz des göttlichen Geistes, die Kepler vielleicht als sakramentale auffaßt (Wollgast 221 ff.; Groh/Groh 24ff.). Die sublunarische Physik revolutionierte G. -»Galilei mit einer neuen Auffassung der Kausalität als Bewegungszusammenhang, hier mit dem Fallgesetz, das die Messungen des Impetus körperlicher Bewegung, durch künstliche Anordnung um reale Nebenbedingungen bereinigt, als Naturgesetz zu formulieren erlaubte. Für die Himmelsphysik ergab das Fernrohr die Vermutung, daß die Fixsterne verschiedene, (sehr) weit entfernte Sonnen sind (Galilei, Sidereus); damit wird die Vorstellung der Fixsternsphäre hinfällig, das kopernikanische „Weltsystem" aber plausibel (ders., Dialogo). Die Annahme, daß die Welt ein isotroper und isomorpher Raum sei, bekräftigte R. -»Descartes' Gleichsetzung von Materie und Ausdehnung. Die (hypothetische) Erklärung der Entstehung der Welt aus Materiewirbeln führte konsequenterweise zur Annahme der Vielzahl bewohnter Welten und der räumlichen wie zeitlichen Unendlichkeit des Alls (Fontenelle; Dick). Zweifellos hat das neue Weltbild gerade in seinem mathematischen Pathos auch religiöse, wenn auch nicht unzweifelhaft christliche Motive. Denn die enthusiastischen „Priester am Tempel der Natur" (J. Kepler) votieren renaissanceplatonisch und hermetisch für die enge Verknüpfung von Welt und Gott. Wichtig wurde auch der bisher heterodoxe Chiliasmus der New Science (Francis Bacon [1561-1626]), der den experimentellen Erwerb von Wissen und die technische Macht über die Natur als Wiederherstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit ansah (Groh/Groh 17ff.). Fraglos christlich verstand sich die bis ins 18. Jh. von Theologen und Naturwissenschaftlern gepflegte, die sinnliche Wahrnehmung mit Instrumenten erweiternde Physikotheologie. Sie suchte den Menschen nicht nur als Vernunft-, sondern auch als Sinnenwesen in der Welt zu beheimaten angesichts des kopernikanischen Schocks, des erschreckenden „Schweigens der unendlichen Räume" (B. -»Pascal), und sie zielte im Kontext des barocken theatrum mundi auf anschaulich-schöne Ordnung und menschlichen Nutzen. Dem entsprachen auch Versuche, ein Weltsystem im Anschluß an Tycho Brahe zu formulieren, das die Vorzüge des kopernikanischen Systems mit dem des aristotelisch-ptolemäischen verband, d.h. die Mittelpunktstellung der Erde und das umgreifende Empyreum noch zuließ (Riccioli; Teichmann 94f.) - naheliegend auch angesichts der kirchlichen Verurteilung Galileis bzw. der kopernikanischen Lehre 1633 (vgl. Heidelberger/ Thiessen 194ff.). Allerdings verengte das physikotheologische Weltbild das Verhältnis von Gott und Welt auf die einmalige Realisierung eines rationalen Weltplans (anders Philipp); sie spielte damit dem -»Deismus in die Hände, der übernatürliche Offenbarung und naturgesetzwidrige Wunder leugnete. Nicht die Kosmogonie (da eine solche nie Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung sein könne), wohl aber das Programm eines mechanistischen Weltbilds wurde dann, unter Vermeidung von bloßen Hypothesen, von I. -»Newton realisiert. Hier werden alle Vorgänge der Welt auf quantitativ meßbare Kräfte (Druck, Stoß, Beschleunigung) zurückgeführt; Erd- und Himmelsphysik werden in den Gravitations-, Trägheits- und Kraftgesetzen vereinigt (Newton). Dies erfordert die Annahme eines absoluten (eukli-

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dischen) Raumes und der absoluten Zeit (Jammer [1960] 102ff.). Uber Descartes, der die Erhaltungssätze aus der göttlichen Unveränderlichkeit begründet hatte, hinausgehend unterstellt Newton aufgrund der Unendlichkeit Gottes seine allgegenwärtige und ewige Präsenz in der geschaffenen, räumlich und in der zeitlichen Z u k u n f t aber unbegrenzten Welt; er nimmt auch ein Eingreifen Gottes für den Fall an, daß die kosmischen Bewegungen unregelmäßig werden. In der Gleichsetzung von Eigenschaften des Raumes (und Lichtes) mit Attributen Gottes bei den Cambridge Platonists und bei Newton wird ein letztes Mal christliche Theologie im naturwissenschaftlichen Weltbild wirksam (Koyré [1969] 105ff.; Jammer [1960] 27ff.). Dies gilt auf der metaphysischen, aber nicht auf der kosmologischen Ebene auch für das monadologische Weltbild G.W. ->Leibniz'. Von N e w t o n aus gesehen erschien Gott hier als Dieu fainéant (Koyré [1969] 211 ff.). Wenn jede M o n a d e auf je ihre Weise das ganze Universum entelechisch spiegelt, also vollkommen und autark ist (so daß der Raum nicht absolut, sondern als Relationalität existiert), und wenn die wirkliche Welt aufgrund der ewigen Wahrheiten bzw. der Weisheit Gottes die bestmögliche ist, dann ist sie der Intervention von außen ganz unbedürftig, wie die „Weltchronik" der Theodizee belegt (Leibniz §§ 6ff.51.62ff.; Blumenberg, Lesbarkeit 121 ff.). Die hier mögliche Trennung von Metaphysik und Kosmologie realisierte sich in dem Maße, in dem der biblische Schöpfungsbericht seine kosmologische Autorität verlor an Theorien der Entstehung des Planetensystems und überhaupt der Gestirne aus diffusen Materiewolken durch die Wirkung der Schwerkraft (Kant, Naturgeschichte; Laplace). Dieses Weltbild schloß nicht nur Offenbarungen oder Wunder aus, sondern bedurfte auch der Hypothese „ G o t t " nicht mehr. Zugleich büßten die philosophischen und theologischen Begründungen für die „Lesbarkeit der Welt" ihre Kraft ein. Die Physikotheologie kam an ihr Ende (Brockes; Blumenberg, Lesbarkeit 180ff.); die deistische Hypothese wurde naturwissenschaftlich unnötig, auch begann sich zu zeigen, daß technische Instrumente die sinnliche Wahrnehmung nicht grenzenlos erweiterten, sondern sie sogar entwerteten zugunsten der Berechnung abstrakter Daten (Büttner/Richter). Auch die neue Religionsphilosophie und die theologische Neologie zogen sich aus dem „Buch der N a t u r " als religiöse Erkenntnisquelle zurück auf die Selbsterfahrung des Menschen als geistig-moralisches Wesen (J. J. —vSpalding). Das Bild der „Welt" verselbständigte sich gegenüber der unanschaulich gewordenen Unendlichkeit des materiellen Kosmos und wurde zum Vorstellungsraum für die nichtsinnlichen Erfahrungen des Menschen in „höheren Welten" oder „Himmeln"; etwa in F. G. —»Klopstocks Messias. In der Vernunftkritik I. Kants verlor die Metaphysik aber nicht nur die Begriffe „ G o t t " und „unsterbliche Seele", sondern auch den Begriff „Welt". Zwar kann Welterkenntnis mathematisch und physikalisch (und nur so) erworben werden (Kant, De m u n d i . . . forma et principiis); aber daraus ergibt sich kein Abbild der Welt. Weil „Welt" zwar als Phainomenon, nicht aber als mathematische Ganzheit der Erscheinungen und Totalität ihrer Synthesis selber Gegenstand der Erkenntnis sein kann, handelt es sich um eine (z. B. der wissenschaftlichen Urteilskraft nützliche) regulative „kosmologische Idee" (Kant, KrV A 408/B 435ff.; A 508/B 536ff.). Mundus intelligibilis kann nur eine Welt vernünftiger Wesen, ein „Reich der Zwecke" bezeichnen; der alle menschlichen Ansprüche vernichtende „gestirnte Himmel über m i r " verweist um so dringender auf das in seiner Unbedingtheit erhabene „moralische Gesetz in mir" (Kant, KpV A 289). Der nurmehr praktisch zu postulierende religiöse Aspekt des Weltbilds findet seinen empirischen Anhalt in der zeitlichen Struktur der Welt: ihrer unendlich fortschreitenden Entfaltung und Entwicklung (schon Leibniz §§ 10ff.73ff.88) als Schöpfung, die zwar angefangen hat, die zu ihrer Vollendung aber „nichts weniger [braucht], als eine Ewigkeit" (Kant, Naturgeschichte 331 ff.). Der christliche Schöpferglaube wird nun, nachdem die apokalyptisch geschlossene Welt zu einer unbegrenzten Z u k u n f t hin geöffnet ist, vom Raum auf die Zeit orientiert. So verknüpfen Charles Bonnet (1720-1793) und J.G. v. -»-Herder Natur und menschliche Geschichte in einer kosmischen Evolution

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(Mayr 240ff.; Lovejoy 292ff.), die als ganze religiös interpretiert wird. Diese Entgrenzung hat allerdings weitreichende Folgen für das Verhältnis des Individuums zum Weltganzen: Die endliche Lebenszeit steht nun in keinem vorstellbaren Verhältnis mehr zur Weltzeit (Blumenberg, Lebenszeit 173ff.); das erfordert Vermittlungen nicht-mechanischer Art (Palingenesie, Reinkarnation). Widerstand gegen die Alleingeltung des mechanistischen Weltbilds, oft pantheistisch-theosophisch motiviert, griff auf die Vorstellung der sympathetischen, natürlich-magischen Beziehungen aller Teile des Universums und der Zentrierung des Makro- im Mikrokosmos im Menschen zurück; so in der Medizin, der Literatur, in J.W. v. -»Goethes Widerspruch gegen Newton aufgrund des für ihn qualitativen „Buchs der Natur" (Blumenberg, Lesbarkeit 214ff.; Albus) oder der spekulativen Physik F.W.J. —»Schellings, die von der „Weltseele" als „Organismus" spricht. Langfristig erfolgreicher als die romantische Naturphilosophie wurde die auf neuer Offenbarung beruhende, spiritistische Theosophie E. -»Swedenborgs. Sie trennte religiöses und wissenschaftliches Wissen vollständig, ließ sich jedoch einfach und anthropomorph als Weltbild veranschaulichen (William Blake). Gerade um christliche Weltdeutung und moderne Wissenschaft nicht völlig trennen zu müssen, schien die Abkopplung der Theologie von der Denkform naturwissenschaftlicher Objektivität unvermeidlich. So meint F.D.E. ->Schleiermachers Begriff des Universums als unendlichem Ganzen keinen Gegenstand des Wissens oder des Handelns, sondern der religiösen „Anschauung". Hier beginnt die Karriere des Ausdrucks „Weltanschauung" (s.o. III). Die weitere Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbilds durch einheitliche Theorien nahm keine Rücksicht auf religiöse Vorgaben (auch der zweite Hauptsat2 der Thermodynamik nicht). Im Gegenüber zu deren Erfahrungsferne will Alexander von Humboldts (1769-1859) „Versuch einer physischen Weltbeschreibung" jedoch die s:höne Ordnung des „Kosmos" in griechischem Geist anschaulich machen. Seit dem Materialismusstreit (1854/55) galt allgemein, daß in naturwissenschaftliche Forschung keinerlei religiöse Annahmen eingetragen werden dürfen. Gleichwohl wurde die atheistische Konsequenz, die der Materialismus des 18. Jh. gezogen hatte, nicht nur bekräftigt (Ludwig Büchner), sondern im Ausgang von der biologischen Evolutionstheorie (Ch. -»Darwin) überboten durch deren Deutung als kosmisches Prinzip (H.E. -»Spencer; Mayr 314ff.). Der Monismus Ernst Haeckels (1834-1919) präsentierte sich auf der Grunclage morphologischer Anschaulichkeit als Lösung der sieben Welträtsel: Es gibt nur eine einzige, als Materie und als Energie gegebene Substanz, die den unendlichen Raum erfüllt und sich in ewiger Bewegung befindet und die sich nach dem „allgemeinen Kausalgesetz" in periodischem Werden und Vergehen entwickelt (Haeckel Kap. 12-15). Aus der Einheit von Gott und Welt folgt, daß an die Stelle des dualistischen Tranizendenzglaubens und seines „anthropistischen Größenwahns" die „monistische Religon" und ihre „Sittenlehre" treten muß (ebd. Kap. 18f.)- Gegen diesen Naturalismus nuinte die Theologie, eine „idealistische Weltanschauung" als die christliche verteidigen zu sollen. Weil diese Apologetik nicht wirklich besser zwischen Naturwissenschaft und Weltanschauung zu unterscheiden vermochte, scheiterte sie im „Weltanschaumgskampf" völlig (Drehsen/Sparn). Das setzte eine neue Theologie ins Recht, die au! alle Seinsurteile, auch kosmologische oder biologische, verzichten wollte (A. -»Ritsehl; -»Liberale Theologie). 4.2. Das 20. Jh. bildet in zwei Schüben eine tiefgreifend veränderte Konstellation aus. Zunächst wurde, im Bruch mit der klassisch neuzeitlichen, mechanistischen Physik und Kosmologie, eine neues Weltmodell entwickelt, demzufolge mehrere Modelle von Welt möglich wirden. Vorbereitet durch den Kausalitätsbegriff der analytischen Mechanik im 18. Jh. und die Entdeckung nicht-euklidischer R ä u m e im 19. J h . , wurde dies realisiert in der Allgemeinen Relativitätstleorie Albert Einsteins ( 1 9 1 5 / 1 6 ) , dem Kausalitätsbegriff der Quantenmechanik M a x Plancks (1900/1925) und der Entdeckung der Fluchtbewegung der Galaxien durch Edwin Hubble (1929). Das „Weltbild der neuen Physik" (Planck 206ff.; v. Weizsäcker) unterstellt, daß R a u m und Zeit nicht alsolut sind, sondern physisch entstehen und vergehen können: Sie ändern ihre Struktur ähnlich tinem

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elektromagnetischen Feld, und dies in einer (im Großen) nicht-euklidischen Metrik und wechselwirkenid mit der Massenverteilung im Universum. Die Materiedichte bestimmt die K r ü m m u n g des Raum-Zeit-Kontinuums, und dieses bestimmt die Bewegung der Materie; im vierdimensionalen M i n k o w s k i - R a u m gibt es, gegen N e w t o n , keine absolut gleichzeitigen Ereignisse (Meurers 5 8 f f . l 7 3 f f . ; J a m m e r [1960] 138ff.; Audretsch/Mainzer 66ff.; Kanitscheider 70ff.; Hawking [dt.] 29ff.; Polkinghorne [2001] 3 9 f f ) . Mikrophysikalisch kann die Wirklichkeit nur in bezug auf eine mögliche Messung beschrieben werden; makrophysikalisch ist nur die Beschreibung eines vergangenen Zustandes möglich, der mit Hilfe einer Theorie raumzeitlicher Veränderung zur Gegenwart fort- und in die Vergangenheit zurückgeschrieben wird. Ein „ S t a n d a r d m o d e l l " , der FriedmannK o s m o s , rechnet mit einer Beginn-Singularität ( „ U r k n a l l " ) und einem mit der Zeit größer werdenden, dreidimensional geschlossenen, aber unbegrenzten R a u m ohne Mittelpunkt und ohne Z e n trum der Expansion - einer E x p a n s i o n , die vielleicht auch wieder in Kontraktion übergeht. Unentscheidbar ist einstweilen, o b dieses Modell andere Modelle, z. B. das des im Ganzen unveränderten Zustands ohne Anfang und Ende, ausschließt oder nicht ( J a m m e r [1960] 221 ff.; Ebert; H e r o l d / E b e r t 1150ff.; Meurers 215ff.300ff.).

Diese Weltbilder sind sich ihres konstruktiven und perspektivischen Charakters bewußt; auch der Tatsache, daß eine vollständige und einheitliche Theorie über das Was der Welt ihr Warum, ja „Gottes Plan kennen" würde (Hawking [dt.] 216ff.). Äußerungen über „Gott", die über persönlichen Gottesglauben hinausgehen, sind im Kontext der neuen Kosmologie aber meist nur der metaphorische Ausdruck für Anfangsbedingungen und Naturkonstanten der Welt, ob nun eine deterministische oder indeterministische Sicht oder auch die Möglichkeit der Existenz mehrerer Universen favorisiert wird. Von Bedeutung ist jedoch die mehrheitliche Meinung, daß das neue Weltbild und eine religiöse Weltdeutung zusammen bestehen können (Bavink, Naturwissenschaften; Einstein; Planck 246ff.318ff.; Heisenberg, Teil; v. Weizsäcker, Tragweite). Der „Weg zur Religion" soll geebnet werden durch kategoriale Revisionen vor allem beim Kausalitätsbegriff („akausale Kontingenz"), auch durch wissenschaftstheoretische Überlegungen. So bezeichnet M. Planck das physikalische Weltbild als dritte, erfundene Welt, durch welche die Sinnenwelt umfänglicher und einfacher beschrieben wird und die der von beiden unabhängigen, unerkennbaren realen Außenwelt sich annähert, dabei aber immer weniger anthropomorphe Elemente enthält, d.h. immer abstrakter werden muß (Planck 233ff.; vgl. den hypothetischen Realismus der Drei-Welten-These Karl Poppers). Weitergehend formulierte A.N. Whitehead das neue Weltbild als selbst religiös anspruchsvoll. Seine Kosmologie erklärt, indem sie das platonische Weltbild erkenntnistheoretisch neu zur Geltung bringt, aber im Sinne Leibniz' ontologisch korrigiert, die Selbstorganisation aller Einzelwesen oder Monaden im Verlauf des kreativen, kontingente Ereignisse und Emergenz einschließenden organischen Prozesses des Universums im ganzen. Zu dieser Erklärung gehört notwendig auch Gott, der nun aber eine dipolare Natur hat, eine die Welt ordnend verwirklichende und eine die vergängliche Welt in sich aufnehmende. Der universale Prozeß, in dem Gott und die Welt relativ zueinander das Mittel zum Neuen und der Bewahrung und Erfüllung aller subjektiv vergangenen Ereignisse sind, wird in objektiver Unsterblichkeit vollendet (Whitehead, Process 342ff.; ders., Wissenschaft 202ff.; Welker 109ff.). Whiteheads Theorie der Kreativität hatte nicht nur philosophische, sondern auch erhebliche theologische Folgewirkungen (->Prozeßtheologie/Prozeßphilosophie); nicht zuletzt deshalb, weil die angelsächsische Tradition der Physikotheologie und des Dialogs zwischen Religion und Wissenschaften ungebrochen blieb. Ähnlich wirksam wurde das neue Weltbild in der römisch-katholischen Theologie nach dem Ende der neuscholastischen Metaphysik, vor allem in P. -»Teilhards de Chardin evolutionärer Phänomenologie. Die Beschreibung des kosmischen Prozesses wachsender Komplexität und wachsenden Bewußtseins in der Kosmo-, der Bio- und der Noogenese wird orthogenetisch gedeutet: als die von der „Energie ,Liebe'" (Teilhard de Chardin, Mensch 253ff.) angetriebene Konvergenz von Materie und Geist auf einen Punkt Omega hin, dem attraktiven personalen Zentrum der Welt in Gott, kürzer: die Evolution der Welt zur „Per-

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sönlichkeit" durch Jesus Christus, als „Christogenese". Diese als christlich-pantheistisch verstandene Sicht (ebd. 306f.) will den Menschen, der nicht mehr fester Weltmittelpunkt ist und sich in den „Einöden des Weltalls" zu verlieren scheint, als notwendigen Mitarbeiter, ja in Christus als Achse und Spitze der Entwicklung situieren; „wahre Physik" ist, was „den Menschen in seiner Ganzheit in ein zusammenhängendes Weltbild" eingliedert (ebd. 8). Es gab auch Verknüpfungen der Weltbilder Teilhards und Whiteheads (Pendergast); es wurde schließlich auch in Deutschland lebhaft diskutiert, teils auch mit esoterischen Tendenzen überhöht. Die deutschsprachige evangelische Theologie hat die neue Situation sehr zögernd wahrgenommen. Ihr Bruch mit der Liberalen Theologie bekräftigte den Verzicht auf das „Buch der Natur" in der Ächtung jeglicher „natürlichen Theologie" (K. -»Barth). Die existenziale Hermeneutik forderte eine der entweltlichten Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens entsprechende Entmythologisierung des „neutestamentlichen Weltbilds" mit seinem Dämonen- und Wunderglauben (R. —•Bultmann). Dafür wurde etwa die neuzeitlich unvermeidliche „Welterfahrung und Weltbemächtigung" angeführt, aber auch die These M. -»Heideggers, die Neuzeit sei in besonders problematischer Weise die „Zeit des Weltbilds": „Weltbild" sei „Objektivation", kein Abbild der Welt, sondern das Erobern, das Vorstellen und Herstellen der Welt als Bild; weil hier nicht „das Anwesende waltet, sondern der Angriff herrscht" (Heidegger 82ff.l00), sei dieses Weltbild eine gewaltförmige „Weltanschauung" im „Kampf der Weltanschauungen" (ebd. 87). Im Unterschied hierzu galt den Vertretern der Säkularisierungsthese die Glaubenslosigkeit des modernen Weltbilds, d.h. seine Freiheit von einer mythisch umschließenden Welt, als die wünschbare Folge des christlichen Glaubens, der in seiner Freiheit von der Welt (und für Gott) diese Welt profanisiert und das Verhältnis zu ihr radikal versachlicht (Gogarten 144ff.317ff.; vgl. Weizsäcker, Weltbild 258ff.). Doch auch diese These war am „Weltbild", d.h. an den Ergebnissen und naturphilosophischen Problemen der Naturwissenschaft (Bavink, Ergebnisse; ders., Weltbild) nicht substantiell interessiert. Immerhin nahm die theologische Apologetik das relativistische Weltbild zum Anlaß, die bisherige, das biblische Weltbild normativ setzende Beweisführung gegen das naturwissenschaftliche Weltbild aufzugeben und „Weltbild" als vorläufige Beschreibung zu unterscheiden von der „Weltanschauung" als (glaubensnahe) Deutung. Derart falsche Konfrontationen zu beenden, bezweckte z. B. der gegen den Monismus gegründete Keplerbund, ohne freilich jene Wissensformen theologisch verbinden zu können (Spam, Aufklärung), oder die Apologetische Centrale in Berlin. Auf das neue Weltbild nahm dagegen K. -»Heim intensiven theologischen Bezug. Das Weltbild der Zukunft kritisiert die erkenntnisleitenden Unterscheidungen moderner Rationalität, vor allem die SubjektObjekt-Spaltung, und setzt an ihre Stelle relationale Logik und dimensionale Ontologie; das „energetische Weltbild", dessen wichtigster Parameter die Zeit ist, und die religiöse Gewißheit sind komplementär. Mit Relativitätstheorie und Kopenhagener Deutung der Quantentheorie entwickelte Heim dann eine Theorie der Polarität der Zeit, des gegenständlichen und nichtgegenständlichen Raumes. Dieses Weltbild sollte die Plausibilität eines überpolaren Raumes der Gotteserfahrung zeigen und im Weltbild des Glaubens die Rede von Wundern und vom nichtgegenständlichen Leben darstellen (Heim, Glaube IV, 156ff.l79ff.; V, 176ff.208ff.). Im Durchgang durch die naturwissenschaftliche Theoriebildung beschränkte A. Titius diese auf nicht zu verabsolutierende Einzelerkenntnisse; „Ganzheitskausalität" ist nur religiös erfaßbar. Daher kann nur die christliche Theologie natürliche Gesetzmäßigkeiten wie auch Wunder als Modalitäten des die Welt durchwirkenden, aber „überweltlichen" Schöpferwillens Gottes interpretieren (Titius 614ff.827ff.). Im ausgehenden 20. Jh. hat sich die Evolutionstheorie als Paradigma aller naturwissenschaftlichen Weltbilder durchgesetzt (vgl. Hübner, Dialog 439ff.). Die biologische (vor allem molekular- und neurobiologische) Theorie der Entstehung des Lebens und

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die astrophysikalische Theorie der Entstehung des Weltalls werden nach Möglichkeit in einer einheitlichen Theorie verbunden und nicht selten als „evolutionäres Weltbild" präsentiert. „Weltbild" ist nun auch in der Biologie gängig, zumal wo sie menschliches Verhalten und Verstehen erklärt (Lorenz; Riedl, Spaltung; Grassi/v. Uexküll). Die Entwürfe „universaler Weltbilder" verknüpfen die kosmologische, die biologische und die kulturelle Evolution beschreibend und deutend (Riedl, Strategie; Rensch) auf der Basis einer evolutionären Erkenntnistheorie ausdrücklich auch naturalistisch oder jedenfalls als mit dem Schöpfungsglauben nicht vereinbar (Vollmer; Wuketits). Die Selbstorganisation des Universums durch Materie, Energie und Information bis zum menschlichen Bewußtsein kann wiederum als „ G o t t " bezeichnet werden (Jantsch) - oder als göttlicher „Geist", den die „Neognostiker" von Princeton allen evolutionären Gestalten von den Elektronen bis zu den Menschen (und Engeln) zuschreiben (Charon; Oth). Manche biologischen Modelle sprechen von „theistischer Evolution", weil sie in den naturwissenschaftlich erhebbaren Vorgängen als solchen zielgerichtete Absichtlichkeit zu entdecken meinen (Portmann; Illies). Die beanspruchte Deutungsleistung ist nicht geringer, wenn die Stellung des Menschen im Kosmos als durch den Zufall bestimmt erklärt und gefordert wird, den Pascal'schen Schrecken ethisch, jedoch ohne religiöse Illusionen zu bewältigen (Monod); oder wenn im Gegensatz dazu eine Theorie des Spiels, nach dem die Naturgesetze den Zufall steuern, die universale Evolution erklärt und wiederum ethische Empfehlungen nach sich zieht (Eigen/Winkler). Die Existenz des Menschen im Universum wird als „anthropisches Prinzip" auch selber zum Bestandteil der Evolutionstheorie: Jede Änderung der Anfangsbedingungen des Universums oder der naturkonstanten Eigenschaften der Materie hätte die Entwicklung unserer Welt und vor allem das Auftreten des menschlichen Beobachters unmöglich gemacht. Demzufolge ist die Tatsache seiner Existenz ein mögliches oder sogar zwangsläufiges Ziel der Evolution und kann kosmische Phänomene erklären (Breuer; mit Teilhard auch v. Ditfurth; Brechtken; Audretsch/Mainzer 157ff.; Hawking [dt.] 157ff.; Polkinghorne [2001] 55ff.). Dieses Prinzip unterstützt, schon in seiner schwachen Fassung, die Prognose der fernen Z u k u n f t des Universums in einer Endsingularität, dem Omegapunkt und der Auferstehung der Toten zum ewigen Leben - eine rechnerische Prognose, die nicht ohne weiteres christlich ist, die Theologie aber zu einem Teilgebiet der Physik macht (Tipler [dt.] 221 ff.374ff.). Die selbstkritische Wendung der Physik gegen Monopolansprüche ihres spezifischen Rationalismus (v. Weizsäcker, Tragweite; Prigogine/Stengers; Dürr) hat in jüngster Zeit auf die östlichen Religionen, zumal den -»Buddhismus aufmerksam gemacht. Dessen religiöse Motive werden teils mit dem christlichen Weltbild verknüpft, seiner analytischen und anthropomorphen Einseitigkeit aber auch entgegengesetzt. Von der ganzheitlich und kosmisch orientierten östlichen Mystik wird angesichts humaner und ökologischer Folgen des modernen Weltbilds und seiner technokratischen Realisierung korrigierendes Potential erhofft. Die esoterische „Wiederverzauberung der Welt", als numinose Gaia und schöpferisches Universum, im „ - » N e w Age", dem Weltzeitalter des Wassermanns (Capra; Berman), zielt auf die Einheit von Mensch und Kosmos im Wirken der spirituellen Energie der Evolution; dieser „spirituelle Holismus" (Capra; Sheldrake; Guitton) ist religiös gesehen ein evolutionärer Pantheismus. Ihm steht das deutliche Ende der kopernikanischen Welt des plus ultra und die Notwendigkeit einer „ptolemäischen Abrüstung" (Sloterdijk) ernüchternd entgegen: Der astronautische Blick zurück auf den blauen Planeten, alternativlose „kosmische Oase ... inmitten der enttäuschenden Himmelswüste" (Blumenberg, Genesis 723ff.793), sieht wiederum, was auch für die zentrifugalen modernen Weltbilder, wie „elegant" das Universum darin immer aussehen mag (Greene), unabweislich der lebensweltliche Ort der menschlichen Vernunft bleibt.

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Welt/Weltanschauung/Weltbild I V / 5

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I V / 5 . Systematisch-theologisch 1. Begriff

2. „Welt", „Bild"

3. Dogmatische Aufgaben

(Literatur S. 610)

Die dogmatische Frage, o b zum christlichen - » G l a u b e n ein bestimmtes Weltbild gehört und was im besonderen die modernen Weltbilder für ihn bedeuten, umfaßt die intellektuelle, aber ebenso die praktische und die ästhetische Beziehung des Glaubenden zur Welt. Sie beschränkt sich daher nicht auf die epistemologische Beziehung zwischen - • T h e o l o g i e und anderen Wissenschaften; sie wird auch durch eine „ T h e o l o g i e der N a t u r " nicht hinreichend beantwortet. Allerdings ist der Ausdruck „Weltbild" alles andere als eindeutig und wird etwa in der Entgegensetzung von „ b i b l i s c h e m " und „ m o d e r n e m " Weltbild geradezu irreführend gebraucht. 1.

Begriff

Die Unklarheit des Ausdrucks „Weltbild" liegt vor allem an seiner - weder alltagssprachlich noch wissenschaftlich eindeutig bestimmten - Beziehung zu dem seinerseits vieldeutigen Begriff „ W e l t a n s c h a u u n g " (s.o. III). Beide Ausdrücke werden nicht selten in eins gesetzt. So gebraucht M . -»Heidegger „Weltbild" für den „Grundvorgang der Neuzeit": die wissenschaftlich-technische „Eroberung der Welt als Bild" (Heidegger 87). Auf diese Weise wird „Weltbild" zu einem geschichtsphilosophischen Begriff für „die Zeit des Weltbilds", und „Bild" wird zur her- und sicherstellenden „Vorstellung" im „Weltanschauungskampf" (ebd. lOOf.) verkürzt. Oder „Weltbild" bezeichnet die im evolutionären Weltbild andauernde „Mythisierung der Naturwissenschaft", eine Wissenschaftsgläubigkeit, die „das wissenschaftlich gewonnene Bild, im Gegensatz zu allen anderen Bildern, für die Wirklichkeit" hält, während schon die Vielzahl und die stete Veränderlichkeit naturwissenschaftlicher Weltbilder diese als theologisch unerheblich ausweise (Hemminger/Hemminger 238ff.246). Dagegen spricht, daß Weltbilder, auch wenn sie Bilder nur vom Typ „Atlas" (und nicht „Gemälde") sind, immerhin eine Wissensform darstellen, die „unsere Macht über die Natur erhöht" (ebd. 247); vor allem liefern sie nicht etwa neutrales „Material" für Weltbilder (ebd. 245). Weltbilder sind nie rein „wissenschaftliche Weltauffassung", wie es der Wiener Kreis (vgl. T R E 27,77,11-46) meinte, sondern sprachlich codierte und somit kulturelle imprägnierte Konstrukte. Sie erzeugen „ein Bild, in dem die Welt als das erscheint, was sie vermeintlich ,an sich' ist" (Mittelstraß 231; Kuhn; Albrecht).

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E s genügt auch nicht, „theoretischen Weltbildern" und „praktischen Weltanschauungen" eine pragmatische „Weltorientierung" gegenüber zu stellen (Jaspers, Philosophie; Ulmer), wenn die im Weltbild erfragte Einheit der Welt durch die Frage nach der Einheit der Lebenswelt nur ersetzt wird. Bereits „theoretische" Weltbilder enthalten weltanschauliche M o m e n t e und praktische Intentionen, und „ p r a k t i s c h e " Weltanschauungen enthalten stets eine als gegenständlich vorgestellte „ W e l t " , auf die sich ihre „Weltwürdigung" und „Willensleitung" bezieht (Dilthey 82ff.; Jaspers, Psychologie

lff.). Man kann „Weltbild" jedoch funktional von „Weltanschauung" unterscheiden. „Weltbild" ist dann derjenige Weltbezug, in dem die Welt oder wesentliche Bestandteile gegenständlich beschrieben und zusammenhängend erklärt werden, der aber davon absehen kann, daß dieser Gegenstand zugleich „meine Welt", d.h. mit Sinn (oder auch mit Sinnlosigkeit) verknüpfte Welt ist. Der relativ „sachlich" beobachtende, der Deutung und Wertung sich möglichst enthaltende Weltbezug erbringt allerdings nicht ein einziges und zeitlos richtiges Weltbild. Die Veränderlichkeit der sinnlich „unmittelbaren", aber auch die Eigenart der technisch vermittelten Wahrnehmung der Welt, ihre Objektivation von und ihre Theoriebildung aus „Daten", erlaubt nur einstweilige „Weltmodelle". Je stärker dagegen und absichtlicher im Weltbezug das Moment der Deutung, Wertung und Sinngebung wird und der (als solcher jeweils unhintergehbaren) lebensweltlichen Gewißheit dient, desto prägnanter sollte man nicht mehr von Weltbild, sondern von Weltanschauung sprechen („Lebens- und Weltansicht" [Dilthey 3Jesus Christus überschreitet die Welt als endlichen Erfahrungs- und Handlungszusammenhang, nicht anders als es die mythische, die poetische oder die philosophische Rede von „Welt" tut. In all diesen kulturellen Formen wird die jeweilige Erfahrungsund Lebenswelt in einen größten Horizont eingezeichnet, der nicht mehr und nicht weniger ist als eine „regulative Idee" (I. ->Kant) oder eine „absolute Metapher" (Blumenberg 167ff.). Auch die naturwissenschaftliche Rede von der „Welt" ist in diesem Sinn transzendent, denn sie ruft ein imaginatives Potential vor einem latent bleibenden Hintergrund auf und hält es gleichwohl innerhalb eines Horizonts. Kosmologie ist streng physikalisch nicht möglich, weil es im mikro- und makrophysikalischen Bereich Grenzen objektiver Erkenntnis gibt und weil „Welt" kein wissenschaftliches Objekt ist (keine beliebige Objektklasse beliebiger Orte und beliebiger Zeiten, sondern, auch bei der Annahme mehrerer Universen, nur ein und nur dieses „ O b j e k t " ; Precht; Barrow; Hattrup; Kropac). Weil alle Weltbilder eine kategoriale Gemeinsamkeit mit dem theologischen Weltbegriff haben, ist es jedoch eine Verkürzung, wenn man wissenschaftlichen Weltbildern zuschreibt, sie strebten über sich selbst hinaus und verstärkten so das menschliche „Streben nach Einheits-, Sinn- und Wirklichkeitsgewißheit", ihnen aber zugleich abspricht, dies Streben erfüllen zu können (Stephan 267ff.). Gewiß sind wissenschaftliche Weltbilder hypothetisch, fragmentarisch und strukturell beschränkt; doch wo sie „Welt", „Kosmos", „Universum" sagen oder ein „Ganzes" voraussetzen, nehmen sie symbolische, transzendierende Rede und Bilder in Anspruch (v. Weizsäcker; Dürr) und sind daher theologisch relevant.

2.2. Theologische Relevanz hat die Rede von „Bild" im Ausdruck „Weltbild", die auf die schon im Ausdruck „Welt" liegende Bild- und Zeichenhaftigkeit des menschlichen Weltbezugs eigens aufmerksam macht. Der christliche Glaube setzt die Pluralität von Weltbildern nicht erst im Sinn unterschiedlicher Aussagen voraus, sondern schon als Pluralität der Bilder und Zeichenwelten, d.h. des jeweiligen nach Perspektive und Form unterschiedlichen Bildens und Bezeichnens als solchen. Die historisch jeweils ausdifferenzierten symbolischen Formen oder semiotischen Codes sind einem Weltbild wesentlich. Daher können etwa das „natürliche", sinnlich-räumliche Weltbild, das innerweltlich „mythische Weltbild" und das theorieförmige „wissenschaftliche Weltbild" (Jaspers, Psychologie 122ff., vgl. 133ff.; Cassirer 1,149ff.; II; III, vff.; Hübner lff.25ff.) nicht linear ineinander übersetzt oder gar aufeinander reduziert werden. Dieser perspektivische Pluralismus der „Welten" (Goodman; Mittelstraß 232ff.) schließt jedes Monopol aus, auch die Allein- oder Höchstgeltung des naturwissenschaftlichen Weltbilds, das methodologisch der Versuchung in besonderem Maß ausgesetzt ist, seine Partikularität als blinden Fleck mit sich zu führen. Vor Mißverständnis nicht geschützt ist auch die Rede von der „Wirklichkeitsdeutung" (Beck, Weltformel) oder vom „Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens" (Härle/Herms). Sie unterscheidet nicht klar zwischen der ,,Welt-anschauung"[!] des „Rechtfertigungsglaubens" (ebd. 137f.) und den Weltbildern, mit denen er sich doch verbinden können muß, wenn er „kein willkürlicher Standpunkt" sein soll, sondern sein Weltbild erklären kann als „Zusammenfassung von vernünftigen, aus Erfahrung und Reflexion gewonnenen Kenntnissen über die Welt im einzelnen und im ganzen, die lebenspraktisch wirksam und gleichzeitig rational korrigierbar ist" (ebd. 137). In der Tat muß auch das Weltbild von Glaubenden die Welt „so erfass[en], wie sie von sich aus ist", und ist daher von der (durch verändertes Wissen über und verändertes Handeln in der Welt sich ergebenden) „Veränderung der Welt abhängig" (ebd. 138). Selbigkeit und Veränderlichkeit im Weltbild sollten darum eben als „Weltanschauung" und „Weltbild" unterschieden, „Anschauung" und „Bild" sollten nicht gleichgesetzt werden; der kosmologische Aspekt des Weltbilds darf nicht erst in der Eschatologie vorkommen.

„Weltbild" verbindet die theologischen mit den kultur- und den naturwissenschaftlichen Artikulationen des menschlichen Weltbezugs. Es enthält nicht nur die (in mehreren

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Weltanschauungen und Religionen ähnlich mögliche) rationale, sondern meist auch eine mythische und immer die alltagshermeneutische Synthesis der intellektuell, praktisch und ästhetisch angeeigneten Welt; sein Gegenstand ist sowohl die kosmisch-biotische als auch die kulturelle „Evolution". „Weltbild" verbindet also, was unter epistemologisch vergangenen Bedingungen das „Buch der Natur" und das „Buch der Geschichte" heißen konnte. 3. Dogmatische

Aufgaben

Der Komplex „Weltbild" erfordert die kritische Frage nach den in oder auch neben dem eigenen christlichen Glauben tatsächlich, vielleicht unerkannt in Geltung stehenden Weltbildern; die dialogische Aufgabe, die außerhalb der theologischen Perspektive vorhandenen oder neu sich artikulierenden Weltbilder wahrzunehmen und sich in ein differenziertes Verhältnis zu ihnen zu setzen; und den konstruktiven Versuch, dem eigenen Glauben zu einer religiös angemessenen und kulturell verantwortlichen Formulierung des Weltbilds zu verhelfen. Diese Aufgaben stellen sich in einer widersprüchlichen Situation. Auf der einen Seite hat die Entwicklung der Physik im 20. Jh., zumal die durch Quantenmechanik und Relativitätstheorie ausgelöste philosophische Reflexion, den Dialog der Theologie mit der Physik wesentlich erleichtert (in Deutschland meist getragen von außeruniversitären Institutionen wie Evangelischen und Katholischen Akademien [-»Akademien, Kirchliche], der Görres-Gesellschaft, der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und der Karl-Heim-Gesellschaft). Die Raumfahrt, an sich dem „Himmel" verpflichtet, d.h. der Überwindung der Körper- und Erdenschwere durch die Vernunft, hat eine neue Orientierung aufs Irdische gezeitigt. Auf der anderen Seite inszeniert Science Fiction unbeirrt das plus ultra künstlicher Welten und neuer Menschen oder Cyborgs; an die zur Leitwissenschaft gewordene Biologie und die neuen life-sciences heftet sich erneut der moderne, säkular-chiliastische Fortschrittsglaube. „Evolutionäre Weltbilder" verheißen die Integration der biologischen in die kulturelle Evolution, indem sie das „Buch der Natur" nicht nur als naturwissenschaftlich restlos entschlüsselbar, sondern auch als biogenetisch neu schreibbar erklären: auch das bislang Natürliche würde zum kulturellen Projekt, zur wissenschaftlichen Prognose und zum technischen Produkt.

Die theologischen Voten in dieser Situation sind äußerst uneinheitlich. Im Extrem bilden sie ihrerseits orthogenetisch evolutionäre Weltbilder aus (s.o. IV.4.2.) oder aber widmen sich als creation research dem Versuch, wissenschaftlich die Tatsächlichkeit des biblischen Sechstagewerkes gegen die Evolutionstheorie nachzuweisen (Riegle; Stockhausen; Numbers 320ff.; Schwarz 159ff.). Dazwischen stehen vielfältige Versuche, das naturwissenschaftliche Weltbild als verträglich mit der Bibel zu erweisen, z.B. mit Hilfe der biblischen Unterscheidung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt und ihrer teleologischen Ausrichtung (Beck, Variationen; Claeys). In Anknüpfung an den nie abgebrochenen theologischen Dialog mit den Naturwissenschaften in der angelsächsischen Welt (Mortensen 27f¥.; Huyssteen; Polkinghorne) greifen nun auch kontinentale Theologen in der Formulierung des Schöpfungsglaubens naturwissenschaftliche Begriffe wie „Feld" und „Evolution" auf (Pannenberg 77ff.). Viel weiter geht der Versuch, als Elementarlehre einer Phänomenologie des Heiligen - * Geistes eine religiöse Kosmologie zu entwickeln, welche die vier Orientierungsdimensionen im „Weltquadrat" nicht in ein Reflexionssubjekt auflöst, sondern als Gesichtskreis des mit Leib und Seele auf der Erde lebenden Menschen ausschreitet und daher ein lebensweltliches, erfahrungsnahes Weltbild formuliert (Timm, Weltquadrat; Roth 72ff.ll2ff.). Damit ist der methodische Aspekt der dogmatischen Aufgaben angesprochen. Er ist gegenwärtig geprägt durch das Auseinandertreten von Lebenswelt und Weltbild, von Lebenszeit und Weltzeit (Blumenberg). Das wissenschaftliche Weltbild bietet keine raumzeitliche „Höhle", der irdische Mensch lebt gleichwohl leibhaft in sich selbst und in der Mitte eines ihm gegenwärtigen Welthorizontes, der durch die Zeit, in Erinnerung und Erwartung, als Gesichtskreis mit ihm wandert. Das erfordert kritisch, den naturwissenschaftlichen Blick von „außen" auf die Welt und deren Abkoppelung von der

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Lebenswelt durch mathematische Abstraktion („Weltformel", ultímate theory) auf seinen lebensweltlichen, bloß methodischen Sinn zu verpflichten; gegebenenfalls im fiktionalen Genus (Benz/Vollenweider). Es bedeutet konstruktiv, jenen Beobachter, der in wissenschaftlichen Weltbildern erst neuerdings wieder auftritt, in der menschlichen Lebenswelt zu plazieren, nicht nur existential („In-der-Welt-Sein"), sondern innerhalb des existentiellen Horizontes, den die fünf Sinne quantitativ, qualitativ, ja intuitiv ausmessen. Nur im Denken „vom Körper aus" (Kamper/Wulf; Cassirer III, 125ff.; Mortensen 229ff.) lassen sich die Weltmodelle, die wir Vernunftwesen entwerfen (ausgestattet mit den Schlüsseln zur kleinen und großen Unendlichkeit), wieder koordinieren mit dem theatrum mutidi, in dem wir als leibhafte, endliche Menschen leben. Eine Phänomenologie des lebensweltlichen Horizontes kann dann auch die biblischen Weltbilder, d.h. das Weltbild der sinnlich-räumlichen Wahrnehmung und das mythische Weltbild, theologisch würdigen; umgekehrt läßt erst eine lebensweltlich orientierte Hermeneutik der wissenschaftlichen Weltbilder (Scherer; Wetz) diese an sich zunächst subjektlosen Weltbilder in ihrem Verhältnis zum christlichen Glauben einschätzen. Die phänomenologische Situierung des „Weltbilds", dem in manchem wissenschaftlichen Weltbild das (schwache) anthropische Prinzip entspricht, erfordert Aufmerksamkeit nicht nur auf die Kosmogonie, sondern auf die Kosmologie im ganzen. Eine „Theologie der Natur", die sich orientiert an der in evolutionären Weltbildern und im christlichen Glauben vorherrschenden Dimension der Zeit, genügt nicht dem theologischen Interesse an der Welt als Raum. Die räumliche Struktur der Welt läßt sich weder lebensweltlich noch im wissenschaftlichen Kontext der Relativitätstheorie völlig in eine zeitliche Struktur überführen. Das gilt auch für die christlichen Begriffe der Welt als KÓafiOQ und als akbv, wenn anders Jesus Christus nicht nur endzeitlicher Kosmokrator, sondern auch ursprünglicher Schöpfungsmittler ist. Der bloßen Gegenüberstellung von antiker „Kosmostheologie" und jüdisch-christlicher „Anthropotheologie" (Löwith 327f.) widersprechend, muß die Bezogenheit Gottes zum Raum seiner Schöpfung theologisch benannt werden. Dies erfordert, wie schon K. -»Heim erkannte, im interdisziplinären Dialog einen lebensweltlich und zugleich wissenschaftlich explizierbaren Raumbegriff zu entwickeln (Wölfel; Gese; Moltmann, Gott 153ff.; ders., Wissenschaft 133ff.; Evers).

Mit dem Raumbegriff ist der materielle Aspekt der dogmatischen Aufgaben angeschnitten. Diese stellen sich, wo der christliche Glaube es mit anderen Weltbildern zu tun bekommt als demjenigen, das er jeweils mit sich führt. Das ist etwa dort der Fall, wo poetische Weltbilder weltanschauliche oder religiöse Funktionen übernehmen; umgekehrt auch dort, wo der christliche Glaube sich neu inkulturiert und z.B. mythische Elemente aufnimmt. Wegen der globalen Folgen der modernen Weltbilder stellen sich die kritischen, dialogischen und konstruktiven Aufgaben vordringlich jedoch hier. Von theologischem Interesse sind dabei jene Theoriebildungen, die Beschreibung und Erklärung der Welt in metaphorisch artikulierte Strukturen oder Horizonte einzeichnen, die daher in Analogie zu theologischen Begriffen stehen, die Sein und Werden des Geschaffenen in seinen Zusammenhängen und seiner Ganzheit benennen. Wichtige wechselseitige Bezüge sind die zwischen der Kategorie der (linearen bzw. nichtlinearen) „Ursache" und dem Glauben an Gottes „Schaffen", „Handeln" und „Mithandeln" (coticursus; Pannenberg 63ff.) und zwischen den Konzepten „Evolution", „offenes System" (Ilya Prigogine; vgl. Altner) und „Selbstorganisation" (Erich Jantsch) einerseits, „fortdauernder Schöpfung" (creatio continua), „Geschichte" und „neuer Schöpfung" andererseits (Altner; Bosshard). Theologisch relevant sind nach wie vor die Komplexe „Raum" und „Zeit" (irreversible Prozesse) sowie deren Strukturen „Polarität" (K. Heim; A.N. -»-Whitehead), „Komplementarität" (Niels Bohr; Günther Howe; v. Weizsäcker; Jordan), „Chaos" (Ganoczy) oder „Spiel" (Gilch; Roth 159ff.) und ihre Verdichtung in kontingenten „Ereignissen" oder „Emergenzen" - im Gegenüber zu den theologischen Kategorien „Möglichkeit" bzw. „Zukunft", „Neues" und „Wunder". In vielen Varianten verknüpften sich hier die unterschiedlichen Perspektiven auf die ontologische Frage. Eine christliche Modifikation des wissenschaftlichen Weltbilds würde die Welt, im Horizont der Welt des Menschen, als „Geheimnis", als „Spur des Namens" und „Gleich-

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n i s " (Link, Welt; ders., Spur) ihres Schöpfers r ü h m e n k ö n n e n . Sie w ü r d e den modernen D e i s m u s , d.h. den D o k e t i s m u s in der Schöpfungslehre ü b e r w i n d e n , o h n e dem Atheismus oder a b e r P a n t h e i s m u s des G l a u b e n s an ein aus eigenem A b g r u n d „ k r e a t i v e s U n i v e r s u m " zu verfallen. Literatur Erhard Albrecht, Bestimmt die Sprache unser Weltbild?, Berlin 1972. - Günter Altner (Hg.), Die Welt als offenes System. Die Kontroverse um das Werk v. I. Prigogine, Frankfurt a.M. 1986. - John D. Barrow, Impossibility. The Limits of Science and the Science of Limits, New York 1998; dt.: Die Entdeckung des Unmöglichen. Forschung an den Grenzen des Wissens, Berlin 2001. - Forst W. Beck, Weltformel contra Schöpfungsglaube, Zürich 1972. - Ders., Variationen zu einer interdisziplinären Schöpfungskosmologie, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 1999. - Arnold Benz/Samuel 7ollenweider, Würfelt Gott? Ein außerirdisches Gespräch zw. Physik u. 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Walter Sparn

Weltbünde, Konfessionelle ->Lutherischer Weltbund, —»Reformierter Weltbund

Weltbund der Bibelgesellschaften 1. Die Entstehung des Weltbundes der Bibelgesellschaften 2. Wachsen des Weltbundes der Bibelgesellschaften 3. Geographische Ausweitung 4. Übersetzung 5. Die Entwicklung regionaler Interdependenz (Literatur S. 617)

Der Weltbund der Bibelgesellschaften (United Bible Societies) ist ein Zusammenschluß selbständiger Bibelgesellschaften mit dem Ziel gegenseitiger Unterstützung bei der weltweiten Verbreitung der -»Bibel in Ausgaben, die für die jeweiligen Volksgruppen sprachlich verständlich und wirtschaftlich erschwinglich sind. Er entstand 1946 als Zusammenschluß bestehender Bibelgesellschaften. Aufseiner Vollversammlung 2000 wurde seine Zielsetzung so umschrieben: „Die Weltgemeinschaft nationaler Bibelgesellschaften schließt sich im Weltbund der Bibelgesellschaften zusammen. Sein Zweck ist die Beratung, die gegenseitige Unterstützung und die Tätigkeit im Sinne der gemeinsamen Aufgabe, die weitest mögliche wirksame und sinnvolle Verbreitung der Heiligen Schrift zu erreichen und Menschen zur Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes zu verhelfen. Die Bibelgesellschaften sind bemüht, ihre Aufgabe in Partnerschaft und Zusammenarbeit mit allen christlichen Kirchen und kirchlichen Werken durchzuführen" (BUBS 192/193 [2001] 55). I. Die Entstehung des Weltbundes der

Bibelgesellschaften

Die evangelischen Frömmigkeitsbewegungen des 18. Jh. und die Entstehung evangelischer Missionsgesellschaften am Ende des 18. und im 19. Jh. ließen ein neues Bedürfnis nach Bibelübersetzungen und -ausgaben entstehen. B. -> Ziegenbalg und W. —»Carey sind Protagonisten dieser umfassenden, von missionarischem Bemühen getragenen Bewegung, die sich auch mit Pionierleistungen auf sprachwissenschaftlichem Gebiet verband. Zur Unterstützung solcher Missionsvorhaben wurden Bibelgesellschaften gegründet. Sie entsprachen aber auch einem Bedürfnis im „christlichen" Europa selbst. Als erste Bibelgesellschaft entstand 1710 auf dem Boden des deutschen Pietismus die Camteinsche Bibelanstalt in Halle (Freiherr C.H. v. -»Canstein) mit dem Ziel, in Deurschland für Minderbemittelte erschwingliche Bibelausgaben herauszubringen. Die erste auf eine weltweite Tätigkeit ausgerichtete nationale Bibelgesellschaft war die 1804 gegründete British and Foreign Bible Society. 1816 folgte die American Bible Society. Beide überzogen einen großen Teil der Welt mit einem Netz von Agenturen und assoziierten Werken. Auch zwei weitere Bibelgesellschaften griffen mit ihrer Wirksamkeit über die nationalen Grenzen hinaus, die Nederlands Bijbelgenootschap und die National Biblt Society of Scotland. Andere Bibelgesellschaften entstanden zum Dienst für die Kinnen innerhalb des eigenen Landes. II.

Wechselseitige

Beziehungen

Bis 1900 verfolgten die Bibelgesellschaften unabhängig voneinander ihre je eigenen Ziele. Zu Beginn des 20. Jh. führte eine vorsichtige Zusammenarbeit zwischen der Britischsn und der Amerikanischen Bibelgesellschaft zunächst zu der Übereinkunft, sich

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Weltbund der Bibelgesellschaften

aus Ländern zurückzuziehen, in denen andere Gesellschaften tätig waren, und dann zur Arbeitsteilung durch gegenseitige Abstimmung in einzelnen Ländern. Die Erfahrungen mit dieser begrenzten Zusammenarbeit führten zu einem besseren wechselseitigen Verständnis und einer verbindenden Vertrauensbasis. Es kam zu gemeinsamen Überlegungen und weiterer Zusammenarbeit. 1939 gab es feste Pläne zur Bildung einer weltumspannenden Organisation, die eine gemeinsame Strategie ermöglichen sollte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bedeutete zwar einen Aufschub, gab aber der Zusammenarbeit weiteren Auftrieb. So konnte etwa zunächst die American Bible Society, solange Amerika neutral blieb, einen Teil der Arbeit der British and Foreign Bible Society in Europa übernehmen. 1.2. Beschluß zur Bildung des Weltbundes

der

Bibelgesellschaften

Nach dem Krieg wurde so bald wie möglich von den beiden großen Gesellschaften, der British and Foreign Bible Society und der American Bible Society, mit Unterstützung durch die Nederlands Bijbelgenootschap und die National Bible Society of Scotland eine Konferenz einberufen. Für den 6. bis 8. Mai 1946 wurden Vertreter anderer Bibelgesellschaften und -werke nach England in die Tagungsstätte Elfinsward des Bistums Chichester in Haywards Heath (West Sussex) eingeladen. Am Ende dieser Konferenz wurde beschlossen, bei Zustimmung von sechs nationalen Gesellschaften den Weltbund der Bibelgesellschaften zu gründen. Am 11. Juli 1946 ging die sechste dieser Zustimmungen ein, und der Weltbund trat ins Leben. Das Amt des ersten Generalsekretärs wurde dem methodistischen Geistlichen John Temple (1885-1948), Generalsekretär der British and Foreign Bible Society, angetragen, und im Folgejahr wurde er darin durch das Exekutivkomitee bestätigt. 2. Wachsen des Weltbundes

der

Bibelgesellschaften

Die Mindestzahl von sechs Gesellschaften war willkürlich festgelegt worden. Es war jedoch deutlich, daß für eine wirksame Tätigkeit des Weltbundes der Anschluß zahlreicher weiterer Gesellschaften erforderlich war. Dieser Zuwachs erfolgte schnell. Es bildeten sich Organisationsformen, die sich mit dem Umfang und der Auffächerung der Arbeit wandelten. Sie lag zunächst zu einem großen Teil noch in der Hand der wenigen größeren Gesellschaften und ihrer Agenturen. Das änderte sich jedoch im Laufe der Zeit in dem M a ß , in dem es auch dort zur Bildung nationaler Bibelgesellschaften kam, wo bislang nur Agenturen und Arbeitsstellen dieser größeren Gesellschaften bestanden hatten. Die Aufgaben der Übersetzung, der wechselseitigen Abstimmung und der geographischen Ausweitung verlangten vom Weltbund die Beschäftigung von Mitarbeitern für spezielle Arbeitsbereiche. Ende 2000 verfügte der Weltbund über sein World Service Center in England und regionale Dienstleistungszentren in acht Ländern. Diese Zentren sind meist am Ort der nationalen Bibelgesellschaften angesiedelt. Es besteht ein Exekutivkomitee als Repräsentativorgan mit der Bezeichnung Global Board, dessen Mitglieder aus 18 verschiedenen Ländern kommen. Außerdem gibt es ein Exekutivkomitee und weitere Ausschüsse für Übersetzungsleitlinien und für das Finanzwesen und die Rechnungsprüfung. Ferner bestehen vier Gebietsausschüsse, je einer für die Gebiete Afrika, Gesamtamerika, Asien/ Pazifik und Europa/Mittlerer Osten. Die Mitgliedschaft umfaßt nahezu alle Länder der Welt. Sie besteht aus 110 nationalen Bibelgesellschaften, von denen 70 die volle Mitgliedschaft besitzen und 40 assoziierte Mitglieder sind; dazu kommen 28 vom Weltbund unterhaltene nationale Arbeitsstellen in Ländern, deren nationale Organisation noch keinen Mitgliedstatus erhalten hat. Über dieses Netz sind im Zeitraum vom 1. November 1999 bis zum 31. Oktober 2000 weltweit verbreitet worden: 24.943.380 Bibeln, 23.523.871 Neue Testamente, 23.879.556 Bibelteile, 10.774.079 Bibelteile für neue Leser, 500.327.031 Textauszüge und 49.887.721 Textauszüge für neue Leser.

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In diesen Zahlen ist die Bibelverteilung von anderer Seite und die wachsende Verbreitung der Schrift durch Non-Print-Medien nicht enthalten. Die Zahl der Sprachen, in die die Bibel oder Teile von ihr übersetzt worden sind, hat ebenfalls ganz erheblich zugenommen. Z u m 31. Dezember 2000 wurden 383 Sprachen für die Vollbibel, 987 Sprachen für das Neue Testament und 891 Sprachen für Bibelteile verzeichnet. Damit belief sich im Jahr 2000 die Zahl der Sprachen, in die mindestens ein biblisches Buch übersetzt ist, auf 2.261 und erfaßt 9 3 - 9 5 % der Weltbevölkerung. 3. Geographische 3.1.

Ausweitung

Zielsetzungen

Während des ersten Jahrzehntes des Weltbundes der Bibelgesellschaften galt sein Arbeitsinteresse in erster Linie Europa. Er entsprach damit den großen Herausforderungen durch die Zerstörungen während der Kriegszeit. Die vier Bibelgesellschaften, die von England, den USA, Schottland und den Niederlanden aus bereits außerhalb Europas wirkten, setzten diese Arbeit fort und entwickelten sie weiter. Nach diesen zehn Jahren wies dann der erste Präsident des Weltbundes, der norwegische Bischof E.J. —»Berggrav, in einer Botschaft darauf hin, daß es zwar angemessen gewesen sei, sich unmittelbar nach dem Krieg auf Europa zu konzentrieren, jetzt aber der Augenblick gekommen sei, in weltweiten Dimensionen zu denken. Er wünschte, der englische N a m e der Organisation möge The United Bible Society of the World lauten. Die deutschsprachigen Länder nahmen diese Anregung mit Weltbund der Bibelgesellschaften auf. 1957 tagte der Rat des Weltbundes in Brasilien, und das hatte unmittelbare Auswirkungen. Zug um Zug wurden überall in Lateinamerika aus Agenturen der American Bible Society und der British and Foreign Bible Society eigenständige nationale Bibelgesellschaften. 2000 bestanden in Südamerika zehn solcher Gesellschaften, davon neun mit voller Mitgliedschaft im Weltbund. Die Bibelgesellschaft Venezuelas wurde 1999 aus der Mitgliedschaft entlassen; doch die Arbeit ging weiter und ist infolge unmittelbarer Einschaltung des Weltbundes sogar verstärkt worden, und die nationale Gesellschaft wurde neu begründet. In Mittelamerika bestehen zehn Bibelgesellschaften; die nicaraguanische erhielt 2001 die Mitgliedschaft. Nachfolgende Treffen in Asien und Afrika hatten ganz ähnliche Folgen. 1961 sprach der zweite Präsident des Weltbundes der Bibelgesellschaft, der Erzbischof von Canterbury Donald Coggan (1909-2000), auf der Vollversammlung des Weltrates der Kirchen in Neu Delhi und wies gemeinsam mit dem Studiensekretär, der gerade eine weltweite Erhebung über den „ O r t und Gebrauch der Bibel in der gegenwärtigen Lage der Kirchen" abgeschlossen hatte, und dem Sekretär der indischen Bibelgesellschaft auf den in der Welt bestehenden Mangel hin. 1963 brachte er bei der Tagung des Weltrates in Japan die daraus erwachsende Herausforderung zur Sprache und rief die Kirche zur Beteiligung an der Bibelverbreitung auf. Als Ziel setzte er den Bibelgesellschaften und Kirchen dabei, jedes christliche Haus mit einer Bibel, jeden Christen mit einem Neuen Testament, jede lesefähige Person mit einem Bibelteil (etwa einem Evangelium) zu versehen und jedes Kirchenmitglied an der örtlichen Bibelverbreitung zu beteiligen. Dieses Ziel besteht weiterhin und ist noch nicht erreicht. 3.2. Einbeziehung

der

Kirchen

1964 lud Erzbischof Coggan anläßlich des 150jährigen Jubiläums der Niederländischen Bibelgesellschaft in der Verfolgung seiner Zielvorstellungen leitende Kirchenvertreter und Vertreter von Bibelgesellschaften nach Driebergen bei Utrecht ein. Es ging ihm darum, die Erwartungen der Kirchen an die Bibelgesellschaften und deren Erwartungen an die Kirchen zu erkunden. Die Tagung war gut besucht, und man diskutierte frei und offen über praktische Fragen. Die Bibelgesellschaften stehen im Dienst der Kirchen, erwarten aber von diesen auch Unterstützung und Beteiligung an der Arbeit. Die

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Weltbund der Bibelgesellschaften

Versammlung verpflichtete die Kirchen dazu, sich in einem bislang nicht gekannten Maß an der Verbreitung und Verwendung der Bibel zu beteiligen. Dabei kam auch der Wunsch nach einer Beteiligung der -»Römisch-katholischen Kirche zur Sprache. Wenig wurde von den - » O r t h o d o x e n Kirchen gesagt; sie wurden jedoch später angesprochen. Der Appell an die Römisch-katholische Kirche kam zum rechten Zeitpunkt. Das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum I und II) hatte viel verändert, und die Bibelgesellschaften - insbesondere Oliver Beguin ( 1 9 1 4 - 1 9 7 2 ) . der die Nachfolge John Temples als Generalsekretär des Weltbundes angetreten hatte und dessen Gestalt während der nächsten 23 Jahre maßgeblich bestimmte - bemerkten rssch, daß die Römisch-katholische Kirche aufgrund ihrer neuen Haltung zur Bibelübersetzung auch die Arbeit der Bibelgesellschaften positiver zu würdigen vermochte (vgl. T R E 6,89,26 - 9 0 , 1 4 ) . Erst 1757 war die allgemeine Erlaubnis des Lesens volkssprachlicher Bibelausgaben erteilt worden und auch das nur, soweit sie durch das kirchliche Lehramt gebilligt und mit Anmerkuigen versehen waren. Nur langsam trat ein Wandel ein. 1893 gab Papst -»Leo XIII. der Beschäftigung mit der Bibel neuen Auftrieb. Anfang des 20. Jh. förderte Papst -»Pius X . die Verbreitunj der Evangelien zur Verwendung in Familien. 1914 wurde die Übersetzung der Bibel in moderne Sprachen gebilligt, und -»Benedikt XV. wiederholte die Mahnung des -»Hieronymus zu einem beständigen Studium der Bibel, insbesondere des Neuen Testaments, durch die Gläubigen. Am 12. August 1943 erklärte die päpstliche Bibelkommission, daß die private Verwendung gebilligter Bibelausgaben durch die Gläubigen zur Entfaltung ihres geistlichen Lebens rechtens sei. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Enzyklika Divino afflante spiritu -»Pius' XII. vom 30. September 1943. Sie empfahl, alle Möglichkeiten zu nutzen, um unter den Katholiken die Liebe zur Heiligen Schrift, ihre Kenntnis, Verbreitung und tägliche Lektüre zu fördern. Einige Bischöfe sahen diese öfinung mit Unbehagen. Es gab ernsthafte Differenzen, und 1950 erließ Pius XII. seine umstrittene Enzjklika Humani generis. Er ließ es auch nicht bei der einen warnenden Enzyklika bewenden: Viehiehr wurde 1956 die Instruktion erlassen, daß jede öffentliche oder beständige Gruppierung odei Vereinigung zum Bibelstudium einer sorgfältigen, stets bischöflichen Aufsicht und Anleitung unterlegen müsse. Mancher katholische Theologe wurde aus Sorge, der freie Gebrauch der Bibel sei zi weit gegangen, verwarnt, diszipliniert oder zum Schweigen gebracht. Den endgültigen Durchbrucl aber brachte das Zweite Vatikanische Konzil. Ein bedeutsames Konzilsdokument ist in dieser Hinsicht die Konstitution über die Offenbirung (Dei verbum). Sie stellt die Heilige Schrift neben die Eucharistie als in gleicher Weise verehrt, empfangen und vom Priester den Gläubigen dargereicht (c. 21). Im Anschluß daran heißt es (c. 22): „Der Zugang zur Heiligen Schrift muß für die Christgläubigen weit offen stehen . . . D j aber das Wort Gottes allen Zeiten zur Verfügung stehen muß, bemüht sich die Kirche in müttedicher Sorge, daß brauchbare und richtige Ubersetzungen in die verschiedenen Sprachen erarbeitet wtrden, vor allem aus den Urtexten der Heiligen Bücher" (DH 4229). Die Durchführung der konziliaren Forderung nach allgemeiner Zugänglichket der Bibel für alle Gläubigen verlangte die Bildung der Katholischen Bibelföderation. In ihrer Satzung ist der Weltbund der Bibelgesellschaften die einzige namentlich genmnte Partnerorganisation: „Zusammenarbeit in Angelegenheiten von wechselseitigem Interesse mit dem Weltbund der Bibelgesellschaften . . . " (Artikel III [Zweck] 2.3). Beid: Organisationen arbeiten unabhängig voneinander, doch in zunehmendem M a ß sind ia den Gebietsleitungen und in der Gesamtleitung des Weltbundes Katholiken und Orthcdoxe vertreten: Z u den zwölf Mitgliedern der Gebietsleitung für Afrika gehören zwei römisch: Katholiken und ein äthiopischer Orthodoxer. Von den neun Mitgliedern der Gebietsleitung für Amerika ist keines römisch-katholisch oder orthodox. Von den zwölf Mitglitdern der Gebietsleitung für den asiatisch-pazifischen R a u m ist keines römisch-katholisch oder orthodox. Zu den zwölf Mitgliedern der Gebietsleitung für Europa und den Minieren Osten zählen zwei römische Katholiken und je ein armenischer, griechischer und russischer Orthodoxer. Von den achtzehn Mitgliedern der Gesamtleitung sind zwei rönischkatholisch und eines ist griechisch-orthodox. Im Gebiet Europa/Mittlerer Ostei gibt es drei römisch-katholische Generalsekretäre nationaler Bibelgesellschaften. Die; sind die Zahlen für das J a h r 2000. Sie dürften weiter zunehmen. Allerdings stehen die rönisch-

Weltbund der Bibelgesellschaften

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katholischen Mitglieder in gesonderter Verantwortlichkeit gegenüber der Katholischen Bibelföderation. 4.

Übersetzung

In den europäischen Hauptsprachen gibt es seit langem genaue, verständliche und leicht zugängliche -»Bibelübersetzungen. Viele von ihnen werden von anderen Verlagen als den Bibelgesellschaften herausgebracht. In Afrika und Asien sind Übersetzungen häufig von Missionaren mit der Hilfe christlicher oder anderer einheimischer Sprecher erstellt worden. Der Weltbund der Bibelgesellschaften hat sich, anfänglich unter der tatkräftigen Leitung von Eugene Nida (1914-1978) zur Aufgabe gesetzt, Leitlinien für die Übersetzung aufzustellen, die eine genaue und dem Grundsatz der dynamischen Äquivalenz entsprechende Wiedergabe des Urtextes sicherstellen sollen. Nidas weit vorausschauende Zielvorstellungen sind die Grundlage der Vorgaben, Richtlinien und Hilfsmittel und der Literatur für die Bibelübersetzer geblieben. Die angestrebten Ziele der fünfziger J a h r e waren: 1) eine wachsende Zusammenarbeit der verschiedenen Bibelgesellschaften; 2) eine interkonfessionelle Z u s a m m e n a r b e i t der (weithin) protestantischen Bibelgesellschaften auch mit römisch-katholischen und o r t h o d o x e n Kräften; 3) die E r stellung eines griechischen Textes des Neuen Testaments speziell für Übersetzer mit einem dafür sorgfältig ausgewählten kritischen A p p a r a t ; 4) ein hebräischer T e x t des Alten Testaments; 5) gemeinsprachliche Ubersetzungen zunächst ins Spanische, dann ins Englische und danach in weitere Sprachen (auch dieses weitere Ziel ist mittlerweile für das Deutsche, Französische und die meisten größeren Sprachen erreicht); 6) die Heranbildung von Übersetzungsberatern zur Begleitung von Übersetzungsvorhaben in der ganzen Welt; 7) die Erstellung von Ubersetzungshilfen unter Einschluß von Handreichungen für jedes einzelne biblische Buch; 8) die Vorbereitung besonderer Hilfestellungen für Leser einschließlich der Veröffentlichung von Studienbibeln.

Auf dieser Grundlage stieg die Zahl der - neuen wie revidierten - Übersetzungen sprunghaft an. Auf der Vollversammlung des Weltbundes der Bibelgesellschaften in Chiang Mai in Thailand 1980 wurde der Wunsch laut, die Gemeinschaft solle „die Möglichkeiten zur Übermittlung der biblischen Botschaft durch Non-Print-Medien erkunden und mit Mitarbeitern des Weltbundes und anderen Fachleuten über Entwicklung entsprechender Materialien beraten". Dahinter stand insbesondere die Initiative des Generalsekretärs Ulrich Fick, der 1972 die Nachfolge von Oliver Beguin angetreten hatte. Sie wurde in einer Reihe von Seminaren in Europa, Asien und Australien weiterverfolgt. Mit einer Verknüpfung der Übersetzungsaufgabe „mit unserer biblischen Hoffnung, daß eines Tages Gott in jeder Sprache gepriesen wird", eröffnete die Vollversammlung in Mississauga in Kanada 1996 eine noch weiter gespannte Zukunftsvision. Zugleich sah sie, daß der größere Teil der „unvollendeten Aufgabe" noch zu tun ist, und erweiterte die Zielsetzung statistisch durch eine Neubestimmung „gemeinsprachlicher Übersetzungen". 2000 bestätigte die Vollversammlung in Midrand in Südafrika diese Zielsetzungen. Sie beauftragte den Weltbund der Bibelgesellschaften damit, 1) neue Instrumente und Produkte unter Einschluß von Non-Print-Medien zu schaffen, die Menschen zum Lesen und zu anderweitiger Begegnung mit der Schrift ermutigen; 2) neue Produkte zu schaffen, die Menschen zum Verstehen der Schrift und zur persönlichen Auseinandersetzung mit ihr ermutigen; 3) neue Möglichkeiten der Z u s a m m e n a r b e i t mit anderen in ganzheitlichen P r o g r a m m e n auszuloten; 4) Aufbereitungen biblischer Stoffe für Leseunkundige zu entwickeln.

Das Übersetzungsprogramm des Weltbundes der Bibelgesellschaften zählte 2000 insgesamt 865 Vorhaben unter der Leitung eines Teams von etwa 70 Mitarbeitern. Regional entfallen davon auf Afrika 319, auf Gesamtamerika 53, auf Asien und den pazifischen Raum 362 und auf Europa und den Mittleren Osten 122. Darüber hinaus stellt der Weltbund weltweit fachliche Unterstützung in technischen, sprachwissenschaftlichen und Medienfragen zur Verfügung. Einschlägige Literatur, Zeitschriften, Ausstellungen

616

Weltbund der Bibelgesellschaften

u.a. erweitern die Wirkungsbreite seiner Übersetzungsarbeit, die als „das Kronjuwel" bezeichnet worden ist. Zu seinen gebietsübergreifenden Übersetzungsdiensten gehören vier Redakteure für (englische und französische) Handbücher, die Zeitschrift The Bible Translator sowie periodisch veröffentliche technische und praktische Handreichungen. Vier Übersetzungsberater, der Koordinator einer Arbeitsgruppe zur Nutzung computerisierter Übersetzungsverfahren und neuerdings noch ein Redakteur für ein Lexikon hebräischer Bedeutungsfelder sind hauptamtlich tätig. 5. Die Entwicklung 5.1. Organisation

regionaler

Interdependenz

und Ziele

Während der ersten 20 Jahre seines Bestehens konnten die Mitglieder des Weltbundes der Bibelgesellschaften wirtschaftlich in gebende und empfangende aufgeteilt werden. Diese Situation begann sich um 1966 durch den Beschluß zu ändern, eine Art von „Weltetat" aufzustellen, zu dem alle beitragen sollten und auf den alle zurückgreifen konnten. „Die Arbeit ist eine, also soll auch das Geld eines sein" (Premanand Mahanty, Generalsekretär der UBS, im Jahr 1957). Heute steuern alle Mitgliedsgesellschaften zu einem gemeinsamen Haushalt bei; doch ist die Leistung für die vom Netz des Weltbundes unterstützten Gesellschaften auf einen Mitgliedsbeitrag von $ 200 beschränkt. Die Einzelgebiete entscheiden unabhängig über ihren Bedarf. Aufgeteilt werden die Haushaltsmittel aufgrund einer internationalen Haushaltsdiskussion unter Beteiligung aller. Dadurch werden einseitige Beziehungen vermieden, die zu Abhängigkeiten werden können. Das Ziel ist: 1) eine wirklich weltweite Organisation und Orientierung; 2) ein wirklich weltweit ausgerichtetes Dienstleistungszentrum; 3) ein wirklich weltweiter Planungsund Verwaltungsrahmen; 4) eine wirklich weltweite Gemeinschaft. Internationale Tagungen finden in einzelnen Gebieten statt, das World Service Center des Weltbundes der Bibelgesellschaften aber hält ständigen Kontakt zu allen Gebieten. Sein Sitz war zunächst im Londoner Dienstgebäude der British and Foreign Bible Society, 1974 wurde er nach Stuttgart in Deutschland verlegt, und seit 1989 befindet er sich in Reading in England. Die effektive Zusammenarbeit zwischen Gebietsorganisation und dem weltweiten Dienst des Weltbundes der Bibelgesellschaften läßt sich vielleicht am besten am Beispiel der Arbeit in China aufzeigen. Es gibt in China kein Mitglied des Weltbundes, aber das Land ist Teil seines Gebietes Asien. Der Bibeldruck ist nach langjährigem Verbot in China seit 1980 wieder erlaubt. Zuvor schon wurde die Einfuhr von Bibeln zugelassen. Der Weltbund der Bibelgesellschaften koordinierte die umfangreiche Herstellung chinesischer Bibeln in den USA, Britannien und Deutschland. In seinen Verhandlungen mit der kommunistischen Regierung bestand er auf einer Tätigkeit im legalen Rahmen und beteiligte sich nicht an illegalen Bibeleinfuhren. Nach Erteilung der Genehmigung aber wurde er tätig. 1980 entschloß er sich zur Aufnahme seines größten Einzelprojektes. In Zusammenarbeit mit kommunistischen Regierungsstellen nahm er die Errichtung eines modernen Druckereibetriebes in der Volksrepublik China in Angriff. Der Weltbund der Bibelgesellschaften und die Amity Foundation trafen dazu ein für beide Seiten vorteilhaftes Übereinkommen. Aufgabe des Weltbundes war es, die erforderlichen Mittel zu beschaffen, Sachkenntnis zur Verfügung zu stellen und in China nicht erhältliches Material zu liefern. Die Ausstattung sollte modernen Anforderungen genügen und vom Weltbund unterhalten werden. Eine auch eingehaltene Vertragsbestimmung besagte, daß der Betrieb „der Herstellung von Bibeln und Neuen Testamenten Vorrang geben" werde; denn die Amity Press sollte darüber hinaus auch noch regierungsamtliche Drucksachen herstellen. Mittel standen für dieses ehrgeizige Unternehmen nicht zur Verfügung. Dennoch ergriff der Weltbund der Bibelgesellschaften die sich bietende Gelegenheit. Er wandte sich an seine Mitglieder, und diese reagierten sogleich. 37 nationale Bibelgesellschaften

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Weltbund der Bibelgesellschaften

antworteten. Ihre weite Streuung - von Uruguay bis in die USA - bekundete die weltweite Solidargemeinschaft des Weltbundes. 7,2 Millionen Dollar wurden aufgebracht, und der Weltbund hat die beständige Verantwortlichkeit für die Aufrechterhaltung des Betriebes. Aber in der Volksrepublik China werden Bibeln gedruckt. 5.2. Finanzierung des World Service

Program

Das World Service Program (WSP) ist der Weg, auf dem die Bibelgesellschaften der Welt ihre Mittel zusammenführen, um gemeinsam die Arbeit der Bibelverbreitung in solchen Ländern zu bestreiten, in denen die Kosten höher sind als die Erlöse aus dem Bibelverkauf und aus Spenden. Wenn Unterstützung von außen erforderlich ist, erfolgt sie nicht als Zuwendung von Seiten einer größeren und finanzkräftigeren Gesellschaft; vielmehr fließt sie aus dem Haushalt des World Service. Dieser wird aus Beiträgen aller Mitgliedsgesellschaften bestritten, und alle Gebiete haben ein Mitspracherecht bei seiner Verteilung. Das World Service Program wird dadurch jährlich festgelegt. Die Beiträge zu seiner Finanzierung bestehen aus regelmäßigen festen Jahresbeiträgen von Bibelgesellschaften und, soweit erforderlich, aus außerordentlichen Zuwendungen. Die erforderlichen Ausgaben werden von den einzelnen für ihre Vorhaben verantwortlichen nationalen Bibelgesellschaften durch Verkaufserlöse und aus nationalen Spendenmitteln bestritten, wobei Deckungslücken durch das World Service Program aufgefüllt werden. Die nachstehende Tabelle zeigt, wie diese Finanzierung vor sich geht. Sie entstammt der Rechnungslegung für das Jahr 1999-2000 (Beträge in US$). Gebiet Afrika Gesamtamerika Asien/Pazifik Europa/Mittlerer Osten

Beiträge zum WSP 65.100 +

Ausgaben des WSP

Nationale Einkünfte

130.494

431.123

7.639.876

19.465.892 + 9.631.472

934.477

6.698.391

762.192

6.611.330

6.303.808

15.804.467 + 4.219.873

1.685.157

13.039.243

2.922.931 +

Zusammen mit Sondermitteln für gebietsübergreifende Dienste und Übersetzungen ergeben sich für das Geschäftsjahr 1999-2000 Gesamtaufwendungen des World Service Program von $53.659.525. Nicht eingeschlossen sind Vorhaben von Gesellschaften, die ihre Arbeit selbst aus Verkaufserlösen, Spenden und Kapitaleinkünften bestreiten. Literatur Die Bibel in Osteuropa. Ein Ber. über die Verbreitung bibl. Sehr, durch den Weltbund der Bibelgesellschaften, Stuttgart 1986. - BUBS [jeweils H. 1: World Annual Report]. - Boyd Daniels, The United Bible Societies at Forty. The Story of Forty Years of World Bible Work reflected in a Ser. of Documents: BUBS 144/145 (1986). - Wilhelm Gundert, Gesch. der dt. Bibelgesellschaften im 19. Jh., Bielefeld 1987. - Siegfried Meurer, Art. Bibelgesellschaften: R G G 4 1 (1998) 1 4 4 8 - 1 4 5 5 . - Edwin H. Robertson, Taking the Word to the World. 50 Years of the United Bible Societies, Nashville, Tenn. 1996.

Edwin H. Robertson

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Weltparlament der Religionen

Weltparlament der Religionen 1. The World's Parliament of Religions 1893 2. Parliament of the World's Religions 1993 3. Parliament of the World's Religions 1999 (Quellen/Literatur S. 620) 1. The

World's

Parliament

of Religions

1893

Dieses erste internationale und interreligiöse Treffen in den -»Vereinigten Staaten von A m e r i k a fand im R a h m e n der Weltausstellung in C h i c a g o v o m 11. bis 27. September 1 8 9 3 statt. Es wurde von Charles C . Bonney ( 1 8 3 1 - 1 9 0 3 ) , einem Angehörigen der Swedenborg Kirche ( - » S w e d e n b o r g , Emanuel/Swedenborgianer) als spirituelle Ergänzung zur Handelsmesse angeregt. H a u p t o r g a n i s a t o r w a r der presbyterianische Pfarrer J o h n H e n r y B a r r o w s ( 1 8 4 7 - 1 9 0 2 ) , der sich aus missionarischen M o t i v e n für den K o n t a k t zu anderen Religionen interessierte. Das Parlament sollte jedoch nicht allein der christlichen -»Mission dienen, sondern eine Plattform für Redner möglichst vieler Traditionen zur Selbstdarstellung bieten und die Einheit aller Religionen verdeutlichen. Als Ziele des Ereignisses nannte Barrows das Aufzeigen der gemeinsamen Wahrheiten und die Förderung eines Geistes der Brüderlichkeit, ohne Indifferentismus aufkommen zu lassen oder eine formale Einheit anzustreben. Die religiösen Kräfte sollten gegen -»Materialismus und -»Atheismus gestärkt werden, auf drängende Zeitthemen, wie Fragen des sozialen Lebens, die Stellung der Frauen, Wirtschaft und Politik wurden Antworten erwartet. T r o t z starker Kritik und erheblicher Vorbehalte auch unter den nicht-christlichen Adressaten k a m e n neben Amerikanern auch Redner aus E u r o p a und Asien. B a r r o w s hatte sowohl Einzelpersonen als auch Institutionen angeschrieben und um Teilnahme gebeten. Aus diesen Einladungen ergab sich die Z u s a m m e n s e t z u n g der Teilnehmer, die d a m i t in den meisten Fällen nicht als repräsentativ für die jeweiligen Religionsgemeinschaften gelten kann. Die ungefähr 2 0 0 Vorträge und Ansprachen stießen auf großes Interesse beim Publikum und in der Presse. Z u r Abschlußveranstaltung k a m e n ungefähr 7 . 0 0 0 Z u h ö r e r . Die meisten Vorträge s t a m m t e n von amerikanischen Protestanten. Durch die große Vielfalt der vertretenen Denominationen wurde das Parlament auch für die christliche -»Ökumene zu einem bedeutenden Ereignis der zunehmend religiös pluralistischer werdenden USA. Neben Kongregationalisten (-»Kongregationalismus), -»Baptisten, -»Presbyterianern, Methodisten (-»Methodistische Kirchen), -»Unitariern und Swedenborgianern waren auch römische Katholiken, unter ihnen der Erzbischof von Baltimore, Kardinal James Gibbons ( 1 8 3 4 1921), und Bischof John J . Keane (1839-1918) aus Washington mit Vorträgen vertreten. Unter den jüdischen Teilnehmern waren vor allem reformorientierte Rabbiner, unter anderem Isaak M a y e r W i s e ( 1 8 1 9 - 1 9 0 0 ) , einer der wichtigsten Protagonisten des a m e rikanischen R e f o r m j u d e n t u m s . Von herausragender Bedeutung für das P a r l a m e n t und die amerikanische Religionsgeschichte wurde die Anwesenheit nicht-christlicher asiatischer Teilnehmer aus Indien, J a p a n und Ceylon, die besonderes Aufsehen erregten. Die meisten von ihnen besaßen Kenntnisse von Christentum und westlicher Philosophie und standen innerhalb selbstbewußter Reformbewegungen, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit der westlich-christlichen Kultur anstrebten. Von den indischen Rednern war Protap Chunder Majumdar (1840-1905) bereits als Autor und Mitglied der Reformbewegung Brahmo-Samaj bekannt. Swami Vivekananda (1863-1902), ein Schüler Ramakrishnas, wurde mit seinem Auftritt in Chicago einer der prominentesten Vertreter des Neohinduismus (-»Hinduismus 6.). In einer programmatischen Rede stellte er den Hinduismus als eine Religion dar, die alle anderen in sich integriere. Für viele indische Autoren begründete er damit den Hinduismus als einheitliche Konzeption im Kontrast zu der Vielfalt indischer Traditionen. Vivekananda wird zudem eng mit dem Erwachen des religiösen Selbstbewußtseins Indiens verbunden. Seine anschließende Missionsreise durch die USA und die Gründung von Ramakrishna Math und Ramakrishna Mission führten maßgeblich zur Verbreitung indischer Traditionen im Westen. Aus Japan kamen Shintoisten, Buddhisten und Christen verschiedener Schulen und Kirchen. Nach heftigen Auseinandersetzungen unter japanischen Buddhisten über die Teilnahme wurde das

Weltparlament der Religionen

619

Parlament als Chance gesehen, den Westen über die eigene Tradition aufzuklären und missionarisch tätig zu werden. Der Zenmeister Shaku Soen ( 1 8 5 9 - 1 9 1 9 ) kam auf dem Parlament mit dem amerikanischen Verleger Paul Carus ( 1 8 5 2 - 1 9 1 9 ) in Kontakt. Dies führte später zu einer engen Zusammenarbeit mit Soens Schüler Daisetz Suzuki, dessen Werke den japanischen Zenbuddhismus im Westen bekannt machten. Carus Verlagsarbeit wurde nach dem Parlament zu einem wichtigen Forum für religiöse Traditionen aus Asien. Aus Ceylon stammte der Buddhist Anagarika Dharmapala ( 1 8 6 4 - 1 9 3 3 ) , der unter anderem über den Theosophen Henry Steel Olcott ( 1 8 3 2 - 1 9 0 7 ) in Kontakt mit westlichem Interesse an Asien gekommen war. Er versuchte mit der Rezeption westlicher Orientalisten den -»Buddhismus in seinen Quellen wiederzuentdecken und zugleich als moderne Religion zu etablieren.

Muslime fehlten weitgehend, da der Sultan Abdul Hamid II. sich explizit gegen die Teilnahme ausgesprochen hatte. Afrikaner, schwarze Amerikaner und Native Americans waren aufgrund mangelnder Einladung kaum oder gar nicht anwesend. Im Gesamteindruck des Parlamentes überwiegen Konzeptionen, die die interreligiöse Einheit betonen. Für viele Christen stand dies nicht im Widerspruch zu der Hoffnung auf weltweiten Missionserfolg. Umgekehrt sahen Vertreter asiatischer Traditionen die Möglichkeit missionarischer Aktivitäten im Westen. Auffallend war ihr selbstbewußtes Auftreten als religiös gleichberechtigte oder sogar sich selbst als überlegen einschätzende Diskussionspartner. Viele von ihnen antworteten auf die Themen ihrer Zeit, wie z. B. auf die Herausforderung durch die Naturwissenschaften oder den Überlegenheitsanspruch des Christentums. In ihren Reden argumentierten sie von ihren eigenen Traditionen her, bezogen aber westliche Standpunkte und westliche Forschungsergebnisse mit ein. Als Folge des Parlamentes wird unter anderem eine wachsende Bedeutung der -»Religionswissenschaft in den USA gesehen. Caroline E. Haskell stiftete zwei Dozenturen: An der Universität von Chicago wurden die „Haskell Lectures" für „Comparative Religion", unter anderem mit Mircea Eliade (1907-1986), besetzt. In Indien wurden die „Barrows Lectures" eingerichtet, die allerdings für die Demonstration der Überlegenheit des Christentums vorgesehen waren. 2. Farliament

of the World's Religions

1993

Das „Parlament der Religionen der Welt 1993" fand vom 28. August bis 5. September 1993 in Chicago statt. Organisiert wurde es als Hundertjahrfeier vom Council for a Farliament ofthe World's Religions. Dieses setzte sich vor allem aus Mitgliedern Chicagoer Religionsgemeinschaften zusammen. Die Initiatoren wollten die Rolle der Religion für das 21. Jh. bestimmen und das interreligiöse Verständnis fördern. Die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene sollte intensiviert und Fragen von globaler Bedeutung im Hinblick auf das nächste Jahrhundert angesprochen werden. Trotz des Versuchs der Organisatoren, eine Plattform der Multikulturalität ohne Vereinnahmungen zu bieten, waren starke universalistische Tendenzen vorhanden. Das Programm bot über 700 Vorträge, Symposien, Ausstellungen, Konzerte, Workshops und Einladungen zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen. Inhaltlich überwogen Darstellungen der jeweiligen Traditionen, bzw. religiöser Positionen Einzelner. Dominante Themen waren Ökologie, Wirtschaft, Frauenfragen und Heilung/Gesundheit. Neben überwiegend liberalen Anhängern der großen religiösen Traditionen waren auch indigene Gruppen, besonders dominant Native Americans, aktiv. Provozierend für viele Mitglieder traditioneller Gemeinschaften waren Vertreter des Neuheidentums und esoterischer Gruppen. International bekannte Teilnehmer waren der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso, der schiitische Islamwissenschaftler Seyyed Hossein Nasr, der vietnamesische Zenmönch und Mitbegründer der Bewegung des Engagierten Buddhismus Thich Nhat Hanh, Swami Chidananda Saraswati von der Divine Life Society von Rishikesh und Robert Müller, Kanzler der UNO Friedensuniversität in Costa Rica. Die Römisch-katholische Kirche sowie der Weltkirchenrat waren institutionell verhältnismäßig wenig vertreten. Insgesamt nahmen ungefähr 7.000 Personen teil.

620

Weltparlament der Religionen

Der Council berief eine Assembly of Religious and Spiritual Leaders, bestehend aus 241 institutionellen Vertretern verschiedenster Religionsgemeinschaften, die eine Weltethoserklärung verabschieden sollten. Der katholische Theologe Hans Küng war gebeten worden, im Rahmen seines Weltethosprojektes eine entsprechende Deklaration zu entwerfen. Diese wurde als „Statement toward a Global Ethic" (Stellungnahme auf dem Weg zu einer globalen Ethik) trotz starker Kritik von vielen Mitgliedern der Assembly unterschrieben. Ausgehend von einer derzeit weltweiten Krise will die Erklärung eine Vision zu ihrer Lösung bieten. Unter dem Motto „Keine neue globale Ordnung ohne eine neue globale Ethik" wird ein Weltethos propagiert, das auf den gemeinsamen ethischen Grundlagen der Religionen beruhen soll. 3. Parliament of the World's Religions 1999 Das interreligiöse Nachfolgetreffen von 1993 fand vom 1. bis 8. Dezember 1999 in Kapstadt (Südafrika) mit bis zu 7.000 Teilnehmern und über 800 Veranstaltungen statt. Wie 1993 waren die großen religiösen Gemeinschaften institutionell relativ gering vertreten, und die Vielfalt reichte von konservativen christlichen über liberale und dialogorientierte Gruppen bis hin zu esoterischen Kreisen. Neben einer starken Tendenz zur Selbstdarstellung hatten die Einzelveranstaltungen, durchgängigen Symposien, Seminarund Vortragsreihen, einen Schwerpunkt in südafrikanischen Themenstellungen und kritischer Reflexion der Globalisierung. Ergänzt wurde das Programm mit zahlreichen Möglichkeiten, eigene religiöse Erfahrungen zu machen. Unter den prominenten Teilnehmern waren auch der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso und Nelson Mandela. In der Kontinuität zu dem Parlament von 1993 war „A Call to our Guiding Institutions" (Ein Ruf an unsere leitenden Institutionen) vom Council des Parlamentes ausgearbeitet worden. Die Selbstverpflichtung zu einer globalen Ethik wurde damit ausgeweitet zu einem Aufruf an verantwortliche Institutionen, sich für eine gerechte, friedliche und die Erde bewahrende Zukunft einzusetzen. Die Teilnehmer der aus über 350 Mitgliedern bestehenden 1999 Parliament Assembly verpflichteten sich zu konkretem Engagement in der Suche nach interreligiöser Zusammenarbeit mit säkularen internationalen Organisationen. Weitere Parlamente sind bereits in der Planung. Quellen The World's Parliament of Religions, hg. v. John Henry Barrows, 2 Bde., Chicago 1893. Neely's History of The Parliament of Religions and Religious Congresses at The World's Columbian Exposition, hg. v. Walter R. Houghton, Chicago 1893. - A Source Book for the Community of Religions, hg. v. Joel Beversluis, Chicago 1993. - Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, hg. v. Hans Küng/Karl-Josef Kuschel, München/Zürich 1993.

Literatur The Community of Religions, hg. v. Wayne Teasdale/George Cairns, New York 1996. Dorothea Lüddeckens, Das Weltparlament der Religionen v. 1893. Strukturen interrel. Begegnung im 19. Jh., 2002 (RVV 48). - Richard H. Roberts, Religion, Theology and the Human Sciences, Cambridge 2001. - Richard Hughes Seager, The World's Parliament of Religions. The East/West Encounter, Chicago 1893, Bloomington, Ind. 1995. - Monika Schrimpf, Zur Begegnung des japanischen Buddhismus mit dem Christentum in der Meiji-Zeit ( 1 8 6 8 - 1 9 1 2 ) , 2000 (StOR 48).

Dorothea Lüddeckens

Weltrat der Kirchen —• Ökumene, —> Ökumenismus Wendland, Heinz Dietrich -» Sozialethik

Werbung

621

Werbung (Literatur S. 6 2 3 )

Die Wahrnehmung (quasi-)religiöser Dimensionen der Werbung geht auf strukturalistische (Barthes) und neomarxistisch-kulturkritische Einflüsse zurück. Mit ihrem „Warenhimmel auf Erden" (Bühler) erscheinen Konsumismus und Werbung als „Trivialreligion", als substanzlose „Quasi-Religion", welche das Christentum immer mehr ersetzt und verdrängt. Von daher korrigiert 1973 K.-W. Bühler die Säkularisierungsthese (-•Säkularisierung): „Falsch ist: Die Religion ist tot. Die moderne Industriegesellschaft braucht keine Religion. Richtig ist: In der Industriegesellschaft wird eine neue Religion marktgerecht von den ,Mittlern des Glücks', den Massenmedien produziert" (Bühler 7). Struktur- und Funktionsähnlichkeiten von Werbung und Religion werden primär in den Verheißungen einer besseren Welt, eines besseren Lebens, von Schuldlosigkeit und höherer Moral gefunden (vgl. auch Zilleßen). Zur Symbolisierung des „Mehrwerts" der angepriesenen Produkte verwendet Werbung inhaltlich immer wieder auch Elemente aus der religiösen, meist der christlichen Tradition, von Begriffen wie „himmlisch" oder „teuflisch gut" über Darstellungen von Pfarrern und Nonnen bis hin zur Übernahme von Bildern aus der christlichen Kunst oder Anspielungen auf biblische Erzählungen. Der -»Theologie fiel in dieser kultur- und werbungskritischen Sicht die Aufgabe zu, über die religionsähnlichen Züge der Werbung aufzuklären und sie im Sinne der -» Religionskritik als „falsche" Religion zu entlarven, welche nicht auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen eingeht, sondern künstlich Bedürfnisse weckt, die Verklärung und Vergötzung des Materiellen betreibt und damit ihre wahren Absichten verschleiert (so der Grundtenor bei Albrecht, bei Spiegel und nach wie vor - in extremer Einseitigkeit - bei Kuhnke). Seit den 1990er Jahren ist eine Akzentverschiebung in der theologischen Wahrnehmung und Beurteilung der Werbung zu erkennen, welche zum Teil mit einer Veränderung des gesamtkulturellen Klimas und damit auch einem Wandel in Teilen der Werbung selbst zusammenhängt. Der Trend von der Produkt-Werbung zur Sinn- und Werte-Werbung läßt zusammen mit der neuen Offenheit für Religion in einer sich selbst fragwürdig gewordenen (Post-)Moderne (-»Postmoderne) die Werbemacher verstärkt, gezielt und teilweise unverhohlen zynisch auf religiöse Motive und Strukturmuster zurückgreifen (Cöster; Bolz/Bosshart). Die theologischen Neuakzentuierungen in der Reflexion dieser Entwicklung lassen sich folgendermaßen skizzieren (ausführlich in Buschmann/Pirner 23ff.): 1) Die prinzipielle Berechtigung von Werbung in ihrer Funktion für unsere Industriegesellschaft wird anerkannt (z. B. Mädler; Päpstlicher Rat) oder zumindest als unvermeidliches Übel akzeptiert (Bieritz). Eine Generalkritik der Werbung erscheint theologisch unangebracht und bleibt de facto wirkungslos. Auch das Recht der Werbung, religiöse bzw. christliche Symbole zu verwenden, wird grundsätzlich akzeptiert, da diese nicht als kirchlicher „Besitz" gelten können, sondern Teil unserer -»-Kultur sind. 2) Werbung gewinnt unter der Voraussetzung, daß sie, um erfolgreich zu sein, an die aktuell brennendsten und anthropologisch tiefsten Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen anknüpft, eine wichtige zeitdiagnostische Bedeutung (z.B. Vasel). Durch die Analyse der Werbung kann die Theologie lernen, was unsere Zeitgenossen (auch in existenzieller und religiöser Hinsicht) bewegt und welche kulturellen Trends als populär gelten können. 3) Werbung läßt sich in mehrfacher Hinsicht als heilsame Herausforderung für Theologie und Kirche begreifen, die zur Selbstkritik anregt: -»Bilder, -»Symbole und Themen aus der christlichen Tradition, die von einem rationalistisch und modernistisch enggeführten Christentum verworfen oder vergessen wurden, werden von Werbestrategen erfolgreich eingesetzt. Während sich die Theologie bemühte, die christliche Botschaft zu entmythologisieren und in „weltliche" Sprache zu übersetzen, haben in der Werbung

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Werbung

gerade mythische und überweltlich-religiöse Elemente Konjunktur und erweisen sich als werbewirksam. Statt von einer „Trivialisierung" und „Entleerung" religiöser Symbole in der Werbung auszugehen, wäre demnach zu fragen, „welche Anliegen und Symbolisierungen christlicher Prägung in der Werbung noch lebendig sind" (Kumlehn 68). 4) Werbung erscheint nicht so sehr als Religionsersatz und -verdrängerin, sondern hält durch ihre dialektische Grundstruktur (sie inszeniert den Mehrwert eines Produkts) gerade die „Sehnsucht nach mehr" (Pirner, Sehnsucht), das „Begehren" (Beuscher 117ff.) wach und trägt durch die Verwendung von religiösen Elementen zu deren Weitertradierung bei (Fermor 160ff.). So hält z. B. eine Zigaretten Werbung, die Meditierende zeigt, auch das Verlangen nach —•Spiritualität und innerem Frieden aufrecht, und die Werbung für den Wodka „Sin" bringt, bei aller Fragwürdigkeit, den christlich-traditionellen Begriff der —»Sünde neu ins Spiel. Werbung bietet also positive Anknüpfungspunkte für Theologie und -»Religionspädagogik, für christliche —•Verkündigung und Erziehung, was eine kritische Auseinandersetzung und das Aufrichten von „Gegen-Zeichen" (Bieritz 48) einer alternativen Lebenssicht nicht aus-, sondern einschließt. Vor diesem kultur- und religionshermeneutischen Hintergrund lassen sich drei konkrete Aufgaben- bzw. Problembereiche des theologischen Umgangs mit Werbung benennen: 1) Werbung als Gegenstand theologischer Ethik: Hier geht es im Schnittfeld von Wirtschaftsethik {-*'Wirtschaft/Wirtschaftsethik) und Medienethik primär um eine „Folgenabschätzung" bestimmter Werbepraktiken für die gesellschaftliche Entwicklung sowie um die Erarbeitung und Durchsetzung von Kriterien für eine möglichst humane Werbung (z.B. Verpflichtung auf die Wahrheit und das Gemeinwohl, Respekt vor der Würde der Person: Päpstlicher Rat; Bohrmann). Spezialfragen betreffen die Instrumentalisierung ethischer Probleme durch die Werbung (z. B. in der Benetton-Werbung; zur Diskussion vgl. Gawert/Middel), die Verbreitung von Vorurteilen und Stereotypen in der Werbung oder die mögliche Verletzung religiöser Gefühle durch eine abwertende Darstellung religiöser Symbole (Pirner, Höschen). 2) Werbung als Mittel der Kirche: Darf oder soll die Kirche für sich und ihre Botschaft mit Mitteln der kommerziellen Werbung werben? Diese Frage betrifft die theologische Ethik und die Praktische Theologie gleichermaßen. Auch wenn die grundsätzliche Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von kirchlicher Werbung bzw. „-»Öffentlichkeitsarbeit" kaum mehr bestritten wird (Päpstlicher Rat 171), ist die anläßlich von bestimmten Kampagnen häufig wiederkehrende und kontrovers diskutierte Streitfrage, wie weit sich Kirche „weltlichen" Marktmechanismen anpassen soll und wie weit sie auf die göttlich verheißene Selbstdurchsetzungskraft des Evangeliums vertrauen soll (werbungsfreundlich: Kapfer; Hillebrecht; werbungsfeindlich: Mereien/Hörmann). 3) Werbung als Gegenstand religiöser Bildung: Wie bereits angedeutet, bietet die Werbung gerade in religionspädagogischer Perspektive gute Ansatzpunkte zur Thematisierung sowohl der Sehnsüchte und Lebenseinstellungen der Menschen heute als auch der Bedeutung religiöser Traditionen für deren Artikulation und Bearbeitung und kann somit eine religionsdidaktische „Brückenfunktion" wahrnehmen. Das spielerisch-kreative oder reflexive Zusammenbringen von Werbung und christlicher Tradition kann werbungs- und konsumkritische, aber auch traditionskritische Impulse freisetzen und die Kommunikation über lebenshelfende Aspekte von christlichem -»Glauben und religiöser Spiritualität fördern. Die stark symbolischen und massenmedial verbreiteten Präsentationen der Werbung machen sie sowohl für symboldidaktische als auch für lefcenswelt- und medienorientierte Konzepte religiöser -»Bildung interessant (vgl. Gottwald; Mertin/Futterlieb; Buschmann/Pirner). In der Schule ergeben sich hier für den -»Religionsunterricht besonders gute Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Kunst- oder Deutschunterricht sowie der Wahrnehmung medienerzieherischer Anliegen (z. B. Bickelhaupt/Buschmann).

Werke I

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Literatur Horst Albrecht, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart u.a. 1993, bes. Kap.4. - Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a . M . 1964. - Bernd Beuscher, Angebot u. Nachfrage: Thomas Klie (s.u.) 1 1 0 - 1 2 4 . - Thomas Bickelhaupt/Gerd Buschmann, Die verzückte Nonne: Buschmann/Pirner (s. u.) 9 7 - 1 0 9 . - Karl-Heinrich Bieritz, Kult-Marketing. Eine neue Religion u. ihre Götter: Thomas Klie (s.u.) 3 3 - 5 0 . - Thomas Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, München 1997. - Norbert Bolz/David Bosshart, Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf 1995. - Karl-Werner Bühler, Der Warenhimmel auf Erden. Trivialreligion im KonsumZeitalter, Wuppertal 1973. - Gerd Buschmann/Manfred L. Pirner, Werbung - Religion - Bildung. Kulturhermeneutische, theol., medienpädagogische u. religionspädagogische Perspektiven, Frankfurt a . M . 2003 (Lit.). - Oskar Cöster, Ad'Age. Der Himmel auf Erden. Eine Theodizee der Werbung, Hamburg 1990. - Gotthard Fermor, Religion in der Werbung - Werbung für die Religion ?: Thomas Klie (s.u.) 1 6 0 - 1 7 2 . - Johannes Gawert/Reinhard Middel (Hg.), Werbung ohne Tabu? Pro u. Contra zur Benetton-Werbung, Frankfurt a. M . 1994. - Eckart Gottwald, Didaktik der rel. Kommunikation, Neukirchen-Vluyn 2000. - Steffen W. Hillebrecht, Die Praxis des kirchlichen Marketings, Hamburg 2000. - Ludwig Kapfer/Hans Putzer/Andreas Schnider, Die Jesusmanager. Kirche u. Marketing, Innsbruck 1997. - Thomas Klie (Hg.), Spiegelflächen. Phänomenologie - Religionspädagogik - Werbung, Münster 1999 (Lit.). - Martina Kuhmlehn, „Konzentration auf das Wesentliche": Thomas Klie (s.o.) 5 1 - 7 1 . - Ulrich Kuhnke, Art. Werbung: Lexikon der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn, II 2001, 2 2 0 9 - 2 2 1 3 . - Inken Mädler, Werbung - Ethik - Religion: Z E E 41 (1997) 2 - 6 . - Alexander Mereien/Andreas Hörmann, Säkularisierung u. Kirchenwerbung: CS 30 (1997) 3 - 1 6 . - Andreas Mertin/Hartmut Futterlieb, Werbung als Thema des Religionsunterrichts, Göttingen 2001 (Lit.). - Päpstlicher Rat f. die Sozialen Kommunikationsmittel, Ethik in der Werbung: CS 30 (1997) 1 6 6 - 1 8 4 . - Manfred L. Pirner, Die Sehnsucht nach mehr wachhalten: Buschmann/Pirner (s.o.) 2 3 7 - 2 5 3 . - Ders., Hl. Höschen. Religion u. Erotik in der Popularkultur: ebd. 1 2 9 - 1 4 0 . - Yorick Spiegel, Die Macht der Bilder: Holger Tremel (s.u.) I, 1 2 - 1 9 . - Holger Tremel (Hg.), Das Paradies im Angebot. Rel. Elemente in der Werbung, Frankfurt a . M . ; I. Dokumentation, 1986; II. Materialien u. Bausteine f. Schule, Jugendarbeit u. Erwachsenenbildung, 1987. - Stephan Vasel, Werbung als Instrument rel. Zeitdiagnostik: Thomas Klie (s.o.) 2 1 3 - 2 3 4 . - Dietrich Zilleßen, Verheißungen in Werbeanzeigen. Zur Frage v. Mythos, Religion u. Gesellschaft: EvErz 31 (1979) 1 3 1 - 1 4 1 . M a n f r e d L. Pirner

Werke, Gute I. II. III. IV. V.

Religionsgeschichtlich Judentum Neues Testament . . . . Kirchengeschichtlich . . Systematisch-theologisch

S. S. S. S.

625 628 633 642

I. Religionsgeschichtlich (Literatur S. 625) 1.1. Vermutlich hat die stark christliche Prägung des Begriffs „gute W e r k e " , die auf theologische Auseinandersetzungen insbesondere in der Reformationszeit zurückgeht (s.u. IV), dazu geführt, daß der Begriff in der Behandlung nichtchristlicher Religionen heute nur selten dezidiert als religionswissenschaftlicher Terminus gebraucht wird. Der Versuch, ihn auf andere religiöse Kontexte anzuwenden, setzt eine sinnvolle metasprachliche Bestimmung voraus. Dabei besteht einerseits die Gefahr, „gute W e r k e " zu allgemein als „religiös und ethisch richtige H a n d l u n g e n " zu verstehen, w a s nur wenig Aussagewert h ä t t e (vgl. Lanczkowski). Andererseits könnte m a n versucht sein, die innerchristliche D e b a t t e mit ihren verschiedenen Positionen e x a k t auf andere Religionen übertragen zu wollen, was die Anwendung des Begriffs wiederum stark einschränken würde (vgl. L a u ) . E s soll daher versucht werden, das Bedeutungsfeld religionswissenschaftlich sinnvoll

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Werke I

einzugrenzen und anschließend die Anwendung anhand von einigen Beispielen aus der Religionsgeschichte zu verdeutlichen. Das Substantiv „Werk" enthält neben dem bloßen Handlungsakt den Verweis auf ein „Produkt" des Handelns und unterscheidet sich dadurch von der „Tat". Dieser „materielle" Aspekt ist bedeutsam, da in einigen religiösen Kontexten das durch das Werk erworbene religiöse Verdienst später (etwa nach dem —»Tod) einlösbar ist und damit heilsrelevant sein kann. Das Tun eines Werkes setzt außerdem eine diesbezügliche Entscheidungsfreiheit des Menschen voraus; die dem Werk zugrundeliegende Motivation kann aber durchaus auf religiösen Vorschriften oder Geboten gründen. Schließlich sollte der Begriff „Werk" direkt anderen Lebewesen zugute kommende Handlungen bezeichnen, um diese damit von anderen Handlungen, etwa im Kontext von -»Ritus, -» Askese oder —»Mystik, zu unterscheiden. Das Adjektiv „gut" qualifiziert ein Werk in allgemeinem Sinne als ethisch positiv im Verständnis des jeweiligen religiösen Begründungszusammenhangs. Daher ist grundsätzlich auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß den guten Werken „schlechte Werke" gegenübergestellt werden, die dementsprechend negativ „verbucht" werden. „Gute Werke" sind danach ethisch richtige Handlungen, die aus freier Entscheidung vollzogen werden und sowohl anderen Lebewesen als auch dem Handelnden selbst zugute kommen. 1.2. Mit dieser Definition des Begriffs, insbesondere in der Unterscheidung der „guten Werke" von „guten Taten", deutet sich ein Grundkonflikt an, der sich insbesondere in religiösen Traditionen mit einer „Gnadenlehre" findet: Kann der Mensch sein Heil (zumindest teilweise) durch gute Werke erwerben oder liegt dessen Gewährung allein in der Gnade der Gottheit? Ein protestantisches Verständnis von „guten Werken" etwa, das diese als Glaubensfrucht eines nur aus Glauben gerechtfertigten Christen beschreibt (vgl. -»Gnade; -»Rechtfertigung), würde dem oben eingegrenzten Begriff nicht entsprechen. Wenn mit dem guten Werk kein „Produkt", kein religiöses Verdienst verbunden ist, das zumindest zur Vermehrung der Gnade und zur Erlangung des eigenen Heils beiträgt (wie in der auf dem Konzil von Trient festgelegten katholischen Rechtfertigungslehre, vgl. DH 1545.1574.1582), so müßte man religionsgeschichtlich von einer „guten Tat" sprechen. 1.3. Im —»Islam findet sich eine ähnliche Spannung bereits im Koran. Während die frühen Suren zur Umkehr aufrufen und dem Menschen damit Entscheidungsfreiheit und individuelle Heils Verantwortlichkeit durch seine Werke zugestehen (Sure 99), wandelt sich dies in medinensischer Zeit zu einer Gesetzesfrömmigkeit, in welcher die Zugehörigkeit zur Gemeinde Muhammeds, der Vollzug der Riten und die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes einen höheren Stellenwert als das individuell verantwortete Leben erlangen (Sure 39,52-55). Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und guten Werken bleibt Gegenstand von Diskussionen in der islamischen Theologie (vgl. Nagel), in denen die Positionen wiederum mit Hilfe der begrifflichen Trennung von „Werken" (etwa bei den Härigiten) und „Taten" (etwa bei den Murgiiten) unterschieden werden können. Diesen Vorstellungen könnte man den Karmagedanken in Religionen indischen Ursprungs gegenüberstellen, der besagt, daß jede Handlung des Menschen eine Auswirkung auf die nächste Existenz hat. Jede Tat an einem anderen könnte also zunächst als (gutes oder schlechtes) Werk verstanden werden. Um zum Heil zu gelangen, muß den großen Traditionen zufolge allerdings die vom Karma („Tat, Handlung") getragene, leidvolle Gesetzmäßigkeit des Kreislaufs der Geburten gerade durchbrochen werden, wofür es unterschiedliche Konzeptionen gibt. Eine radikale Position findet sich im Jinismus, wenn das Anhaften von Karma (als feinstofflicher Materie) an der Seele u.a. durch NichtHandeln beendet wird, im extremen Fall in der Form des Sterbefastens (vgl. Caillat). Auch für den frühen -»Buddhismus ist es selbstverständlich, daß gute Werke zwar eine

Werke II

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positive Auswirkung auf die nächste Existenz haben und damit die eigene Ausgangsposition verbessern, nicht aber direkt zur Erlösung führen können. Der „Mittlere Weg" des Buddha schließt jedoch das Extrem des Nicht-Handelns aus, da er auf dem Gedanken gründet, daß nicht die Tat selbst das Karma schafft, sondern die zugrundeliegende Absicht (vgl. Ariguttara-Nikäya 111,415). Diese ist unmittelbar mit dem Streben nach Erlösung verknüpft: ein Erlöster schafft durch seine Handlungen kein Karma mehr, da für ihn Gier, Haß und Verblendung erloschen sind, welche ihn als (karmaschaffende) Person konstituiert haben. In Spannung zur strengen Karmalehre steht die schon im frühen Buddhismus verbreitete Auffassung, daß erworbenes Verdienst übertragen werden kann, etwa auf verstorbene Verwandte. Zeugnisse dieser Vorstellung sind die Stifterinschriften an buddhistischen Monumenten und Pilgerstätten, welche etwa durch die „Präsenz" des Buddha oder anderer bedeutender Gestalten (in Form von dort aufbewahrten Reliquien) als besonders geeignete Orte für den Verdiensterwerb gelten (vgl. Schopen). Hier widmet das handelnde Subjekt also das „Produkt" seines Handelns explizit anderen Wesen. Im Unterschied dazu besitzen manche Richtungen im —•Hinduismus eine Gnadenlehre, die besagt, daß die Gottheit (etwa Visnu, Krsna, Räma, Siva, Sakti) sofortige individuelle Befreiung gewähren kann. Das Karmagesetz tritt dabei in den Hintergrund. Dies ist besonders deutlich in der Bhakti-Religiosität, die auf Hingabe und Gottesliebe basiert. Im Unterschied zu den oben erwähnten Positionen im Christentum und im Islam werden hier aber Glaube und Werke nicht gegenübergestellt, sondern verschmelzen im Devotionalismus. Zur Gottheit gelangt, wer seinen Geist auf sie ausrichtet und ausschließlich um ihretwillen handelt (Bhagavadgltä 9 , 2 2 - 3 9 ; l l , 5 4 f . ; 1 8 , 5 4 - 6 6 ) . Andere Richtungen im Hinduismus halten an den beschränkten Auswirkungen guter Werke für den Heilsweg fest. Im späteren Buddhismus entwickelt sich mit der Vorstellung der Geburt im Reinen Land des Buddha Amitäbha (jap. Amida) auch eine Form von Gnadenlehre, die zwar theoretisch die Selbsterlösung nicht ersetzt, in der Praxis aber wohl genauso aufgefaßt wurde. Sie besagt (etwa in Shinrans Jödo-shinshü-Schule), daß allein die Anrufung Amidas und das Vertrauen auf ihn auch schlecht handelnde Menschen direkt ins Reine Land führt (vgl. Steineck). Für diese Hingeburt sind also gute Werke nahezu bedeutungslos. Literatur Heinz Bechert/Richard Gombrich (Hg.), Der Buddhismus. Gesch. u. Gegenwart, München 1989. - Johan Bouman, Die guten Werke im Islam: Ethik im Islam, hg. v. Willi Höpfner, Wiesbaden 1978 (Christentum u. Islam 4) 1 4 - 2 9 . - Collette Caillat, Fasting unto Death According to the Jaina Tradition: AcOr 38 (1977) 43 - 6 6 . - Wilhelm Halbfass, Karma u. Wiedergeburt im indischen Denken, München 2000. - Günter Lanczkowski, Art. Werke: R G G J 6 (1962) 1 6 4 1 - 1 6 4 2 . - Franz Lau, Art. Gute Werke: R G G 3 2 (1958) 1 9 1 5 - 1 9 1 6 . - Axel Michaels, Der Hinduismus. Gesch. u. Gegenwart, München 1998. - Tilman Nagel, Gesch. der islamischen Theol. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994. - Gregory Schopen, Bones, Stones, and Buddhist Monks, Honolulu 1997. - Christian Steineck, Quellentexte des japanischen Amida-Buddhismus, Wiesbaden 1997.

Oliver Freiberger

II. Judentum (Literatur S. 628)

1. Bereits im Alten Testament wird als Antwort des Menschen auf den Sinaibund (-•Bund) und die göttliche -> Offenbarung der Gebote das Einhalten dieser Gebote, welches auch -»-Gerechtigkeit genannt wird, erwartet. So heißt es in Ex 19,5f., daß Israel, wenn es auf Gottes Stimme hört und seinen Bund hält, Gottes Eigentum, ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein wird. V. 8 zufolge hat sich das gesamte

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Werke II

Volk einmütig bereit erklärt, alles, was Gott befohlen hat, zu befolgen. Erst im Anschluß an diesen Bundesschluß zwischen Gott und Israel werden in Exodus die einzelnen zu befolgenden Regelungen expliziert (Ex 20,1 ff.). Die Verpflichtung zur Einhaltung der göttlichen Verhaltensvorschriften, wozu auch die -» Liebe zum Nächsten gehört (Lev 19,18), basiert also auf dem besonderen Verhältnis Gottes mit Israel. Es wird als selbstverständliches Verhalten Israels gegenüber Gott erwartet. Von einem endzeitlichen -•Lohn für gutes mitmenschliches Handeln ist im Alten Testament dagegen nur ansatzweise die Rede (s. I Sam 24,20; 26,23; Prov 19,17; Ps 62,13; Jes 49,4). In der apokalyptischen Literatur der Zeit des Zweiten Tempels werden die Werke (epya) der Gerechten gelegentlich den schlechten Werken der Gottlosen gegenübergestellt, und es heißt, daß die beiden Gruppen am Ende der Zeiten unterschiedliche Schicksale erleiden werden. Wie bereits im Alten Testament ist auch in der apokalyptischen Literatur häufiger von der endzeitlichen Bestrafung der Sünder als von einer Belohnung der Taten der Gerechten die Rede. Die Übeltaten der Sünder, die die Gerechten bedrängen, werden von Engeln aufgezeichnet und am Ende vergolten werden (z. B. äthHen 97,6; 100,7.10). Dabei ist die Theodizee-Frage (-»Theodizee) von entscheidender Bedeutung: Wenn die Sünder sehen, daß auch die Gerechten sterben müssen, könnten sie fragen, ob sich denn gute Werke überhaupt lohnen (äthHen 102,6). Der Gedanke der endzeitlichen Vergeltung dient dazu, eine einsichtige Antwort auf diese Frage zu geben. Wenn es den Gerechten auch in dieser Welt nicht besser geht als den Sündern, so garantieren ihnen ihre guten Werke doch ein ungleich besseres Schicksal in der kommenden Welt (syrBar 14,12-14; 51,7; 69,4; grBar 1 5 , 1 - 3 ; IV Esr 7,77; 8,33; 9,7). Dabei ist die Höhe des göttlichen Lohnes aber nicht immer als den menschlichen Taten genau entsprechend, sondern als unvergleichlich höher vorgestellt (grBar 15,2). Auch diejenigen, denen es an guten Werken mangelt, müssen nicht verzweifeln, sondern können mit der Fürsprache von Mittlergestalten wie Baruch (grBar 16,7f.) und mit Gottes Güte rechnen (IV Esr 8,31—33.35f.). Dem Gedanken der Güte Gottes liegt die Überzeugung zugrunde, daß kaum ein Mensch in der Lage ist, vollkommen gerecht zu handeln und nur gute Werke vorweisen zu können. Da die kategorische Einteilung der Menschen in vollkommen Gerechte einerseits und Sünder andererseits der Realität nicht entspricht, ist eine endzeitliche Vergeltung ohne göttliche Güte undenkbar. Dies wird besonders in IV Esr 8,20-36 deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Aufforderung zu guten Werken ist in der jüdisch-hellenistischen Literatur nicht immer an endzeitlichen Lohn gekoppelt. Gute Werke werden wie im Alten Testament als Ausdruck eines gottgerechten, frommen Lebens gesehen. Sie deuten an, daß derjenige, der sie verrichtet, Gott als seinen Herrn anerkennt. In diesem Sinne ist von guten Werken besonders in den -»'Testamenten der XII Patriarchen die Rede. In TestRub 4,1 ermahnt Rüben seine Söhne von seinem Sterbebett aus, ein Leben in Ehrfurcht vor Gott, bestimmt durch gute Werke, Studium und Arbeit zu führen. Die guten Werke werden hier also als nur ein, wenn auch wichtiger, Aspekt der religiösen Lebensführung erwähnt. Die Verbindung zwischen Gottesfurcht einerseits und guten Werken andererseits erscheint auch in TestNaph 2,9 f. Wer gute Werke tut, kann nicht automatisch mit Lohn rechnen, sondern nur auf ein gutes Ansehen bei Gott hoffen: So wie jemand, der ein Kind gut erzieht, bei seinen Mitmenschen geachtet wird, so wird auch Gott sich derer mit Wohlwollen erinnern, die gute Taten verrichten (TestNaph 8,5). Außerdem schützen gute Taten vor unreinen Geistern und haben Vorbildfunktion: Sie führen diejenigen zur Umkehr, die Böses tun (TestBenj 5,1—3). Einerseits ging man davon aus, daß der Mensch die -»Freiheit hat, sich selbst zu entscheiden, ob er gute oder böse Werke tun will, und die entsprechenden Konsequenzen für sein Verhalten auf sich nehmen muß (PsSal 9,4f.). Andererseits wird derjenige, der zu Gott betet und Gott um Hilfe bittet, von diesem zu einem Leben voller guter Werke angeleitet (PsSal 6,2; 16,9; Arist 18). Einmal heißt es auch, daß der Messias die Menschen zu Gottesfurcht und guten Werken führen wird (PsSal 18,8).

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2. Auch die Rabbinen betonten die Notwendigkeit, göttliche Anweisungen zu befolgen und sich seinen Mitmenschen gegenüber gut zu verhalten als Ausdruck des gottgewollten Lebens. Obwohl sie die göttliche Gerechtigkeit als eine wichtige Eigenschaft Gottes ansahen, assoziierten sie gute Werke nicht automatisch mit Lohn. An den weitaus meisten Stellen, an denen gute Werke erwähnt werden, ist von endzeitlichem Lohn gar nicht die Rede. Der Vorwurf der Werkgerechtigkeit, der so oft an die Rabbinen und die Autoren der jüdischen Literatur des Zweiten Tempels erging, ist deshalb völlig unangebracht und Ausdruck theologischer Polemik. In der Verbindung von Lohn und guten Taten spielt der Mischna-Traktat Avot eine besondere Rolle (s. dazu Stemberger). Innerhalb der ->Mischna ist nur in diesem Traktat von „guten Werken" (ma'asim tovirn) die Rede. Gute Taten werden hier als Schutz gegen endzeitliche Bestrafung (mAv 4,11.17) verstanden, während die Höhe ihres Lohnes unbekannt bleibt (2,1). Da der Lohn für die Erfüllung der jeweiligen Gebote nicht bekannt ist, ist man angehalten, alle Gebote gleichermaßen zu erfüllen und nicht zwischen leichten und schweren zu unterscheiden (ebd.). Es heißt, daß alle Werke eines Menschen bei Gott aufgeschrieben sind (ebd.; vgl. 3,16) und entsprechend bei der endzeitlichen Vergeltung herangezogen werden können. Andererseits wird aber betont, nicht um des Lohnes, sondern um seiner selbst willen Gott zu dienen, d.h. seine Gebote zu befolgen und gute Werke zu tun (1,3). Von der Notwendigkeit der Erfüllung göttlicher Gebote (mitzvot) ist auch in anderen Mischnatraktaten häufig die Rede. Dabei wird die Gebotserfüllung oft der Übertretung und damit dem Handeln gegen den göttlichen Willen gegenübergestellt. MBer 2,2 zufolge geht das Aufsichnehmen des Joches der Gottesherrschaft dem Aufsichnehmen des Joches der Gebote voraus, d.h. das besondere Verhältnis Israels zu Gott ist Voraussetzung und Basis des Gesetzesgehorsams. Zu diesem Gesetzesgehorsam sind nicht alle Israeliten gleichermaßen verpflichtet, sondern in vollem Umfang nur erwachsene Männer. Minderjährige bzw. Jungen unter 13 Jahren fallen noch nicht unter die Pflicht der Gebotserfüllung (mSan 8,1; mAv 5,21) und Frauen und Sklaven nur, sofern die Gebotserfüllung sie nicht in ihren Verpflichtungen dem Hausherrn gegenüber behindert (mQid l,7f.; vgl. tQid 1,10; mBer 3,3). Im Talmud Yerushalmi (—»Talmud) wird das Verhältnis zwischen Torastudium und Gebotserfüllung bzw. guten Taten thematisiert. In yTaan 4,2 (68a) par. yMeg 3,7 (74b) heißt es, daß derjenige, der sowohl Tora studiert als auch gut handelt, es verdient, am Ende seinen Platz im Schatten Gottes einzunehmen. An anderer Stelle wird jedoch dem Torastudium deutlich der Vorzug gegeben. Angeblich beschloß eine Gruppe von Amoräern bei einem Treffen mehrheitlich, daß das Torastudium dem Tun vorausgeht (yHag 1,7 [76c] par. yPes 3,7 [30b]). Es folgen zwei Erzählungen, die diesen Sachverhalt verdeutlichen. Der ersten Geschichte zufolge hatte R. Abbahu seinen Sohn zum Studium nach Tiberias geschickt, mußte aber erfahren, daß dieser gute Taten verrichtete (d.h. Tote bestattete), statt zu studieren. Einem Kommentar der Rabbinen von Caesarea zufolge sind diese guten Taten einem Toraschüler nur erlaubt, wenn niemand anderes da ist, um sie zu tun. Dies geht auch aus der folgenden Geschichte hervor. Demnach waren einige Amoräer der Meinung, daß das Verrichten guter Taten vom Torastudium ablenken könne und deshalb einzuschränken sei (s.a. yNaz 7,1 [56a-b]). Außerdem wird im Talmud die Frage diskutiert, welches die wichtigsten Gebote sind, die man zu erfüllen habe. In yNed 3,14 (38b) werden verschiedene Antworten auf diese Frage präsentiert. Der ersten anonymen Meinung zufolge ist die Einhaltung des Sabbats die wichtigste Gebotserfüllung. R. Eleazar b. Abinah ist aber der Meinung, daß die Notwendigkeit der Beschneidung das Sabbatgebot übertrifft. Die Beschneidung wird wiederum als unwichtiger als die Vermeidung von Götzendienst angesehen. Am Ende scheint die Auffassung R. Yudah b. Pazzis, daß das Verbot der Profanierung des göttlichen Namens wichtiger als alle anderen göttlichen Forderungen ist, von den Redaktoren geteilt worden zu sein. Daß damit die Diskussion um das wichtigste Gebot

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Werke III

jedoch nicht erledigt war, zeigt die Anführung von R. —• Akibas Meinung in yNed 9,3 f. (41c), daß nämlich die Liebe zum Nächsten als höchstes Prinzip des Gebotsgehorsams zu gelten hat. Der Überblick über die Sicht der guten Werke in der jüdisch-hellenistischen und rabbinischen Literatur zeigt also, daß im antiken Judentum gute Werke nicht als Mittel zur Erlangung eines göttlichen Lohnes gesehen wurden, eine Auffassung, die traditionell mit dem Begriff der Werkgerechtigkeit umschrieben wurde. Das Tun von guten Werken wurde vielmehr als selbstverständlicher Bestandteil des religiösen Lebens und als Ausdruck des Gottesgehorsams gesehen. Da man an einen gerechten Gott glaubte, konnte man auf eine gerechte Behandlung von Seiten Gottes hoffen, was auch eine gerechte Vergeltung einschloß. Man war sich aber auch bewußt, daß kein Mensch nur gute Werke tat, und war somit auf die Güte Gottes angewiesen. Zumindest in amoräischer Zeit hatte für die Rabbinen das Studium der Tora Priorität, und man erwartete, daß sich auf der Basis des Torastudiums das Tun von guten Werken ganz von selbst ergeben würde. Literatur Elias J. Bickerman, The Maxim of Antigonus of Sokho: ders., Studies in Jewish and Christian History, II 1980 (AGAJU 9 / 2 ) 270 - 2 8 9 . - Michael Brocke, Tun u. Lohn im nachbibl. Judentum: BiLe 8 (1967) 1 6 6 - 1 7 8 . - Catherine Hezser, Lohnmetaphorik u. Arbeitswelt in Mt 2 0 , 1 - 1 6 . Das Gleichnis v. den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, 1990 (NTOA 15). - Arthur Marmorstein, The Doctrine of Merits in Old Rabbinical Literature, London 1920. - Ed P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977; dt.: Paulus u. das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, 1985 (StUNT 17). - Günter Stemberger, Verdienst u. Lohn - Kernbegriffe rabbinischer Frömmigkeit? Überlegungen zu Mischna Avot, 1998 (FDV 7).

Catherine Hezser

III. Neues Testament 1. Begrifflichkeit und religionsgeschichtlicher Hintergrund 2. Paulus 3. Pauluspseudepigraphie 4. Jakobus- und erster Petrusbrief 5. Matthäusevangelium und übrige Synoptiker 6. Johannesevangelium und Apokalypse 7. Schluß (Literatur S. 632)

1. Begrifflichkeit

und religionsgeschichtlicher

Hintergrund

Der systematischen Begriffsbildung „gute Werke" stehen im Neuen Testament unterschiedliche Äquivalente mit ihren Kontexten gegenüber (z. B. neben epyov [KÜXÓV, áyaBóv, xrjq öiKaioavvtjq u.ä.] Kapnot; u.ä., eö noieiv [Mk 14,7], KaÄdx; noieiv [vgl. Mt 12,12; Mk 7,37; Lk 6,27; Act 10,33; I Kor 7,37f.; Phil 4,14; Jak 2,8.19; II Petr 1,19; III Joh 6] u.'i.,KaXr¡ o.ä. ávaazpo4>r¡ [Jak 3,13; I Petr 2,12; 3,lf.l6; II Petr 3,11], Euepyeaia [Act 4,9; I Tim 6,2; vgl. Act 10,38], emolía [Hebr 13,16] usw.). Es handelt sich um summierende Begriffe und Wendungen, deren Verständlichkeit wie die Kenntnis ihrer materialen Gehalte regelmäßig vorausgesetzt wird. Ihre Voraussetzungen sind mit der biblischen und frühjüdischen Literatur gegeben; vor allem für diese ist die Auseinandersetzung mit hellenistischem Gedankengut zu berücksichtigen. Die sog. hellenistischjüdische Literatur zeigt bei dem Interesse, ein an der Tora (-»Gesetz) orientiertes vorbildliches Leben zu umreißen, verschiedene Formen seiner kritischen Rezeption. Es entstehen Entwürfe, die „Gutestun", Wohltätigkeit, engagiertes Handeln zugunsten Unterstützungsbedürftiger als Konkretionen eines toragemäßen Lebens erzählen, reflektieren, empfehlen oder einschärfen (TestXII, TestHiob, Sib III, Arist, Ps.-Phokylides, Ps.-Menander, slHen, aber auch die Torainterpretationen bei -»Philo von Alexandrien und —> Josephus Flavius); dabei können ethische Vollzüge als (Ersatz für) kultische verstanden werden. Die universale Geltung der Tora wird in den Kategorien universalisierbarer ethischer Forderungen (und Begründungen) interpretiert.

Werke III 2.

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Paulus

-•Paulus versteht die Geschichte von Jesus Christus vor diesem Hintergrund als Frage nach der -»Gerechtigkeit Gottes in ethischer Hinsicht so, daß er die in dieser Geschichte des Handelns Gottes gründende Befreiung von der -»Schuld und ihren Folgezusammenhängen als neue, eschatologische und universale Verpflichtung auf den Willen Gottes erfaßt (vgl. z.B. R o m 6 , 1 2 - 1 4 ; 7 , 4 - 6 ; 8,1 ff-)- Sie ist inhaltlich an der Tora orientiert, also an dem, was in den genuinen Kontexten der entstehenden christlichen Gemeinden als der Wille Gottes, als seine Lebensweisung galt (vgl. z. B. R o m 2,18; 12,2; I Thess 4,3; 5,18). Dabei sind frühjüdische Interpretationsprozesse in Rechnung zu stellen, die toragemäßes Leben auch unter den Bedingungen der -»Diaspora ermöglichten und - unter Aufnahme biblischer Traditionen (vgl. z. B. I Sam 15,22f.; Jes 1 , 1 1 - 1 7 ; J e r 7,22f.; Hos 6,6; M i 6 , 6 - 8 ; Sach 7 , 5 - 1 0 ) - kultische Vorschriften durch ethische Weisungen ersetzten (s.o. II). Paulus unterstreicht die -»Liebe ( a y a n t j , vgl. Lev 19,18 und seine frühjüdische Rezeption) als den prägenden Sinn und zentralen Inhalt der Tora (vgl. R o m 13,8—10; Gal 5,14); er erfaßt mit ihr den Grundzug der Jesus-Christus-Geschichte (vgl. z . B . R o m 5,5ff.). Der in ihr und an den Glaubenden wirksame -»Geist Gottes bzw. Christi leitet zum Tun des Guten als einem Handeln in Liebe an (vgl. R o m 8 , 1 - 1 1 ; Gal 5 , 1 6 - 2 5 ) . Vor diesem Hintergrund ist der kritisch differenzierende Sprachgebrauch zu interpretieren, der zwischen einem auf die Erfüllung der Tora zielenden Handeln als den „Werken des Gesetzes" (Rom 2,15 [Sing.]; 3,20.28; Gal 2,16 [tris]; 3,2.5.10; vgl. in gleichem Sinn, aber ohne entsprechende Genitivverbindung R o m 3,27; 4,2.6; 9,12.32; 11,6 u.ö.) und dem „guten W e r k " u.ä. unterscheidet (Rom 2,7; 13,3; II Kor 9,8; Phil 1,6 [Subjekt Gott; vgl. 2,30: „Werk Christi"; vgl. weiter R o m 14,20; I Kor 15,58; 16,10]; für „ W e r k " [epyov] ferner I Kor 3,13ff.; Gal 6,4; I Thess 1,3; für „ F r u c h t " [ K a p n ö q ] R o m 6,22; Gal 5,22; Phil 1,11; 4,17). Der durchgehend verwendete Singular für die so verstandene Konkretion des Glaubens im Handeln verdeutlicht, daß es Paulus um die Einheit des neuen Lebensvollzugs geht; sie schließt die Vielfalt des Erkennens und der ethischen Konkretion des Geforderten ein (vgl. z . B . R o m 12,1 f.; 15,14; Phil 1 , 9 - 1 1 ) . Im Blick auf die „Werke (des Gesetzes)" ist die jüngste Diskussion im Gefolge der „New Perspective" (vgl. James D.G. Dunn, The New Perspective on Paul: BJRL 65 [1983] 9 5 - 1 2 2 ) zu erwähnen, bei der - bestärkt durch einen 1994 edierten Qumrantext (4QMMT; vgl. dazu John Kampen/Moshe J. Bernstein [Hg.], Reading 4QMMT. New Perspectives on Qumran Law and History: SBL Symposion Ser. 2, 1996 [Bibliographie 145ff.]; Martin G. Abegg, 4 Q M M T C 27, 31 and „Works Righteousness": Dead Sea Discoveries 6 [1999] 1 3 9 - 1 4 7 ) - dieser Begriff auf Forderungen der Identität und Selbstabgrenzung (boundary and identity markers) des Judentums fokussiert wurde (besonders Beschneidung, Sabbatobservanz, Speisevorschriften). Das universal gültige sittliche Tun stünde dann in paulinischer Perspektive einem Toraverständnis gegenüber, das mit den geforderten „Werken" die (in Jesus Christus durchbrochene) erwählungstheologisch begründete Abgrenzung gegenüber Nichtjuden perpetuierte (s. weiter James D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids, Mich. 1998; Michael Bachmann, Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus: ThZ 49 [1993] 1 - 3 3 ; ders., 4 Q M M T und Galaterbrief: Z N W 89 [1998] 9 0 - 1 1 3 ; Nicholas T. Wright, The Climax of the Covenant. Christ and the Law in Pauline Theology, Edinburgh 1991). Freilich zeigt bereits die früheste Rezeptionsgeschichte (Friedrich Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefes: ZThK 98 [2001] 2 8 2 - 3 0 9 ; vgl. neben Jak 2,14ff. Act 13,38f.; Eph 2,8f.; II Tim 1,9; Tit 3,5; Polyk 1,3; I Clem 32,4 [s. Avemarie 305]), daß ein in diesem Sinn reduziertes Verständnis dem kohärenten Torabegriff des Paulus kaum gerecht würde (vgl. zur Diskussion James D.G. Dunn [Hg.], Paul and the Mosaic Law, 1996 [WUNT 89]).

Exemplarisch ist an II Kor 9,8 eine theologische Bewertung für das Tun des Guten (das „gute W e r k " hier konkret im Kontext der finanziellen Unterstützung Bedürftiger verstanden, s.o. 1.) im paulinischen Kontext zu zeigen. Gott ist es, der die Spenden für die Geldsammlung zugunsten der (mangelleidenden; vgl. 9,12a; 8,14; auch 8,9; 9,9; R o m 15,26; Gal 2,10; die Bezeichnung „die A r m e n " trägt zugleich eine religiöse Konnotation) Jerusalemer Gemeinde nicht zum Mangel für den Geber, sondern zum Überfluß werden

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Werke III

läßt; er läßt die „Früchte der Gerechtigkeit" (yev^ara zrjq diKaioaövrjq öficöv V 10; vgl. das Stichwort „Gerechtigkeit" im Psalmzitat V. 9) wachsen. Dieses Stichwor: ist wegen des Parallelismus zu „euer Samen" (V. 10b), den Gott gewährt und vermehrt, auf das Spenden und seine segensreiche Wirkung zu beziehen (V. 8): Das Mehr-Weiden des Segens führt zur Vermehrung guten Handelns in jeder Hinsicht. Das Geben-Körnen entspringt also dem Überfluß, den Gott gewährt, und das Geben wird deshalb nicht zum Mangel, sondern zu weiterem Überfluß führen. Gute Werke vermitteln die Wirklichkeit, in der sie wurzeln. Sie sind dem Glauben erkennbare und auf ihn hinweisende Zeichen. Auch der übrige neutestamentliche Sprachgebrauch setzt voraus, daß es mit dem Tun des Guten nicht nur um eine genuine Folgewirkung der Jesus-Christus-Geschichte geht (auch das Handeln der Befreiten wird im eschatologischen Gericht geprüft und bewertet werden; vgl. z. B. Rom 1 4 , 1 0 - 1 2 ; II Kor 5,10; Gal 6 , 7 - 1 0 ) , sondern zugleich um die mit ihm vielfältig markierte Identität des Glaubens in der Welt. „Gute Werke" geben dem Geist, in dem sie geschehen, Raum und Wirklichkeit. 3.

Pauluspseudepigraphie

Die pseudepigraphe Paulusliteratur akzentuiert die Überzeugung, daß die Retting, Befreiung und Berufung zum Heil Gottes im Tun des Guten verwirklicht wird (vgl. Kol 1,10; Eph 2,10; II Thess 2,17). Solches Tun ist Gegenstand wachsender Erkenntnis des Gebotenen (vgl. Kol 1,9 und die Paränese ab 3,1), Orientierung und Lebensinhalt der Gemeinde als einer Schöpfung Gottes (vgl. Eph 2,10 sowie die Paränese ab 4,1) und bleibend auf die Ermutigung und Stärkung Christi bzw. Gottes angewiesen (II Thess 2,17; vgl. auch 1,11: Gott als Vollender des „Willens zum Guten und Werkes des Glaubens" epyov NIOTERNQ, vgl. dazu I Thess 1,3, zusammen mit „Mühe der Liebe" [KOTZOQ t(7c äyänrig]). Im Blick auf den Terminus „gute Werke" sind insbesondere die sog. -•Pastoralbriefe zu berücksichtigen. Hier wird das Tun des Guten in verschiedenen Lebenszusamnenhängen reflektiert und eingeschärft (epyov erscheint 20mal; davon mit Bezug auf ,gute Werke" 14mal). Die Aufforderung zu guten Handlungen wird theologisch mit dem Rettungshandeln Gottes in Jesus Christus begründet und in den gesellschaftlichen Kontexten der Adressaten situiert. Vgl. I Tim 2,10 („gute Werke" als Kennzeichen der Frömmigkeit der Frauen in der Gemeinde); 3,1 (das Episkopenamt als „gutes Werk"; vgl. I Ihess 5,13; I Kor 3 , 1 3 - 1 5 ; 9,1; 16,10: Gemeindearbeit als „Werk" [epyov}\ vgl. den Gebrauch des Wortes für die Missionsarbeit in Act 13,2; 14,26; 15,38); I Tim 5,10 (Kriteriun für unterstützungsberechtigte Witwen in der Gemeinde); 5,25 (Unverborgenheit guten Handelns); 6,18 (Reiche sollen reich werden an guten Taten); II Tim 1,9 (betont dei das Rettungshandeln Gottes nicht bedingenden Charakter menschlichen Handelns; vg. Tit 3,5); II Tim 2,21; 3,17; 4,5; T i t 1,16; 2,7f.; 3,14 (Kennzeichen vorbildlichen Lebenswandels, v.a. in der Verantwortung für die —»Gemeinde); 2,14 (Kennzeichen der ->Kiiche); 3,1 (vorbildliches Handeln gegenüber paganer Administration); 3,8 (Unterrichtung von Konvertiten). Eine Vielzahl von Merkmalen läßt das Anliegen der Pastoralbriefe e.'kennen, die Übereinstimmung des gebotenen Handelns mit hellenistischen Vorstellungen auszuweisen und so seine universale Geltung zu betonen. Die Bezogenheit auf die Tora bleibt dabei Teil der theologischen Begründung (vgl. z.B. I Tim 1,8; II Tim 3,15-17; auch Jak 1,25; 2 , 8 - 1 1 ; s.u. 4.), die sich als Interpretation des Handelns Gottes ii der Geschichte Jesu Christi versteht. Tit 2 , 1 1 - 1 4 verdeutlicht, daß „gute Werke" ausdem in dieser Geschichte erfolgten Rettungshandeln Gottes resultieren - auch in inhaltlcher Hinsicht—; sie sind zugleich ausgerichtet auf das eschatologische Gericht (vgl. z. B.auch II Tim 4,1.8.14; ->Gericht Gottes). Hebr 6,10 bewertet das „Werk und die Liebe" der Gemeinde theologisch so, daß dieses Handeln von Gott im Gericht als Reparation für fehlhaftes Christsein bevertet werden kann. Mit einer ähnlichen Wendung werden Gutestun und Liebe mit den Bekenntnis der Hoffnung Hebr 10,23 f. zur Haltung soteriologischer Gewißheit verbuiden.

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Hebr 13,15f. versteht - gerahmt durch den Opferbegriff (-»Opfer) - das „Lobopfer des Bekennens" und das „Tun des Guten" als das tatsächliche Opfer der Gemeinde. 4. Jakobus-

und erster

Petrusbrief

Der Jakobusbrief gebraucht nicht den Terminus „gute Werke" (auch nicht „Gesetzeswerke"), ist indessen wegen seines Insistierens auf der auch soteriologischen Unabdingbarkeit (vgl. 2,12-14) tathafter Glaubensverwirklichung hier zu nennen (vgl. bes. 1,27; 2,8-26; 3,13.18). Sie orientiert sich am Liebesgebot (vgl. Lev 19,18 in 2,8) und erfaßt mit ihm das „Gesetz der Freiheit" (1,25; 2,12); sie tut es im Wissen um die Fehlbarkeit christlichen Handelns (3,2) und der Gewißheit über den Sieg der (getanen) Barmherzigkeit im Gericht (2,13; vgl. Hebr 6,10; I Petr 4,8 mit Zitat Prov 10,12 sowie die Metapher vom himmlischen Schatz guter Werke I Tim 6,17-19; Hebr 10,34; M t 6,19f. par.; 19,21 par.; Lk 12,21). Die komplexe Formulierung I Petr 2,12 enthält die Stichworte „guter Wandel" und „gute Werke"; vgl. für I Petr ferner die Verwendung des Verbs „gutestun" (äyaOonoiho, vgl. z. B. 2,15.20; 3,6.17; 4,19). Es geht um die Ermahnung, angesichts des nahen Gerichtes Gottes (vgl. z. B. 1,17) trotz Verfolgung - und entgegen allen Verleumdungen (vgl. auch 2,15; 3,16) - Gutes zu tun. Leben mit Christus schließt Teilhabe an seinem (Leidens-) Weg und seiner Herrlichkeit ein (vgl. 1,11; 2 , 2 1 - 2 5 ; 3,18-22; 4,13). Deshalb ist das ethische Engagement der Gemeinde die gebotene Haltung in der Situation der Verfolgung (vgl. z.B. 1,6; 3,17; 4,4.12f.l6). 5. Matthäusevangelium

und übrige

Synoptiker

Die Ethik des Matthäusevangeliums - in mancher Hinsicht dem Entwurf des Jakobusbriefes verwandt - schärft die in seiner Jesus-Christus-Geschichte dargestellte „bessere Gerechtigkeit" als verbindlich für die Glaubenden ein. Der Kontext von 5,16 („... damit sie eure guten Werke sehen ...") verdeutlicht in seinem Rekurs auf die Tora den nomologischen Bezug des matthäischen Entwurfes. Das Tun der Christen soll als konkreter Hinweis auf Gottes Zuwendung zu den Menschen verstanden werden. Es steht im Kontext der „besseren Gerechtigkeit" (V. 20), deren inhaltliches Profil mit den Bergpredigt geboten wird. Antithesen V. 21—48 und den weiteren Mahnungen der Insofern ist mit den „guten Werken" am Anfang dieser Jesusrede beiläufig ein für den ethischen Diskurs des Matthäusevangeliums und seiner Adressaten grundlegendes Stichwort genannt (vgl. zur Motivation des Gebotenen z. B. auch 18,33, zur inhaltlichen Füllung 25,35-46). Die „Werke des Christus" (11,2; bei Matthäus nur hier), von denen der Täufer im Gefängnis hört, meinen nicht einfach nur die einzelnen (Wunder-)Taten Jesu, sondern sein Handeln aus der Zuwendung Gottes, wie es in der Schrift angekündigt wurde (V. 5). Der anschließende Makarismus 11,6 thematisiert eine Differenzerfahrung, die im christologischen Kommentar 11,19 wiederkehrt: gerechtfertigt wird die Weisheit von ihren Werken (vgl. dazu Prov 8,22-31; Weish 10-12). Das Ganze des Handelns des Christus, wie Matthäus es veranschaulicht, entspricht dem barmherzigen Handeln Gottes (vgl. z. B. 5,48; 9,13; 12,7) - nicht indessen menschlicher Erwartung und Bewertung. Dieser christologische Diskurs bildet den Kontext der anthropologisch-ethischen Überlegungen. Mt 12,12 (vgl. ähnlich M k 3,4; Lk 6,9) begründet Jesu Heilungstätigkeit (-»Heil/ Heilungen) am —»Sabbat als gutes Handeln (KaXcöq noieTv); die beiden Sabbatgeschichten 1 2 , 1 - 8 . 9 - 1 3 verdeutlichen nach 11,28-30 exemplarisch die durch den Bezug auf Jesus autorisierte Gesetzesinterpretation des Matthäusevangeliums (vgl. Hos 6,6 in V. 7 sowie in vergleichbarer Funktion in 9,13). In der sog. Feldrede Lk 6 , 3 3 - 3 5 wird zum Tun des Guten (äyaOonowco, in der Mt-Parallele 5,43ff. nicht verwendet) als Überbietung der sog. „-»Goldenen Regel" aufgerufen. In Act 9,36 wird die Christin Tabita durch „gute Werke und Almosengeben" als vorbildlich gekennzeichnet (vgl. M t 6,2 [noieTv eXetjfioaövriv, Wohltätigkeit üben]).

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Werke III

Mt 26,10 par. Mk 14,6 bezeichnet das Handeln der Jesus salbenden Frau als „gutes Werk" (Totensalbung) und deutet es damit metaphorisch in Bezug auf das bevorstehende Geschick Jesu. Act 10,38 summiert das Handeln Jesu als „Gutes tun und heilen" {eÖEpyeTcov Kai icbfievoc;)-, Act 26,20 verweist auf die „guten Taten", die der Umkehr würdig sind. 6. Johannesevangelium

und

Apokalypse

In der johanneischen Literatur wird die begriffliche Wendung „gute Werke" lediglich in Joh 10,32 f. unter Verweis auf das Handeln Jesu verwendet; vgl. für Jesu Handeln (epyov) Joh 4,34; 7,21; 17,4 (sonst Plural - Heilstaten Gottes durch Jesus: 5,20.36; 7,3; 9,3f.; 10,25.32.37f.; 14,10ff.; 15,24). Joh 6,28f. beantwortet die Frage, wie Gottes Handeln („Gottes Werke") verwirklicht werden kann, mit dem Hinweis auf den Glauben an seinen Gesandten (vgl. die Qualifizierung des Handelns im österlichen Glauben als die „größeren Werke" 14,12). Das „neue" Gebot der Liebe (13,34; 14,15.21; 15,10.14.17; I Joh 2,7ff.) steht dem Vorwurf an die „Juden" gegenüber, das Gesetz nicht zu erfüllen (noieiv Joh 7,19; vgl. demgegenüber 8,29) bzw. zu verfehlen (vgl. z.B. Joh 5,45ff.). Vor diesem Hintergrund ist die -»-Verheißung zu verstehen, daß diejenigen, die das Gute taten, zum Leben auferstehen werden (Joh 5,29; als Umschreibungen des Tuns der Liebe vgl. z.B. 3,21 [Tun der Wahrheit]; 9,31 [Tun des Willens Gottes]; I Joh 2,29; 3,7.10 [Tun der Gerechtigkeit]; vgl. 3,18). Für die Ethik der -»Apokalypse des Johannes ist das Stichwort „Werk" (kein Gebrauch der Wendung „gute Werke"!) konstitutiv. Zwölf der 20 Belege finden sich in den Sendschreiben der Kapitel 2 und 3 (vgl. die kleinen Reihen in 2,2.19). Gemeint ist das beharrliche Bewähren des Glaubenszeugnisses in der Verfolgung — im Vertrauen auf den Sieg Gottes in Jesus Christus. Das baldige Gericht wird den „Werken" entsprechen (2,23; 20,12f.; 22,12). 7. Schluß Die begriffliche Wendung „gute Werke" und mit ihr die Aufforderung zu vorbildlichem Handeln wird in den unterschiedlichen neutestamentlichen Kontexten nicht abstrakt, sondern gemeindebezogen diskutiert und formuliert. „Gute Werke" sind hier als befreites Handeln verstanden, das der von Gott in der Geschichte Jesu Christi grundgelegten Inpflichtnahme entspricht. Gutes Handeln wurzelt in der Zuwendung Gottes; es läßt sich von seinem Geist leiten (vgl. Gal 5,25) und seine Liebe zur Erfahrung werden. Das bedeutet, daß nicht Zwang oder Furcht Motivation für gutes Handeln sein können (vgl. Rom 8,15; II Tim 1,7; I Joh 4,18), so wenig Weltverneinung sein Ziel ist (vgl. I Tim 4,2f.; 5,23; 6,17b). „Gute Werke" entstehen vielmehr im Freiraum des gerechtsprechenden Handelns Gottes. Das Tun kann der geschehenen Rettung nichts hinzufügen; kein Tun kann die Situation des Menschen zum Heil wenden. Das Tun der Befreiten aber muß sich am Maßstab der Liebe bewähren, die ihnen das (neue) Leben gewährte. Die neutestamentliche Rede von den „guten Werken" hält eine Dimension christlichen Verhaltens auf, die in allen Lebensbereichen, also auch öffentlich, gesellschaftlich, politisch, diakonisch gefordert ist und sich hier realisiert - nicht nur im Nahbereich von Freundschaft und Familie. Literatur Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit u. Armenpflege im vorchristl. Altertum, Utrecht 1939 Neudr. Groningen 1967. - Abraham Cronbach, The Social Ideals of the Apocrypha and the Pseudepigrapha: HUCA 18 (1944) 1 1 9 - 1 5 6 . - Thomas J. Deidun, New Covenant Morality in Paul, 1981 (AnBib 89). - Lewis R. Donelson, Pseudepigraphy and Ethical Argument in the Pastoral Epistles, 1986 (HUTh 22). - Georg Eichholz, Glaube u. Werk bei Paulus u. Jakobus, 1961 (TEH 88). - Mark Harding, Tradition and Rhetoric in the Pastoral Epistles, New York 1998 (Studies in Biblical Literature 3). - Roman Heiligenthal, Werke als Zeichen. Unters, zur Bedeutung der menschlichen

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IV. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche (Patristik) (Quellen/Literatur S. 641)

2. Mittelalter

3. Reformationszeit

4. Frühe Neuzeit (1577-1789)

Die Spannung zwischen d e m geschenkten Heil und der zu erbringenden Heiligkeit ist eines der Grundprobleme christlicher Existenz. 1. Alte Kirche

(Patristik)

Ähnlich wie im Judentum sind es auch unter den frühen Christen vor allem drei Werke, denen eine sündentilgende W i r k u n g zugeschrieben wird: das Beten ( - » G e b e t ) , das - » F a s t e n und das Almosengeben ( - » B a r m h e r z i g k e i t ) . Dabei herrscht ein synergistisches Denken vor: der - » M e n s c h wirkt mit seinen Kräften, - » G o t t schenkt die Vollendung. Dies belegen schon die Apostolischen Väter. Im Römerbrief des -»Ignatius von Antiochien (um 1 1 0 / 1 1 5 ) ist die Sehnsucht, das Reich Gottes ( - » H e r r s c h a f t G o t t e s / R e i c h Gottes) zu erlangen, eng mit dem Wunsch verbunden, die Echtheit des eigenen Christentums und den W e r t des beanspruchten Amtes unter Beweis zu stellen (bewußte Reise ins M a r t y r i u m ) . N a c h dem Zweiten -»Clemensbrief (um 140) verpflichtet die empfangene - » T a u f e auch zu einem G e h o r s a m des Lebens im Fleisch (II Clem 9 , 2 f . ) . In diesem K o n t e x t wird häufig von „ L o h n " (¡iiaOÓQ) und „Vergeltung" {ávzifiiadía) gesprochen. Die Leser werden die Vergeltung nach ihren Werken (II Clem 11,5f.) erlangen, denn Jesus erlöst einen jeden „ n a c h seinen W e r k e n " (Kaza rá epya aÖTOÖ, II Clem 17,4). Demgegenüber glaubt - » H e r m a s (vor 150), d a ß auch eine stellvertretende - » B u ß e möglich sei, d.h. d a ß er die eigenen Bußleistungen seiner Familie zugute k o m m e n lassen kann. Dabei entwickelt er bereits den Gedanken einer überschüssigen Gebotserfüllung (Herrn sim V,3). Seine N a c h w i r k u n g (Ausbildung einer Zweistufenethik mit asketischen opera supererogatoria) ist n o c h lange erkennbar, so z . B . im Westen bei - » R u f i n von Aquileia, J o h a n n e s - » C a s s i a n u s , - » P r o s p e r von

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Aquitanien und -»Gregor I. d.Gr. sowie im Osten bei -»Clemens von Alexandrien, —»Origenes und -»Eusebius von Caesarea. Unter dem Eindruck der -»ChristenVerfolgungen gilt bald auch das -»Martyrium als besondere Form religiöser Auszeichr.ung (-•Polykarp von Smyrna). Die Märtyrer, später die Asketen, werden zu geschätzten Fürbittern vor Gott. Die durch -»Tertullian eingeleiteten Verschiebungen im Gottesbild (von der Güte zur Gerechtigkeit mit Lohn, Strafe und Gericht) sind auch für die Sicht der Werke von erheblicher Bedeutung (meritum). Wichtig wird auch hier Tertullians Lehre von der zweiten Buße (paen. 7: CChr.SL l,332f.). Das von ihm geforderte Sündenbekenttnis vor der Gemeinde (Exhomologese) beginnt sich rasch als Bußleistung zu verselbständigen. Schon bei -»Cyprian von Karthago sind die Buße und der nun an das Bischofsamt gebundene Zuspruch der —»Vergebung dicht aneinander gerückt. Die Buße wird zur satisfactio (Cyprian, eleem. 1 - 5 : CChr.SL 3A,55-58; pat. 24: ebd. 132f.; vgl. ¿om. orat. 22ff.: ebd. 103-106). Vor allem -»Augustin ist es dann, der in Abgrenzung zu Origenes (und dessen Lehre von der änoKaiäazaaiq nävzcov, -»Wiederbringung [aller]) und im Rückgriff auf die Bibel herausstellt, daß Gottes Gericht über alle ergehe, Sünder wie Gerechte. Außerdem betont er, daß Gott keine -»Sünde ungestraft läßt, und prägt so eine Sentenz, die fortan häufig zitiert wird, so z.B. durch -»Caesarius von Arles und Gregor I. d.Gr. Durch seine in der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Moralismus des -»Pelagius entwickelte Erbsünden- und Gnadenlehre setzt Augustin auch für die Sicht der Werke neue Maßstäbe: Nach Pelagius hat Gott den Menschen mit -»Vernunft und Willensfreiheit (-»Wille/Willensfreiheit) ausgestattet, so daß dieser, sofern er dem Leitbild Christi folgt, den göttlichen Geboten gehorchen kann. Augustins Satz Da Augsburger Bekenntnis 1530: „Ebenso lehren sie, daß die Menschen vor Gott nicht durch eigene Kräfte, Verdienste oder Werke gerechtfertigt werden können, sondern daß sie geschenkweise um Christi willen durch den Glauben gerechtfertigt werden, wenn sie glauben, daß sie in die Gnade aufgenommen und daß die Sünden vergeben werden um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat ..." (CA IV: BSLK 56,1 — 8, lat. Text). Melanchthons bedächtige Formulierung umgeht das sola fide, ist aber dennoch eindeutig (Ablehnung eigener Werke, Betonung des gratis und des „um Christi willen"). Der Grund der Rechtfertigung ist Christus, nicht der auf sein Werk vertrauende Glaube. Dieser ist vielmehr die durch den Geist bewirkte Aneignung der Rechtfertigung (CA V). D a ß der Glaube lebt, erweist sich in seinen Früchten, den Werken. Diese sind Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Gebot: „Ebenso lehren sie, daß jener Glaube gute Früchte hervorbringen muß und daß es notwendig ist, von Gott gebotene gute Werke zu tun, weil Gott sie will, ohne darauf zu setzen, durch diese Werke werde vor Gott die Rechtfertigung verdient" (CA VI). Uber Luther hinaus geht hier das „ m u ß " (debeat), in dem schon spätere Konflikte anklingen. Die sich aus CA VI ergebenden Konsequenzen werden in eigenen Artikeln entfaltet: CA XVIII (freier Wille), XIX (Ursache der Sünde), XX (Glaube und gute Werke [Heiligung]), XXI (Verehrung der Heiligen), XXVI (Unterscheidung der Speisen [Fasten]) und XXVII (mönchische Gelübde). Der zentrale Artikel X X wendet sich gegen den Vorwurf des Verbots der Werke durch die Protestanten. Er deutet den Glauben mit -»Ambrosius von Mailand und Augustin als einen durch den Geist gegebenen Impuls zu guten Werken. Diese sind Wirkungen des Geistes und lassen die Erneuerung des Menschen erkennbar werden. Auch wenn Luther und Melanchthon das Verhältnis des Glaubens zu den Werken damit grundsätzlich gleich bestimmen, setzen sie doch unterschiedliche Akzente: Wäh-

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rend es Luther primär um die klare Abgrenzung gegen die traditionelle Werkgerechtigkeit geht (weshalb er die Werke sogar als „für das Heil schädlich" bezeichnen kann), ist für Melanchthon wichtig, daß die Heiligung verifizierbar bleibt, der Glaube also tatsächlich gute Früchte bringt (CA VI). Während ihrer gemeinsamen Arbeit an der Rechtfertigungslehre Anfang der 1530er Jahre (Melanchthon: Apologie und Römerkommentar; Luther: Galaterbriefvorlesung) nähert sich Luther dann zwar zeitweise dem Denken Melanchthons an, ihre je eigene Akzentsetzung wirkt aber fort. Dies führt zu Spannungen, die sich unter ihren Schülern in einer Reihe von Lehrstreitigkeiten entladen. Der Cordatusstreit (Streit um die Notwendigkeit der Werke; 1536/37) ist ein Vorspiel des Majoristischen Streites. Er entsteht, weil Melanchthon in den Loci von 1535 über CA VI hinausgehend behauptet, daß die Werke für das ewige Leben unerläßlich ¡ind. Dies provoziert Proteste N. v. —»Amsdorffs (1483-1565). Der Streit selbst wird durch Konrad Cordatus (gest. 1546) eröffnet, der in C. —»Cruciger d.Ä. letztlich Melanchthon selbst angreift. Eine echte Beilegung gelingt nicht. Am Ende steht ein Formelkompromiß Melanchthons („Die Werke sind nötig und wichtig, aber keine Vorbedingung für das Heil"). Der Majoristische Streit (Streit um die Heilsbedeutung der guten Werke; von 1548 bis nach 1574, vgl. T R E 21,727,52-729,23) entzündet sich an einer Formulierung der Leipziger Artikel 1548/49, nach der (nach erfolgter Rechtfertigung) die Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung zur Seligkeit nötig sind. Melanchthon will mit ihr die schroffen Aussagen des ->Interims abmildern, wird deshalb aber bezichtigt, das sola fide zu verraten (so die Gnesiolutheraner). Vor dem Hintergrund des „Interimistischen Stretes" entbrennt ein heftiger Konflikt. Er erreicht seinen Höhepunkt, als G. —»Major 1552 die Konzeption Melanchthons verteidigt (Kernthese: „ D a ß gute Werke zur Seligkeit notwendig sind ... und daß auch niemands ohne gute Werk selig werde"), worauf Amsdorff das ursprünglich antirömische Argument Luthers erneuert, gute Werke seien zur Seligkeit schädlich, wenn man sich durch sie Gerechtigkeit vor Gott verdienen wolle. Neu entfacht wird die Glut 1556, als J. —>Menius Sympathien für die Anliegen Majors erkennen läßt, was seine Gegner zur Abfassung des Eisenacher Rezesses veranlaßt. Der Antinomistische Streit (Streit um die Bedeutung des Gesetzes; von 1556 bis nach 1568, vgl. T R E 13,86,39-87,41) ist wie der Synergistische Streit (Streit um das Verhiltnis von Erbsünde und Willensfreiheit; von 1555 bis nach 1561; vgl. T R E 32,509,48-515,23) ein Folge-/Parallelkonflikt zum Majoristischen Streit, verläuft aber weniger h e f t g als dieser. Auslöser ist eine mißverständliche Formulierung des Eisenacher Rezesse: von 1556 zum Zusammenhang der Werke und des Gesetzes. Z w a r ist die Frage des usus theologicus legis seit 1527 grundsätzlich entschieden (J. -»Agrícola), unklar ist aber, ob das Gesetz gerade in seiner den Sünder überführenden Funktion einen posriven Bezug auf das Heil hat. Der Eisenacher Rezeß sieht dies so und leitet daraus eine foimale Notwendigkeit der Werke ab (die durch das Gesetz gebotenen Werke müssen heilsnotwendig erbracht werden, aber eben nur, damit der Mensch an ihnen scheitert) Der Streit sprengt viele ältere Koalitionen: Amsdorff und Andreas Poach (gest. 158Í) bekämpfen den Rezeß, M . —»Flacius Illyricus und J. —»Mörlin verteidigen ihn. Durch Anthon O t h o (gest. ca. 1580) verlagert sich die Debatte auf das Problem des tirtius usus legis (das Gesetz als konkrete Anweisung Gottes für das Leben der Gerechtfertigten). Die -»Konkordienformel (1577) behandelt das Thema in Artikel IV der SD. Se betont, daß es „Gottes Wille, Ordnung und Befelch sei, daß die Gläubigen in guten Wjrken wandeln sollen". Als „ g u t " können aber nur Werke gelten, „die Gott selber in stinem Wort ... befohlen h a t " . Auch die Werke der Gläubigen sind aber noch „unreii und unvollkommen". „Gott gefällig" sind sie nur „ u m b des Herrn Christi willen d u r a den Glauben ... Was nicht aus Glauben gehet, das ist Sünde [Rom 14,23]" (BSLK S40f.). Damit wird die „Notwendigkeit der Werke" zwar deutlich vertreten, der Begriff selbst aber noch zurückgestellt. Er wird später erörtert und gegen die unterschiedlichstenMißdeutungen abgesichert (BSLK 942-950). Entscheidend ist, „daß die Werk nicht n den

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Artikel der Rechtfertigung ... gezogen" werden (BSLK 945). Darum darf man nicht behaupten, „daß den Gläubigen gute Werke zur Seligkeit vonnöten sein, also daß es unmüglich sei, ohne gute Werk selig werden" (ebd.). Nicht minder verwerflich ist auch die tridentinische These, „daß unsere guete Werk die Seligkeit erhalten, oder daß die entpfangene Gerechtigkeit des Glaubens oder auch der Glaube selbst durch unsere Werk entweder gänzlich oder ja zum Teil erhalten und bewahret werden" (BSLK 949,17-22). Z w a r gilt mit Apologie XX: „Der Glaub ... bleibet nicht in denen, die sündlich Leben führen, den Heiligen Geist verlieren, die Buße von sich stoßen" (SD IV: BSLK 948,20-22), doch darf nicht gelehrt werden, „daß der Glaub allein im Anfang die Gerechtigkeit und Seligkeit ergreife und darnach sein Ampt den Werken übergebe" (SD IV: BSLK 948,25-27). Während Amsdorffs These (Schädlichkeit der Werke) abgelehnt wird, bleibt das Verhältnis zu Major/Melanchthon offener (BSLK 950). Artikel VI erörtert den tertius usus legis, d.h. die Frage, ob „auch bei den wiedergebornen Christen solches [das Gesetz] zu treiben sei oder nicht" (Epit. VI: BSLK 793). Zunächst wird mit Artikel IV betont, daß auch die Werke der Gläubigen „noch unvollkommen und unrein" sind (SD VI: BSLK 968f.). Nicht minder deutlich wird aber auch hervorgehoben, daß das Gesetz der „unwandelbar Wille Gottes" sei (Epit. VI: BSLK 795,13). Daß auch die Gläubigen seiner noch bedürfen, liege an ihrer fortdauernden Unvollkommenheit. Als zweite Begründung wird vorgebracht, daß der Geist die Wiedergeborenen durch das Gesetz über ihr Verhalten belehre (SD VI: BSLK 966). Obwohl sie freiwillig Gottes Willen tun, brauchen sie das Gesetz, um aus ihm den Gehorsam zu lernen (SD VI: BSLK 962). U. —Oslander). Die wichtigsten Früchte des Geistes sind für Calvin die regeneratio, die poenitentia, die Selbstverleugnung, das Tragen des Kreuzes und die meditatio futurae vitae (Inst. 1559, Buch III, Kap. 1 - 1 0 ) . Der —> Heidelberger Katechismus (1563) behandelt das Thema in Teil 3 („Von der danckbarkeyt"). Schon Frage 86 läßt es anklingen: „Dieweil wir denn auß unserm elend one all unsere verdienst, auß gnaden durch Christum erlöset seind, warumb sollen wir guote werck thuon?" Die Antwort lautet, damit „wir mit unserm gantzen leben uns

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danckbar gegen Gott für seine wolthat erzeigen". Wollen wir selig werden, müssen wir uns bekehren und Buße tun. Diese führt zur „absterbung des alten" (Frage 89) und zur „aufferstehung des neuen menschen". Letztere besteht darin, daß wir „hertzliche freud in Gott durch Christum, und lust und lieb haben nach dem willen Gottes, in allen guten wercken zu leben" (Frage 90). „Gut" sind nur solche Werke, „die auß warem glauben, nach dem Gesetz Gottes jm zu ehren geschehen" (Frage 91). Die Anleitung dazu bieten die 10 Gebote (Frage 92). Das „fürnembste stück der danckbarkeyt" ist das Gebet/ Vaterunser (Frage 116). In der Römisch-katholischen Kirche kommt es Anfang des 16. Jh. zur augustinisch geprägten Erneuerungsbewegung des Evangelismus (G. —•Contarini). Auf Dauer bestimmend wird aber das Rechtfertigungsdekret des -»Tridentinums vom Januar 1547. Es bündelt den Ertrag zäher Debatten über die Verdienstlichkeit der Werke. Ihr Auslöser sind aber nicht die Thesen der Reformation, sondern innerkatholische Lehrdifferenzen zwischen Franziskanern und Thomisten. Sie werden auch im Dekret selbst nur begrifflich überbrückt (promereri) und brechen bald wieder auf. Das Dekret bekämpft die Werkerei und betont den durchgängigen Primat der Gnade. Die Rechtfertigung ist prozeßhaft gedacht. Sie wird dadurch vorbereitet, daß Gott den trotz der Erbsünde freien Willen des Menschen durch den Geist zur Zustimmung bewegt. Der so geweckte Glaube vertraut auf die ihm in Christi Heilswerk offenbarte Barmherzigkeit Gottes und beginnt, Gott zu lieben. Zwar lehrt auch das Dekret, daß der Mensch ohne vorgängige Verdienste aus Glauben gerechtfertigt wird, es wendet sich aber gegen das reformatorische sola fide. Außerdem betont es, daß der Glaube mehr ist als das Vertrauen auf die Sündenvergebung. Der Mensch wirkt bei seiner Heiligung mit, indem er freiwillig die Gnade annimmt. Die Gerechtfertigten erwerben sich durch ihre in der Liebe zu Gott geleisteten Taten Verdienste. Diese können aber, da sie sich ganz der Gnade verdanken, nur als dotia (Gaben, uneigentliche Verdienste) gelten. Damit wird klar und in bewußter Abgrenzung von der Reformation an ältere synergistische Vorstellungen angeknüpft. 4. Frühe Neuzeit

(1577-1789)

In der lutherischen -»Orthodoxie wird die für die Reformation zentral gewordene Rechtfertigungslehre systematisch entfaltet und weiterentwickelt. Ausgangspunkt dazu sind die Aussagen der Konkordienformel (1577). Sie sind deutlich durch die forensische Rechtfertigungslehre Melanchthons geprägt, die nun aber zunehmend schematisiert und damit verengt wird. Das weckt den Protest der Frömmigkeitsbewegung (J. -»Arndt). Sie moniert die unzureichende Verwirklichung des Christlichen und drängt auf Intensivierung des religiösen Lebens. Das wirkt auch auf die Lehrbildung zurück. Die neuen Lehren von der -»Wiedergeburt (regeneratio) und der -»Uw'o mystica reflektieren den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung. Sie wollen zeigen, daß man es bei der von Gott gewährten Erneuerung mit einem einheitlichen Ganzen zu tun hat (Philipp Nicolai [1556-1608]). Das spiegelt sich auch in den Aussagen zu den Werken (Schmid 313f.). Eine neue Kontroverse um die Werke bringt der Synkretistische Streit (Streit um die Fundamentalartikel 1648-1686; G. —»Calixt). Ph. J. —»Spener stellt die Wiedergeburtslehre in den Rahmen der Lehre von der Heilsordnung. Die Wiedergeburt realisiert die Rechtfertigung (Bewährung der subjektiven Glaubensgewißheit in der Heiligung). Hierfür beruft sich Spener zwar auf Luther (Vorrede zum Römerbrief, 1522), doch muß er sich des Vorwurfs erwehren, synergistisch zu lehren. Für A.H. -»Francke ist die Heiligung primär Christusnachfolge. Der tätige Glaube eignet sich dessen Heilswerk an. Er tötet die sündlichen Regungen und führt in einen Zustand der Gnade, in dem der Mensch dankbar und liebevoll das Gesetz erfüllen kann. In der weitverzweigten und insgesamt deutlich uneinheitlicheren reformierten Orthodoxie ist es besonders die Lehrentwicklung im Bereich der Prädestinationslehre, die

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zu einer unterschiedlichen Bewertung der Werke führt. Wichtig wird dabei die Lehre vom Syllogismus practicus (Th. -»Beza), nach der der gute Wandel des Gläubigen (als Frucht des Geistes) auf dessen Erwählung rückschließen läßt. Die strenge Fassung der Prädestinationslehre stößt aber früh auf Widerstände (Zürich, Genf, England). Folgenreich wird der Widerspruch der niederländischen Arminianer (-»Arminius, Jacobus/ Arminianismus). Diese stehen in humanistischen Traditionen und lehren einen göttlichen Heilsuniversalismus, nach dem der mit einem freien Willen ausgestattete Mensch bei seiner Erlösung mitwirkt. Dem widersprechen die Canones der —»Dordrechter Synode (1618/19) mit ihrer Dogmatisierung der doppelten Prädestination. Sie vollziehen damit eine Abkehr vom Späthumanismus, grenzen sich aber auch gegen das Luthertum (Heilsuniversalismus; Ä. -»-Hunnius) und den tridentinischen Katholizismus (Synergismus) ab. Die Reformbewegung der Nadere Reformatie (seit 1620) nimmt diesen Impuls zum Anlaß, auf eine Heiligung aller Lebensbereiche zu drängen (Präzisismus; G. —»Voetius). Im Rahmen einer strengen Selbstprüfung werden dabei nicht nur die Sünden, sondern auch die Früchte der Heiligung verzeichnet. Von Dordrecht abweichende Positionen (—• Föderaltheologie) werden nicht nur in England und Schottland (Westminster Confession [-»Westminster/Westminsterconfession] 1647), sondern auch in Frankreich entwickelt (Schule von Saumur). Seit 1648 gewinnt die Föderaltheologie auch in den Niederlanden an Boden (J. -»Coccejus; reformierter Pietismus). In der Römisch-katholischen Kirche kommt es im 16. Jh. zu einer neuen Blüte der Scholastik. Sie vertieft ältere Schulgegensätze, die sich im Gnadenstreit (1594-1604) entladen. Auslöser ist das Trienter Rechtfertigungsdekret, das nicht klar bestimmt, wie sich das Gnadenhandeln Gottes und die Handlungsfreiheit des Menschen zueinander verhalten. Man streitet über die Frage, ob die Mitwirkung des Menschen bei der Rechtfertigung die Souveränität des göttlichen Gnadenhandelns einschränkt. Während die Dominikaner (Domingo Bänez [1528-1604]) die thomistische Position erneuern, vertreten die Jesuiten (M. de —•Molinos) einen traditionellen Synergismus. Das trägt ihnen den Vorwurf des „Pelagianismus" ein, wird aber rasch zur beherrschenden Position und bleibt dies bis ins 19. Jh. Auch der Jansenistenstreit (ca. 1640-1750) ist in seiner ersten Phase (bis 1669) eine Folge der Unklarheiten des Trienter Dekrets. Er wurzelt in der Opposition gegen den Molinismus der Jesuiten, demgegenüber C. -»Jansen die antipelagianische Gnadenlehre Augustins erneuert. Quellen Die Apostolischen Väter. Griech.-dt. Parallelausg. auf der Grundlage der Ausg. v. Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer/Molly Whittaker mit Ubers, v. M. Dibelius/Dietrich-Alex Koch neu übers, u. herausg. v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992. - BSLK. - BSRK. - CChr.SL. - CPG. - CPL. - DH. - Robert Stupperich (Bearb.), Die Sehr. Bernhard Rothmanns. Die Sehr, der münsterischen Täufer u. ihrer Gegner, Münster 1970 (VHKW 32). - Gunnar Westin/Torsten Bergsten (Hg.), Balthasar Hubmaier Sehr., 1962 (QFRG 29 = QGT 9). Literatur Arnold Angenendt, Gesch. der Religiosität im MA, Darmstadt 1997. - Martin Brecht (Hg.), Gesch. des Pietismus, Göttingen, I 1993. - Wolf-Dieter Hauschild, Lb. der Kirchen- u. DG, 2 Bde., Gütersloh 1 9 9 5 - 1 9 9 9 2 2000/2001. - HDThG. - Gösta Hallonsten, Satisfactio bei Tertullian. Überprüfung einer Forschungstradition, 1984 (STL 39). - Ders., Meritum bei Tertullian. Überprüfung einer Forschungstradition II, 1985 (STL 40). - Johannes Kunze, Art. Verdienst: RE 3 20 (1908) 5 0 0 - 5 0 8 . - Bernhard Lohse, Luthers Theol. in ihrer hist. Entwicklung u. in ihrem syst. Zusammenhang, Göttingen 1995. - Otto Hermann Pesch, Thomas v. Aquin. Grenze u. Größe ma. Theol., Mainz 1988. - Jan Röhls, Theol. der ref. Bekenntnisschr., Göttingen 1987. - Heinrich Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, Erlangen 1843 Gütersloh 10 1983. - Karl Thieme, Art. Werke, gute: RE 3 21 (1908) 1 1 0 - 1 2 2 . - Paul Tschackert, Die Entstehung der luth. u. der ref. Kirchenlehre, Göttingen 1910. - Gunther Wenz, Theol. der Bekenntnisschr. der ev.-luth. Kirche, 2 Bde., 1 9 9 6 - 1 9 9 8 (GLB). - John H. Yoder, The Legacy of Michael Sattler, Scottdale, Pa. 1973.

Christian Peters

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V. Systematisch-theologisch 1. Zum Begriff (Literatur S. 647)

1. Zum

2. Das 19. Jahrhundert

3. Das 20. Jahrhundert

4. Ökumene

5. Ausblick

Begriff

In den systematisch-theologischen Konzeptionen des 19. und 20. Jh. wird die Thematik der guten Werke - wie schon in der reformatorischen Tradition - vornehmlich im Zusammenhang der dogmatischen Frage nach dem Verhältnis von -»Rechtfertigung und —»Heiligung behandelt. Im Mittelpunkt steht dabei das Interesse, die guten Werke als spontane, die Rechtfertigung in keiner Weise bedingende Folge des Vertrauens auf die Rechtfertigung allein aus -»Glauben zu bestimmen. Im ethischen Diskurs spielt der Begriff der guten Werke dagegen kaum eine Rolle. Maßgeblich für diese Entwicklung ist die Auseinandersetzung mit der Philosophie I. -»Kants. Sie führt in der Theologie zu einer die herkömmliche Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Werken vertiefenden Besinnung auf das Verhältnis von -»Religion und Moralität bzw. Sittlichkeit (-»Sitte/Sittlichkeit) und mündet in den Versuch, auf dieser Basis die spezifisch christliche Realisierungsgestalt sittlicher Lebensführung zu beschreiben. An die Stelle der Rede von den guten Werken treten nun die Begriffe der sittlichen Handlung bzw. der sittlichen Lebensführung. Die für den Handlungsbegriff in Anschlag zu bringenden güter-, pflichtund tugendethischen Gesichtspunkte finden dabei in den verschiedenen theologischen Konzeptionen der -»Ethik bzw. christlichen Sittenlehre unterschiedliche Berücksichtigung. 2. Das 19.

Jahrhundert

Der beschriebene Umgang mit der Thematik der guten Werke läßt sich im Neuprotestantismus des 19. Jh. markant zuerst bei F.D.E. -»Schleiermacher wahrnehmen. In seiner Glaubenslehre bestimmt er die „guten Werke der Wiedergeborenen" als „natürliche Wirkungen des Glaubens" (Schleiermacher, Glaube §112 [II, 198]), die aus der Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit Christus folgen (ebd. [II, 199]). Dies bedeutet nach Schleiermacher, daß „wir von der Vereinigung des Göttlichen mit der menschlichen Natur in seiner Person mit ergriffen" (ebd.) sind und daß aus der „Zustimmung zu diesem Zustand" (ebd.) ein „beständig tätiger Wille" (ebd. [II, 200]) erwächst, „diese Vereinigung festzuhalten und fortzupflanzen" (ebd.). Was dieser Wille hervorbringt, „ist ein gutes Werk" (ebd.) und als solches ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens (ebd. [II, 198]). In seinen Vorlesungen über die christliche Sitte ist dagegen der Begriff der Handlung leitend. In der Differenzierung von wirksamen und darstellenden Handlungsweisen sucht Schleiermacher hier zu einer vollständigen Beschreibung des christlichsittlichen Handelns zu gelangen, welche den „Ort eines jeden im Reiche Gottes, oder die Totalität der sittlichen Aufgaben für jeden" (ders., Sitte 81; im Original gesperrt) benennt und dabei güter-, pflicht- und tugendethische Gesichtspunkte integriert. Im Gefolge Schleiermachers ordnet A. -»Ritsehl die guten Werke ausdrücklich in den Zusammenhang des sittengesetzlichen Handelns ein. Sie seien notwendig wegen der „Abzweckung der christlichen Religion auf das Reich Gottes" (Ritsehl III, 473) und würden in der Wahrnehmung des jeweiligen „sittlichen Berufs" (ebd.) vollzogen. Mit besonderem Nachdruck insistiert er dabei aber zugleich darauf, daß gute Werke nicht als „Nebenursachen des ewigen Lebens" (ebd. 471 u.ö.) verstanden werden dürften. Denn aus dem reformatorischen Gedanken von der Rechtfertigung oder Sündenvergebung ergebe sich „die Formel, daß die Sündenvergebung Gottes zum Heile (ewigen Leben, Seligkeit) der Gläubigen deshalb nothwendig ist, weil die Werke wegen ihrer Unvollkommenheit zu diesem Zwecke unzureichend sind" (ebd. 456). Ritsehl stellt in der reformatorischen Lehrweise allerdings einen Mangel an Präzision im Blick auf die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und guten Werken fest, der eine „Verschiebung des Rechtfertigungsbegriffs in der Bengel'schen und Schleiermacher'schen Schule"

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ermöglicht habe (ebd. 454f.). Hier werde nämlich „die Vorstellung begünstigt", „als beziehe sich die Rechtfertigung darauf, die Heiligung möglich zu machen und sicher zu stellen, was die erklärte Tendenz der katholischen Lehre von der Gerechtmachung" sei (ebd. 454). Demgegenüber hält Ritsehl fest, daß „die Rechtfertigung oder Sündenvergebung keine directe Abzweckung auf die Hervorrufung des sittlich guten Handelns" habe, „da dieses sein nächstes Motiv an dem überweltlichen Endzweck des Reiches G o t t e s " finde (ebd. 495). Da aber in der Ausübung der Freiheit der sittlichen Gesinnung „ohne Rücksicht auf den Erfolg ebenfalls ewiges Leben erfahren" werde (ebd. 495f.), sei in dieser Beziehung „auch die Reihe des sittlichen Handelns durch die Rechtfertigung und Versöhnung bedingt" (ebd. 496). Ritsehl erklärt die Kategorie der guten Werke dabei als für die Selbstbeurteilung „in Wahrheit unbrauchbar ...; denn es kommt bei der Beurtheilung seiner selbst immer darauf an, ob man in den einzelnen erscheinenden Handlungen ein Lebenswerk vor sich bringt" (ebd. 154). Damit macht er deutlich, daß die für die Sittlichkeit wichtige Perspektive auf die Lebensführung als Ganze in der Rede von den guten Werken nicht in den Blick kommt. Im Zuge seiner Kantrezeption handelt W. -»Herrmann in seiner Ethik nicht mehr thematisch von den guten Werken, sondern beschreibt - auf der Grundlage einer Analyse des natürlichen Lebens (Herrmann, Ethik §§ 3 - 9 ) und der Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur im sittlichen Denken (ebd. §§ 10-17) - das christlich-sittliche Leben, welches in -» Wiedergeburt und -»Bekehrung entstehe (ebd. §§ 18-24), in doppelter Hinsicht: zum einen als Dienst Gottes in den natürlich begründeten Gemeinschaften der Welt, der Ehe und Familie, der Kulturgesellschaft und des Staates (ebd. §§ 2 5 - 2 8 ) , zum anderen als Umwandlung des Christen im Dienste Gottes, die sich in der Bildung des Charakters durch Arbeit und Gebet, in Tugenden, Pflichten und in der sittlich erlaubten Erholung vollziehe (ebd. §§ 2 9 - 3 2 ) . Dabei richtet er sein Interesse entschiedener noch als Ritsehl auf die sittliche Aufgabe bzw. den sittlichen Willen und nicht auf „ein System von Gütern" (ebd. § 26 [182]). Wenngleich Herrmann in seiner Deutung von Sittlichkeit an Kant anschließt, setzt er sich doch in seiner Deutung des Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit von Kant ab und versteht die Religion im Rekurs auf M . —•Luther als die „innere Befreiung des Menschen" (ebd. § 18), welche der Mensch im Zuge der sittlichen Selbstbesinnung suche. Mit Luther betont Herrmann, die Seligkeit sei nötig zu guten Werken, „weil der Mensch der sittlichen Erkenntnis, daß das Leben für die Gemeinschaft selbständiger Wesen das Gute ist, nicht folgen kann, solange er unter dem Zwange ist, für sich selbst leben zu müssen" (ebd. § 22 [140]). Dieser Z w a n g wird nach Herrmann im christlichen Glauben als dem Bewußtsein „hinweggehoben" (ebd.), der darin zugleich die Kraft ist, das Gute zu tun (ebd. § 22 [135ff.]). Das in der -»Liberalen Theologie herrschende Interesse an der sittlichen Aufgabe in Beziehung auf das Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) verbindet Johannes Gottschick (1847—1907), ein Anhänger Ritschis, mit einer Aufwertung der guten Werke in ihrer Bedeutung für die individuelle Frömmigkeit. Er deutet die guten Werke in seiner Ethik als „die einzelnen Betätigungen der Gesinnung und des Lebensgefühls der durch Gottes Gnade mit Gott in Vertrauen und Aehnlichkeit der Liebesgesinnung geeinten Persönlichkeit" (Gottschick 74). Sie seien „einerseits Früchte oder Erscheinungen des von Gott uns schon verliehenen ewigen Lebens oder die Form, in der wir dessen Seligkeit in unserm konkreten Leben genießen" (ebd.). Andererseits seien sie „als Aeußerungen einer geistigen Kraft zweifellos Mittel ihrer Steigerung d.h. aber des ewigen Lebens, das uns schon gegenwärtig ist, und insofern auch der Weg, dem Ziel der Vollendung näher zu kommen, die Gott im Jenseits verleihen wird und nur denen verleihen kann, die sie ernstlich erstrebten" (ebd. 74f.). Im Unterschied zur Liberalen Theologie integriert F.H.R. von -»Frank in seiner erfahrungstheologischen Konzeption das Thema der guten Werke explizit in die systematische Auslegung der christlichen Gewißheit, Wahrheit und Sittlichkeit. Er versteht unter „dem Ausdruck der ,guten Werke' alle die sittlichen Bethätigungen" (Frank, Wahrheit

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II, § 42 [351]), die zusammen mit der wachsenden Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott in Christus den durch die Berufung und Rechtfertigung konstituierten „fortdauernden Process der Erneuerung" (ebd. II, 335) ausmachen. Gute Werke im christlichen Sinne seien mithin „ Bethätigung der christlichen Persönlichkeit" (ders., Sittlichkeit I, 348), wobei die „Güte des sittlichen Werkes sich allewege bemißt nach der Güte der Person, von welcher das Werk vollbracht wird" (ders., Wahrheit II, 352). Wenn „man der Gerechtigkeit vor Gott, dieser alleinigen Bedingung der Seligkeit, theilhaftig geworden" sei, träten gute Werke „unfehlbar" ein (ebd. 352). Als „das erste und wesentlichste gute Werk" (ders., Sittlichkeit I, 354) des Christen versteht Frank die Bewahrung des Heilsstandes (ebd.). Sofern „der Glaube und mit ihm die Rechtfertigung vorangeht, wird die auf diesem Grund sich vollziehende tägliche Buße und die fernere Selbsthingabe des Gläubigen als ein gutes Werk angesehen werden dürfen, ja als das vornehmste und beste Werk des Christen, durch welches principiell seine sittliche Erneuerung gesetzt ist" (ders., Wahrheit II, 353). Sind aber „gute Werke die nothwendige und unausbleibliche Setzung vorhandenen rechtfertigenden Glaubens", so folgt daraus für Frank, daß „dieser Glaube vorerst nachgelassen haben" muß, „ehe es zu bösen Werken, nämlich zu solchen, bei denen das neue Ich die Herrschaft verloren hat, kommt" (ebd. 353). Dabei bringt Frank die grundlegende Schwierigkeit der dogmatischen Würdigung der sittlich giten Werke in der Weise auf den Begriff, „daß dieselben nach der einen Seite hin sich der Norm des Gesetzes unterstellen, in dem Maße, daß sie gar nicht gute Werke sind, wenn nicht von Gott,geboten' (Conf. Aug. VI), und auf der andern Seite dem Dictamen des Gesetzes sich entziehen, in dem Maße, daß wenn sie aus gesetzlichem Motive hervorgehen, sie eben damit aufhören, gute Werke zu sein" (ebd. 351). Auch Christoph Ernst Luthardt (1823-1902) betont im Rahmen der konfessiomllett lutherischen Theologie, daß die christliche Sittlichkeit sich im pflichtgemäßen Hardeln betätige und in den guten Werken zur Erscheinung komme, und zwar „als Erweisung des in der Liebe tätigen Glaubens" (Luthardt § 42). Darin liege „sowohl ihre irnere Notwendigkeit, wie ihr sittliches Werk" (ebd.). Außerdem versucht er, die Rede vom Lohn der guten Werke in der Schrift zu erhellen, indem er den in der göttlichen Gerechtigkeit begründeten ,,schließliche[n] Einklang der geschichtlichen Wirklichkei: mit der inneren Beschaffenheit" als Lohn der guten Werke interpretiert (ebd.). 3. Das 20.

Jahrhundert

Unter dem Einfluß der einschneidenden Kritik, die von der Dialektischen Thedogie an neuprotestantischen Konzeptionen insgesamt und speziell an der in der Liberalen Theologie vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Religion und Sittlichkeit jeübt worden ist, wird das Thema der guten Werke im 20. Jh. fast ausschließlich im Koitext der dogmatischen Frage nach der Heiligung erörtert, während es im ethischen Diikurs begrifflich keine Rolle mehr spielt. Die im 19. Jh. erkennbare Einordnung bzw. Überführung der Frage nach den guten Werken in die Frage nach der christlich-sittlchen Lebensführung wird dabei vor allem in der Theologie K. -»Barths programmaisch zurückgenommen. Barth widmet sich der Thematik der guten Werke in seiner Kirchlichen Dognatik innerhalb der Lehre von der Heiligung (KD IV/2, § 66, 565ff.), für die die Einsicht in die Rechtfertigung allein aus Glauben ohne alle Werke vorausgesetzt ist (KD IV/1,§ 61, 694ff.). Die Heiligung wird dabei bereits im ethischen Paragraphen der Gottesleh:e als in der Erkenntnis Jesu Christi begründet bestimmt (KD 1/2, § 36, 564) und in der Versöhnungslehre als Erschaffung des Menschen zur neuen Existenzform als Bundesgeiosse Gottes (KD IV/2, § 66, 565) interpretiert. Sie bezeugt sich in der Wahrnehmun; der Freiheit zum Gehorsam als vorläufiger Darbringung der Dankbarkeit, die Barth nicht nur durch den Ruf zur -»Nachfolge Jesu und die Erweckung zur Umkehr, soidern auch durch das „Lob der Werke" (KD IV/2, 660-676) vermittelt sieht. Vom Los der Werke spricht er dabei gezielt in dem doppelten Sinne, daß Gott die guten Werkt lobt

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und daß diese ihrerseits Gott loben (ebd. 661). Gute Werke des Menschen sind von daher nach Barth nur möglich in Beziehung zu dem einen guten Werk Gottes (ebd. 666), „dem alle seine anderen Werke zugeordnet sind" (ebd. 665), nämlich der Geschichte des -»Bundes „von der Schöpfung über die in Jesus Christus beschlossene und vollbrachte Versöhnung hin zu der in deren Offenbarung zu erwartenden Erlösung" (ebd. 665). Sind menschliche Werke nur in ihrer „Teilnahme am guten Werk Gottes" (ebd. 666) möglich, „zu der bestimmte Menschen durch Gott selbst erwählt und herangeholt" (ebd.) werden, so unterscheiden sich diese von anderen menschlichen Werken dadurch, „daß sie auf Gottes Anordnung, Gebot und Befehl hin getan werden" (ebd.), d.h. „in der dem Menschen von Gott gegebenen Freiheit" (ebd.). Daß die Güte der Werke in keiner Weise von „des Menschen innerer Qualität" (ebd. 666) abhängt, impliziert für Barth, daß „auch ein sündiger Mensch mit seinem sündigen Werk . . . das gute Werk Gottes bekunden und sündigend ein gutes Werk tun" (ebd.) kann. Im Unterschied zu Barth legt P. Althaus den Akzent auf die Bedeutung der guten Werke für die Heilsgewißheit (Althaus § 66, 457ff., bes. 458). Das Werk sei Kennzeichen des echten Glaubens und Heilsstandes, nicht hinsichtlich seines Erfolges, wohl aber durch den spürbaren „Willen, von der Sünde loszukommen und Gott zu gehorchen" (ebd. 458). Als solches sei das Werk Übung des Glaubens. Rechte Heilsgewißheit werde im Werk nicht nur erkannt, „sondern in ihm als dem Vollzuge des Glaubens erlebt" (ebd. 464; kursiv im Original gesperrt). Gute Werke gehören darum nach Althaus „zum Heile, sie sind gelebte Gemeinschaft mit Gott, von Gottes Liebe in uns gewirkt durch seinen Geist" (ebd. 466). Damit will Althaus sittliche Gleichgültigkeit als mögliche Folge aus der Rechtfertigung allein aus Glauben ausgeschlossen sehen, ohne allerdings einer „Werkheiligkeit" das Wort zu reden. D, Bonhoeffer bestimmt die guten Werke zwar ebenfalls als konstitutives Moment der Heiligung bzw. des Christseins des Christen, hebt aber in der Begründung der Notwendigkeit guter Werke darauf ab, daß „wir nach unseren Werken gerichtet werden" (Bonhoeffer, Nachfolge 294); wer im Gericht „in bösen Werken erfunden wird, der wird das Reich Gottes nicht sehen" (ebd.). Weil von daher „in diesem Leben nur eins wichtig" sei, „nämlich wie der Mensch im letzten Gericht bestehen kann, und weil jeder nach seinen Werken gerichtet werden wird", darum gehe „es in allem um die Bereitung des Christen zum guten Werk" (ebd. 294f.). Die Neuschöpfung des Menschen in Christus habe daher „die guten Werke zum Ziel" (ebd. 295). Da die guten Werke in Gottes einem guten Werk in -»-Jesus Christus gründen, „an das wir uns im Glauben klammern" (ebd.), haben sie nicht als Menschenwerke, sondern allein als „Gottes eigene gute Werke" (ebd.) zu gelten, die erst im Gericht offenbar werden und darum dem Christen in diesem Leben verborgen bleiben. Von daher ist es ausgeschlossen, in den guten Werken den Fortschritt der Heiligung erkennen zu wollen. Das schließt für Bonhoeffer nicht aus, die guten Werke konkret zu benennen, nämlich als die Werke der Nachfolge, die Jesus Christus in den Jüngern schuf: „Armut, Fremdlingsschaft, Sanftmut, Friedfertigkeit und zuletzt Verfolgt- und Verworfenwerden und in dem allen eines: das Kreuz Jesu Christi tragen" (ebd. 114). Nach Bonhoeffer gibt es dabei „keinen Glauben ohne das gute Werk, wie es kein gutes Werk ohne Glauben gibt" (ebd. 294). Den Zusammenhang von Glaube und Werken konkretisiert Bonhoeffer in seiner Ethik in der Beschreibung des verantwortlichen Lebens als Antwort auf das Leben Jesu Christi (Bonhoeffer, Ethik 254), welches strukturiert ist „durch die Bindung des Lebens an Mensch und Gott und durch die Freiheit des eigenen Lebens" (ebd. 256). Gottes in Jesus Christus offenbartes Gebot findet Bonhoeffer in den göttlichen Mandaten (ebd. 392ff.) als von oben her in die Welt hineingesenkten Gliederungen (ebd. 394) der Arbeit, Ehe, Obrigkeit und Kirche (ebd. 54) und eröffnet auf diese Weise eine sozialtheoretische Perspektive. W. -»Eiert macht im Anschluß an die lutherische Tradition erneut geltend, daß sich die guten Werke des neuen Gehorsams „von den im Gesetz geforderten nicht durch ihren materiellen Gehalt, sondern durch ihr Motiv" unterscheiden (Eiert 331). Sie seien

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Werke V

wie der Glaube selbst ein Wagnis. Entsprechend seien „alle gewagten Werke" auch „gute Werke, wenn sie aus Glauben geschehen" (ebd. 337f.). „ N u r in der Gewißheit der Vergebung kann auch das .gute' Werk gewagt werden. Denn ,gut' ist ja ein Werk noch nicht, weil es äußerlich dem Gesetz gemäß ist, sondern nur, wenn der Mensch, der es tut, in seiner Totalität gut ist. Das ist er nur kraft der verheißenen Vergebung oder, was hier das gleiche besagt, kraft des Glaubens" (ebd. 335). Der Glaubende dürfe „gewiß sein, allerdings auch nur er, daß sein Werk von Gott selbst angenommen wird, weil er in Person kraft seines Glaubens von Gott angenommen ist" (ebd.). Auch hier wird also die Thematik der guten Werke unter der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung behandelt. H. -»Thielicke bindet diese Fragestellung in den ethischen Diskurs ein, indem er die guten Werke der Gerechtfertigten in seiner Theologischen Ethik im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung innerhalb der Prinzipienlehre der Ethik erörtert (Thielicke I, 87ff.). 4.

Ökumene

Im ökumenischen Gespräch zwischen der -»Römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen spielt die Frage nach den guten Werken im Anschluß an die reformatorischen Bekenntnisaussagen und die Aussagen des Konzils von Trient (-»Tridentinum) eine wichtige Rolle. Zentral wird dabei die Frage nach der Verdienstlichkeit guter Werke und nach ihrer Bedeutung für ein Wachstum in der -»Gnade diskutiert. Lehrten die Reformatoren, „daß die guten, aus dem Glauben in der Gnade Gottes vollbrachten Werke zwar Folge und Frucht der Gnade, aber in keiner Weise vor Gott ein ,Verdienst'" seien (Lehmann/Pannenberg I, 42), so bestand die tridentinische Lehre darauf, „daß die in der Kraft der Gnade vollbrachten guten Werke des Gerechtfertigten im eigentlichen Sinne vor Gott verdienstlich sind, nicht aufgrund der menschlichen Leistung, sondern kraft der Gnade und des Verdienstes Christi" (ebd.). Auf der Basis wichtiger Vorarbeiten, insbesondere der Studie Lehrverurteilungen kirchentrennend?, wird in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1997 die gemeinsame Aussage erreicht, „daß gute Werke - ein christliches Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe — der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind" (Gemeinsame Erklärung N r . 37). Gute Werke als Folge der Rechtfertigung seien „ f ü r den Christen, insofern er zeitlebens gegen die Sünde kämpft, zugleich eine Verpflichtung, die er zu erfüllen h a t " (ebd.). In diesem Sinne sei die Ermahnung Jesu und der apostolischen Schriften an die Christen zu verstehen, sie sollten „Werke der Liebe vollbringen" (ebd.). Im Rahmen dieses Konsenses wird die Differenz in der Frage nach der Verdienstlichkeit der guten Werke in der Gemeinsamen Erklärung auf unterschiedliche, aber nicht widerstreitende Interessen zurückgeführt. Die katholische Rede von der Verdienstlichkeit der guten Werke betone im Rekurs auf das biblische Zeugnis vom Lohn der guten Werke im Himmel „die Verantwortung des Menschen für sein Handeln" (ebd. Nr. 38), ohne „den Geschenkcharakter der guten Werke" (ebd.) zu bestreiten oder zu verneinen, „daß die Rechtfertigung selbst stets unverdientes Gnadengeschenk bleibt" (ebd.). Demgegenüber deute die lutherische Tradition „die guten Werke des Christen als ,Früchte' und .Zeichen' der Rechtfertigung", aber nicht „als eigene ,Verdienste'", um zur Geltung zu bringen, „daß die Gerechtigkeit als Annahme durch Gott und als Teilhabe an der Gerechtigkeit Christi immer vollkommen ist" (ebd. Nr. 39), wievohl auch sie gemäß dem Neuen Testament „das ewige Leben als verdienten ,Lohn' im Sinn der Erfüllung von Gottes Zusage an die Glaubenden" (ebd.) verstehe. Um die errachte Verständigung über die guten Werke zu vertiefen, könnte es hilfreich sein, den Windel im Umgang mit der Thematik der guten Werke, wie er sich in theologiegeschichtLcher Perspektive abzeichnet, wahrzunehmen und von daher den Stellenwert der konfessionellen Differenzen in der Auffassung von den guten Werken neu zu bestimmen.

5.

Ausblick

Die hier vorgestellten systematisch-theologischen Auffassungen der guten Werke bringen durchgängig die im Rekurs auf das biblische Zeugnis gewonnene Einsicht der reformatorischen Theologie in die konstitutive Bedeutung des Glaubens für die guten Werke zur Geltung. Dem folgend lassen sich gute Werke im christlichen Sinne systematisch-theologisch verstehen als Lebensäußerungen des in Person und Werk Jesu Christi begründeten, in der Rechtfertigungsbotschaft des Evangeliums dem einzelnen erschlossenen und in der - » T a u f e individuell zugeeigneten neuen Seins in Christus, welches sich im Glauben an Jesus Christus realisiert. Dieser Glaube betätigt sich spontan und selbstverständlich in guten Werken und erweist sich darin als lebendiger Glaube. Die guten Werke haben als Lebensäußerungen des christlichen Glaubens ihr Motiv in der in Jesus Christus offenbaren Liebe Gottes. Sie resultieren aus dem mit dieser Erkenntnis entspringenden Bestreben, dem Doppelgebot der Liebe als dem Inbegriff des in den zehn Geboten ausgelegten Schöpferwillens Gottes zu entsprechen. Die in den guten Werken angestrebte Entsprechung zum Schöpferwillen Gottes impliziert dabei, daß aus der Sicht des Glaubens nicht nur die Werke als gute Werke gewürdigt werden können, die dem christlichen Glauben entspringen und im Vertrauen bzw. in dem Bewußtsein der Gemeinschaft mit Gott geschehen, sondern alle Werke, die der Erhaltung, Unterstützung und Förderung fremden und eigenen Lebens dienen. Als spontane und selbstverständliche Betätigungen des Glaubens werden gute Werke nicht notwendig Gegenstand reflexiver Selbstbeurteilung des Christen. Die Möglichkeit einer Vergewisserung des Heilsstandes bzw. des wahren Glaubens anhand der eigenen Werke ist schon darum begrenzt. Sie ist aber auch deshalb problematisch, weil sie die Gefahr in sich birgt, die Werke entgegen der Botschaft von der Rechtfertigung Gottes allein aus Glauben ohne alle Werke als Grund der Gerechtigkeit vor Gott zu interpretieren. Gegenüber einer solchen Instrumentalisierung menschlicher Werke befreit die Rechtfertigungsbotschaft den Menschen mit der Zusage des neuen Seins in Christus von dem Versuch der Selbstrechtfertigung. Es liegt in der Konsequenz dieser von der reformatorischen Theologie eindringlich vorgebrachten Einsicht in die christliche Freiheit, daß die Thematik der guten Werke in der evangelischen Theologie bis in die Gegenwart hinein vornehmlich im Zusammenhang der Frage nach der angemessenen Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken erörtert wird und in der theologischen Ethik keine Rolle spielt. Demgegenüber ließe sich im Rahmen einer auf der Rechtfertigungsbotschaft basierenden, pflicht- und tugendethische Gesichtspunkte integrierenden theologischen Güterethik die Bedeutung und Bestimmung guter Werke neu bedenken. Literatur Paul Althaus, Die christl. Wahrheit. Lb. der Dogmatik, Gütersloh, II 1949. - Karl Barth, KD I V / 1 - 2 . - Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, hg. v. Martin Kuske/Ilse Tödt, 1989 (DBW 4 ). - Ders., Ethik, 1992 2 1998 (DBW 6). - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen. Entwurf einer prot.-theol. Ethik, Tübingen 1932 Zürich *1939. - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, Tübingen, III 1979. - Werner Eiert, Das christl. Ethos, Tübingen 1949; hg. v. Ernst Kinder, Hamburg 2 1961. - Franz Hermann Reinhold v. Frank, System der christl. Wahrheit, 2. Hälfte, Erlangen 1880. Ders., System der christl. Sittlichkeit, 1. Hälfte, Erlangen 1884. - Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, mit einem Komm, des Instituts f. ö k u m . Forschung, Straßburg, veröff. vom Luth. Weltbund, Genf 1997. - Wilhelm Herrmann, Ethik, Tübingen 1901 5 1913 (GThW 5/2). - Ders., Der Verkehr des Christen mit Gott, Stuttgart/Berlin 1886 5 / 6 1908. - Johannes Gottschick, Ethik, Tübingen 1907. - Wilfried Härle/Reiner Preul, Gute Werke, 1993 ( M J T h 5/MThSt 34). - Martin Honecker, Einf. in die Theol. Ethik. Grundlagen u. Grundbegriffe, Berlin/New York 1990, bes. §6. - Karl Lehmann/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen - kirchentrennend?, Freiburg i.Br./Göttingen, I 1986. - Christoph Ernst Luthardt, Kompendium der theol. Ethik, Leipzig 1896; bearb. v. F.J. Winter 3 1921. - Wolfhart Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Phil.-theol. Perspektiven, Göttingen 1996. - Jan Röhls, Gesch. der Ethik, Tübingen 1991. - Albrecht Ritsehl, Die christl. Lehre v. der Rechtfertigung u. Versöhnung, Bonn III *1883 Nachdr. Hildesheim/New York 1978. - Friedrich Schleiermacher, Die christl. Sitte nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammen-

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Wert I

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Friederike Nüssel

Wert I. Philosophisch II. Theologisch

S.653

I. Philosophisch 1. Die Wertrelation 2. Das Wertobjekt 3. Wertungsweisen und Wertarten de Subjekt 5. Wertewandel (Literatur S. 652)

4. Das werten-

1. Die Wertrelation Als „Werte" lassen sich diejenigen Gegebenheiten irgendwelcher Art bezeichnen, die ein Bedürfnis oder Interesse befriedigen, ein Lustgefühl hervorrufen, Anerkennung verdienen, wünschenswert, erforderlich oder erstrebenswert erscheinen. Die Beziehung zwischen diesen von einem Subjekt auf spezifische Weise aufgefaßten Gegebenheiten läßt sich als „Wertrelation" bezeichnen. An ihr lassen sich drei Momente unterscheiden: das gewertete Objekt, das wertende Subjekt und die besondere Wertungsweise (Bedürfnisbefriedigung, Lusterlebnis, Anerkennung usw.). Die relationale Wertauffassung hat sich seit der Mitte des 19. Jh., als Rudolph Hermann Lotze ( 1 8 1 7 - 1 8 8 1 ) die Eigenständigkeit und Unableitbarkeit des Wertproblems aufwies (Untersuchungen einzelner Wertungsweisen wie der moralischen oder religiösen gehen bis in die Anfänge der abendländischen Kultur zurück, ähnlich verhält es sich in anderen Kulturkreisen, vgl. Rintelen), in den meisten der zum Teil stark voneinander abweichenden Werttheorien innerhalb und außerhalb der Philosophie (Theologie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaft usw.) durchgesetzt, so daß sie als formaler Grundansatz einer allgemeinen Werttheorie (Axiologie) gelten kann. Das schließt nicht aus, daß es immer noch einseitig objektivistische (Neuscholastik [-»Scholastik/Neuscholastik]) oder iubjektivistische Werttheorien gibt und daß die Existenz von so etwas wie eigenständigen Werten bestritten (Ayer) oder als Pseudoproblem hingestellt worden ist (Heidegger; Schmitt/Jüngel/Schulz). Die Wertrelation läßt sich unter den verschiedenen, prinzipiell möglichen Weltverhältnissen des Menschen als eine unabhängig und autonom bestehende Sphäre erst unter der Voraussetzung erweisen, daß bestimmte -»Erfahrungen als Werterfahrungen anerkannt werden. Hierin liegt ein hermeneutisches Problem. Bestimmte Erfahrungen im Zusammenhang des individuellen und sozialen menschlichen Lebens müßten sich aufgrund bestimmter Eigenschaften als „Werterfahrungen" verstehen, unter eine allgemeine, diese unterschiedlichen Erfahrungen vereinheitlichende Kategorie subsumieren und dadurch von anderen Erfahrungsgruppen abgrenzen lassen. In der Regel hält man iine solche Zusammenfassung bereits für berechtigt aufgrund des mit einer Erfahrung verbundenen Gefühls von Lust oder Unlust, wodurch diese Erfahrungen als positiv- oder negativ-wertig empfunden werden (emotionalistische Werttheorie), doch erweist sich dies angesichts der Verschiedenartigkeit von Werterfahrungen als unzureichend. So ergibt sich die Aufgabe einer Wertphänomenologie: möglichst unvoreingenommen die mannigfaltigen Formen von Werterfahrungen aufzuweisen und zu beschreiben, worin ihre

WertI

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für eine Werterfahrung konstitutiven Gemeinsamkeiten bestehen. Demgegenüber sucht die analytische Wertphilosophie diese Gemeinsamkeiten darin aufzuweisen, wie wir die sog. Werterlebnisse sprachlich zum Ausdruck bringen und nach welchen Regeln wir Wertprädikate verwenden bzw. verwenden sollten (Aschenbrenner). Die Fragen, was eine Werterfahrung eigentlich ist, wie sie in sich strukturiert ist und welche Arten von Werten es gibt, werden dabei bewußt ausgeklammert. Hierin zeigt sich, daß den Werttheorien unterschiedliche Bewertungen von wissenschaftlichen Verfahrensweisen voraus liegen, die Werttheorie sich also nicht als wertungsfrei verstehen kann. Der Aufweis der Mannigfaltigkeit von Werterfahrungen verfolgt über ihre Beschreibung und Strukturierung hinaus zwei Ziele. Zum einen, die Mannigfaltigkeit von Wertungsweisen kritisch gegen reduktionistische oder konstruktivistische Theorien zur Geltung zu bringen, zum anderen, von einer gesicherten empirischen Basis aus allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Wertverhaltens zu erschließen und, ausgehend von den in Werterfahrungen zum Ausdruck kommenden Aussagen über die Wertdimensionen der Weltverhältnisse des Menschen, eine allgemeine Wertphilosophie zu entwickeln. Mit diesem Anliegen befindet sie sich trotz oder gerade wegen der Vielzahl konkurrierender Entwürfe nach wie vor in einem vorparadigmatischen Zustand mit den charakteristischen Grundlagenkritiken. So „natürlich", womöglich wesensnotwendig einem unter dem Eindruck von persönlichen Werterfahrungen die anthropologisch generelle Möglichkeit zu Werterfahrungen auch erscheinen mag, so sind doch auch Fälle von „Wertblindheit" nicht auszuschließen (Hildebrand), ebensowenig subjektivistische Reduktionen und Verfälschungen von Werterfahrungen, vorurteilsbedingte „Werttäuschungen" (Scheler) und schließlich auch nicht die weltanschaulich oder (positiv) wissenschaftlich bedingte Leugnung der gesamten Wertsphäre überhaupt. Eine kritische Erkenntnistheorie der Werterfahrung stellt immer noch ein Desiderat dar, wohingegen es an ideologiekritischen Erörterungen von Werthaltungen nicht mangelt. 2. Das

Wertobjekt

Das Wertobjekt ist ganz aus der immanenten Perspektive der Wertrelation aufzufassen. Im Blick auf differierende Wertungen ein und desselben Wertobjekts lassen sich jedoch zwei Aspekte unterscheiden: das deskriptiv bestimmbare Was, das in der Wertungsweise erfaßt wird und als intendierter Wertgehalt intersubjektiv zugänglich ist (z.B. die allgemein als schön anerkannten Rosen), und das eigentlich Werthafte („schön"), das in ihm zur Erscheinung kommt, aber immer nur für ein Subjekt. Aus der Perspektive der Wertrelation betrachtet bilden beide Aspekte eine homogene Einheit, alle nicht in die Wertrelation eingehenden Eigenschaften des Objekts werden ausgeblendet. Dieser einheitliche Wertgehalt (die Schönheit dieser Rose) ist von dem Seienden zu unterscheiden, an dem der Wertgehalt zur Erscheinung kommt - ohne ein solches Seiendes, das auch unabhängig von der Wertrelation gegeben sein kann, kommen Werte nicht zur Erscheinung; man spricht vielfach auch vom Wertträger, an dem der Wert „hafte", was aber der Homogenität des Wertobjekts nicht gerecht wird. Die von außen konstatierbare lockere Bindung des Wertgehalts an das Seiende und die Wiederholbarkeit der Realisierung ein und desselben Wertes an ein und demselben oder auch anderen Seienden (andere Blumen, Tiere, Menschen, Beweise als „schön") ließen es berechtigt erscheinen, den Werten unabhängig von ihrer aktuellen Realisierung eine objektive Seinsart zuzusprechen. M . —>Scheler spricht von einem auf Aktualisierung angewiesenen „Wertsein", Nicolai Hartmann (1872-1950) von einer „idealen Existenz", der Neukantianismus (-> Kant/Neukantianismus) von der Seinsweise des „Geltens". Solange es keine Erkenntnistheorie der Werte gibt, bleibt die sich hier ankündigende Ontologie der Werte ein problematisches, wenn auch unverzichtbares Unternehmen. Insofern sich die Wertrelation immer nur an unabhängig von ihr bestehendem Seienden aktualisieren kann, läßt sie sich als ein sekundäres Weltverhältnis des Menschen verstehen. Das Seiende darf dabei nicht auf die Kategorie des sog. „wirklich Seienden"

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Wert I

begrenzt werden. Wertrelationen können sich auch an fiktiven oder idealen Arten des Seienden realisieren. Darüber hinaus stellt sich bei allen Arten von Seiendem modifiziert die Frage von G.W. —>Leibniz, warum es überhaupt etwas derartiges gibt und nicht vielmehr nichts. Unter dieser Perspektive weist alles Seiende eine ganz in seine besondere Seinsweise eingegangene Affirmation auf, eine absolut erste und universale, nach Maßgabe der Seinsarten differenzierte positive Wertung. Diesem philosophischen Optimismus kann man mit A. -»Schopenhauer eine pessimistische Weltanschauung entgegensetzen, die nichtsdestoweniger ebenfalls auf einer primären Wertungsweise beruht, nur eben auf einer negativen. Es zeigt sich, daß die Wertrelation nicht etwas ontologisch Sekundäres sein muß, sondern auch als ein universale aufgefaßt werden kann. Wenn dieses ebenfalls nur als Wertrelation möglich sein sollte, dann muß ihm auch ein der Universalität gleichmächtiges Subjekt zugeordnet werden, das analog zu dem menschlichen wertenden Subjekt gedacht wird, während dieses sich seinerseits als Co-Analogon zum universalen Subjekt denkt. Somit ergibt sich aus der Wertphilosophie ein Zugang zum Theodizeeproblem (—>Theodizee): wie kann das zugleich mit dem positiv Werthaften bestehende negativ Wertige, wie kann das Negative zugleich als positiv gerechtfertigt werden? 3. Wertungsweisen

und

Wertarten

Die wertenden Beziehungen auf mögliche Wertgehalte sind keineswegs von ein und dergleichen Art, weshalb auch nicht zu erwarten ist, daß es eine in sich homogene Axiologie geben wird. Die Natur des Menschen (wenn wir uns darauf beschränken, nur den Menschen als wertendes Wesen in Betracht zu ziehen) läßt mehrere Wertungsweisen zu, die alle von einer Wertanthropologie zu erschließen wären. Die unterschiedlichen, anthropologisch möglichen Wertungsweisen bilden die Grundlage für eine systematische Ordnung der Werte. Ein kursorischer Überblick läßt die folgenden Wertungsweisen und die ihnen korrelierenden Wertarten hervortreten: die Befriedigung von natürlichen und kulturellen Bedürfnissen durch bestimmte Güter (ökonomische Werte), das Streben nach allen möglichen Arten von Lustgefühlen (hedonistische Werte des Wohllebens) bis hin zum allgemein als Menschenrecht anerkannten Streben nach persönlichem Glück (Eudaimonismus), die Realisierung von moralischen Werten durch Pflichterfüllung oder durch die Befolgung der anerkannten Sitten, die Realisierung von künstlerischen Werten im Kunstschaffen oder die Erfüllung religiöser Vorschriften und ein Lebenswandel in Frömmigkeit. Alle diese Wertungsweisen, die nach Maßgabe des je gelebten Wertereichs ergänzungsfähig und differenzierungsbedürftig sind, weisen ihre eigenen Ansprüche und Gesetzmäßigkeiten auf, weshalb sie nicht aufeinander zurückgeführt werden dürfen. Alle haben eine dem Modus der Wertungsweise entsprechende Art, ihr Wertobjekt zu erfassen („Werterkenntnis"); bei einigen kann man von einer bestimmten Art des Fühlens der Wertigkeit sprechen, bei anderen von einer geistigen Anschauung, bei wiederum anderen von dem Erlebnis der Kreativität der -»Phantasie oder von der Empfindung der Belebung der sinnlichen Wahrnehmung oder Vorstellungskraft. Alle diese Arten von Werterfassung unterscheiden sich von den wertindifferenten Formen der "Wahrnehmung, Vorstellung oder des Denkens. Die Rückführung auf ein einziges Prinzip, aus dem die Mannigfaltigkeit der Wertungsweisen und Wertarten abgeleitet werden könnte, liegt zwar im Interesse der systematischen Philosophie, muß aber beim gegenwärtigen Stand der Wertforschung hinter das Interesse an einer sachnahen, die erfahrbaren Verhältnisse angemessen wiedergebenden Wertphilosophie zurücktreten. An allen diesen Werten und Wertungsweisen zeigen sich Aspekte, die objektiv ihre Verbindung zu einer umfassenden Wertordnung fordern: daß sie ein Höher- oder ein Niedrigersein vermitteln, ein Positiv- oder Negativsein, einen unabhängigen Eigenwert oder einen von übergreifenden Zwecksetzungen abhängigen Mittel- oder Instrumentalwert. Die Klassifikation der Werte folgt somit nicht einem von außen herangetragenen Ordnungsinteresse, sondern versucht, die dem Wertreich immanente Ordnung aufzuweisen (Scheler; Hartmann).

4. Das wertende

Subjekt

Analog zum Verhältnis zwischen Wertgehalt und Wertträger läßt sich auch das Subjekt zum einen als immanentes Moment der Wertrelation und zum anderen als Subjekt aller anderen, außerhalb der Wertrelation bestehenden Weltverhältnisse begreifen. Bereits innerhalb der Wertrelation differenziert es sich aufgrund seiner unterschiedlichen Wertungsweisen zu einer Mehrheit von Subjektfunktionen aus, was unvermeidlich zu Wertkonflikten führt - das Subjekt muß sich entscheiden, welcher Wertungsweise es in konkreten Situationen den Vorrang einräumen will. Es kann sich dazu entscheiden, einen bestimmten Wert zum Maßstab seiner Entscheidungen zu erheben (z. B. die -»Gerechtigkeit, Solidarität, Mitleid usw.). Dies konstituiert seine generelle Einstellung und gibt die Leitlinien vor für eine sich allmählich ausgestaltende persönliche Wertrangordnung, aus der habituell vollzogene Wertungen folgen können. Verkörpern sie positive Werte, spricht man von Tugenden (-»Tugend), bei negativen Werten von Lastern - trotz verschiedener Ansätze zu einer Rehabilitation der Tugenden sind beide Ausdrücke heute eher obsolet. Daß sich ein Individuum frei zu einer verantwortbaren Wertrangordnung bekennt und sie durch sein Verhalten zu realisieren sucht, bildet ein wesentliches Moment der Würde seiner Person. Seine Entscheidungen kann es auch nach Maßgabe bestimmter Normen treffen, an denen sich der Wert einer Wertungsweise in den konkreten Situationen des individuellen Handelns bemißt. Diese Normen sind einerseits in den herrschenden Wertsystemen der Gesellschaft verankert, dem „Ethos" oder der „-»Weltanschauung" einer Gesellschaft, stehen andererseits aber auch unter den Anforderungen der konkreten Situationen, so daß unter Umständen eine persönliche Werteinsicht zum Bruch mit sanktionierten Normen führen kann. Im moralischen, politischen und religiösen Bereich kann dies - meist für das Individuum - verhängnisvoll werden, im künstlerischen Bereich macht der Normenbruch, vor allem in der Moderne, ein wesentliches Moment des künstlerischen Wertes eines Kunstwerks aus. Ein anderer Grundkonflikt ergibt sich aus der Differenz zwischen den verschiedenen Subjektfunktionen, die sich in den einzelnen Wertungsweisen etablieren, und der durch alle Subjektfunktionen hindurchgehenden Einheit des Subjekts. Dieser Konflikt kann prinzipiell durch zwei Lösungsansätze behoben werden: einerseits durch den Verzicht auf eine Integration der verschiedenen Subjektfunktionen zu einer Einheit, so daß das In-Funktion-Treten der verschiedenen Wertungsweisen äußeren Anlässen und Situationen überantwortet bleibt, andererseits durch ein individuell oder sozial motiviertes Streben nach einer verantwortbaren Rangordnung, die die verschiedenen Wertungsweisen und die ihnen entsprechenden Wertgehalte in eine Über-, Unter- und Nebenordnung bringt. Der erstgenannte Ansatz führt zu einer Nivellierung der Wertranghöhen, wie er z. B. von der sog. -»Postmoderne angestrebt wurde, wodurch zugleich eine grundsätzliche -»Toleranz bzw. Indifferenz gegenüber alternativen Wertungsweisen mitvollzogen wird. Das hierin maßgebliche Wertbewußtsein ist hauptsächlich durch die Überzeugung vom Relativismus und Subjektivismus der Werte geprägt. Der andere Ansatz führt zu einer mehr oder weniger starken Hierarchisierung der Wertungsweisen, die mehr oder weniger rigoros die Angleichung alternativer Wertsysteme an das einzige, für universal gültig gehaltene Wertsystem fordert. Die Hierarchisierung kann innerhalb einer begrenzten „Wertgemeinschaft" von ihren Eliten oder charismatischen Führern (Propheten) aufgebaut und weiterentwickelt werden, der sich alle individuellen Hierarchisierungen anzugleichen hätten. Dennoch bleibt in der Regel ein mehr oder weniger großer Spielraum individueller Lebensstile offen, je nachdem, welche mit dem herrschenden Ethos kompatible persönliche Wertungsweise, welche bewußt gewählten Vorbilder oder welche der tradierten Verhaltensmuster für die Lebensweise und die Lebensziele eines Menschen maßgeblich werden. Seit der Mitte des 20. Jh. wird ein dritter Weg gesucht, auf dem sich Hierarchisierung und Wertepluralismus bis zu einem gewissen Grade vermitteln lassen: es wird zwischen „Grundwerten", die für alle Menschen unverzichtbar und ver-

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Wert I

bindlich sind, und kultur- oder gesellschaftsrelativen Werten unterschieden, in denen innerhalb der Rahmenbedingungen der Grundwerte sich die kulturelle Identität von Gesellschaften, Ethnien, Nationen entfalten kann (Mensen). Vielfach dienen die Grundwerte jedoch nur zur Profilierung der Identität einer einzelnen Wertgemeinschaft. 5.

Wertewandel

Der Wandel von Werten, der heute im Mittelpunkt des Interesses der verschiedenen empirischen Wertdisziplinen, insbesondere der Wertsoziologie und -psychologie steht, kann sich vor allem an drei Aspekten auswirken, betrifft aber stets die gesamte Wertrelation: am Gehalt bestimmter Werte (Wertabnahme, Wertverlust), an der Ranghöhe eines Wertes im Verhältnis zu anderen Werten bzw. an der inneren Ordnung von Wertsystemen („Umwertung" der Wertordnungen) und an der Wertungsweise (Schwund der Authentizität des Wertens, Verkennung, Vernachlässigung und Verrohung von Wertungsweisen). Der Wertewandel betrifft ebenso Individuen wie Kollektive (Verbände, Parteien, Volksgruppen und soziale Schichten, Nationen, Kulturkreise), wird aber hauptsächlich als sozialgeschichtliches und kulturkritisches Problem diskutiert. So kann der Gehalt von Werten an Tiefe und Fülle verlieren oder im Laufe des Lebens eines Individuums oder der Veränderungen der sozialen Verhältnisse andere Bedeutsamkeitsschichten hervortreten lassen. Kollektiv anerkannte und gelebte Wertsysteme können in eine Vielzahl divergierender Wertorientierungen bestimmter Gruppen oder Individuen zerfallen („Wertpluralismus"), oder aber es können unter dem Einfluß bestimmter Weltanschauungen und Wertsysteme einzelne Wertdimensionen für eine längere oder kürzere Zeitspanne verdrängt werden (z. B. kann unter dem Einfluß einer hedonistischen Orientierung im modernen Wohlfahrtsstaat ein Abbau der religiösen und geistigen Wertbereiche erfolgen, wie unter dem Einfluß fundamentalistischer Orientierungen eine Verdrängung der hedonistischen und utilitaristischen Wertbereiche). Doch können auch einzelne, bisher unbekannte Werte (z.B. die „Nachhaltigkeit") aufgewiesen und, meist als Folge von Glaubenskriegen oder Revolutionen, neue Wertsysteme mit Gewalt eingesetzt oder infolge der Veränderungen der sozialen Verhältnisse allmählich wirksam werden. Schließlich können die individuellen und kollektiven Wertungsweisen von innerlich überzeugtem Vollzug zu äußerlich konventionellem Mitvollzug und am Ende zu Indifferenz übergehen, also einem Alterungsprozeß unterliegen, was nicht ausschließt, daß es in krisenhaften Situationen zu einer plötzlichen Belebung von obsolet gewordenen Wertungsweisen kommen kann. Literatur Liliana Albertazzi/Luigi Dappiano/Roberto Poli (Hg.), Valori. Analisi e bibliografia commentata (1871-1970), Padova 1996. - Karl Aschenbrenner, The Concepts of Value. Foundations of Value Theory, Dordrecht 1971. - Alfred Jules Ayer, Language, Truth and Logic, London 1936; dt.: Sprache, Wahrheit u. Logik, Stuttgart 1987. - Hans-Michael Baumgartner/Bernhard Irrgang (Hg.), Am Ende der Neuzeit? Die Forderung eines fundamentalen Wertwandels u. ihre Probleme, Würzburg 1985. - Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889; mit Einl. u. Anm., hg. v. Oskar Kraus, Hamburg *1955. - Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1926 41962. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. - Karl-Heinz Hillmann, Wertwandel. Zur Frage soziokultureller Voraussetzungen alternativer Lebensformen, Darmstadt 1986 21989. - Walter Jaide, Wertewandel? Grundfragen zu einer Diskussion, Opladen 1983. - Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997. - Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hg.), Wertwandel u. gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M./New York 1979. - Helmut Kuhn, Werte - eine Urgegebenheit: Neue Anthropologie, hg. v. Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler, Stuttgart, VII 1975, 343-373. Sander H. Lee (Hg.), Inquiries into Values, Lewiston, N. Y./Queenston, Ontario 1988. - Hermann Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgesch. u. Gesch. der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, 3 Bde., Leipzig 1856-1864 '1923 (PhB 185-187). - Thomas Magnell (Hg.), Explorations of Value, Amsterdam 1997. - Bernhard Mensen (Hg.), Grundwerte u. Menschenrechte in verschiedenen Kulturen, Nettetal 1988. - Friedrich Nietzsche, Jenseits v. Gut u. Böse (1886): ders., Krit. StA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/München, V 1980,9-243. - Ders., Genealogie der Moral (1887): ebd. 245 - 412. - Fritz Joachim v. Rintelen, Values in European Thought, Pam-

Wert II

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plona 1972. - M a x Scheler, Der Formalismus in der Ethik u. die materiale Wertethik (1913), Halle 1916 Bonn 7 2000. - Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, hg. v. Sepp Schelz, Hamburg 1979.

Wolfhart Henckmann

II. Theologisch 1. Der Wertbegriff in der Theologie 2. Die Funktion und Orientierungsleistung ethischer Werte 3. Zugänge des Protestantismus zur Ethik der Werte 4. Zukünftige Perspektiven einer Ethik der Werte (Literatur S. 657)

1. Der 'Wertbegriff in der

Theologie

Der Begriff ethischer Werte und die Thematik der Begründung, Geltung und Durchsetzung von Werten sind im 20. und zu Beginn des 21. Jh. ganz in das Zentrum der Ethikdebatte gerückt. Seit den siebziger Jahren des 20. Jh. haben der Wertbegriff, seine Derivate und Äquivalente - „Grundwerte", „Leitbilder", „Orientierungswissen" - eine Breitenwirkung gewonnen, die derjenigen des Begriffes „-»Verantwortung" nicht nachsteht. In der Theologie erfolgte die Rezeption des vor allem in der neuzeitlich-modernen Lebens- und Kulturphilosophie (F. -»-Nietzsche; Georg Simmel [1858-1918]) und im Neukantianismus (-»Kant/Neukantianismus) entstandenen Wertbegriffs allerdings uneinheitlich. Hierin spiegeln sich generelle Begründungsprobleme und -Unsicherheiten theologischer Ethik im Kontext von Neuzeit und Moderne wider. Besonders die katholische Morallehre hat den Wertbegriff aufgenommen. Unter Berufung auf -»Thomas von Aquino, aber auch auf I. -»Kant haben Vertreter der katholischen autonomen Morallehre (z. B. Böckle; Merks) die ethische Dimension menschlicher Subjektivität und Freiheit ins Licht gerückt und den Gedanken entwickelt, daß jeder Mensch aufgrund seiner praktischen -»Vernunft, die letztlich in der göttlichen Vorsehungsvernunft gründe und sich auf -»Gott als das höchste Gut ausrichte, eine eigenständige norm- und wertschöpferische Gestaltungskraft besitze. Hiermit vollzog die katholische autonome Moraltheorie eine programmatische Öffnung gegenüber neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie, modernem Vernunft- und Wertverständnis und dem Anliegen individueller Gewissensfreiheit. Ein durch Realitätsnähe und Alltagsbezug geprägtes Wertverständnis findet sich ebenfalls in der katholischen Soziallehre mit ihren vier Grundprinzipien, dem Person-, Solidaritäts-, Subsidiaritäts- und Gemeinwohlprinzip. Den Mittelpunkt der katholischen Position bildet freilich ein anders gelagerter Standpunkt, der einer metaphysischen Naturrechtskonzeption verpflichtet ist (—»Naturrecht) und eine ontologische oder essentialistische Begründung ethischer Werte vorträgt. Dem zufolge sind ethische Werte in Gott als absolutem Wert fundiert und bilden, der Maxime agere sequitur esse gemäß, Seinsvorgaben, die das menschliche Handeln binden sollen. Letztlich ist es dann das katholische kirchliche Lehramt, welches diejenige Auslegung von -»Normen und Werten vorträgt, an die das persönliche -»Gewissen sich zu halten hat. Eine individuelle, kontextuelle Berücksichtigung von Handlungsumständen oder Handlungsfolgen wird dadurch ausgeschlossen. Vielmehr beurteilt das katholische Lehramt bestimmte Handlungen — darunter den -»Schwangerschaftsabbruch, der den absoluten Wert des ungeborenen Lebens mißachte - von vornherein als „in sich schlecht" und untersagt sie ohne Ausnahmemöglichkeit. Auf diese Weise sucht die katholische Kirche zugleich dem von ihr beklagten Wertverfall der pluralistischen Gesellschaft entgegenzuwirken, in der eine „Entchristlichung" und „Verdunkelung fundamentaler sittlicher Grundsätze und Werte" Platz gegriffen habe (Enzyklika Veritatis splendor [1993] Nr. 106). Diese an das kirchliche Lehramt gebundene Sicht ethischer Werte ist bereits innerkatholisch strittig (vgl. den Widerspruch der bereits erwähnten autonomen Morallehre).

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Außerkatholisch läßt sich ein Verständnis ethischer Werte, das auf absolute Geltungsansprüche und formale Verbindlichkeit hinausläuft, nicht nachvollziehen. Die evangelische Theologie ging kontroverstheologisch freilich so weit, die Kategorie ethischer Werte überhaupt als „erzkatholisch" zu bezeichnen (Jüngel 93) und sie generell abzulehnen. Daß die evangelische Theologie schon seit langem Vorbehalte gegen eine Ethik der Werte hatte, zeigt sich an Äußerungen D. -»Bonhoeffers aus dem Jahr 1929. Eine Orientierung an überlieferten sittlichen Prinzipien oder Werten laufe auf Fremdbestimmung und Legalismus hinaus und sei eine Verleitung, sich durch die Verwirklichung von Werten selbst versittlichen zu wollen (Gefahr der Werkgerechtigkeit oder Selbstrechtfertigung). Weitere Vorbehalte lauten, der Wertbegriff sei durch seine ökonomische Herkunft und Konnotation diskreditiert; er verleite zum bloßen „Verwerten" (Wagner 72.128.133), zur Vergleichgültigung religiöser oder ethischer Inhalte, zum Subjektivismus oder ethischen Minimalismus (H. -»Thielicke), zur moralischen Beliebigkeit oder - anders gelagert - zum Rigorismus oder zu einem Werteplatonismus, d.h. zu einer platonisierend-überzeitlichen, metaphysischen Ethikauffassung. Obwohl sich solche Einwände entkräften lassen, ist evangelisch-theologisch vorgeschlagen worden, vom Begriff ethischer Werte vollständig abzusehen, um statt dessen auf die „wertlose Wahrheit" und ein „selbstverständliches" und „schöpferisches" Tun des Guten (Jüngel) zu vertrauen. Eine solche Position verkennt aber die Orientierungsleistung ethischer Werte für menschliches Handeln, übersieht ihre kulturelle Funktion und läuft Gefahr, einer Selbstausgrenzung evangelischer Ethik aus dem allgemeinen Ethikdiskurs Vorschub zu leisten; denn für diesen ist der Wertbegriff unverzichtbar geworden. 2. Die Funktion

und Orientierungsleistung

ethischer

Werte

Wie andere philosophische, theologische oder ethische Kategorien bedarf der Wertbegriff der begrifflichen Klärung. Ethische Werte lassen sich als Maßstäbe des Sollens und als Zielbestimmungen des sittlich Anzustrebenden definieren. Sie sind diejenigen Kriterien der Ethik, denen besonders hohe Allgemeinheit, Geltung und Verbindlichkeit zukommt. Inhaltlich gehören hierzu die Würde bzw. der nicht verrechenbare Eigenwert der menschlichen Person oder Leitbilder wie -»Freiheit, Gleichheit, —»Gerechtigkeit, -•Frieden, -»Toleranz. Ethische Werte stellen keineswegs platonische, abstrakte oder überzeitliche Ideale dar, selbst wenn klassische Werttheorien (Nicolai Hartmann [1882-1950]; M . -»Scheler oder katholische Autoren) sie als solche erachteten. Vielmehr sind Werte perspektivisch (so schon Nietzsche) und kulturell bedingt; daher sind sie geschichtlich wandelbar bzw. fortschreibungs- sowie auslegungsfähig. Zudem können „neue" Werte Geltung erlangen. Einen Beleg hierfür bietet der in den achtziger Jahren des 20. Jh. geprägte Wertbegriff der Nachhaltigkeit, der international höchste Beachtung findet, z. B. als Schlüsselbegriff der auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 verabschiedeten Agenda 21. Auch die katholische Soziallehre hat ihn aufgegriffen und, unter dem Namen „Retinitätsprinzip", zum fünften sozialethischen Grundprinzip erklärt (Handeln für die Z u k u n f t der Schöpfung, hg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, 22. Oktober 1998, Nr. 127-143). Ethische Werte gewinnen lebensweltliche Relevanz, sofern sie sich plausibilisieren, pragmatisch umsetzen und auf konkrete Handlungsentscheidungen hin operationalisieren lassen. Funktional betrachtet kommt ihnen eine mehrfache, nämlich motivierende, orientierende, entlastende, handlungssteuernde Funktion zu; sie leiten zu rationalen Abwägungen an. Neben der philosophischen hat sich besonders die katholische Ethik der Aufgabe gestellt, Abwägungs- bzw. Wertvorzugsregeln darzulegen. Diese besagen zum Beispiel, daß vor höheren geistigen Werten zunächst elementare Güter wie die Erhaltung des Lebens und Bedürfnisse der Gesundheit zu sichern sind (Vorrang der „Wertdringlichkeit" vor der „Werthöhe") oder daß das Bewahren gegenüber dem Verbessern oder daß Rechtspflichten gegenüber Tugendpflichten oder das Prinzip des Nichtschadens ge-

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genüber dem des Nutzens vorrangig sind. Überlieferte Regeln der Wertvorzugswahl oder der Güter- und Übelabwägung lassen sich zwar nicht starr und schematisch umsetzen. Dies ist besonders angesichts dessen zu betonen, daß heute ganz neuartige Wert- und Zielkonflikte aufbrechen (s. u. 4.2.). Dennoch kommt ihnen für konkrete Entscheidungsfindungsprozesse eine heuristische Funktion zu. 3. Zugänge des Protestantismus

zur Ethik der Werte

Die evangelische Theologie des 20. Jh. blieb gegenüber einer Ethik der Werte distanziert. Eine Ausnahme bildet die ethische Konzeption Arthur Richs, die die weltliche ethische Gerechtigkeit als innerweltlichen „Funktionsersatz" für die absolute Gerechtigkeit Gottes deutete und auf dieser Basis normative „Kriterien des Menschengerechten" entfaltete, die in konkrete ethische Urteile einfließen sollen. Im Unterschied zur neueren evangelischen Theologie war der ältere Protestantismus, z.B. F.D.E. -»Schleiermacher oder E. -»Troeltsch, an einer Theorie der kulturellen Güter und ethischen Werte äußerst interessiert. Leitend war das Anliegen, Christentum und Moderne miteinander zu versöhnen und das Erbe christlicher Ethik für die säkularisierte Gesellschaft aufzuzeigen. Troeltsch rückte in seiner Schrift Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906) die Freiheitsidee und die Gewissensfreiheit als Erbe des Protestantismus ins Licht. Der lutherische Theologe und liberale Parlamentarier F. -»Naumann entwarf den Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Hierdurch antizipierte er das heutige verfassungsrechtliche sowie staatenübergreifende Bemühen um Grundwerte und Grundrechte, wie sie jetzt erneut in der Grundrechtscharta der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 kodifiziert wurden. In der pluralistischen Gesellschaft und im weltanschaulich neutralen Staat ist es jedenfalls unabweisbar geworden, mit Hilfe ethischer Werte (Grundwerte) eine Grundlagenorientierung und einen ethischen Minimalkonsens zum Ausdruck zu bringen. Zu diesen Orientierungsbemühungen sollte auch die theologische Ethik beitragen. Ansatzpunkte für ihre Beteiligung am Wertediskurs ergeben sich schon allein dadurch, daß normative Leitideen der Gegenwart kulturgeschichtliche Wurzeln im Christentum haben. Dies gilt z. B. für die Menschenwürde oder den Grundwert der Gerechtigkeit oder das in neueren Menschenrechtskonventionen kodifizierte Recht auf Gesundheit. Die Menschenwürde läßt sich ausgehend von der Gottebenbildlichkeitslehre auslegen; bereits die tradierte Lehre von den göttlichen Eigenschaften brachte ethische Werte, darunter die Gerechtigkeit, zur Sprache; das Anliegen der Caritas, der Heilung und Zuwendung zu Kranken, war schon in der Alten Kirche tragend. Wenn man ethische Werte vor kulturellem Hintergrund deutet und sie als Ertrag der Geistes- und Theologiegeschichte versteht, vermeidet man eine ontologische Wertbegründung, die erkenntnistheoretisch problematisch ist, sowie ein platonisierend-überzeitliches Wertkonzept, das dem Phänomen des Wertewandels und der kulturellen Bedingtheit ethischer Werte nicht gerecht wird (vgl. Kreß, Werte). 4. Zukünftige

Perspektiven

einer Ethik der Werte

4.1. Ethische Werte dienen der Förderung und Fortentwicklung von Humanität. Heute sollte es namentlich um die Förderung von Toleranz, den Abbau von Diskriminierungen und den verbesserten Schutz Schwächerer gehen. Auf der Ebene des -»Völkerrechts stellt das Übereinkommen der -»Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 ein Beispiel für eine derartige Fortentwicklung humaner Standards dar. Die Präambel dieses Übereinkommens erinnert daran, daß bereits die UNMenschenrechtscharta von 1948 den „Glauben an die Grundrechte und an Würde und Wert des Menschen bekräftigt" und die Aufgabe ausgesprochen hat, „den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größter Freiheit zu fördern" (-»Menschenrechte/Menschenwürde 3.). Das Übereinkommen von 1989 präzisierte dies nun dahin-

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gehend, daß bereits Kinder individuelle Schutz- und Freiheitsrechte besitzen, darunter die -»Religionsfreiheit, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung. In den letzten Jahrzehnten erfolgte eine Weiterentwicklung ethischer Werte insbesondere durch die Rechtspolitik, das Verfassungs- und das Völkerrecht. Doch auch die Theologie vermag Anstöße zu vermitteln; dies zeigt exemplarisch die von Hans Küng ausgehende Initiative eines „Projekt Weltethos", welche angesichts der Globalisierung religions- und kulturübergreifende Werte des Friedens und der Toleranz neu ins Bewußtsein rückte. 4.2. Schon in der Vergangenheit trug die theologische Ethik Güter- und Wertabwägungen vor. Sogar das menschliche Leben war Gegenstand der Abwägung; es besitzt keinen „absoluten" Wert, sondern darf unter besonderen Umständen — etwa in Fällen der Notwehr, des Verteidigungskriegs, des Schwangerschaftskonflikts, der passiven oder indirekten Sterbehilfe - in eine Abwägung und zur Disposition gestellt werden. Durch den heutigen medizinisch-technologischen Fortschritt brechen in bezug auf menschliches Leben nun allerdings ganz neuartige Wert- und Zielkonflikte auf. Seit 2001 werden heftige politische, wissenschaftliche und kirchliche Kontroversen geführt, ob es zulässig ist, aus außerkörperlich erzeugten menschlichen Embryonen, die keine Chance besitzen, in einer Schwangerschaft ausgetragen zu werden, am fünften Entwicklungstag einzelne Zellen (pluripotente Stammzellen) zu entnehmen, um diese für Forschungszwecke zu verwenden. Diese medizinische Forschung soll langfristig der Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten zugute kommen. Auf diese Weise entsteht ein Wertkonflikt zwischen frühem embryonalem Leben einerseits, der Forschungsfreiheit sowie dem medizinischen Heilungsauftrag andererseits. Hieran wird exemplarisch sichtbar, daß der technische Fortschritt ganz neuartige Wertkonflikte erzeugt, angesichts derer - zumal in einer liberalen Rechtsordnung — absolute Verbotsforderungen zu kurz greifen; vielmehr sind eine angemessene Güterabwägung und ein schonender Wertausgleich vonnöten.

Doch auch sonstige kulturelle Entwicklungen machen Wertabwägungen erforderlich, die bislang unvertraut und uneingeübt sind. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2002 zu entscheiden, ob um der Religionsfreiheit willen nicht nur für jüdische, sondern auch für islamische Mitbürger das Schächten von Tieren zugelassen werden darf. Bei diesem Wertkonflikt von Religionsfreiheit versus Tierschutz hat es zugunsten der Religionsfreiheit entschieden (BVerfG l B v R 1783/99). Die theologische Ethik wird sich dem Sachverhalt zu stellen haben, daß auch sie solche neuartigen Wertkonflikte zu durchdenken und sich auf die Methoden und Argumente der Wert- und Güterabwägung einzulassen hat. 4.3. In den letzten Jahrzehnten erfolgte in den westlichen Gesellschaften ein kultureller Wertewandel, aufgrund dessen Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortlichkeit und Glück leitend wurden. Tradierte kirchlich-konfessionelle Bindungen treten zugunsten eines weltanschaulichen -»Pluralismus zurück; schon M. -»Weber hatte von einem modernen „Polytheismus der Werte" gesprochen. Daß überlieferte Wertbindungen ihre Bindungskraft verlieren, bedeutet für den Einzelnen die bislang unvertraute Aufgabe, Werte selbst wählen und sich z. B. für eine bestimmte Lebensform (Ehe; nichteheliche Lebensgemeinschaft; Alleinleben) oder sogar für eine Religion oder Weltanschauung oder für einen bestimmten Umgang mit der eigenen Gesundheit entscheiden zu können. Dies letztere betrifft z. B. die Alternative, ob man für sich selbst oder vor- oder nachgeburtlich für die eigenen Kinder genetische Diagnostik in Anspruch nehmen möchte oder ob man darauf verzichtet. Oder: In einer Patientenverfügung kann jeder für den eigenen künftigen Sterbeprozeß festlegen, daß keine künstlichen lebensverlängernden Maßnahmen erfolgen sollen (Therapiebegrenzung; passive Sterbehilfe). Die Medizinethik hebt inzwischen hervor, daß der Arzt im Umgang mit Sterbenden nicht nur eine medizinischklinische Anamnese, sondern ebenfalls eine „Wertanamnese" vorzunehmen und sich am „Wertstatus" (Sass 92), den Wertüberzeugungen der Patienten auszurichten hat. In der liberalen demokratischen Gesellschaft, die dem Grundwert der Freiheit verpflichtet ist, ist für die Bürger ein hoher Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung

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entstanden. So sehr dies als humaner Fortschritt zu begrüßen ist, werden andererseits auch Belastungen, Überforderungen und Unsicherheiten erzeugt. Daher werden die Förderung der schulischen Werteerziehung, die Werte-Bildung in der Kultur und das Anliegen, die einzelnen Menschen zu einem verantwortlichen Umgang mit ihren persönlichen Freiheitsrechten zu befähigen, zu vordringlichen Themen einer künftigen Ethik der Werte. Literatur Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 1977. - Dietrich Bonhoeffer, Grundfragen einer christl. Ethik: ders., GS, München, III 1960, 4 8 - 5 8 . - Gustav Ermecke, Die natürlichen Seinsgrundlagen der christl. Ethik, Paderborn 1941 2 1 9 8 6 . - J o h n Finnis, M o r a l Absolutes. Tradition, Revision, and Truth, Washington, D . C . 1991. - Dietrich v. Hildebrand, Christian Ethics, London 1 9 5 3 ; dt.: Christi. Ethik, Düsseldorf 1959 Stuttgart 2 1 9 7 3 . - Till Hüttenberger, Was leistet der Wertbegriff f. die Aufgaben v. Theol. u. Kirche?: Anne-Kathrin F i n k e / J o a c h i m Zehner (Hg.), Z u trauen zur Theol., Berlin 2 0 0 0 , 3 1 7 - 332. - Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit, München 1990. - H a r t m u t Kreß, Ethische Werte u. der Gottesgedanke, Stuttgart 1990. - Ders., Menschenwürde im modernen Pluralismus. Wertedebatte - Ethik der Medizin - Nachhaltigkeit, H a n n o v e r 1999. - H a n s Küng, Projekt Weltethos, München 1990. - Karl-Josef Kuschel u . a . (Hg.), Ein Ethos f. eine Welt? Globalisierung als ethische Herausforderung, Frankfurt a . M . / N e w York 1999. - KarlWilhelm Merks, G o t t u. die M o r a l , Münster 1998. - Arthur Rieh, Wirtschaftsethik, Gütersloh, I 1984. - H a n s - M a r t i n Sass, Sterbehilfe in der Diskussion. Z u r Validität u. Praktikabilität wertanamnestischer Betreuungsverfügungen: H a r t m u t Kreß/Hans-Jürgen Kaatsch (Hg.), Menschenwürde, Medizin u. Bioethik, Münster 2 0 0 0 , 8 9 - 1 1 3 . - Falk Wagner, Geld oder Gott?, Stuttgart 1985.

Hartmut Kreß

Wertethik —»Scheler, Max; -•Wert Wesley, John 1. Leben

(1703-1791) 2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 662)

1. Leben John Wesley, der Evangelist, aus dessen Wirken später viele der -* Methodistischen Kirchen entstanden, wurde am 17. Juni 1703 in Epworth (Lincolnshire) geboren und starb am 2. März 1791 in London. Er war das fünfzehnte Kind und der zweite überlebende Sohn von Samuel Wesley, dem Rektor von Epworth, und seiner Frau Susanna, geb. Annesley. Beide waren ursprünglich Dissenters (vgl. TRE 9,643ff.), jetzt aber hochkirchlich und streng royalistisch in ihren Grundsätzen (vgl. —• Anglikanische [Kirchen-]Gemeinschaft), besonders Susanna. Samuel hatte keine Bedenken, für William III. (reg. 1689—1702) zu beten, Susanna, eine unerschütterliche Anhängerin Jakobs (1633—1701), schon. Diese Differenz erzeugte einen Bruch in den ehelichen Beziehungen, der mit dem Tod von William und der Thronbesteigung der Anna Stuart (1702) nicht geheilt wurde. Eine Frucht ihrer endgültigen Versöhnung war die Geburt von John. John zufolge schrieb sein Vater eine der Verteidigungsreden, als 1709 gegen den hochkirchlichen Agitator Henry Sacheverell (um 1674-1724) das Impeachment eröffnet wurde. Die politischen Eindrücke, die John in dieser Umgebung empfing, verstärkten sich durch sein Studium in -»Oxford, wo er 1720 ein Stipendium für Christ Church erhielt, und durch den Kontakt mit seinem älteren Bruder Samuel, einem Protege des militant hochkirchlichen Bischofs Francis Atterbury (1662—1732), der 1722 als Jakobit unter öffentliche Anklage gestellt wurde. Diese politischen Traditionen, die über Jahre hinweg die Politik der Country-Partei prägten, hielten sich bei Wesley sein Leben lang. Als sein Vater 1735 starb und John sich zur Versorgung seiner Mutter - zu spät - um die Nachfolge im Rektorat von Epworth bewarb, nutzte er den Einfluß des alten Jakobiten Lord Bolingbroke (1678-1751). Während der Rebellion von 1745 sah sich Wesley genötigt, durch

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Loyalitätsbekenntnisse sein Werk zu schützen und seine Prediger vor der Rekrutierung zu retten; zur Unterstützung des Hofes ging er aber erst über mit dem Ausbruch des Aufstands in Amerika in den 1770er Jahren. Auch in anderer Hinsicht blieb Wesley von den Einflüssen seiner Herkunft geprägt. Die Vermutung läßt sich schwer von der Hand weisen, daß die Herrschaft Susannas über ihre Kinder zu deren notorischer Unfähigkeit beitrug, gelingende Beziehungen zum anderen Geschlecht aufzunehmen; nur Samuel und Charles heirateten glücklich. Auf diesem Feld war John offenkundig unbegabt, wie seine verhängnisvolle Eheschließung mit der Witwe Mary Vazeille 1751 beweist. Es war sein besonderes Unglück, daß eine seiner Lieblingsbeschäftigungen (in der er mittlerweile ein Experte war), die Seelsorge an jungen Frauen, die viele seiner besten Briefe erhielten, sich seltsamerweise als untragbar erwies für eine Frau, deren eheliche Interessen immer Wesleys Auffassung von den größeren Belangen seiner Mission untergeordnet waren. Ein anderes elterliches Erbe war Wesleys lebenslange Ablehnung des modernen Calvinismus (-»Orthodoxie II), die seine Position in der Erweckungsbewegung (—•Erweckung/Erweckungsbewegungen) als ganze isolieren sollte. Doch hatte er auch die elterliche Fähigkeit zu scharfer Kehrtwendung in religiösen Angelegenheiten geerbt. Manchmal kam es dabei zu einer Erweiterung der Ansichten, wie der starke puritanische Einfluß (-»Puritanismus) auf die Christian Library zeigt, die Wesley 1748 plante und in fünfzig Bänden von 1749 bis 1755 veröffentlichte; wenn er daneben aber hartnäckig auf Kontinuität der Überzeugung pochte oder die Verantwortung für Kontroversen zurückwies, handelte er sich mehr öffentliche Feindseligkeit ein, als unbedingt nötig gewesen wäre. 2. Werk 2.1. Frühe Entwicklungen

in England

Wesley wuchs somit in einer Partei auf, die infolge der Thronbesteigung Hannovers der Kontrolle über die Kirche und des Zugangs zur politischen Macht beraubt war, die dem Isolationismus in Kirche und Staat anhing und sich religionspolitisch dem in der Restauration entwickelten Programm des „ursprünglichen Christentums" (Primitive Christianity) auf der Basis patristischer Gelehrsamkeit verschrieb. Dies waren seine Grundlagen, als er erstmals Ende der 1720er Jahre vor die Öffentlichkeit trat. John war 1726 zum Fellow des Lincoln College in Oxford gewählt worden, hatte aber seinem Vater in der Pfarrei als Assistent gedient, bis das College ihn 1729 zur Niederlassung und zum Lehren berief. Er lieferte dann eine Anschauung von dem, was für seine Reifezeit charakteristisch sein sollte: der Fähigkeit zur Übernahme von religiösen Initiativen anderer. Sein jüngerer Bruder Charles war ihm 1726 nach Christ Church gefolgt und hatte einige Jünger mit ernster Einstellung und einer hohen Auffassung vom Sakramer.t um sich gesammelt. Sie wurden bereits als „Methodisten" verspottet - ein Ausdruck mit einer langen Geschichte und vielen Bedeutungen. Bis 1730 hatte John die Leitung der Gruppe übernommen, die sich durch seine eigenen Studenten erweiterte und andere wie Benjamin Ingham (1712—1772) und G. -»Whitefield anzog, die in seiner weiteren Geschichte eine bedeutende Rolle spielen sollten. Die Ziele der Gruppe waren -»Heiligung und Studium; ihre Mittel waren persönliche Disziplin, ausgedehnte Lektüre, regelmäßiges Gebet, Predigt und Teilnahme am Sakrament, Dienst an den Armen, den Gefangenen und den Kindern. John trübte die letzten Tage seines Vaters, als er die Rückkehr nach Epworth mit der Begründung ablehnte, daß Oxford als „Theater der Heiligung" den Vorzug verdiene. Indessen standen zwei plötzliche Wendungen bevor, die Wesley in den geistigen Einflußbereich der pietistischen Bewegung (-»Pietismus) des Kontinents brachten. Wesley bedurfte eines spirituellen Impulses für seine sehr starke Betonung der Heiligung und war versucht, ihn in der -»Mystik zu finden, wo ihn schon die schottischen episkopalen Jakobiten gefunden hatten, vor allem im -»Quietismus, zu dessen Sprecher

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und Publizisten sich P. —»Poiret gemacht hatte. In den frühen 1730er Jahren befand sich Wesley in einer Art mystischer Krise, unterstützt durch John Byrom (1692-1763), der für Poirets Textausgaben der Mystiker zu werben suchte und ihn auf Antoinette de —»Bourignon und Jeanne Marie Guyon de la Motte (1648-1717) aufmerksam machte. In dieser Entwicklungsphase standen die beiden Brüder Wesley zugleich unter dem nachhaltigen Einfluß von W. -»Law mit seinem Ideal christlicher Vollkommenheit; Law wurde zum Vertreter einer bedeutenden, auf J. —•Böhme zurückgehenden Strömung der protestantischen Mystik. Hier bahnte sich wiederum eine lebenslange Ambivalenz bei Wesley an. Er machte sich die pietistische Begeisterung für Makarius den Ägypter (-»Makarius [Symeon von Mesopotamien]), Gaston Jean-Baptiste de Renty (vgl. T R E 1,453,27ff.) und Gregorio Lopez (1542-1596) voll zu eigen; bis zum Ende seines Lebens empfahl er die quietistischen Autoren und warnte im gleichen Atemzug vor ihren Gefahren. Eine seiner letzten Handlungen bestand darin, die Hymnen seines Bruders von „mystischen" Tendenzen zu reinigen. Zwei seiner Schwierigkeiten mit den mystischen Schriftstellern teilte er mit weiten Kreisen der pietistischen Bewegung. Wie wir sehen werden, sollte Wesley die optimistische Eschatologie der Pietisten übernehmen, und die „ H o f f n u n g besserer Zeiten" begünstigte einen Aktivismus, der kaum die professionelle geistliche Disziplin der Mystiker gestattete. Und wie bei anderen Evangelikaien regte sich bei Wesley der Verdacht, daß das mystische Programm der Vereinigung mit Gott von der Zentralstellung der Lehre von der -»Buße ablenke. Als Engländer hatte Wesley seine besondere Schwierigkeit mit Mystikern wie J. Böhme und Visionären wie E. -»Swedenborg; was er sagen wollte, ließ sich nicht sagen ohne eine vorurteilslose Bezugnahme auf John Locke (1632-1704); und es war nicht abzusehen, wie Böhme und Swedenborg den Lockeschen Kriterien der Klarheit und Einfachheit (—»Deismus) genügen konnten. Doch dem breiten Spektrum von -»Okkultismus, Mystik, -»Kabbala und Paracelsismus (—»Paracelsus), aus dem F. C. -»Oetinger eine neue christliche Landkarte der Erkenntnis entwerfen sollte, konnte sich Wesley wie andere Evangelikaie kaum völlig entziehen wegen der darin enthaltenen Verteidigungsmöglichkeiten gegen ein mechanistisches Bild des Universums. 2.2. Aufenthalt

in Amerika

und Begegnung mit den

Herrnhutern

Wesleys Ubergang von einem isolationistischen Kirchenverständnis, wie es seiner politischen Haltung entsprach, zu vollem Anschluß an eine die protestantische Welt erfassende Frömmigkeitsbewegung zeigte sich in aller Deutlichkeit sechs Monate nach seines Vaters Tod im Jahre 1735, als er Oxford, dem „Theater der Heiligung", den Rücken kehrte und sich im Dienst der Georgia Trustees nach Georgia in Nordamerika einschiffte. Er hoffte, die Indianer zu evangelisieren, vor allem aber „meine eigene Seele zu retten". Das Netzwerk, das ihn rekrutiert hatte (und dem sein Vater angehört hatte), bestand vor allem aus den Georgia Trustees und der Society for the Propagation of Christian Knowledge (SPCK), von denen viele die gleichen jakobitischen Neigungen hatten wie die Wesleys. Die SPCK war indessen durch die deutschen Hofprediger in London mit der Sorge um die gefährdeten Protestanten Mitteleuropas konfrontiert worden und war nun auf der Suche nach einer Zuflucht für die durch den Salzburger Erzbischof vertriebenen Protestanten (TRE ll,226,30ff). Auf dieses erste Bekanntwerden mit den Nöten Mitteleuropas folgte auf der Auslandsreise Wesleys Begegnung mit den Herrnhutern (-»Brüderunität/Brüdergemeine) und das Erlernen ihrer Sprache aus ihrem Gesangbuch. Daraus wurde eine geistliche und intellektuelle Odyssee, denn die 33 von ihm in Georgia übersetzten Gesangbuchlieder brachten ihn mit den Hauptrichtungen zeitgenössischer protestantischer Frömmigkeit in Berührung. Bezeichnenderweise nahm er sie zu seinem geistlichen Gepäck, mit dem er bereits schwer beladen war. Die Hallischen Pastoren der Salzburger machten ihn mit der großen Fehde zwischen dem Hallischen -»Pietismus und den Herrnhutern vertraut, welche die zweite Generation der Erweckung prägte, deren Mittelpunkt damals vor allem August Gottlieb Spangenberg

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(1704-1792; vgl. TRE 7,729,10ff.) war. Er war der Leiter der Herrnhuter Unternehmung in Georgia, begrüßte Wesley bei der Ankunft und erschütterte schnell seinen geistli;hen Eigendünkel. Diese Kontakte waren viel wichtiger als alles, was Wesley sonst in Georgia erreichte. Erfolgreicher als sein Bruder Charles, vermochte er dennoch weder für sein „ursprüngliches Christentum" in seiner Gemeinde Verständnis zu wecken, noch begann er ernsthaft mit der Indianermission. Am 22. Dezember 1737 floh er zurück nach England, um einer Vorladung zu einem Gerichtsprozeß zu entgehen. 2.3. Rückkehr

nach

England

Selbstprüfung im Blick auf die in Georgia erhobenen Anklagen war der Anlaß für die zeitlich umfangreichste literarische Produktion Wesleys, seine veröffentlichten 7agebücher, deren erster Auszug 1740 erschien. Die Verbindung zu den Herrnhutern )lieb weiterhin bestimmend. Peter Böhler (1712-1775), der im Begriff war, eine Herrnluter Gruppe nach Georgia zu geleiten, kümmerte sich um Wesley bis an den Rand ;ines Bekehrungserlebnisses, das ihm am 24. Mai 1738 in der Aldersgate Street widerfuhr. Dieses historisch noch immer umstrittene Erlebnis verwirrte zweifellos Wesley selbst. Er glaubte, eine Bekehrung erfolge normalerweise plötzlich, was bei ihm eindeutig licht der Fall war. Das „Herz", das er nun „eigenartig erwärmt fühlte" (Works XVIII [1988] 250), war ein herrnhutisches Anliegen, das seiner logisch-kühlen Art fremd blieb. Seine anschließende Reise nach Herrnhut führte zum Ausschluß aus der Herrnhuter Geneinschaft, und er löste sich von der herrnhutisch dominierten Fetter Lane Society. Ebensowenig konnte Böhlers Rat, den Glauben zu predigen, bis er ihn habe, aus \fesley einen Evangelisten machen. Als er widerstrebend der Einladung Whitefields folgte, ihn bei der Predigt unter freiem Himmel in Bristol und Umgebung zu vertreten, bekam er ein Exemplar von J. Edwards' Surprtsing Work of God at Northampton, Massichusetts in die Hand, und als er fand, daß Predigen im Stil von Edwards Ergebnisse wie die von Edwards hervorbrachte, und er den Glauben predigte, bis andere ihn hitten, wurde sein eigener Glaube gestärkt, und er entwickelte einen evangelistischen Erfahrungsansatz, der ihm sein Leben lang zugute kam und ihm erlaubte, seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber abnormen psychischen Phänomenen zu überwinden. Sein Talent zur Übernahme fremder Initiativen befähigte ihn außerdem, die Früchte der Missionsarbeit anderer Männer in den Midlands und im Norden zu ernten; da er gleichzeitig selbst in der Umgebung von Newcastle wirkte, verlagerten sich die Aktivitäten sehr bald von der ursprünglichen Achse London-Bristol in alle Teile des Vereinigten Königreiches. Der frühe Methodismus (—•Methodistische Kirchen) war jedoch nicht eine verlängerte Biographie Wesleys oder lediglich ein religiöses Programm. An seinem Fbf in Leicester House erstrebte Friedrich, Prince of Wales (1707—1751), ein anderes politsches System als das seines Vaters Georg II. (1683-1760) und seines Vertrauten, des Minsters Robert Walpole (1676—1745), und zwar auf der Ebene einer Erneuerung der Nition. Philip Doddridge (1702-1751; vgl. T R E 9,644,33; 26,609,30) gab Walpole auf und war bereit, mit Wesley zusammen zu gehen; die Führer der Erweckung in -»Wales kooperierten ebenfalls mit den Engländern, wobei Wesley mit einer untergeordneten Rolle einverstanden war. Es war Whitefield, der am meisten zur Verbindung von England, Wales und Schottland beitrug und damit anhaltenden Gerüchten Nahrung gab, dAufklärung; -»Liberaler Katholizismus) und einer ultramontanen Umgestaltung (-> Ultramontanismus) der katholischen Lebensformen. 1. Leben Wessenberg wurde am 4. November 1774 in Dresden in eine ursprünglich aargauische Adelsfamilie hineingeboren. Er studierte nach Hauserziehung zunächst am ehemaligen Jesuiten-Gymnasium St. Salvator in Augsburg (ab 1790), dann an den als fortschrittlich geltenden katholischen Universitäten —>Dillingen (ab 1792), ->Würzburg (ab 1794) und -•Wien (ab 1796). Nachhaltig geprägt durch J.M. -»Sailer, wurden ihm - gegen die scholastische Ausrichtung von St. Salvator - die Heilige Schrift, die Vätertheologie und die praktische Moralphilosophie (Kant-Lektüre) und Pastoraltheologie zu bestimmenden theologischen Leitlinien. Wessenberg war in Herkunft und Karrieremuster noch ein Mann der feudalen Kirche: 1785 mit niederen Weihen versehen, wurde er 1792 als Domherr bepfründet und bereits 1802 Generalvikar in Konstanz unter Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg (1744-1817), erst 1812 folgte die Priesterweihe. Sein intellektuell verantwortetes politisches und pastorales Engagement und seine feinnervige Religiosität weisen jedoch über jede Herkömmlichkeit hinaus. Zwischen 1801 und 1821 — bis zur -»Säkularisation und Suppression des Bistums Konstanz - engagierte sich Wessenberg als Repräsentant von Hochstift und Diözese: 1801 vertrat er gegenüber der Helvetischen Republik die Interessen des Hochstifts. Auf dem Wiener Kongreß (1815) warb Wessenberg weitgehend erfolglos für die Wiederherstellung und Neuausstattung der deutschen (Erz-)Bistümer. Diese Bestrebungen waren überschattet durch Auseinandersetzungen mit dem Luzerner Nuntius Testaferrata. Auf dessen Veranlassung hin übte Rom Druck auf Dalberg aus, seinen Generalvikar zu entlassen. Die römischen zelanti verhinderten Wassenbergs Bestätigung als Koadjutor Dalbergs (1813/15), nach dessen Tod als vom Domkapitel einstimmig gewählten Kapitularvikar und Bistumsverweser (1817) und als Bischof eines südwestdeutschen Nachfolgebistums (1822). Die Religionsbürokratien Badens und Württembergs, die ihn aus je eigenen Interessen (Integration katholischer Gebiete in protestantisch dominierte neue Großterritorien durch Abschleifen konfessionell geprägter Religiosität, Instrumentalisierung der Kirche für die Intensivierung der ländlichen Wirtschaft, Bildung und Verwaltung) in diesem Amt wünschten, ließen ihn aus realpolitischen Erwägungen fallen. Dennoch leitete Wessenberg das Rumpfbistum Konstanz (badischer Teil) bis zur Erstbesetzung der neuen Bischofsstühle (1827) - unter dem Vorwurf der Preisgabe kurialistischer Maximen und der Kompetenzüberschreitung, aber mit einer intangiblen persönlichen Integrität und Spiritualität. Parallel zu diesen kirchenpolitischen Vorgängen wirkte Wessenberg als Pastoralreformer, der mit einer im deutschen Sprachraum ohne Vergleich dastehenden Intensität und konzeptionellen Klarheit an der Vertiefung und inhaltlichen Neuausrichtung der Klerusbildung, der Gemeindepastoral und der Liturgie arbeitete. Wessenberg grenzte sich mehrfach gegen Radikalisierungen seiner Reformbestrebungen ab. Er verweigerte den „Liberalkatholiken", die auf eine konstitutionelle Umprägung der Kirchenverfassung nach politischen Vorbildern zielten, seine Zustimmung ebenso wie den „Zölibatsstürmern" (um 1830), die von einem bürgerlichen Religionsverständnis her „menschenrechtlich" argumentierten. Scharf distanzierte er sich, bleibend überzeugt von seinem Grundanliegen der Einheit und Harmonie in der Kirche, 1845 vom Deutschkatholizismus (—•Deutschkatholiken): „Wie können Sie von der Stiftung einer Sekte . . . eine Reform der Kirche erwarten?", schrieb er an den führenden Prediger Johannes Ronge (Holzem 171). Von 1819 bis 1833 war Wessenberg Mitglied der ersten Kammer des Badischen Landtags und widmete sich der Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in dem Bemühen, dadurch auch die religiöse Aufklärung in der breiten Bevölkerung zu verankern. Vom

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Wessenberg

Konservatismus zahlreicher Standesherren enttäuscht, zog er sich nach 1833 als Privatgelehrter zurück. Er blieb in (schwindenden) Teilen des Katholizismus, in Gelehrten-, aber auch in Regierungskreisen ein geachteter Gesprächspartner und Berater. In seinen späten Lebensjahren bis zu seinem Tod am 9. August 1860 gingen die Entwicklungen des südwestdeutschen Katholizismus (Ultramontanisierung, Badischer Kirchenstreit) über den teils weiterhin hoch Geschätzten hinweg. 2. Werk Wessenbergs Werk ist trotz eines reichen publizistischen Nachlasses vor allem als praktisches Wirken zu umschreiben. Mit seinen kirchenpolitischen Anliegen scheiterte Wessenberg, der zeitlebens ein quasi monarchisches Primatsverständnis ( - * Kirchen Verfassungen; -»Papsttum) ablehnte und die Stellung Roms in der Tradition der alten Kirche als Mittelpunkt der Einheit verstand, die die Eigengewalt der Bischöfe nicht beeinträchtigte. Während der Krisenzeit des Papsttums in der -*Napoleonischen Epoche betrachtete Wessenberg päpstliche Reservatrechte als an die bischöfliche Gewalt zurückgefallen. Das Konzept, die Unabhängigkeit einer erneuerten, primatial geleiteten „Deutschen Kirche" von der Religionsbürokratie der Mittelstaaten durch ein Konkordat mit dem deutschen Staatenbund unter (eingeschränkter) Beteiligung Roms zu sichern, war realpolitisch wenig aussichtsreich: Eine solche Koordination von Kirche und Staat als austarierte Balance wechselseitiger Schutzpflicht und Einflußbegrenzung war gegen das landeskirchliche Interesse vornehmlich Bayerns und Württembergs wie gegen die zentralistischen Kräfte in Rom nicht durchsetzbar und wurde später als Auslieferung einer vermeintlich rom-freien deutschen Landeskirche an die Staatsinteressen desavouiert. Am 16. August 1821 beendete die Neuumschreibung der südwestdeutschen Bistümer (päpstliche Bulle Provida solersque) die Geschichte des Bistums Konstanz mit dem Ziel, den Wirkungsbereich seines letzten Generalvikars zu treffen. Für die Wirkungsgeschichte Wessenbergs wird seine Rolle als Pastoralreformer entscheidend. Die Maßnahmen zielten zunächst auf den Klerus: Durch die Neuordnung des Priesterseminars in Meersburg mit einem obligatorischen Pastoralkurs (auch für den säkularisierten Ordensklerus), die Einführung von Konkursprüfungen und Pastoralkonferenzen und die Veröffentlichung ihrer besten Erträge in einer Seelsorger-Zeitschrift (Archiv für die Pastoralkonferenzen ...) sollten nicht nur die Bildung, der Lebensstil und die ethische Vorbildlichkeit, sondern auch die dauernde Reflexion und Weiterbildung und der problembearbeitende kollegiale Austausch der Geistlichen wachsen. Der wessenbergisch geprägte Klerus blieb bis zur Mitte des 19. Jh. im Südwesten einflußreich. Ein Teil der Priester, führend die Ordensgeistlichen großer Wallfahrtskonvente der Schweiz und die „Salpeterer-Pfarrer" im Südschwarzwald, agierte scharf gegen die Reformen und stützte die konservative Resistenz ihrer Seelsorge-Klientel. Die Reformen beeinflußten zweitens Pfarrgemeinde und Liturgie: sie zielten auf einen in Teilen volkssprachlichen, textlich und musikalisch mitvollziehbaren Gottesdienst, auf eine biblisch-moralisch getönte Predigt, auf Christenlehre und Ausbau des stark religiös geprägten Volksschulwesens. Damit einher ging die Verdrängung dessen, was Wessenberg als „Gestrüpp von Mißbräuchen und Unordnungen" (vgl. Bischof, Ende [1989] 266) betrachtete: Der ebenso facettenreiche wie inhomogene, im Zuge der Konfessionalisierung (-»Katholische Reform und Gegenreformation) gewachsene Kosmos von Nebenandachten, Wallfahrten, Heiligenkulten, Bruderschaften und brauchreligiösen Formen (-»Volksfrömmigkeit) mit seiner ausgeprägten Sachkultur wurde als äußerlich und geistlos verdächtigt und als einer Christusverehrung „im Geist und in der Wahrheit" entgegenstehend unterbunden. Das „Pfarrprinzip" sollte das „Auslaufen" verhindern. Die Religionsgesetzgebung der Ära Wessenberg (s.u. Quellen 5.: Wessenbergs Diözesanverordnungen) war so umfassend wie restriktiv. Gegnern oder verständnislos Betroffenen erschienen die Maßnahmen als rigorose Beeinträchtigung oder „Protestanti-

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sierung". Zudem waren staatliche und kirchliche Zugriffsinteressen auf die ländliche Religionskultur und Wirtschaftsweise nicht leicht zu trennen, auch wenn sich Wessenberg gegen eine Vereinnahmung der Geistlichen als Agenten der „Landes-Polizey" stets gewehrt hat. Vornehmlich in die Zeit nach 1833 fällt ein reiches schriftstellerisches Œuvre. 18351839 erschienen in acht Bänden Die wichtigsten Begebnisse der Fastoralkonferenzen ..., ein Handbuch der Pastoralpraxis in Auszügen aus der Zeitschrift Archiv für die Pastoralkonferenzen. Als Hauptwerk gilt Die großen Kirchenversammlungen des ISten und 16ten Jahrhunderts . . . (4 Bde., Konstanz 1840), das Wessenbergs Vorstellung einer konziliar-synodalen Kirchenverfassung (-»-Konziliarismus) historisch legitimieren sollte (vgl. als Gegenschrift die Konziliengeschichte des ultramontanen Tübinger Kirchenhistorikers C . J . —»Hefele). Vor dem synthetischen, als geistiges Testament gedachten Alterswerk Gott und die Welt oder das Verhältniß aller Dinge zu einander und zu Gott (Heidelberg 1857) entstanden zahlreiche Denkschriften, Broschüren, Zeitschriftenbeiträge, Gebetstexte und Pastoralschreiben, aber auch Dichtungen und Hymnen. Wessenberg veranlaßte die Produktion neuer Gesang- und Andachtsbücher (v.a. Konstanzer Gesang- und Andachtsbuch 1812 mit „deutschen Vespern"; deutsches Rituale 1831) und zahlreicher pastoraltheologischer Abhandlungen und war zudem ein unermüdlicher Korrespondent. 3. Wirkung Um 1900 galt Wessenberg im katholischen Milieu als „starrsinnigster Vertreter" des -»• Josephinismus nach Joseph II. selbst; sein Wirken habe „nicht Leben, sondern hundertfältig Tod und Ruinen hervorgebracht" (Augustin Rösch, zit. nach Bischof, Ende [1989] 251). Im Horizont der Identifizierung der Aufklärung mit teilsäkularisiertem Protestantismus und katholizismusfeindlichem Liberalismus und angesichts der kultur- und staatskritischen Distanzierung von der modernen Gesellschaft galt Wessenberg seinen Gegnern schon zu Lebzeiten als Exponent einer verfehlten Preisgabe vermeintlich katholischer, faktisch restaurativ-ultramontaner (kirchen-)politischer Legitimationen, Bekenntnischarakteristika und Frömmigkeitsstile. Seine Intentionen wurden hier teils verfehlt, teils verleugnet; den äußeren Bedingtheiten seiner Arbeit wurde kaum Rechnung getragen. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde Wessenberg als Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils (-»-Vatikanum I und II) rehabilitiert. Er galt als Vorläufer der deutschsprachigen Volksliturgie (->Liturgische Bewegungen) und als Vertreter eines Kirchenverständnisses, das sich von einem konservativ getönten römischen Zentralismus distanzierte. Diese Phase ist für die quellenkritische Aufarbeitung von Wessenbergs Werk die bislang fruchtbarste. Jüngste Studien diskutieren frömmigkeits- und kulturgeschichtlich die Rezeption der Pastoralreformen Wessenbergs und rekonstruieren jene Hemmnisse und Widerstände in ländlichen Regionen, die sich aus dem spezifischen Heilsbedürfnis und religiösen Erwartungshorizont einer naturabhängigen agrarischen Lebenswelt und aus den Repräsentationsnotwendigkeiten einer rangbewußt strukturierten Lokalgesellschaft in den symbolischen Formen des religiösen Brauchtums ergaben. Die als „Eigensinn" hervortretende, vielschichtig-uneindeutige Verflechtung von Religion und Gesellschaft, die Wessenberg zugunsten einer „reinen" und „wahren" Andacht entflochten sehen wollte, wurde als kommunaler Kontext des Christentums hartnäckig, teils tumultuarisch verteidigt. Wessenberg, hymnisch gefeiert und zutiefst verabscheut, bleibt als Person und Pastoralreformer ein Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung des Katholizismus mit der anbrechenden Moderne. Quellen 1. Gedruckte Werke: Geistliche Monatsschr. mit bes. Rücksicht auf das Bisthum Constanz, Meersburg 1 8 0 2 - 1 8 0 3 . - Archiv f. die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz, Meersburg/Freiburg i.Br. 1 8 0 4 - 1 8 2 7 . - Die wichtigsten Ergebnisse der Pastoralkonfe-

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renzen im Bisthum Konstanz v. 1802-1827 in syst. Zusammenhängen geordnet, oder Das Archiv der Pastoralkonferenzen im Bisthum Konstanz, im Auszuge, 8 Bde., Ehingen 1835-1839. - Unveröff. Mss. u. Briefe, Freiburg i.Br./Basel/Wien; 1/1. Autobiographische Aufzeichnungen u. Briefe, hg. v. Kurt Aland/Wolfgang Müller, 1968; II. Die Briefe Johann Philipps v. Wessenberg an seinen Bruder, hg. v. Kurt Aland, 1987; III. KS, hg. v. dems., 1979; IV. Tagebücher, hg. v. dems., 1970. 2. Größere edierte Briefsammlungen: Aland/Müller (s.o. zu 1.) 1968. - Bibliogr. der Badischen Gesch., VI 1973; VII 1979 (s.u. zu 6.) [f. einzeln publ. Briefe oder kleinere Texte Wessenbergs], Der Briefwechsel 1806-1848 zw. Ignaz Heinrich v. Wessenberg u. Heinrich Zschokke, bearb. v. Rudolf Herzog/Ottmar Pfyl, 1990 (QSG). - Eduard Hegel, Dereser u. Wessenberg: FDA 73 (1953) 8 8 - 1 1 6 . - Walter Lipgens, Z u m Briefwechsel des Grafen Ferdinand August Spiegel mit Ignaz Heinrich v. Wessenberg (1815-1818): Z G O 109 (1961) 8 8 - 1 3 2 . - Ignaz Heinrich v. Wessenberg, Unveröff. Mss. u. Briefe 1/1. (s.o. zu 1.). - Ignaz Heinrich Reichsfreiherr v. Wessenberg. Briefwechsel mit dem Luzerner Stadtpfarrer u. Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller in den Jahren 1801 bis 1821, hg. v. M a n f r e d Weitlauff/Markus Ries, 2 Bde., 1994 (QSG). 3. Ungedruckter Nachlaß: Teile im Stadtarchiv Konstanz, in der Universitätsbibliothek Heidelberg u. in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (vgl. Bischof, Ende [1989] 11 — 14; vgl. Kurt Aland, Wessenberg-Studien I: Z G O 95 [1943] 5 5 0 - 620, bes. 552-586). 4. Archivalien des Bistums Konstanz: FDA 94 (1974) 270-616.

Bernd Ottnad, Die Archive der Bischöfe v. Konstanz:

5. Wessenbergs Diözesanverordnungen: Vollst., hist. u. krit. bearb. Sammlung der württembergischen Gesetze, hg. v. August Ludwig Reyscher. X. Enthaltend die kath. Kirchen-Gesetze vom Jahre 1803 bis zum Jahre 1834 u. die Einl. in dieselben, hg. v. Johann Jakob Lang, Stuttgart/ Tübingen 1836. 6. Bibliographien: Bibliogr. der Badischen Gesch., begr. v. Friedrich Lautenschlager, bearb. v. Werner Schulz, Stuttgart; VI. Personengesch. Lit. (bis einschließlich 1959), 1973, 6 4 2 - 6 4 5 (Nrn. 37.793-37.825); VII. Personengesch. Lit. der Jahre 1960-1972, 1979, 709 - 711 (Nrn. 5 1 . 2 9 9 51.315). - Das Bistum Konstanz (s.u. Lit.) 4 8 5 - 4 8 9 . - Gründig (s.u. Lit.) 473 - 5 0 0 . - Werkverz. mit 460 gedr. Titeln: Kurt Aland, Wessenberg-Stud. III: Z G O 105 (1957) 475 - 511. Literatur

(ab 1980)

Werner Bänziger, „Es ist freilich schwer, sein eigenes Bild mit Treue zu malen . . . " . Die Autobiographien v. Pestalozzi, Zschokke u. Wessenberg, Frankfurt a.M. 1996. - Remigius Bäumer, Das Verhältnis v. Staat u. Kirche in der Sicht v. Ignaz Heinrich v. Wessenberg: Kirche, Staat u. kath. Wiss. in der Neuzeit. FS Heribert Raab, hg. v. Albert Portmann-Tinguely, Paderborn 1988, 2 7 9 - 2 9 7 . - Die Bischöfe v. Konstanz, hg. v. Elmar L. Kuhn/Eva Moser/Rudolf Reinhardt/Petra Sachs, Friedrichshafen, I 1988. - Franz Xaver Bischof, Die Konkordanzpolitik des Kurerzkanzlers u. Fürstprimas Karl Theodor v. Dalberg u. seines Konstanzer Generalvikars Ignaz Heinrich v. Wessenberg in den Jahren 1803-1815: ZKG 108 (1997) 7 5 - 9 2 . - Ders., Ignaz Heinrich v. Wessenbergs Bemühungen um die Fortbildung der Priester: RoJKG 14 (1995) 9 1 - 1 0 8 = M T h Z 46 (1995) 9 9 - 1 1 7 . - Ders., Der Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich v. Wessenberg im Spiegel der Ber. des Luzerner Nuntius Fabrizio Sceberras Testaferrata (1803-1816): ZKG 101 (1990) 1 9 7 224. - Ders., Das Ende des Bistums Konstanz, Stuttgart/Berlin/Köln 1989 (MKHS 1). - Ders., Das Ende des Hochstifts u. Bistums Konstanz: Die Bischöfe v. Konstanz (s.o.) 45-55.435. - Das Bistum Konstanz, das Erzbistum Mainz, das Bistum St. Gallen, bearb. v. Franz Xaver Bischof u.a., Basel/ Frankfurt a.M. 1993 (HelSac 1/2) 479 - 489. - Karl-Heinz Braun, Hermann v. Vicari u. Ignaz v. Wessenberg: FDA 107 (1987) 213 - 236. - Ders. (Hg.), Kirche u. Aufklärung. Ignaz Heinrich v. Wessenberg (1774-1860), München 1989. - Maria E. Gründig, „ Z u r sittlichen Besserung u. Veredelung des Volkes". Z u r Modernisierung kath. Mentalitäts- u. Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jh., Stuttgart 1997. - Andreas Holzem, Kirchenreform u. Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken u. Ultramontane am Oberrhein 1844-1866, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994 (VKZG.F 65). - Arnulf Moser, Wessenberg, Abbé Gregoire Girard u. die franz. Revolution: FDA 111 (1991) 229 - 2 4 8 . - Arnulf Moser, Wessenberg u. die Toleranz: Francia 19 (1992) 9 7 - 1 0 1 . Klaus Oettinger, Das literarische Œuvre Wessenbergs: Die Bischöfe v. Konstanz (s.o.) 2 3 0 - 2 3 8 . - Vadim Oswalt, Staat u. ländliche Lebenswelt in Oberschwaben 1810-1871, Leinfelden-Echterdingen 2000 (Sehr, zur südwestdt. Landeskunde 29). - Andrea Polonyi, „Aufklärung" im Bistum Konstanz vor Ignaz Heinrich v. Wessenberg?: RoJKG 10 (1991) 203-215. - Bruno Schmid, Kath. Aufklärung u. Heilig-Blut-Verehrung: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten. 1094-1994, hg. v. Norbert Kruse, Sigmaringen 1994, 5 0 1 - 5 1 8 . - Ursula Speckamp, Vervollkommnung des Menschen auf Gott hin durch das Schöne. Ignaz Heinrich v. Wessenberg als Literaturkritiker . . . : FDA 103 (1983) 2 0 7 - 2 4 4 . - M a n f r e d Weitlauff, Ignaz Heinrich v. Wessenberg (1774-1860): Die

West- und Ostpreußen

667

Bischöfe v. Konstanz (s.o.) 4 2 1 - 4 3 3 . 4 6 4 - 4 6 6 . - Ders., Z w . kath. Aufklärung u. kirchl. Restauration. Ignaz Heinrich v. Wessenberg ( 1 7 7 4 - 1 8 6 0 ) : R o J K G 8 (1989) 1 1 1 - 1 3 2 . - Ders., Ignaz Heinrich v. Wessenbergs Bemühungen um eine zeitgemäße Priesterbildung: Papsttum u. Kirchenreform. FS Georg Schwaiger, hg. v. dems./Karl Hausberger, St. Ottilien 1990, 5 8 5 - 6 5 1 . - Ders., Kirche u. Staat im Kanton Luzern. Das sog. Wessenberg-Konkordat vom 19. Februar 1806: Z K G 101 (1990) 1 5 3 - 1 9 6 . - H a n s Wicki, S t a a t - K i r c h e - R e l i g i o s i t ä t . Der Kanton Luzern zw. barocker Tradition u. Aufklärung, Luzern/Stuttgart 1990 (Luzerner Historische Veröffentlichungen 26) 3 5 1 - 3 9 1 .

Andreas Holzem West- und Ostpreußen 1. Territoriale Entwicklung und kirchliche Verwaltung 2. Das 16. Jahrhundert 3. Das 17. Jahrhundert 4. Das 18. Jahrhundert 5. Das 19. Jahrhundert: Zwischen Landeskirche und Freikirche 6. Das 20. Jahrhundert: Weimarer Republik und „Drittes R e i c h " (Quellen/Literatur S. 6 7 3 )

1. Territoriale

Entwicklung

und kirchliche

Verwaltung

Mit dem Zweiten Frieden von Thorn (1466) wurde der Ordensstaat Preußen (zur Vorgeschichte -»Preußen) in ein dem Königreich Polen zugeschlagenes „Königliches Preußen" (grob gesagt das Gebiet der späteren Provinz Westpreußen) und den verbliebenen Ordensstaat mit der Residenzstadt Königsberg (grob gesagt das Gebiet der späteren Provinz Ostpreußen) geteilt. Der im Zuge der Reformation zum Herzogtum säkularisierte Ordensstaat fiel 1618 als polnisches Lehen an den brandenburgischen Kurfürsten, 1660 einschließlich der Lehnshoheit. 1701 krönte sich Kurfürst Friedrich III. (1657-1713) im ostpreußischen Königsberg zum König in Preußen. Dieser Akt begründete das Königreich Preußen, dessen Mythos seither eng mit den preußischen Stammlanden verknüpft war. In der Ersten Polnischen Teilung 1772 erhielt Preußen zusätzlich Westpreußen, das Ermland sowie den Netzedistrikt, 1793 in der Zweiten Polnischen Teilung auch Danzig und Thorn. Friedrich II. der Große (1712-1786) nennt sich jetzt König von Preußen. Als nach den Napoleonischen Kriegen Preußen als europäische Mittelmacht restituiert wurde, bildeten West- und Ostpreußen zwei von zehn Provinzen (1815 „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden"). 1829 zur Provinz Preußen vereinigt, wurden West- und Ostpreußen 1878 jedoch wieder getrennt. 1919 fiel der größte Teil Westpreußens als „Polnischer Korridor" an Polen (Pommerellen). Danzig und Umgebung wurde Freie Stadt. Das Gebiet um Marienwerder kam als Regierungsbezirk Westpreußen zur Provinz Ostpreußen. Aus Kreisen im Westen Westpreußens und Teilgebieten Posens entstand die „Grenzmark Posen-Westpreußen". Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 wurden der Regierungsbezirk Westpreußen, Danzig und Pommerellen zum „Reichsgau Danzig-Westpreußen" zusammengeschlossen. 1945 fiel im Potsdamer Abkommen der nördliche Teil Ostpreußens unter sowjetische Herrschaft. Der südliche Teil und Westpreußen wurden zu Polen geschlagen. Dieser Zustand wurde 1990 im Zwei-Plus-Vier-Vertrag für endgültig erklärt. Die kirchliche Verwaltung in den west- und ostpreußischen Gebieten lief der territorialen und politischen Entwicklung weitgehend parallel. Charakteristisch für die Wahrnähme des ius episcopale durch die preußischen Landesherrn war das Konsistorialprinzip (-*Konsistorium), das regionalen Besonderheiten Rechnung trug, das Kirchenwesen insgesamt aber der staatlichen Verwaltung mehr oder weniger eingliederte. Als im Zuge der Verwaltungsreformen Friedrichs des Großen 1750 ein lutherisches Oberkonsistorium in Berlin eingerichtet wurde, hatte dies Folgen auch für die west- und ostpreußischen Gebiete: das in Ostpreußen bestehende samländische Konsistorium wurde preußisches Konsistorium, das pomesanische Konsistorium wurde aufgehoben, die Konsistorialbefugnisse in Westpreußen durch die Regierung in Marienwerder wahrgenommen. Seit 1815 gehörten West- und Ostpreußen als Kirchenprovinzen mit eigenem Konsistorium zur preußischen Landeskirche (zwischen 1829 und 1878 als Kirchenprovinz Preußen).

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West- und Ostpreußen

1919 bildeten Danzig und die Grenzmark Posen-Westpreußen eigene Kirchenprovinzen innerhalb der neu begründeten preußischen Landeskirche. Die Gemeinden des Regierungsbezirks Westpreußen kamen zur Kirchenprovinz Ostpreußen. Die Gemeinden in Pommerellen wurden zur Unierten Evangelischen Kirche in Polen zusammengeschlossen. Dem 1939 geschaffenen „Reichsgau Danzig Westpreußen" entsprach später das „Kirchengebiet Danzig-Westpreußen". 2. Das 16.

Jahrhundert

2.1. Die Reformation

im Herzogtum

Preußen

1523 leitete der samländische Bischof Georg von Polenz (1478-1550) in seiner Weihnachtspredigt im Königsberger Dom die Wende zum Luthertum ein. Er säkularisierte sein Bistum im Jahre 1525. Der pomesanische Bischof Erhard Queis (gest. 1529) vollzog diesen Schritt 1527. Ihnen zur Seite standen in -»Wittenberg geschulte Geistliche wie Johannes Briesmann (1488-1550) und Paul Speratus (1484-1551). Speratus entstammte einer wohlhabenden schwäbischen Familie. N a c h dem Studium in Freiburg i. Br. (?), Paris und Italien promovierte er in allen drei oberen Fakultäten. Als ein glühender Anhänger J . - » E c k s erhielt er die W ü r d e eines „päpstlichen und kaiserlichen Pfalzgrafen" und stieg im H o c h stift W ü r z b u r g bis zum Würzburger Domprediger auf. Im November 1521 mußte er fliehen, weil er sich der Reformation angeschlossen hatte. Auf der Flucht hielt er im Stephansdom in Wien eine aufsehenerregende reformatorische Predigt, die ihm die förmliche Exkommunikation der theologischen Fakultät einbrachte.

Vom Herbst 1523 bis zum Sommer 1524 hielt sich Speratus bei Luther in Wittenberg auf. Er ist Mitverfasser des ersten evangelischen Gesangbuchs (-»Kirchenlied I.4.). Luther vermittelte ihn als Schloßprediger nach Königsberg. 1529 wird er Bischof von Pomesanien. Speratus' originäre Leistung liegt weniger auf dem theologisch-dogmatischen als auf dem pastoralen Sektor. Als Bischof achtete er auf die Reinerhaltung der lutherischen Lehre, die er gegen die Schwenckfeldianer (-»Schwenckfeld/Schwenckfeldianer) 1531 beim Religionsgespräch zu Rastenburg ebenso erfolgreich durchsetzte wie im Osiandrischen Streit, in den er gleich zu Beginn gutachterlich eingriff. Speratus' Wirken zeigt, daß Preußens Hinwendung zur Reformation geistlich vorbereitet war. Es handelte sich nicht nur um den politisch motivierten Ubertritt -»Albrechts von Preußen. Im Hintergrund stand zudem Luthers Schrift An die Herren Deutschs Ordens (1523), in welcher Luther zur Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Territorium geraten hatte. Die Festigung der Reformation erfolgte auf allen Ebenen. Seit 1528 trugen -»Visitationen zur Hebung des materiellen und theologischen Niveaus der Gemeinden bei. 1530 wurden Synoden eingerichtet. 1544 wurde nach Wittenberger Vorbild die Universität in -»Königsberg gegründet. Die Berufung A. -»Osianders (1549) brachte der Kirche allerdings zunächst tiefgreifende Auseinandersetzungen um die Rechtfertigungslehre (-»Rechtfertigung), die bis ins Politische hinein ihre Auswirkungen hatten. Erst die Einführung der Kirchenordnung von 1568 beendete den „Osiandrischen Streit" zugunsten der Wittenberger Orthodoxie. Sie ermöglichte die Rückkehr der des Landes verwiesenen Theologen J. -»Mörlin und Georg von Venediger (um 1519—1574). Mörlin und Venediger stellten die dritte Generation in der Reihe reformatorischer Bischöfe in Preußen. Ihre Nachfolger waren T. -»Heshusius und J. -»Wigand. 1587 sistierte Herzog Georg Friedrich (1539—1603) die Bischofsverfassung, als er die Bistümer Samland und Pomesanien durch Konsistorien in Königsberg und Saalfeld ersetzte. 2.2. Reformation

und Gegenreformation

im Königlichen

Preußen

Der Übertritt Albrechts und die Umwandlung des Ordensstaates stärkte die unter König Sigismund I. von Polen (1506-1548) unter Druck geratene reformatorische Bewegung. Seit 1522 wirkten hier reformatorische Theologen wie Jakob Hegge (geb. um

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West- und Ostpreußen

1490) und Pankratius Klemme (ca. 1475-1546), so daß 1580 etwa 162 evangelische Kirchen bestanden. Danzig, Elbing und Thorn entwickelten sich zu Zentren protestantischer Bildung und Kultur. Die unter Sigismund III. (1587-1632) einsetzende Gegenreformation (-»-Katholische Reform und Gegenreformation) nahm Formen einer regelrechten Verfolgung an. Lediglich Danzig konnte sich dieser durch die Jesuiten getragenen Offensive entziehen. Auch die schwedisch-polnischen Kriege (1626-1635/1655-1660) brachten letztlich eine Stärkung des Katholizismus. Als sich 1655 das Kloster Czenstochau gegen die schwedische Übermacht verteidigen konnte, erklärte König Johann Kasimir die Jungfrau Maria zur „Königin Polens". Schon zuvor hatte sich der Protestantismus durch jahrzehntelange Streitigkeiten um die Abendmahlsauffassung freilich auch selbst geschwächt. Zwar wurden diese in der Konkordienformel von 1562 in Sinne des Luthertums entschieden. Als diese Lösung von den ostpreußischen Gnesiolutheranern jedoch als zu wenig orthodox kritisiert wurde, gründete man in Danzig ein unabhängiges Geistliches Ministerium. Dieses berief 1580 den reformierten Prediger Johann Fabricius an die dortige Trinitatisgemeinde. Der nun ausbrechende „Kanzelkrieg" dauerte 32 Jahre. Die lutherische Bürgerschaft wandte sich schließlich an den König und erwirkte einen Ausschluß der Reformierten von allen öffentlichen Ämtern. Theologen wie Johann Corvin (ca. 1583-1646), Johann Botsack (1600-1674) und A. ->Calov bestimmten fortan die Politik des Danziger Geistlichen Ministeriums in streng lutherischen Sinne (Scheitern des „Liebreichen Religionsgesprächs" von Thorn [1645] zwischen katholischen, lutherischen und reformierten Theologen; vgl. T R E 28,663,22-40). Auch protestantischen Sekten wie den Mennoniten (-»Menno Simons/Mennoniten) trat man schroff ablehnend gegenüber. Für Juden bestand seit 1530 ein Niederlassungsverbot. 3. Das 17.

Jahrhundert

3.1. Das Herzogtum

Preußen (Ostpreußen)

unter reformierter

Landesherrschaft

Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst (1620-1688), nahm während seiner Regierungszeit (1640-1688) das landesherrliche ius episcopale energisch wahr. Befürchtungen, das seit 1613 von den Hohenzollern angenommene reformierte Bekenntnis (vgl. T R E 27,364,44-365,20) könnte nun flächendeckend durchgesetzt werden, erhielten Auftrieb, als Friedrich Wilhelm auch die Lehnshoheit über Preußen erwarb. Doch verfolgte der als Statthalter eingesetzte Fürst Boguslaus Radziwill (1620-1669) eine gemäßigte Religionspolitik. Friedrich Wilhelm setzte zwar den Bau einer reformierten Kirche in Königsberg durch, erkannte aber die bestehenden Rechte der Lutheraner an. Bemühungen, die Koexistenz der Konfessionen durch die Berufung calixtischer Theologen wie Christian Dreier (1610-1688), Johann Latermann (1620-1682) oder später Melchior Zeidler (1630-1686) an die Albertina zu fördern, riefen heftige Reaktionen der Gnesiolutheraner hervor, darunter von Coelestin Mislenta (1588-1653), Domprediger und Rektor der Universität. 3.2. Das Königliche gen"

Preußen (Westpreußen)

im Zeichen

der

„Dissidentenverfolgun-

Im Königlichen Preußen ging die Gegenreformation nach den Schwedisch-Polnischen Kriegen 1668 nahtlos über in die sog. „DissidentenVerfolgungen". Einem entsprechenden Gesetz folgte 1674 das Verbot protestantischer Gottesdienste. Die Evangelischen wurden gezwungen, an katholischen Messen und Prozessionen teilzunehmen, evangelische Kirchen wurden enteignet. In Danzig dekretierte König Johann III. (1629-1696) den Einzug von sechs Katholiken in die Bürgerschaft. 1678 machten sich antipolnische und -katholische Ressentiments dort in der Zerstörung und Plünderung des Karmeliterklosters Luft („Karmelitertumult").

670

West- und Ostpreußen

1668, 1670 und 1676 wandten sich reformierte Adelige und lutherische Gemeinden an den Großen Kurfürsten, der auf diese Weise zum Schutzherrn der Protestanten avancierte. Dieser gewährte finanzielle Unterstützung und nahm Glaubensflüchtlinge auf. 4. Das 18.

Jahrhundert

4.1. Ostpreußen

im Zeichen konfessioneller

Toleranz

Die verheerenden Folgen des -»Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) brachte die Wiederbelebung der Visitationspraxis. Erst die Maßnahmen Friedrich Wilhelms I. (reg. 1688-1740) erzielten nachhaltige Verbesserungen. Der König betraute den Königsberger Theologieprofessor Heinrich Lysius (1670-1731), einen aus Schleswig stammenden Schüler A.H. -»Franckes, mit dem Retablissement in Ostpreußen. Lysius stieß als pietistisch geprägter „Ausländer" aber insbesondere in Preußisch Litauen auf Widerstände des gnesiolutherischen Kirchenvolkes. In Lysius' Nachfolge waren noch andere Theologen an diesem Reformwerk beteiligt, darunter Jacob Quandt (1686-1772), Abraham Wolf (1680-1731), Georg Friedrich Rogall (1701-1733) und Franz Albert Schultz (1692-1763). 1732 setzte der König die „Perpetuirliche Kirchen- und Schulkommission" ein. Die von Schultz 1734 herausgegebene „Erneute und erweiterte Verordnung über das Kirchen- und Schulwesen" stellte das Reformwerk auf eine regelmäßige Grundlage. Die vorrangigen Aufgaben des Retablissements hatten konfessionelle Streitigkeiten zwischen Reformierten und Lutheranern weithin in den Hintergrund treten lassen. Hinzu kam der mäßigende Einfluß des -•Pietismus, der die praktische Frömmigkeit in den Vordergrund rückte. In diesem Sinne hatte auch Friedrich Wilhelm I. die Geistlichen angewiesen, sich konfessioneller Polemik auf den Kanzeln zu enthalten. Während der Regierungszeit Friedrichs II. des Großen (1740—1786) setzte sich der Prozeß der Nivellierung konfessioneller Gegensätze im Zeichen aufgeklärter religiöser -»Toleranz fort. 4.2. Westpreußen zwischen Religionskrieg

und

Toleranzprinzip

Eine vorübergehende Verbesserung der Lage der Kirche ergab sich während des „Nordischen Krieges" (1700-1721), als der schwedische König Karl XII. (1682-1718) und Friedrich I. von Preußen (1657—1713) 1703 ein Bündnis zum Schutz des Protestantismus schlössen. Als freilich Zar Peter der Große (1672-1725) Schweden in der Schlacht von Poltawa besiegte, einigte er sich mit dem polnischen Katholizismus auf die Fortsetzung der Dissidentenverfolgungen. 1724 kam es zum „Thorner Blutgericht": Nach gewalttätigen Ausschreitungen gegen das Jesuitenkloster in Thorn wurden die protestantischen Anführer grausam hingerichtet. Obwohl Friedrich Wilhelm I. sich mit Katharina I. (1684—1727) zum Schutz ihrer Glaubensgenossen verbündete, setzte Polen die Verfolgungen fort. In den folgenden Jahrzehnten tobte ein Bürgerkrieg zwischen der proprotestantischen Konföderation von Thorn und den prokatholischen Konföderationen von Radom und Bar, der 1772 zur Ersten Polnischen Teilung beitrug. Unter nunmehr preußischer Landesherrschaft konnte die evangelische Kirche aufatmen. Im „Notifikationspatent'' bekannte sich Friedrich der Große zu Rechtsgleichheit und Toleranz als Grundlage seiner Herrschaft, wovon auch die katholische Kirche profitierte, deren ehemals polnis:hen Bistümer Kulm und Frauenburg (Ermland) sich nunmehr auf preußischem Boder befanden. 5. Das 19. Jahrhundert:

Zwischen

Landeskirche

und

Freikirche

Nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstädt (1806) konnte die Einnahme Königsbergs durch die Franzosen zunächst abgewendet werden. Im Frühjahr 1812 dente Ostpreußen als Aufmarschgebiet für Napoleons Rußlandfeldzug. Schon ein Jahr später beflügelte die Flucht der besiegten Großen Armee vor den nachrückenden russischen

West- und Ostpreußen

671

Truppen das kirchliche Leben. Wie überall im Königreich, so wurde auch in Ostpreußen die Landwehr in gottesdienstlichen Feiern vereidigt. Vor dem Hintergrund der heilsgeschichtlich gedeuteten Befreiungskriege (-» Krieg IV.3.) versteht sich die Bildung erweckter Gemeinden, obgleich eine geschlossene Erweckungsbewegung (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen) sich nicht entwickelte. Einzelne Laien und Pfarrer wirkten in diesem Sinne, so Klimkus Grigelaitis (1750-1826) in Litauen, Johann Arndt (1834-1867) in Masuren, Theodor Kniewel (1783-1859) in Danzig, ebenso einzelne Herrnhuter Diasporaboten und die unter Friedrich Wilhelm I. angesiedelten Salzburger. Eine institutionelle Basis gab es in den Dependencen der Preußischen Hauptbibelgesellschaft (1814) und der Missionsvereine in Danzig und Königsberg (1822/26). Spektakulär waren die Ereignisse um den elitär-esoterischen Zirkel Johannes Wilhelm Ebels (1784-1861). Als das Ministerium für Geistliche Angelegenheiten 1825 dessen Eindämmung anordnete, brach eine das gesamte Königreich in seinen Bann ziehende literarische Fehde los, die in der Anklage und Verurteilung Ebels wegen Stiftung einer Sekte mündete (1839/1841 der sog. „Muckerprozeß"). Das kirchliche Reformwerk Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) stieß in West- und Ostpreußen auf Zurückhaltung. Die bisher beobachtete Neutralisierung konfessioneller Unterschiede konnte für die geplante Union (-»Unionen, Kirchliche IV/1.6.) kaum fruchtbar gemacht werden. In Ostpreußen schlössen sich lediglich einige Kapellen reformierten Patronats und kleinere Gemeinden der Union an. Die Reformationsfeierlichkeiten in Königsberg galten der Verehrung Luthers, nicht der Union. In Westpreußen stimmte man der Union erst 1830 im Zusammenhang der Dreihundertjahrfeier des —•Augsburgischen Bekenntnisses zu. Auch die Akzeptanz der königlichen Agende war gering. 1822 hatten sich in Ostpreußen erst 50 Geistliche positiv ausgesprochen, wobei die Zahl der Befürworter freilich kontinuierlich anstieg (1824: 285; 1826: 329). Eine von Oberpräsident Theodor Schön (1773—1856) einberufene Kommission lutherischer Geistlicher arbeitete Änderungen aus, die 1829 als Nachtrag genehmigt wurden. N u n akzeptierten 395 von 401 lutherischen Predigern die Agende, während die 11 reformierten Prediger sie nach wie vor ablehnten. Erfolgreicher war die Einführung von Presbyterien und Synoden. Z w a r äußerten sich 1818/19 die ost- und westpreußischen Provinzialsynoden noch skeptisch (vgl. Geck, Schleiermacher 2 4 4 - 261). Als die Bemühungen um eine kirchliche Verfassungsreform zur Jahrhundertmitte steckenblieben, konnte in Ostpreußen aber eine Gemeindeordnung verwirklicht werden. Seit 1858 wurden diese Ansätze durch Prinzregent Wilhelm systematisch ausgebaut (1861 Kreis-, 1871 Provinzial-, 1876 Generalsynodalordnung). Auf der anderen Seite begünstigte die Unzufriedenheit mit der verfaßten Kirche insbesondere in Ostpreußen die Bildung und Verbreitung von Freikirchen und Sekten wie der -»Katholisch-apostolischen Gemeinde, der Mennoniten, der -»Baptisten und der sog. Philipponen, ca. 1.200 Gläubige, die als Nachfahren der orthodoxen TheodosierSekte aus Großrußland nach Ostpreußen eingewandert waren und 1827 im Kreis Sensburg angesiedelt wurden. Da Kirche und Staat der religiös aktiven Laienschaft eher mißtrauten, drohten auch Gemeinschaftsbewegungen aus der Kirche gedrängt zu werden, die sich im Grunde treu zur Landeskirche hielten. Das betraf z. B. diejenigen, die unter dem Einfluß der Erwekkungsbewegung das Gemeindeleben durch private Gebetsversammlungen beleben wollten, wie die Maldeninker (dt.: „Beter") oder später die Kukatianer, so benannt nach ihrem Initiator und Förderer, dem Gutsbesitzer Christoph Kukat (1844-1914). Bedeutung erlangte die Freireligiöse Gemeinde des Königsberger Pfarrers Julius Rupp (18091884). Nach seiner Amtsenthebung gründete er eine einflußreiche, den -»Lichtfreunden nahestehende unabhängige Gemeinde (-»Freireligiöse Bewegung[en]). Die Vereinstätigkeit deckte das gesamte kirchliche und gesellschaftliche Leben ab. Schwerpunkte der Arbeit der -»Inneren Mission bildeten die Eisenbahnmission und die Landarbeiterfrage. Sittliche und soziale N o t sollten vom Evangelium her bekämpft wer-

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West- und Ostpreußen

den. 1844 gründete Karl Ferdinand Voigdt (1804-1887) einen Unterverein des GustavAdolf-Vereins ( - • Diaspora werke), der sich auf die Unterstützung der Evangelischen im Ermland und vor allem in Westpreußen konzentrierte. Die seit den 1880er Jahren entstehenden Arbeitervereine erlangten keine größere Bedeutung. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts wurde dominiert durch die Auseinandersetzung mit dem theologischen Liberalismus auf der einen und — besonders in Westpreußen mit dem Katholizismus auf der anderen Seite. Seit der 3. Preußischen Provinzialsynode (1881) traten Kirchenparteien auf, unter denen die Positive Union bis zum 1. Weltkrieg führend wurde. Immer wieder gingen von den preußischen Synoden Anträge an die Berliner Generalsynode aus, dem Liberalismus an den theologischen Fakultäten entgegenzuwirken. Während des -»-Kulturkampfes gab es Befürchtungen, die Zivilstandsgesetzgebung könne sich auf das kirchliche Leben negativ auswirken. Ein Bericht des Konsistoriums Ostpreußen gab diesen Befürchtungen jedoch nicht recht: „Die evangelische Kirche ist immer noch eine Macht im Volksleben; es bleibt selten ein Kind ungetauft, ein Paar ungetraut" (Hubatsch, Geschichte I, 409). Allerdings erlebte der Katholizismus einen Aufschwung, was sich besonders auf die protestantischen Diasporagemeinden im Ermland auswirkte. In Ostpreußen nahm der Katholizismus zwischen 1871 und 1905 um 19 % zu. In Westpreußen vermischten sich die Auseinandersetzungen mit der polnischen Nationalitätenfrage. Der planmäßig angegangenen katholischen Mission unter den Evangelischen trat dort der Hauptverein des -»Evangelischen Bundes entgegen, der seinerseits die -»-Los-von-Rom-Bewegung in Österreich unterstützte. Erst der Krieg ließ die konfessionellen Gegensätze zurücktreten. 6. Das 20. Jahrhundert:

Weimarer Republik

und „Drittes

Reich"

Die Entwicklung während der Weimarer Republik war durch die doppelte Frontstellung gegen „ R o m " und „ M o s k a u " sowie durch die stark nationalkonservativ konnotierte Diskussion um die Legitimität des Versailler Vertrags und der Weimarer Demokratie charakterisiert. Die Vierteilung Westpreußens ließ alte Gegensätze zum Katholizismus wieder aufleben. Charakteristisch war etwa die offensive Siedlungspolitik beider Kirchen in der Grenzmark Posen-Westpreußen. Entsprechend scharf wurden hier auch die Auseinandersetzungen in der sog. „Mischehenfrage" geführt. Insbesondere in Pommerellen kam es zu einer krassen Diasporasituation, die mit dazu beitrug, daß die Gemeinden der ehemaligen Kirchenprovinz Westpreußen sich einander weiterhin eng verbunden fühlten. Der Vorschlag der Danziger Synode, aus Prestigegründen die Amtsbezeichnung „Bischof" einzuführen, wurde abgelehnt, zeigt aber den Bezug aller kirchlichen Aktivität auf das katholische Pendant. Die zurückgehende Resonanz der Kirche in der Gesellschaft führte zu einer Auseinandersetzung um den Bestand der Bekenntnisschule als Regelschule und des Religionsunterrichts an den Schulen allgemein. 1925 erklärte sich die ostpreußische Provinzialsynode gegen eine „kulturprotestantische" und für eine am biblischen Stoff als Offenbarungsinhalt orientierte Didaktik, stellte damit freilich auch ihr mangelndes Verständnis für die sich komplizierende Vermittlungsproblematik angesichts einer zunehmend säkular und plural verfaßten Gesellschaft unter Beweis. Insbesondere in Danzig schlug sich die religiöse Bildungskrise im Ausbleiben des theologischen Nachwuchses nieder. Die weltanschauliche Neutralität der Weimarer Republik trug zu einer distanzierten Haltung der evangelischen Kirche bei, die sich in einer zunehmend nationalistisch geprägten politischen Theologie artikulierte. Seit der sog. „Vaterländischen Kundgebung" des Königsberger Kirchentages 1927 wurden diese Stimmen zahlreicher und nahmen in Ostpreußen eine Form an, die Elemente der späteren deutsch-christlichen Theologie vorwegnahm.

West- u n d O s t p r e u ß e n

673

Z u Beginn des Kirchenkampfes (-»Nationalsozialismus und Kirchen) geriet der Osten sogleich ins Z e n t r u m der Aufmerksamkeit, weil Ludwig Müller (1883-1945), Hitlers Kandidat f ü r das Amt des Reichsbischofs, als Wehrkreispfarrer in Königsberg amtierte. Die Juli-Wahlen 1933 brachten einen Sieg der -»Deutschen Christen (DC). In Danzig w a r die neue Kirchenleitung der Deutschen Christen durch das Konsistorium ohne Wahlen gebildet w o r d e n . Die Opposition gegen das deutsch-christliche Kirchenregiment formierte sich eher zögernd; noch Anfang 1934 schätzte man f ü r Ostpreußen etwa 5 0 % , für die Grenzmark 4 0 % , f ü r Danzig nur 10% Anhänger der Bekennenden Kirche. Allerdings bröckelte die Vorherrschaft der Deutschen Christen kontinuierlich ab. In Pommerellen wurden die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen durch den polnisch-deutschen Gegensatz überlagert. Das seit 1940 bestehende Konsistorium des „Reichsgau Danzig-Westpreußen" verfolgte eine mittlere Linie zwischen den Standpunkten von Deutschen Christen und Bekennender Kirche. In Ostpreußen w u r d e der DC-Pfarrer Fritz Keßel Provinzialbischof, der Oberpräsident und Gauleiter Erich Koch (1896-1959) Präses der Provinzialsynode. Als Reaktion auf die Berliner „ S p o r t p a l a s t k u n d g e b u n g " bildete sich unter T h e o d o r Kuessner eine dem P f a r r e r n o t b u n d lediglich assoziierte „Kirchliche Arbeitsgemeinschaft", aus der im O k t o b e r 1934 die 1. ostpreußische Bekenntnissynode hervorging. Die H o f f n u n g , man k ö n n e im Verhältnis von Kirche und Staat einen ostpreußischen Sonderweg gehen, hatte sich als trügerisch erwiesen. Allerdings arbeitete der zum Präses des Bruderrates gewählte Kuessner mit den 1935 eingesetzten Kirchenausschüssen zusammen. Im November 1936 w u r d e dann der Schritt zur rechtlichen Eigenständigkeit vollzogen. Bereits im M ä r z 1936 w a r Bischof Keßel, nachdem er versucht hatte, das Lutherheim in Königsberg gleichzuschalten, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Die Einrichtung eines Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Blöstau durch H . J . —»Iwand w a r nur von vorübergehender Dauer. Im Mittelpunkt der 3. Ostpreußischen Bekenntnissynode stand 1937 die Kollektenfrage, nachdem mit dem Ende der Kirchenausschüsse das Kirchenregiment nahezu ganz auf die Bekennende Kirche übergegangen war. W ä h r e n d des Krieges waren über die H ä l f t e der Pfarrer und Kirchenbediensteten eingezogen. M i t den verheerenden Luftangriffen Ende August 1944 auf Königsberg setzten die ersten Flüchtlingstransporte ein. Das Konsistorium verließ die Stadt im Februar 1945. „Außer ,autochthonen' Restteilen im Memelland und M a s u r e n mußte die Bevölkerung das Land verlassen" (Hubatsch, Geschichte I, 478). Die Eroberung der westpreußischen Gebiete durch die Rote Armee vollzog sich zwischen J a n u a r und M ä r z 1945. Flucht und Vertreibung ließen die evangelischen Gemeinden auf ein M i n i m u m herabschrumpfen. Die Geschichte der evangelischen Gemeinden und Kirchen der ehemals west- und ostpreußischen Gebiete ist von nun an Teil der Kirchengeschichte - » R u ß l a n d s (bzw. der Sowjetunion) und -»Polens. N a c h d e m in den ostpreußischen Gebieten kirchliche Strukturen zunächst aufrecht erhalten werden konnten, wurden unter der Sowjetherrschaft die Verhältnisse seit 1948 immer bedrückender. In Polen befand sich die Evangelisch-Augburgische Kirche in einer „extremen Diasporasituation .zwischen rotem Bruder und schwarzer Schwester" (Viertel, Evangelisch in Polen 101). N a c h der Ö f f n u n g des Eisernen Vorhangs nach 1989 k a m es zunächst zu einer Abwanderungsbewegung in die Bundesrepublik; mittlerweile baut sich das evangelisch-kirchliche Leben in den ehemals west- und ostpreußischen Gebieten langsam wieder auf. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Zeit nach den Epochenjahren 1945 und 1989 steckt jedoch noch in den Anfängen. Quellen 1. Bibliogr.: Heinz Neumeyer, Bibliogr. zur KG v. Danzig u. Westpreussen, Leer 1967. Otto Rautenberg, Ost- u. Westpreussen. Ein Wegweiser durch die Zeitschriftenlit., Leipzig 1897. - Ernst

674

West- und Ostpreußen

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Westcott

675

Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher „Rechtshilfe", '1976 2 1984, 2 6 1 - 2 7 3 . - Friedwald Moeller, Altpreußisches ev. Pfarrerbuch v. der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945, I. Die Kirchspiele u. ihre Stellenbesetzungen, Hamburg 1968. - Heinz Neumeyer, Kirchengesch. v. Danzig u. Westpreußen in ev. Sicht, Leer; 1. v. den Anfängen der christl. Mission bis zum Ende des 18. J h . , 1971; II. Die ev. Kirche im 19. u. 20. Jh., 1977. - Hartwig Notbohm, Das ev. Kirchenu. Schulwesen in Ostpreußen während der Regierung Friedrichs des Großen, Heidelberg 1959. Jürgen Petersohn, Bischofsamt u. Konsistorialverfassung in Preußen im Ringen zw. Herzog u. Landschaft im letzten Viertel des 16. Jh.: ARG 52 (1961) 1 8 8 - 2 0 4 . - Christoph E. Rhode, Presbyterologia Elbingensis. Die ev. Geistlichen im Kirchenkreis Elbing v. 1555 bis 1883 nebst Ergänzungen u. Nachtr. bis 1945, hg. v. W. Hubatsch, Hamburg 1970. - Gottfried Schramm, Danzig, Elbing u. Thorn als Beispiele städtischer Reformation (1517-1558): Historia Integra. FS Erich Hassinger, hg. v. Hans Fenske, Berlin 1977, 1 2 5 - 1 5 4 . - Gert Stricker, Russ. Altgläubigentum auf dt. Boden. Die Philipponen in Ostpreußen: Jähnig/Spieler (s.o.) 2 0 1 - 2 2 0 . - Martin Stupperich, Osiander in Preußen 1549-1552, Berlin/New York 1973. - Robert Stupperich (Hg.), Die Reformation im Ordensland Preußen 1523/24, Ulm 1966. - Ders., Dr. Paul Speratus, der „streitbare" Bischof v. Marienwerder: Beitr. zur Gesch. Westpreußens 8 (1983) 1 5 9 - 1 8 2 . - Fritz Terveen, Gesamtstaat u. Retablissement. Der Wiederaufbau des nördlichen Ostpreußen unter Friedrich Wilhelm I. (1714-1740), Göttingen 1954. - Paul Tschackert (Hg.), Urkundenbuch zur Reformationsgesch. des Herzogtums Preussen, 3 Bde., Leipzig 1890. - Ders., Paul Speratus v. Rötlen, ev. Bischof v. Pomesanien in Marienwerder, Halle 1891. - Ders., Art. Speratus, Paul: RE 3 (1906) 625 - 631. Gerline Viertel, Evangelisch in Polen. Staat, Kirche u. Diakonie 1 9 4 5 - 1 9 9 5 , Erlangen 1997. - Emil Waschinski, Das kirchl. Bildungswesen in Ermland, Westpreußen u. Posen, 2 Bde., Breslau 1928. - Horst Wischhöfer, Die ostpreußischen Stände im letzten Jahrzehnt vor dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten, Göttingen 1958. - Andreas Zieger, Das rel. u. kirchl. Leben in Preußen u. Kurland im Spiegel der ev. KO des 16. Jh., Köln 1967. Albrecht Geck

Westcott, Brooke 1. Leben 1.

Foss

2. Werk

(1825-1901) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 678)

Leben

B r o o k e F. Westcott wurde a m 12. J a n u a r 1 8 2 5 in B i r m i n g h a m (England) geboren und erhielt dort seine Erziehung unter d e m berühmten R e k t o r J a m e s Prince Lee ( 1 8 0 4 1 8 6 9 ) , dem nachmaligen Bischof von M a n c h e s t e r . Von ihm übernahm Westcott die Neigung zu „minutiöser philologischer A r b e i t " (vgl. Barrett 9), die ihm zahlreiche E h rungen bei der klassischen Philologie in C a m b r i d g e einbrachte und später ein dominanter Z u g seiner Arbeit a m Neuen Testament w a r . „ H ä t t e ich von dem, was ich [Lee] verdanke, dasjenige auszuwählen, was sich für mein gesamtes Lebenswerk als das Wertvollste erwiesen hat, so würde ich mich für den unbedingten Glauben an die Kraft der W o r t e entscheiden, den ich durch strikte philologische Kritik gewonnen h a b e " ( T h e T i m e s 6). N a c h der Ordination durch Lee lehrte er 1 8 5 2 bis 1 8 6 9 an der Harrow School unter einem anderen großen R e k t o r , Charles J o h n Vaughan ( 1 8 1 6 - 1 8 9 7 ) . Von 1 8 7 0 bis 1 8 9 0 w a r er Regius Professor of Divinity in C a m b r i d g e und von 1 8 9 0 bis zu seinem T o d e a m 2 7 . Juli 1901 Bischof von D u r h a m . Zusätzlich zu seiner Arbeit a m Neuen Testament (s.u. 2.) w a r er, obgleich nie mit einer vollen Pfarrstelle versehen, in beträchtlichem M a ß e als Seelsorger und Prediger tätig, zunächst als Kanonikus ( 1 8 6 9 - 1 8 9 0 ) , und z w a r erst von Peterborough und dann von Westminster in L o n d o n . N a c h dem Beispiel von Vaughan und J . B . - » L i g h t f o o t suchte er als Examining Chaplain in Peterborough, L o n d o n und Canterbury die Ausbildung der Ordinanden für den Dienst in der -»-Kirche von England zu verbessern, speziell in D u r h a m . A u c h befaßte er sich mit den kirchlichen Zuständen seiner Zeit, sowohl im In- als auch im Ausland, ferner mit den politischen Verhältnissen in England, denn beide waren aufgrund tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen im Wandel begriffen - nicht immer zum Guten. Stets an sozialen Fragen interessiert und in seiner Eigenschaft als „ N e s t o r " (Best 3 4 : „nursing f a t h e r " ) der Chri-

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Westcott

stian Social Union (gegr. 1889) in Durham vermittelte er bei dem großen Streik, an dem 10.000 Bergarbeiter beteiligt waren und der das Land 3 . 0 0 0 . 0 0 0 Pfund kostete (in den Preisen von 1892!). Es waren in der Tat seine „sozialistischen Tendenzen" - wie der konservative Premierminister sie nannte — die dazu führten, daß Lord Salisbury die Wahl Westcotts zum Erzbischof von York verhinderte (so Roberts 678f.). Westcott unterstützte mit großem Engagement die Arbeit der christlichen Missionen, speziell der Society for the Propagation of the Gospel in Indien, wo vier seiner Söhne Missionare wurden, zwei schließlich auch Bischöfe. 2. Werk Die englische neutestamentliche Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und damit der Kontext der Arbeit Westcotts war durch drei Faktoren geprägt: durch die unzureichende Ausgabe des griechischen Neuen Testaments von K. - » L a c h m a n n (Editio Minor 1831; Editio M a i o r 1842—1850), durch die wenig befriedigende Rekonstruktion der Entwicklungs- und Literaturgeschichte des frühen Christentums (in England oberflächlich popularisiert durch Walter Richard Cassels Supernatural Religion [3 Bde., London 1 8 7 4 - 1 8 7 7 ] ) sowie schließlich durch die Aufsatzsammlung Essays and Reviews (London 1860) mit dem Aufsatz von B. —»Jowett über die Geschichte der Schriftauslegung. Wenngleich Westcotts Arbeit zum Neuen Testament durchaus eine Einheit bildete, so können um der besseren Übersicht willen doch drei Abschnitte unterschieden weiden: 2.1. Während seiner Jahre in H a r r o w brachte er vier häufig benutzte Bücher aber die Bibel und speziell das Neue Testament heraus: A General Survey of the History of the Canon of the New Testament (London 1855 ' 1 8 8 9 ) ; An Introduction to the Study of the Gospels (London 1860 ' 1 8 9 4 ) ; The Bible in the Church. A Popular Accoutt of the Collection and Reception of the Holy Scriptures in the Christian Churches (London 1864 »1885); A General View of the History of the English Bible (London 1868 3 1»08). In derselben Zeit schrieb er auch bedeutende Artikel für das Dictionary of the Bible (Di[S]), z. B. über den Kanon (s. v. Canon of Scripture), Herodes, die Makkabäer, den Text und die Sprache des Neuen Testaments (s.v. New Testament) und die Vulgata, ferner über den Hebräerbrief h der 2. Auflage des Dictionary of the Bible ( 2 1893). An Introduction ... basiert auf älteren Werkei: On the Alleged Historical Contradictions of the Gospels (eine Universitäts-Preisschrift aus dem [ahre 1850) = The Elements of the Gospel Harmony (London 1851) und Characteristics of the Gospel Miracles (London 1859). Obgleich das Buch fortlaufend neugedruckt wurde (bis zur 8. Alflage 1894), wurde sein Inhalt nie substantiell geändert, so daß die wissenschaftliche Entwicklung nach 1850 unberücksichtigt blieb. The Bible in the Church ist eine allgemeinverständliche Fassung von A General Survey (s.o.). Zusammen mit Lightfoot entwickelte Westcott einen historisch-kritiichen Ansatz, der sich von dem F.C. -»Baurs und der Tübinger Schule (-»Tübinger Schulen 3.) deitlich unterschied und so auch zu anderen Lösungen fand. Doch ging es ihm weniger darum, vai der Hegeischen Philosophie Abstand zu suchen und die auf ihr basierenden Schlußfolgerungei der Tübinger Schule anzugreifen; vielmehr versuchte er zu zeigen, daß die Verpflichtung des Historikers gegenüber Fakten und Beweisen helfen kann, die Gegebenheiten besser zu erklären (doch ist auch auf ein Bonmot zu verweisen, das ein Bewunderer später von ihm überliefert hat: „Bischof Lighfoot erschloß alle Fakten, die er über einen Gegenstand in Erfahrung bringen konnte, und dedizierte von ihnen seine Prinzipien. Meine Methode besteht darin, mit den Prinzipien anzufangen und wenn die Fakten nicht passen - um so schlimmer für die Fakten . . . Ein Faktum ist für mici nur insoweit interessant, als es ,ein Prinzip' illustriert" [West 3]). Westcotts Stil war durchweg ireiisch, er pflegte seine Standpunkte eher abzuschwächen als überspitzt vorzutragen; er war Apologet und Historiker, kein Kontroverstheologe. Seine 30seitige Kritik an W.R. Cassels Supernatural Reigion in der vierten Auflage von A General Survey (1875) blieb denn auch so maßvoll wie nur mcglich, gleichwohl nicht ohne Wirkung. 2.2. Während der Jahre in Cambridge vollendete er ältere Pläne. 1853 kam er mit F.J.A. -»Hort überein, den Versuch einer Revision der Arbeit Lachmams zu unternehmen und eine neue Ausgabe des griechischen Neuen Testaments vorzubereiten, velche

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„den ursprünglichen Wortlaut des Neuen Testaments exakt wiedergeben" sollte, „soweit er gegenwärtig anhand der existierenden Textzeugen bestimmt werden kann" (vgl. Hort, Introduction: The New Testament in the Original Greek, Cambridge, I 1881, 1). Die Theorie, auf der diese Edition basierte, ist bereits zusammenfassend dargestellt worden (vgl. T R E 15,584,23-54). Ihr Herausgeber Alexander Macmillan (1818-1896), der sowohl kommerzielle Erfordernisse im Blick hatte als auch um die Vergeblichkeit des Strebens nach Perfektion wußte, übte mindestens seit 1878 Druck aus (Graves 3 4 4 - 3 4 6 ; vgl. Simcox 35f.), und so erschien zunächst der Text und später eine Einleitung, welche die methodischen Grundlagen der Edition erläuterte (1881). Sie fand gleichermaßen freundliche Unterstützung wie erbitterte Gegnerschaft. Von 1870 bis ca. 1895 spielte Westcott auch eine erhebliche Rolle bei der Vorbereitung der Revised Version des Neuen Testaments und der - » A p o k r y p h e n (was letztere betrifft, so w a r er vor allem mit der Weisheit S a l o m o s und dem 2. M a k k a b ä e r b u c h befaßt, über die er auch Artikel für das Dictionary of the Bible geschrieben hatte). Z u s a m m e n mit Charles J o h n Ellicott ( 1 8 1 9 - 1 9 0 5 ) , H o r t , Lightfoot, William Fiddian M o u l t o n ( 1 8 3 5 1898) und anderen setzte er sich für eine Revision der Authorised Version des Neuen Testaments ein, die auch die Veränderungen des textus receptus berücksichtigen sollte, die er und H o r t a m griechischen T e x t vorzunehmen gedachten. Die Revised Version stieß a u f noch größeren W i d e r s t a n d als Westcotts und H o r t s griechisches Neues Testament. Beide Großprojekte wurden begleitet durch Predigten und Artikel, welche die neuen griechischen und englischen T e x t e verteidigten; diese sind gesammelt in Some Lessons ofthe Revised Version of the NT (London 1897) und Lessons from Work (London 1 9 0 1 , Kap. 6 - 7 ) . 2.3. N a c h der Bestimmung des Wortlautes des Neuen Testaments lag Westcott d a r a n zu vermitteln, was es seines Erachtens zu verkündigen hatte; T e x t und Sprache w a r e n lediglich Präliminarien für Interpretation, T h e o l o g i e und F r ö m m i g k e i t . Auch dieses Vorhaben w a r die Fortsetzung älterer Pläne: 1860 hatte er mit Lightfoot und Hort die Ubereinkunft getroffen, Kommentare über sämtliche Bücher des Neuen Testaments zu schreiben; dabei hatten sie diese untereinander aufgeteilt. Doch Lightfoot, der vier Paulusbriefe tatsächlich kommentiert (1865-1875) und für mindestens fünf weitere Vorbereitungen getroffen hatte (vgl. seine Notes on the Epistles of St. Paul from unpublished Commentaries, London 1895), war bereits dabei, sein Interesse den Apostolischen Vätern zuzuwenden. Hort wiederum hinterließ nur Fragmente, die postum veröffentlicht wurden (The First Epistle of St. Peter, London 1898; mit einem Vorwort von Westcott). Allein Westcott hat den ihm zugewiesenen Part erledigt: Der Kommentar zum Johannesevangelium, an dem er seit 1859 gearbeitet hatte, wurde 1880 und 1882 in zwei unterschiedlichen Fassungen veröffentlicht, denen jeweils der englische Text zugrundelag; 1908 erschien ein Kommentar zum griechischen Text. Der Kommentar zu den Johannesbriefen wurde 1883, der zum Hebräerbrief 1889 und der zum Epheserbrief 1908 publiziert - alle in London und alle auf den griechischen Text bezogen. Ch.K. Barrett ( 1 3 - 2 0 ) hebt neben der bereits erwähnten Neigung zu „minutiöser philologischer Arbeit" mit Recht die Wortstudien, die klassische und patristische Gelehrsamkeit sowie die Verwendung der lateinischen und syrischen Ubersetzungen hervor (vgl. auch den o.g. Artikel [s.o. 2.1.] in DB[S] über die Vulgata). Hermeneutisch schloß sich Westcott an den von J o h n T o l a n d ( 1 6 7 0 - 1 7 2 2 ) , H e r b e r t M a r s h ( 1 7 5 7 - 1 8 3 9 ) , S.T. - » C o l e r i d g e und T h o m a s Arnold ( 1 7 9 5 - 1 8 4 2 ) entwickelten und von B. J o w e t t wiederaufgenommenen Grundsatz an, d a ß die Bibel wie jedes andere Buch verstanden werden muß, modifizierte diesen jedoch durch einen weiteren, bereits angedeuteten „ G r u n d s a t z " , nämlich daß die Bibel uns „ ü b e r den Buchstaben des geheiligten Papiers hinaus a u f das lebendige W o r t " verweist, „ d a s durch die einzelnen Geschehnisse vermittelt w i r d " (Kuist 4 4 6 ) . 3.

Nachwirkung

Westcotts Werk ist im besten Sinne typisch für spätviktorianische Bibelwissenschaft, doch genau dies bedeutet, d a ß es sowohl der Kritik als auch der Revision anheimgegeben w a r . Von den Büchern, die er in H a r r o w schrieb, ist A General Survey weiterhin ein wertvoller Beitrag, doch An Introduction w u r d e nie aktualisiert, und A General View

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Westcott

wurde wesentlich nützlicher, als es Westcotts Freund aus Cambridge, William Aldis Wright (1831-1914), 1908 einer Revision unterzog. Was den immensen und bleibenden Einfluß des griechischen Neuen Testaments von Westcott und Hort (mitsamt der Einleitung) betrifft, ist auf den Artikel über Hort (vgl. T R E 15,584-586) zu verweisen. Die Revised Version des Neuen Testaments indes erholte sich nicht von der beißenden Kritik John William Burgons (1813-1888), doch hat sie immerhin zahlreiche andere Übersetzer ermutigt, es auf geschicktere Weise zu versuchen (-»Bibelübersetzungen IV/2.1—2.2). Von den Kommentaren Westcotts ist bleibende Dauer vor allem dem zum Hebräerbrief beschieden; dieser lag ihm auch vor allen anderen am Herzen. Die Forschung zum johanneischen Schrifttum entwickelte sich über seinen Horizont hinaus, der Kommentar zum Epheserbrief ist ein postum veröffentlichter Torso; nur ein Drittel geht auf Westcott selbst zurück. In England war er wahrscheinlich bereits durch den Kommentar Joseph Armitage Robinsons (1858-1933) obsolet geworden (London 1903), denn dieser nimmt - zum Teil in erheblichem Maße - auf die neuentdeckten Papyri und Inschriften Bezug (s.u.). Dennoch kann es niemand sich leisten, Westcott zu ignorieren, sobald er auf Gebieten aktiv wird, in denen dieser sein Vorgänger war. Indes ist es gerade die Grundlage seiner exegetischen Arbeit, die „strikte philologische Kritik" (The Times 6), die mit dem Fortgang der Zeit modifiziert werden mußte: Die Arbeit von A. -»-Deißmann und J.H. —»Moulton über die Papyri und Inschriften hat gezeigt, daß die feinen lexikalischen und grammatischen Distinktionen, die ein klassisch gebildeter Gelehrter wie Westcott meinte identifizieren zu können, nicht immer aufrechtzuerhalten sind. In dieser Sache lag Jowett weniger im Irrtum, als Westcott meinte. Die Art, wie er die griechischen Tempora auffaßte (sie war ihm und seiner Generation durch Prince Lee vermittelt worden), war schon vor seinem Tod angegriffen worden (Weymouth; vgl. Hamilton und generell schon Simcox 33). Drei Monate nach dessen Tod las Westcotts ehemaliger Freund C.J. Ellicott über das Revised New Testament, und er konnte auf vier deutsche Veröffentlichungen verweisen, die in den sieben Jahren zuvor erschienen waren. Es handelte sich um die Grammatiken von Georg Benedict Winer und Paul W. Schmiedel (Grammatik des Neutestamentlichen Sprachidioms, Göttingen 1894, unvollendet) und Friedrich Blass (Grammatik des Neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 1896) sowie um die Bibelstudien A. Deißmanns (Marburg 1895; Neue Bibelstudien, Marburg 1897). Obgleich Westcott mit einem anderen Buch von Blass vertraut war (Philology of the Gospels, London 1898, 8.12; dies muß die Passsage sein, auf die er in CQR 53 [Okt. 1901] 190 Anm. 1 etwas ungenau verweist), könnte doch der Gegensatz zwischen Ellicott und Westcotts Some Lessons (1897), wo Blass ganz verschwiegen wird, nicht deutlicher ausfallen. Quellen 1. Bibliogr.: Arthur Westcott (s.u. Lit.) II, 4 4 1 - 4 4 8 [vollständig bis 1902], - Die Monographien Westcotts sind oben in Abschn. 2 vollständig aufgeführt. 2. Nachrufe und erste Würdigungen (namentlich und anonym): CQR 53 (Okt. 1901) 182-197. - T h e Commonwealth 6 (1901) 2 5 7 - 2 6 1 . - D U J 9 (1890) 4 1 - 4 2 ; 14 (1901) 2 6 5 - 2 6 8 . - T h e Guardian 53 (1901) 1043-1045.1054-1055.1087.1175-1176.1202. - The Pilot 3 (1901) 157-158.264-266. 2 9 1 - 2 9 2 . - The Times, 29.7.1901. Literatur Charles Kingsley Barrett, Westcott as Commentator, Cambridge 1959. - Geoffrey Best, Bshop Westcott and the Miners, Cambridge 1967. - Anthony Dyson, Hastings Rashdall as Social Theologian. Critical Methodology and the Rhetoric of Brotherhood: Worship and Ethics. Lutfcrans and Anglicans in Dialogue, ed. Oswald Bayer/Alan Suggate, Berlin/New York 1996 (TB7 70) 5 9 - 8 7 , bes. 7 0 - 7 6 . - Charles J . Ellicott, Addresses on the Revised Version of Holy Scripture, London 1901, 108-115. - Charles L. Graves, Life and Letters of Alexander Macmillan, London 1910. - George F. Hamilton, The Revised N T and Recent Studies, Dublin 1933. - Ders., T h e Graphic Use of Tense in the N T Narratives, Dublin 1940. - Peter Hinchliff, God and Hiitory. Aspects of British Theology 1875-1914, Oxford 1992, Kap. 4. - Benjamin Jowett, The Int Augsburger Bekenntnis) reichsreligionsrechtlich entschärft und als die politische Kultur des Reiches belastendes Erbe des konfessionellen Zeitalters weitgehend obsolet. Das Verhältnis der Lutheraner zu den Reformierten wurde reichsreligionsrechtlich also als innerprotestantisches Problem (IPO protestantes, Art. VII § 1) behandelt und unter Anwendung des Normaljahres 1648 so geregelt, daß künftig lutherische Kirchentümer unter reformierten Landesherren und reformierte Kirchentümer unter lutherischen Landesherren in ihrem Bestand gesichert blieben (IPO Art. VII §2; XV § 1). In bezug auf die konfessionelle Topographie des Reiches im ganzen wurde die Orientierung am Stichtag 1. Januar 1624 entscheidend. Der jeweilige faktische Konfessionsstand an diesem Stichtag wurde zur Rechtsnorm erhoben und war, sofern seither Veränderungen eingetreten waren, auf diesen Stand zurückzuführen (IPO Art. V §2). Das paritätisch für weltliche und geistliche, katholische wie protestantische Herrschaftsträger im Grundsatz anerkannte reichsständische ius reformandi wurde „allgemeinem Reichsherkommen" gemäß als mit der Landesherrschaft ursprünglich verbundenes Recht (IPO Art. V § 30) festgestellt, allerdings in seiner Brisanz durch die begrenzende Wirkung der Normaljahrsregelung faktisch eingeschränkt: denn die Bestandsgarantie des jeweiligen Kirchenwesens nach Maßgabe des Normaljahres verhinderte künftig die unmittelbaren Rückwirkungen eines Konfessionswechsels der Herrschaftsträger auf die Religionsausübung seiner Untertanen (IPO Art. V §31), die gemäß der Regel des Cuius regio eius religio Zwangskonversionen oder Auswanderungen im Ubermaß produziert hatten. Das ius reformandi beschränkte sich fortan auf die Zulassung bzw. die rechtliche Aufwertung reichsrechtlich approbierter Konfessionen und ließ die Landeskonfession auf dem Stand des Normaljahres unangetastet. Durch die Fortbestandsgarantie für jedes im Jahre 1624 tatsächlich ausgeübte öffentliche oder private Religionsexerzitium (IPO Art. V §31.34) wurde das ius emigrandi des Augsburger Religionsfriedens faktisch zu einem Recht zu bleiben und die eigene Religion zu praktizieren weiterentwickelt. Die Sekten blieben jedoch aus den religionsrechtlichen Garantien des Westfälischen Friedens ausgeschlossen (IPO Art. VII §2). Die Normaljahresregelung wurde konfessionsparitätisch auf die reichsunmittelbaren Bistümer und Abteien angewandt: jede Konfession behielt diese gemäß dem Besitzstand des 1. Januar 1624, womit eine nachträgliche Legitimation der Säkularisation des Kirchengutes in protestantischen Territorien gegeben war. Der „Geistliche Vorbehalt" sicherte überdies das katholische Reichskirchengut. Die geistliche Jurisdiktion wurde für die protestantischen Reichsstände und deren Untertanen suspendiert, blieb für die katholische Konfession aber in Kraft (IPO Art. V § 48 f.). In bezug auf die habsburgischen Territorien -»Schlesien und Niederösterreich wurde die Anwendung der Normaljahrsregelung durch spezielle Bestimmungen unterlaufen (IPO Art. V §38—40): die Herzöge von Brieg, Liegnitz und Münsterberg-Oels sowie die Stadt Breslau durften evangelisch bleiben. In den übrigen schlesischen Herzogtümern wurde dem protestantischen Adel und seinen Untertanen eine Bleibegarantie und eine Erlaubnis zum extraterritorialen Gottesdienstbesuch bzw. zum Bau dreier „Friedenskirchen" in Schweidnitz, Jauer und Glogau gewährt. In Niederösterreich galt das Bleiberecht nur für den Adel, hier ohne Kirchenbaurecht, nicht aber für die Untertanen. Für die habsburgischen Gebiete war innerhalb bestimmter Grenzen somit die reichsrechtliche Basis einer Rekatholisierungspolitik geschaffen. Für die bikonfessionellen schwäbischen Reichsstädte Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl und Ravensburg wurden detaillierte konfessionsparitätische Bestimmungen hinsichtlich des konfessionellen Alternierens städtischer Ämter und der Struktur ihrer Stadtverfassungen erlassen (IPO Art. V § 2 - 1 1 ) . 3.

Wirkungen

All diese Regelungen zielten im Kern darauf ab, den jeweiligen Status quo dauerhaft zu fixieren, konfessionelle Konflikte und Eskalationen, die die Handlungsfähigkeit einzelner politischer Einheiten zu gefährden oder sich, wie es sich besonders in den Jahr-

684

Westfälischer Friede

zehnten vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges gezeigt hatte, zu einem Problemsyndrom für das gesamte politische System Altes Reich zu verdichten imstande waren, einzugrenzen und im Sinne stabiler pragmatischer Verläßlichkeiten zu regeln. Das Reichsgrundgesetz des Westfälischen Friedens hat diese Funktion dauerhaft geleistet und dem Reich eine lange Friedenszeit beschert. Es hat zugleich die von der nationalstaatlichen Entwicklung anderer europäischer Staaten signifikant unterschiedene politische Kultur Deutschlands, für die eine Simultaneität territorialer und reichischer Elemente der Staatlichkeit und eine Verschränkung nationaler, regionaler und lokaler Identitätsbezüge charakteristisch geblieben ist, nachhaltig bestimmt. Mit der westfälischen Friedensordnung ist zugleich die Entwicklung in Richtung auf ein Modell des Gleichgewichts der europäischen Mächte, die Frieden nicht allein in bilateralen Verträgen, sondern in einem System wechselseitiger Garantien unter Beteiligung Dritter abzusichern begannen, eröffnet und die faktische Verabschiedung der Idee einer Universalmonarchie vollzogen worden. Sowohl in bezug auf das Reich als auch in bezug auf die Staaten Europas dürfte der Westfälische Friede einen Prozeß der Säkularisierung der politischen Ordnung forciert haben; die Religion spielte als „legitime" Kriegsursache je länger desto weniger eine Rolle. Die Wirkungslosigkeit des päpstlichen Protestes gegen den Westfälischen Frieden (IPO Anti-Protestklausel Art. V § 1) begründete zwar eine konfessionsdifferente memorialkulturelle Umgangsweise mit ihm in Protestantismus und Katholizismus, statuierte aber vor allem die Unvereinbarkeit von aus der N o t geborenen säkularen Rechtsnormen mit dem kanonischen Recht. In bezug auf das Verhältnis lutherischer und reformierter Reichsstände, die reichsrechtlich als protestantes behandelt wurden und zu politischer Zusammenarbeit genötigt waren, wirkte der Westfälische Friede mittelbar pazifizierend: innerprotestantische Konfessionspolemiker büßten nach 1648 zusehends ihren Rückhalt bei den politischen Obrigkeiten ein (z. B. im Synkretistischen Streit, vgl. T R E 7,555,50ff.), und „unionistische" Tendenzen gewannen nach und nach an Boden (—»Unionen, Kirchliche IV). Im interkonfessionellen Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken hingegen schufen die paritätsrechtlichen Regularien des Westfälischen Friedens vielfach die Voraussetzung für die Ausbildung konfessionsseparater Kulturmilieus, oder sie begünstigten diese Entwicklung: sie beförderten ein Unterscheidungsbewußtsein und erzwangen geradezu, eigene Rechtsbestände zu sichern und zu schützen und durch kulturelle Differenzkonstruktionen und -praktiken sinnhaft zu inszenieren oder deutungspolitisch zu „überhöhen". In gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht wirkte die in Rechtsnormen verewigte Bikonfessionalität weit über den Bestand des Alten Reichs hinaus und dürfte eine Mentalität der Indolenz gegenüber den „Fremden", die im Westfälischen Frieden außen vor blieben, den protestantischen Sekten u n d dem Judentum, eher befördert als verhindert haben. Für die Protestanten blieb der Westfälische Friede fester Bestandteil ihres historischen Selbstverständnisses: sie verdankten ihm die definitive reichsrechtliche Sicherung ihrer Existenz, sie priesen ihn als Beginn einer Gnadenzeit nach der langen Phase der göttlichen Bußzucht, als göttliche Bestätigung der Wahrheit ihrer Lehre und als zukunftseröffnende Magna Charta ihres Reichspatriotismus. Die apokalyptische Deutung des Westfälischen Friedens als Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Gerichts, wie sie der Straßburger Theologe Johann Konrad Dannhauer (1603-1666) 1650 vertrat, scheint im Kontext eines nach 1648/50 sukzessive transformierten eschatologischen Bewußtseinshorizonts im lutherischen Protestantismus nur mehr geringe Überzeugungskraft besessen zu haben. Die weitgehend positive Rezeption des Westfälischen Friedens in der rechtlichen und politischen Diskussion Deutschlands bis 1800, die nicht zuletzt durch die aufklärerische Deutung seines Religionsrechts und einzelner individueller Rechtsansprüche im Sinne des Tolerarzgedankens (-»-Toleranz) befördert, als Basis „deutscher Freiheit" gewertet und maßgeblich von protestantischen Gelehrten artikuliert worden war, geriet mit dem Ende des Alten Reichs (1803/06) in eine grundsätzliche Krise. Am Wertungsmaßstab des machtvollen Nationalstaates orientiert erschien das Alte Reich als „Nicht-Staat" und seine von aus-

Westfälischer Friede

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ländischen G a r a n t i e m ä c h t e n v e r b ü r g t e V e r f a s s u n g s o r d n u n g , das I P O , als S c h a n d d i k t a t , das D e u t s c h l a n d den p o l i t i s c h e n W e g a n d e r e r N a t i o n e n zu gehen v e r w e h r t hatte. D i e i n s b e s o n d e r e in der p r e u ß i s c h e n H i s t o r i o g r a p h i e a u s g e b i l d e t e , die d e u t s c h e N a t i o n a l staatsbildung unter p r e u ß i s c h e r Ägide legitimierende und z u m eigentlichen Z i e l der deutschen G e s c h i c h t e v e r k l ä r e n d e W e r t u n g s p e r s p e k t i v e a u f das A l t e R e i c h u n d seine Verf a s s u n g s o r d n u n g setzte sich bis in die Z e i t des „ D r i t t e n R e i c h e s " f o r t , in d e m der den D r e i ß i g j ä h r i g e n K r i e g b e e n d e n d e W e s t f ä l i s c h e F r i e d e in A n a l o g i e zu d e m den E r s t e n Weltkrieg beendenden Versailler V e r t r a g gedeutet w u r d e . D i e v e r s t ä r k t n a c h d e m Z w e i ten Weltkrieg einsetzende h i s t o r i o g r a p h i s c h e R e h a b i l i t a t i o n des A l t e n R e i c h s und des W e s t f ä l i s c h e n Friedens in der d e u t s c h e n und i n t e r n a t i o n a l e n F r ü h n e u z e i t f o r s c h u n g bet o n t die spezifische S t r u k t u r f r ü h n e u z e i t l i c h e r d e u t s c h e r S t a a t l i c h k e i t , die friedensbew a h r e n d e n Q u a l i t ä t e n des R e i c h s s y s t e m s und seine B e d e u t u n g für die politische S t a b i lität in der M i t t e E u r o p a s u n d e x p o n i e r t die S i m u l t a n e i t ä t „ z e n t r a l i s i e r e n d e r " und „ f ö d e r a t i v e r " E l e m e n t e in e u r o p a p o l i t i s c h e r Perspektive. Quellen APW. - Arno Buschmann (Hg.), Kaiser u. Reich. Klass. Texte zur Verfassungsgesch. des Hl. Rom. Reiches Dt. Nation vom Beginn des 12. Jh. bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, T. 2. 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Westfalen 1. Vor der Reformation 2. Reformation 3. Von 1585 bis 1803 hundert 5. Kirche in Westfalen seit 1803 (Literatur S. 696) 1. Vor der

4. Das 19. und 20.Jahr-

Reformation

Den ältesten Beleg für den N a m e n Westfalen bieten die fränkischen Reichsanialen zum J a h r e 7 7 5 . Westfalen ( „ W e s t f a l a i " ) w a r N a m e eines Volksteils der ->Sachser, der seit dem 10. J h . als L a n d e s n a m e begegnet. Vom 13. bis zum 15. J h . kannte m a n Westfalen als L a n d zwischen Berg und Kleve, T w e n t e und Drente, Friesland, -»Sachsen, - * H : s s e n

Westfalen

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und dem Westerwald. Der heutige Westfalen-Begriff geht auf die preußische Provinz Westfalen zurück, die von 1816 bis 1946 bestand. Mit den Sachsenkriegen —• Karls des Großen trat Westfalen in die Geschichte ein. An dem Ort der Massentaufe von 776 (Paderborn) fand 777 eine Reichsversammlung statt. Zur Eingliederung in den fränkischen Reichsverband trugen Christianisierung und Kirchenorganisation bei. Nach angelsächsischen Missionsversuchen seit etwa 690 folgte 777 die Einteilung Sachsens in Missionsbezirke. 792 übernahm Liudger die Missionierung im Münsterland; 805 wurde er Bischof von Münster. 799/806 entstand das Bistum Paderborn, danach das Bistum Minden. Westfalen südlich der Lippe gehörte zum Erzbistum -•Köln. Hinzu kamen Klostergründungen, zuerst um 789 das Frauenkloster Herford, 815/22 das Benediktinerkloster Corvey. Im 9. Jh. entstanden bedeutende Frauenklöster oder Kanonissenstifte. Noch vor 800 lagen die Anfänge der Pfarreistruktur. Reichsferne und Fehlen der Herzogsgewalt ermöglichten den Aufstieg von Grafenhäusern wie der Grafen von Werl, die von den Grafen von Cappenberg (bis 1122: Stiftung Cappenbergs als Prämonstratenserstift) und den Grafen von Arnsberg (bis 1368: Verkauf der Grafschaft Arnsberg an Köln) beerbt wurden, der Grafen von Altena (seit 1203 Grafen von der Mark), der Grafen von Calvelage-Ravensberg und der Grafen von Tecklenburg. Das sächsische Herzogtum Heinrichs des Stolzen (1102-1139) änderte daran nichts. Deshalb blieb die Ächtung seines Sohnes Heinrich des Löwen (1129-1195) 1180 in Westfalen ohne große Bedeutung. Den sächsischen Dukat westlich der Weser erhielt der Kölner Erzbischof. Doch hatte die Kölner Kirche im südlichen Westfalen schon vor 1180 Besitz- und Herrschaftspositionen, die zusammen mit der Grafschaft Arnsberg Grundlage des kölnischen Territoriums „Herzogtum Westfalen" wurden, das wie das kölnische „Vest Recklinghausen" bis 1801 mit dem rheinischen Erzstift Köln verbunden blieb. Der Bischof von Münster erwarb 1173 die Vogtei der Grafen von Tecklenburg, was dem Aufbau des Hochstifts Münster zugute kam, das 1408 arrondiert war und sich weit ins heutige Niedersachsen erstreckte. Das Hochstift Paderborn konsolidierte sich nach dem Erwerb der Stiftsvogtei der Grafen von Schwalenberg (1189) bis 1382 durch Erwerb der Besitzungen und Rechte der Herren von Büren. Wichtig für das Hochstift Minden wurde der Erwerb der Burgen der Edelherren von dem Berge, die die Stiftsvogtei innegehabt hatten. Aus den Besitzungen und Rechten der mächtigen Grafenhäuser entstanden die weltlichen Territorien, so die Grafschaft Mark, deren Territorialbildung 1392 abgeschlossen war, bevor im 15. Jh. das kölnische Soest und die Soester Börde hinzukamen. Seit 1328 waren die Grafen von der Mark dynastisch mit dem niederrheinischen Kleve verbunden. 1417 wurde Graf Adolf IV. (1373-1448) von der Mark als Graf von Kleve zum Herzog erhoben; 1461 folgte die Vereinigung von Kleve und Mark. Die Grafschaft Ravensberg erreichte 1408 ihre territoriale Abrundung. Schon 1346 war Ravensberg an die 1356/60 zu Herzögen erhobenen Grafen von Jülich und Berg gefallen; seit 1521 war es mit Jülich, Kleve, Berg und Mark unter einem Landesherrn verbunden. Tecklenburg, Steinfurt, Limburg, Rheda oder Rietberg fielen kaum ins Gewicht. -»Lippe bleibt wegen der bis 1947 bewahrten Eigenstaatlichkeit unberücksichtigt. Wittgenstein und Siegen zählten vor dem 19. Jh. nicht zu Westfalen. Dortmund konnte sich 1388/89 gegen Mark und Köln behaupten, bevor die Stadt 1514 die Bestätigung ihrer Stellung als Reichsstadt erhielt. Die ältesten und wichtigsten Städte waren Münster, Paderborn und Minden sowie Dortmund und Soest, die um einen Bischofssitz oder einen Königshof entstanden waren. Seit dem 12./13. Jh. gründeten Bischöfe und Grafen zahlreiche neue Städte. 2.

Reformation

Seit der Reform der Domschule 1500 war Münster ein Zentrum des Schulhumanismus (-•Humanismus). Jakob Montanus öffnete sich 1521/22 Luthers Lehre. Adolf Clarenbach (-»Rheinland 3.1.) war zu Beginn der 1520er Jahre Lehrer an der Domschule. Seit 1522 war Johann Glandorp dort tätig, bis er nach -»Wittenberg ging. Als Münster

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evangelisch geworden war, übernahm er die Leitung der evangelischen Lateinschule. Montanus gehörte den -•Brüdern vom gemeinsamen Leben an, stand der -*Devotio moderna nahe und gewann das Herforder Fraterhaus für Luther. Durch die -»Augustiner-Eremiten in Herford und Lippstadt wurden beide Orte neben Minden die ältesten Stätten der reformatorischen Bewegung in Westfalen. In Minden, wo politisch-soziale Proteste gegen das Stadtregiment eine Rolle spielten, standen 1521 Predigten von Albert Nies am Anfang. 1529 bekannte sich der Prediger der Simeonskirche Heinrich Traphagen zur Lehre Luthers. Um die Jahreswende 1529/30 teilte Nies das Abendmahl unter beiderlei Gestalt aus. Seit 1529 trat Nikolaus Krage als Reformator auf. Mit seiner Kirchenordnung wurde Minden 1530 die erste evangelische Stadt in Westfalen. Der Prior der Herforder Augustiner-Eremiten, Gottschalk Kropp, hatte 1521-1523 in Wittenberg studiert. Seit 1525 wirkte Johann Dreyer, auch er Augustiner-Eremit, als evangelischer Prediger in der Stadt. Seit 1531 war Herford evangelisch. In Lippstadt predigten die Augustiner-Eremiten Johann Westermann und Hermann Koiten, nach Studien in Wittenberg, reformatorisch. Westermanns Lippstädter Katechismus von 1524 gilt als erstes reformatorisches Zeugnis aus Westfalen. 1526 schloß sich ein großer Teil der Bürgerschaft der Reformation an. 1530/31 wirkte Gerd Oemeken als Reformator in Lippstadt. Nach ersten Anfängen 1525 kam Thomas Borchwede 1530 als Führer der reformatorischen Bewegung nach Soest. Die Verhaftung Johanns van Kampen (Johann Wulf), der am Thomastag 1531 in Soest gepredigt hatte, löste einen Aufruhr aus, der Bürgermeister und Rat zur Einführung der reformatorischen Predigt in den sechs Pfarrkirchen der Stadt zwang. 1532 arbeitete Oemeken die Soester Kirchenordnung aus; im gleichen Jahr kam der von Luther empfohlene Johann de Brune als Superintendent nach Soest, wo 1533/34 auch Johannes Pollius (Polhene) für das evangelische Kirchenwesen wirkte. Auch die zehn Kirchspiele der Soester Börde wurden evangelisch. In Münster kam es 1525 zu einem Bürgeraufstand. 1529 wurde Bernd Rothmann Prediger des Mauritz-Stiftes. 1530 begann er reformatorisch zu predigen. 1532 schlössen sich alle sechs Pfarrgemeinden der Reformation an; der Dom, die Kollegiatstifte und die Klöster blieben katholisch. 1528 brach in Paderborn eine Volkserhebung aus, bei der der Dom gestürmt wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die reformatorische Bewegung 1532 unter Führung der Minoriten Johannes Polhenn und Jakob Müsing, bis sie im Sommer 1532 von Hermann von Wied (1477-1552) als Administrator von Paderborn unterdrückt wurde. Der Einfluß -»Philipps von Hessen lief u.a. über lehnsrechtliche Beziehungen, so in Rietberg und in Wittgenstein. In Minden fand die reformatorische Bewegung die Rückendeckung des Landgrafen, der 1533 in Höxter die Reformation in Gang brachte. In Münster vermittelte Philipp 1533 die Einräumung aller Pfarrkirchen der Stadt an die evangelische Bürgerschaft. Familienbeziehungen des Grafen Konrad von Tecklenburg (gest. 1557), seit 1527 mit Mechthild von Hessen verheiratet, führten 1527 zur Berufung von Johannes Pollius (Polhene) als evangelischer Prediger an die Schloßkapelle zu Rheda; in Tecklenburg drang die Reformation seit 1534 und an der Stadtkirche von Rheda seit 1540 durch (1543 Tecklenburger KO). Die Reformation im Siegerland war Teil der Reformation in Nassau-Dillenburg (-»Nassau). Nachdem Rothmann sich zum Täufertum bekannte, wurde Münster Fluchtziel friesischer und niederländischer -»Täufer. Im Februar 1534 gelang es ihnen, bei einer Ratswahl das Stadtregiment an sich zu bringen. Danach konnten die Täuferführer in Münster ihre Herrschaft aufrichten. Von außen von den Truppen des Bischofs und anderer Reichsfürsten belagert, wurde in der Stadt die „Ordnung der zwölf Ältesten" unter dem Propheten Jan Matthys (gest. 1534) errichtet. Nach dessen Tod gelang es Jan van Leiden (Jan Beukelsz) als „König", seine Herrschaft über Münster als endzeitliches Reich vor der Wiederkunft Christi auszugeben. Die Täuferherrschaft endete im Sommer 1535 mit ihrer Niederschlagung (-»Täufer/Täuferische Gemeinschaften 1/3.2.). Hermann von Wied, seit 1515 Erzbischof von Köln und seit 1532 auch Bistumsadministrator in Paderborn, lernte 1540 M. -»Bucer kennen, der 1542 nach Bonn kam, wo sich 1543 auch Ph. -»Me-

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lanchthon einfand. Bucer und Melanchthon verfaßten das auch als Kölner Reformation bezeichnete Einfältige Bedenken. Seit 1545 richtete Hermann im Erzstift Köln und im Herzogtum Westfalen ein evangelisches Kirchenwesen ein. Im Hochstift Paderborn scheiterte er am Widerstand von Domkapitel und Landständen. Nachdem Papst -»Paul III. ihn 1546 exkommuniziert hatte, verzichtete Hermann 1547 auf seine erzbischöfliche Würde; er starb als evangelischer Christ. Der Ausgang des -»Schmalkaldischen Krieges entschied über seinen Reformationsversuch ebenso wie über die Pläne des Bischofs von Münster, Osnabrück und Hildesheim, Franz von Waldeck (um 1491 -1553). Dieser hatte 1543 Hermann Bonnus (1504-1548) als Reformator nach Osnabrück geholt (1543 Osnabrücker KO). Im Oberstift Münster gelang ihm der Reformationsversuch wegen der Haltung des Domkapitels nicht; Minden hielt, abgesehen von der Stadt, länger am alten Glauben fest. 1548 kehrte Franz zur alten Kirche zurück und behielt seine drei Bistümer bis zu seinem Tod 1553. In Ravensberg faßte die Reformation 1530 in Wallenbrück und Bünde und 1531 in Valdorf Fuß. In der Mark war 1532 die Soester Börde evangelisch; in H a m m und an anderen Orten gab es um 1533 reformatorische Neigungen. In den dreißiger Jahren begann sich die reformatorische Bewegung in der Grafschaft M a r k zu verbreiten. Der Landesherr, Herzog Johann III. von Jülich (reg. 1511-1539), hielt an der alten Kirche fest, war aber von Reformvorstellungen im Sinne des -»Erasmus eingenommen und wurde darin von seinen Räten bestärkt. Auf diese ging die Kirchenordnung Johanns III. von 1532 zurück. Sein Sohn Wilhelm (reg. 1539-1592) übernahm diese Haltung. Nach der Niederlage im Geldrischen Erbfolgekrieg mußte er sich 1543 dem Kaiser unterwerfen und zusagen, keine religiösen Neuerungen einzuführen und bereits eingeführte rückgängig zu machen. Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg blieben aber ohne konfessionelle Uniformierung. Nach dem -»Interim konnte Wilhelm den Evangelischen keine Konzessionen mehr machen. Dennoch setzte die Reformation sich in den Jahren nach 1548 in der Mark und in Ravensberg durch. Die Dortmunder „Langzeitreformation" (Schilling) kam erst 1570 an ihr Ziel. Die lutherischen Gemeinden der Mark und Ravensbergs blieben in der zweiten Hälfte des 16. Jh. ohne Zusammenhang auf territorialer Ebene. Konsolidiert war das evangelische Kirchenwesen nur in Soest. Den Beitritt zur -» Konkordienformel von 1577 lehnte der Rat von Soest ab; nur einige Prediger unterschrieben. 1593 gab der Soester Rat ein eigenes Corpus Doctrinae Susatense in Auftrag. Die Einführung unterblieb; 1594 unterschrieben die Soester Prediger das Konkordienbuch. Einen Einschnitt bedeutete 1585 die Wahl Emsts von Bayern zum Bischof von Münster und Dietrichs von Fürstenberg zum Bischof von Paderborn. Voraufgegangen war 1582 der Übertritt des Kölner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg (1547-1601) ins evangelische Lager. Im Widerspruch zum reservatum ecclesiasticum des -»Augsburger Religionsfriedens hielt er an seinem erzbischöflichen Amt fest und fügte sich nicht der Absetzung durch Papst -»Gregor XIII. So kam es zum Kölnischen Krieg, in dem Gebhard bei Adel und Städten des Herzogtums Westfalen Unterstützung fand, bis er von bayerischen Truppen vertrieben wurde. Sein Nachfolger in Köln wurde 1583 Ernst von Bayern. 3. Von 1585 bis 1803 Mit Ernst von Bayern begann die Reihe bayerischer Prinzen (Sekundogenitur) auf dem Kölner Erzbischofsstuhl, die bis 1761 andauerte. 1618-1650 und 1719-1761 waren diese Prinzen zugleich Bischöfe von Paderborn und 1585-1650, 1683-1688 und 17191761 Bischöfe von Münster, das bis 1801 mit Köln verbunden blieb. Mit Ernst begann auch die Rekatholisierung im kölnischen Westfalen und im Hochstift Münster. 1587/88 übernahmen die -»Jesuiten die Domschule in Münster. Hauptträger der Gegenreformation (-»Katholische Reform und Gegenreformation) wurden in Münster Ferdinand von Bayern (amt. 1613-1616) und in Paderborn Dietrich von Fürstenberg (1592 Kolleg der seit 1580 in Paderborn tätigen Jesuiten, 1604 Unterwerfung der Stadt Paderborn,

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1614/16 Jesuitenuniversität Paderborn), dessen Nachfolger 1618 Ferdinand von Bayern wurde. Das Reformiertentum (-» Reformierte Kirchen) wurde seit 1573 durch den Übertritt des Grafen Arnold II. von Bentheim (1554-1606) in Westfalen heimisch, der als Gemahl einer Gräfin von Neuenahr mit Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz (1515-1576) (-»Heidelberger Katechismus) verschwägert war. Als Reaktion auf die Ansiedlung der Jesuiten in Münster führte er 1587—1597 das Reformiertentum in den Grafschaften Tecklenburg, Bentheim (Niedersachsen) und Steinfurt sowie in Gronau und Rheda ein (1587 Tecklenburger KO). Auch Siegen (1578 als Teil von Nassau-Dillenburg) und Wittgenitein (1578) sowie später Lippe wurden reformiert. Als Gegengründung zum Jesuitengymnasium in Münster errichtete Arnold 1591 die reformierte Hohe Schule zu Burgsteirfurt. Reformierte niederländische Flüchtlingsgemeinden spielten in Westfalen (Hamm) nur am Rand eine Rolle. Im 17. Jh. förderte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), besonders in der Mark, die im 16. Jh. entstandenen reformierten Gemeinden oder gründete reformierte Garnisons- oder Beamtengemeinden. Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit nach 1609 wurde 1614 so geregelt, daß Kleve, Mark und Ravensberg an -»-Brandenburg und Jülich und Berg an Pfalz-Neuburg fblen, was 1666 bestätigt wurde. Der -»Dreißigjährige Krieg, der 1648 mit dem -»Westfälischen Frieden endete, brachte in Westfalen (1623 Schlacht von Stadtlohn, 1634 Zerstörung Höxters, 1646 Obermarsbergs) insgesamt weniger menschliche und materielle Verluste als in einigen anderen Gegenden. Sein Ausgang bestätigte Bestand und katholischen Charakter der Hochstifte Münster und Paderborn, während der Westfälische Freden das Hochstift Minden Brandenburg übertrug. 1707 kaufte -»Preußen die Grafs:haft Tecklenburg (zu den Territorien s. Karte 1). In der evangelischen Grafschaft Mark - nur wenige Orte blieben katholisch - herrschte das Luthertum vor. Die reformierten Gemeinden von Jülich, Kleve, Berg und Mark gehörten bis 1610 der auf die Emder Synode von 1571 zurückgehenden Classen-Organisation der niederländischen Flüchtlingskirche und der niederländischen Generalsynode an. Seit 1610 gab es für Jülich, Kleve, Berg und Mark eine reformierte Generalsynode, die bis 1793 bestand. In den Einzelterritorien versammelten sich reformierte Provinzialsynoden, in der Mark seit 1611. Nach Unterbrechung im Dreißigjährigen Krieg keirten mit der Cleve-Märkischen und Jülich-Bergischen reformierten Kirchenordnung von 1654/66 geordnete Verhältnisse ein. Die lutherische Kirche in der Mark, Ravensberg und Minden war vor 1612, abgesehen von Soest, eine Kirche auf sich selbst geseilter Einzelgemeinden. Synodale Strukturen gab es nicht. 1612 setzte der Pfalzgraf von Neuburg als Mitpossidierender der jülich-klevischen Erbschaft geistliche Inspektor« ein, doch entstand kein -»Landesherrliches Kirchenregiment mit Konsistorialverfasung; zwar lag der lutherischen Synode von 1612 ein Einberufungsschreiben des Pfalzgrafen zugrunde, doch war die Synode Inhaberin des Kirchenregiments. Die Regelung der lirchlich-konfessionellen Fragen erfolgte zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg durch den Religionsrezeß von Cölln an der Spree von 1672. Hier wurden die territorierübergreifende reformierte Generalsynode und die reformierten und lutherischen Provnzialsynoden bestätigt und faktisch auf das Landesherrliche Kirchenregiment verzichte. So bestanden in der Mark zwei synodal verfaßte Kirchen, die sich selbst verwaltet« und lediglich unter staatlicher Aufsicht, aber nicht unter Landesherrlichem Kirchenregment standen. Das Berliner reformierte Kirchendirektorium von 1713 und das Berlin:r lutherische Oberkonsistorium von 1750 waren für die reformierten und die lutherischen Gemeinden der Mark nicht zuständig, wohl aber für die Gemeinden in Minder, Ravensberg und Tecklenburg. Hier nahmen nach 1723 vier geistliche Räte der Kriegs- und Domänenkammer Minden die konsistorialen Aufgaben wahr. Unter den bayerischen Prinzen wurden Köln zur geistlichen Sekundogenitur der Vlünchener Wittelsbacher und Paderborn und Münster zu Nebenländern des Kölner Kurstaates. Die Benediktiner-Reichsabtei Corvey wurde 1792/94 mit ihrem reichsunnittel-

Hochstift Münster (Niederstift)

>

Grafschaft Bentheim

MindenRavensberg i

Grafschaft Lippe

Hochstift Münster (Oberstift) d?

19, Hochstift Paderborn

Vest 'Recklinghausen

1 Herrschaft Anholt \ Grafschaft MarK 2 Herrschaft Gemen s ^ ' 3 Grafschaft Steinfurt 4 Niedergrafschaft Lingen 5 zu Tecklenburg 6 Obergrafschaft Lingen 7 Grafschaft Tecklenbung ; 11 • 8 Reichsstadt Dortmund 9 Huckarde (zum Reichsstift Essen) 10 Grafschaft Limburg 11 Kondominat Valbert 12 Nassau-Siegen 13 Grafschaft Wittgenstein-Berleburg 14 Grafschaft Wittgenstein-Wittgenstein 15 Herrschaft Rheda 16 Amt Reckenberg (zum Hochstift Osnabrück) 10 km

Herzogtum Westfalen

13 12

14

Kartographie:

Karte 1

17 Grafschaft Rietberg 18 Kondominat Lippstadt 19 Reichsabtei Corvey 20 Lügde (zu Paderborn) 21 Volkmarsen (zum Herzogtum Westfalen) Geographische

Die w e s t f ä l i s c h e n Territorien 1789

Kommission

für

Westfalen

Westfalen

691

baren Territorium in ein der Kirchenprovinz Mainz unterstelltes Bistum umgewandelt. Zur Wiederbelebung der alten Orden kam die Ansiedlung neuer Reformorden. Die Jesuiten gründeten Missionen, Residenzen oder Kollegien u.a. in Arnsberg, Büren, Coesfeld, Münster und Paderborn. Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) beendete eine lange Friedenszeit. Nach dem britischen Sieg in der Schlacht von Minden 1759 wurde Westfalen mit der Schlacht von Vellinghausen bei Soest 1760 erneut Kriegsschauplatz. Der radikale -»Pietismus in Wittgenstein (E.Ch. -»Hochmann v. Hochenau; E.M. v. —»Buttlar; J.K. -»Dippel), der separatistische Pietismus im Siegerland und der reformierte Pietismus in Mülheim an der Ruhr (Th. -»Undereyck; G. -» Tersteegen) wirkten aus dem Umfeld nach Westfalen hinein. Einflüsse J. -»Arndts, der lutherischen Reformorthodoxie (-»Orthodoxie) und spiritualistischer Strömungen verbanden sich bei Johann Jakob Fabricius, der 1653 sein Pfarramt in Schwelm verlor. 1670 machte J. de -»Labadie Herford zum Asylort für verfolgte Spiritualisten. 1704 wurde in Ravensberg unter dem Einfluß des Landdrosten Clamor von dem Bussche die erste pietistisch geprägte Kirchenordnung Preußens eingeführt. Unter den Pfarrern gab es Pietisten, so Isaac Ciauder, früher Hauslehrer bei Ph.J. -»Spener, in Bielefeld, Dietrich Michael Bierwirt in Schildesche, Renatus Andreas Kortum in Hattingen, Johann Karthaus in Schwelm, Christian Heinrich Karthaus in Wetter an der Ruhr und in Hagen, Johann Friedrich Glase in Halver oder Friedrich August Weihe, seit 1751 Pfarrer in Gohfeld im Mindenschen. Seit den 1730er Jahren gewann auch die Herrnhuter —»Brüderunität Einfluß. Mit der 1710 gegründeten Lippstädter Zeitung ging Westfalen anderen Regionen voraus. In den 1760er und 1770er Jahren erschienen die Wöchentlichen Mindenschen Nachrichten des lutherischen Pfarrers Johann Moritz Schwager, seit 1784 das Westphälische Magazin zur Geographie, Historie und Statistik Peter Florens Weddigens, seit 1793 Arnold Mallinckrodts Magazin von und für Dortmund, aus dem 1798 der Westfälische Anzeiger hervorging. Freimaurerlogen (-»Freimaurer) traten spät in Erscheinung - 1778 in Münster, 1780 in Minden und Bielefeld, 1785 in Bochum und Burgsteinfurt. Unter Franz von Fürstenberg (1729-1810) wurde das Hochstift Münster Schauplatz von Reformen der katholischen Aufklärung (-»Aufklärung), mit dem Bildungswesen im Mittelpunkt und mit der 1780 eröffneten Universität -»Münster. Für die neuzeitliche Territorialgeschichte Westfalens wurden -»Französische Revolution und -»Napoleonische Epoche entscheidend. Die Französische Revolution machte sich weniger durch deutsche Revolutionsanhänger als durch französische Revolutionsflüchtlinge bemerkbar, die in Westfalen Aufnahme fanden. Im Frieden von Basel gestand die Republik Preußen 1795 für linksrheinische Gebietsverluste rechtsrheinische Entschädigungen zu. Damit war der Weg zur -»Säkularisation der westfälischen Hochstifte eröffnet. 1797 besetzte Frankreich das gesamte linksrheinische Gebiet, womit der Kölner Kurstaat auf seine westfälischen Nebenländer beschränkt wurde; das Kölner Domkapitel residierte in Arnsberg. Der Frieden von Luneville von 1801 brachte die Abtretung des linksrheinischen Reichsgebiets an Frankreich und die Entschädigungsklausel, nach der der Reichsdeputationshauptschluß 1803 Preußen das Hochstift Paderborn und den östlichen Teil des Oberstifts Münster mit der Stadt Münster und Hessen-Darmstadt (1806 Großherzogtum Hessen) das kölnische Herzogtum Westfalen zuwies. Der Rest des Oberstifts Münster, das Vest Recklinghausen und Corvey wurden an kleinere Fürsten verteilt. Im Paderborner und im Münsterland wurden die fundierten Klöster auf dem Lande 1803 von Preußen aufgehoben; in den Städten Münster und Paderborn blieben die Klöster und Kollegiatstifte überwiegend bestehen. Sie wurden erst nach 1810 vom Königreich Westphalen oder vom Großherzogtum Berg, denen der größte Teil Westfalens 1807/08 zufiel, bzw. nach dem Anschluß des Münsterlandes an das französische Kaiserreich von diesem aufgehoben.

692 4. Das 19. und 20.

Westfalen Jahrhundert

Der Wiener Kongreß wies Preußen 1815 u.a. das Gebiet der dann in die drei Regierungsbezirke Arnsberg, Minden und Münster unterteilten Provinz Westfalen zu, deren Behörden nach der Angliederung des Herzogtums Westfalen und Wittgensteins 1816 in Münster ihre Arbeit aufnahmen. 1817 kam der Kreis Siegen hinzu. Die 1848er Revolution erreichte in Westfalen ihren Höhepunkt mit dem Aufstand meuternder Landwehrtruppen vom 10. bis 17. Mai 1849 in Iserlohn. Im Laufe des 19. Jh. wurde der westfälische Teil des bis dahin überwiegend ländlichen Ruhrgebietes (Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen) mit dem rheinischen (Essen, Duisburg, Oberhausen) das industrielle Kernland Preußens und Deutschlands (-»Industrialisierung). Mit der Durchstoßung der Mergelschicht (1837) wurde der schon vor dem 19. Jh. betriebene Steinkohlenabbau in größeren Tiefen möglich. In Verbindung mit dem Eisenbahnbau (1847 Köln-Mindener-Bahn, 1861 Ruhr-Sieg-Bahn zur Verbindung des Kohlenreviers an der Ruhr mit den Eisenerzlagerstätten im Siegerland) entstand eine Industrielandschaft. Die Zahl der Beschäftigten im Bergbau (im westfälischen und rheinischen Teil des Ruhrgebietes) stieg von rund 7.500 (1837) auf 507.478 (1922). Die Roheisenerzeugung des Ruhrgebietes lag 1835 mit 9.600 Tonnen bei einem Hundertstel derjenigen Großbritanniens (940.000 Tonnen); 1925 überholte das Ruhrgebiet mit 10.985.000 Tonnen die Roheisenproduktion Großbritanniens (7.711.000 Tonnen). Die Bevölkerung Westfalens stieg von 1,07 Millionen 1818 auf 4,8 Millionen 1925 (um 348,6% in 107 Jahren). Dortmund hatte 1818 4.289 Einwohner und auf dem durch Eingemeindungen zustande gekommenen größeren Stadtgebiet von 1951 19.912. 1925 lag die Einwohnerzahl Dortmunds auf dem Stadtgebiet von 1951 bei 525.921. In Wanne-Eickel, auf dessen Stadtgebiet von 1951 die Bevölkerung von 1.377 (1818) auf 71.519 (1905) zunahm, betrug die Steigerung 5.093,8 % in 87 Jahren. Die Arbeiter des Ruhrgebietes kamen aus Ravensberg, dem Sauerland, der Eifel, dem Westerwald, Hessen und Thüringen, aber auch aus Schlesien und Bayern und später aus Ostpreußen und Polen (preußische Provinz Posen). Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD; -»Sozialdemokratie) erreichte in Westfalen bei der Reichstagswahl von 1912 mehr als 25 % der Wählerstimmen. Stärkste politische Gruppierung blieb das - » Z e n t r u m mit Hochburgen im Münster-, Sauerund Paderborner Land. Minden-Ravensberg war bis 1912 Domäne konservativer Parteien, Siegen-Wittgenstein politische Basis A. —»Stoeckers und Hägen-Schwelm Hochburg des -»Liberalismus. Z u m Aufstieg der SPD trug der Streik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1889 bei, das nach dem Ersten Weltkrieg Krisenregion war (1919 Bergarbeiterstreik, 1920 kommunistischer Aufstand mit Kämpfen zwischen „Roter Armee" und Freikorps, 1923 französisch-belgische Ruhrbesetzung). Das Zentrum blieb bis zur letzten Reichstagswahl (6. November 1932) vor der NS-Diktatur stärkste Partei. Auffällig waren die Ergebnisse der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Westfalen-Süd mit ca. 2 0 % der Wählerstimmen (31. Juli 1932). Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) lag am 31. Juli 1932 in Westfalen-Nord bei 25,7% und in Westfalen-Süd bei 27,2% und somit weit unter ihrem Reichsergebnis (37,3 %). Das gilt auch für die Reichstagswahl vom 5. März 1933, bei der die NSDAP stärkste Partei wurde, aber mit 34,9 % in Westfalen-Nord und 33,8 % in Westfalen-Süd deutlich unter dem Reichsdurchschnitt (43,9%) blieb. Westfalen war wegen der Arbeiter des Ruhrgebietes und der katholischen Bevölkerung des Münster-, Sauer- und Paderborner Landes keine Hochburg des -»Nationalsozialismus, auch wenn Teillandschaften (Kreis Wittgenstein Juli 1932: 63,9% NSDAP) ein anderes Bild zeigen. Nach der „Machtergreifung" setzten dieselben Maßnahmen der „Gleichschaltung" wie im übrigen Reichsgebiet ein. Große Opfer brachte die jüdische Bevölkerung, doch spielten Juden in Westfalen-1925 zählte man 21.395 „Israeliten" — „zahlenmäßig eine ganz geringe Rolle" (Brilling). Das Euthanasieprogramm forderte in Westfalen seit 1939 fast ebenso viele Opfer wie die Judenvernichtung.

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Im März 1942 begannen Luftangriffe auf geschlossene Wohngebiete und 1944 systematische Bombardierungen der Produktionsstätten der synthetischen Treibstoffherstellung im Ruhrgebiet. Am 12. März 1945 folgte der letzte Großangriff auf Dortmund und am 25. März 1945 auf Münster. Indem Amerikaner und Briten das Ruhrgebiet bei erbittertem deutschen Widerstand einschlössen („Ruhrkessel"), wurde fast ganz Westfalen seit Ende März 1945 Kriegsschauplatz. Am 18. April 1945 kapitulierten die letzten deutschen Truppen an der Ruhr. Westfalen wurde Teil der Britischen Besatzungszone. Am 21. Juni 1946 beschloß das britische Kabinett die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW). Damit endete die Geschichte Westfalens als politische Organisationseinheit. 5. Kirche in Westfalen seit 1803 Die Bevölkerung der Provinz Westfalen war 1819 zu 59,7 % katholisch und zu 39,4 % evangelisch. Dabei standen geschlossen katholische Gebiete im Münsterland oder im Sauerland geschlossen evangelischen Gebieten in Minden-Ravensberg mit jeweils mehr als 95 % Anteil der Mehrheitskonfession gegenüber. 1821 erfolgte die Neuordnung der Diözesanstrukturen durch die Bulle De salute animarum. Es gab fortan in Westfalen die beiden zur Kirchenprovinz Köln gehörenden Bistümer Münster und Paderborn, auf die das kölnische Diözesangebiet verteilt wurde; das Bistum Corvey wurde aufgehoben und Paderborn zugeschlagen. Die Diözese Münster von 1821 deckte sich mit dem Regierungsbezirk Münster, griff aber über Westfalen hinaus und umfaßte auch den Niederrhein und das Großherzogtum -»Oldenburg. Das Bistum Paderborn erstreckte sich über die Regierungsbezirke Arnsberg und Minden sowie außerhalb Westfalens über Lippe, Waldeck, Pyrmont und die preußische Provinz Sachsen. Der Kölner Kirchenstreit von 1837 (vgl. T R E 18,393,25-40) trug entscheidend zur Entstehung des katholischen „Milieus" bei. Neben den wenigen nach 1803 erhalten gebliebenen Klöstern kam es zu neuen Ordensniederlassungen. Die 1814 restituierten Jesuiten ließen sich 1851 in Münster und 1853 in Paderborn nieder. Allein im westfälischen Teil der Diözese Paderborn entstanden bis 1875 74 Niederlassungen geistlicher Frauengemeinschaften. Der —»Kulturkampf führte zur Schließung vieler Ordenshäuser. In die Vorgeschichte der preußischen Union (-»Unionen, kirchliche) von 1817 gehört die Vereinigte Synode der Lutheraner und Reformierten der Grafschaft Mark vom 16. bis 18. September 1817 in Hagen. Vom 1. bis 12. September 1819 versammelte sich die erste westfälische Provinzialsynode in Lippstadt. Voraufgegangen war 1818 die Einteilung der Provinz Westfalen in 16 „Diöcesen" oder Kreissynoden (Kirchenkreise). Auf königliche Verordnung von 1815 ging das Provinzialkonsistorium in Münster zurück, das auch für die iura in sacra zuständig war, damit aber in der Mark mit ihrer synodalen Tradition Unzufriedenheit weckte. Diese verband sich nach 1821 mit der Ablehnung der Einheitsagende Friedrich Wilhelms III. (1770-1840) (-»Agende 18.1.). Bis 1830 traten in Westfalen von 338 Pfarrern 219 gegen die Agende und gegen ein königliches ins liturgicum ein. Der Ausweg hieß Annahme der Agende gegen Wiederherstellung der alten synodalen Kirchenverfassung und Spezialagende für die Reformierten (Rheinisch-Westfälische Provinzialagende 1834). Die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung (RWKO) von 1835 gewährte der westfälischen und der rheinischen Provinzialkirche (-»Rheinland) innerhalb der Preußischen Landeskirche einen Sonderstatus und stellte einen Kompromiß zwischen staatskirchlich-konsistorialem Denken und synodaler Tradition dar. Die 1853 und 1908 modifizierte RWKO galt bis 1923. Die -»Erweckung erfaßte Minden-Ravensberg, Gütersloh, das Siegerland und Teile der Mark. Träger der Erweckung in Minden-Ravensberg waren „erweckte" Pfarrer: Johann Heinrich Volkening in Jöllenbeck, Theodor Schmalenbach in Mennighüffen, Clamor Huchzermeyer in Schildesche. Dieser gründete 1850 ein „Rettungshaus" in Schildesche und war Mitbegründer des Evangelisch-Stiftischen Gymnasiums in Gütersloh. Am Anfang der Rettungshaus-Bewegung stand Graf Adalbert von der Recke-Volmerstein

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(1819 Overdyck bei Bochum). 1847 riefen Volkening und Huchzermeyer zur Errichtung von Rettungshäusern auf. 1867 entstand am Stadtrand von Bielefeld eine Anstalt für Epilepsiekranke. 1872 übernahm Friedrich von -»Bodelschwingh die Leitung der Anstalt und des 1869 gegründeten Diakonissenmutterhauses (-»Diakonie), die er „Bethel" nannte und entscheidend ausbaute. 1887 kam der von Hermann Krekeler gegründete „Wittekindshof" (Volmerdingsen bei Bad Oeynhausen) für geistig Behinderte hinzu. Mehr dem christlichen -»Sozialismus als der Erweckung verbunden war 1904 die Gründung der „Krüppelanstalt" (heute „Orthopädische Anstalt") in Volmarstein durch Franz Arndt. Auf katholischer Seite ist u.a. das seit 1887 vom Alexianer-Orden getragene „Haus Kannen" (Amelsbüren bei Münster) zur Pflege von Geisteskranken zu nennen. 1905 entstand die Theologische Schule Bethel (heute Kirchliche -»Hochschule), bevor die Universität Münster (-»Münster, Universität) 1914 neben der Katholisch-Theologischen auch eine Evangelisch-Theologische Fakultät erhielt. Das aus der alten Paderborner Universität hervorgegangene „Seminarium Theodorianum" (1843) wurde 1917 Bischöfliche Philosophisch-Theologische Akademie. Mit dem Preußischen -»Konkordat von 1929 wurde Paderborn Erzbistum mit den Suffraganbistümern Hildesheim und Fulda. Auf evangelischer Seite gingen 1918 die Rechte des Königs von Preußen als Summus Episcopus (-»Kirchenregiment, Landesherrliches) auf die Kirche über. Nach der außerordentlichen preußischen Generalsynode der jetzt „Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union" (APU; -»Evangelische Kirche der Union) genannten preußischen Landeskirche erfuhr die RWKO von 1835 am 6. November 1923 eine Neufassung, die den Synoden weitreichende Rechte gab, während die Konsistorien kirchliche Verwaltungsbehörden wurden. Die Kirchenleitung war kollegialisch organisiert und aus Vertretern von Synode und Konsistorium zusammengesetzt, mit dem Generalsuperintendenten an der Spitze. Die Kirchenwahlen in der 1933 gegründeten „Deutschen Evangelischen Kirche" (DEK; -»Evangelische Kirche in Deutschland 5.) vom 23. Juli 1933 hatten mit dem Sieg der -»Deutschen Christen (DC) geendet und zum Umbau der Altpreußischen Union geführt. An die Stelle der Provinzialkirchen traten zehn DC-geführte „Bistümer", darunter das „Bistum Münster". Große Teile der westfälischen Provinzialkirche standen im Kirchenkampf (—»Nationalsozialismus und Kirchen) von 1933 auf der Seite der Bekennenden Kirche (BK). Die Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 brachten in Westfalen ein vom übrigen Reich abweichendes Ergebnis, indem die Gruppe „Evangelium und Kirche" die Mehrheit vor den DC erhielt. Am 22. August 1933 wählte die westfälische Provinzialsynode Karl Koch für weitere acht Jahre zum Präses. Die Provinzialsynode vom 13. bis 16. Dezember 1933 lehnte das Bischofsgesetz ab, woraufhin Reichsbischof Ludwig Müller Karl Koch in den Ruhestand versetzte, Presbyterien auflösen und Pfarrer strafversetzen ließ. Doch blieb die synodale Gemeinschaft bis zu der von der Polizei aufgelösten Provinzialsynode vom 16. März 1934 aufrechterhalten. An demselben Tag fand die Erste westfälische Bekenntnissynode statt. Der Ersten Bekenntnissynode der DEK in Barmen (29. bis 31. Mai 1934) stand Koch als Präses vor, ebenso den folgenden Bekenntnissynoden in Dahlem und Augsburg und der letzten in Bad Oeynhausen (17. bis 22. Februar 1936). Die Einführung des Deutschen Christen Bruno Adler als evangelischer Bischof von Münster verzögerte sich bis zum 11. November 1934. Zehn Tage später wurde er beurlaubt, während Koch die geistliche Leitung der Provinzialkirche übernahm. Anfang 1935 hielten sich in Westfalen 218 evangelische Kirchengemeinden mit 534 Pfarrern und 20 von 24 Kreissynoden zur BK. 1935 begannen polizeiliche Maßnahmen gegen die BK und ihre Einrichtungen, darunter das 1934 eröffnete BK-Predigerseminar in Bielefeld-Sieker. Im September 1937 wurden alle Einrichtungen der BK aufgelöst. Die Landesbruderräte der BK bestanden während des Krieges fort. Koch legte den Vorsitz des westfälischen Bruderrates 1939 nieder, behielt aber die geistliche Leitung der nichtdeutschchristlichen Pfarrer und Gemeinden bis 1945.

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Der Bischof von Münster, Clemens August G r a f von Galen (seit 1933; seit 1946 Kardinal), begann im S o m m e r 1941 seine Predigten im D o m zu Münster gegen die seit 1939 durchgeführte Euthanasie. 5 7 Weltpriester der Diözesen Münster und Paderborn waren in K Z - H a f t , zumeist in D a c h a u ; über 1 . 0 0 0 Priester der beiden Diözesen waren unterschiedlichen M a ß n a h m e n der Gestapo unterworfen. Auf evangelischer Seite bezahlte Pfarrer Ernst Wilm (Mennighüffen) sein Eintreten gegen die Euthanasie mit mehrjähriger K Z - H a f t in D a c h a u . Sechs weitere Fälle evangelischer Pfarrer sind bekannt, darunter Ludwig Steil (Herne-Holsterhausen), der 1 9 4 5 in Dachau starb.

Die seit 1945 nach Westfalen gekommenen Vertriebenen waren bis 1950 zu 6 2 , 2 % evangelisch und zu 3 5 , 1 % katholisch. 1950 wurden in Westfalen 4 9 , 2 % Protestanten und 4 7 , 3 % Katholiken ermittelt. An der Zugehörigkeit des niederrheinischen Diözesangebietes und Oldenburgs zum Bistum Münster hat sich bis heute nichts geändert. 1958 entstand aus Teilen der Erzdiözesen Köln und Paderborn und der Diözese Münster als Suffragan von Köln das Bistum Essen mit rheinischem und westfälischem Diözesangebiet. 1957 verweigerte die D D R dem Erzbischof von Paderborn die Einreise in den östlichen Teil seiner Diözese. 1973 setzte Papst —»Paul VI. für diesen Teil des Erzbistums Paderborn einen Apostolischen Administrator ein. 1994 wurde das Bischöfliche Amt Magdeburg zum Bistum Magdeburg erhoben. Damit wurde die Erzdiözese Paderborn auf ihren durch Gründung des Bistums Essen verkleinerten Diözesanbereich in der ehemaligen Provinz Westfalen sowie auf Lippe (NRW), Waldeck (Hessen) und Bad Pyrmont (Niedersachsen) reduziert. Die Erzdiözese Paderborn gliedert sich heute in sieben Seelsorgeregionen mit 40 Dekanaten und 775 Kirchengemeinden. Davon gehören 38 Dekanate mit 750 Kirchengemeinden dem westfälischen Diözesangebiet an. Die Gesamtzahl der Katholiken in der Erzdiözese Paderborn betrug am 15. M ä r z 1 9 9 9 1 . 8 5 4 . 0 9 5 , w o v o n auf den westfälischen Diözesanteil ca. 1,78 Millionen entfielen. A m 15. M ä r z 1 9 9 9 standen 1.061 Welt- u. Ordenspriester (ohne Ruheständler) im Dienst des Erzbistums. Das Bistum Münster umfaßt heute fünf „P.egionen", von denen Niederrhein u. Oldenburg außerhalb Westfalens liegen (s. Karte 3). Es zählt - Mai 2 0 0 1 - 6 8 8 Kirchengemeinden, davon 3 8 8 im westfälischen Diözesanteil. Die Z a h l der Katholiken belief sich Ende 1999 auf 2 . 0 8 5 . 5 2 6 , wovon 1 . 3 6 3 . 8 8 6 auf den westfälischen Teil der Diözese entfielen. Im M a i 2 0 0 1 standen 1 . 2 7 0 Welt- und Ordenspriester im Dienst des Bistums, davon 6 5 9 in der Pfarrseelsorge. Das Bistum Essen gliedert sich in 11 Dekanate, von denen fünf Stadtdekanate und die beiden Kreisdekanate Altena-Lüdenscheid und HattingenSchwelm den westfälischen Diözesanteil ausmachen. A m 1. J a n u a r 2 0 0 0 gab es 3 2 1 Pfarrgemeinden, davon 154 in Westfalen. Die Z a h l der Katholiken im Bistum Essen lag im M a i 2 0 0 1 bei 1 . 1 0 1 . 4 2 3 , von denen 4 9 1 . 4 2 6 im westfälischen Diözesanteil lebten.

Mit der „Vorläufigen Grundordnung" von Treysa von 1945 entstand aus der westfälischen Provinzialkirche der APU die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW) als Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Altpreußischen Union bzw. der -»Evangelischen Kirche der Union. Erster Präses der EKvW wurde Karl Koch. Die EKvW erhielt am 1. Dezember 1953 eine Kirchenordnung. Es gibt kein Konsistorium in Münster mehr, sondern ein Landeskirchenamt in Bielefeld als kirchliche Verwaltungsbehörde für die Landeskirche. Die Leitung der EKvW liegt bei der alle vier Jahre neu gebildeten Landessynode, wobei diese Funktion im Auftrag der Landessynode von der von ihr gewählten Kirchenleitung ausgeübt wird. An der Spitze steht der Präses als Vorsitzender von Landessynode, Kirchenleitung und Landeskirchenamt. Die EKvW deckt sich räumlich, von geringfügigen Abweichungen abgesehen, mit dem Gebiet der Provinz Westfalen (s. Karte 2). Sie umfaßt nach dem Stand von 2000 32 Kirchenkreise mit (1998) 655 Kirchengemeinden. Am 1. Januar 2000 gab es 1.548 Pfarrstellen. 1998 wurden 2.834.260 Mitglieder der EKvW ermittelt, gegenüber 3.179.616 im Jahr 1987. 1998 gab es in der EKvW 25.905 Taufen, aber 39.542 Bestattungen. Neben der Katholisch-Theologischen und der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und der Kirchlichen Hochschule Bethel gibt es seit 1965 auch die Evangelisch-Theologische und die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität -•Bochum. 1966 wurde die Paderborner Bischöfliche Philosophisch-Theologische Akademie zur kirchlichen Theologischen Fakultät mit Promotionsrecht erhoben. In Münster

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Westfalen

besteht die Philosophisch-Theologische Hochschule des Kapuzinerordens (--»Kapuziner). Literatur Zu 1.: Arnold Angenendt, Mission bis Millenium 313-1000, Münster 1998 (Gesch. des Bistums Münster 1). - Hans-Jürgen Brandt/Karl Hengst, Die Bischöfe u. Erzbischöfe v. Paderborn, Paderborn 1984. - Eckhard Freise, Das M A bis zum Vertrag v. Verdun (843): Westfälische Gesch. (s.u.) 275-335. - Albert K. Homberg, Stud. zur Entstehung der ma. Kirchenorganisation in Westfalen: W F 6 (1943 - 5 2 ) 4 6 - 1 0 8 . - Wilhelm Janssen, Die Erzbischöfe v. Köln u. ihr „ L a n d " Westfalen im SpätMA: Westfalen 58 (1980) 8 2 - 9 5 . - H a r m Klueting, Gesch. Westfalens. Das Land zw. Rhein u. Weser vom 8. bis zum 20. Jh., Paderborn 1998, 9 - 1 0 3 . - Paul Leidinger, Unters, zur Gesch. der Grafen v. Werl, 1965 (SQWFG 5). - Josef Prinz, Das hohe M A vom Vertrag v. Verdun (843) bis zur Schlacht von Worringen (1288): Westfälische Gesch. 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Westfalen

697

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698

Westindische Inseln

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2. Kirchengeschichte (ab 1789)

(Literatur S.706)

Religionsgeschichte

Die neuzeitliche Religionsgeschichte der westindischen Inseln ist neben der christlichen M i s s i o n und d e m a u f eine marginalisierte R o l l e festgelegten J u d e n t u m (seit d e m 1 7 . J h . ) d u r c h zahlreiche Synkretismen und v o r allem d u r c h Religionen afrikanischer H e r k u n f t g e p r ä g t . D a s c h o n im 16. J h . die T a i n o s a u f den G r o ß e n Antillen und die Kariben a u f den Kleinen Antillen n a h e z u a u s g e r o t t e t w a r e n , die P l a n t a g e n w i r t s c h a f t jedoch i m m e r m e h r A r b e i t s k r ä f t e forderte, w u r d e n in einem nicht m e h r zu e r m i t t e l n d e m U m f a n g Millionen v o n versklavten A f r i k a n e r n ( - > S k l a v e r e i ) in die Karibik g e b r a c h t . D u r c h den bis ins 1 9 . J h . a n h a l t e n d e n Z u s t r o m w u r d e das „kollektive G e d ä c h t n i s " d e r afrikanischen D i a s p o r a i m m e r von n e u e m aufgefrischt. N i c h t nur blieben Afrikanismen als „ S u r v i v a l s " (Herskovits) in Kultur und sozialen Strukturen erhalten, es entwickelte sich z u d e m ein „ A f r i c a T r a n s m a r e " ( W o o d i n g 2 9 2 ) . Bereits m i t der spanischen A n k u n f t a u f H i s p a n i o l a begann der - » S y n k r e t i s m u s : s c h o n die Virgen

de la Caridad

del Cobre,

Inbegriff der eubanta

(Kubanität), vereinigte in

Westindische Inseln

699

sich amerindisch-christliche Religiosität mit den Yorubá-Vorstellungen von Ochúrt, der schönen Orisha der Flüsse und der Liebe (Portuondo Zúñiga 46.278). „Afrikanizität" konnte sich neben dem Christentum in Westindien infolge der Guerilla oder cimarronaje bzw. marronage - die ersten cimarrones (entlaufene Sklaven) waren Tainos auf Hispaniola - behaupten. 1739 mußten die Briten einen Autonomievertrag mit den afrikanischen Maroons in Jamaika schließen, die Holländer 1749 einen solchen mit den Bosnegers in Guayana, und schließlich führte die haitianische Revolution der schwarzen Sklaven 1804 zur Errichtung der ersten schwarzen Republik überhaupt. Im Gegensatz zu Nordamerika (-»Vereinigte Staaten von Amerika) gelang es den Europäern und ihren Missionaren auf den Westindischen Inseln nicht, die Millionen von Afrikanern in ihrer Gesamtheit dem Christentum zuzuführen. Auch wenn die afrikanischen Religionen (-»Afrika III) im Zuge der Kreolisierung synkretistischen Einflüssen von Seiten des Christentums ausgesetzt waren, so blieben dennoch wichtige Rituale und Elemente, insbesondere solche der Yorúbá-Tradition, erhalten. Dieses dürfte u.a. damit zusammenhängen, daß wir hier einem offenen Religionssystem begegnen und „eine Kategorie der Bi-Religiosität" (Barnes 11.22) der Beobachtung zugrunde legen müssen. Die Kontakte zwischen Karibik und Westafrika haben zwischenzeitlich teilweise zu einer „Reafrikanisierung" geführt (Pollak-Eltz 10). Durch Migrationsbewegungen sind Santería oder Voodoo längst in die angrenzenden Festlandsländer gelangt: Miami zählt inzwischen zu den Hauptzentren der Santería! Selbst die Kariben erleben heute ein Revival, wiewohl ihre einstigen religiösen Vorstellungen nur über sekundäre Quellen wie z. B. die Archäologie erschlossen werden können. 1.1. Afrokaribische

Religionen

Der haitianische Voodoo bzw. Vaudou (Fon: Gott, Geist) ist - ungeachtet des offiziellen katholischen Charakters Haitis - die Nationalreligion. Die „Gottheiten" des Pantheons, die Iwa (loa), sind personale Manifestationen der Prinzipien oder Kräfte der einen Schöpfergottheit, des Bondye ( = Bon Dieu). Sie entstammen einerseits der Religion der Fon, wie z. B. der mächtige und gütige Schlangengott Damballah, oder den religiösen Traditionen der Yorubá, wie z. B. der Schmied und Kriegsgott Ogoun. Sie werden dem Rada-Ritus zugerechnet (nach der Stadt Arada/Allada in Dahomey). Die strengen Iwa kongolesischer, sudanesischer und amerindischer Herkunft, die zum Petro-Ritus gehören, befassen sich mehr mit dem Heilen und der Abwehr böser Kräfte. Die Einflüsse des Katholizismus auf Ritual und Ikonographie, z. B. die Übernahme katholischer Gebete und Heiligendarstellungen, ändern nichts an der Tatsache, daß Speise- und Tieropfer, Tanz, Trance und die damit verbundene Inkorporation („Besessenheit") durch einen Iwa von zentraler Bedeutung sind. Die Faszination des Voodoo beruht auf der in der Trance erfahrenen Partizipation an den göttlichen Kräften des Kosmos einerseits und der Identifikation mit dem Generationenstrom sowie der Familie andererseits (Deren 274). Dieses ist eine grundlegende Struktur afrikanischer Religiosität in Lateinamerika. Mit Emigranten ist der Voodoo nach Nordamerika gekommen, wo es in den Südstaaten die Variante des Hoodoo gibt. In der Dominikanischen Republik ist der Voodoo (Vodú) ebenfalls präsent, u.a. als Gagá-Kult (Rosenberg). Auch im Osten Kubas ist der Vodú anzutreffen.

Santería (Heiligenkult) ist eine ursprünglich abwertende Benennung für die kubanische Regla de Ocha (Regeln der Osha [= Orisha]), auch Lucumt-[= Yorubá] Religion genannt. Die Orishas sind spirituelle Agenten und wiederum Manifestationen der kosmischen Kräfte oder acbé, die von Gott - Olódümaré (der Allmächtige), Olorún (Herr der Himmel) oder Olofin (Gesetzgeber) - beauftragt sind, das Universum zu verwalten und folglich mit dem Leben der Menschen verbunden sind. Die Gleichsetzung der Orishas mit den katholischen Heiligen ändert nichts an dem afrikanischen Charakter dieses „impliziten Monotheismus" oder „diffusen Monotheismus" (Idowu 136). Tieropfer, Trance und Inkorporation der Orishas bestimmen auch hier die Liturgie.

Zur Regla de Palo Monte oder Palo Mayombe gehören die Reglas de Congo, die aus dem Norden Angolas nach Kuba gelangten und mehrere Untergliederungen kennen. Hier stehen mehr die Geister der Toten im Mittelpunkt sowie Magie und Zauberei.

700

Westindische Inseln

Aus Calabar (östlich der Nigermündung) kam die Geheimgesellschaft Abakuá, die seit 1836 bezeugt ist: diese Religion der ñañigos (vielleicht von nyannyan, dem Jagdverhalten des Leoparden, abgeleitet) wird mit den griechisch-römischen Mysterien verglichen (Castellanos/Castellanos 205). Die vierte wichtige afrokubanische Religion ist die kleine Regla Arará, eine Vermischung aus den religiösen Vorstellungen der Fon und Yorübá. Mit den Exilkubanern gelangte die Santería nach Nordamerika, wo eine neue Variante entstand (Palmié), aber auch in die Dominikanische Republik und nach Puerto Rico. Auf letzterer Insel sind Riten der Santería, des Palo Mayombe und des Kardecismus (-•Spiritismus) zu einem Konvergenzsystem verschmolzen, das auch bereits als puertorikanische -*Umbanda bezeichnet wird (Pérez y Mena 237). Shatigo bezeichnet die Verehrung der Yotúbí-Orisha in Trinidad, Grenada und Carriacou. Auch wenn einige Ra^a-Riten aus dem Voodoo eine Rolle spielen, spricht man besser von einer Ons^a-Religion, die in der Yorubá-Tradition steht. Denn Shango, der legendäre König von Oyo, der nach seinem Freitod zum Orisha wurde, zum Herrn von Donner und Blitz, ist nur einer der Orishas, deren Inkorporation angestrebt wird. Die Grenze zu den Spiritual Baptists (Shouters) ist fließend (s.u. 1.3.).

In der kleinen Ke/e-Religion im überwiegend katholischem St. Lucia stehen Shango und die Ahnen im Mittelpunkt; letzteres hat Ähnlichkeit mit der Yorúbá-Ahnenverehrung in Gasparillo (Südtrinidad). Kumina kam mit Kontraktarbeitern aus dem Kongo zwischen 1840 und 1870 nach Jamaika und bezeichnet nach dem Kikongo-Wort kutnu einen zeremoniellen Tanz mit Melodie. Im Mittelpunkt dieser kleinen Religion steht die Verbindung zwischen den Tänzern und den Ahnen, über das Medium der Inkorporation, begleitet von Tieropfern und dem Tanz einer „Queen". 1.2. Afrochristliche

Religionen

in

Jamaika

Unverkennbar vom Christentum geprägt sind die folgenden afro-jamaikanischen Religionen, die mit einer kreolisierten Religionsbewegung ihren Anfang nahmen: mit Obeah und Myal. In der gesamten britischen Karibik ist Obeah (von Twi obayifó — Zauberer, Hexer), ursprünglich ein System aus Divination, Nekromantie und —>Fetischismus, bis heute weit verbreitet. Myalistn (von Twi mia - drücken, pressen), der von der Inkorporation der Ahnen begleitete ekstatische Tanz, erlebte in Verbindung mit den Native Baptists 1841/42 (s.u. 2.) eine Erweckungsbewegung, die sich gegen den Obeahism richtete. Der Great Revival von 1860/61 ließ dann zwei Varianten des Revivalism entstehen: Zion Revival und Fukkumina (von Twi kom - verrückter Tanz, daher die pejorative, aus dem Spanischen stammende Bezeichnung Pocomania — kleine Verrücktheit). Die Kirchen des Zion Revivalism suchen durch Trommel, Tanz und Trance die Herabkunft des Heiligen —»Geistes, seine Inkorporation sowie die von biblischen Gestalten zu erlangen. Gott selbst ist zuständig für Fragen der -»Sünde, Jesus dagegen für die Aufgabe des Heilens. Pukkumina steht mehr im afrikanischen Erbe und sucht über die Trance den Kontakt zu den Ahnen.

Von der Einheit von Mensch und Geistern geht auch Convince aus, ein Kult, der eine Mischung aus Revivalism und Kumina darstellt. Von der einst eigenständigen Maroon-Religion leben nur noch wenige Traditionen weiter; die in der Trance sich inkorporierenden Ahnen sind wegen ihres gewalttätigen Charakters gefürchtet. An den Revivalism konnte in den 20er Jahren des 20. Jh. das amerikanische Pfingstlertum (-»-Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung) erfolgreich anknüpfen, vor allem aber war ersterer in den 30er Jahren des 20. Jh. der Nährboden von Rastafari. Heute ist diese Religion, in die auch Elemente von Kumina Eingang fanden, nicht nur in der gesamten Karibik anzutreffen, sondern hat inzwischen - über das Medium des Reggae (Bob Marley [1945-1981]) - weltweit Anhänger. Die „Rastologie" lehrt, daß Ras Täfäri Mäkonnen ( = Kaiser Haile Selassie von Äthiopien [1892-1975]) - genannt JAH (Ps 68,4 KJV) - der Lebendige Gott

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war und auch nach seinem Tode bleibt (vgl. Ps 68,31 KJV). Die anglikanische Bibel, deren Studium von grundlegender Bedeutung ist, wird unter den Rastas individuell und nach Möglichkeit im Kontext des Kebrä Nägäst ausgelegt. Entscheidend ist jedoch die persönliche Kommunikation mit Gott, die über Musik, Tanz und den Ganja-Genuß angestrebt wird (Loth 3 5 - 4 1 ) . Rastafari hat nachhaltig zu einer Reafrikanisierung Jamaikas und weiter Teile der Karibik geführt: zu einem Prozeß der Identifikation mit dem afrikanischen Erbe. Der Glaube, daß Äthiopien das heilige Zion ist, hat die Präsenz der äthiopisch-orthodoxen Kirche in der Karibik nach sich gezogen.

1.3. Die Religionen

Trinidads

Nach der Sklavenemanzipation sind neben afrikanischen und chinesischen Kontraktarbeitern vor allem Inder, also Hindus und Muslime, in die Karibik gekommen, insbesondere ab 1838 nach Britisch-Guayana und ab 1845 nach Trinidad. Trinidad selbst ist bis heute Zentrum synkretistischer Bewegungen: Die Spiritual Baptists, die vor allem die Inbesitznahme durch den Heiligen Geist suchen, aber neben den katholischen Heiligen auch die afrikanischen Orishas kennen, sind eine internationale Bewegung, die Kirchen selbst in New York und Venezuela hat. Die Trance der Shakers von St. Vincent - der vermutliche Ursprung der Spiritual Baptists - wiederum unterscheidet sich von der der Spiritual Baptists dadurch, daß sie infolge des methodistischen Erbes (-»Methodistische Kirchen) nur die Besessenheit durch den Heiligen Geist kennen. Aus Venezuela wiederum kam der Maria-Lionza-Ku\t. Aber auch kabbalistische Einflüsse (-»Kabbala) gehören zum Religionskomplex in Trinidad (Houk, Spirits 9 0 - 9 6 ) . Eine Symbiose von Christentum und afrikanischer Religiosität bilden die von Jeannette Baptiste (1938-1984), der Mother Earth, in den 70er Jahren des 20. Jh. gegründeten Earth People, die sich als authentische Afrikaner verstehen (Littlewood). In Trinidad, wo ein Viertel der Bevölkerung Hindus sind, wurde in den 60er Jahren des 19. Jh. der erste Hindu-Tempel errichtet. Zwar hat das Kastensystem nahezu an Bedeutung verloren, nicht jedoch der -»Hinduismus als Religion. Seit 1910 ist auch der Ärya Samäj in Trinidad tätig. Divali (Lichterfest) ist ein öffentlicher Feiertag, wie auch Hosay, mit dem der schiitische —»Islam an den Märtyrertod Hussains am 10. Muharram erinnert. Daneben gibt es auch - wie in Guayana - die ekstatische Kali-Mai-Puja (Verehrung der Mutter Kali; Vertovec 218-221). Zum Alltag gehören auch synkretistische Berührungen zwischen afrikanischen und Hindu-Traditionen und umgekehrt. 2. Kirchengeschichte

(ab 1789)

Die Kirchengeschichte Westindiens läßt sich in vier Perioden unterteilen (vgl. -»Mission VI): 1) Die Zeit der spanisch-katholischen Mission auf den Großen Antillen, zu der im 17. Jh. der französische Katholizismus (—»Römisch-katholische Kirche) hinzutrat. 2) Der Einfluß des europäischen Protestantismus, der die anglikanische Mission seit der Kolonisation von St. Kitts 1623, die britischen Evangelikaien, die Herrnhuter (-»Brüderunität/Brüdergemeine), die dänischen Lutheraner (-»Lutherische Kirchen) auf den Virgin Islands und die holländischen Reformierten (-»Reformierte Kirchen) auf den Kleinen Antillen umfaßt. Der Begriff „evangelikal" (engl, evangelical) bezeichnet hier jene Entwicklung im 18. Jh. innerhalb der -»Kirche von England, die Nachdruck auf Konversion und Erlösung durch den Glauben legt (ODCC 3 580). Faktisch waren es jedoch die britischen nonkonformistischen Kirchen sowie die Herrnhuter, die den Glauben an den Sühnetod Jesu in die persönliche Lebensführung einbrachten und zur Grundlage ihrer Missionspredigt machten. Sie vermittelten nicht nur das Evangelium, sondern auch den ersten positiven kulturellen Kontakt zwischen europäischer Kultur und afrikanischen „Survivals" (Osborne/Johnston 71).

3) Der nordamerikanische „Missionsprotestantismus" (Silva Gotay 5) nach dem spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und die Pfingstkirchen; 4) die postkoloniale Zeit mit dem Versuch der Emanzipation von den metropolitanen euroamerikanischen Kirchengemeinschaften.

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Bislang hatte die Karibik nur eine periphere Existenz geführt, geprägt von den kolonialen Strukturen und kulturellen Inhalten der Mutterkirchen in den großen Metropolen Europas und Amerikas. Nunmehr sollte sich eine eigene karibische Identität entwickeln (s.u. 2.4.), verbunden mit einem Prozeß der Dekolonisierung und hermeneutischen Rekonstruktion (Moseley).

2.1. Die hispanische Mission begann als Kirchenpatronat der spanischen Krone unmittelbar nach der Eroberung. Die Encomienda erlaubte die Versklavung der Indios, zwang andererseits zur Unterstützung der Doctrina, d.h. der Missionsgemeinde. 1511/12 entstanden die Bistümer Santo Domingo und Concepción de la Vega auf Hispaniola und San Juan de Puerto Rico und 1516 das von Santiago de Cuba. -»Franziskaner, -»Dominikaner, Merzedarier u.a. widmeten sich der Evangelisation unter Indios und afrikanischen Sklaven, während die Kolonisten und die ersten afrikanischen Sklaven aus Spanien das System der Hermandades oder Cofradías (Bruderschaften) - in Kuba waren es die Cabildos (Kapitel) - mitbrachten. Schwarze Cofradías wurden vielfach zu Stätten des Synkretismus.

2.2. In den britischen, holländischen und dänischen Kolonien bestand zunächst kein Interesse an einer Evangelisation. Eine für die Bedürfnisse der Region ausgestattete missionierende Kirche gab es nicht. So war z.B. der Bischof von London bis 1824 für die gesamte britische Karibik zuständig, faktisch jedoch der jeweilige Vertreter der Krone. Das damit gegebene Desinteresse kam durchaus den Interessen der Pflanzer entgegen. -•Taufe und religiöse Unterweisung wurden als Gefahr für die Sklavenhaltergesellschaft angesehen. Um 1800 gab es in Jamaika, wo mit 400.000 Schwarzen und Weißen fast die Hälfte der Bevölkerung von Britisch-Westindien lebte, lediglich 20 anglikanische Gebetsstätten (Smith 173). Der protestantisch-missionarische Impetus wurde von den Moravians und den nonkonformistischen Methodisten und -»Baptisten im 18. Jh. nach Westindien gebracht. 1732 gingen die ersten Herrnhuter in das dänische St. Thomas, 1790 hatten ihre Missionare Tobago erreicht. Die Methodisten kamen gegen 1760 (Bisnauth 110), gegen 1824 waren ihre Societies (Missionsbasen) nahezu in der gesamten Karibik anzutreffen. Aber zur eigentlichen Religion der schwarzen Sklaven und Freigelassenen wurde die baptistische Bewegung, die 1783 mit George Liele (um 1750 - um 1828) nach Jamaika kam. Liele, schwarzer Sklave und „the first Baptist modern missionary" (Gayle 10) hatte 1775 und 1778 die ersten schwarzen Kirchen in Nordamerika gegründet und war mit anderen Black Loyalists 1783 nach der amerikanischen Revolution (1775-1782) nach Kingston gelangt, wo er erfolgreich die Gemeinde der Etbiopiati Baptists schuf. Der von ihm bekehrte Moses Baker (ca. 1731-1828) bat dann die 1792 gegründete britische Baptist Missionary Society um Unterstützung. 1814 begann dieselbe mit ihrer erfolgreichen Arbeit in Jamaica, wo sich gleichzeitig die Scottish Presbyterian Church etabliert hatte. In Guayana hatten sich 1808 die Kongregationalisten (-»Kongregationalismus) niedergelassen, die —»Presbyter ianer waren 1828 gefolgt. In nur einem Jahrhundert hatte die evangelikale Mission das gesamte Westindien erfaßt. Die Zeit vom Ausbruch des Sklavenaufstandes vom 22. August 1791 im Norden von Saint-Domingue — die Legende spricht von einer Vaudou-Zeremonie im Bois Caiman als Auslöser - bis zur Mitte des 19. Jh. war eine Phase tiefen Wandels. Der Sieg der Schwarzen in der ersten karibischen Republik hatte die Pflanzer der Region zutiefst verunsichert. Zudem formierte sich in England der Widerstand gegen die Sklaverei, der im besonderen mit dem Namen von W. —• Wilberforce verknüpft war. Sein Kampf für die Abolition, die die -»Quäker schon 1787 gefordert hatten, belegt, daß der evangelikale Flügel in der Kirche von England die christliche Ethik als unvereinbar mit der Sklaverei zu betrachten begann. In der Karibik galten daher ihre Missionare aus der Sicht der Plantokraten, d.h. der die koloniale Politik und Gesetzgebung beherrschenden Plantageneignern, als Agenten dieser neuen Entwicklung. Während sie von der Gleichwertigkeit des Afrikaners als Mensch ausgingen und nach Europa das Bild vom „schwarzen Christen" (Russell) vermittelten, der der Erlösung fähig ist, betrachteten die britischen Plan-

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tokraten ihre Sklaven weiterhin als chattel, d.h. als beweglichen Besitz nach Art des Viehbestands, über den sie nach Belieben verfügen konnten. Hatte N.L. ->Zinzendorf die Institution der Sklaverei noch als gottgegebene Strafe ansehen können (Osborne/ Johnston 72), war das für die evangelikalen Missionare nicht mehr möglich, wenn auch die Machtverhältnisse sie zu einer vorsichtigen Zurückhaltung in der Sklavenfrage zwangen. So konnten Missionsarbeit und emanzipatorische Ethik nicht mehr getrennt werden. 1823 kam es in British-Guayana zu einem Sklavenaufstand, der dazu führte, daß der kongregationalistische Missionar John Smith ins Gefängnis geworfen, mißhandelt, zum Tode verurteilt wurde und daselbst verstarb. Er hatte gegen die Sklaverei gesprochen und sich für den Anführer des Aufstandes, seinen alten Diakon Quamina, eingesetzt. Die Abolitionisten im Mutterland machten diesen Vorfall zum Gegenstand von Predigten (Russell 51). Die Plantokraten wollten ihr Ansehen verbessern und schufen 1823 eine von Pflanzern finanzierte Gesellschaft für die Bekehrung, religiöse Unterweisung und Bildung der Sklaven. Bis dahin hatten sie diese stets zu verhindern gesucht. Es waren die evangelikalen Missionare, die über Sonntagsschulen und Abendklassen die ersten Bildungsprogramme auf den Weg gebracht hatten. Aber erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. sollte es zu einer Konsolidierung des Bildungswesens in der protestantischen - das berühmte Codrington College auf Barbados wurde jedoch schon 1745 eröffnet - und katholischen Karibik kommen. 1823 schuf die britische Regierung die Grundlagen für eine bessere kirchliche Versorgung der Sklaven durch die Errichtung von zwei Bistümern in Westindien. Der bis dahin für die Region zuständige Bischof von London, Beilby Porteus (1731-1808), entstammte dem evangelikalen Flügel der Staatskirche und war daher selbst an einer Missionarbeit unter den Sklaven interessiert. Mit dem Bistum von Jamaika, unter Einschluß der Bahamas und Honduras, und dem von Barbados, das von den Virgin Island bis nach Guayana reichte, begann erstmals eine effektive Mission. Was jedoch das über Jahrhunderte praktizierte Konkubinat anging, so schuf das britische Parlament erst 1828 die Möglichkeit, daß Sklaven überhaupt heiraten konnten. Die auch in weißen Kreisen anzutreffende laxe Sexualmoral, die zuerst von den evangelikalen Missionaren thematisiert worden war, sollte die viktorianischen Pfarrer noch lange beschäftigen (Osborne/ Johnston 270). 1831 kam es in Jamaika zu einem neuen Sklavenaufstand, der als Baptist War bezeichnet wurde, weil ihr Anführer, der Sklave Sam Sharpe (1801 — 1831), Diakon des populären Baptistenpfarrers Thomas Burchell (1799-1846) gewesen war. Die Native Baptists unterstützten die Rebellion, die blutig niedergeschlagen wurde. Sharpe wurde gehängt, Burchell und sein Kollege William Knibb (1803-1845) wurden verhaftet; letzterer floh nach seiner Freilassung nach England, wo er sich engagiert für die Emanzipation einsetzte. Auf Seiten der Pflanzer wuchs die Gewaltbereitschaft: die von ihnen 1832 gegründete Colonial Church Union griff zu den Mitteln der körperlichen Bedrohung der methodistischen und baptistischen Missionare, „sektiererische" Kirchen und Privathäuser wurden niedergebrannt. Erst der Emancipation Act des britischen Parlaments vom 1. August 1834 setzte dem Sklavensystem ein Ende, auch wenn eine als Apprenticeship bezeichnete Zwangsarbeitszeit von vier Jahren angehängt wurde. Auf den dänischen Inseln wurde sogar erst 1847 die Emanzipation eingeführt, verbunden mit einer zwölfjährigen „Lehrzeit". In Jamaika hatten sich vor allem die Baptisten dafür eingesetzt, den ehemaligen Sklaven bei der Gründung einer freien Existenz - als kleine Farmer - zu helfen. Es entstand das System von Free Villages mit Kirche und Schule als Mittelpunkt, die ein Gegengewicht zu den großen Plantagen darstellen sollten. Das erste Projekt dieser Art war 1834 die Gründung von Sligoville durch den Baptistenmissionar James M. Phillippo (1798-1879). Die Veränderung der sozialen Verhältnisse führte zu einer mehr informellen Zugehörigkeit zu den Kirchen, von der die Native Baptists profitierten (Osborne/John-

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ston 136.138). Die Methodisten erlebten nach 1838 sogar einen herben Niedergang, von dem sie sich erst nach dem Great Revival erholten. Grundsätzlich hatten die Missionskirchen das Vorhandensein eines kohärenten Weltbildes auf Seiten der Afrikaner, wie es sich dann im Myalism von 1840/41 und dem Great Revival von 1860/61 zeigen sollte, nicht für möglich gehalten (ebd. 147). Die Beteiligung der westindischen Missionen an der Missionierung Afrikas — aufgrund der sozialen und ethnischen Affinität zwischen den Westindischen Inseln und Westafrika — in den 40er Jahren des 19. Jh. darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese bis etwa 1870 neben Phasen des Wachstums auch große Verluste in ihren Stammgebieten hinnehmen mußten. Das Unterfangen einer karibischen Missionierung unter den überlebenden Amerindianern (z. B. unter den 1797 von St. Vincent nach Belize verbrachten Schwarzen Kariben, den Garifuna) sowie der Versuch, in das katholische Westindien einzudringen, brachten nur wenig Erfolg. Der spanische und französische Katholizismus erwies sich als außerordentlich gefestigt. In Haiti, das infolge seines Unabhängigkeitskrieges bis zum Abschluß des Konkordats von 1859 von der katholischen Welt abgeschnitten war, versuchten die Methodisten Fuß zu fassen. Aber der kreolische Katholizismus und der Voodoo als Parallelreligion erwiesen sich als widerstandsfähig. Auch in der anglikanischen Diözese Barbados konnte sich der Katholizismus auf den Kleinen Antillen gut behaupten; in Trinidad wurde nach 1865 der Versuch einer Anglikanisierung aufgegeben. In Jamaika war die katholische Kirche nach der britischen Eroberung von 1655 in die Marginalität abgedrängt worden und erlebte erst nach dem Zweiten Vatikanum (-»Vatikanum I und II) einen Aufschwung (Osborne 441). Die kirchlichen Verhältnisse in Martinique und Guadeloupe waren anfänglich keineswegs wohlgeordnet. Zwischen dem Apostolischen Präfekten und der französischen Metropole gab es Schwierigkeiten, doch wurden in den Jahren von 1815 bis 1848 die Grundlagen für eine Neuordnung der Kirche, für ein Schulwesen und vertiefte Evangelisation der Sklaven gelegt. Die Sklaverei, mit der sich auch der französische Klerus arrangiert hatte, wurde erst 1848 abgeschafft. Durch den Konkordatsvertrag von 1850 wurde dann das Bistum von Basse-Terre auf Guadeloupe als Suffragan der Erzdiözese von Bordeaux errichtet. In der britischen Karibik entwickelten sich - als Folge der „Disestablishment"-Bewegung im Mutterland — in den Jahren 1870-1900 die Kolonialkirchen, die in Übereinstimmung mit der Entwicklung in der Kirche von England synodale Strukturen mit einer pankaribischen Provittee of the West Indies bildeten. Lediglich in Barbados blieb die Church of England als Staatskirche bis 1969 (Davis) erhalten. Dagegen konnten die im 17. Jh. und noch 1703 ausgesprochenen Verbote katholischer Religion auf den niederländischen Antillen an dem überwiegend katholischen Charakter von Aruba, Bonaire und Curaçao nichts ändern, lediglich die kleineren Inseln wurden protestantisch. 2.3. Die in der Karibik etablierten Kirchen, von den Anglikanern über Moravians, Methodisten, Baptisten und Presbyterianer bis hin zur katholischen Kirche sahen sich gegen Ende des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. mit dem imperialistisch auftretenden amerikanischen „Missionsprotestantismus" konfrontiert. Schon während des spanischamerikanischen Krieges von 1898-1900 verabredeten nordamerikanische Missionsgesellschaften die Aufteilung der zu erobernden Gebiete. Aus der Sicht amerikanischer Berufungsgewißheit war es geradezu eine christliche Pflicht der Nächstenliebe, das „reine Christentum" nach Westindien zu bringen (Prien 795). Insbesondere in dem annektierten Puerto Rico beteiligten sich die protestantischen Kirchen ganz offen an der politisch gewollten Amerikanisierung der Gesellschaft. Wie einst der Katholizismus und dann der Anglikanismus als Religionen metropolitaner Macht auftraten, so nunmehr die nordamerikanischen Missionare, nicht nur in Puerto Rico und Kuba, sondern im Gefolge amerikanischer Interventionen auch in Haiti und der Dominikanischen Republik. Zwar wurde auf den spanischen Antillen 1869 die Religionsfreiheit eingeführt, doch war die königliche Patronatskirche in Santo Domingo bis 1865 und in Kuba und Puerto

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Rico bis 1898 die Regel. Die von den USA 1900 betriebene Trennung zwischen Kirche und Staat nach fast 400 Jahren Staatskirchentum traf die katholische Kirche empfindlich. Die zudem erst späte Abschaffung der Sklaverei in der spanischen Karibik - in der Dominikanischen Republik 1844, in Puerto Rico erst 1873 und in Kuba selbst sogar erst 1886! - hatte die Integration der Afrikaner und ihrer Nachkommen nicht gerade gefördert. Die nordamerikanischen Protestanten konnten Erfolge verbuchen, vor allem in Puerto Rico. Neben den „historischen" Kirchen wie Moravians, Methodisten, Baptisten, Presbyterianern, Lutheranern oder den Disciples of Christ gibt es heute eine Vielzahl von evangelikalen Gemeinschaften - insgesamt mehr als 300 Denominationen, Synoden und große Kirchen (Rodriguez Carmona 7). Dennoch dürfte der protestantische Anteil an der Bevölkerung 1 5 % kaum überschreiten, während der Katholizismus mit 85 % seine Stellung behaupten konnte. Mit der Ankunft des aus dem nordamerikanischen Holiness Movement und des aus ihm hervorgegangenen Pentekostalismus (—•Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung) kamen neue Religionsformen. Die Heiligungskirchen - z. B. die Church of God, die Church of the Nazarene oder die Church of Christ - betonen den Eintritt des Heiligen Geistes in das Herz des Beters, der ihm als „zweiten Segen" die -»-Heiligung verleiht. Die Pfingstkirchen mit ihrer ekstatischen Praxis des Zungenredens nach Herabkunft des Heiligen Geistes gehen noch einen Schritt weiter. Beide Bewegungen gelangten seit den 40er Jahren des 20. Jh. über Kuba, Haiti und Puerto Rico in die britische Karibik, erreichten in den nächsten zwei Jahrzehnten auch Britisch-Guyana und über afrokaribische Emigranten sogar England. Die von beiden gelehrte unmittelbare Erfahrung des Heiligen Geistes entspricht den überkommenen afrikanischen Elementen der Geistbesessenheit sowie des Sichverlierens in der aktiven Teilnahme am gemeinschaftlichen Gottesdienst. In Jamaika gehören die Pfingstkirchen neben Baptisten, Native Baptists und Revival-Kirchen zu den stärksten religiösen Traditionen; die Church of God ist vermutlich die größte Einzelkirche. 2.4. Seit etwa 1960 sind - infolge einer neuen pfingstlichen Erweckung - neben den „klassischen" Pfingstlerkirchen wie z. B. Assemblies of God oder Church of God in Christ auch neo-pfingstlerische Gemeinschaften sowie die „charismatische Bewegung" in der Karibik vertreten. Letztere fanden auch Eingang in die historischen Kirchen des Protestantismus und in die katholische Kirche. 1973 haben sich 35 der karibischen Kirchen zur Caribbean Conference of Churches zusammengeschlossen, die neben der anglikanischen Kirchenprovinz Westindiens und der römisch-katholischen Bischofskonferenz der Antillen auch Lutheraner, Kongregationalisten, Presbyterianer, Episkopalisten, Baptisten, Methodisten, Reformierte, Moravians, einige wenige Pfingstkirchen und die äthiopisch-orthodoxe Kirche einschließt. Das Ziel der Kirchenkonferenz, die dem Weltrat der Kirchen angeschlossen ist, steht unter dem Motto „der Förderung des Ökumenismus und des sozialen Wandels in Gehorsam gegenüber Jesus Christus und in Solidarität mit den Armen" (Caribbean Conference of Churches). Von ökumenischem Geist zeugt auch die Zusammenarbeit von katholischen Seminaren in Trinidad mit dem anglikanischen Codrington College sowie dem United Theological College of the West Indies in Jamaika in der theologischen Abteilung an der University of the West Indies. Die Situation der Kirchen auf den Westindischen Inseln ist durch den ethnischen, kulturellen und religiösen Pluralismus gekennzeichnet, den die metropolitanen Kolonialmächte in die Karibik gebracht haben. Christen der verschiedensten Traditionen leben neben afrokaribischen und afrochristlichen Gemeinschaften, neben Hindus und Muslimen sowie Chinesen. Von einer primär missionarischen Situation kann nicht mehr die Rede sein, auch wenn Pfingstler und Neo-Pfingstler eine nicht immer unproblematische Mission betreiben. Einen Rückschlag für Katholiken und Protestanten brachte die marxistische Revolution von 1959 in Kuba. Doch seit den 80er Jahren des 20. Jh. ist eine religiöse Renaissance zu beobachten, vor allem für die Protestanten, nachdem sie ihre

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Unabhängigkeit von den Mutterkirchen in den USA erklärt hatten. Eine gestärkte Position nehmen die afrokubanischen Religionen ein, deren Anhänger - nach dem Prinzip der „Bi-Religiosität" - sich zugleich als römisch-katholisch verstehen. Ungeachtet der Multikulturalität hat sich ein „karibischer Konsens" (Lewis; Williams, Theology 217) als Gegensatz zu den metropolitanen Zentren mit ihrer ökonomischen M a c h t herausgebildet. Seit der 4. Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Santo Domingo 1992 wird auch katholischerseits die Eigenständigkeit der Karibik hervorgehoben (Beozzo 8 0 5 - 8 0 9 ) . Die Erinnerung an die Sklaverei ist allgegenwärtig und folglich auch fester Bestandteil des theologischen Denkens. Die von Europa und Amerika ausgegangene Mission mit dem Ziel, die Seelen zu retten, wird heute im Kontext von Kolonialismus und Neo-Kolonialismus bisweilen als der Versuch gewertet, den Gott der europäischen Kulturen den Völkern aufzuzwingen, um so das Kolonialsystem zu stützen. Abgesehen von den Quäkern und dem Protest einiger nonkonformistischer Missionare haben nicht die Kirchen als solche das Ende der Sklaverei heraufgeführt (Quenum 201.298.303). Karibische Theologie versteht sich als Befreiungstheologie (-»Theologie, Christliche II/5.2.) in der noch immer anhaltenden Unterdrückung und will folglich einen Prozeß der Indigenisierung durchlaufen, der mit dem ökumenischen Treffen von kirchlichen Repräsentanten 1971 begonnen wurde. Der „karibische Christ" muß die Frage nach der Gerechtigkeit stellen und sich gegen die Privatisierung der Sünde, wie sie insbesondere von den neo-pietistischen Kirchen aus Nordamerika in die Karibik gebracht wurde, wenden. Christliche Identität ist nicht abzulösen von einer Veränderung der sozialen, politischen und ökonomischen Lebensverhältnisse. Das gilt nicht nur für die protestantischen Gemeinschaften, sondern auch für die katholische Kirche, die sich als Vertreterin des Wandels in der Gesellschaft versteht (Thomas 149). Solidarität mit den Armen bedeutet nach Lewin Williams: aus dem Herrn der Geschichte nicht einen „ G o t t der Arm e n " zu machen, der die Schmerzen der Schwachen billigen würde, sondern den biblischen Gott der Befreiung. „Als Gott Pharao richtete, richtete er die Sklavenhalter der karibischen Völker. Als Gott ,Nein' zu Israels Sklaverei sagte, sagte er ,Nein' zu Sklaverei, Kolonialismus und Neo-Kolonialismus in der K a r i b i k " (Williams, Theology 116). Literatur Sandra T. Barnes, Intr. The Many Faces of Ogun: Africa's Ogun. Old World and New, hg. v. ders., Bloomington, Ind. 1989 (African Systems of Thought) 1 - 2 6 . - Miguel Barnet, Cultos afrocubanos. La Regla de Ocha, la Regla de Palo Monte, Havanna 1995; dt.: Afrokubanische Kulte. Die Regla de Ocha, die Regla de Palo Monte, Frankfurt a.M. 2000 (édition suhrkamp 2143). - José Oscar Beozzo, Inculturaçâo, Evangelizaçâo e Libertaçâo em Santo Domingo: REB 53 Nr. 212 (1993) 801-823. - Kenneth M . Bilby/Fu-Kiau Kia Bunseki, Rumina. A Kongo-based Tradition in the New World, 1983 (CCEDAF 8, sér. 4). - Dale Bisnauth, History of Religions in the Caribbean, Kingston, Jamaika 1989. - Ay BoBo. Afro-karibische Religionen, hg. v. Manfred Kremser, Wien; I. Kulte, 1996; II. Voodoo 1996 2 2000; III. Rastafari, 1994 2 2000 (Wiener Beitr. zur Ethnologie 8 / 1 - 3 ) . - Barbara Bush, Slave Women in Caribbean Society 1 6 5 0 - 1 8 3 8 , Kingston, Jamaika/Bloomington, Ind./London 1990 (The Columbus Ser. of Caribbean Studies). - Carribbean Conference of Churches: http://www.cariblife.com/pub/ccc [mit Newsletter]. - Jorge Castellanos/ Isabel Castellanos, Cultura Afrocubana, III. Las religiones y las lenguas, Miami, Fla. 1992 (Colección ébano y canela). - Chanting Down Babylon. The Rastafari Reader, ed. by Nathaniel Samuel Murrel/William David Spencer/Adrian Anthony McFarlane, Philadelphia, Pa. 1998. - Julia Cuervo Hewitt, Aché, Presencia Africana. Tradiciones Yoruba-Lucumí en la Narrativa Cubana, 1988 (AmUSt Ser. 2, 66). - Kortright Davis, Cross and Crown in Barbados. Caribbean Politicai Religion in the Late 19th Century, 1983 (EHS.T 212). - Carlos Esteban Deive, Vodu y Magia en Santo Domingo, Santo Domingo, Dominikanische Republik 1975 2 1988. - Philippe Delisle, Renouveau Missionnaire et Société Esclavagiste. La Martinique 1 8 1 5 - 1 8 4 8 , Paris 1997 (La France au fil des siècles). - Maya Deren, Divine Horsemen, New York 1953; dt.: Der Tanz des Himmels mit der Erde. Die Götter des haitianischen Vaudou, Wien 1992. - Art. Evangelicalism: ODCC 3 (1997) 579f. - From Shore to Shore. Soundings in Carribbean Theology, hg. v. William Watty, Kingston

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Heinz-Jürgen Loth

Westminster/Westminsterconfession 1. Entstehung, Zusammensetzung und Verfahren Literatur S. 7 1 1 )

1. Entstehung, Zusammensetzung

und

2. Beschlüsse

3. Wirkungen

(Quellen/

Verfahren

In den Jahren 1645-1652 tagte in Westminster in London eine Synode calvinistischer Theologen. Sie bildete den Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Puritanern (—•Puritanismus) und ihren Gegnern innerhalb der —»Kirche von England (vgl. T R E 9,640f.). Die Uneinigkeit zwischen beiden Seiten betraf Fragen des Ritus, der Kirchenordnung, der kirchlichen Praxis und der Lehre. Seit 1589 folgte die Kirche von England in der Lehre einer klaren calvinistischen Linie, bis W. —»Laud nach seiner Erhebung zum Erzbischof von Canterbury eine breite Öffnung für den festländischen Arminianismus (-»Arminius, Jacobus/Arminianismus) erzwang. Darüber hinaus forderte Laud die Durchsetzung der bischöflichen Kirchen- und englischen Gottesdienstordnung in der Kirche von -»Schottland und veranlaßte damit die Schotten und die englischen Puritaner, einen Bund zum gegenseitigem Beistand einzugehen (vgl. T R E 30,393,45ff.). In Schottland spitzte sich die Lage durch den Versuch zu, am 23. Juli 1637 die neue Ordnung in Edinburgh einzuführen. Er führte zum Zusammenschluß der Bevölkerung in einem National Covenant zur Verteidigung der kirchlichen Freiheit gegenüber papistischer Verderbnis (28. Februar 1638). In England kam es zu einer Krise durch das Lange Parlament, das Karl I. 1640 einberufen hatte, um die Finanzierung des nun unausweichlichen Krieges mit Schottland zu ermöglichen. Das streng puritanische Parlament forderte eine durchgreifende Kirchenreform. Bilder, Altäre und Kruzifixe wurden aus den Kirchen entfernt, und 1642 schaffte das Parlament das Bischofsamt und die bestehende Gottesdienstordnung ab. Gleichzeitig lagen König und Parlament miteinander im Krieg. Zur Beilegung der religiösen Fragen berief das Parlament die gemeinhin als Westminstersynode bezeichnete Versammlung ein, „um die Ordnung und die Liturgie der Kirche von England festzulegen und zur Verteidigung und Klärung der Lehre dieser Kirche gegenüber falschen Anschuldigungen und Verunglimpfungen, wie es mit dem Wort Gottes vereinbar und am besten dazu geeignet sein soll, den Frieden der Kirche im eigenen Land zu gewähren und zu bewahren und sie zu einem neuen Einvernehmen mit der Kirche von Schottland und anderen reformierten Kirchen außerhalb des Landes zu bringen" (vgl. Ordinance vom 12. Juni 1643). Die Mitgliederzahl dieser Synode wurde vom Parlament auf 121 Geistliche und 30 Laien festgelegt, wobei 20 Laien aus dem House of Commons und 10 aus dem House of Lords zu wählen waren. Die Geistlichen kamen aus den einzelnen englischen Counties, dazu vier aus London und je einer aus den Counties von -»Wales. Hinzu trat eine von der General Assembly der Church of

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Scotland entsandte Delegation von vier Geistlichen und zwei Laien. Die Geistlichen waren Alexander Henderson (1538-1646), Robert Baillie (1599-1662), Samuel Rutherford (1600-1661) und George Gillespie (1613 —1648) und die Laien Lord Maitland, der spätere Herzog von Lauerdale (1616-1682) und Sir Archibald Johnstone (1611-1663). Sie bildeten die einflußreichste Gruppe in der Synode, gehörten ihr aber nicht als Mitglieder an. Von Anfang an bestand die Versammlung aus einer Reihe unterschiedlicher Gruppierungen oder Parteien, deren Stimmen und Interessen ihren Verlauf bestimmten. Einmal gab es die Episkopalisten. Vier Prälaten und ihre Theologen waren geladen, darunter der Erzbischof von Armagh, James Ussher (1581-1656). Allerdings erschien nur ein Bischof in der Synode; doch sollten mehrere ihrer Mitglieder später, nach der Restauration der Monarchie und des Bischofsamtes unter Karl II., Bischöfe werden. Der einzige theologische Vertreter dieser Partei war Sir Daniel Featley (1582-1645), und er wurde ausgeschlossen, nachdem er durch Verbreitung von Verhandlungsprotokollen gegen die Geschäftsordnung verstoßen hatte. Die geringe Vertretung erklärt sich daraus, daß der König seinen Prälaten die Teilnahme untersagt hatte. Eine weitere Partei waren die Erastianer (Paul, Assembly 127-132), die nach dem Vorgang des Heidelbergers Thomas Erastus (1524-1583; vgl. T R E 4,68,34ff.) im Staat die höchste maßgebliche Instanz in kirchlichen Fragen sahen. Sie waren durch die bedeutenden Gelehrten John Lightfoot (1602-1675) und John Seidon (1584-1654) vertreten. Eine dritte Partei stellten die Independenten ( - • Kongregationalismus), die zwar zahlenmäßig gering, aber in den Diskussionen gewichtig waren. Angeführt wurden sie von Philip Nye (1596-1672) und Thomas Goodwin (1594—1672). Sich selbst bezeichnete diese Gruppe als „die fünf dissentierenden Brüder", und sie bestritt scharfsichtig und mit großer Beharrlichkeit den Presbyterianismus. Dementsprechend zogen sie sich aus der Synode zurück, als diese eine presbyterianische Line einschlug (vgl. T R E 27,331ff.; 27,341,35ff.; 27,345,1 ff.). Die vorherrschende Partei waren von Anfang an die Presbyterianer, und ihre Stärke wuchs durch das Hinzukommen der Schotten. Ihr Ziel war die Errichtung einer presbyterianischen Kirchenordnung und die Aufstellung eines calvinistischen Bekenntnisses (vgl. T R E 25,494,5ff.). Das Parlament wählte Dr. William Twisse (1575-1646) zum Sprecher der Synode und stellte ihm zwei Sekretäre zur Seite. Jeden Werktag von 9 bis 13 oder 14 Uhr trat die Synode zusammen. Die durchschnittliche Zahl der Sitzungsteilnehmer lag bei etwa 60. Eine Zulassung war nur mit Genehmigung des Parlaments möglich. Die Geschäftsordnung sah vor, daß 1) über keine Frage am Tag ihrer Einbringung abgestimmt werden sollte; 2) die Redner ihre Ausführungen aus der Schrift belegen sollten; 3) die Diskussion frei sein und so lange geführt werden sollte, wie es die Synode für richtig hielt. Die Gesamtsynode gliederte sich in drei Kommissionen, wobei jedes Mitglied einer dieser Kommissionen angehörte. Durch sie wurden die anstehenden Fragen vor das Plenum gebracht. Es wurden Fastentage festgesetzt, und an diesen Tagen wurden Gottesdienste mit besonderen Predigten gehalten. Bis zum 22. Februar 1648 hielt die Synode 1.163 Sitzungen ab. In den folgenden Jahren fungierte sie bis 1653 als Prüfungskommission für Anwärter für das geistliche Amt, und danach „schmolz sie", laut T h o m a s Füller, „schrittweise dahin und verschwand mit dem Parlament" (The Church History of Britain, London, III 1656, 503). 2. Beschlüsse Neben ihrer Bearbeitung der 39 Artikel verabschiedete die Westminstersynode fünf Dokumente zu Ordnungs- und Lehrfragen. Auf Weisung des Parlaments wandte sie

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sich zunächst einer Revision der 39 Artikel (Thirty Nine Articles of Religion-, vgl. TRE 9,639,8ff.; 13,424,29ff.; 18,347,23ff.) zu. Als diese Arbeit bis zum Artikel XVI fortgeschritten war, ordnete das Parlament an, statt dessen eine Erklärung zur Kirchenverfassung vorzubereiten, in der die Schotten das Schlüsselthema der anstehenden Fragen sahen. Nach Ansicht der schottischen Kommissionsmitglieder war der Erlaß einer presbyterianischen Kirchenverfassung für die englische Kirche biblisch geboten. Das erste der fünf Dokumente waren die Propositions Concertiing Church Government and Ordination of Ministers. In vollständiger Fassung wurden sie am 8. November 1644 dem Parlament zugeleitet. Dort wurden sie diskutiert und zur Überarbeitung an die Versammlung zurückverwiesen. Abgeschlossen und gebilligt wurden sie erst 1648. Das zweite der fünf Dokumente war die Confession ofFaith. Mit ihrer Ausarbeitung wurde die Synode im August 1644 beauftragt. Das Parlament verlangte eine Ergänzung durch Schriftbelege, und mit deren Zufügung wurde das Bekenntnis am 29. April 1647 fertiggestellt. Die General Assembly der Church of Scotland billigte es 1647 und das schottische Parlament 1649. Das englische Parlament nahm es 1648 mit einzelnen Änderungen an. Das dritte Dokument war das Directory for the Public Worship of God. Es wurde Ende 1644 abgeschlossen und am 3. Januar 1645 vom Parlament für die Verwendung in England und Wales angenommen und einen M o n a t später auch von der schottischen General Assembly gebilligt. Es enthielt Vorschriften für die Durchführung des öffentlichen Gottesdienstes und anderer Amtshandlungen und verwarf die Gottesdienstordnung des -»Book of Common Prayer. Das vierte und fünfte Dokument, der Längere und der Kürzere Katechismus (vgl. T R E 17,740,22ff.), wurde gleichzeitig mit der Confession of Faith vorbereitet, doch wurde die Arbeit an dieser eher abgeschlossen als die Schlußfassung der Katechismen. Der Längere Katechismus, im wesentlichen eine Arbeit von Anthony Tuckney (1599— 1670), wurde zumeist als Handreichung für Geistliche zur Darlegung des Glaubens in der Predigt verwendet. Der streng logisch aufgebaute Kürzere Katechismus war im wesentlichen das Werk des Mathematikers und Professors für Geometrie an der Universität Oxford Dr. John Wallis (1616—1703). Der Kürzere Katechismus ist ein außerordentlich reich entfalteter Niederschlag puritanischer Glaubenserfahrung und Theologie und wird immer noch viel verwendet. Unter den Dokumenten der Westminstersynode ist er insofern einzigartig, als es nie kirchliche Versuche zu seiner Revision gegeben hat. Er übertrifft alle anderen Katechismen durch die Bündigkeit und Präzision seiner Fragen und Antworten. Zugleich stellt er alle Fragen in unpersönlicher Form statt den Lernenden unmittelbar anzusprechen. Schließlich ersetzt er die alte Ausrichtung am Apostolischen Glaubensbekenntnis durch eine neue, logische Abfolge der Leitthemen des christlichen Glaubens. Im 20. Jh. sind einzelne Ergebnisse der älteren Forschung überprüft und abgewandelt worden. R.S. Paul hat in The Assembly of the Lord die originalen Verhandlungsprotokolle und andere Primärquellen untersucht und eine detaillierte Chronologie für eine Reihe der auf der Synode sich abspielende Vorgänge erarbeitet. J.R. de Witt trägt in Jus Divinum ein traditionelles Verständnis der in den Kirchenordnungsdiskussionen der Synode anstehende Fragen vor. In der Confession kommt eine präzise und eingehende Bibelexegese, der Ertrag der Diskussionen der festländischen reformierten Kirchen sowie Einflüsse der Irischen Artikel von James Ussher von 1615 und des schottischen Bekenntnisses von 1560 (vgl. TRE 13,425,31ff.) zum Tragen. Von der Confession und den Katechismen aufgenommen, wurden diese Elemente in theologische Leitsätze eingebunden, die anhaltenden Einfluß auf die Entwicklung der reformierten Kirche gehabt und manche Diskussion bestimmend mitgestaltet haben. Unangefochten war die Anerkennung der Heiligen -»Schrift als allein verbindlicher N o r m für die Lehre und Praxis der Kirche. Desgleichen fand der Gedanke der unbedingten Souveränität Gottes seinen festen Ort als theologisches Kernstück des

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entfalteten Lehrgebäudes. Zugleich blieb das Recht des -»Gewissens gewahrt, und es wurde die ausschließliche Zuständigkeit der kirchlichen -»Gerichtsbarkeit in innerkirchlichen Angelegenheiten klargestellt. Auch umstrittene Aussagen sind in die Confession und die Katechismen der Westminstersynode eingegangen. Mit dem Bekenntnis zur Erwählung und Verwerfung als gleichermaßen von Gott gewollt hielt sie an der Lehre von der doppelten -»Prädestination fest. Sie vertrat ein strikt sabbatarisches Verständnis des Sonntags. Im Anschluß an Z. -»Ursinus und K. —»Olevian wies sie den Aussagen über den Werk- und den Gnadenbund Bekenntnisrang zu und entfaltete eine -»Föderaltheologie. Sie schloß die Vorstellung eines vor dem Fall im Garten Eden bestehenden Werkbundes zwischen Gott und Adam ein, der völligen Gehorsam forderte und das Leben verhieß. Zugleich begegnet der Gedanke eines vorzeitlichen Erlösungsbundes zur Rettung des Menschen zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Diese Bundestheologie bietet immer noch ein bedeutsames Denkmodell für das reformierte Verständnis der Erlösung. Von neueren Theologen in der Tradition K. -»Barths ist es als Vertragsmodell kritisiert worden. 3.

Wirkungen

Die Festlegungen der Westminstersynode sind von den meisten presbyterianisch verfaßten englischsprachigen Kirchen übernommen worden. In abgewandelter Form sind sie in die Savoy Declaration of Faith and Order (1658) der Kongregationalisten und in die London Baptist Confession (1677) der am reformierten Bekenntnis festhaltenden Baptisten eingegangen (vgl. T R E 13,430,10ff.; 19,458,51 f.). Die Verfasser der "Westminster Confession sahen ihre Aufgabe darin, ein Glaubenszeugnis aufzustellen. Daher wurden ihr auch keine Schriftbelege beigefügt. Erst auf Verlangen des englischen Parlaments wurde die Confession nachträglich durch „Belegstellen" zur Erhärtung ihrer Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift ergänzt. Die Wirkung der Festlegungen der Synode hält immer noch an, da sie weiterhin die Bekenntnisgrundlage vieler presbyterianischer Kirchen der englischsprachigen Welt sind und besonders bei den nordamerikanischen Presbyterianern den Ausgangspunkt theologischer Auseinandersetzungen bilden. Im Jahr 2000 hat die General Assembly der Presbyterian Church of America in dem Bestreben, der Westminster Confession treu zu bleiben, eine biblizistische Sicht des Alters der Schöpfung als Zulassungsvoraussetzung für die Ordination erörtert. 1999 hat die General Assembly der Evangelical Presbyterian Church es nach eingehenden Diskussionen und mehreren Untersuchungen abgelehnt, die Forderung einer Unterzeichnung des „in der Westminster Confession sowie dem Längeren und Kürzeren Katechismus enthaltene[n] Lehrsystem[s]" durch ihre ordinierten Pastoren zu ändern (Acts of the Assembly Evangelical Presbyterian Church 2000). Die Festlegungen der Westminstersynode dienen immer noch dazu, die kennzeichnenden Überzeugungen der Presbyterianer klarzustellen, die einem in die reformierte Tradition eingegangenen historischen Verständnis des biblischen Glaubens verpflichtet sind. Quellen 1. Ungedruckte Quellen: Minutes of Westminster Assembly, 4th, August, 1643 to 25th, March, 1652 in the Records of Nonconformity. 1 - 3 , Dr. William's Library, London. - Transcription of Minutes of Westminster Assembly by Sir E. Maude Thompson, procured by a Committee of the General Assembly of the Church of Scotland, New College Library, Edinburgh. - An Ordinance of Parliament for the Calling of an Assembly of Divines to be consulted with by Parliament for the Setting of the Government and Liturgy of the Church of England, with the Names of all Ministers and Others Appointed for the Same (1643): Pamphlet 105 (34), Pamphlets, British Museum, London. - A Proclamation of Parliament summoning the Assembly of Divine to meet on July 1st, 1643. Printed for John Wright (1643): Pamphlet E 62 (1), Pamphlets, British Museum, London. - A Letter from the Assemby of Divines on England to the General Assembly in Scotland, Together with the Answer of the General Assembly of Scotland thereunto. For John Bellamie and Ralph Smith (1643): Pamphlet E 67 (10), Pamphlets, British Museum, London.

712

Westphal

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Robert M. Norris Westphal, Joachim 1. Leben

(1510-1574)

2. Werk und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 714)

1. Leben Joachim Westphal, nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Zeitgenossen aus Eisleben, auf welchen u.a. die Abfassung von zwei Teufelbüchern zurückgeht, wurde im Jahre 1510 in -»Hamburg als Sohn eines Zimmermanns geboren. Nach seiner Schulzeit in Hamburg und Lüneburg ging er mit einem Stipendium seiner Heimatstadt an die Universität -»Wittenberg (immatrikuliert 7. Juni 1529). Westphal wurde Schüler M. -•Luthers und Ph. —•Melanchthons. Noch bevor er am 30. Januar 1532 den Grad des magister artium erhielt, hatte ihn Melanchthon für ein Lehramt am Johanneum in Hamburg empfohlen. Zwei Jahre lang war Westphal dort als „Conrektor" tätig, kehrte aber, gefördert durch ein weiteres Stipendium der Stadt, nach Wittenberg zurück, um weiterzustudieren. In der Zeit von 1535 bis 1537 besuchte er im Zuge einer Rundreise verschiedene andere Universitäten, darunter -»Erfurt, -»-Heidelberg, -»Straßburg und —•Tübingen. Nach seiner Rückkehr hielt er, allerdings nur für kurze Zeit, Vorlesungen in den artes. Denn schon 1540 wurde er auf Empfehlung Melanchthons und J. —>Bugenhagens als Professor der Theologie nach -•Rostock, aber fast gleichzeitig in die Nachfolge des am 23. Oktober 1540 verstorbenen Hauptpastors an St. Katharinen in Hamburg berufen. Der seiner Heimatstadt der empfangenen Stipendien wegen verpflichtete Westphal wurde am 19. April 1541 durch J. —»Apinus in sein neues Amt eingeführt. Erst im Jahre 1571 konnte er die Superintendentur antreten, in die man ihn am 29. August desselben Jahres wählte. Nach Äpinus' Tod im Jahre 1553 hatte der Senat nämlich die Stelle zunächst unbesetzt gelassen und schließlich im Jahre 1555 Paul von Eitzen (1522-1598) zum Nachfolger gemacht. Durch dessen Wechsel als Hofprediger und Generalsuperintendent nach Schleswig im Jahre 1562 wurde Westphal zunächst nur provisorisch, dann aber endgültig das Amt übertragen. Möglicherweise ist sein streitbares Engagement in verschiedenen Kontroversen jener Zeit für diese Zurückhaltung des Senats ihm gegenüber ausschlaggebend gewesen. Er hatte sich nämlich nicht nur an dem Streit um die -»Höllenfahrt Christi, sondern auch am Adiaphoristischen, Majoristischen

Westphal

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und Osiandrischen Streit beteiligt. Vor allem aber war er als Gegner J. -»Calvins im sog. zweiten Abendmahlsstreit hervorgetreten. Am 16. Januar 1574 starb Westphal, dessen beide Ehen kinderlos geblieben waren, nach kurzer Krankheit. 2. Werk und

Wirkung

Unter den lutherischen Theologen seiner Zeit ist Westphal in erster Linie durch die Kontroverse mit Calvin um das Abendmahl hervorgetreten. Seine gedruckten Schriften gehören überwiegend in diesen Zusammenhang. Aber auch zu anderen theologischen Fragen hat er sich zu Wort gemeldet. In der 1544 durch Johannes Äpinus' Exegese des 16. Psalms ausgelösten Auseinandersetzung um die Höllenfahrt Christi (->Höllenfahrt Christi 4.) stand er auf der Seite des damaligen Hamburger Superintendenten, der im descensus ad inferos die letzte Phase der Erniedrigung in Christi Erlösungswerk sah. Westphals Stellungnahmen dazu sind allerdings nur in handschriftlicher Form überliefert oder aus seinem Briefwechsel ersichtlich. Nach dem -»Interim nahm er in mehreren Schriften zur Frage der Adiaphora Stellung und reihte sich mit ihnen in jene Gruppe der —•Gnesiolutheraner ein, die unter der Führung des M . -»Flacius Illyricus heftig gegen die Wiedereinführung altgläubiger Riten und Gebräuche polemisierte und in Distanz zu Melanchthon und dessen Anhängern ging. Zu Westphals Publikationen gehört u.a. eine Zusammenstellung von Lutherzitaten (Sententia reverendi viri D . M . L u t h . . . . de Adiaphoris, Magdeburg 1549; dt.: Des Ehrwirdigen und tewren M a n s Doct. Marti. Luthers seliger gedechtnis meinung, von den Mitteldingen, Magdeburg 1550), in der er den Zusammenhang von evangelischer Rechtfertigungslehre einerseits und von ihr her zu normierenden, rechten Zeremonien andererseits durch gezielte Textauswahl — auch unter Einbeziehung von Zitaten Melanchthons - und hinzugefügte eigene Marginalien herauszuarbeiten suchte. Der seit dem Interim verstärkt diskutierten Frage des Widerstandsrechts (-•Widerstand/Widerstandsrecht) widmete er sich in einer nach der Fürstenrevolte und dem Passauer Vertrag herausgekommenen Schrift De Officio magistratus et subditorum, et de legitima defensione (Frankfurt a.M. 1553). Außerdem griff er 1553, federführend für die Hamburger Pastoren, mit einer scharfen Zensur in den seit dem Vorjahr schwelenden Majoristischen Streit (G. -»-Major) ein (Sententia ministrorum Christi in Ecclesia Lubecensi, Hamburgensi, Luneburgensi & Magdeburgensi, Basel 1553). Seine eigene Stellungnahme gegen die von Major vertretene Position der Notwendigkeit guter Werke zum Heil des Menschen zeigt sich in seinen zusammen mit Thesen J. Wigands gedruckten Argumenta (Westphal in: Johann Wigand, De Bonis operibus propositiones, o. O. 1568). Im Osiandrischen Streit (A. —»Oslander) um die Rechtfertigungslehre vertrat er als Mitunterzeichner eines von Äpinus für das Hamburger Ministerium verfaßten Gutachtens von 1553 deren einhellige Ablehnung. Nachhaltige Wirkung auf das Luthertum und seine Lehrbildung hat Westphal in der Frage der Abendmahlslehre (-»Abendmahl III) ausgeübt, die im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Calvin auf lutherischer Seite eine entscheidende dogmatische Konsolidierung erfuhr. Auf dem Hintergrund der Erstellung des -»Consensus Tigurinus im Jahre 1549, dessen gedruckter Verbreitung ab Februar 1551 und auch unter dem Eindruck des Erfolgs des Calvinismus in Frankreich, den Niederlanden und in England, wo J. ->Laski im Jahre 1552 jene Zürcher Übereinkunft zwischen H. —•Bullinger und Calvin in seiner Brevis et dilucida Tractatio de Sacramentis ecclesiae Christi ebenfalls abdrucken ließ, trat Westphal mit der Schrift Farrago confusanearum et inter se dissidentium opinionum de coena Domini, ex Sacramentariorum libris congesta (Magdeburg 1552) an die Öffentlichkeit. Es handelte sich um eine eindringliche „Warnung vor den Leugnern der Gegenwart Christi im Abendmahl" (Kawerau 186), deren Lehren Westphal als unzutreffend und in sich uneins brandmarkte. Diese Wortmeldung brachte eine bisher so noch nicht wahrgenommene Problematik zur Sprache, nämlich zum einen die Tragweite der lehrmäßigen Distanz zwischen Luthertum und Calvinismus und zum anderen die

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Westphal

Sorge um eine mögliche, als ein Aufgeben des rechten Schriftverständnisses gewertete Einebnung der Differenzen. Bald darauf erschien deshalb Westphals Recta fides de coena Domint (Magdeburg 1553), eine Abhandlung über I Kor 11 und die Einsetzungsworte. Erst nach hinauszögernden Konsultationen mit Bullinger erschien im Jahre 1555 Calvins Erwiderung, die Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de sacramentis, nachdem die Abweisung der unter der Führung Laskis vor den einsetzenden Verfolgungen durch Maria Tudor (reg. 1553-1558) aus England geflohenen Exulanten in Dänemark, Wismar, Lübeck und Hamburg die Lage noch verschärft hatte. Auch später noch warnte Westphal den Rat der Stadt Frankfurt vor der inzwischen dort untergekommenen calvinistischen Flüchtlingsgemeinde. Es hatte eine Auseinandersetzung begonnen, in der sich auf Seiten Calvins außer Laski auch Bullinger, B. —»Ochino, Valerandus Pollanus (um 1520-1558), Th. -»Beza und Theodor Bibliander (um 1504-1564) zu Wort meldeten. Westphal fand Bundesgenossen in Johannes Timann (um 1500-1557), Paul von Eitzen, E. —>Schnepf, E. Alber, N. -»Gallus, Matthias Flacius, Matthaeus Judex (1528-1564), J. -»Brenz und Jakob -»Andreae, während sich Melanchthon, trotz verschiedener Inanspruchnahmen seiner Lehre, nicht beteiligte. Das Kernanliegen Westphals in diesem Streit war die Wahrung der Lehre Luthers von der Präsenz des Leibes und Blutes Christi in und unter den Abendmahlselementen, für die er sich ausdrücklich auf die literale Eindeutigkeit der Einsetzungsworte berief, ohne die Christologie (-»Jesus Christus IV) zur Voraussetzung für das Abendmahlsverständnis machen zu wollen. Für den sich an die Wahrheit des Gottesworts haltenden und der Allmacht des Gottessohns vertrauenden Glauben ist das Zeugnis der Heiligen Schrift ausreichend. Nach Westphal besteht deshalb kein Grund für eine übertragene Auslegung. Zugleich aber war damit bereits das christologische Argument angesprochen, das Westphal freilich nur insofern zuließ, als es zu einem tieferen Verständnis der durch die Einsetzungsworte garantierten Realpräsenz beitrug. Eine Wende in dieser Argumentationslinie trat erst durch Timanns Wortmeldung ein, dessen als Gegenstück zu Westphals Farrago konzipierte Farrago sententiarum consentientium in vera et catholica doctrina de coena Domini (Frankfurt a.M. 1555) nun tatsächlich Allmacht und Allgegenwart des Leibes Christi — begründet aus Inkarnation und Erhöhung zur Rechten Gottes - zur Grundlage der realpräsentischen Abendmahlslehre machte. Diese durch den Bremer A.R. -»Hardenberg als „Ubiquitätslehre" (-»Ubiquität) angeprangerte Lehrvariante wurde bald auch Westphal zur Last gelegt, der zwar stets bestrebt gewesen war, die christologischen Diskussionen von den Begründungszusammenhängen für die Realpräsenz zu trennen, aber den von Timann vertretenen und wirkungsmächtiger noch durch Brenz entwickelten christologischen Entwurf keineswegs ablehnte. Westphal war nicht nur Streittheologe. Mehrmals - auch in Coswig 1557 - hat er an den vergeblichen Versuchen teilgenommen, die scharfen Differenzen zwischen Melanchthon und Flacius mit seinen Anhängern beizulegen, deren Positionen er, mit Ausnahme der Erbsündenlehre, weitgehend teilte. Dennoch liegt seine wegweisende Bedeutung eher in den aus den Kontroversen erwachsenen Impulsen für die konfessionelle Konsolidierung des Luthertums. Quellen Schriften Westphals: Verz. der im dt. Sprachbereich erschienene Drucke des XVI. Jh., hg. v. der Bayrischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. I. Abt. Verfasser - Körperschaften - Anonyma, Stuttgart; XII 1988, L 3469, L 3471; X I X 1992, S 5882-5883; XXII 1995, W 2 2 6 0 - 2314. - Westphals handschriftliche Äußerungen im Streit um die Höllenfahrt Christi befinden sich in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel. Briefsammlung des Hamburgischen Superintendenten Joachim Westphal aus den Jahren 15301575, bearb. u. erl. v. Carl Hieronymus Wilhelm Sillem, 2 Bde., Hamburg 1903. - Briefe Melanchthons: CR 7 - 9 ; MBW Regesten 4 - 8 . - Briefe Calvins: CR 42f. - Schriften Calvins: CR 37.

715

Westsemitische Religion Literatur

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1.

3. Eisenzeit bis hellenistisch-römische Zeit

4.

Definition

Unter westsemitischer Religion sind die Religionen der westsemitischen Völker in Abhebung von den Religionen der ostsemitischen Kulturen M e s o p o t a m i e n s (—»Aramäer und Israel; -»Assyrien und Israel; - » B a b y l o n i e n und Israel; -»Babylonisch-assyrische Religion; - » E l a m und Israel) und der südsemitischen Kulturen Arabiens ( - » A r a b i e n und Israel) zu verstehen. Die religiösen Besonderheiten des von den Westsemiten bewohnten Gebietes basieren u.a. auf den geo-klimatischen Eigenheiten dieser Gegend. Im Unterschied zu den potamischen Kulturen M e s o p o t a m i e n s und - » Ä g y p t e n s ist der Bereich, in dem die westsemitischen Religionen beheimatet sind, durch den Regenfeldbau bestimmt. Hieraus resultieren auf der E b e n e der Religion eine D o m i n a n z von Wettergöttern und eine besondere Akzentuierung von Bergen und Quellen als heiligen O r t e n . Hinzu treten politische und historische Gemeinsamkeiten, da -»Syrien und - » P a l ä s t i n a niemals den Alten Orient beherrschten, sondern immer nur kleine Königreiche und Staaten ausbilden konnten. Die folgenden Ausführungen beschränken sich a u f die syrophönizische Religion (vgl. -»Phönizien und Israel; vgl. auch die Ausführungen zu Israel und J u d a [-»Religionsgeschichte Israels], - » K a n a a n und Transjordanien [ - » A m m o n und Israel; - » E d o m und Israel; - » M o a b und Israel]). B e v o r m a n sich den unterschiedlichen Lokalausprägungen der westsemitischen R e ligionen während der Mittel- (ca. 2 2 0 0 bis 1 5 5 0 v. C h r . ) und Spätbronzezeit (ca. 1 2 5 0 bis ca. 1 1 5 0 v. Chr.) sowie der Eisenzeit (ca. 1 2 5 0 bis 6. Jh. v. Chr.) zuwendet, ist auf die grundlegenden und die Einzelausprägungen übergreifenden Strukturen dieser Religionen einzugehen. Den Wettergöttern k o m m t eine entscheidende Rolle für die Aufrechterhaltung des Lebens von M e n s c h , T i e r und Vegetation zu. Auf diesem Hintergrund wird der Wettergott seit dem Neolithikum als Stiergott dargestellt. Weitere charakteristische Zeichen des Wettergottes sind das Blitzbündel und ein in vegetativen F o r m e n endender Speer.

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Westsemitische Religion

Sein Paredros wird als magna mater repräsentiert, d.h. als Muttergöttin mit zum Teil übergroßen Geschlechtsmerkmalen zur Illustration ihrer Fruchtbarkeit und ihrer Ernährungsfunktion. Hiermit sind schon die beiden Hauptgottheiten der westsemitischen Religionen benannt. Alle anderen Göttinnen und Götter entwickeln sich aus dieser Grundkonstellation. Die Zusammengehörigkeit aller Gottheiten untereinander zeigt sich vor allem anhand der Pantheonskonzeptionen, welche dazu dienen sollen, die Vielzahl von Gottheiten in eine Ordnung zu bringen. In diesen Pantheonskonzeptionen zeigen sich die zeitgenössischen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen der westsemitischen Stadtstaaten. Weitere Gliederungskriterien von Götterpanthea in antiken westsemitischen Religionen sind Alter und Verwandtschaft der Götter, Geschlecht, Hierarchie und Arbeitsteilung, Kultorte und Kreise von Göttern. Alle diese Strukturen können sich überlagern und ergänzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der adäquaten Versorgung der Gottheiten. Hierbei ist vor allem die Rolle des -»Königtums zu nennen. Der König ist Sohn des höchsten Gottes und fungiert als sein irdischer Sachwalter. Zu seinen Lebzeiten gilt er nicht als Gott, nach seinem Tode werden ihm jedoch im Rahmen des königlichen Totenkultes göttliche Ehren zuteil. Das Königtum bildet das Bindeglied zwischen Göttern und Menschen. Der König ist Segens- und Heilsmittler für Land und Menschen, Erbauer der -»Tempel, er setzt -»Priester ein und präsidiert dem Kult, der in seinem Namen vollzogen wird. Eng damit verbunden ist die Rolle des Tempels als der Wohnstätte der Gottheiten. Die Gottheit ist im Tempel mittels ihres Kultbildes (-»Bilder) oder ihres Kultsymbols präsent. Seitens der Menschen besteht die Pflicht, die Gottheiten in den Tempeln mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen. Um diese Versorgung ordnungsgemäß vollziehen zu können, gibt es Rituale (-»Ritus), deren Ausarbeitung, Beachtung und Vollzug den Priestern obliegt. Im einzelnen umfaßt die Versorgung des in seinem Kultbild bzw. Kultsymbol präsenten Gottes die Speisung (Beopferung) der Gottheit und die Libation vor ihr, die Spendung von Weihrauch sowie das Waschen, Bekleiden und Schmücken der Götterstatue. Werden diese Aufgaben nicht in rechter Weise vollzogen, so kann sich die Gottheit im Zorne aus ihrem Tempel zurückziehen. Dann ist sie für die Menschen nicht mehr ansprechbar und jegliche göttliche Hilfe bleibt aus, weshalb -»Krankheiten oder chaotische Zustände ausbrechen können. Die Mythologisierung und die Ritualisierung der —»Zeit werden anhand der Feste (-•Feste und Feiertage) greifbar, die den Alltag unterbrechen und als besonders herausgehobene Zeiten mit Gottesdiensten, Arbeitsruhe und eigenen Ritualen zu verstehen sind. Der Bereich der Divination, der als Oberbegriff Mantik und -»Magie mit umfaßt, ist in seiner Relevanz für die Lebensbewältigung des einzelnen nicht zu unterschätzen. Weitere wichtige Bestandteile der westsemitischen Religionen sind mit Totenpflege und Totenkult sowie der Nekromantie gegeben (-»Bestattung). Grundlegend ist hierbei der Gedanke, daß zur semitischen Familie auch die Verstorbenen gehören. Mit dem -»Tod geht der Verstorbene in die als Gegenwelt konzipierte Unterwelt ein. Das Fortleben des Verstorbenen in der Unterwelt wird durch die Totenpflege erleichtert. Davon zu unterscheiden ist der Totenkult, der sich an die vergöttlichten Ahnen einer Familie wendet und diesen Opfer zukommen läßt. Dieser Zug ist vor allem im königlichen Totenkult ausgebildet. Eng hiermit zusammen hängt die Nekromantie, d.h. die Beschwörung der Ahnen mit Bitte um Orakel oder um eine Heilung. Eigens anzusprechen sind die kosmologiscben Vorstellungen. Es geht dabei um die Frage nach der Mythologisierung und der Ritualisierung des Raumes. Die Mythologisierung des Raumes meint „den Akt der Besetzung des Raumes mit mythischen Konnotationen" (Beate Pongratz-Leisten, Ina Sulmi Irub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der akltu-Prozession in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v. Chr., Mainz 1994,15). Dieser Akt zeigt sich in Kosmologien, in Stadtgründungs-

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mythen von Göttern, in der Deifizierung von Flüssen und Gebirgen oder in der Zuordnung von Gottheiten und Dämonen zu bestimmten Bereichen. Eine Ritualisierung des Raumes liegt vor, wenn er durch bestimmte Riten wiederholt als heilig und rein erklärt wird. Während des Alltags bleibt das Götterbild fest an seinem Standort im Tempel, während der Festzeit zieht es in einer Prozession durch den ritualisierten Raum. Der Sitz der Götter, besonders der Sitz des Wettergottes, wird auf heiligen Bergen verortet. Die Vorstellung heiliger Berge (-»Heilige Stätten) begegnet von Hellas bis nach Palästina und stellt ein wichtiges Charakteristikum westsemitischer Religionen dar. Da Berge häufig in Wolken gehüllt sind, bzw. sich Wolken an ihnen ausregnen, liegt die Verbindung eines Wettergottes, der über Himmelserscheinungen gebietet, mit den Bergen für den antiken Betrachter nahe. Auch Quellen, Haine und Grotten können Göttersitze sein. Daneben ist die Unterwelt als Sitz unterirdischer Götter nicht zu übersehen. Der narrative Zusammenhalt dieser religiösen Welt wird durch die Mythen ( - » M y thos) gewährleistet. Deren Wesen und Funktion lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Teilweise stellen Mythen Gründungslegenden dar, haben legitimierende oder ätiologische Funktion oder existieren als Bestandteil von Ritualen. 2. Mittel- und

Spätbronzezeit

Für die Religion dieser Epoche seien mit Ebla, Byblos und Ugarit exemplarisch drei Metropolen aus dem hier zu behandelnden Raum vorgestellt. Daneben sind noch Alalah, Aleppo, Beirut, Kumidi, Tyros, Sidon und Damaskus zu nennen, wo zum Teil nur sehr spärliche Angaben über Götter, Kulte und Mythen aus den Quellen eruiert werden können. Für weitere wichtige Angaben sind auch die am mittleren Euphrat gelegenen Orte Mari und Emar mit ihren reichhaltigen Archiven zu konsultieren. 2.1. Ebla Aus Ebla liegen als religiöse Texte Götterlisten, Beschwörungen, Hymnen und Opferlisten vor. Die wenigen mythischen Texte sind vornehmlich sumerischer Provenienz. Daneben liefern Personen- und Monatsnamen Indizien für die in Ebla verehrten Gottheiten. Somit gibt es zwar eine Fülle von Götternamen, die genaue Konzeption des Pantheons bleibt jedoch unklar. Als höchste Gottheiten begegnen Dagan, Kura, Haddu, Istar, Kamis, Raspu (Nergal), die Sonnengöttin und der Mondgott, Ishara und Ea. Der König und die Königin von Ebla nehmen eine zentrale Stellung im Kult der Stadt ein. Die Tempel von Ebla gewähren mit ihren Kultinstallationen einen ersten Einblick in Opferund Libationsriten (-»Opfer). Eigens zu nennen ist der königliche Totenkult, in dessen Rahmen den verstorbenen Königen Opfer dargebracht werden. Die Königsnekropole von Ebla liegt unter dem Königspalast. Daneben befindet sich der Tempel B l , der wohl dem Unterweltsgott Raspu (Nergal) geweiht war. Die verstorbenen Könige behielten auch in der Unterwelt ihren königlichen Rang und waren Empfänger von Opfergaben.

2.2. Byblos Quellen für das religiöse Leben in Byblos sind vor allem mit den Amarna-Briefen sowie den Tempeln, Nekropolen und Bildwerken (Figurinen, Reliefs) gegeben. Als höchste Göttin des Pantheons von Byblos ist in der Amarna-Korrespondenz die „Herrin von Byblos" ( E A T 68,4; 69,5 [erg.]; 70,3 [erg.]; 73,4; 7 4 , 2 - 3 ; 7 6 , 3 - 4 u.ö.) belegt. Der ursprüngliche Name der Göttin sowie ihre charakteristischen Eigenschaften sind nicht bekannt. Als ihr Paredros begegnet der „Herr von Byblos" (EAT 108,9), der wohl als Wettergott zu verstehen ist. Der Kult beider Hauptgottheiten von Byblos setzt sich bis in die phönizische Religion des 1. J h . v. Chr. fort, wobei die „Herrin von Byblos" eine höhere Popularität als ihr Paredros genießt. In Byblos ist außerdem das älteste Zeugnis für Prophetie in den westsemitischen Religionen zu finden. Der Reisebericht des Ägypters Wen-Amun schildert in 1 . 3 8 - 1 . 4 0 , daß während eines Opfers ein „Seher" des Königs von Byblos „von dem G o t t " ergriffen und in Ekstase versetzt worden sei. Der Ekstatiker gibt dem König seitens des Gottes den Auftrag, sich um Wen-Amun und seine Angelegenheiten zu kümmern.

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Auf den königlichen Totenkult verweisen in der Königsnekropole von Byblos die Kultrorrichtungen auf den Grabanlagen. Zudem gibt das Bildprogramm des Ahirom-Sarkophags Parrot/ Chehab/Moscati) einen Einblick in den Opferkult für den verstorbenen König. 2.3.

Ugarit

Über die Religion Ugarits informieren Götterlisten (KTU [ed. Dietrich/Lore:z/Sanmartin] 1.47; 1.118; 1 . 1 4 8 , 1 - 9 ; Ras Shamra 2 0 . 2 4 u.a.m.), Ritualtexte (KTU 1 . 3 5 - 1 . 4 2 ; u.a.m.), Mythen und Epen ( K T U 1 . 1 - 6 ; 1 . 1 4 - 1 6 ; 1 . 1 7 - 1 9 ; 1 . 2 0 - 2 2 u.a.m.), aber auch Wirtschaftstexte zur Tempelökonomie sowie die Tempel der Stadt und eine Anzahl von Stelen und Siegelabbildungen. Das Pantheon Ugarits wird von El und Aserah angeführt. Alle anderen Gottheiten mit Ausnahme des Gottes Baal, dessen Vater Dagan ist, werden in den Mythen als Kinder dieses Götterpaares angesehen. Die wichtigsten großen Gottheiten sind der Wettergott Baal, der Meeresgott Yam, die Kriegs- und Liebesgöttin Anat sowie der Sonnen- und der Mondgott. Dazu kommen verschiedene Handwerker- und Botengottheiten. Die Unterwelt steht unter der Herrschaft des Todesgottes Mot („Tod"). Die Haupttempel auf der Akropolis von Ugarit waren El und Baal geweiht. Der aus der Literatur als sanctuaire hourrite bekannte Tempel gehört zur Palastzone und ist somit als Palasttenpel zu interpretieren. Eine Zuweisung an bestimmte Gottheiten muß offen bleiben. Strittig ist deizeit, ob der in einem Wohngebiet liegende sanctuaire aux rhytons überhaupt als Tempel anzusehen ist. Die vornehmlich als Opfermemoranda zu verstehenden Ritualtexte informieren über die Opfermaterie (Tieropfer, vegetabile Opfer, Libationen von Wein, ö l und Honig), aber auch über Prozessionen mit Götterstatuen und die Entsühnung des Königs. Der gesamte Kult Ugarit? wurde im Namen des Königs vollzogen, der deshalb als einziger Kultfunktionär in den Ritualen auftritt. Die Institution der Kultmähler ist in Ugarit unter der Bezeichnung marzihu bekannt. Die einschlägigen Texte (KTU 1.20-22; 1.114; 3.9) lassen erkennen, daß sich die Vereine aus männlichen Mitgliedern der Oberschicht der Stadt Ugarit und von weiteren Städten des Königreichel Ugarit zusammensetzten. Man kann sie als Berufsgenossenschaften oder Bruderschaften zum Zweck gesellschaftlicher Begegnung verstehen. Uber eine religiöse oder soziale Zielsetzung der narzihuVereine sagen die Texte nichts aus. Aus dem Bereich von Mantik und Magie sind die Leber- (KTU 1.141-144; 1.155) und die Lungenschau (KTU 1.127) zu nennen. Es finden sich in Ugarit zwei Sorten von Omina zur Deutung von Vorzeichen: Geburtsomina (KTU 1.103 und 1.145; 1.140) und astrologische Omina (KTU 1.163). In den Bereich der migischen Praktiken fallen zunächst die Beschwörungen gegen Schlangengift (KTU 1.100) und gegen Kiankheit (KTU 1.82; 1.169). Sodann ist die Nekromantie zu nennen. Diese ist aus narrativen Ken texten (KTU 1.17 I 25 - 33; 1.20-22) und aus Ritualtexten (KTU 1.106; 1.161) bekannt. Zudem ist das Protokoll einer Nekromantie zum Zweck einer Orakelgebung erhalten (KTU 1.124). Auf den Bereich der Totenpflege deutet der Umstand, daß die Toten in Grüften unterhalb der Wohnhäuser bestattet wurden. Für die ärmere Bevölkerung gab es Friedhöfe außerhalb der Stadt. Das Ritual einer Königsbestattung liegt in KTU 1.161 vor. Auf den königlichen Totenkul: weisen auch die Gräber in den Palästen von Ugarit und Ras Ibn Hani hin. Die verstorbenen Könige nahmen in der Unterwelt als rapi'uma („Heilende") einen eigenen Rang ein. Von den Mythen sind vor allem die Erzählungen zum Königtum des Baal zu nennen, die den Kampf zwischen dem Wettergott Baal und dem Meeresgott Yam (KTU 1 . 1 - 2 ) , den Palasrbau für Baal (KTU 1.3-4) und den Kampf zwischen Baal und dem Unterweltsgott Mot (KTU 1.5-6) zum Thema haben. Die Erzählungen von Krt (KTU 1.14-16) und Aqht (KTU 1.17-19) spielen in der Königsfamilie und behandeln Fragen der Königsideologie. Mit einer Einladung der verstorbenen königlichen Ahnen zu einem Bankett mit El beschäftigt sich KTU 1.20-22. Kleinere Mythen liegen vor mit der Erzählung von der Geburt von Sahar und Salim (KTU 1.23) und der Hochzeit des Mondgottes Yari^umit der Mondgöttin Nikkal (KTU 1.24). 3. Eisenzeit 3.1.

bis hellenistisch-römische

Zeit

Phönizien

Charakteristisch für Phönizien ist die Aufteilung des -»Libanon in verschieden; kleine Königreiche. Die Tatsache, daß es kein geschlossenes phönizisches Reich gab, ist auch dafür verantwortlich, daß kein phönizisches Gesamtpantheon existierte. Insofern gibt es nicht die phönizische Religion, sondern verschiedene Lokalpanthea der einzelnen Städte, die in ihren Gesamtstrukturen kaum bekannt sind, so daß sich teilweise nur

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G o t t h e i t e n auflisten lassen. G r u n d s ä t z l i c h ist in der phönizischen Religion eine Kontin u i t ä t zum spätbronzezeitlichen U g a r i t zu b e o b a c h t e n . Im einzelnen läßt sich für die Königsstädte des Libanon die Verehrung folgender Gottheiten erkennen: Für Arwad ist der Kult von Melqart, Kronos (Baal Hammon), Esmun und Astarte belegt. In Amrith lassen sich Melqart, Esmun und Sadrapa, insbesondere in ihrer Heil- und Schutzfunktion nachweisen. Aus Baitokaike ist der Kult des Baalsamem belegt. Das Pantheon von Byblos umfaßt als Gottheiten an seiner Spitze die „Herrin von Byblos" und den „Wettergott von Byblos", sodann Baalsamem, Astarte, Baal Addir und Adonis (KAI 1 - 1 2 ) . Für Beirut liegen Angaben vor über den Kult des Baal Marqod, der Astarte, des Poseidon und des Pontos, die phönizische Götter in griechischem Gewand darstellen (KAI 1 3 - 1 6 ) . Inschriften aus Sidon nennen vornehmlich Baal, Astarte und Esmun, der hier wie in Amrith eine bedeutende Heilgottfunktion ausübt (KAI 1 3 - 1 6 ) . Da in Sidon ein Stadtteil mit dem Namen Resep bekannt ist (KAI 15), hat hier wohl auch ein Tempel des Gottes Resep gestanden. Aus Sarepta sind der Heilgott Esmun/Sadrapa und die Göttin TanitAstarte bekannt. Tyros weist mit den Wettergöttern Baalsamem, Baal Malage, Baal Saphon, dem poliadischen Gott Melqart sowie mit Tanit und Baal Hammon ein größeres Pantheon auf (KAI 17). Im nahegelegenen Umm el-'Amed findet sich ein Tempel der Göttin Astarte und des Gottes Milkastart, in dem auch Baalsamem mitverehrt wurde (KAI 18). Schließlich werden in Akko Aphrodite/Astarte und Baal genannt. In religionsgeschichtlicher Wechselwirkung mit Zypern wurde Melqart mit Herakles, Esmun mit Asklepios, Resep mit Apollon, Anat mit Athena und Astarte mit Aphrodite gleichgesetzt. Des weiteren wurden Gottheiten ägyptischer, kyprischer und kleinasiatischer Provenienz in die phönizischen Panthea des Libanon integriert. Was den Kult angeht, so ist der Opfertarif von Marseille (KAI 69), der wie die vergleichbaren Tarife KAI 74 und 75 aus Karthago stammt, mit seinen Angaben über diverse Opferarten aufschlußreich (4. bis 2. J h . v. Chr.). Es liegen keine Rituale aus der phönizisch-punischen Religion vor. Informationen über Tempelpersonal liefert das Dokument der Tempelverwaltung von Kition in Zypern (KAI 37) aus dem 4. oder 3. Jh. v. Chr. Alle diese Dokumente lassen auch Rückschlüsse auf das phönizische Mutterland zu. Phönizische Könige begegnen als Priester der Astarte in Sidon (KAI 1 3 , 1 - 2 ; 1 4 , 1 4 - 1 5 ) . Neben der grundsätzlichen Nennung von Opfern in den Inschriften sind die Tempel und Heiligtümer in Teil Sukas, Amrith, Sidon, Sarepta und Umm el-'Amed zu nennen. Erwähnungen von Festen liegen vor mit den Inschriften vom Karatepe (KAI 26 A III 1 - 2 ) und dem Tempeltarif von Kition (KAI 37). Des weiteren ist der königliche Totenkult anzusprechen. Magische Praktiken werden durch die Amulette von Arslan Tash (KAI 232) dokumentiert. Sodann ist auf die Flüche in den Grab- und Sarkophaginschriften (KAI 1,2; 2; 1 3 , 5 - 8 ; 1 4 , 4 - 1 2 . 2 0 - 2 2 ) , des weiteren auf Amulette als Grabbeigaben und auf die Tanitzeichen hinzuweisen. Ebenso sind die in den Bauinschriften versammelten Flüche zu nennen (KAI 1 0 , 1 3 - 1 6 ; vgl. 2 4 , 1 3 - 1 6 ; 26 AB III 1 2 - I V 1; IV 1 3 - V 1 - 7 ) . Zeugnisse für die Ausübung der phönizischen Religion finden sich über das libanesische Mutterland hinaus in Anatolien, auf Zypern, in Syrien, in Palästina, in Karthago, sowie auf den Inseln des westlichen Mittelmeerraumes und in Spanien. R e s t e phönizischer M y t h o l o g i e sind in der Phönizischen

Geschichte

die nur f r a g m e n t a r i s c h in griechischer S p r a c h e im W e r k Praeparatio

des Philo Byblios, evangelii

des Kir-

c h e n v a t e r s - » E u s e b i u s von C a e s a r e a erhalten ist, zu finden. D e r T e x t geht auf einen phönizischen Priester des 2. o d e r 1. J h . v. C h r . z u r ü c k . D e r M y t h o s k a n n hellenistische Einflüsse ( E u h e m e r i s m u s ) nicht verleugnen, u n g e a c h t e t der T a t s a c h e , d a ß er phönizische T r a d i t i o n e n , insbesondere hinsichtlich einzelner G ö t t e r und in B e z u g auf die T h e o g o n i e , aufnimmt. 3.2.

Syrien

Die sich von O b e r m e s o p o t a m i e n über S ü d a n a t o l i e n und N o r d s y r i e n bis n a c h D a m a s k u s hin erstreckenden a r a m ä i s c h e n Königreiche Syriens weisen unterschiedliche P a n thea auf. Bindeglied zwischen diesen Panthea ist neben der aramäischen Sprache vor allem die Verehrung des Wettergottes Hadad an ihrer Spitze. Wie schon im Falle der phönizischen Religion erlauben die aramäischen Inschriften Syriens nur sehr partielle Einblicke in Religion und Kult der Aramäer. In Teil Fekherye ist der Kult von Hadad, Sala und Nergal belegt. Das benachbarte Guzana (Teil Halaf) nennt in den wenigen dort gefundenen Inschriften nur Hadad. Die Inschriften von Sam'al nennen Hadad, El, Resep, Arq-Resep, den Sonnengott, Baal Hammon, Rakib-El, Baal-Semed und

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den Mondgott von Harran (KAI 24 - 2 5 ; 2 1 4 - 2 2 1 ) . Die Göttin Kubaba ist auf der Stele von ö r d e k Burnu belegt. Für Bit Agusi ist ein Pantheon mit Hadad von Aleppo, dem Sonnengott, El und Elyan, dem Mondgott von Harran, Bethel und Anat-Bethel bezeugt. Sodann lassen die Inschriften von Hamath den Kult des Baalsamin, des Iluwer, des Sonnen- und des Mondgottes, der Pahalatis/ Baalat von Byblos und des El erkennen (KAI 2 0 2 - 2 1 3 ) . In Damaskus ist vom gesamten Pantheon nur Hadad als höchster Gott, der in römischer Zeit als Jupiter Damascenus angerufen wurde, bekannt. Im Alten Testament wird der Hauptgott von Damaskus als Hadad Rimmon (II Reg 5,18) bezeichnet, wobei unklar bleibt, ob sich dieser Titel einer tatsächlichen Bezeichnung des Hadad von Damaskus verdankt.

In Nordsyrien wurden aramäische Gottheiten mit luwischen Gottheiten geglichen. Die Panthea der obermesopotamischen und nordsyrischen Aramäerstädte integrierten auch mesopotamische Gottheiten wie den Feuergott Nusku und die Mondgöttin Nikkal in Neirab (KAI 225), das Siebengestirn Sebettu in Bit Agusi (KAI 222 A 10-12) sowie Sala und Nergal in Teil Fekherye. Über Götterwelt und Kult in Palmyra sind wir aufgrund der zahlreichen Inschriften deutlich besser informiert. Die höchsten Gottheiten von Palmyra sind Bei, der mit Yarhibol und Aglibol eine Triade bildet, Baalsamin, zu dem Aglibol und Malakbel als Trabantengötter hinzutreten, Allat und Nabu, sowie in späterer Zeit der „anonyme G o t t " . Neben diesen Hauptgöttern Palmyras läßt sich die Verehrung weiterer Gottheiten phönizischer (z.B. Astarte, Baal Hammon, Sadrapa), mesopotamischer (z.B. Apladat, Duanat, Herta, Nergal) und arabischer (z. B. Abgal, Arsu, Gad, M a n o t , Rahim, Sams) Provenienz festhalten. Insgesamt geht man von 60 in Palmyra verehrten Gottheiten aus. Für den Kult von Hatra ist die Verehrung einer Triade, bestehend aus Maran („unser Herr"), Barmaren („Sohn unserer Herren") und Marian („unsere Herrin"), von zentraler Wichtigkeit. Daneben weisen die Inschriften auf die Verehrung anderer Gottheiten hin, so etwa der Allat, der Atargatis, des Assurbel, des Herakles-Nergal und des Baalsamin.

Als weitere wichtige Kultorte mit überregionaler Ausstrahlung sind zu nennen Emesa mit dem bis nach Rom verbreiteten Kult des Elagabal, Membidj mit dem Wallfahrtsheiligtum der Atargatis/Dea Syria und des Hadad und Baalbek mit dem Kult der Triade von Jupiter Heliopolitanus, Venus und Merkur, wobei sich hinter den ersten beiden ältere semitische Gottheiten verbergen. Wie schon im Fall der phönizischen Religion, so sind auch im Falle der aramäischen Religion keinerlei Ritualtexte erhalten. Auf die Existenz unterschiedlicher Opferarten verweisen zum einen die Tempel mit ihren Kultinstallationen (z. B. Ain Dara, Teil Taynat, Aleppo, Palmyra, Hatra) und die Erwähnung von Opfern in verschiedenen Inschriften. Auch über den Festkalender lassen sich nur anhand von Inschriften aus Palmyra einige wenige Aussagen treffen. Spuren einer aramäischen Mythologie sind nicht mehr belegt. Eigens zu erwähnen sind für die aramäische Religion die Praxis eines königlichen Totenkultes, besonders in Teil Halaf und in Sam'al, und das Abhalten von Kultmählern, wofür vor allem Palmyra die reichsten archäologischen und inschriftlichen Indizien bietet. 4.

Fortleben

Durch Kaufleute und Soldaten wurden westsemitische Götter und Kulte im gesamten Imperium Romanum verbreitet. Im 1. Jh. n. Chr. setzt die Christianisierung des Libanon ein. In Tyros und Sidon gab es christliche Gemeinden (Act 21,3f.; 27,3). Im 2. Jh. n. Chr. war Tyros Bischofssitz, Tempel wurden in Kirchen umgewandelt. Abgeschlossen wurde die Christianisierung des Libanon im 4. Jh. n. Chr. Vergleichbar sind die Verhältnisse in Syrien, wo schon sehr früh christliche Gemeinden existierten, vor allem sind Damaskus (Act 9,1-22) und Antiochien (Act 11,19-30; 13,1-3; 14,26f.; 15,30-34) zu nennen. In Damaskus wurde der Tempel des Hadad (Jupiter Damascenus) in eine christliche Kirche umgewandelt. Dies läßt sich auch für den Tempel des Hauptgottes Bei von Palmyra nachweisen. Die Fortdauer der Kulte palmyrenischer Gottheiten erstreckte sich bis in das 4. Jh. n. Chr. Wie aus der antipaganen Polemik der Kirchenväter

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zu erkennen ist, hielt sich eine Reihe orientalischer Kulte bis in das 6. Jh. n. Chr. Des weiteren ist zu sehen, daß Gottesnamen und andere Elemente westsemitischer Religionen über ihre Rezeption im Alten Testament, im J u d e n t u m und frühen Christentum zum Teil bis heute tradiert werden und deshalb immer eine, wenn auch nur indirekt vermittelte, Kenntnis der westsemitischen Religionen gegeben w a r . Quellen Ali Abou-Assaf/Pierre Bordreuil/Allan R. Miliard, La statue de Teil Fekherye et son inscription bilingue assyro-araméenne, Paris 1982. - Basile Aggoula, Inventaire des inscriptions hatréennes, 1991 (BAH 139). - Archivi Reali di Ebla, hg. v. Alfonso Archi u.a., 11 Bde., Rom 1 9 8 1 - 1 9 9 3 . Khaled al As'ad/Michal Gawlikowski, The Inscriptions in the Museum of Palmyra, Palmyra/ Warschau 1997. - Albert L. 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Herbert Niehr Wettstein, Johann Jakob 1. Leben

2. Werk

(1693-1754)

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 7 2 6 )

1. Leben Johann Jakob Wet(t)stein (lat.: Wetstenius) wurde am 16. März 1693 in Basel als Sohn des Diaconus Johann Rudolph Wettstein und dessen Ehefrau Sara (geb. Sarasin) geboren (die Datumsangabe richtet sich nach Seelig 26 - 2 9 ; dort Diskussion der Probleme). Als Sohn einer angesehenen Baseler Familie wuchs er in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Von 1709 bis 1713 studierte Wettstein an der Universität -•Basel, seine wichtigsten Lehrer waren Samuel Werenfels (1657-1740), Jakob Christoph Iselin (1681-1737) und Johann Ludwig Frey (1682-1759). 1713 legte er das theologische Examen ab und promovierte zum Doktor der Philosophie mit der These: „Der Integrität der Schrift wird durch die Verschiedenheit der Lesarten kein Schaden zugefügt" (integritatem scripturae per lectionum diversitatem non labefactari). Die Problematik der variae lectiones vertiefte sich für Wettstein auf seinen Bibliotheksreisen 1714 bis 1716 nach Zürich, Bern, Genf, Lyon, Paris, Oxford, London und Cambridge. Von 1716 bis 1717 war Wettstein Feldprediger eines in Holland stationierten schweizerischen Regimentes. Im Juli 1717 wurde er Diaconus communis (Hilfspfarrer) in Basel, wo er 1720 eine Pfarrstelle übernahm. Konflikte mit der in Basel herrschenden Orthodoxie führten 1730 zu seiner Entlassung, worauf er nach -» Amsterdam ging. Zwischen 1730 und 1733 kämpfte Wettstein um seine Rehabilitierung. Die Schikanen durch Teile des Baseler Klerus veranlaßten ihn schließlich, im Mai 1733 eine Dozentur am Amsterdamer Remonstrantenseminar anzutreten. Diese Stelle hatte er bis zu seinem Tod am 24. März 1754 inne, obwohl er 1744 einen Ruf auf die Griechischprofessur in Basel erhielt. Bei seinem Besuch in Basel 1745 wurde Wettstein von der Universität, Kirche und Obrigkeit ehrenhaft empfangen; als Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien genoß er nun internationalen Ruhm. 2. Werk Bereits als Student begann Wettstein, die —•Bibelhandschriften der Baseler Universitätsbibliothek zu erforschen. Er notierte Textvarianten und vermerkte Texte aus der nichtbiblischen antiken Literatur. Sein Ziel war es schon früh, die vom textus receptus abweichenden Lesarten in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments {variae lectiones) zu sammeln und zu publizieren. Das Interesse Wettsteins an den variae lectiones resultierte aus der Erkenntnis, daß der textus receptus nicht den bestmöglichen griechischen Urtext des Neuen Testaments darstellte. Die damit verbundene Kritik am textus receptus war von großer theologischer Sprengkraft, denn sie richtete sich gegen die Grundlage des Schriftverständnisses der Hochorthodoxie, wonach Gottes Wort und das Schriftwort identisch seien (—•Bibelwissenschaft). Wettstein hingegen sah die integritas der Schrift nicht in ihrem Wortlaut, sondern in dem von ihr vermittelten Sachgehalt. Damit steht Wettstein in der Kontinuität der Argumentation der englischen Deisten ( - * Deismus). Die abweichende handschriftliche Bezeugung stellt die Integrität der Schrift deshalb nicht in Frage. Der Einblick in die Geschichte der neutestamentlichen

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Textüberlieferung (->Textgeschichte/Textkritik II) führte Wettstein konsequent zu einer Aufgabe der These der Verbalinspiration, an deren Stelle er den Gedanken der Sachinspiration setzte. Als im Jahr 1728 in Basel bekannt wurde, daß Wettstein im Verlag seiner Verwandten in Amsterdam eine kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments veröffentlichen wollte, kam es zu einem Gerichtsverfahren gegen ihn. Es endete mit seiner Verurteilung als Häretiker und seiner Entfernung aus dem Pfarramt, was zugleich seinen Weggang aus Basel bedeutete. Zuvor hatte Wettstein noch die Ausgabe des Neuen Testaments des berühmten Altphilologen Richard Bentley (1662-1742) unterstützt, sich dann aber mit ihm in der Bewertung der lateinischen Übersetzungen überworfen. Daraus zog Wettstein die Konsequenz, selbst ein griechisches Neues Testament herauszugeben. Die Ausgabe des Neuen Testaments von 1728 sollte auf der Basis des Codex Alexandrinus den ältesten und von den besten Handschriften bezeugten Text bieten, einschließlich aller wichtigen Varianten. 1730 erschien in Amsterdam anonym ein Vorwort zu dieser Ausgabe (Prolegomena ad Novi Testamenti Graeci editionem accuratissima), das 201 Seiten umfaßte und die bis dahin gründlichste Studie über neutestamentliche Textkritik darstellte. Bemerkenswert an Wettsteins Prolegomena war die herausragende Stellung des Codex Alexandrinus und die von ihm geforderte Freiheit neutestamentlicher Textkritik. Mit seiner Grundthese (jeder könne und solle frei über den richtig zu lesenden Text entscheiden) verwarf Wettstein das Schriftverständnis der Orthodoxie. Der Prozeß in Basel vereitelte allerdings die geplante rasche Veröffentlichung der Gesamtausgabe, und der sich anschließende Wegzug nach Amsterdam löste das Problem auch nicht, denn seine Anstellung am Amsterdamer Remonstrantenseminar war mit der Auflage verbunden, die geplante Ausgabe des Neuen Testaments nicht zu veröffentlichen. Wettstein führte seine textkritischen Studien dennoch weiter und nahm Anfang der 1740er Jahre den Plan wieder auf, eine eigene Ausgabe des griechischen Neuen Testaments herauszubringen. Wissenschaftlich bedeutete diese Ausgabe einen Rückschritt, denn nun bildete der Codex Alexandrinus nicht mehr die Grundlage, und mit Rücksicht auf die Remonstranten übernahm Wettstein im wesentlichen den Text der Ausgabe von Elzevier (Leiden) aus dem Jahr 1624. Wettstein hatte Zweifel an der Bedeutung des Codex Alexandrinus bekommen, zudem spielte die Rivalität zu J.A. -»Bengel eine wichtige Rolle. Bengel sah im Codex Alexandrinus einen sehr wertvollen Zeugen; Wettstein schloß daraus, daß nur das Gegenteil richtig sein konnte. Gegenüber 1728/30 ging Wettstein bei der Ausgabe von 1751/52 zudem von der irrigen Annahme aus, bereits die ältesten griechischen Handschriften einschließlich des Codex Alexandrinus seien nach der lateinischen Übersetzung überarbeitet worden. In der Folge brachte ihm die Ausgabe von 1751/52 sehr viel Ruhm ein, textkritisch waren vor allem die Anzahl der herangezogenen Handschriften sowie die Einteilung und Kennzeichnung der Majuskeln mit Großbuchstaben und der Minuskeln mit arabischen Zahlen von Bedeutung. Als Schatz und Fundgrube erwiesen sich die über 30.000 Parallelstellen aus der griechischen und lateinischen Literatur, den Kirchenvätern und der rabbinischen Überlieferung, die Wettstein lediglich als Beigabe gedacht hatte. Wahrscheinlich ist der Kommentarteil aus der Unterrichtstätigkeit am Remonstrantenseminar in Amsterdam hervorgegangen; er sollte dazu dienen, den Studierenden einen Zugang zu diesen Paralleltexten zu eröffnen, um so das Verstehen des neutestamentlichen Textes zu fördern. Zudem scheint Bengels 1742 veröffentlichter Gnomon den Entschluß Wettsteins beeinflußt zu haben, seiner Ausgabe des Neuen Testaments einen Kommentarteil hinzuzufügen. Wettstein selbst gibt an, er habe in diesem Kommentar neben eigenen Lesefrüchten das Material anderer Gelehrter verarbeitet. Zu nennen ist hier vor allem die Observationenliteratur des 17. und 18. Jh., die einen grundlegenden Wechsel in der Rezeption der neutestamentlichen Texte markiert. Nicht mehr die Kirchenväter geben das rechte Textverständnis vor, sondern eine sachgemäße Exegese m u ß das historische Umfeld der neutestamentlichen Texte beachten. Z u nennen sind hier vor allem die Werke von John

Wettstein

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Lightfoot (1602-1675) und H. -»Grotius, ferner Lambert Bos(e) (1670-1717), Jakob E. Eisner (1692-1750), Johann Heinrich M a j u s (1688-1732), Georg Raphelius (geb. 1673) und Johann Christian Schöttgen (1687-1751). Wettsteins Kommentar ist philologischer Art, indem er am neutestamentlichen Text entlangschreitend Texte aus der griechischen und römischen Literatur aller Epochen sowie der rabbinischen Überlieferung und der Kirchenväter anführt, um so zur Sprach- und Sacherklärung und der inhaltlichen Erhellung neutestamentlicher Texte beizutragen. Mit Ausnahme der rabbinischen Überlieferung werden die Texte durchweg in der Originalsprache dargeboten. Zentrales Anliegen des Kommentars ist die Spracherklärung; Wettstein bietet vor allem Wortparallelen, vergleichbare Wortkombinationen und charakteristische Wendungen. Aber auch der Sacherklärung kommt große Bedeutung zu; durch umfangreiches Quellenmaterial erläutert Wettstein vor allem Realien wie Orte, Personen, Sitten und Bräuche. Bei den sachlichen Parallelen geht es besonders um gedankliche Gemeinsamkeiten zwischen neutestamentlichen Texten und ihrer kulturellen Umwelt. Als Pendant zu den Prolegomena des ersten Bandes (222 Seiten) fügt Wettstein dem Kommentar eine 15seitige Abhandlung De Interpretatione Novi Testamenti zu. Hier entfaltet er anhand von sieben Regeln seine Auffassung einer sachgemäßen Bibelauslegung. Es geht Wettstein um eine interpretatio zur Ermittlung der vera verborum et phrasium significatio. Die interpretatio zielt auf die Beseitigung von Verstehenshindernissen, welche die Leser daran hindern, die auctoritas der Bibel anzuerkennen. Ausgangspunkt jeder sachgemäßen Interpretation ist die Textkritik, denn die Ermittlung der authentischen Bedeutung von Wörtern und Ausdrücken muß auf der Basis eines gesicherten Textes erfolgen. Zur Ermittlung der Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes ist die Beachtung des unmittelbaren literarischen Kontextes besonders wichtig. Hinzu kommt die Verwendung von Wörtern und Begriffen in außerbiblischen Schriften. Bei unklaren oder schwer verständlichen Wörtern sind als Erklärung die klaren Stellen heranzuziehen. Widersprüchliche Stellen können leicht harmonisiert werden, wenn man annimmt, daß die neutestamentlichen Autoren gelegentlich Unsicheres oder Falsches aus der Volksmeinung wiedergegeben haben. Für ein umfassendes Verstehen ist es notwendig, sich ganz in das kulturgeschichtliche Umfeld der Erstleser zu versetzen, um durch die Kenntnis der Sitten, Vorstellungen und Ausdrucksweisen zu verstehen, wie die Apostel den Glauben bewirkten. Die Akkommodationstheorie erlaubte es Wettstein, rationalistische Sachkritik zu betreiben und zugleich die göttliche auctoritas des Neuen Testaments zu verteidigen. Wie John Toland (1670—1722) und Jean Alphonse Turretini (1671-1737) war Wettstein davon überzeugt, daß das Neue Testament wie jedes andere geschichtliche Dokument gelesen werden muß. Zugleich enthält aber nur das Neue Testament die zur Erlangung des Heils notwendigen Lehren. Allein dieser Sachverhalt und nicht die Behauptung einer Verbalinspiration der Apostelschriften konstituiert die Dignität des Neuen Testaments. Wettstein lehnte es ab, für die Auslegung der Bibel eine Sonderhermeneutik zu beanspruchen, vielmehr sollen auch für sie die für die profane Literatur entwickelten Auslegungsregeln gelten. Es geht Wettstein um ein Verstehen, das die geschichtlich überlieferte -> Offenbarung ernst nimmt, ohne Wahrheit und Vernunft auseinanderzureißen. Wenn der Mensch recht, d.h. mit Vernunft den neutestamentlichen Text versteht, wird er die darin enthaltenen Glaubenswahrheiten annehmen. 3.

Wirkung

Wettsteins Bedeutung liegt auf dem Gebiet der neutestamentlichen Textkritik, aus heutiger Sicht aber vor allem auf dem Feld der religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise des Neuen Testaments (-•Religionsgeschichte des Urchristentums). Er schuf die methodischen und materialen Voraussetzungen für den religionsgeschichtlichen Vergleich. Es war für Wettstein selbstverständlich, daß die neutestamentlichen Schriftsteller über manche Dinge „wie Platoniker", über andere „wie die Juden ihrer Zeit" sprachen (Wettstein, Novum Testamentum II, 882). Er führte religionsgeschichtliche Vergleiche

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Wettstein

durch und unterschied dabei faktisch auch zwischen Analogie und Genealogie. Vor allem aber bot er eine umfangreiche Materialsammlung, die bis in die Gegenwart hinein die Basis religionsgeschichtlicher Arbeit bildet. Es verwundert nicht, daß immer wieder der Wunsch nach einer Neubearbeitung des Wettstein aufkam. Gelehrte wie K. -»Tischendorf, A. —»Deißmann oder W. —• Wrede träumten von einer zeitgemäßen Erneuerung des 'Wettstein. Die Linie führte aber nicht vom Wettstein zur —•Religionsgeschichtlichen Schule, sondern zum Corpus Hellenisticum. Ende 1914 äußerte Georg Heinrici (18441915) den Plan eines Neuen Wettstein, der dann mit einer veränderten und erweiterten Konzeption unter dem Namen Corpus Hellenisticum insbesondere von Ernst von Dobschütz (1870-1934) und Hans Windisch (1881-1935) in Halle vorangetrieben wurde. Die umfängliche Aufgabenstellung, Rivalitäten zwischen den Gelehrten, vor allem aber die politischen und wirtschaftlichen Beeinträchtigungen in der ausgehenden Weimarer Republik, während der nationalsozialistischen Herrschaft und in der DDR verhinderten eine Durchführung des Projektes, obwohl speziell unter der Leitung von Gerhard Delling (1905-1986) erhebliche Fortschritte gemacht wurden. Georg Strecker (1929-1994) initiierte in Göttingen das Projekt Neuer Wettstein, das 1986 seine Arbeit aufnahm und 1993 nach Halle überging (Udo Schnelle). Ziel ist eine zeitgemäße Auswertung und Präsentation des von Wettstein gesammelten Materials. Da die wichtigsten rabbinischen Texte im Kommentar von P. -»Billerbeck zugänglich sind und die kirchengeschichtlichen Verweise in die Nachgeschichte des Neuen Testaments gehören, konzentriert sich der Neue Wettstein auf die hellenistischen Parallelen (-»• Hellenismus). Alle von Wettstein dargebotenen Texte werden kritisch geprüft, daneben finden zahlreiche zusätzliche Parallelen Eingang in die Sammlung. Die ersten beiden Teilbände des Neuen Wettstein zur neutestamentlichen Briefliteratur und Offenbarung erschienen 1996 (ca. 3.600 Vergleichstexte), 2001 folgte der Teilband zum Johannesevangelium (ca. 1.800 Vergleichstexte), der Synoptikerband steht vor dem Abschluß, und die beiden Teilbände zur Apostelgeschichte sind in Planung. So wird auch in Zukunft die religionsgeschichtliche Arbeit zum Neuen Testament mit dem Namen Wettstein verbunden bleiben. Quellen Johann Jakob Wettstein, 'H KAINH AIAQHKH. Novum Testamentum Graecum editionis receptae cum lectionibus variantibus Codicum MSS., Editionum aliarum, Versionum et Patrum nec non commentario pleniore Ex Scriptoribus veteribus Hebraeis, Graecis et Latinis Historiam, 2 Bde., Amsterdam 1 7 5 1 - 1 7 5 2 Nachdr. Graz 1962. - Neuer Wettstein. Texte zum N T aus Griechentum u. Hellenismus, Berlin/New York; 1/2. Texte zum Johannesevangelium, hg. v. Udo Schnelle. Unter Mitarb. v. Michael Labahn/Manfred Lang, 2001; I I / 1 - 2 . Texte zur Brieflit. u. zur Johannesapokalypse, hg. v. Georg Strecker/Udo Schnelle. Unter Mitarb. v. Gerald Seelig, 1996. Literatur Vgl. den Art. -»Hellenismus. Carl Bertheau, Art. Wettstein, Johann Jakob: RE 3 21 (1908) 1 9 8 - 2 0 3 . - Heinrich Böttger, Johann Jakob Wettstein's widrige Schicksale während der erstem Zeit seiner Anstellung am remonstrantischen Seminarium zu Amsterdam: Z H T h 40 (1870) 475 - 5 5 1 . - Gerhard Delling, Zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti: Z N W 54 (1963) 1 - 1 5 . - Ernst v. Dobschütz, Der Plan eines Neuen Wettstein: Z N W 21 (1922) 1 4 6 - 1 4 8 . - Carl Rudolph Hagenbach, Johann Jakob Wettstein der Kritiker, u. seine Gegner. Ein Beitr. zur Gesch. des theol. Geistes in der ersten Hälfte des 18. Jh.: ZHTh 9 (1839) 7 3 - 1 5 2 . - Gottfried Hornig, Die Anfänge der hist.-krit. Theol., 1961 (FSThR 8). - Pieter Willem van der Horst, Art. Corpus Hellenisticum Novi Testamenti: Anchor Bible Dictionary 1 (1992) 1157-1161. - Ders., Johann Jakob Wettstein nach 300 Jahren. Erbe u. Anfang: T h Z 49 (1993) 2 6 7 - 2 8 1 . - Charles L. Hulbert-Powell, John James Wettstein 1693-1754, London 1937. - Otto Merk, Wissenschaftsgesch. u. Exegese, 1998 (BZNW 95). - Gerard Mussies, Art. Wettstein (Wetstenius), Johann Jakob: BLGNP 3 (1988) 3 9 4 - 3 9 9 . - Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, München; III. Renaissance, Reformation, Humanismus, 1997; IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jh., 2001. - Klaus Scholder, Ursprünge u. Probleme der Bibelkritik im 17. Jh. Ein Beitr. zur Entstehung der hist.-krit. Theol., 1966 (FGLP 10. Ser., 33). - Gerald Seelig, Religionsgesch. Methode in Vergangenheit u. Gegenwart, Leipzig 2001 (Arbeiten zur Bibel u. ihrer Gesch. 7). - Georg Strecker, Das Göttinger Projekt „Neuer Wettstein": Z N W 83 (1992)

Whitefield

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2 4 5 - 2 5 2 . - Nikolaus Walter, Z u r Chronik des C o r p u s Hellenisticum v. den Anfängen bis 1 9 5 5 / 5 8 : Frühjudentum u. N T im Horizont Bibl. Theol. Mit einem Anh. zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, hg. v. Wolfgang Kraus/Karl-Wilhelm Niebuhr, 2 0 0 3 ( W U N T 162) 3 2 5 - 3 4 4 . Hans Windisch, Z u m Corpus Hellenisticum: Z N W 3 4 (1935) 124 f.

Udo Schnelle

Whitefield, George 1. Leben

2. Werk

(1714-1778) 3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 729)

1. Leben 1.1. George Whitefield wurde am 16. Dezember 1714 im Gasthaus Bell Inn in Gloucester als jüngstes von sieben Kindern des Gastwirtes Thomas Whitefield und seiner Frau Elizabeth geboren. Der Vater starb 1716, und seine Mutter heiratete 1722 Capel Longden, von dem sie sich jedoch vor 1730 wieder trennte. Longdens Mißwirtschaft zwang Whitefield, seinen Schulbesuch abzubrechen und eine Gesindetätigkeit aufzunehmen. Als Folge einer mit vier Jahren erlittenen Masernerkrankung schielte er sein Leben lang, ein Gebrechen, das die Karikaturisten erbarmungslos herausstellten, nachdem er zu Ruhm gekommen war. Trotz allem hatte er eine gewisse Bildung erhalten, und am 7. November 1732 schrieb er sich als Servitor, als Student niedrigsten Ranges, im Pembroke College in Oxford ein. Unter dem Einfluß von Charles Wesley (vgl. J. ->Wesley) schloß er sich im folgenden Sommer dem Holy Club an, einer Gruppe von Studenten, die Selbstverleugnung und peinliche Gewissenserforschung betrieben. Die Kasteiungen, die er sich auferlegte, gingen weit über die Notwendigkeiten hinaus, die ihm seine Armut abverlangte, und 1735 erlitt er nach strenger Einhaltung der Fastenzeit einen Zusammenbruch. Seine Genesung war von einer Bekehrung begleitet, die in einem fast leiblichen Sinn eine -»Wiedergeburt bedeutete. Bei seiner Rückkehr nach Oxford im März 1736 übernahm er die Leitung des Holy Club, da die Brüder Wesley mittlerweile nach Georgia abgereist waren. Im Sommer legte er seine Abschlußprüfung ab und wurde anschließend zum Diakon ordiniert. Danach begann er eine Predigttätigkeit in den frommen Kreisen der Religious Societies in London und in Pfarreien, die von Freunden des Wesleykreises verwaltet wurden. Zugleich sammelte er Mittel für die Arbeit der Wesleys in Georgia, wohin er ihnen 1738 folgte. 1.2. Whitefields erster Aufenthalt in Georgia dauerte nur vier Monate, hatte aber bedeutende Folgen für das religiöse Leben auf beiden Seiten des Atlantiks. Er plante dort die Gründung eines -»Waisenhauses nach dem Vorbild der Franckeschen Anstalt in Halle (vgl. TRE ll,317,lff.). Insgeheim schwebte ihm dabei offenbar auf längere Sicht auch eine Umwandlung in ein College vor. Nach der Rückkehr nach Britannien zur Beschaffung von Mitteln bewegte er John Wesley, zur Weiterführung einer von Whitefield im Gebiet von Bristol begonnenen Arbeit das Predigen unter freiem Himmel aufzunehmen, während er selbst zur Sammlung von Mitteln nach Südwales (-»Wales) ging. Zu dieser Zeit hatte die -»Prädestination eine beherrschende Stellung in seinem theologischen Denken gewonnen, und er rang Wesley das Versprechen ab, nicht gegen sie zu predigen. Dieser brach das Versprechen mit der Veröffentlichung einer Predigt über die freie Gnade. Der damit zwischen beiden aufgebrochene theologische Riß ist nie ganz geheilt worden und erwies sich besonders während der Anfangsjahre der methodistischen Bewegung (-»Methodistische Kirchen) als abträglich. Ein ausgeprägter antiklerikaler Zug in Whitefields Predigten führte zudem dazu, daß ihnen viele Kirchen verschlossen blieben. Auf der anderen Seite machte Whitefields Calvinismus ihn für die Mehrzahl der frühen Evangelikaien auf beiden Seiten des Atlantiks weit annehmbarer als den Arminianer Wesley (vgl. T R E 4,66,44ff.). Die wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Waisenhauses gaben ihm zudem einen dauerhaften Halt in Amerika, den Wesley

Whitefield

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2 4 5 - 2 5 2 . - Nikolaus Walter, Z u r Chronik des C o r p u s Hellenisticum v. den Anfängen bis 1 9 5 5 / 5 8 : Frühjudentum u. N T im Horizont Bibl. Theol. Mit einem Anh. zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, hg. v. Wolfgang Kraus/Karl-Wilhelm Niebuhr, 2 0 0 3 ( W U N T 162) 3 2 5 - 3 4 4 . Hans Windisch, Z u m Corpus Hellenisticum: Z N W 3 4 (1935) 124 f.

Udo Schnelle

Whitefield, George 1. Leben

2. Werk

(1714-1778) 3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 729)

1. Leben 1.1. George Whitefield wurde am 16. Dezember 1714 im Gasthaus Bell Inn in Gloucester als jüngstes von sieben Kindern des Gastwirtes Thomas Whitefield und seiner Frau Elizabeth geboren. Der Vater starb 1716, und seine Mutter heiratete 1722 Capel Longden, von dem sie sich jedoch vor 1730 wieder trennte. Longdens Mißwirtschaft zwang Whitefield, seinen Schulbesuch abzubrechen und eine Gesindetätigkeit aufzunehmen. Als Folge einer mit vier Jahren erlittenen Masernerkrankung schielte er sein Leben lang, ein Gebrechen, das die Karikaturisten erbarmungslos herausstellten, nachdem er zu Ruhm gekommen war. Trotz allem hatte er eine gewisse Bildung erhalten, und am 7. November 1732 schrieb er sich als Servitor, als Student niedrigsten Ranges, im Pembroke College in Oxford ein. Unter dem Einfluß von Charles Wesley (vgl. J. ->Wesley) schloß er sich im folgenden Sommer dem Holy Club an, einer Gruppe von Studenten, die Selbstverleugnung und peinliche Gewissenserforschung betrieben. Die Kasteiungen, die er sich auferlegte, gingen weit über die Notwendigkeiten hinaus, die ihm seine Armut abverlangte, und 1735 erlitt er nach strenger Einhaltung der Fastenzeit einen Zusammenbruch. Seine Genesung war von einer Bekehrung begleitet, die in einem fast leiblichen Sinn eine -»Wiedergeburt bedeutete. Bei seiner Rückkehr nach Oxford im März 1736 übernahm er die Leitung des Holy Club, da die Brüder Wesley mittlerweile nach Georgia abgereist waren. Im Sommer legte er seine Abschlußprüfung ab und wurde anschließend zum Diakon ordiniert. Danach begann er eine Predigttätigkeit in den frommen Kreisen der Religious Societies in London und in Pfarreien, die von Freunden des Wesleykreises verwaltet wurden. Zugleich sammelte er Mittel für die Arbeit der Wesleys in Georgia, wohin er ihnen 1738 folgte. 1.2. Whitefields erster Aufenthalt in Georgia dauerte nur vier Monate, hatte aber bedeutende Folgen für das religiöse Leben auf beiden Seiten des Atlantiks. Er plante dort die Gründung eines -»Waisenhauses nach dem Vorbild der Franckeschen Anstalt in Halle (vgl. TRE ll,317,lff.). Insgeheim schwebte ihm dabei offenbar auf längere Sicht auch eine Umwandlung in ein College vor. Nach der Rückkehr nach Britannien zur Beschaffung von Mitteln bewegte er John Wesley, zur Weiterführung einer von Whitefield im Gebiet von Bristol begonnenen Arbeit das Predigen unter freiem Himmel aufzunehmen, während er selbst zur Sammlung von Mitteln nach Südwales (-»Wales) ging. Zu dieser Zeit hatte die -»Prädestination eine beherrschende Stellung in seinem theologischen Denken gewonnen, und er rang Wesley das Versprechen ab, nicht gegen sie zu predigen. Dieser brach das Versprechen mit der Veröffentlichung einer Predigt über die freie Gnade. Der damit zwischen beiden aufgebrochene theologische Riß ist nie ganz geheilt worden und erwies sich besonders während der Anfangsjahre der methodistischen Bewegung (-»Methodistische Kirchen) als abträglich. Ein ausgeprägter antiklerikaler Zug in Whitefields Predigten führte zudem dazu, daß ihnen viele Kirchen verschlossen blieben. Auf der anderen Seite machte Whitefields Calvinismus ihn für die Mehrzahl der frühen Evangelikaien auf beiden Seiten des Atlantiks weit annehmbarer als den Arminianer Wesley (vgl. T R E 4,66,44ff.). Die wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Waisenhauses gaben ihm zudem einen dauerhaften Halt in Amerika, den Wesley

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Whitefield

erst eine Generation später gewann, und brachte ihn in eine sehr viel engere Verbindung zu Halle, als sie Wesley je besessen hat. Whitefield hielt sich 1739-1741, 1744-1748, 1751-1752, 1754-1755, 1763-1765 und 1769-1770 in Amerika auf und ist dort am 30. September 1770 in Newburyport in Massachusetts gestorben. 2. Werk 2.1. Whitefields erste Amerikareise war die dramatischste und erfolgreichste. Erwekkungen (—•Erweckung/Erweckungsbewegungen 1.2.) hatten in Neuengland bereits vor seiner Ankunft eingesetzt; doch er begann schon vor seiner Abreise aus England einen Pressefeldzug und nahm William Seward (1711-1740) als Organisator und Publizisten mit. Der bereits in England beträchtliche Umfang seiner Veröffentlichungen war in Amerika geradezu erstaunlich. Zwischen 1739 und 1745 brachten amerikanische Drucker mehr Arbeiten (Predigten, Flugschriften und Zeitungen) von ihm heraus als von jedem anderen Autor. Seine von der Presse angekündigte und von Methoden der Massenbeeinflussung gestützte Predigttätigkeit hatte dramatische Wirkungen. Sein Antianglikanismus fand in Neuengland bereitwillige Aufnahme, führte in South Carolina aber in dem, wie es heißt, ersten kommissarischen kirchlichen Verfahren in den Kolonien zu seiner Enthebung aus dem geistlichen Amt durch den Kommissar des Bischofs von London, Alexander Garden (1685-1756). Er machte die Erweckung zum Thema des ersten großen, alle Kolonien erfassenden Meinungsstreites und verband sie durch seine Tagebücher und Zeitungen mit dem Geschehen in Britannien. Kein weiteres amerikanisches Unternehmen hatte einen vergleichbaren Erfolg. Die tragenden Kräfte der Gesellschaft in Neuengland, die 1739 noch nachhaltig für ihn eingenommen waren, sahen durch ihn das Pfarreisystem und die kirchliche Ordnung gefährdet; in -»Kanada predigte er 1745 gegen eine Bedrohung der protestantischen Belange aus Frankreich; zunehmend richtete sich sein Interesse jedoch auf die südlichen Kolonien. Dortige Förderer erwarben ihm eine mit Sklavenarbeit bewirtschaftete Pflanzung als Ausstattung für sein Waisenhaus in Bethesda in Georgia, und Whitefield wurde zum energischsten evangelikalen Verfechter der —»Sklaverei. In seinen späteren Jahren hat er sich bemüht, alte Streitigkeiten zu bereinigen, und nach seinem Tod wurde er unter der Kanzel in Newburyport beigesetzt und galt als amerikanischer Patriot, von dem amerikanische Truppen im Unabhängigkeitskrieg (-»Vereinigte Staaten von Amerika) Kleidungsstücke als Amulette im Kampf gegen die Briten mit sich führten. 2.2. In Britannien verlief Whitefields Wirksamkeit ganz entsprechend der in Amerika eingeschlagenen Richtung. 2.2.1. In den späten 1730er Jahren war er in den Londoner Religious Societies ein viel gefragter Prediger und trug zur Festigung ihres Wirkens und ihrer Entwicklung zum Sprungbrett der Erweckung bei. Die leitenden kirchlichen Instanzen wurden seines Antiklerikalismus überdrüssig, während seine Predigten unter freiem Himmel in M o o r fields und Kennigton Common große Volksmengen anzogen; die Wirkung seiner kraftvollen Stimme, seiner Befähigung zu wirkungsvoller Inszenierung und seiner volksnahen Sprache verstärkte er durch eine ausgiebige Inanspruchnahme der Presse zur Veröffentlichung von Predigten, Streitschriften, Zeitungen und einer kurzlebigen Zeitschrift. Dabei spannte er sein Netz weit. Durch Howell Harris (1714—1773) erhielt er Zugang nach Südwales, und 1743 wurde er zum Moderator der calvinistischen Methodisten in England und Wales berufen, die rasch ihr seitdem dauerhaft behauptetes zahlenmäßiges Übergewicht innerhalb des walisischen Methodismus gewannen. Zudem machte er Harris auch dessen Verlobte, die Witwe Elizabeth James aus Abergavenny (1704—1768), abspenstig, die er 1741 heiratete. Die Ehe war nicht glücklich, und der einzige 1743 daraus hervorgegangene Sohn starb bereits vier Monate nach der Geburt. 2.2.2. In der Zwischenzeit hatte Whitefield 1741 auf Einladung der Brüder Ebenezer (1680-1754) und Ralph (1685-1757) Erskine, den Leitern des Associate Presbytery, einer

Whitefield

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kleinen Abspaltung von der schottischen Nationalkirche, den ersten seiner vierzehn Besuche in -»Schottland unternommen. Er machte kein Geheimnis aus seiner Berufung als unabhängiger anglikanischer Evangelist und geriet sogleich in Konflikt mit der radikal presbyterianischen Haltung des Associate Presbytery, das für eine Erneuerung der Covenants eintrat (vgl. T R E 30,393,45ff.). Indessen hatte die Erweckung innerhalb der schottischen Staatskirche bereits eingesetzt und als Whitefield 1742 nach Schottland zurückkehrte, wurden die Erweckungsversammlungen in Cambuslang und Kilsyth zu den aufsehenerregendsten Auftritten seiner Wirksamkeit als Prediger. Seine ausgeprägte Selbstsicherheit aber rief innerhalb der tragenden Kreise Schottlands den gleichen Widerstand wach wie in England und Neuengland. 2.2.3. Whitefield war nicht die einzige Quelle für Streitigkeiten innerhalb der evangelikalen Bewegung, hat aber für eine von ihnen eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Seinem Wunsch entsprechend hielt John Wesley 1770 auf ihn eine hochherzige Leichenrede, doch ihre Beziehungen waren stets getrübt. In der großen europäischen Auseinandersetzung zwischen Halle und Herrnhut (—• Brüderunität/Brüdergemeine) trat Whitefield stets für Halle ein und nachdem er zahlreiche Mitglieder seines Londoner Tabernacle, einer für ihn errichteten Predigtstätte, an die Brüdergemeine verloren hatte, griff er 1753 in einer Streitschrift deren Finanzgebaren an; dazu hatte er hinreichenden Anlaß, obwohl auch seine eigenen finanziellen Verhältnisse auf beiden Seiten des Atlantik stets chaotisch waren und in seiner Gründung Bethesda, in die er 16.000 Britische Pfund investiert hatte, lediglich 180 Waisen immer nur vorübergehend Unterkunft fanden. Geldknappheit erklärt gewiß zu einem Teil auch Whitefields Neigung, Beziehungen zu den Großen und Reichen zu pflegen, in besonderem Maß zur Gräfin Seiina von Huntingdon (1727-1760). In erster Line war diese Beziehung allerdings Teil eines weitgespannten politischen Plans, an den sich die Hoffnung einer möglichen Ernennung Whitefields zum Bischof knüpfte. Seit den frühen 1740er Jahren begann Frederick, der Prinz von Wales (1707-1751), am Hof eigenständige politische Interessen im Hinblick auf seine spätere Thronnachfolge zu verfolgen; auf religiösem Gebiet bemühte er sich dabei um eine Unterstützung durch die führenden Kräfte der Erweckung, insbesondere die Gräfin von Huntingdon und ihren Kreis. Zum Unglück für diese Planspiele starb Frederick infolge eines Unfalls beim Tennis bereits 1751 vor seinem Vater Georg II. (17271760). 3.

Wirkung

Das Werk eines Predigers ist bekanntlich vergänglich, und unter späteren Wesleyanischen Polemikern wurde es üblich, Whitefields Wirken als wenig nachhaltig (rope of sand) abzutun. Dabei bleibt jedoch Entscheidendes außer acht. Anders als Wesley hat Whitefield keine feste Denomination hinterlassen; doch viele kongregationalistische Pastoren und Evangelisten (-»Kongregationalismus) der folgenden Generation waren von ihm bekehrt worden, und wenn er auch Verwirrung in die Verfassungstraditionen der independenten oder kongregationalistischen Kirchen brachte, gab er doch ihrem Wachstum einen beträchtlichen Anstoß. In Wales verschaffte er der calvinistischen methodistischen Bewegung in ihrer Frühphase eine einheitliche Führung, die sie aus sich selbst nicht zuwege bringen konnte. Unter seinem Einfluß wurde weniger konventionell gepredigt, und er ist immer noch ein Leitbild für diejenigen, die der Tradition eines modernisierten Calvinismus verpflichtet sind. Quellen Es gibt kein Whitefield-Archw. Sammlungen von Briefen sind vorhanden in der Library of Congress in Washington, in der John Rylands University Library in Manchester und der Nationalbibliothek von Wales in Aberystwith. Eine moderne Werkausgabe fehlt; Auswahlausgaben: The Works of the Reverend George Whitefield, 6 Bde., London 1771 - 1 7 7 2 [I—III enthalten Briefe; IV vermischte Schriften; V - V I Predigten];

Whitehead

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Nachdr. u.d.T.: Letters of George Whitefield, For the Period 1734-1742, Edinburgh, I 1976. Sermons on Important Subjects, ed. Joseph Smith, London 1828. Whitefields Tagebücher (Journals) sind 1740-1748 unter unterschiedlichen Titeln veröffentlicht worden; in vom Autor überarbeiteter, verbesserter und gekürzter Fassung sind sie 1756 in London erschienen. Zusammen mit einem bis dahin unveröffentlichten Tagebuch sind sie nachgedruckt worden: George Whitefield's Journals. A New Ed. Containing Fuller Material than any Hitherto Published. Intr. by Iain Murray, London 1960 Edinburgh s 1989. - The Journals of George Whitefield, ed. by Robert Backhouse, London 1993. Whitefields wichtigste Zeitung ist von Thomas Prince jun. unter dem Titel The Christian History, Boston, Mass. 1744-1745 herausgebracht worden. Literatur John Gillies, Memoirs of the Life [2. Aufl.: and Character] of the Reverend George Whitefield, London 1772; Rev. and corrected with large additions and improvements, by Aaron C. Seymour, Dublin 1811 u.ö. - Luke Tyerman, The Life of the Reverend George Whitefield, 2 Bde., London 1876-1877. - Harry S. Stout, The Divine Dramatist. George Whitefield and the Rise of Modern Evangelicanism, Grand Rapids, Mich. 1991. - Frank Lambert, „Pedlar in Divinity". George Whitefield and the Transatlantic Revivals, 1737-1770, Princeton, N.J. 1994. - Boyd Stanley Schlenther, Queen of the Methodists. The Countess of Huntingdon and the Eighteenth-Century Crisis of Faith and Society, Bishop Auckland 1997, bes. 85-130.

William Reginald Ward

Whitehead, Alfred North 1. Leben

2. Werk

(1861-1947)

3.Wirkung

(Quellen/Literatur S. 732)

1. Leben Alfred North Whitehead wurde am 15. Februar 1861 in Ramsgate, auf der Insel Thanet in Kent, geboren. Sein Vater Alfred war Privatschullehrer und Anglikanischer Geistlicher. Von 1880 bis 1884 studierte er Mathematik am Trinity College in -»Cambridge und wurde dort im Jahr 1884 Fellow des Trinity College. Er unterrichtete Mathematik, was zur damaligen Zeit die physikalischen Disziplinen mit einschloß. Zu seinen Schülern zählten u.a. John Maynard Keynes (1883-1946) und Bertrand Russell (1872-1970). Nach der gemeinsamen Arbeit an den Principia Mathematica (1910-1913) mit Bertrand Russell wechselte er aus persönlichen Gründen nach London; zunächst ohne feste Anstellung, dann als Dozent für Mathematik am University College London, währenddessen er sich für pädagogische Reformen engagierte (vgl. dazu The Organisation of Thought, Educational and Scientific), und ab 1914 als Professor für angewandte Mathematik am Imperial College of Science and Technology in London. 1924, also im Alter von 63 Jahren, erhielt Whitehead einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität -»-Harvard. Dort entwickelte er seine spekulative Metaphysik. Die meisten seiner dort entstandenen Werke sind ursprünglich Vorlesungsreihen, wie auch sein opus magnum Prozeß und Realität von 1929 belegt, das aus den Gifford-Vorlesungen entstanden ist, die Whitehead 1927/28 in Edinburgh gehalten hat. 1941 hielt er seine Abschiedvorlesung Immortality (s. Schilpp 682-700). Er starb am 30. Dezember 1947 in Cambridge, Massachusetts. Seine Asche wurde auf dem Friedhof der Memorial Church in Harvard beigesetzt. 2. Werk 2.1. Die 1. Periode (1891-1913): Mathematik und Logik. Whitehead entwirft in seinen frühen Werken (vgl. A Treatise on Universal Algebra) mathematisch-logische Modelle bzw. Theorien, die im Unterschied zu traditionellen Auffassungen eine (wenn auch noch unspezifizierte) Beziehung zur empirischen -»Welt haben. Damit ebnet er den Weg für eine Theorie-Entwicklung, in der mathematische Theoreme mit der Wirklichkeit

Whitehead

731

durch Abstraktion und Intuition aufeinander bezogen sind (vgl. Bradley, Whitehead; Welker). Dies findet seinen Ausdruck in seiner Schrift Ort Mathematical Concepts of the Material World von 1906. Er stellt sich die Aufgabe, die sich bis zu seinem Hauptwerk durchhält: hypothetische logische Schemata zu entwickeln, die die physische Welt zu erfassen ermöglichen. Die Principia Mathematica (1910-1913) stellen den Versuch dar, den Gesamtbereich der Mathematik zu axiomatisieren und auf die -»Logik der Relationen zurückzuführen. Dieser Versuch blieb unvollendet (der vierte Band zur Geometrie sollte von Whitehead verfaßt werden); der vierte Teil von Prozeß und Realität (Die Theorie der Ausdehnung) kann als der unter veränderten Voraussetzungen und in veränderter Form geschriebene vierte Teil der Principia gedeutet werden. 2.2. Die 2. Periode (1914-1923): Naturphilosophie. Whitehead kritisiert die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten (vgl. Hampe, Wahrnehmungen). Eine Gabelung (bifurcation) der N a t u r in Sinneswahrnehmungen einerseits (sekundäre Qualitäten) und physikalische Elemente (wie z. B. Elektronen als primäre Qualitäten) andererseits, soll durch Abstraktion von -»-Erfahrung und logische Konstruktionen überwunden werden. Whitehead nähert sich damit einem System, das mit Metaphysik der Erfahrung umschrieben werden kann (vgl. Lotter). Er bestimmt das Teil-sein-von als Grundrelation von Ereignissen, mittels der er die Wahrnehmungsereignisse bestimmt. In der 2. Auflage des Enquiry (1925) stellt er aber fest, daß er der Relation der Ausdehnung einen Vorrang eingeräumt hat, was nicht ausreicht, um die Objekte in Raum und Zeit angemessen zu bestimmen, dazu bedarf es einer neuen Kategorie, „Prozeß" (Enquiry 2 Anm. 2). 2.3. Die 3. Periode (1924-1947): Spekulative Metaphysik. Unbestritten stellt Prozeß und Realität das Hauptwerk Whiteheads, aber auch einen schwer zu entschlüsselnden Text dar. In deutlicher Kontinuität der ersten und zweiten Schaffensperiode entwickelt Whitehead ein Schema, mittels dessen er die Vielfalt der Erfahrung in eine relative Theorie der Wirklichkeit zu fassen sucht. Schon in Wissenschaft und Moderne Welt hat er eine Ereignisontologie entwickelt, in der jede Erfahrung als ein durch vorhergehende Ereignisse beeinflußtes und sich selbst bestimmendes Ereignis begriffen wird, das sich in bestimmten Formen entfaltet und beschreiben läßt; Whitehead nennt sie eternal objects. Die Ontologie der Raum-Zeit in Prozeß und Realität läßt sich als Alternative zur Funktionsontologie der Principia Mathematica verstehen: aktuale Entitäten als Variablen, die eternal objects als Prädikatbuchstaben und die prehensions (Erfassungen) als logische Verknüpfungen. Whitehead vereinigt auf diese Weise Raum, Zeit und Materie zu einem einzigen System von Relationen. Vergleichbar mit Samuel Alexander (1859-1938), Henri Bergson (1859-1941) und dem späten M . —»Heidegger faßt Whitehead das Sein als Akt der Selbstwerdung, der analysierbar ist: die gegebenen Bedingungen der Vergangenheit, die Selbstbestimmung des Ereignisses und die Wirkung des Ereignisses, die in einen neuen Werde-Akt mündet. Diese Werde-Prozesse, die aktualen Entitäten, sind die Grundelemente der Wirklichkeit, sie werden durch Formelemente (vergleichbar den platonischen Ideen) verknüpft und als prehensionen erfaßt (erfahren). Das Reich der reinen Möglichkeiten (eternal objects) nennt Whitehead die Urnatur Gottes, durch sie geht -»Gott indirekt (als Grund der Möglichkeit von Formen) in jede aktuale Entität ein. Jede entstandende und vergangene aktuale Entität geht in Gottes Folgenatur (consequent nature) ein. Ausgehend von diesem „bipolaren" Gottesbegriff und den daraus entspringenden Konsequenzen für eine christliche Theologie, hat sich die sogenannte -+Prozeßtheologie entwickelt.

732 3.

Whitehead Wirkung

Die große Ausstrahlung, die Whiteheads spekulative Metaphysik zunächst ausübte, z . B . durch J. Dewey und George Herbert Mead ( 1 8 6 3 - 1 9 3 1 ) in den -»Sozialwissenschaften (vgl. Lotter) oder durch seine Schüler W.V. Quine und Ch. Hartshorne in der Philosophie, wurde bald von der Wende zur Sprachanalyse (-»Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie) abgelöst (vgl. Richard Rorty, Das subjektivistische Prinzip und die Sprachanalyse: Hampe/Maaßen II, 2 7 6 - 3 1 2 ) . In jüngster Zeit läßt sich ein auch in der Philosophie verstärktes Interesse konstatieren (vgl. Literaturliste). Seine stärkste Wirkung hat Whitehead allerdings nach wie vor in der sogenannten Prozeßtheologie erlangt. Quellen 1. Werke (Auswahl): A Treatise on Universal Algebra. With Applications, Cambridge 1898. On Mathematical Concepts of the Material World (Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series A, 1906): Filmer Stuart Cuckow Northrop/Mason W. Gross, Alfred North Whitehead. An Anthology, Cambridge 1953, 11-82. - Principia Mathematica (zusammen mit Bertrand Russell), 3 Bde., Cambridge 1910-1913 21927. - An Intr. to Mathematics, London 1911 Nachdr. Oxford 1969; dt.: Einf. in die Mathematik, Wien 1948. - La Théorie Relationniste de l'Espace: RMM 23 (1916) 423 - 454. - Mathematics: EBrit" 17 (1911) 878-883. - The Organization of Thought, Educational and Scientific, London 1917. - Time, Space and Material. Are they, and if so in what Sense, the Ultimate Data of Science? PAS.S 2 (1919) 44 - 57; dt. Zeit, Raum u. Stofflichkeit. Sind die überhaupt - und, wenn ja, in welchem Sinne - letzte Gegebenheiten der Naturwissenschaft?: Michael Hampe/Helmut Maaßen (s.u. Lit.) I, 259 - 2 7 3 . - An Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge, Cambridge 1919 2 1925. - The Concept of Nature, Cambridge 1920; dt.: Der Begriff der Natur, Weinheim 1990. - Einstein's Theory. An Alternative Suggestion: Times Educational Suppl., 12. Februar 1920; dt.: Einsteins Theorie. Ein Alternativvorschlag: Michael Hampe/Helmut Maaßen (s.u. Lit.) I, 295-305. - The Principle of Relativity, Cambridge 1922. Science and the Modern World, New York/Cambridge 1925; dt.: Wiss. u. moderne Welt, Frankfurt a.M. 1984. - Religion in the Making, New York/Cambridge 1926; dt.: Wie entsteht Religion, Frankfurt a.M. 1985. - Symbolism, Its Meaning and Effect, Cambridge/New York 1926; dt.: Kulturelle Symbolisierung, Frankfurt a.M. 2000. - The Aims of Education and Other Essays, New York 1929. - The Function of Reason, Princeton. N.J. 1929; dt. : Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974. - Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York/Cambridge 1929; corrected ed. David Ray Griffin/Donald W. Sherburne, New York 1978; dt.: Prozeß u. Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1995. - Adventures of Ideas, New York/Cambridge 1933; dt.: Abenteuer der Ideen. Mit einer Einl. v. Reiner Wiehl, Frankfurt a.M. 1971. — Modes of Thought, New York/Cambridge 1938; dt.: Denkweisen, Frankfurt a.M. 2001. - Essays in Science and Philosophy, New York 1947. - Lucien Price, Dialogues of Alfred North Whitehead, New York 1956. 2. Bibliographie und Zeitschriften: Barry A. Woodbridge (Hg.), Alfred North Whitehead. A Primary-Secondary Bibliography, Bowling Green, Oh. 1977. - European Studies in Process Thought, hg. vom European Center for Process Thought, Leuven; I., hg. v. Helmut Maaßen, 2003. - ProcSt 1 (1971) ff. Literatur James Bradley, Transcendentalism and Speculative Realism in Whitehead: ProcSt 23 (1994) 155-191. - Ders., Whitehead: Routledge Encyclopedia of Philosophy, hg. v. Edward Craig u.a., London, 9 (1998) 713 - 7 2 0 . - Richard B. Braithwaite, Review of Science and the Modern World: Mind 35 (1926) 489-500. - Ders., Contribution to „Symposium: Is the .Fallacy of Simple Location' a Fallacy?": PAS.S 7 (1927) 224-36. - William A. Christian, An Interpretation of Whitehead's Metaphysics, New Haven, Conn. 1959. - Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz u. der Barock, Frankfurt a.M. 1995 2 1996. - John Dewey, Whitehead's Philosophy: PhRev 46 (1937) 170-177 = Problems of Men, New York, 1946, 410-418 [A.N. Whiteheads Entgegnung dazu ist Analysis of Meaning: ders., Essays in Science and Philosophy (s.o. Quellen) 122-131], - Jean-Claude Dumoncel, Les sept mots de Whitehead ou L'aventure de l'être. Créativité, processus, événement, objet, organisme, „enjoyment", aventure. Une explication de „Processus & réalité", Paris 1998. - Dorothy M. Emmet, The Nature of Metaphysical Thinking, London 1946 Nachdr. New York 1966. - Dies., Whiteheads Philosophy of Organism, London 1932 New York 21966. - Reto L. Fetz, Whitehead. Prozeßdenken u. Substanzmetaphysik, Freiburg i.Br./München 1981. - Frederic B. Fitch, Combinatory Logic and Whitehead's Theory of Prehensions: Philosophy of Science 24 (1957) 331-335. - Lewis S. Ford,

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Wichern

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W i c h e r n , Johann 1. Leben 1.

Hinrich

2. Werk

(1808-1881)

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 738)

Leben

D e r a m 2 1 . April 1 8 0 8 in - » H a m b u r g g e b o r e n e J o h a n n H i n r i c h W i c h e r n e n t s t a m m t e kleinbürgerlichen Verhältnissen. D e r T o d des Vaters ( 1 8 2 3 ) , d e m ein sozialer Aufstieg gelungen w a r , bedeutete einen tiefen Einschnitt für den ältesten Sohn und seine vier S c h w e s t e r n und zwei B r ü d e r . D e r Fünfzehnjährige verlor seine wichtigste Bezugsperson (vgl. J u g e n d t a g e b ü c h e r ) und m u ß t e neben d e m B e s u c h des J o h a n n e u m s (seit 1 8 1 8 ) für den U n t e r h a l t der Familie m i t s o r g e n — z u n ä c h s t d u r c h P r i v a t u n t e r r i c h t , später als E r ziehungsgehilfe. Im M ä r z 1 8 2 6 i m m a t r i k u l i e r t e er sich als studiosus

theologiae

am Ham-

burger A k a d e m i s c h e n G y m n a s i u m . J o h a n n G o t t f r i e d Gurlitt ( 1 7 5 4 - 1 8 2 7 ) , d e m R e k t o r des J o h a n n e u m s und führenden K o p f des -»-Rationalismus in H a m b u r g , stand W i c h e r n

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Wichern

distanziert gegenüber. Ihn prägten vielmehr Vertreter der Erweckungsbewegung (->Erweckung/Erweckungsbewegungen) wie sein Konfirmator Otto Wolters (1796-1874), Johann Wilhelm Rautenberg (1791-1865), der Pastor der Vorstadt St. Georg, der einflußreiche Senator Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787-1865) oder der Syndikus Karl Sieveking (1787-1847). Sie gehörten wie Amalie Sieveking (1794-1859) zu den Gönr.ern, die Wichern das Theologiestudium ermöglichten. Seit Oktober 1828 studierte er in -»•Göttingen vor allem bei Friedrich Lücke (1791-1855) und G.H.A. -»Ewald, seit Ende März 1830 in -»Berlin bei F.D.E. -»Schleiermacher und G.W.F. -»Hegel. Bedeutender für ihn waren dort jedoch der Kirchenhistoriker A. -»Neander sowie die Kontakte zu Baron H.E. von —»Kottwitz und anderen Vertretern der Berliner Erweckungsbewegung sowie zu Nikolaus Heinrich Julius (1783—1862), der sich der Strafvollzugsreform widmete. Daß Wichern auf Seiten der Erweckten stand, zeigte 1839/40 auch sein Einsatz im Hamburger Kirchenstreit (vgl. Beleuchtung des Theologen; Das rationalistische Papsttum; Die wahre Gemeinde des Herrn: SW I, 1 7 - 3 4 . 3 5 - 5 6 . 5 7 - 7 2 ; vgl. TRE 27,407,20-32). Im September 1831 nach Hamburg zurückgekehrt, legte Wichern im April 1832 sein theologisches Examen ab. Da eine sofortige Aufnahme in den kirchlichen Dienst nicht möglich war, wurde er Kandidat und übernahm in der Vorstadt St. Georg die Cberlehrerstelle in der Sonntagsschule Rautenbergs. Im Rahmen des Besuchsvereins unternahm er Hausbesuche in den Elendsquartieren (vgl. TRE 4,108,16-33) und machte detaillierte Aufzeichnungen darüber (vgl. Notizen über gemachte Besuche; Hamburgs wahres und geheimes Volksleben: SW IV/1, 19—31.32-46). Das stetig wachsende Detailwissen um die soziale Wirklichkeit verband sich bei ihm mit der Gabe der begeisternden Rede. Bereits mit seinen ersten öffentlichen Ansprachen 1832/33 hatte er entscheidenden Anteil an der Gründung einer „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder" (vgl. SW IV/1, 97—114) für die an den Folgen des Pauperismus leidenden Kinder Hamburgs und wurde deren Vorsteher (—»Waisenhaus 5.). Am 31. Oktober 1833 bezog er mit seiner Mutter u.a. die alte Bauernkate in Horn bei Hamburg, die der Einrichtung ihren Namen gab: das Rauhe Haus. Eine Woche später folgten die ersten drei Jürgen, Ende 1833 waren es bereits zwölf, ab 1835 kamen auch Mädchen hinzu, und Anfang der 1870er Jahre wurde die tausendste Neuaufnahme vollzogen. Ab 1834 entstanden neue Häuser, und um den steigenden Bedarf an qualifiziertem Personal sicherzustdlen, bildete Wichern seine Gehilfen selbst aus. Darüber berichtete er 1843 in seiner Nachricht über das Gehilfeninstitut, als Seminar für die innere Mission unter deutschen Protestanten (vgl. SW IV/1, 202-220), das seit 1844 offiziell als Brüderanstalt firmierte Die dort ausgebildeten Brüder (vgl. SW VIII) - später gegen Wicherns Verständnis „Diakone" (vgl. T R E 19,198,36—199,4) genannt - wurden in vielen neu entstehenden sozialer Arbeitsfeldern eingesetzt (vgl. Notstände der protestantischen Kirche und die innere Mission: SW IV/1, 2 2 9 - 295). Vorsteher des Rauhen Hauses blieb Wichern auch, als ihm nach 1848 neue Aufgaben zuwuchsen und ihn oft abwesend sein ließen. Bereits im Oktober 1835 hatte Wichern Amanda Böhme (1810-1888) geheiratet. Sie übernahn die Aufgaben der Hausmutter; die eigene Familie der Wicherns wuchs bis 1848 auf vier Mädchen und vier Jungen an. Auf dem Wittenberger Kirchentag (-»Kirchentage; vgl. TRE 8,639,42-640,15) gelangte Wicherns kirchenreformerisches Anliegen zum Durchbruch, als er am 22. September 1848 mit seiner eineinviertelstündigen Stegreifrede die Anerkennung der -»Inneren Mission erreichte sowie am folgenden Tag die Gründung eines Central-Ausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, die am 4./5. Januar 1849 formal abgeschlossen wurde. Den Inhalt seiner Rede arbeitete Wichern zu einer Denkschrift aus: Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation (SW I, 175-366), die 1849 zwei Auflagen mit insgesamt i.000 Exemplaren erlebte. Um für die Sache der Inneren Mission zu werben, unternahm Wichern viele Reisen durch die deutschen Länder. Die von ihm seit 1844 herausgegebenen

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Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg (vgl. zum Publizisten Wichern TRE 27,708,51-57; 710,3-32) fungierten als Organ des Centrai-Ausschusses, dessen Präsident Wichern 1858 als Nachfolger von Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795-1877) wurde. Bereits 1851 hatte er den theologischen Ehrendoktor der Universität —»Halle erhalten. 1852/53 unternahm er im Auftrag Friedrich Wilhelms IV. (reg. 1840-1858) drei Inspektionsreisen zur Revision der preußischen Gefängnisse. Der übliche Strafvollzug befähige nicht zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft, bemängelte Wichern: „mit der Entlassung des Gefangenen beginnt oft erst das rechte Gefängnis mitten in der wiedererhaltenen Freiheit" (SW VI, 40). Der König führte modellhaft in der Haftanstalt Moabit die Einzelhaft ein; hier nahmen 1856 38 Brüder des Rauhen Hauses ihren Dienst in der „Gefangenenpflege" auf. Im Januar 1857 wurde Wichern „zur Bearbeitung der Angelegenheiten der Strafanstalten und des Armenwesens" als Vortragender Rat ins Preußische Innenministerium und zugleich als Oberkonsistorialrat in den Oberkirchenrat berufen. In dieser Phase verstärkter Wirksamkeit in Preußen fühlte er sich konservativen Kreisen um den König, F.J. -»Stahl und den Brüdern von Gerlach verbunden. 1858 gründete er eine weitere Brüderanstalt, das Johannesstift in Berlin (vgl. SW IV/2,252—275), dessen Absolventen vor allem im Strafvollzug eingesetzt werden sollten. Nach Abdankung von Friedrich Wilhelm IV. (1858) und der NichtVerlängerung des Vertrags über die Ausbildung der Brüder zu Gefängniswärtern (1862) scheiterten Wicherns Gefängnisreformpläne (vgl. T R E 12,146,7—18). In den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 entwickelte Wichern ein Konzept der Felddiakonie - seine Diakone trugen erstmals das Schutz- und Erkennungssymbol des -•Roten Kreuzes (vgl. Gerhardt, Wichern [1931] III, 364). Bereits 1866 hatte Wiehern einen ersten Schlaganfall erlitten, dem weitere folgten. Auf der Oktoberversammlung 1871 war seine Kraft erkennbar gebrochen, sein Referat Die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart (SW III/2, 192-221) konnte er nicht mehr frei halten, und inhaltlich war er nicht mehr auf dem aktuellen Diskussionsstand. Er kehrte dauerhaft ins Rauhe Haus zurück, als Theodor Rhiem (1823-1880), der ihn als Inspektor seit Anfang 1850 vertreten hatte, es Mitte April 1872 verließ. Ende 1873 übernahm Johannes Wichern (1845—1914) das Vorsteheramt von seinem Vater, der seit Oktober 1872 beurlaubt - zum Jahresbeginn 1875 offiziell aus dem preußischen Staatsdienst schied. Seit 1874 schwer krank, starb Wichern am 7. April 1881. 2. Werk Der (Sozial-)Pädagoge Wichern gestaltete auf der Grundlage bestehender Rettungshäuser das Rauhe Haus so konzeptionell durchdacht, daß es rasch zum Modell dieser neuen Form der Heimerziehung avancierte. Konstitutiv waren u.a. die Beachtung der Freiheit und Individualität jedes einzelnen Kindes, das Familienprinzip sowie die verläßliche Gestaltung des Tagesablaufs, des Wechsels von Alltag und Sonntag sowie des Jahreszyklusses anhand des Kirchenjahres. Seine Grundsätze entwickelte Wichern zunächst selbst und vermittelte seinen Gehilfen die Pädagogik des Rauhen Hauses (SW VII, 17-217) sowie eine christliche Erziehungs- und Unterrichtslehre (SW VII, 218-299). Diese praxisorientierten Entwürfe zogen kein Lehrbuch nach sich, aber als Summe der Pädagogik Wicherns kann sein 1868 erschienener Artikel Rettungsanstalten als Erziehungshäuser in Deutschland (SW VII, 374—534) in der renommierten Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens gelten. Die Rettungsanstalt unterschied sich deutlich vom Straf- oder Zuchthaus, was bereits das Aufnahmeritual sinnfällig machte. Als Antwort auf seine Geschichte hörte das Kind von Wichern: „Mein Kind, dir ist alles vergeben! Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist! Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel; nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier... diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. - Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich daß du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und Menschen!" (SW IV/1, 108). Die bisher prägenden (Über-)Le-

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bensstrategien sollten im Rauhen Haus bewußt verändert werden. Die Kinder wurden im Alter von elf bis zwölf Jahren aufgenommen und mit 16 entlassen. Im Laufe der Zeit entstand eine christliche Kolonie kleiner Häuser, wie es Wichern vorschwebte (vgl. Brautbriefe); keine kasernenartige Unterbringung, sondern Kinderfamilien von zwölf Kindern, die mit einer Bezugsperson ein eigenes Häuschen bzw. einen Hausbereich bewohnten und in dieser Kleingruppe familienähnlich soziales Verhalten einübten. Vom durch Schule und Arbeit geprägten Alltag waren die Sonn- und Feiertage abgesetzt; Wichern ritualisierte das Leben in strukturierendem Wechsel kindgerecht, was sich etwa an seinem Festbüchlein (vgl. SW IV/2, 17-210), den Rauhhäusler Liederbüchern (vgl. SW V, 356-357) oder dem hier gepflegten Brauch des Adventskranzes (vgl. T R E 21,116,43-46) erkennen läßt. Ziel der Erziehung war die Förderung der individuellen Fähigkeiten, der Verantwortung und der Gemeinschaftsfähigkeit der Kinder. So wurden die Gehilfen in ihrer Wahrnehmung geschult, indem z. B. die Entwicklung jedes einzelnen Kindes festgehalten wurde oder in Wochenkonferenzen regelmäßig das Leben der einzelnen Kinderfamilien besprochen wurde. Während die Jungen in immer mehr handwerklichen Berufen vorgebildet werden konnten, blieben den Mädchen die Bereiche Handarbeit und Hauswirtschaft. So eröffneten sich für die Mädchen meist hauswirtschaftliche Stellungen, während die Jungen oft selbständige Handwerker wurden. Hierin zeigte sich Wicherns an Handwerk und Bürgertum orientierter Horizont. Dem Staat gegenüber legte er jedoch großen Wert auf Eigenständigkeit, auch hinsichtlich der Finanzierung. Die Kritik des Kirchenerneuerers Wiehern entzündete sich an der mangelnden Flexibilität der Kirche angesichts gesellschaftlicher Umbrüche, insbesondere des Pauperismus und der Urbanisierung. Die F o r m der kirchlichen Verkündigung sollte sich anpassen („kommen die Leute nicht in die Kirche, so muß die Kirche zu den Leuten k o m m e n " : SW I, 164), wenn u.a. durch parochiale Starrheit (seelsorgerliche Unterversorgung neu entstehender Stadtteile) oder gesellschaftliche Sitten (Kleiderordnung) der Gottesdienstbesuch sank. Wicherns Ansatz der Inneren Mission ging im bewußten Rückgriff auf die -»Reformation vom Priestertum aller Gläubigen aus (vgl. Der Beruf der Nichtgeistlichen: SW I I I / 2 , 1 2 2 - 1 3 4 ; vgl. T R E 2 7 , 4 0 7 , 3 2 - 4 4 ; - » L a i e I; -»Priestertum II) und wollte die Charismen der Gemeinde fördern. Er nutzte dabei die moderne F o r m des -»Vereinswesens, um strukturelle Anliegen in die Tat umzusetzen - etwa ein Rettungshaus, eine Herberge zur Heimat, einen Kapellenverein oder eine Stadtmission zu gründen. Erreichte der Wittenberger Kirchentag sein eigentliches Ziel nicht, angesichts der Revolutionszeit zu einer Einigung des Protestantismus zu gelangen, so brachte er doch eine deutschlandweite Aufmerksamkeit für die Anliegen der Inneren Mission und ihre kirchliche Anerkennung („die Arbeit der inneren Mission ist mein", „die Liebe gehört mir wie der Glaube" : SW 1,165). In der Folge kam es zu einer Vernetzung der bestehenden Aktivitäten und Vereine, zu zahlreichen Neugründungen sowie zum Aufbau von Landesund Provinzial-Ausschüssen bzw. -Vereinen der Inneren Mission. Die informelle Dachstruktur (vgl. SW I, 311—359) bildete der Centrai-Ausschuß, dessen geistige Kraft und Integrationsfigur Wichern war. Den Begriff „innere Mission" hatte Wichern 1836 geprägt (vgl. Gerhardt, Wichern [1927] I, 261), dann aber den Terminus „inländische Mission" verwendet. Dabei ging es ihm nicht um die geographische, sondern - im Gegenüber zur äußeren -»Mission - um die theologische Grenze zwischen Getauften und Ungetauften sowie um die Missionierung der Getauften; Innere Mission sei nötig, seit es mit Konstantin Staatskirche und Kindertaufe gab. So sprach er seit Ende Juli 1841 brieflich und seit 1843 auch öffentlich nur noch von innerer Mission und verstand darunter die „geordnete Arbeit der gläubigen Gemeinde in freien Vereinen", „mit welcher der Aufbau des Reiches Gottes an den von den Ämtern des christlichen Staates und der christlichen Kirche unerreichbaren, innern und äußern Lebensgebieten innerhalb der Christenheit, diesseits und jenseits der Meere, bezweckt wird. ... Der Organismus der Werke freier, rettender Liebe ist die innere Mission" (1844; SW IV/1,235f.). Wicherns Auffassung unterschied sich dabei von der seines Lehrers Lücke, dessen Schrift Die zwiefache, innere und äußere Mission in der evangelischen Kirche 1843 im Rauhen Haus gedruckt wurde (vgl. SW III/l, 211). Wicherns Zwölf Thesen über die innere Mission als Aufgabe der Kirche innerhalb der Christenheit (SW III/l, 195-215) von 1857 wurden angesichts ihrer definitorischen Dichte bereits zeitgenössisch von Friedrich Oldenberg als „Theorie der inneren Mission" bezeichnet (vgl. Gerhardt, Wichern [1931] III, 278), Wichern übernahm sie auch in seinen Artikel Innere Mission in den protestantischen Kirchen (SW III/l, 225-231) in der ersten Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche.

Wichern

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Z u Wicherns kirchenreformerischen Vorstellungen gehörte seit 1848 (vgl. WichernK o n k o r d a n z [ed. M i c h e l / H e r r m a n n ] ) auch die Forderung einer - * Volkskirche (vgl. T R E 1 8 , 3 3 6 , 4 0 - 5 2 ) , d.h. einer Durchdringung des ,,Volk[s] durchs E v a n g e l i u m " (SW I, 155). Dieser Gedanke löste frühere Vorstellungen einer „ w a h r e n G e m e i n d e " innerhalb einer „ S t a a t s k i r c h e " ab (vgl. S W I, 5 7 - 7 2 ) . W i c h e r n strebte eine Evangelisierung bzw. R e christianisierung des Volks (vgl. T R E 1 0 , 6 3 7 , 1 1 - 1 6 ) an, das er von den Säulen Familie, Staat und Kirche getragen wissen wollte. E r benutzte dafür aber noch nicht den Begriff Volksmission, der erst 1 9 1 6 durch G e r h a r d Hilberts ( 1 8 6 8 - 1 9 3 5 ) Schrift Kirchliche Volksmission in den Protestantismus eingeführt wurde. Zielgruppe der Inneren Mission w a r e n alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen. Von der Inneren Mission unterschied Wichern strikt die -»Diakonie als „die den Armen zugewandte Liebespflege" (SW III/1, 130) und hier zwischen Diakonat, Diakonie und „Diakonie im weiteren Sinn" (Über Armenpflege: SW III/l, 2 1 - 7 0 , hier 44) sowie zwischen kirchlicher, bürgerlicher und freier Diakonie. Die freiwillige oder private Armenpflege bzw. freie oder allgemeine Diakonie sah er in der Familie, Nachbar- und Freundschaft, aber auch in freien Assoziationen und Institutionen wirksam, z. B. Vorschußanstalten, Spar- oder Krankenkassen, Totenladen oder Kranken-, Waisen- und Rettungshäusern (SW III/l, 6 1 - 7 0 ) sowie anderen Werken der Inneren Mission. Die gesetzliche Armenfürsorge oder bürgerliche Diakonie umfaßte nach Wichern Armengesetzgebung, Armen- und Sittenpolizei sowie Armensteuer (SW III/l, 4 5 - 6 1 ) , die kirchliche Diakonie hingegen Verkündigung des Evangeliums an die Armen, Hausarmenpflege und den Diakonat, d.h. den selbständigen Dienst bzw. das Amt des Diakons. Die kirchliche Diakonie trage „die Krone der Arbeit" (SW III/l, 3 7 - 4 5 , hier 45): „Ohne Diakonat gibt es keine Diakonen, so viel reichste bürgerliche und freie Diakonie sonst auch vorhanden sein mag" (Gutachten über die Diakonie und den Diakonat: SW III/l, 1 3 0 - 1 8 4 , hier 141). Zur Verwirklichung einer entsprechend gegliederten Diakonie, die sich auch durch eine weite ökumenische Perspektive auszeichnete, wie er sie in diesem Gutachten für die Monbijou-Konferenz (1856) ausführlich entfaltet hatte, kam es jedoch nicht (vgl. T R E 7 , 2 0 5 , 8 - 3 0 ; 8 , 6 3 9 , 1 7 - 2 7 ; 19,199,5 - 44). Der T h e o l o g e W i c h e r n zeichnete sich nicht nur dadurch aus, daß er Sozialraum strukturieren und organisieren konnte — das Evangelium ohne praktische Konsequenzen w a r für ihn ein Widerspruch in sich - , sondern auch durch eine große Geschichtsbezogenheit. Von N e a n d e r (vgl. T R E 2 4 , 2 4 0 , 3 9 - 4 3 ) geprägt, w a r ihm der aus der biblischen Überlieferung k o m m e n d e heilsgeschichtliche Bezug ebenso grundlegend wie die auf das Reich Gottes (—»Herrschaft G o t t e s / R e i c h Gottes) ausgerichtete reichsgeschichtliche Perspektive. D a r a u s ergaben sich für W i c h e r n konkrete Deutungen der Gegenwart, z. B. in der Revolutionszeit. Die Revolution von 1848 verstand er nicht nur als „Wendepunkt der Weltgeschichte", sondern als „Anbruch eines Tages der Verheißung für die Verjüngung des gläubigen rettenden Wirkens der Kirche": „Ein Tag Gottes als ein Tag des Heils für unsere Kirche in unserem teuren Vaterlande ist mit jenen Ereignissen über unsern Häuptern aufgegangen" (SW I, 155). „Es bedarf einer Reformation oder vielmehr Regeneration aller unserer innersten Zustände" in Staat, Kirche und Gesellschaft. „Die innere Mission hat es jetzt schlechterdings mit der Politik zu tun, und arbeitet sie nicht in diesem Sinne, so wird die Kirche mit dem Staat untergehen" (SW I, 163). Hatte Wichern noch Verständnis für die Anliegen des Frühkommunismus eines Wilhelm Weitling (1808-1871) gehabt, so ergaben sich mit dieser Deutung der Revolutionszeit eine Frontstellung und ein Abwehrkampf gegen alle die bisherige Ordnung bedrohenden Kräfte (neben der Denkschrift vgl. Die Revolution und die innere Mission: SW I, 1 2 9 - 1 3 2 ; Kommunismus und die Hilfe gegen ihn: ebd. 1 3 3 - 1 5 1 ) . Neuzeitliche Emanzipationsbestrebungen wie z.B. der Anspruch einer Vertretung der eigenen Interessen seitens gesellschaftlicher Gruppen blieben Wichern fremd, zu sehr bestimmte ihn hier sein organologisches Denken. In der Lösung der sozialen Frage trat neben seinem verantwortungsorientierten immer stärker sein patriarchalischer Ansatz hervor (vgl. SW V, 2 8 3 285.316-319). Dialogmöglichkeiten, die sich angesichts seiner sensiblen Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit hätten ergeben können, blieben ihm so verschlossen. Mehr und mehr versuchten Staat und König in Preußen Wicherns Konzept der Inneren Mission in ihre restaurative Politik zu integrieren. Wichern wies den Staat auf seine Verantwortung hin und betonte, daß sich Massennot nicht durch Innere Mission steuern lasse.

738 3.

Wichern Wirkung

Als Begründer der Inneren Mission avancierte Wichern zu einem führenden Vertreter des sozialen Protestantismus und zugleich zu einem der Sozialexperten des Protestantismus seiner Zeit. Hatte es vor allem von Seiten der konfessionellen Lutheraner Vorbehalte gegen die Innere Mission gegeben, so setzte sie sich dennoch immer mehr durch. Nach und nach vollzog sich eine Umdeutung: Innere Mission (gegen Wicherns Gebrauch nun mit großem I) institutionalisierte sich immer weiter und wurde spätestens im Kaiserreich zum Synonym für „Liebestätigkeit" und nach dem Zweiten Weltkrieg vollends mit „Diakonie" gleichgesetzt. Zudem verfestigte sich die entstandene Struktur als eine die verfaßte Kirche ergänzende und über sie hinausgehende. Wichern wurde wie wenige andere Personen des 19. Jh. vom nachfolgenden Protestantismus für die jeweils aktuellen Anliegen vereinnahmt (vgl. die Fülle entsprechender Kleinschriften). A. —»Stoecker wurde z. B. von seinen Zeitgenossen als genuiner Nachfolger Wicherns gedeutet, und Eugen Gerstenmaier ( 1 9 0 6 - 1 9 8 6 ) benannte sein Konzept „Wichern II". Man versuchte sich in Innerer Mission, Diakonie und Kirche immer wieder — bevorzugt zu Jubiläen — zu Wichern ins Verhältnis zu setzen, wobei oft genug historisch Befremdendes stillschweigend umgedeutet wurde. Das wissenschaftliche Interesse an Wichern zeigt sich im Vorliegen von drei Werkausgaben. Die Wichern-Forschung steht „trotz umfangreicher Literatur über Wichern" (Günter Brakelmann: SW X , 7) vor der Aufgabe einer differenzierten Konturierung der Entwicklung seiner Theologie sowie vor der Frage der Anschlußfähigkeit Wicherns an die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Quellen 1. Ausgaben: GS, hg. v. Johannes Wichern/Friedrich Mahling, 6 Bde., Hamburg 1901 — 1908. - Der junge Wiehern. Jugendtagebücher, hg. v. Martin Gerhardt, Hamburg 1925. - Tagebuchblätter der Liebe. Aus Wicherns Brautbriefen, hg. v. Walter Birnbaum, Hamburg 1929. - Ausgew. Sehr., hg. v. Karl Janssen, 3 Bde., Gütersloh 1956-1962 H979 (GTBS 431-433). - SW, hg. v. Peter Meinhold/Günter Brakelmann, Hamburg u.a., I - X 1958-1988 [darin: Chronologie der Sehr. Wicherns (I-VII): X, 33-55]. - Ausgew. Predigten, hg. v. Volker Herrmann/Gerhard K. Schäfer, 2004 (VDWI 20) (in Vorb.). 2. Bibliogr.: Volker Herrmann, Bibliogr. der Lit. über J.H. Wichern: Ausgew. Predigten (s.o. zu 1.). Literatur Jürgen Albert, Christentum u. Handlungsform bei J.H. Wichern, 1997 (VDWI 9). - Roland Anhorn, Sozialstruktur u. Disziplinarindividuum. Zu J.H. Wicherns Fürsorge- u. Erziehungskonzeption des Rauhen Hauses, Egelsbach u.a. 1992 (Dt. Hochschulschr. 409). - Günter Brakelmann, Kirche u. Sozialismus im 19. Jh., Witten 1966. - Ders., Die soziale Frage des 19. Jh., Witten 1962 7 1981. - Leonhard Deppe (Hg.), Wichem-Bibliothek, 1995 (VAAEK 20). - Martin Gerhardt, J.H. Wichern, 3 Bde., Hamburg 1927-1931. - Ders., Ein Jh. Innere Mission, 2 Bde., Gütersloh 1948. - Ders., J.H. Wiehern u. die Innere Mission, hg. v. Volker Herrmann, 2002 (VDWI 14). - Jürgen Gohde/Hanns-Stephan Haas (Hg.), Wichern erinnern - Diakonie provozieren, Hannover 1998. Hans Christoph v. Hase/Peter Meinhold (Hg.), Reform v. Kirche u. Gesellschaft, Stuttgart 1973. - Gisela Hauss, Retten, Erziehen, Ausbilden - zu den Anfängen der Sozialpädagogik als Beruf, 1995 (EHS R. 11, 660). - Hans-Volker Herntrich, Im Feuer der Kritik. J.H. Wiehern u. der Sozialismus, Hamburg 1969. - Maria Klügel, Wichern. Ein Beitr. zur Gesch. der Sozialpolitik, 1940 (ProtSt 27). - Rolf Krämer, Nation u. Theol. bei J.H. Wichern, 1959 (AKGH 2). - Karl Krümmel, Das Problem der Rettung bei J.H. Wiehern, Gütersloh 1949. - Helga Lemke, Wicherns Bedeutung f. die Bekämpfung der Jugendverwahrlosung, 1964 (AKGH 7). - Bettina Lindmeier, Die Pädagogik des Rauhen Hauses. Zu den Anfängen der Erziehung schwieriger Kinder bei J.H. Wichern, Heilbrunn 1998 (Beitr. zur Heilpädagogik). - Peter Meinhold, Wiehern u. Ketteier, Wiesbaden 1978. - Erwin Meißner, Der Kirchenbegriff J. H. Wicherns, 1938 (BFChTh 39). - Martin Michel/Volker Herrmann, Wichern-Konkordanz. Konkordanz zu den Sämtl. Werken I—VIII J.H. Wicherns, 2004 (VDWI 19) (in Vorb.). - Kurt Detlev Moeller, Hamburger Männer um Wichern, Hamburg 1933. - Christian Niemeyer, Klassiker der Sozialpädagogik, Weinheim/München 1998,45-77. - Friedrich Oldenberg, J . H . Wichern, 2 Bde., Hamburg 1884-1887. - Ernst Petzold, Eschatologie als Impuls

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739

u. als Korrektiv f. den Dienst der rettenden Liebe. Darg. an der Theol. J.H. Wicherns, Reutlingen 1995. - Martin Pörksen, J.H. Wichern u. die sozialen Fragen, Rendsburg 1932. - Gerhard K. Schäfer, Gottes Bund entsprechen, 1994 (VDWI5) 7 7 - 1 2 1 . - Stephan Sturm, Sozialstaat u. christl.sozialer Gedanke. J.H. Wicherns Sozialtheol. u. ihre neuere Rezeption in systemtheoretischer Perspektive, 2004 (KoGe 23) (in Vorb.). - Erich Thier, Die Kirche u. die soziale Frage. Von Wichern bis Friedrich Naumann, Gütersloh 1950.

Volker Herrmann Widerstand/Widerstandsrecht I. Alte Kirche und Mittelalter II. Reformation und Neuzeit . III. Ethisch

S. 750 S. 768

I. Alte Kirche und Mittelalter 1. Widerstand 2. Rechtliche Voraussetzungen (Literatur S.748).

1.

3. Begriff des Tyrannen

4. Tyrannenmord

Widerstand

Das Wort „widerstehen" ist im Deutschen zunächst nicht mit der Vorstellung eines „Rechts" verbunden, es bedeutet „standhalten", „entgegentreten", und demgemäß heißt „Widerstand" vor allem „Weigerung", „widerstreben" (vgl. Dückert). Ein Problem wird solche Weigerung erst im Gegensatz zu einer wie auch immer begründeten Verpflichtung. In der Begriffsgeschichte geht entsprechend die Bedeutungsentwicklung eng mit den Vorstellungen von gesellschaftlich-staatlicher Kohärenz und politisch-sozialer Über- und Unterordnung zusammen, wird Widerstand erst gegen eine für sich geltende entgegenstehende Forderung problematisch. Einen Unterschied macht es, ob von einem „Widerstandsrecht" im Rahmen einer umfassenden Vorstellung eines einheitlichen Rechtsraums allgemeiner Geltung gesprochen wird, oder ob es im Namen von besonderen nebeneinander oder sogar gegeneinander Geltung beanspruchenden Rechtskreisen in Anspruch genommen wird. Deutlich hat in der Moderne I. —»Kant festgehalten, daß „Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung vernichtend gedacht werden muß". Dagegen ist und kann die Frage strittig werden, was und wer „die höchste Gesetzgebung" in seiner Kompetenz hat, ob der jeweils für das positive Recht zuständige Gesetzgeber oder Inhaber der Befehlsgewalt oder eine andere Instanz. Insofern ist und war die Berufung auf ein „höheres Recht" jahrhundertelang bei der Legitimierung von Widerstand gegen Rechtsgebote partikulärer Gewalten an der Tagesordnung, und nach der Zeit eines vorherrschenden Positivismus wurde im 20. Jh., in der Zeit der NS-Diktatur oder in anderen totalitären Systemen, Widerstand naturrechtlich (—•Naturrecht) oder aus Gewissensgründen (-»-Gewissen) begründet und geleistet. Das Staatsdenken (-»Obrigkeit; -*Staat/Staatsphilosophie) führt bei sich auch das Nachdenken über mögliche Gehorsamsverweigerung und deren Legitimation. Dieser Zusammenhang begegnet auch im Neuen Testament und in der Alten Kirche. Der paulinischen traditionsbestimmenden Verpflichtungserklärung von Rom 13,1—7 und den analogen Aussagen (vgl. etwa I Petr 2 , 1 3 - 1 7 ) setzten Petrus und die Apostel (nach Act 5,29) den später immer wieder berufenen Satz entgegen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". In der Spannung zwischen einer mit der Schöpfung eingesetzten Ordnungsmacht und ihrer Autorität einerseits und der gewissensverpflichtenden unmittelbaren Beziehung auf Gott als auf solche Gewalt setzende Mitte andererseits bewegt sich christliches Staatsdenken künftig in mannigfachen Schattierungen, die in zahlreichen gesellschaftlichen Bezügen in Erscheinung treten können. Steuerpflicht und Gehorsam gegenüber einer herrscherlichen Gewalt auf der einen, Bindung an die „göttlichen" Ge-

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bote auf der anderen Seite waren jeweils in einen konkreten Ausgleich zu bringen. Das führte zu sehr unterschiedlichen Argumentationen, von denen hier nur einige Positionen aufgesucht werden können. Für die Begründung von Widerstand haben griechische Philosophie und römisches Rechtsdenken bereits der Alten Kirche wichtige Stichworte gegeben. Allein die Stellung der Kirche und des Klerus zum —> Krieg hat hier eine nachhaltige Orientierung vermittelt. Die römische Vorstellung eines gerechten Krieges (bellum iustum) (z. B. Cicero, Tusc. 1,26,64) wird schließlich folgenreich von -»Augustin aufgenommen (Hept. VI,10: CChr.SL 33,318f.; -»Krieg IV.6.). Erst recht die Vorstellung des römischen -»Rechts, daß (unrechte) Gewalt mit Gewalt zurückgewiesen werden muß und darf, wird bereits in der Antike als unbestreitbarer Rechtssatz verstanden, der kraft „ N a t u r r e c h t " allen Lebewesen, erst recht den Menschen legitime Widerstandshandlungen eröffnet (Lactanz, Epit. 65: CSEL 19,745; Isidor von Sevilla, Etym. 5,4,1 - 2 , aufgenommen in das Decretum Grattarli: D . l c.7). Hier zeigt sich, daß Widerstand nicht nur durch Berufung auf ein höheres Recht begründet werden kann, sondern daß die Rechtsgrundlage des Gehorsamsanspruchs selbst in ihrer Geltung bestritten werden kann. Gewalt ist rechtswidrig und gegen das Naturrecht kann kein Sonderrecht greifen. 2. RechtlicheVoraussetzungen 2.1. Herrschaftsbeschränkungen In vielen Variationen wird Widerstand auf diese Weise seit den frühesten Zeiten begründet. Nec regibus infinita aut libera potestas [auch Könige haben keine unbegrenzte und ungebundene Gewalt] galt bereits nach Tacitus (Ger. c. 7, vgl. c. 11). Ursache solcher Beschränkung war die Bindung der Herrscher an ein Recht, ob es nun im gewohnheitsrechtlichen Herkommen, in heiligem oder (später) in kirchlichem Recht gesehen wurde. Der Herrscher durfte sich nicht von dieser seiner Basis entfernen, sonst verlor er seinen Anspruch auf Gehorsam. Häufiger haben darum die Herrscher ihre Bindung an ein ihrem Willen entzogenes Recht ausdrücklich anerkannt, sei es in technischer Rechtssprache als Anweisung an die Richter (wie bereits Cod. Thds. 1,2,2 [Brev. 1,2,1]), sei es dadurch, daß man sich auf arglistige Täuschung durch den Privilegienempfänger berief (z.B. M G H . C a p 1, N r . 8 c. 5 [Chlothar II., 584-628]), sei es daß ein Herrscher selbst verspricht, unrechte Entscheidungen zu widerrufen (z.B. M G H . C a p 2, Nr.206 § 9 [Karl d. Kahle, 853]). 2.2. Selbstverpflichtung des Herrschers und ständische Mitwirkung Entsprechend wird nahezu überall versucht, den Herrscher möglichst unverbrüchlich an seine (Selbst-)Verpflichtungen zu binden. Das geschieht vor allem regelmäßig in den Krönungseiden. Da die Herrschaftsübung vor allem als Rechtssprechung (iurisdictio) verstanden wurde, enthält das Versprechen eines gerechten Urteils (iustum iudicium) bereits eine derartige Selbstbindung (vgl. z.B. „Ordines coronationis imperialis": ed. R. Elze, M G H . F 9,211f. [Register: iudicium bzw. iustitia]). Im späteren Mittelalter wird neben die eidliche Selbstbindung des Herrschers auch die förmliche Verbriefung der Freiheitsrechte des Landes durch den Herrscher bei Regierungsantritt treten, wie sie verschiedentlich Königen und Fürsten abgedrungen worden ist, vgl. etwa die Goldbulle König Andreas II. von Ungarn (1222), die Bayerische Handfeste (1311), die Tiroler Freiheitsbriefe (1342), oder die berühmte Joyeuse Entrée von Brabant, die nach ihrer ersten Beurkundung (1356) zwar bereits nach einem Jahr offiziell aufgehoben worden war, seit 1406 jedoch häufig bei einem Regierungsantritt erneuert und dabei auch neuen Erfordernissen angepaßt wurde und damit bis zum Ende des Ancien Régime in gewissermaßen konstitutioneller Geltung blieb. O b diese Freiheitsbriefe ein Widerstandsrecht der Empfänger ausdrücklich anerkannten oder nicht, solche Verbriefungen ermöglichten überall, wo sie erlassen waren, die Begründung mannigfacher Gravamina bis hin zu Widerstandshandlungen.

2.3.

Sanktionen

D a ß im Konfliktfall der Herrscher an solchen Maßstäben auch gemessen wurde, kann nicht überraschen, wie immer man das Recht begründet sah, das der Herrscher verletzt hatte. Die Verlassung und die Absetzung eines Herrschers ist uralt und hängt durchaus nicht nur von (angeblichen oder tatsächlichen) Rechtsbrüchen ab, es genügte häufig auch Ungeschick oder Unglück bei der Kriegsführung bzw. in politischen Entscheidungen, wobei im einzelnen die Grenzen fließend waren. Der Vorwurf mangelnder Leistung bedeutet dabei früh eine zumindest auch funktionale Beurteilung des Herrschers, indem man ihn an seiner eigentlichen Aufgabe maß. Folgerichtig begegnet auch schon relativ früh die indirekte Rechtfertigung (in der Sanktionierung und bedingungsweisen Umgrenzung) des Versuchs, einen altersschwachen oder kranken Greis durch Rebellion eines seiner Söhne abzulösen (z. B. Lex Alamannorum 35 = Lex Bawariorum 2,9: M G H . L N G 5/2,302-304), wenn auch bei jeder Absetzung der Vorwurf der Rechtsverletzung oder moralischer Verworfenheit immer nahelag und alle anderen Klagen überdecken konnte, wie bei der Opposition der Sachsen und süddeutschen Fürsten gegen -•Heinrich IV. im 11. Jh. oder bei den Klagen gegen Johann Ohneland von England. Rechtsverletzungen des Herrschers machten Widerstand bis zu Aufstand und bewaffnetem Kampf möglich, ja geradezu unausweichlich. Auch eine Intensivierung von Herrschaft konnte auf gewaltsame Abwehr treffen, der sächsische Stellinga-Aufstand (841843), die Sachsenkriege Heinrichs IV., die Kriege des Erzbischofs von Bremen gegen die Stedinger (1204/1212-1233/34), Etienne Marcel und die französische „Jacquerie" (1358), der englische „Peasants' W a r " (1381), schließlich die Bauernaufstände im spätmittelalterlichen Reich belegen das hinreichend. Sie alle sind unterschiedlich verlaufen, sehr verschieden (oft gar nicht im einzelnen) theoretisch begründet und schließlich beendet worden, sie belegen aber allesamt die vielgestaltige Bereitschaft mittelalterlicher Gesellschaften, ungewohnten und neuen Formen der Herrschaftsübung gewaltsamen Widerstand entgegen zu setzen. Widerstand gegen herrscherliche Gewalt geht früh und nicht eben selten in eine (mehr oder minder förmliche) Absetzung des Amtsträgers über. Vorwegnehmend können die Herrscher sich selbst zur Bekräftigung von Zusagen für den Fall ihres Wortbruchs ihres Gehorsamsanspruchs begeben. Im 9. Jh. haben so die beiden Brüder Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle (842) ihre jeweiligen Untertanen von Gehorsam und Treue zu sich entbunden, sofern sie selbst ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten sollten (Nithard 3,5: MGH.SRG 44,36), und in den darauffolgenden „Straßburger Eiden" verpflichteten sich beider Heere, ihrem jeweiligen Herrn, wenn er diesen Eid brechen sollte, nicht Hilfe zu leisten, d.h. sie sagen ihm bedingungsweise den Gehorsam auf. 2.4. Gegenseitige

Treuebindung

Die Vorstellung, daß die Beziehungen der Untertanen zum Herrscher in einer Art Vertrag gegenseitiger Bindewirkung begründet seien, liefert weitere Formen der Aufhebung dieses Verhältnisses, ermöglicht Absetzung. Wenn Pflichtverletzung des Königs konstatiert wird, kann das mit Treueentzug geahndet werden, nicht unbedingt auf lehnrechtlicher, sondern auch auf allgemein landrechtlicher Basis. „Treue" ist dabei ganz unsentimental zu verstehen; als Verhältnis zweier Personen ist sie vor allem negativ bestimmt, besteht zunächst in der Pflicht, dem, der Treue (fides) beanspruchen kann, nicht willentlich schaden zu wollen. Solch gegenseitige Treuebindung wurde freilich im Laufe der Zeit zunehmend lehnrechtlich verstanden; die Ausbreitung der vasallitischen Verhältnisse führte dazu, daß die Assoziation feudaler Verpflichtungen bei Treuepflichten fast unausweichlich in den Vordergrund rückte. Die Reziprozität einer Treuebindung konnte man in jedem Herrschaftsverhältnis sehen. Damit wird auch eine Auflösung eines solchen Verhältnisses durch Fehlverhalten beiderseits denkbar. Im „Barons' W a r " Englands (1258-1265) haben die opponierenden Barone durchgängig auf dieser Linie

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argumentiert, die sich keineswegs auf feudalrechtliche Bindungen reduzieren läßt. Die allmähliche Durchsetzung des Lehnrechts als maßgeblicher Rechtsvorstellung der Beziehungen zwischen König und Adel überall in Europa machte dann auch die Formen der wechselseitigen Lehnsaufsage (besonders die diffidatio) und des immer klarer sich ausbildenden Rechts der Fehde für Widerstandshandlungen des Adels vorbildhaft und setzte immer wieder orientierende Maßstäbe. Schließlich wird in Kastilien aus dieser mittelalterlichen Tradition gegenseitiger Treuebindung ein legendärer Treueid der Kastilier gemäß einem (nicht nachgewiesenen) „Fuero von Sobrarbe" formuliert (erstmals 1593), dem gemäß bei Regierungsantritt dem König angeblich folgender (nichtvassalitischer) Treueid zu leisten ist: Nos que valemos tanto como vos y que juntos somos más que vos, os hacemos nuestro Rey y Señor, con tal que vos guardéis nuestros fueros y libertades, y si no, no (Wir, die wir ebensoviel gelten wie Ihr und zusammen mehr sind als Ihr, machen Euch zu unserem König und Herrn, insoweit Ihr unsere Rechte und Freiheiten wahrt, und widrigenfalls nicht; Kern2 210). Widerstand des Lehnsmannes gegen Unrecht, das König oder Richter begehen, bleibt, weil landrechtlich begründet, außerhalb der lehnrechtlichen Betrachtung, verstößt nicht gegen die vasallitische Treuepflicht, wie es bereits der Sachsenspiegel ausdrücklich festhält (Landrecht 111,78 § 2). 2.5.

Gottesgnadentum

Daß gegenüber der Gefährdung ihrer Position die Herrscher immer wieder die ihnen damit zugemutete starke Bindung an strikte Regeln des Rechts zu überschreiten versuchten, lag nahe. In der Legitimation ihrer Herrschaft fand sich ein Mittel, sich solcher Beschränkung zu entziehen: Herrschaftssetzung erfolgte ja ursprünglich keineswegs ausschließlich in der Wahl durch den populus, daneben und darin war schon früh göttliche Erwählung und damit eine transzendente Bestimmung der Person des Herrschers als eigentlicher Grund der Herrschaft gesehen worden, ein Grund, den die Kirche und die Bischöfe in verschiedenen Reichen schon allein im Interesse eines wirksamen Schutzes durch den Herrscher, aber auch im Anschluß an die alttestamentarischen Berichte über die Könige von Israel und Judäa (-* Königtum) immer wieder energisch zur Geltung zu bringen versuchten. Atto von Vercelli (gest. 962) sieht legitime Herrschaft, die für ihn immer göttlicher Berufung entspringt, ausschließlich in doppelter Weise begründbar: durch Volkswahl oder kraft Erbrecht, während gewaltsame Usurpation nur einen endlosen Kreislauf von Unrecht und Unterdrückung in Gang setze (Polypticum, ed. G. Goetz [ASAW.PH 37,2]). Herrschaftsrecht aus Gottesgnadentum war gleichwohl zu erschüttern, denn der Herrscher wurde damit zugleich in kirchlich verstandene Pflicht genommen. Jetzt können Bischöfe und schließlich der Papst eine Absetzung des Königs begründen. Doch war der Weg von der öffentlichen Kirchenbuße, zu der -»Ambrosius in Mailand (390) den Kaiser Theodosius zwang, zu der Absetzung und Exkommunikation, die Papst -»Gregor VII. gegen Heinrich IV. (1076) auf einer römischen Fastensynode verfügte (MGH.ES 2/1, Nr. III,10a), lang und windungsreich. Gregor VII. hatte freilich bereits zuvor im Dictatus papae (1075) dem Papst nicht allein das Recht zuerkannt, kirchliche Prälaten abzusetzen (§5), sondern auch imperatores (MGH.ES 2/1, Nr. II,55a, §12). Die Absetzung, die -»Innocenz IV. gegen Kaiser -»Friedrich II. auf dem ersten Konzil von -»Lyon (1245) verkündete (COD 2 2 7 8 - 2 8 3 = VI 2.14.2), hatte in ihrer Begründung nachhaltige Folgen für künftige Herrscherabsetzungen, auch wenn sie in der damals aktuellen Auseinandersetzung noch keine Entscheidung brachte. So ist bereits auf der Höhe des Mittelalters ein komplexes Gewirr von Motiven des Widerstands und der Herrscherabsetzung durch Untertanen und die Kirche zu beobachten, das die Konflikte vielfach formal bestimmte, sie einfärbte und schattierte. Widerstandshandlungen erfolgten freilich im Zweifel sehr unterschiedlich, je nach den Zeitumständen und dem gedanklichen Ansatz der Ausführenden: Verlassung des Herrschers, der „verräterische" Wechsel zum Gegner, eine militärische Verteidigung der eigenen

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Position im bewaffneten Aufstand bis zur Aufrichtung eines eigenen (Gegen-)Königtums, das auf die Probe eines Entscheidungskampfes im iudicium belli gestellt wurde, all das wurde unternommen. Je weiter die Zeit voranschritt, desto deutlicher versuchte man, solchen Handlungen eine kohärente Begründung zu geben, auch praktikable Kriterien und Verfahren der Überprüfung auf das Recht zu solchem Vorgehen und effiziente Formen der Garantie zukünftigen Wohlverhaltens zu entwickeln. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Vereinbarung, die die aufständischen Barone König Johann Ohneland (1167-1216) nach dessen katastrophalen Mißerfolgen im Krieg mit Frankreich abtrotzten. Die Magna Charta (1215) war formal ein einseitig erteiltes Privileg des Königs, sachlich ein unter dem Diktat der Opposition niedergelegter Text, der englische Traditionen mit den damals modernsten Vorstellungen der Universität -»Paris verband, war doch unter den Baronen auch der durch päpstliche Provision zum Erzbischof von Canterbury erhobene ehemalige Kardinal und Theologe Stephan -+ Langton (gest. 1228). Hier wurde vom König nicht allein die künftige Einhaltung bestimmter Rechtsregeln und konkreter gerichtlicher Verfahren zugesagt, der Herrscher gestand den Baronen auch (in art. 61) ein unmittelbares Organ der Kontrolle seiner diesbezüglichen Regierungsakte zu, wenn er erlaubte, eine Kommission von 25 Baronen zu wählen, die pax et libertas, wie sie in der Magna Charta gewährt worden war, dadurch für die Zukunft garantieren sollten, daß sie auf jegliche Anzeige eines Verstoßes des Königs und seiner Bediensteten hin den König zur Wiedergutmachung zwingen sollten. Wenn dieser Ausschuß auch bereits von König Johann für nichtig erklärt und bei der Erneuerung der Magna Charta durch Heinrich II. (1216) stillschweigend übergangen wurde, auch in keiner Neuausfertigung später wieder erschien, hat dieser Gedanke doch offenbar in England und anderwärts Entsprechungen gefunden, so in einem paritätisch von beiden Parteien des Bürgerkriegs besetzten 24er-Ausschuß im „Barons' War" und später häufig in ständischer Kontrolle, die herrscherliches Handeln mit straffen Zügeln eines kontrollierenden Gremiums einzuschränken versuchte. Auch wenn solche institutionelle Kontrolle während des ganzen Mittelalters nicht recht gegen eine immer stärker und unverhüllter absolut auftretende Herrschaft durchzusetzen war, bildet sie doch einen Weg künftiger Herrschaftsbegrenzung durch ständische Kontrolle frühzeitig vor. 3. Begriff des 3.1. Antikes

Tyrannen Erbe

Ein anderer Weg zum Widerstand führte zur Delegitimierung des Herrschaftsträgers. Nicht allein ein konkretes Unrecht, das vielleicht wiedergutzumachen war, wurde dann dem Herrscher vorgehalten, vielmehr wurde er selbst in seinem Amt disqualifiziert, als „unrechter" Herrscher verworfen. Schon die Antike gab mit ihrem Tyrannenbegriff dafür ein gerne benutztes Stichwort. Das Wort xöpavvot;, ursprünglich eher formal zur Beschreibung einer (monarchischen) Herrschaftsform gebraucht, wurde schließlich zum Gegenbild legitimer Herrschaft schlechthin. Bereits Solon (gest. 564) sah die Herrschaft eines Tyrannen durch Gewaltsamkeit gekennzeichnet und wollte richtige Herrschaft sowie Befreiung der Polis nur durch Recht (StKrj), nicht durch physischen Zwang (ßia) durchführen (Frgm. 2 3 , 1 8 - 2 0 ; 2 4 , 1 5 - 1 7 , vgl. 10). Durch die Tyrannen der Folgezeit und deren gewaltsame Beseitigung durch die programmatisch gefeierten „Tyrannenmörder" wurden diese Assoziationen nicht aufgehoben, eher verstärkt: Noch Sokrates soll einen „Tyrannen" dadurch charakterisiert haben, daß dieser gegen den Willen der Menschen und nicht nach den Gesetzen herrsche, während ein richtiger Herrscher gemäß deren Willen und nach den Gesetzen regiere (Xenophon, Memorabilia 4,6,12). Auch —>Plato (Polit. 291e) hat diese Tradition fortgesetzt; -»Aristoteles hat in seiner Lehre von den Verfassungstypen dann die Tyrannis als napaßaoiQ (Entartung) einer Einherrschaft (¿¡ovap/i'a/Monarchie) verstanden und dieser als schlimme Verkehrung gegenübergestellt.

3.2. Mittelalterliche

Anwendung

Die Überlegungen der Antike zur Tyrannis wurden dem Mittelalter zunächst über ihre kirchliche Rezeption zugänglich. Bis weit in die Neuzeit hinein werden als abschrekkende Beispiele tyrannischer Gewaltherrschaft neben den römischen Kaisern der -»Chri-

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stenverfolgungen (Nero, Domitian, Diocletian) immer wieder die Namen aus dem Alten Testament wie König Eglon von M o a b oder Nimrod gebraucht. Auch Augustin hat hier nachhaltige Wirkungen geübt. Obwohl er Nero als tyrannus verurteilt und ihn damit als unrechtmäßigen Herrscher brandmarkt, führt er seine Herrschaft aber dennoch auf göttliche Providentia zurück (civ. 5,19). Papst -»Gregor I. d.Gr. hat in engem Anschluß an Cicero dementsprechend tyrannische Herrschaft eines Tyrannen mit dem Unrecht der Oberschicht bzw. des populus vereint gesehen, was eine wahre respublica zunichte mache (Moralia in Job, 12,38). -»Isidor von Sevilla hat in seiner sprachlich nicht korrekten, aber ungemein wirksamen Ableitung: Rex a(recte) regendo (der Begriff König leitet sich vom [rechtmäßigen] Regieren ab; Etym. 9,3,4; Sent. divin. 3,48,7: MPL 83,719A) den rechtmäßigen Herrschern die Tyrannen als pessimi atque improbi reges (schlimme und schlechte Regenten; Etym. 9,3,20) gegenübergestellt. Das gab Anlaß, die Herrschenden teilweise sehr energisch an ihre Pflichten zu erinnern und ihnen Vorbilder sittlichen Wohlverhaltens vor Augen zu führen (—•Fürstenspiegel). Das bedeutete noch nicht unmittelbar und notwendig Widerstand, doch konnte Papst -»Nikolaus I. den Frankenkönig dazu auffordern, seinerseits die Könige in seinem Reiche zu prüfen, utrum reges isti et principes ... veraciter reges et principes sint..., si iure principantur? Alioquin potius tyranni credendi sunt quam reges habendi, quibus tnagis resistere et ex adverso ascendere quam subdi debemus (... ob jene Könige und Fürsten ... wahrhaft Könige und Fürsten sind, ... wenn sie auch rechtens herrschen. Sonst sind sie eher für Tyrannen zu halten als für Regenten, denen wir vielmehr Widerstand leisten und entgegentreten müssen als sich ihnen zu untergeben ...; ep. 68: MPL 119,888B). Noch geht es hier um eine Einschätzung, aber der Widerstand wird schon als Drohung sichtbar. Eine breite Palette von Belegen ließe sich anführen, wie der Tyrannenvorwurf abgekürzt die Rechtlosigkeit des herrscherlichen Unrechtswillens und die Berechtigung des eigenen Widerspruchs zeigen soll. Nicht einig blieb man sich lange Zeit über die Grenzen des damit begründbaren Widerstandes. Den Frevler an Gottes Strafgericht zu erinnern und ihn diesem letztendlich auch zu überantworten, hat noch im 13. Jh. Henry de Bracton für eine ausreichende Zuchtrute gehalten (fol. 107, ed. Woodbine/Thorne II, 305), der freilich, wenn er sich von bloßer Willkür des Herrscherwillens abwendet, wenigstens für eine herrscherliche Rechtsetzung in England den Konsens der Barone fordert. Andere, mit solchem theoretisch begründeten Attentismus nicht zufrieden, begründeten mit königlichen Unrechtshandlungen die aktive Absetzung eines Herrschers, so etwa in England gegen Edward II. (1327) oder Richard II. (1399), so in Deutschland gegen Wenzel (1400). Bezeichnend genug erhöht sich nicht allein die Zahl solcher rechtsförmigen Verfahren im späteren Mittelalter, die Rechtsformen richten sich aus verschiedenen Gründen, u.a. auch deswegen, weil die Texte des Kirchenrechts überall in Europa erreichbar sind, immer deutlicher nach dem formalen Vorbild des Absetzungsurteils Papst Innocenz' IV. gegen Kaiser Friedrich II. (1245), in dem unter den crimina gravissima des Staufers, die allererst nach der Auffassung des Papstes eine Absetzung begründen, „Tyrannei" nicht ausdrücklich genannt werden mußte, vielleicht weil ein Herrscher, der sich solch „schwerstwiegender Verbrechen" schuldig machte, den Begriff des Tyrannen ohnedies erfüllte. 3.3. Gelehrte Theorie Mit der Ausbildung der europäischen -»Universitäten seit dem Ende des 12./Anfang des 13. Jh. wird der Tyrannenbegriff und damit die Begründung aktiven Widerstands theoretisch neu vertieft und im Anschluß an eine bis dahin verschüttete Tradition argumentativ verfeinert und ausgearbeitet. Insbesondere die Rezeption der Schriften des Corpus Aristotelicum und des Römischen Rechts boten für Theologen, Artisten und Juristen vielfältigen Anlaß zu intensiver Begriffsarbeit. Tyrannis in der aristotelischen Definition wird eingehend diskutiert und in vielfachen Varianten aktuell eingesetzt. Daß sich ein „Tyrann" von einem rechten König dadurch unterscheidet, daß er allein u m

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sein bonurtt privatum, nicht um das bonum commune besorgt ist, wird geradezu eine argumentative Scheidemünze, die fast allgegenwärtig auch analytisch aktuelle Kritik einzelner Maßnahmen möglich macht. Eher theoretisch ausgerichtete Reflexion von Theoretikern kontrastierte öffentliche Unrechtsherrschaft der Tyrantiis und die private Hausherrschaft über Sklaven und Tiere der „Despotie", wie Aristoteles sie definiert hatte, mit den Freiheitsforderungen des Selbstbewußtseins eines freien Mannes und ermöglichte damit auch politische Urteile. -»Marsilius von Padua verbindet eine Unterscheidungsskala von idealem principatus regalts und abscheulicher tyrampnis durch den Gesichtspunkt des freiwilligen Konsenses und des Gehorsams zu dem Gesetz, das man selber mit gesetzt hat (Defensor pacis 1,9,5). Wilhelm von -»Ockham differenziert mit Hilfe des Freiheitsbegriffs und der Tyrannendefinition königliche von tyrannischer und despotischer Herrschaft (Dialogus 111,1,2 cap. 3—8; vgl. auch Dialogus 111,2,2 cap. 20). Seinen Gegner, Papst -»Johannes XXII., kennzeichnet Ockham nicht allein als „Ketzer", der das Heil der Christenheit in apokalyptische Gefahr bringt, er nennt ihn auch einen „blutdürstigen Tyrannen", was den eigenen Widerstand und die Gehorsamsverweigerung erklären soll (Ockham, Compendium errorum 4: ders., Opera politica, IV 1997 [ABMA 14] 39). Die analytische Unterscheidung „tyrannischer" Regierungshandlungen wird in der theoretischen Reflexion noch weiter getrieben. Erstmals wohl hatte - » T h o m a s von Aquino in seiner Sentenzenvorlesung einen Tyrannen quantum ad modum adquirendi praelationem (den Usurpator der Macht) von dem Tyrannen quantum ad usum praelationis unterschieden, der eine ursprünglich legitime Herrschaft persönlich mißbraucht (Sent. II dist. 44 qu. 2 art. 2). Dieselbe Unterscheidung trifft der Jurist Bartolus von Sassoferrato (gest. 1357) ein Jahrhundert später (De tyranno [ed. D. Quaglioni] 184f.), wenn er den tyrannus ex defectu tituli mit dem tyrannus ex parte exercicii kontrastiert, um daraus unterschiedliche Rechtsfolgen für die Zeit nach der Beseitigung des (Stadt-)Tyrannen abzuleiten. Die Juristen Baldus degli Ubaldi (gest. 1400), Albericus de Rosciate (gest. 1460) und der Staatskanzler von Florenz, Coluccio Salutati (gest. 1406), sollten sich dieser Formulierungen später (meist verschwiegen) noch bedienen. Wenn man genauer zu bestimmen lernte, was einen Tyrannen ausmacht bzw. wann man von tyrannischer Willkür sprechen durfte, so war damit wohl das analytische Vermögen geschärft, nicht jedoch war über Form, Umfang und Grenzen des Widerstandes entschieden. Diese Fragen haben noch lange keine einheitliche Antwort gefunden. Im Sinne der frommen christlichen Staatsdistanz hat noch Abt Hugo von Fleury (gest. 1118/ 1135) dazu geraten, auch einen Tyrannen bis aufs Äußerste zu tragen, freilich auch (gemäß dem Gebot Act 5,29) entschieden daran festgehalten, daß ein Frommer jenen Herrscherbefehlen, die Gottes Geboten widersprechen, unter Hinnahme jeder -»Strafe, auch der -»Todesstrafe, seinen Gehorsam verweigern müsse (De regia potestate 1,4: MPL 165,944B). In der Krise der Kirchenreform hat Hugos älterer Zeitgenosse Manegold von Lautenbach (gest. nach 1103) dagegen im Streit zwischen Papst und König drastisch die Absetzung des Herrschers gefordert, wenn dieser seine Pflicht versäume, so wie auch ein Schweinehirt zu entlassen sei, qui porcos non pascere, sed studet disperdere (der die Schweine nicht hütet, sondern zu verderben sucht; Liber ad Gebehardum, c. 30: M G H . L L 1,365,10-25). Wer den König „entlassen" (d.h. absetzen) solle, wird von Manegold nicht gesagt, schon gar nicht, daß dem Volk (in seinem Bildwort den Schweinen) diese Kompetenz zustehe. Indem die persönliche Erfüllung der Herrschaftsfunktion aber zum Maßstab von rechter Herrschaft gemacht wird, ist Widerstandshandlungen eine klarere Legitimierung zuerkannt, wenngleich dem „ W i e " einer Herrscherabsetzung bei solchen Aussagen keine eigene Aufmerksamkeit geschenkt wird. 4.

Tyrannenmord

Eine neue Stufe erreicht die mittelalterliche Reflexion über die Beseitigung von tyrannischer Herrschaft im Policraticus (abgeschlossen 1159) des -»Johannes von Salis-

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bury. Hier erscheint ausdrücklich die Tötung des Tyrannen als „erlaubt", ja sittlich geboten: tirannum occidere non modo licitum est, sed aequum et iustum (einen Tyrannen zu töten ist nicht nur erlaubt, sondern billig und recht), dieser sei hostis publicus (öffentlicher Feind), welcher mit seinen Verbrechen die Gesetze selbst „entleere", so daß diese durch die gleiche Strafe zu schützen seien, wie ein rechter Herrscher gegen ein crimen laesae maiestatis (111,15, CChr.CM 118,229f.). Den Tyrannen zu töten, ist hiernach sittliche Pflicht. Freilich darf nach demselben Autor keineswegs jedermann einen Tyrannen umbringen. Wer durch das Band eines Treueides oder eines anderen Schwurs an ihn gebunden ist (-»Eid), dürfe nicht zur Tat schreiten, auch dürfe nicht Giftmord das Mittel sein, die Beseitigung habe vielmehr sine religionis honestatisque dispendio (ohne Beeinträchtigung der Religion und des Anstandes) zu erfolgen. Im Sinne der klassischen Frömmigkeit gilt auch h i e r : . . . hic quidem modus delendi tirannos utilissimus et tutissimus est, si qui premuntur, ad patrocinium clementiae Dei humilitati confugiant (die zuträglichste und sicherste Art der Beseitigung von Tyrannen freilich ist es, wenn die Bedrängten sich in Demut in den Schutz der Güte Gottes flüchten), Gott wird auf das Gebet der Frommen hin die Geißel abwenden (VIII,20: ed. C. Webb 377f.). Solche vorsichtige Abwägung ist in der Erörterung über die Tyrannenbeseitigung weiterhin bestimmend. Tyrannenmord bleibt für christliche Theologen ein problematisches Rezept. Auch Thomas von Aquino gibt keinen eindeutigen Rat, wenn er zwar keinerlei Zweifel zuläßt, daß Tyrannei niemals eine akzeptable Herrschaftsform sein kann und daher auch eine Erschütterung dieser Herrschaft nicht mit einer (unzulässigen) seditio (gewaltsamem Aufruhr) verwechselt werden darf, denn der Tyrann selbst ist ja seditiosus. Zugleich aber warnt T h o m a s davor, daß nicht bei Maßnahmen gegen den Tyrannen die der Herrschaft unterworfene Menge größeren Schaden leiden darf als unter der Gewalt des Tyrannen (S.th. I I - I I q . 4 2 a . 2 ) , rät also zur sorgfältigen Differenzierung. Auch in seinem Füstenspiegelfragment fragt der Aquinate zunächst, ob nicht durch konstitutionelle Vorkehrungen verhindert werden könne, daß überhaupt der König auf Tyrannei verfallen kann. Sodann stellt er Erwägungen darüber an, wie man aktuellen tyrannischen „Exzessen" begegnen solle. Thomas rät wiederum eine genaue Abwägung der Intensitätsgrade tyrannischer Willkür an, will lieber eine „milde" (remissa) Tyrannis eine Zeit lang ertragen als durch Widerstandshandlungen noch schwerere Bedrückung heraufbeschwören. Schließlich aber, wenn das M a ß der Tyrannei unerträglich wird, rät T h o m a s ausdrücklich von der Tötung des Tyrannen zur Befreiung des Volkes ab: ein Privatmann dürfe schon gar nicht in eigener Anmaßung solchen Schritt tun, da daraus der Menge der Untertanen größere Gefahren erwachsen könnten. Doch mit öffentlicher Autorität gegen den Tyrannen einzuschreiten, bleibt möglich, Thomas macht die für die Einsetzung der Regierung Zuständigen und die „ O b e r e n " für die Beseitigung eines Tyrannen verantwortlich, denkt hier wohl an Papst und Kaiser, auch an Könige gegenüber Territorialfürsten und Stadttyrannen. Wenn menschliche Hilfe nicht zu erhalten ist (von einer Kompetenz der unteren Amtsinhaber oder Magistrate zum Widerstand ist hier keine Rede!), so muß man sich an Gott wenden, der das Herz des Tyrannen verwandeln oder ihn auch abberufen kann, weil Gott solche Prüfung oder Strafe für sein Volk auch gewollt haben kann. Z u allerletzt bleibt dem Theologen nur ein prophetischer Bußruf: Tollenda est igitur culpa, ut cesset tyrannorum plaga (es muß also die Schuld beseitigt werden, damit die Heimsuchung durch Tyrannen zu Ende kommt), ein gewiß theologisch eindrücklicher, für praktisch politische Aktionen nicht unbedingt hilfreicher Ratschlag (De regno 1,6). Die präzise Begriffsarbeit des Aquinaten drängte sich nicht sofort in den Vordergrund der Debatten, auch nicht an den Universitäten. Der Laie Raymundus -+Lullus, damals in enger Verbindung mit der Universität Paris, verweist 1295/1296 in dem fürstenspiegelartigen Teil (Arbor imperialis) seiner enzyklopädischen Arbor scientiae jeden Fürsten, der seine ihm von seinem Rat vorgehaltenen Pflichten versäumt und Gerechtigkeit vermissen läßt, nicht allein auf das Jüngste Gericht Gottes, sondern ganz unmittelbar auf

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die Gefahr, sein Amt zu verlieren, was „häufig" geschehe (Arbor imperialis 3,4: CChr.CM 180A,336). Widerstand durch Herrscherabsetzung wird hier als fast selbstverständliche Folge unrechter Herrschaft angesehen, zugleich aber auch als Gefahr für das Seelenheil derer, die sich zum Widerstand rüsten. Ähnlich wird noch Johannes ->Gerson in seiner Predigt Vivat rex (1405) die Meinung vertreten, Untergebene hätten ihrem König zu gehorchen, schlimmere Sünde als Tyrannei sei Rebellion. Ein Fürst müsse aber auf diejenigen hören, die ihn vor Tyrannei bewahren wollen (Œuvres complètes, éd. Palémon Glorieux, Paris, VII/2 1968, 1159, vgl. 1140). Abstand und Nähe dieser Ratschläge zu dem nur gut zwei Jahrzehnte vor Lullus' Arbor entstandenen Traktat des Aquinaten sind deutlich. Lullus warnt den Tyrannen mit dem faktisch „oft" in Folge ungerechter Herrschaft eintretenden Herrschaftsverlust. Auch Gerson will vor allem die höfische Beratung als Mittel gegen tyrannische Verkehrung gelten lassen. Die komplexen Analysen des Aquinaten schlössen dagegen die direkte Aktion gegen einen Tyrannen nicht völlig aus, machten sie aber von ungemein schwierigen Bedingungen abhängig. So zielten sie eher auf eine ernste Prüfung des Gewissens als auf die Anleitung zu politischer Aktion. Der Tyranneivorwurf diente somit eher moralischer Ermahnung des Herrschers als der Begründung gewaltsamen Widerstandes, welcher gleichwohl im Hintergrund noch stehen blieb. Nicole Oresme (gest. 1382) macht den vorwiegend exhortativen Charakter des Tyrannenvorwurfs in seiner Reformschrift De moneta auch auf eine andere Weise deutlich, wenn er schreibt (c. 26, ed. Charles Johnson, Oxford 1956, 47): Ideoque servitus eis imposita durare non potest, quoniam etsi magna sit tyrannorum potencia, est tarnen liberis subditorum cordibus violentia et adversus alienos invalida. Quicumque ergo dominos Francie ad huiusmodi regimen tyrannicum quoquo modo traherent, ipsi regnum magno discrimini exponerent, et ad terminum praepararent. Neque enim regum Franciae generosa propago tyrannizare didicit nec serviliter subici populus Gallicus consuevit. Ideo si regia proies a pristina virtute degeneret, proculdubio regnum perdet (Daher kann die ihnen auferlegte Knechtschaft keinen Bestand haben; denn wenn auch die Macht der Tyrannen beträchtlich ist, ist sie für das freie Empfinden der Untertanen Gewaltsamkeit und gegen Fremde ohne Kraft. Wer also die Herren Frankreichs auf irgend eine Art zu solch tyrannischer Herrschaft veranlaßt, setzt das Königtum großer Gefahr aus und bereitet sein Ende vor. Das gallische Volk kennt es nämlich nicht, daß das edle Geschlecht der Könige Frankreichs seine Herrschaft tyrannisch ausübt, und ist nicht gewohnt, sich knechtisch zu unterwerfen. Wenn also das Königsgeschlecht der alten Tugend untreu wird, wird es ohne Zweifel der Herrschaft verlustig gehen).

Die gleichsam natürliche Folge, der Herrschaftsverlust, welcher der Dynastie der Valois angedroht wird, ist nicht näher begründet, schon gar nicht durch Aufruf zu Gewaltaktionen. Schüler und Nachfolger des Aquinaten gelangten freilich im Gefolge seiner Überlegungen auch zu wesentlich direkteren Aussagen, die aber nicht gegen den König gerichtet sind. Johannes Quidort von Paris (gest. 1306), ein Dominikanertheologe, der wohl nicht mehr ein unmittelbarer Schüler des Thomas war, aber dessen Texte ausgiebig benutzte, hat im Kampf zwischen Papst -»-Bonifatius VIII. und dem französischen König Philipp dem Schönen (ca. 1302) die abgewogene Tyrannenlehre des Thomas entschlossen gegen das Oberhaupt der Kirche selber eingesetzt, ja dem (französischen) König zugestanden, gegen den Papst als einen hostis rei publicae (zu beachten ist, daß hier nicht, wie bei Johannes von Salisbury, vom hostis publicus die Rede ist!) sogar das materielle Schwert zu gebrauchen. Ausdrücklich unterschieden wird die Person des Papstes von seinem geistlichen Amt, die Aktion richte sich nicht gegen die Kirche, sondern verteidige die Kirche und wende das materielle Schwert des weltlichen Fürsten gegen die violentia (d.h. rohe Gewalt) des geistlichen Schwerts (De regia potestate et papali, c. 22). War hier anscheinend vorweg und programmatisch das Attentat von Anagni (vgl. TRE 7,67,40ff.) gerechtfertigt, das wenig später Bonifatius VIII. aus seinen Weltherrschaftsträumen riß, so ließ sich die Lehre vom erlaubten Widerstand gegen Tyrannen auch trefflich zur nachträglichen Rechtfertigung von rüdem politischen Meuchelmord

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gebrauchen, wie sich u.a. 1407 zeigte, als der Herzog Jean Sans Peur von Burgund (gest. 1419 durch politischen Mord auf der Brücke von Montereau) seinen Vetter und Konkurrenten im königlichen Rat Herzog Louis d'Orléans auf offener Straße umbringen ließ. Ein Theologe, Jean Petit (gest. 1411), hielt in Paris zur Rechtfertigung eine Disputation, die dann schriftlich vom burgundischen Hof eifrig verbreitet worden ist. Der Ermordete sei ein Hochverräter gegen den König und ein Tyrann, er habe die Strafe eines crimen maiestatis und eines Tyrannen verdient, eine infernalische Verbindung der Todesstrafe mit Tyrannenmord! Nach einigen Zögern hat Johannes Gerson auf einer Universitätsversammlung (1414, d.h. nach dem Tod ihres Autors) neun Thesen der Schrift als ketzerisch verurteilen lassen. Das Konzil von -»Konstanz konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, alle diese Sätze aus der schamlosen Umbildung des Tyrannenmordgedankens zu verdammen. Man erklärte freilich die Auffassung für anstößig, gefährlich, seditiosus und letztendlich für ketzerisch, die die Väter folgendermaßen sozusagen als Hohlformel eines gerechtfertigten Tyrannenmordes formulierten: Quilibet tyrannus potest et debet licite et meritorie [!] occidi per quemcumque vasallwn suum vel subditum, etiam per ittsidias et blanditias vel adulationes, non obstante quocumque praestito iuramento seu confoederatione facta cum eo, non expectata sententia vel mandato iudicis cuiuscumque (Jeder beliebige Tyrann kann und muß erlaubter- und verdienstvollermaßen von einem jeden seiner Vasallen oder Untertanen getötet werden, auch durch Hinterhalte und Schmeicheleien oder Kriechereien, trotz irgend eines geleisteten Eides oder eines mit ihm geschlossenen Bündnisses, ohne daß das Urteil oder der Auftrag irgend eines Richters abgewartet würde; COD 3 432; vgl. die Debatte ACCon 3, 237-352). Der Zukunft hat das Mittelalter ein in sich nicht geklärtes Konglomerat von Ansätzen zu einer analytischen Theorie ungerechter Herrschaft und eines gerechtfertigten Widerstandes gegen sie weiter gereicht, die freilich auch später nicht zu allgemeiner Anerkennung und geschlossener Theorie gediehen sind. Allgemeine Rechtfertigung eines Widerstandes gegen rechtswidriges Regierungshandeln aus herrschaftstheoretischen Uberlegungen und aus spezifisch juristisch-landrechtlicher und feudalistischer Theorie war darin ebenso enthalten wie theologische und ethische Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen einer gewaltsamen Durchsetzung. Griffige Patentrezepte für Notlagen freilich konnten auch die scholastischen Theologen nicht für alle Zeit bereitstellen. Literatur Zu 1.-4.: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesch. der Rechts- u. Staatsphil. I. Antike u. MA, Tübingen 2002. - Thomas Brückner, Art. Widerstand: LMA 9 (1999) 6 4 - 6 6 . - James H. Burns (Hg.), The Cambridge History of Médiéval Political Thought, c. 3 5 0 - c . 1450, Cambridge/New York 1988. - Gerhard Dilcher, Art. Widerstandsrecht: HDRG 5 (1998) 1351-1364. - Joachim Dückert, Art. Widerstand: DWb 14/1,2 (1960) 1262-1270. - Ders., Art. widerstehen: ebd. 12811286. - Johannes Fried (Hg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jh., Sigmaringen 1991 (VKAMAG 39). - Konrad Hilpert, Art. Widerstandsrecht: LThK 3 10 (2001) 1139-1142. - Ernst Hartwig Kantorowicz, The King's Two Bodies, Princeton, N.J. 1957; dt.: Die zwei Körper des Königs, München 1990. - Arthur Kaufmann/Leonhard E. Backmann (Hg.), Widerstandsrecht, 1972 (WdF 173) (Lit.). - Fritz Kern, Gottesgnadentum u. Widerstandsrecht im früheren MA. Zur Entwicklungsgesch. der Monarchie (1914), hg. v. Rudolf Buchner, Darmstadt *1954 u.ö. - Christoph Link, Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im dt. Staatsdenken: Convivium utriusque iuris. FS Alexander Dordett, hg. v. Audomar Scheuermann u.a., Wien 1976, 5 5 - 6 8 . - Helga Mandt, Art. Tyrannis, Despotie: GGB 6 (1990) 651-706. - Jürgen Miethke, Art. Tyrann, -enmord: LMA 8 (1997) 1135-1138. - Ders., Art. Verfassungslehren: ebd. 1515-1518. - Ders., Politische Theorien im MA: Politische Theorien v. der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Hans-Joachim Lieber, Wiesbaden 3 2000, 4 7 - 1 5 6 . - Ders., Der Tyrannenmord im späteren MA. Theorien über das Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft in der Scholastik: Friedensethik im SpätMA. Theol. im Ringen um die gottgegebene Ordnung, hg. v. Gerhard Beestermöller/Heinz-Gerhard Justenhoven, Stuttgart 1999 (Beitr. zur Friedensethik 30) 2 4 - 4 8 . - Ders., De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie v. Thomas v. Aquin bis Wilhelm v. Ockham, Tübingen 2000 (SuR NR 16). - Peter Molnar, La légitimité de la résistance. Deux solutions chez St. Thomas d'Aquin: FZPhTh 46 (1999) 115-137. - Cary J. Nederman, Médiéval Aristotelianism

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siècle, Paris 1932. - Joachim Ehlers, Ludwig v. Orléans u. Johann v. Burgund (1407/1419). Vom Tyrannenmord zur Rache als Staatsraison: Alexander Demandt (Hg.), Das Attentat in der Gesch., Köln/Weimar/Wien 1996, 107-121. - Kate Langdon Forhan, The Uses oí „Tyranny" in John of Salisbury's „Policraticus": History of Politicai Thought 11 (1990) 397-407. - Gian Carlo Garfagnini, Legittima potestas e tirannide nel „Policraticus" di Giovanni di Salisbury: Critica Storia 14 (1977) 575 - 6 1 0 . - Bernard Guenée, Un meurtre, une société. L'assassinat du duc d'Orléans, 23 novembre 1407, Paris 1992. - Paul-Joachim Heinig, Fürstenmorde. Das europ. (Spät-)MA zw. Gewalt, Zähmung der Leidenschaften u. Verrechtlichung: Reich, Regionen u. Europa in MA u. Neuzeit. FS Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig u.a., Berlin 2000 (Hist. Forschungen 87) 355-388. - Johannes Saresberiensis, Policraticus sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum, ed. Clemens C.I. Webb, Oxford 1909. - Max Kerner, Johannes v. Salisbury u. die logische Struktur seines „Policraticus", Wiesbaden 1977. - Jacques Krynen „Le prince tyran ne peut longuement durer". Deux conseillers du roi face à la crise de 1356-1358: Études d'histoire du droit et des idées politiques 2 (1998) 291-301. - Jan van Laarhoven, „Thou shalt not slay a tyrant!" The so-called theory of John of Salisbury: Michael Wilks (Hg.), The World of John of Salisbury, Oxford 1984 (SCH[L].S 3) 319-341. - Jürgen Miethke, Die „Arbor imperialis" des Ramon Lull v. 1295/ 1296: Arbor scientiae. Der Baum des Wissens v. Ramón Lull, hg. v. Fernando Domínguez Reboiras/ Pere Villalba Varneda/Peter Walter, Turnhout 2002 (Instrumenta patristica et mediaevalia 42; Subsidia Lulliana 1) 175-196. - Jeannine Quillet, Tyrannie et tyrannicide dans la pensée politique médiévale tardive (XIVe-XVe siècles): Actes du Colloque La Tyrannie, mai 1984, Caen 1984,61-73. - Richard H. Rouse/Mary A. Rouse, John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide: Spec. 42 (1967) 693 - 7 0 9 . - Friedrich Schoenstedt, Der Tyrannenmord im SpätMA. Stud. zur Gesch. des Tyrannenbegriffs u. der Tyrannenmordtheorie, insbesondere in Frankreich, Berlin 1938 (NDF, Abt. Mittelalterliche Gesch. 6). Jürgen Miethke II. Reformation und Neuzeit 1. Widerstandsrecht im Kontext der Glaubensspaltung (bis ca. 1555) 2. Die sog. Monarchomachen am Ende des 16. Jahrhunderts 3. Rationalisiertes Naturrecht und Verfassungsrecht ( 1 7 19. Jahrhundert) 4. Die neue Frage nach dem Widerstandsrecht angesichts totalitärer Diktaturen im 20. Jahrhundert (Quellen/Literatur S. 763) Während das Widerstandsrecht im Mittelalter primär im Kontext des -»Lehnswesens und des Verhältnisses von Kaiser und Papst (-»•Kaisertum und Papsttum) thematisiert wurde (s.o. I), gewinnt es im 16. Jh. ein besonderes Gewicht durch die konfessionelle Spaltung. Diese trägt wesentlich zur Verschärfung der vielfältigen Kompetenzkonflikte bei, die mit der Etablierung frühmoderner Territorialstaaten verbunden sind. Durch die rechtliche Fixierung neuer Formen von Partizipation in Folge der -» Aufklärung, der Durchsetzung des Verfassungsgedankens sowie der Institutionalisierung der Gewaltenteilung im liberalen Rechtsstaat ( - » Staat/Staatsphilosophie) verliert das Widerstandsrecht als Thema des öffentlichen Diskurses an Bedeutung, da die mit ihm verbundenen Anliegen gleichsam politisch integriert und rechtlich fixiert werden. Erst die Zerstörung des liberalen Rechtsstaates durch die totalitären Diktaturen des 20. Jh. hat das Widerstandsrecht wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. 1. Widerstandsrecht 1.1.

im Kontext

der Glaubensspaltung

(bis ca.

155S)

Ausgangslage

Das Problem des Widerstandsrechts wird in der Reformationszeit vor allem in den Ländern erörtert, die besonders stark von den aufbrechenden Konfessionsgegensätzen betroffen sind, neben Deutschland und -»Frankreich auch -»-England, -»Schottland und die -»Niederlande. Schon daran wird sichtbar, daß das Thema weniger durch die Verteidigung ständischer Rechte gegen die Ansprüche des frühmodernen Staates als durch die aufbrechende Religionsfrage auf die Tagesordnung gerät (Wolgast, Religionsfrage 17). Infolge des Zerbrechens der einen respublica Christiana kommt es zu der Situation, daß sich Verbindlichkeit des Herrscherbefehls und religiöse Gewissensbindung (-»Gewissen) in aller Schroffheit gegenübertreten. In diesem Konflikt, der sich vielfach mit

Widerstand II

751

dem Gegensatz ständischer Interessen und verstärkter Monopolisierung herrschaftlicher Kompetenz im Zuge der frühmodernen Territorialstaatsbildung verbindet, nehmen die Reformatoren anfangs ein Widerstandsrecht nur äußerst zurückhaltend in Anspruch. Denn —• Luthers reformatorischer Aufbruch richtete sich nicht zuletzt gegen ein Papsttum und eine kirchliche Hierarchie,1 die durch ihre weltlichen Machtansprüche sowohl den Sinn des geistlichen Regiments verfehlten als auch den Eigenwert des weltlichen Regiments zerstörten. 1.2. Martin

Luther

1.2.1. Bis 1529. Nach den scharfen Angriffen gegen den römischen Papst, den Luther bereits 1520 unmißverständlich als Antichrist bezeichnet hat, äußert er sich 1523 in der Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (WA 11, [229]245-281) grundsätzlich zur Frage eines Widerstandsrechts gegen die weltliche Obrigkeit. Luther beharrt auf der Verbindlichkeit des Gehorsamsgebotes von Rom 13 im weltlichen Regiment. Gleichwohl dürfe der Christ gemäß der clausula Petri (Act 5,29) widergöttlichen Befehlen nicht gehorchen. Als Privatmann bleibt ihm nur die Alternative der Emigration oder des leidenden Ungehorsams mit Wortprotest. Eine von der Obrigkeit geforderte Einziehung seiner Übersetzung des Neuen Testaments lehnt er mit scharfen Worten ab. „Nicht ein Blättlein, nicht ein Buchstaben" dürfe „bei Verlust der Seligkeit" ausgeliefert werden. Das hieße, Christus dem Herodes in die Hände zu liefern, denn die Fürsten würden mit dieser Forderung „als Christusmörder wie Herodes" handeln (vgl. WA ll,267f.). Auch angesichts der sich mit dem Wormser Edikt von 1521 abzeichnenden Konflikte des sächsischen Kurfürsten mit dem altgläubigen Kaiser bleibt Luther bis Anfang 1530 bei seiner ablehnenden Haltung zum Widerstandsrecht (vgl. Gutachten vom 6. März 1530: WA.B 5,[249]258 - 2 6 2 = Scheible 6 0 - 6 3 ; dazu Wolgast, Theologie 9 5 - 1 7 4 ; Böttcher 4 0 - 7 2 ) . Die Territorialfürsten erschienen ihm als untergeordnete Instanzen des Reiches nicht durch Rom 13 als eigenständige Obrigkeiten legitimiert, sondern als Beauftragte des Kaisers mit abgeleiteter Macht. Darum dürfe auch der Kurfürst als Amtsträger kein Widerstandsrecht gegen den Kaiser für sich in Anspruch nehmen, ganz abgesehen davon, daß er als Christ auf den leidenden Gehorsam um des Glaubens willen gewiesen sei. Den Befürwortern eines gegen den Kaiser gerichteten Bündnisses zum Schutz der Religion hält Luther entgegen, daß die aus dem Privatrecht übernommene und naturrechtlich begründete Maxime Wim vi repellere licet (Auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren, ist erlaubt) nicht zur Begründung eines Widerstandsrechts tauge. Denn die Maxime lasse sich nicht auf das Verhältnis von Fürst und Kaiser übertragen, da hier ein Vertragsbruch von einem Dritten als Richter konstatiert werden müsse und nicht einer der Vertragspartner zugleich Richter und Exekutor des Urteils sein dürfe (vgl. WA 19,635f.; dazu Wolgast, Theologie 83f.). Ungerechte Herrschaft sei als Strafe Gottes (-*Strafe) hinzunehmen, und ihre Beseitigung bedeute, in das Richteramt Gottes einzugreifen. Die Tyrannis eines einzelnen scheint Luther erträglicher als der Zustand allgemeiner Gesetzlosigkeit. Hier wirken neben der gerade erst erreichten Überwindung des Fehdewesens nicht zuletzt die Erfahrungen der Jahre 1524/25 mit den aufständischen Bauern (-»Bauernkrieg) nach, welche die von Luther abgelehnte Argumentation im Nachhinein ins Recht setzen würde. Die Bauern hatten sich zur Begründung ihrer Forderungen ausdrücklich auf ein christlich verstandenes —»Naturrecht berufen und dabei auch die von Luther propagierte alleinige Autorität der Heiligen -»Schrift für sich in Anspruch genommen. Gegen eine solche Ableitung politischer Forderungen aus der Schrift hebt Luther jedoch um so klarer den geistlichen Charakter ihrer Lehren und der christlichen Existenz insgesamt hervor.

1.2.2. Ab 1530. Durch den Augsburger Reichstagsabschied vom November 1530 (-»•Reichstage der Reformationszeit) spitzte sich die Lage für die protestantischen Stände des Reiches in bedrohlicher Weise zu, da nun eine Durchsetzung des Wormser Edikts

752

Widerstand II

unmittelbar zu erwarten war. In dieser Situation läßt sich Luther nach langem Zögern von der Argumentation der sächsischen Juristen und Politiker überzeugen, die den Fürsten nach dem positiven Recht des Reiches eine dem Kaiser gegenüber eigenständige Amtsgewalt zusprachen (vgl. Beilage zum Brief Luthers an Philipp von Hessen, 28. Oktober 1530: WA.B 5,662,1-19; Warnung an seine lieben Deutschen, 1531: WA 30/3, [252]276—320; Scheible 63 - 7 7 ; dazu Wolgast, Theologie 165-173; Böttcher 136-175). Insbesondere den Kurfürsten komme gegenüber dem durch sie gewählten Kaiser ein eigenes Recht zu, vor allem auch im Blick auf die cura religionis. Damit ist für Luther die Zustimmung zu einem Widerstandsrecht der Landesherrn gegen den Kaiser in den Fällen möglich, in denen es aus der ihnen durch das Reichsrecht aufgegebenen cura religionis folgt. Ein Widerstandsrecht, das in dieser Weise juristisch aus dem Reichsrecht begründet wird, steht nicht im Widerspruch zu der theologisch begründeten Gehorsamsforderung im weltlichen Regiment, sondern erfüllt sie gerade. Luther stimmt schließlich auch der zweiten, privat- bzw. naturrechtlich geprägten Argumentationslinie der Juristen zu, nach der eine Obrigkeit durch ungerechtes Handeln ihrer Amtsqualität verlustig gehen könne und damit auf den Rechtsstatus einer Privatperson herabsinke. Daneben findet sich bei Luther eine weitere Argumentation zur Begründung des Widerstandsrechts, die an seine frühe Auseinandersetzung mit dem Papsttum anknüpft, im Zuge der wachsenden Bedeutung der Drei-Stände-Lehre in den dreißiger Jahren entwickelt und dann unter dem Einfluß apokalyptischer Stimmungen Ende der dreißiger Jahre zugespitzt wird. In der Zirkulardisputation über Mt 19,21 von 1539 brandmarkt Luther den Papst als Werwolf und universalen Tyrannen (vgl. WA 39/2,[34]39—51[.5291] = Scheible 9 4 - 9 8 ; dazu Hermann; Wolgast, Theologie 243 -253). Wie „der Türke" zerstört er die elementaren, gottgewollten Lebensordnungen. Gegen einen solchen endzeitlichen Vernichter der wahren Religion (ecclesiä), des öffentlichen Rechtslebens (politia) und des Hausstandes (oeconomia) und seine Gehilfen im weltlichen Amt - womit Luther auf die Unterstützung der päpstlichen Religion durch den Kaiser zielt - ist der aktive, auch gewaltsame Widerstand nicht nur berechtigt, sondern sogar geboten. Unter Verzicht auf juristische Normen wird hier das Recht bzw. die Pflicht zum Widerstand biblisch begründet und sogar die sonst stets zurückgewiesene Beteiligung des Volkes vertreten. 1.3. Philipp

Melanchthon

Ph. ->Melanchthon hat in den dreißiger Jahren seine ursprüngliche, mit Luther geteilte Ablehnung der Übertragung strafrechtlicher und naturrechtlicher Maximen in den Bereich des Politischen (vgl. Gutachten von Anfang März 1530: Scheible 5 7 - 6 0 ) aufgegeben und eine naturrechtliche Begründung des Widerstandsrechts entwickelt (Lüthje; Peterson; Böttcher 8 2 - 9 8 ) . In den Loci secundae aetatis von 1535 bezeichnet er den Grundsatz des Vitn vi repeliere als Naturrecht, das nicht dem Evangelium widerspreche, und folgert daraus ein Widerstandsrecht der Reichsstände (vgl. CR 21,408f.). In den Loci tertiae aetatis von 1543 beschreibt Melanchthon darüber hinausgehend die Notwehr als grundsätzlich jedem Menschen naturrechtlich zukommendes „Werk Gottes" (CR 21,720-724; Böttcher 95 Anm. 102; v. Friedeburg, Widerstandsrecht 57). Jedem Hausvater stehe das Recht der Notwehr zum Schutz seiner Familie zu (vgl. An Heinrich von Einsiedel, 8. Juli 1532: CR 2,603f.). Dies bezieht sich jedoch nur auf einzelne manifest unrechte Akte obrigkeitlichen Handelns und begründet kein grundsätzliches Widerstandsrecht des Gemeinen Mannes. Ausdrücklich betont Melanchthon die natur- und reichsrechtlich begründete Pflicht aller Magistrate - nicht nur der Reichsstände - zum Schutz der Kirche und der Unschuldigen. Manifestem und grausamem Unrecht zu widerstehen, ist rechtens (De licita defensione: CR 6,150-155). In zwei während des Schmalkaldischen Krieges 1547 erschienenen Überarbeitungen der von Justus -»-Menius verfaßten Schrift VOM der Notwehr Unterricht wird zugleich das Interesse Melanchthons sichtbar, einer Relativierung der Herrschaftsordnung, die aus dem dem Hausvater zu-

Widerstand II

753

gestandenen Notwehrrecht resultieren konnte, zu wehren (Peterson). In der Folge erhält in Melanchthons Überarbeitungen dieser Schrift, welche die lutherische Auffassung des Widerstandsrechts während des Schmalkaldischen Krieges zusammenfaßt, der Gesichtspunkt des Notwehrrechts eines ganzen Gemeinwesens ein stärkeres Gewicht. 1.4. Magdeburger

Bekenntnis

Das nach der Niederlage im -»Schmalkaldischen Krieg 1546/47 den Protestanten vom Kaiser aufgezwungene Augsburger -»Interim führt zu einer weiteren Klärung und zugleich Radikalisierung der lutherischen Auffassung vom Widerstandsrecht. Unter Führung Nikolaus von —»Amsdorffs wehrte sich die Stadt -»Magdeburg standhaft gegen die Durchsetzung der kaiserlichen Politik mit militärischen Mitteln. Die Notwendigkeit und Berechtigung des Widerstands wird begründet und systematisch erläutert in der im April 1550 erschienenen Schrift Bekentnis, Unterricht und Vermanung der Pfarrhern und Prediger der Christlichen Kirchen zu Magdeburgk (Shoenberger, Confession; Schulze, Zwingli 208f.; Hildebrandt). Die beiden in der lutherischen Reformation seit 1530 entwickelten Argumentationslinien - das positiv- bzw. verfassungsrechtlich begründete Widerstandsrecht der Reichsstände und die aus dem Privatrecht übernommene, naturrechtlich begründete Notwehr-Argumentation - werden hier miteinander verbunden. Ferner entfaltet das Magdeburger Bekenntnis in neuer Weise ein Widerstandsrecht der inferiores magistratus. Schon der „kurze Begriff oder Inhalt dieses Buchs" unterstreicht diese Absicht: „Wenn die hohe Obrigkeit sich unterstehet / mit gewalt und unrecht zuverfolgen / nicht so fast die Personen ihrer unterthanen / als in ihnen das Göttliche oder natürliche Recht / rechte Lere und Gottesdienst auffzuheben und auszureuten. / So ist die unter Obrigkeit schuldig / aus krafft Göttlichs befehls / wider solch der Obern fürnehmen / sich sampt den ihren / wie sie kon / auffzuhalten" (zit. nach Schulze, Zwingli 208).

Vor allem durch Johannes Sleidanus' Werk De statu religionis et reipublicae Carolo V Caesare commentarii (Straßburg 1555; franz., Genf 1557) sind die Magdeburger Lehren bald nach Westeuropa gelangt und in Frankreich, England und den Niederlanden wirksam geworden (Hildebrandt; Skinner II, 206-230). 1.5. Huldreich

Zwingli und Martin

Bucer

H. —»Zwinglis reformatorische Tätigkeit ist aufs engste auf das Zürcher Gemeinwesen bezogen, und entsprechend hat er der Obrigkeit eine entscheidende Rolle bei der reformatorischen Umgestaltung zugesprochen. Insofern werden Fragen des Widerstandsrechts in seinen Schriften nur am Rande thematisiert. Gleichwohl spricht Zwingli bereits in den 67 Schlußreden des Jahres 1523 klar aus, daß eine christliche Obrigkeit, deren Anordnungen „sich nicht an die Richtschnur Christi halten" und gegen das Wort Gottes verstoßen, „nach dem Willen Gottes" abzusetzen ist (vgl. Werke II, 342-346). Dieser Fall ist bereits gegeben, wo die Obrigkeit die untätigen Priester, Mönche und Nonnen mit ihrem verwerflichen Treiben in Schutz nimmt. Wie die Absetzung zu geschehen hat, ergibt sich aus dem Modus der Einsetzung. Wenn diese nicht durch Wahl, sondern durch Erbfolge erfolgt ist, muß ein zum Tyrann gewordener Herrscher durch „die ganze Volksgemeinschaft" - oder zumindest durch den Großteil des Volkes - „einmütig" abgesetzt werden. Kommt es nicht dazu, muß das Joch der Tyrannis getragen werden. Wie Melanchthon hat Zwingli für den Fall, daß der Herrscher seine Kompetenzen überschreitet, bereits früh auf die Ephoren Spartas verwiesen, die wie die römischen Tribunen und die deutschen städtischen Zunftmeister dagegen Einspruch zu erheben hatten (vgl. Werke III, 36). Dieses historische Beispiel dient Zwingli jedoch nicht zur Begründung eines Widerstandsrechts, sondern zur Erinnerung an die prophetische Aufgabe der Pfarrer gegenüber der weltlichen Obrigkeit.

M. -»Bucer teilt die Sorge der Wittenberger Reformatoren, daß das Zugeständnis eines Widerstandsrechts leicht zu instabilen Verhältnissen und Aufruhr führen könne.

754

Widerstand II

Insofern ist es für ihn auf einzelne, sehr restriktiv gehandhabte Fälle und allein auf Inhaber eines obrigkeitlichen Amtes begrenzt. In seinem Wirken für die Reformation in -»Straßburg und anderen südwestdeutschen Reichsstädten, aber auch als theologischer Berater Landgraf -»Philipps von Hessen sieht er sich in vielfältiger Weise mit dem Problem der antiprotestantischen Religionspolitik des Kaisers konfrontiert. Bereits im Evangelienkommentar von 1530 wird das Recht und die Pflicht der inferiores magistratus zum Widerstand gegen die unchristliche Religionspolitik einer übergeordneten Obrigkeit begründet (Skinner II, 205f.). Bucers besonderer Beitrag besteht in der rechtlichen Klärung der Stellung der inferiores magistratus. Nicht nur dem superior magistratus, sondern auch untergeordneten Obrigkeiten komme das merum imperium zu, das nach dem römischen Recht sowohl die Rechtsprechung über Leben und Tod als auch das Recht zum Erlaß von Ordnungen umfaßt, und entsprechend auch die cura religionis und im Konfliktfall das Recht bzw. die Pflicht zum Widerstand (vgl. Dialogi, 1535; Römerbriefkommentar, 1536, 483). Mit dieser Begründung des Widerstandsrechts bei gleichzeitiger Ablehnung einer naturrechtlichen Argumentation hat Bucer neben dem Magdeburger Bekenntnis einen wesentlichen Anteil an der ,,fortschreitende[n] Absenkung der politisch-sozialen Qualifikation von den protestantischen Fürsten, die ihre Untertanen gegen den Kaiser schützen, bis hinunter zu den sozial niedriger anzusiedelnden inferiores magistratus" (Schulze, Zwingli 203), welche für die protestantische Erörterung des Widerstandsrechts im 16. Jh. charakteristisch ist. 1.6. Jobannes

Calvin

J. -*•Calvin hat von der ersten Ausgabe der Institutio christianae religionis 1536 an, die nicht zuletzt das Ziel verfolgte, die französischen Protestanten gegen den Vorwurf täuferischen Aufruhrs (-»Täufer/Täuferische Gemeinschaften) zu verteidigen, das Gehorsamsgebot auch gegenüber einer ungerechten Obrigkeit eingeschärft. Diese bleibt von Gott eingesetzt, und dem verfolgten Christen stehen nur die Mittel des mutigen Bekenntnisses, der Emigration, des -»Gebets und der Bitte um Gottes Hilfe zur Verfügung. Dem -»Bösen mit Gewalt zu widerstehen, hieße, den Herrn zu hindern, helfend einzugreifen (vgl. An die Gemeinde von Aix, 1. Mai 1561: CR 46,437). Calvin teilt mit den lutherischen Reformatoren die Vorstellung der von Gott erweckten viri heroici, deren besondere Berufung sie zum Widerstand berechtigt (vgl. Inst. [1559] IV,20,30), lehnt jedoch jede Art von naturrechtlicher Begründung eines Widerstandsrechts ab (vgl. Praelectiones in Ieremiam, c. 38: CR 67,158). Weder die Vertragskonstruktion noch der Volkssouveränitätsgedanke finden sich bei ihm. Die Begründung eines Widerstandsrechts geschieht allein durch eine positiv-rechtliche Argumentation (Wolf, Problem), wenn Calvin seine Hoffnung angesichts der Verfolgungen seiner Glaubensgenossen in Frankreich auf die Stände des Königreichs richtet. Diese sind in ihrer Gesamtheit die Instanz, die nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, dem Machtmißbrauch des Herrschers zu wehren. Die antiken Ephoren und populäres magistratus werden als die verfassungsmäßig zuständigen Kontrollorgane zur Mäßigung und Begrenzung monarchischer Herrschaft beschrieben (vgl. Inst. [1559] IV,20,31). Sie sind „durch Gottes Anordnung" als Hüter der Freiheit des Volkes eingesetzt und entsprechend verpflichtet, Herrschern entgegenzutreten (intercedere), die „maßlos wüten" und „das einfache Volk quälen". Calvin hat diese allgemeinen Ausführungen nur an wenigen Stellen seines Werkes konkreter ausgeführt. Zugleich schärfen die Predigten der Jahre 1550 bis 1562 mit Verweis auf die clausula Petri mehrfach die Pflicht aller Christen zum Ungehorsam gegenüber widergöttlichen Anordnungen ein (Engammare). 2. Die sog. Monarchomachen

am Ende des 16.

Jahrhunderts

Im Reich bewirkten der Passauer Vertrag 1552 und der - * Augsburger Religionsfriede 1555 eine vorläufige Entschärfung der Konfessionskonflikte, so daß das Thema Widerstandsrecht an Aktualität verlor. Erst die vermehrten Spannungen seit Beginn des 17. Jh.,

Widerstand II die unmittelbar in den Debatte. 2.1. England und

755

Dreißigjährigen Krieg mündeten, führten zu einer erneuten

Schottland

In England provozierte die gewaltsame Rekatholisierungspolitik Maria Tudors seit 1553 mehrere Schriften, die in aller Klarheit das Volk zu Umsturz und Tyrannenmord aufriefen (Kingdon, Calvinism 194-200). Wenn der Inhaber bzw. die Inhaberin der Staatsgewalt Idolatrie fördere - was im Falle Maria Tudors als gegeben angesehen wurde - , dann seien nicht nur die Amtsinhaber, sondern das gesamte Volk zum Widerstand verpflichtet. Begründet wird dies nicht juristisch, sondern religiös, belegt vor allem mit Texten aus dem Alten Testament. Die beiden wichtigsten Vertreter dieser vorcalvinistischen, religiös begründeten radikalen Widerstandsauffassung waren der im Straßburger Exil lebende, frühere Bischof von Winchester, John Ponet (1514-1556), sowie der ehemalige Oxforder Professor Christopher Goodman (um 1520-1603), der zusammen mit J. ->Knox nach Genf geflohen war. Bei Knox, der anders als Goodman in sein Heimatland zurückkehrte und in Schottland der Führer des Widerstands wurde, verbindet sich die biblische und naturrechtlich begründete Widerstandspflicht gegen eine idolatrische Obrigkeit mit einer ausgesprochenen Misogynie. In dem 1558 erschienenen Traktat First Blast ofthe Trumpet Against tbe Monstrous Regiment of Women und weiteren Schriften nimmt die Argumentation gegen die Herrschaft von Frauen - zuerst gegen Maria Tudor, dann gegen Maria von Guise und schließlich gegen deren Tochter Maria Stuart gerichtet - eine zentrale Stellung ein. Im 14. Artikel des von Knox mitverfaßten Schottischen Bekenntnisses wird der Kampf gegen die Tyrannis (tyrannidem opprimere) unter die von der zweiten Tafel des Dekaloges geforderten guten Werke gezählt. Der Humanist George Buchanan (15061582) hat den Tyrannen als denjenigen beschrieben, der ohne Ubereinstimmung mit dem Volk regiert, gegen die Gesetze verstößt und die anvertraute Macht eigensüchtig einsetzt. Dessen zuerst 1579 erschienene Schrift De jure regni apud Scotos steht bereits unter dem Eindruck der Ereignisse der Bartholomäusnacht 1572 und vertieft - in Entsprechung zu den Traktaten der französischen calvinistischen Monarchomachen - die Begründung des Widerstandsrechts durch juristische Argumentationen. 2.2. Die calvinistischen

Monarchomachen

in

Frankreich

Im Schrifttum der sog. calvinistischen Monarchomachen werden unter dem Eindruck der Verfolgung der französischen Protestanten die Überlegungen aus dem Bereich der lutherischen Reformation zu einer Begründung des Widerstandsrechts weiterentwickelt, die auch die Absetzung und Entfernung einer tyrannisch gewordenen Obrigkeit einschließt. Charakteristisch ist neben der Entfaltung einer theologischen Begründung in Gestalt einer —•Föderaltheologie der breite Rückgriff auf Rechtstexte durch die durchweg juristisch gebildeten Autoren (vgl. Skinner II, 239-338; Giesey, The Monarchomach Triumvirs; Kingdon, Myths; ders., Calvinism; Strohm, Ethik [1996] 346-395). 2.2.1. François Hotman. Die 1573 erschienene Francogallia Hotmans bietet eine umfassende Darlegung der historischen Grundlagen des französischen Staatsrechts durch einen gelehrten Juristen (Giesey, When and Why; Kelley 238 - 2 6 0 ) . Ziel des Werkes ist weniger die Begründung eines Widerstandsrechts als die Begrenzung königlicher Macht überhaupt. Gleich im Vorwort nennt Hotman als Ursache der Bürgerkriege in Frankreich die Zentralisierung und Übersteigerung der königlichen Macht auf Kosten der Stände. Eine uneingeschränkte königliche Herrschaft habe es nie gegeben, denn auch das mittelalterliche Vasallenverhältnis gewährte den Untertanen Recht und Freiheit. Gegenüber einer Verabsolutierung königlicher Macht ist die Stellung der Versammlung der drei Stände seit der Zeit der Merowinger und Karolinger hervorzuheben (vgl. Hotman 3 9 0 - 3 9 7 . 4 1 4 - 425). Bei ihr und nicht in der Person des Königs liegt die höchste Macht. Hotman beklagt jedoch ihren Verfall spätestens seit dem 14. Jh., bis schließlich die Freiheit

756

Widerstand II

des französischen Volkes unter der Tyrannis Ludwigs XI. (reg. 1461-1483) völlig verloren ging (ebd. 440 -451). Die Schrift ist mit der ausdrücklichen Formulierung eines Widerstandsrechts der Stände oder gar eines Rechts zum Tyrannenmord sehr zurückhaltend, auch wenn die Argumentation letztlich darauf hinausläuft. Denn notfalls muß die mehr als elfhundert Jahre bewährte Ordnung des Staates auch mit Gewalt und Waffen gegen die Macht von Tyrannen verteidigt werden (ebd. 440). 2.2.2. Theodor Beza. Anders als die Francogallia ist die anonym erschienene, von T h . —»Beza verfaßte (vgl. Sturm, Einleitung: Beza 9 - 1 5 ) Schrift De iure magistratuum in subditos als unmittelbare Reaktion auf die Massaker der Bartholomäusnacht entstanden (Benert, Inferior Magistrates 1 6 1 - 1 9 5 ; Alves de Souza; Manetsch 6 6 - 6 9 ) . Auch wählt sie mit der Feststellung, daß allein G o t t die höchste Autorität gebühre, die weltlichen Herrscher darum nur in seinem Namen handelten, sowie der biblischen Anweisung, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen (Act 5,29), einen explizit theologischen Ausgangspunkt. Die Frage, was zu geschehen habe, wenn ein Herrscher gegen das göttliche Gesetz und die menschlichen Gesetze verstößt, wird dann aber wesentlich durch Auslegung von Texten des römischen und mittelalterlichen Rechts sowie den Blick auf das Vorbild zahlreicher Verfassungsmodelle in der Geschichte beantwortet. Die entscheidende These der Schrift, nämlich daß im Falle des Versagens der Stände des Königreichs die inferiores magistratus zum Widerstand gegen den zum Tyrannen gewordenen Herrscher verpflichtet sind, erläutert Beza ganz überwiegend mit Hilfe juristischer Argumente (vgl. Beza 39—67). 2.2.3. Lambert Daneau. Konsequenter als Hotman und Beza hat der Genfer T h e o logieprofessor L. Daneau (um 1 5 3 0 - 1 5 9 5 ) im Jahre 1575 den bewaffneten Widerstand der französischen Protestanten gerechtfertigt. Seine Antwortschrift auf die an die Protestanten gerichtete Aufforderung des ehemaligen Genfer Juraprofessors Pierre Charpentier, die Waffen niederzulegen, verzichtet weitgehend auf theologische Begründungsmuster (Strohm, Ethik [1996] 3 5 3 - 3 5 9 ) . Gerade dadurch treten hier die juristischen Argumentationsmuster der calvinistischen Widerstandslehre stärker als in anderen monarchomachischen Schriften hervor. Das Neue Testament erlaube und gebiete es, den Bestand eines Königtums bzw. einer Republik gegen seine Feinde mit Waffengewalt zu schützen (vgl. Daneau 14). Wenn es allein um die Religion ginge, könne man als Privatperson die Flucht ergreifen, aber das Wohl des Gemeinwesens erfordere ein Handeln in öffentlicher Verantwortung (vgl. ebd. 63). Die Protestanten dienten diesem Auftrag und handelten keinesfalls als Privatleute. Dieser Unterschied ist für Daneau entscheidend, denn es geht ihm um die Pflicht, dem Bruch der fundamentalen Staatsgesetze zu widerstehen, und zwar notfalls mit Waffengewalt. Ein Großteil der Erörterungen dient dazu, die Notwendigkeit der Verteidigung des französischen Königreiches gegen seine Zerstörer als „öffentliche" Aufgabe zu begründen. Zwar dürften Kriege normalerweise nur auf Befehl des obersten Herrschers geführt werden, aber dies gelte nicht mehr, wenn wie in Frankreich infolge der Verletzung der publicae regni leges manifestes Unrecht und rasende Tyrannei herrscht (vgl. ebd. 15f.19.67.85). In einer solchen Situation kann man nur ein guter Bürger sein, wenn man sich gegen die Zerstörung der Fundamente des Gemeinwesens wehrt. Insbesondere die Stände des Königreiches sind gefordert, für das Wohl und die Wiederherstellung des Gemeinwesens zu kämpfen (vgl. ebd. 16f.). Diese Aufgabe wird wie schon bei Beza nicht auf die Stände beschränkt, sondern auch die inferiores magistratus sind als Hüter des Rechts gefordert (vgl. ebd. 17.27). Die Begründung für diese Kompetenz sieht Daneau in dem zwischen Herrscher und Volk geschlossenen Bund, auf dem die Herrschergewalt des Königs beruht und durch den sie begrenzt wird (vgl. ebd. 21). Die Bedeutung des Traktats liegt darin, daß er nicht die Pflicht, sich der Idolatrie zu widersetzen, sondern die Verantwortung für die Bewahrung der grundlegenden Staatsgesetze oder des ius publicum (vgl. ebd. 85f. u.ö.) zur Begründung einer Widerstandspflicht ins Zentrum stellt. 2.2.4. Vindiciae contra tyrannos. Zur wirkungsvollsten monarchomachischen Schrift wurden die 1579 unter dem Pseudonym Stephanus Junius Brutus erschienenen, wohl maßgeblich von Philippe Du Plessis-Mornay ( 1 5 4 9 - 1 6 2 3 ) verfaßten und vielfach nachgedruckten Vindiciae contra tyrannos (zur Verfasserschaft vgl. Brutus, Vindiciae 1581

Widerstand II

757

[1979] i - v ) . Im Vergleich zu den anderen calvinistisch-monarchomachischen Schriften nimmt hier die Erörterung des Widerstandes gegen einen Herrscher, dessen Handeln gegen die wahre Religion, die Kirche und Gottes Gebote gerichtet ist, einen deutlich breiteren Raum ein. Zugleich wird der Fall, daß ein Herrscher gegen die Rechtsordnung verstößt und das Gemeinwesen zerstört, als eigener Sachverhalt von dem der idolatrischen Religionspolitik unterschieden. In der diesbezüglichen, umfangreichsten der insgesamt vier Teilabhandlungen greifen die Vindiciae contra tyrannos in extenso auf römisches und mittelalterlich-feudales Recht zurück (van Ysselsteyn 52; Strohm, Ethik [1996] 381). Die Argumention der Schrift ist getragen von der ausgeführten Theorie eines doppelten Bundes, eines pactum religiosum mit Gott sowie eines pactum civile zwischen Volk und Herrscher. Diese theologische, aus dem Alten Testament abgeleitete Vorstellung wird mit Hilfe römischer und mittelalterlicher Rechtstexte erläutert und explizit als ein Rechtsverhältnis verstanden.

Mit den Vindiciae contra tyrannos erreicht das monarchomachische Schrifttum einen vorläufigen Höhepunkt. Denn mit der Lehre vom doppelten Bund wird zum ersten Mal eine ausgeführte theologische Begründung des Widerstandsrechts geboten, zugleich aber unter breitem Rückgriff auf römisches und mittelalterliches Recht eine weitgehend säkulare Grundlegung des Widerstandsrechts bzw. der Widerstandspflicht unternommen. 2.3. Die katholischen

Monarchomachen

Gerade die juristische Begründung des Widerstandsrechts ermöglichte es in den folgenden Jahren katholischen Autoren, monarchomachische Widerstandslehren weitgehend ungebrochen zu übernehmen (Vahle; Baumgartner; Salmon). Nach der Inthronisation des protestantisch gesinnten, aber um der Krone willen konvertierten Heinrich von Navarra (1553-1610) als Heinrich IV. rechtfertigt Jean Boucher nicht nur den Widerstand, sondern auch die versuchte Ermordung des französischen Königs (vgl. Apologie pour Jehan C h a s t e l . . . , o. O. 1595). Bei dem Engländer William Reynolds, der 1590 in Paris unter dem Pseudonym Guilelmus Rossaeus eine Schrift De iusta reipublicae Christianae in reges impios et haereticos authoritate veröffentlichte, finden sich über die Übereinstimmung in zentralen Argumentationen wie dem Vertragsgedanken hinaus wörtliche Anklänge an calvinistisch-monarchomachische Autoren. Gleichwohl ist hier die theokratische Tendenz stärker, und der katholischen Hierarchie und insbesondere dem Papst kommt eine zentrale Rolle in der Begründung des Widerstandsrechts zu. In der Schrift De rege et regis institutione (Toledo 1599) des spanischen Jesuiten Juan de Mariana tritt die päpstliche Autorität über Könige in den Hintergrund zugunsten der Betonung des Rechts auch von Privatleuten, den Tyrannen zu töten. Diese Auffassung erfuhr jedoch sogleich den scharfen Widerspruch des Ordensbruders F. -»Suarez. 2.4. Johannes

Althusius

J. Althusius (1557—1638) hat die Lehren der calvinistischen Monarchomachen unter dem Eindruck des niederländischen Aufstands gegen die spanische Herrschaft aufgenommen und in eine mit Hilfe der ramistischen Methode (Petrus -»Ramus) entfaltete Theorie des aus Genossenschaften und Ständen bestehenden Verfassungsstaates integriert. In Gestalt des Herrschaftsvertrages und der Vorstellung der Ephoren als Repräsentanten des Volkes greift er naturrechtliche Argumentationen auf, das Schwergewicht der Begründung des Widerstandsrechts liegt jedoch auf der positiv-rechtlich beschriebenen Stellung der Stände. Nicht - wie vielfach behauptet - der Gedanke einer Volkssouveränität ist tragend, sondern die außerordentliche Stärkung der Stellung der Ephoren oder Stände. Sie sind das eigentliche Gegenüber des Herrschers (vgl. Politica XVIII/63,296f.). Sie überwachen nicht nur sein Handeln, sondern können ihn auch absetzen. Mit der Relativierung der Macht des Herrschers sowie der Stärkung der Position der Ephoren bzw. Stände entwickelt Althusius mon-

758

Widerstand II

archomachisches Gedankengut in Richtung auf das moderne Gewaltenteilungsprinzip weiter, ohne daß er jedoch bereits die für den liberalen Rechtsstaat konstitutive Trennung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion vertritt. Wie die anderen calvinistisch-monarchomachischen Autoren begründet Althusius das Widerstandsrecht sowohl in der Verletzung der religiösen Pflichten des Herrschers als auch im Verstoß gegen den Bund mit dem Volk bzw. gegen die Staatsgrundgesetze (vgl. Politica XXXVIII/3,885; XXXVIII/11,887f.; XXXVIII/37,897). Den Ephoren oder Ständen obliegt sowohl der Schutz der göttlichen Ordnung bzw. des konfessionellen Rahmens als auch der im Herrschaftsvertrag festgeschriebenen Rechte des Volkes. Dabei hat Althusius die Widerstandsbegründung zum einen systematisiert - in der dritten Ausgabe der Politica methodice digesta führt er insgesamt zwölf Gründe für einen erlaubten bzw. gebotenen Widerstand an (vgl. ebd. XXXVIII/ 2 9 - 44). Zum anderen wird der Widerstand nicht nur durch den Herrschaftsvertrag legitimiert, sondern auch „als ein geregeltes Verfahren positiviert, also in das positive Recht der Lebensgemeinschaft ,Staat' aufgenommen" (Winters, Widerstandsrecht 548). Dies gilt für den Widerstand gegen den ordnungsgemäß in sein obrigkeitliches Amt gelangten Tyrannen (tyrannus exercitio). Der Usurpator (tyrannus ex defectu tituli) ist als öffentlicher Feind anzusehen und darf von jedermann angegriffen und vertrieben oder getötet werden.

3. Rationalisiertes 3.1. Integration

Naturrecht

und Verfassungsrecht

des Widerstandsrechts

in das

(17.-19.

Jahrhundert)

Reichsrecht

Die Ansätze einer naturrechtlichen Begründung des Widerstandsrechts im Bereich der lutherischen Reformation in Deutschland wurden in der ersten Hälfte des 17. Jh. kaum weiterentwickelt. Stimmen, die ein Notwehrrecht des einzelnen postulieren, bleiben selten. Zugleich erlangt die in der Reformationszeit entwickelte Auffassung vom Widerstandsrecht der Stände oder untergeordneten Magistrate in der komplizierten verfassungsrechtlichen Situation des Reiches im Zuge der Tätigkeit des Reichskammergerichts und der publizistischen Offensive protestantischer Juristen reichsrechtliche Bedeutung. Althusius' weitergehende Überlegungen entfalten nur insofern eine nennenswerte Wirkung, als sie im Kontext der Diskussion um Jean Bodins Souveränitätsbegriff für eine Begrenzung der kaiserlichen Majestätsrechte zugunsten der Territorialfürsten in die Waagschale geworfen werden konnten. Das Widerstandsrecht wird als Teil des Staatsrechts zur typischen Rechtseinrichtung des ständischen Staates. „In der Kette der Herrschenden muß jeder seines Rechtes Hüter selber sein, die Fürsten gegenüber dem Kaiser, die Stände gegenüber dem Fürsten. Durch den Widerstand ist das Gleichgewicht im weltlichen Gemeinwesen gewahrt; er wird als eine reguläre Form des positiven Rechts in den Systemen behandelt, ja die einschneidendsten innerstaatlichen Ereignisse, wie die Absetzung des sakrosankten Monarchen, werden dem Widerstandsrecht zugewiesen und unter seinem Titel de iure erörtert" (M. Heckel, Staat 180, mit Verweis auf Dietrich Reinkingk). Aus dem Problem des Widerstandsrechts gegen eine idolatrische Religionspolitik wird das im Rahmen des Staatskirchenrechts abgehandelte Problem des Schutzes gegen staatliche Übergriffe in den innersten kirchlichen Bereich. Die rechtliche Integration der Anliegen des traditionellen Widerstandsrechts im Reich wird auch sichtbar an der oft vernachlässigten rechtlichen Verarbeitung der Formen bäuerlichen Widerstands. Die Niederschlagung der Bauernaufstände brachte nicht nur eine Verschärfung obrigkeitlicher Strukturen mit sich. Vor den Gerichten des Reiches konnte die bäuerliche Bevölkerung, gerade wo sie in gemeindlich-kommunaler Struktur verfaßt war, in Beschwerden und Prozessen durchaus Erfolge gegen Grundherren, die ihre Gewalt überschritten, erzielen (Schulze, Widerstand; Blickle). 3.2. Widerstandsrecht

und rationalisiertes

Naturrecht

Mit der Verbreitung naturrechtlicher Begründungen des Widerstandsrechts seit Mitte des 17. Jh. ist keineswegs eine Radikalisierung verbunden. Der Verlust der staatsrechtlich relevanten, normativen Kraft der clausula Petri und schließlich die völlige Spiritualisierung des ius divinum durch Ch. —»Thomasius (Link, Widerstandsrecht 57) bewirken vielmehr das Gegenteil.

Widerstand II

759

Bei H. —»Grotius schließt der Rückgriff auf den Gesellschaftsvertrag eigentlich einen aktiven Widerstand aus, da jener gerade um der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung willen abgeschlossen ist. Für den Fall, daß der Herrscher durch die Veräußerung der Staatsgewalt gegen den Vertrag verstößt, schränkt Grotius das Verbot jedoch sogleich wieder im Sinne des Zugeständnisses eines Notwehrrechts in ganz bestimmten Fällen ein (vgl. De iure belli ac pacis, Paris 1625, I/3f.). Zumindest in Deutschland muß von einer Nivellierung des Widerstandsrechts durch das rationalisierte Naturrecht zugunsten absolutistischer Staatsformen gesprochen werden. So gilt für S. —»Pufendorf dort, wo der Herrschaftsvertrag keine entsprechenden Klauseln im Blick auf eine Beschränkung der Herrschersouveränität enthält, die unbeschränkte Herrschergewalt. Der Verweis auf die Grenze, welche die Gebote des Naturrechts bilden, tritt dahinter zurück. Ulrich Huber (1636-1694) erörtert zwar den Fall einer Rechtswidrigkeit des Hoheitsaktes, wenn die Normen des ius divinum oder naturale verletzt werden, gesteht jedoch lediglich ein von der Verfaßtheit des Gemeinwesens bestimmtes Widerstandsrecht zu (vgl. De iure civitatis libri tres, Franeker 1672). „ N u r wenn das gesellschaftsvertraglich fixierte Ziel jeder Staatlichkeit, der Schutz von Leben und Eigentum, insgesamt in sein Gegenteil verkehrt wird, wenn offensichtlich ein tyrannus exercitio einzelne Unschuldige oder gar den Staat zugrunderichtet, dann haben im ersten Fall die Betroffenen, im zweiten das ganze Volk ... das Recht, sich nach Erschöpfung aller anderen Mittel notfalls mit Gewalt zur Wehr zu setzen und unter bestimmten Umständen den Herrscher auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen" (Link, Widerstandsrecht 59). Das rationalisierte Naturrecht orientiert sich am Staatszweck, wie ihn die Verfassung des Gemeinwesens beschreibt. Damit liegt das Gewicht auf einem staatsrechtlich verbrieften und begrenzten Widerstandsrecht. Der traditionelle Notwehr-Gedanke, das Recht auf Schutz von Leib und Leben, wird nur am Rande als Schutz vor staatlichen Übergriffen gedeutet, wie beispielsweise der betreffende Artikel in Johann Heinrich Zedlers Großem vollständigem Universal-Lexikon von 1740 zeigt. 3.3. Widerstandsrecht,

Naturrecht

und Menschenrechte

in

Westeuropa

In England wird die naturrechtliche Begründung des Widerstandsrechts nicht von der positivrechtlichen Begründung verdrängt (v. Friedeburg, Widerstandsrecht 98—147). Das Widerstandsrecht der Stände gemäß der Magna Charta von 1215 wird für das Parlament bestätigt (Petition of Rights, 1628; Bill of Rights, 1689); die Auseinandersetzungen zwischen Parlament und König, die sich mit dem Streit um den Puritanismus verbanden und 1649 zur Hinrichtung Karls I. führten, verhinderten bzw. verzögerten jedoch eine rechtliche Zähmung des Widerstandsrechts. Die naturrechtliche Begründung des Widerstandsrechts wird vor allem von J. —»-Milton, John Locke (1632-1704; vgl. bes. Second Treatise of Government, 1689, Kap. 18) und Algernon Sidney (1622-1683) weiterentwickelt. Aus dem Volkssouveränitäts- und Vertragsgedanken folgt das Recht des Volkes, den König abzusetzen, und das Notwehrrecht des einzelnen bildet den Keim der Vorstellung angeborener und unveräußerlicher Freiheitsrechte des Individuums. Dies findet dann auch Eingang in das positive englische Recht (Habeaskorpusakte, 1679; Bill of Rights, 1689). T h . —>Hobbes' natur- und vernunftrechtliche Konstruktion eines autoritären Staatsmodells, in dem für das Widerstandsrecht kein Platz ist, setzt sich nicht durch. In Frankreich knüpft Pierre Jurieu (1637—1713) an die englischen Ansätze an, wenn er ein Widerstandsrecht - allerdings nur des Volkes insgesamt oder der Stände als seiner Repräsentanten - in der Verletzung der unveräußerlichen -»Menschenrechte und Grundfreiheiten (droits de peuple) begründet (Schneider 402). Der bei Locke vorhandene Gedanke, d a ß die Verletzung des Herrschaftsvertrages durch den Herrscher zu einem Rückfall in den Naturzustand führt, in dem jedermann ein Widerstandsrecht zukommt, hat J.-J. -»Rousseaus radikale Forderung nach Wiederherstellung der natürlichen

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Widerstand II

Rechtsgleichheit aller und seine Volkssouveränitätslehre (-»Staat/Staatsphilosophie V/ 3.2.) beeinflußt. Ein Widerstandsrecht des Volkes, und zwar als einer von der volontée générale getragenen Einheit oder Mehrheit, ist nach Rousseau gegeben, wenn der Herrscher die ihm im Sozialvertrag zugestandenen Befugnisse überschreitet. Auf Betreiben des Marquis de Condorcet (1743-1794) wird das Widerstandsrecht des Volkes im Zuge der -»Französischen Revolution zum ersten Mal positivrechtlich gewährleistet (Constitution de la République Française v. 24. Juni 1793, Art. 11 und 35, zitiert in: Schneider 403 Anm. 44). Die französische Menschenrechtserklärung von 1791 zählt in widersprüchlicher Weise einerseits die résistance à l'oppression zu den Menschenrechten (Art. 2), stellt jedoch andererseits den gesetzwidrigen Widerstand unter Strafe (Art. 7). Dagegen findet das Widerstandsrecht in der von Thomas Jefferson (1743-1826) formulierten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 einen zukunftsweisenden Ausdruck. „Die Lösung von der englischen Krone wird Punkt um Punkt aus der tyrannischen Herrschaft des Königs begründet, der den Gravamina der Kolonien keine Abhilfe gewährt habe. Deren Volk löst darum zu Recht das Band der Treue (allegiance) und begründet auf den Gedanken eingeborener Menschenrechte und der Volkssouveränität sein neues Staatswesen. . . . Alteuropäisches und modernaufklärerisches Naturrechts- und Gesellschaftsvertragsdenken verbinden sich hier harmonisch und bleiben durch dieses symbolische Dokument im offeneren, d. h. weniger vom Positivismus geprägten Rechts- und Verfassungsdenken der USA wirksam" (Dilcher, Widerstandsrecht 1360; vgl. auch Angermann).

3.4. Liberaler

Konstitutionalismus

und spätabsolutistische

Restauration

Die deutsche politische Theorie des 19. Jh. verliert in der charakteristischen Konfliktlage von liberalem Konstitutionalismus und spätabsolutistisch-restaurativen Tendenzen das Widerstandsrecht weitgehend aus dem Blick (Mandt, Tyrannisiere). Bereits I. —»Kant hatte nur noch ein streng gesetzlich verankertes Widerstandsrecht zugestanden, es aber in dem auf dem Gewaltenteilungsprinzip beruhenden Rechtsstaat als Widerspruch in sich selbst bezeichnet und insbesondere den Tyrannenmord in aller Schärfe verurteilt (vgl. Metaphysik der Sitten, 1797, §§ 45 —52). Im liberalen Konstitutionalismus sind parlamentarische Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit und Gewährung von unveräußerlichen Grundrechten materiell darauf angelegt, „ein wie immer begründetes Widerstandsrecht zu konsumieren" (Dilcher, Widerstandsrecht 1361). Angesichts der faktischen Machtstellung der Fürsten und deren Ausbau nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 bleibt jedoch der Rückgriff auf die ältere naturrechtliche Herrschaftsvertragslehre notwendig. Dabei bestand das Problem der Vertreter des konstitutionellen Liberalismus darin, daß sie sich zugleich gegen radikal-demokratische Strömungen abzugrenzen suchten, die auf Rousseaus Linie aus dem Vertrags- und Volkssouveränitätsgedanken ein Recht auf -•Revolution ableiteten. Ein Widerstandsrecht ist hier letztlich doch nur im Rahmen der Verfassung gedacht, auch wenn Erwägungen zum aktiven Widerstand als ultima ratio nicht fehlen (Karl von Rotteck; Johann Christoph Freiherr von Aretin; Robert von Mohl; weitere Vertreter in: Stolleis II, 156-186). Auch in den Verfassungskonflikten in —»Braunschweig (1830) und -•Hannover (1837) wird gelegentlich auf ein Recht zum Widerstand verwiesen, gleichfalls jedoch im Rahmen des verfassungsmäßigen Gehorsams (Dilcher, Protest). Die Aufnahme der calvinistischen Ephoren-Lehre und ihre Verbindung mit Vorstellungen unmittelbarer Demokratie bei J.G. —»Fichte (vgl. Merle) bleiben eine Episode, während die erklärten Gegner eines Widerstandsrechts - F.D.E. -» Schleiermacher (Mehlhausen 427-429), G.W. F. -»Hegel, F. J. -»Stahl, K.L. von Haller (Stolleis II, 144f.) - im Klima der Restauration rezipiert werden. Zugleich setzt sich seit der Mitte des Jahrhunderts der verfassungspositivistische Standpunkt durch, der als staatsrechtlicher Positivismus bis in die zwanziger Jahre des 20. Jh. vorherrschend bleibt und in dem für eine Begründung des Widerstandsrechts mit Hilfe alteuropäischer Traditionen kein Platz mehr ist.

761

Widerstand II

Auch der Sachverhalt, daß das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche im 19. Jh. durch erhebliche Konflikte erschüttert wurde, ändert nichts an dieser Gesamtentwicklung. Weder der Kölner Mischehenstreit von 1837 noch der preußische -»Kulturkampf führen zu einer Renaissance der Vorstellung vom Widerstandsrecht in der katholischen Kirche (zum -»Ultramontanismus in Frankreich vgl. Maier, Revolution). Gleiches gilt im Blick auf die evangelische Kirche angesichts der weithin als gegen die christlichen Grundlagen der Gesellschaft gerichtet wahrgenommenen Revolution von 1918/19. In den beiden ersten Auflagen des theologischen Standardnachschlagewerks Die Religion in Geschichte und Gegenwart (1909-1913; 2 1927-1932) fehlt das Stichwort „Widerstand/Widerstandsrecht" als Lemma und ist nicht einmal im Generalregister erwähnt. Repräsentativ für die evangelische Ethik der gesamten Periode ist die Auffassung, der Christ habe auch einer ungerechten Obrigkeit zu gehorchen und nur im Falle des Verstoßes obrigkeitlicher Anordnungen gegen das göttliche Gesetz dem leidenden Ungehorsam das Offenbarmachen des Unrechts durch das W o r t hinzuzufügen. Der traditionelle Notwehrgedanke bleibt nur in entpolitisierter F o r m im zwischenmenschlichen Verhältnis erhalten. Ein Widerstandsrecht untergeordneter Obrigkeiten wird nicht mehr erwogen, und die Lehre v o m Tyrannenmord k o m m t nur noch als kritisch bewertete - historische Reminiszenz vor. Als rechtmäßig bejaht wird allein der Befreiungsk a m p f eines unterjochten Volkes, „ w o das unterworfene Volk nicht wirklich in ein anderes Staatsleben als dessen lebendiges Glied eingegliedert ist, sondern von einem andern Volke nur in Knechtschaft gehalten wird, w o ihm also nicht eine wirkliche Obrigkeit, sondern nur rohe Gewalt gegenübersteht, und w o es zugleich selbst noch irgend welche eigene rechtmäßige Obrigkeit h a t " (Wuttke II, 4 7 2 ; vgl. ebd. 3 5 8 - 3 6 2 . 4 6 9 - 4 7 2 ; ders. I, 1 3 9 . 1 7 0 - 1 7 2 ; zu Christoph Ernst Luthardt [ 1 8 2 3 - 1 9 0 2 ] , M . - » K ä h l e r und A. Ritsehl vgl. Mehlhausen 4 2 9 f . ) .

20.

4. Die neue Frage nach dem Widerstandsrecht Jahrhundert

angesichts

totalitärer

Diktaturen

im

Die Nationalsozialisten übernahmen 1933 die Macht in Deutschland unter der Parole der nationalen Revolution. Die überwiegende Mehrheit der Theologen und Kirchenführer stimmte nach anfänglichem Zögern begeistert in den nationalen Aufbruch ein (-•Nationalsozialismus und Kirchen). Das revolutionäre Pathos erfaßte gerade auch die naturrechtlich orientierten Staatsrechtslehrer, während die der Weimarer Verfassung treuen Positivisten bald ins Abseits gerieten. So waren sowohl im Bereich von Kirche und Theologie als auch in der Rechtswissenschaft wie in der Gesellschaft insgesamt die Voraussetzungen für eine Neubegründung des Widerstandsrechts angesichts der Zerstörung des Weimarer Verfassungsstaates denkbar schlecht. Die Repräsentanten der Bekennenden Kirche betonten, daß sich ihr Kampf gegen die im Z u g e der Gleichschaltungspolitik erfolgenden Eingriffe in Lehre und Leben der Kirche richtete, keinesfalls aber als Widerstand gegen die nationalsozialistische Politik insgesamt zu verstehen wäre. Vereinzelte Aktionen, die sich über den Bereich der Kirche hinaus gegen staatliches Handeln richteten, blieben im Rahmen eines passiven Ungehorsams und eines Wortprotestes (Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, 1936; Protest Bischof Theophil W u r m s gegen die Euthanasie-Maßnahmen, 1940, und zahlreiche Eingaben, 1 9 4 1 - 1 9 4 3 ; vgl. auch die Proteste des Bischofs von Münster, G r a f von Galen, 1941). Die 12. altpreußische Bekenntnissynode v o m 1 6 . / 1 7 . O k t o b e r 1943 in Breslau hat in einer Erklärung zur Auslegung des 5 . Gebotes ausdrücklich gegen die Judenvernichtung protestiert und in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die Berufung auf einen „Befehlsnotstand" abgelehnt (Wolf, Verhältnis 2 3 6 - 2 3 8 ) .

Schriftliche Zeugnisse der Diskussion über ein Widerstandsrecht in Kirche und Theologie sind nur spärlich erhalten. Bereits im April 1933 hatte D. -»Bonhoeffer in dem Aufsatz Die Kirche vor der Judenfrage die Auffassung vertreten, daß es neben der selbstverständlichen Frage der Kirche nach der Legitimität konkreten staatlichen Handelns und der diakonischen Hilfe für die Opfer staatlichen Handelns als dritte Möglichkeit ein „unmittelbar politisches" Handeln der Kirche gebe. Sie könne in dem Fall, daß staatliches Handeln ein „hemmungsloses" Zuviel oder Zuwenig an Recht und Ordnung hervorbringe, gezwungen sein, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen" (DBW 12, 3 4 9 - 3 5 8 , bes. 353). Zwar bleibt auch hier in der Schwebe, ob dieser Fall bereits gegeben

762

Widerstand II

ist, aber die Stellungnahme zeigt ein beachtliches M a ß an Problembewußtsein, das wohl nicht zuletzt durch Bonhoeffers Nähe zu den als Juristen tätigen Schwägern Gerhard Leibholz und Hans von Dohnanyi zu erklären ist (Strohm, Ethik [1989] 5 4 - 1 9 2 ) . Im Jahr 1938 betonte K. -»Barth im Anschluß an das Schottische Bekenntnis von 1560, daß „der in der Liebe tätige Glaube an Jesus Christus ... unsere aktive (politische) Resistenz ebenso notwendig" machen könne, „wie er, wenn wir nicht vor diese Wahl gestellt sind, die passive Resistenz oder auch unsere positive Mitarbeit notwendig macht" (Barth, Gotteserkenntnis 214; Wolf, Widerstandsrecht 1689). Im Jahrbuch der LutherGesellschaft von 1941 erschien ein Aufsatz Rudolf Hermanns, der sich Luthers Zirkulardisputation über M t 19,12 widmete und dessen Lehre vom apokalyptischen Tyrannen in offensichtlich aktualisierender Absicht aufgreift. Nach Hermanns Interpretation ist Obrigkeit nicht mehr Obrigkeit, wenn sowohl die erste als auch die zweite Tafel des Dekalogs mit Füßen getreten werden (vgl. Hermann; Glenthej 3 8 8 - 3 9 1 ) . Angesichts der deutschen Besetzung hat der norwegische Primas E. —»Berggrav in einem im Frühjahr 1941 mehrfach gehaltenen und in Abschriften illegal verbreiteten Vortrag das Gebot des Widerspruchs und auch Widerstands gegen eine entartete weltliche Obrigkeit um des Rechtsstaats willen als lutherische Lehre vertreten (Berggrav). Die 1938 beginnenden Umsturzvorbereitungen in der militärischen Abwehr waren begleitet von Diskussionen über das Problem des Widerstandsrechts, deren geringer Grad an literarischem Niederschlag unter den Bedingungen der Diktatur nicht zu einer Unterschätzung der Intensität führen darf. Nicht nur um der Selbstklärung willen, sondern auch um die zögernden Generäle zu einer Mitwirkung zu bewegen, erschien eine Begründung des Rechts bzw. der Pflicht zum Widerstand notwendig. Bis weit in den sozialistischen Widerstand hinein geschah dies in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition (Strohm, Bedeutung). Die Aufzeichnungen der Verhöre der nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 Verhafteten geben Aufschluß über die individuelle Motivation und die Begründungsversuche der Beteiligten (vgl. Spiegelbild einer Verschwörung; Moltke, Briefe). Neben der Zerstörung der elementaren Prinzipien des Rechts und der Unterdrückung der christlichen Kirchen werden vor allem die Verfolgung und Ermordung der Juden genannt. Charakteristisch ist, daß die Verletzung der Weimarer Reichsverfassung, die im Sinne eines Rechtspositivismus zur Begründung des Widerstandsrechts hätte angeführt werden können, keine Rolle spielt. Stattdessen tritt das Bewußtsein einer immensen Schuld angesichts der Kriegsverbrechen im Osten und der Ermordung der Juden, die den Widerstand bis hin zur Beseitigung Hitlers geboten sein läßt, vielfach klar hervor. Der Theologe Bonhoeffer, selbst an den Umsturzvorbereitungen beteiligt, hat in seinen Anfang der vierziger Jahre verfaßten Entwürfen einer christlichen Ethik die moralischen Konflikte der Menschen, die auf einen Umsturz hin arbeiteten, bedacht. Er entfaltet „Strukturen eines verantwortlichen Lebens", das fähig ist, das Rechte und Gebotene zu tun, und sich nicht um des eigenen reinen Gewissens willen zurückzieht. Das Tun des verantwortlichen und mündigen Christen ist durch vier Merkmale gekennzeichnet: Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit, Schuldübernahme und das Wagnis freier Tat (vgl. D B W 6, 2 5 6 - 2 8 9 ) . Dabei geht Bonhoeffer davon aus, daß ein Schweigen angesichts der hemmungslosen Kr.egstreiberei Hitlers, der millionenfachen E r m o r d u n g der Juden und der Zerstörung der Grundordnungen des Lebens durch eine Willkürherrschaft nicht mehr möglich ist. Wenn Hitler nur mit Gewalt und Attentat, die im Sinne des christlichen Glaubens immer mit Schuld verbunden lind, zu stoppen ist, dann muß das um der Opfer willen getan werden, auch wenn man sich stlbst Schuld auflädt. U m großer Prinzipien und eines reinen Gewissens willen dem R a d nicht ir die Speichen zu fallen, hieße ebenfalls, schuldig zu werden.

Diese Überlegungen sind in mancher Hinsicht repräsentativ und charakteristisch für die Erörterungen des Widerstandsrechts unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Weder die juristische Begründung des Widerstandsrechts in

Widerstand II

763

Form von rechtspositivistischen oder naturrechtlichen Argumentationen noch eine ethische Rechtfertigung steht im Vordergrund, sondern das Bewußtsein eines durch göttliches Gesetz oder die Stimme des Gewissens gebotenen, verantwortlichen Handelns, das gerade nicht ohne Schuld möglich ist. Erst im Zuge der Formulierung neuer Verfassungen nach Kriegsende, der Auseinandersetzungen um die juristische Bewertung des Widerstandes gegen Hitler und der Diskussion um die Rolle der Kirchen im Dritten Reich haben naturrechtliche und ethische Begründungen des Widerstandsrechts wieder breiteren Raum eingenommen. Quellen Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn 1603 Groningen 2 1610 Herborn 3 1614 Nachdr. Aalen 1961 = 1981. - Karl Barth, Gotteserkenntnis u. Gottesdienst nach reformierter Lehre, Zollikon 1938. - Bekentnis, Unterricht u. Vermanung der Pfarrhern u. Prediger der Christlichen Kirchen zu Magdeburgk Anno 1550. 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III. Ethisch 1. Begriff 2. Theologische Ethik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Kriterien (Literatur S. 773)

3. Grundsätze

1- Begriff Politischer Widerstand im weiten Sinn bezeichnet die durch Mitglieder eines Gemeinwesens um der -* Gerechtigkeit willen praktizierte Aufkündigung der Folgebereitschaft gegenüber den Inhabern der Staatsgewalt oder ihren Anordnungen. Das klassische Widerstandsrecht ist ein konservatives Abwehrrecht gegen eine rechtswidrig ausgeübte Staatsgewalt mit dem Ziel der Erhaltung des guten alten Rechts (s.o. II) und abzugrenzen von der -»-Revolution, die auf den Umsturz der alten und die Errichtung einer neuen Ordnung zielt. Mit Eingang des Widerstandsrechts in die neuzeitlichen Erklärungen der Menschenrechte (z.B. Art. 2 der Französischen Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789) jedoch nimmt es potentiell revolutionären Charakter an, sofern es sich gegen eine positiv-rechtlich verfestigte Unterdrückung oder Ungerechtigkeit wendet und den Aufbau einer menschenrechtlichen Verfassungsordnung anstrebt. Eine Typologie möglicher Formen von Widerstand ergibt sich aus der Spezifizierung des Handlungsmodus, der Mittel, der Art des Rechtfertigungsgrundes, der Träger des Widerstands und des politischen Kontextes: Widerstand kann, seinem Modus nach, passiv (Gehorsamsverweigerung) oder aktiv geleistet werden, wobei sich wiederum aktiver Widerstand gewaltfreier Mittel bedienen (Mahatma Gandhi [1869-1948]; M.L. -•King) oder aber den gewaltsamen Sturz einer exzessiven Unrechtsherrschaft durch direkte Tötung des Machthabers einschließen kann (etwa die Attentatsversuche gegen Adolf Hitler). Was die Art des Rechtfertigungsgrundes betrifft, kann Widerstand entweder als sittliche oder religiöse -»Pflicht geboten oder aber als Recht legitimiert sein, wobei wiederum ein Recht auf Widerstand entweder vorstaatlich (durch -»Naturrecht oder Moral) begründet oder als positives (Gewohnheits- oder Verfassungs-) Recht gewährleistet sein kann (—•Recht/Rechtstheologie/Rechtsphilosophie). Als Träger des Widerstands können entweder nur Amtsträger oder jede Einzelperson auf Grund ihres Staatsbürgerstatus in Frage kommen. Je nach dem politischen Kontext (Unrechtsstaat oder Rechtsstaat) variieren die einschränkenden moralischen Kriterien für Widerstandshandlungen. 2. Theologische

Ethik in der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts

Hauptsächliche Brennpunkte des Diskurses über das Widerstandsrecht in diesem Zeitraum sind: die Erfahrung totalitärer politischer Herrschaft (2.1.); das Problem politisch motivierter Gewalt im Rechtsstaat, aber auch gesetzwidriger Protesthandlungen gegen mehrheitsdemokratisch legitimierte politische Entscheidungen (2.2.); ferner die Haltung von Christen und Kirchen gegenüber rassistischen politischen Systemen (2.3.). 2.1. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und angesichts der Errichtung kommunistischer Parteidiktaturen in Mittel- und Osteuropa stand nach 1945 die Problematik des Widerstands im totalen Staat im Zentrum. Aus naheliegenden Gründen (die persönlichen Zeugnisse von der Gewissensnot der Verschwörer des 20. Juli 1944, Unsicherheiten in der ethischen Bewertung der mit dem Attentat auf Hitler verbundenen Tötungsabsicht) setzte nach 1945 in der deutschsprachigen Ethik und Moraltheologie eine besonders intensive Diskussion über die Widerstandsthematik ein, die bald vom Systemantagonismus im geteilten Deutschland überlagert wurde. Die katholische Moraltheologie konnte in diesem Zusammenhang an die naturrechtliche Tradition anknüpfen (Pribilla; Angermair). Demnach bedeutet die neutestamentliche Mahnung zum Gewaltverzicht keine Aufhebung des Rechtsstandpunkts; die Betonung der Gehorsamspflicht gegen die staatliche Autorität nach Rom 13 wehrt nur der Auflehnung gegen eine rechtmäßige Staatsgewalt; eine evident und exzessiv gegen

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die Gerechtigkeit verstoßende Regierung jedoch ist nicht von Gott. Die Rechtfertigung des Widerstands erfolgt nicht vertragstheoretisch oder vom Gedanken der Volkssouveränität her, sondern auf der aristotelisch-thomistischen Grundlage eines in der Natur des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft begründeten Rechtsverhältnisses zwischen Obrigkeit und Untertanen. Einschränkende Bedingungen ergeben sich aus den Kriterien für die sittliche Erlaubtheit von Handlungen mit Doppelwirkung: aktiver Widerstand muß ultima ratio sein, hinreichende Erfolgswahrscheinlichkeit bieten und die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Bei Vorliegen dieser Bedingungen ist eine objektive Schuld nicht gegeben. Gegenüber der vagen Einlassung des Zweiten Vatikanum [Lumen gentium Nr. 74; —> Vatikanum I und II) wird die Enzyklika Populorum progressio (1967) präziser: sie lehnt jeden revolutionären Aufstand ab - „ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt" (Nr. 31). Auch nach der Hitler-Diktatur war das Widerstandsrecht in der reformierten Tradition leichter rezipierbar als im Luthertum - allerdings bei eher pauschaler und durchaus kontroverser Behandlung der Thematik. Weder K. -»-Barth noch E. Brunner haben eine ausgeführte Widerstandslehre entwickelt. Für Brunner kommt es lediglich auf eine Diagnose an, die sein Projekt einer schöpfungstheologisch verankerten Gerechtigkeitslehre stützt: da der aus den Forderungen des Naturrechts entstandene moderne, das Widerstandsrecht absorbierende Verfassungsstaat den Rückfall in die Barbarei nicht hat aufhalten können, „bleibt nur noch das rein naturrechtlich zu begründende Widerstandsrecht übrig, wenn man sich mit dem Rechtsungeheuer des totalen Staates nicht einfach abfinden will" (Brunner 112). Im Rahmen seiner christologischen Rechtsbegründung konstatiert auch Barth, daß die „nicht im Aufruhr gegen die rechtmäßige O b rigkeit', sondern zu deren Wiederherstellung unternommene bewaffnete Erhebung gegen ein bestimmtes, unrechtmäßig gewordenes, seiner Aufgabe nicht mehr würdiges und gewachsenes Regiment... unter gegebenen Umständen auch von der Christengemeinde . . . gut zu heißen, zu unterstützen und u.U. sogar anzuregen" sei (Barth, Christengemeinde 73). Barth konstruiert den Tyrannenmord als Grenzfall, bei dem eine göttlich autorisierte Ausnahme vom Verbot der -»Todesstrafe gegeben sein kann. Kriterium ist ausdrücklich nicht die Unterdrückung staatsbürgerlicher (Individual-)Rechte, sondern der konkrete Versuch, „das Staatswesen als ganzes und als solches und mit ihm alle seine Angehörigen in ein vielleicht nicht mehr gutzumachendes Verderben zu stürzen". Aktiver gewaltsamer Widerstand - ad liberationem patriae tyrannum occidere - kann in Fällen extremen öffentlichen Notstands eine durch das unmittelbare göttliche Gebieten begründete Gehorsamspflicht des Christen sein (KD III/4, 513f.). Barths lediglich okkasionelle, systemindifferente politische Ethik führte zu einer scharfen Kontroverse mit Brunner über die Bewertung der kommunistischen Herrschaftsform. Die bereits während des Zweiten Weltkriegs durch den norwegischen Bischof E.J. -»Berggrav (Kaufmann, Widerstandsrecht 135—151) angestoßene Revision der (in der Widerstandsfrage traditionell restriktiven) lutherischen Ethik erforderte zunächst eine gründlichere historische Recherche der reformatorischen Quellen (vgl. Heckel; Wolf, Problem; Iwand, Widerstandsrecht), sie hatte aber auch differenzierte aktuelle Stellungnahmen zur Folge. Hans-Joachim Iwand und Ernst Wolf bemühten sich in ihren Gutachten zum Braunschweiger Remer-Prozeß (1952) um die Formulierung einer gemeinprotestantischen Position. Deren Proprium bestehe in der Ablehnung aktiven Widerstands aus religiösen Gründen, darüber hinaus aber in der Unterscheidung von Widerstandsrecht und Widerstandspflicht. Während das Widerstandsnest nicht naturrechtlich, sondern im Anschluß an das positive ständische Recht unter Aufnahme lehnsrechtlicher Motive begründet werde, gebe es nach reformatorischer Lehre auch eine jeden einzelnen Christen treffende, notfalls gewaltbewehrte Widerstandsp/Z/cSi, und zwar erstens dort, wo es nicht um Glaubensfragen, sondern um irdische Rechtsverbindlichkeiten geht, die aus den Nächstenpflichten folgen, zweitens im Fall der Anomie, also der (unter

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dem NS-Regime gegebenen) absoluten Perversion des Staates (Apk 13), die zur Tötung des apokalyptischen Universal-Tyrannen ermächtigen kann. Im folgenden legen lutherische Theologen wie Walter Künneth (1901-1997) und H. -»Thielicke im Rahmen einer theologischen Deutung von Staat und Recht als Erhaltungsordnungen elaborierte Überlegungen zur Widerstandsthematik vor. Da auch eine pervertierte Staatsordnung im Unterschied zur Anarchie eine minimale Erhaltungsfunktion gegen das Chaos besitze, lehnt Künneth (285ff.) „Umsturz" als „dämonische Gefahr" — gleichgültig, ob im Rechtsoder im Unrechtsstaat - prinzipiell ab, will aber die „ethische Möglichkeit" von gewaltsamem Widerstand als „Recht der Notwehr" und „Pflicht gegenseitiger Nothilfe" nicht ausschließen, wenn das „Daseins- und Lebensrecht des einzelnen Staatsbürgers" bedroht ist. Die „Aktualisierung" dieses neohobbesianisch gefaßten „potentiellen Widerstandsrechts" bindet Künneth außer an die Kautelen der Erfolgschance und des effektiven Vollzugs daran, daß die ultima ratio des Widerstands ausschließlich von „ordnungsgemäßen Amtsträgern" mit „einzigartiger Lageerkenntnis und Lagedeutung" ausgeübt wird. Dieser Repristination eines ständischen Widerstandsrechts hat Thielicke scharf widersprochen: gerade im totalen Staat, in dem (im Unterschied zur Demokratie) allein ein ius resistendi gegeben sein könne, führe dies in die Absurdität (Thielicke 468ff.). Thielicke führt stattdessen die Existenz einer „potentiellen Nachfolge-Obrigkeit" als Rechtfertigungsprämisse ein; deshalb könnten immer nur die Christen als Bürger, nicht die Kirche und ihre Amtsträger Träger des Umsturzes sein (447ff.). Die These des Berliner Bischofs O. -»Dibelius, daß wegen der Illegitimität des politischen Systems der DDR auch deren Straßenverkehrsordnung keine Anerkennung verdiene, fand keine Resonanz. 2.2. Höchst unterschiedliche Phänomene wie die sog. Studentenrevolte in westlichen Demokratien, Terrorakte linksextremistischer Gruppierungen in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch gewaltfreie Protesthandlungen im Rahmen der Friedens- und Ökologiebewegung setzten in den 70er und 80er Jahren des 20. Jh. die Problematik von -»Gewalt und Widerstand im Rechtsstaat auf die Tagesordnung. Die EKD-Thesenreihe Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft (1973) arbeitet deutlich heraus, daß die Ausübung des Widerstandsrechts „von schweren und andauernden Verletzungen der Menschenrechte durch den Staat" abhängig zu machen ist, auch wenn der Inhalt der Menschenrechte umstritten und gewaltfreiem Widerstand in jedem Fall der Vorzug zu geben sei. Umstritten bleibt im deutschen Protestantismus die Bewertung ethisch motivierter, aber rechtswidriger Protesthandlungen gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen. Für Trutz Rendtorff (225 ff.) sind in der rechtsstaatlichen Demokratie Widerspruch und Protest die ethisch legitimen Formen des Umgangs mit Grenzen des politischen Konsenses; beide werden scharf abgegrenzt einerseits gegen neomarxistische Revolutionskonzepte (vgl. Marcuse), andererseits gegen rechtsverletzende Protesthandlungen. Solche Akte des „demonstrativen" oder „Überzeugungswiderstands" im Interesse mehrheitlich nicht konsensfähiger Gemeinwohlforderungen seien strukturell mit religiösem und politischem -»Fundamentalismus verwandt; davon zu unterscheiden sei der gewaltfreie bürgerliche Ungehorsam als individuelle Verweigerung gesetzlicher Pflichten, der christliches Gewissensgebot sein könne. Diese Terminologie ist tendenzkritisch gefärbt - wird doch in der neueren Ethik und Rechtsphilosophie der bürgerliche Ungehorsam ganz einhellig als aktive, demonstrative Regelverletzung verstanden (u.a. Rawls, Theorie, 386ff.; Dreier; Habermas; Preuß; Laker; Huber/ Reuter 305ff.; Huber 410ff.); in den USA ist civil disobedience seit langem als Element der demokratischen politischen Kultur anerkannt (Bedau; Weber). Im Unterschied zu Rendtorff betont die Demokratie-Denkschrift der EKD, daß in sog. Überlebensfragen auch rechtswidrige Protesthandlungen als „Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernstgenommen werden" müssen (Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie 22).

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2.3. Die anhaltende gewaltsame Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmajorität durch das Apartheidsregime in Südafrika führte 1985 in den Kirchen zur offenen Debatte über das Widerstandsrecht gegen eine rassistische Minderheitsherrschaft und die Voraussetzungen politischer Legitimität (vgl. Lienemann-Perrin/Lienemann). Auf einen Gebetsaufruf des Südafrikanischen Kirchenrates zur Abschaffung aller Apartheitsstrukturen folgte die Veröffentlichung des sog. Kairos-Dokuments (Textfassungen: Hinz/Kürschner-Pelkmann). Für die federführenden Autoren - eine konfessionsübergreifende Gruppe oppositioneller Theologen — konvergieren Impulse aus der Befreiungstheologie, dem deutschen Kirchenkampf (Barth; D. —•Bonhoeffer) und der katholischen Moraltheologie. In Abgrenzung gegen eine „Kirchentheologie", die Versöhnung und Gewaltlosigkeit verabsolutiert und auf die Reformierbarkeit des Systems von oben hofft, wird als lange christliche Tradition der biblische Kampf gegen Unterdrückung, aber ebenso und zentral das naturrechtliche Widerstandsrecht ins Feld geführt, das es im Extremfall erlaubt, sich gegen Tyrannei unter Einschluß von physischer Gewalt (physical force) zur Wehr zu setzen. „Tyrannei" wird in scholastischer Begrifflichkeit definiert als Gewaltherrschaft eines Regimes, das als „Feind des Volkes" prinzipiell im Widerspruch zum Gemeinwohl steht; dies sei mit Evidenz dann der Fall, wenn ein Regime nur den Interessen einer Minderheit dient und seinen Machterhalt nur durch permanente Steigerung des Gewalteinsatzes sichern kann. Nach diesen Kriterien sei die südafrikanische Regierung moralisch illegitim. Auch die Nächsten- und Feindesliebe verbiete nicht, sondern gebiete, die Unterdrückung zu beseitigen, die Gewaltherrscher zu entmachten und eine gerechte Regierung zum Wohle aller einzusetzen. Nicht (nur) als Recht, sondern als Pflicht der Kirche werden die Kooperationsverweigerung mit dem Staat, Mitwirkung bei der Vorbereitung eines Regierungswechsels und Aktionen zivilen Ungehorsams genannt. 3. Grundsätze

und

Kriterien

Die Möglichkeit von Recht oder Pflicht zum politischen Widerstand resultiert für die christliche Ethik daraus, daß gemäß Act 5,29 jede innerweltliche Autorität begrenzt ist durch das im Glauben an Gott gebundene -»Gewissen und daß insbesondere die staatsbürgerliche Loyalität gemäß Rom 1 3 , 1 - 7 davon abhängt, daß der Staat seine elementare Aufgabe erfüllt, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Bezogen auf den unter 1. eingeführten weiten Begriff des Widerstands sind vor allem drei - nach Intensität abgestufte — Formen politischer Resistenz zu unterscheiden (vgl. zu Details, wenn auch mit kleineren Varianten: Huber/Reuter 300ff.; Reuter 267ff.; Huber 400ff.): 3.1. Gewissensbestimmte Verweigerung: Nach gemeinchristlicher Lehre findet der Gehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen in jedem politischen Kontext dort seine Grenze, wo der Staat Glaubens- und Gewissenszwang ausübt. Insbesondere in Fällen des überzeugungswidrigen Zwangs zum eigenen Handeln ist jede Einzelperson zur Verweigerung aus Gewissensgründen nicht nur berechtigt, sondern (nach dem M a ß dessen, was sie tragen kann) auch ethisch verpflichtet; denn gegen das eigene (und sei es irrende) Gewissen zu handeln, ist sittlich schlecht, und einen anderen dazu zu zwingen, ist moralisch verwerflich. Entsprechendes gilt für die Kirche, wenn sie durch staatliche Eingriffe in ihre Verkündigung und Ordnung in den status confessionis gezwungen wird. Die gegebenenfalls leidende (-»Martyrium) — Gehorsamsverweigerung schließt „Wortwiderstand", d.h. die öffentliche Bezeugung des elementaren Unrechts ein. Deshalb verweist - was in der klassischen reformatorischen Tradition unterbestimmt geblieben ist - auch jede Gehorsamsverweigerung aus Gründen des christlichen Glaubens oder des individuellen Gewissens indirekt auf die Notwendigkeit der Gewährleistung allgemeiner Glaubens- und Gewissensfreiheit durch eine rechtsstaatliche Ordnung. 3.2. Ziviler Ungehorsam: Gegen den demokratischen Rechtsstaat, der auf der freien und gleichen Selbstbestimmung des Volkes beruht und die Menschen- und Bürgerrechte

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garantiert, kann es kein gewaltbewehrtes Widerstandsrecht geben, denn in einer demokratischen Verfassungsordnung stehen alle Möglichkeiten freier Kritik, friedlicher Reform und des Rechtsbehelfs offen. Aber auch in einer relativ gerechten Ordnung gibt es Grenzfälle (gravierende Gerechtigkeitsdefizite von Gesetzen, Gefährdung der Überlebensbedingungen durch technische Großrisiken oder Massenvernichtungswaffen), in denen ziviler Ungehorsam als begrenzte Regelverletzung mit politischer Signalwirkung moralisch rechtfertigungsfähig sein kann. Ziviler Ungehorsam ist eine gewissensbestimmte, bewußt gesetzwidrige Handlung, die öffentlich, gewaltfrei und in Loyalität zur Rechtsordnung im Ganzen begangen wird, um den Protest gegen staatliche Maßnahmen und Entscheidungen symbolisch zu verstärken. Ein Rechtfertigungsgrund für zivilen Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat kann dann gegeben sein, wenn politische Entscheidungen die Geltungsbedingungen in Frage stellen, auf die das Verfahrensprinzip der Mehrheitsregel angewiesen bleibt, nämlich: Vereinbarkeit der Entscheidung mit den Grundrechten, Chance des Wechsels von Mehrheits- und Minderheitsrolle, prinzipielle Revisionsfähigkeit der Entscheidungen, Achtung vor der Sphäre des „Unabstimmbaren". Symbolisch ist der Gesetzesverstoß insofern, als er das Protestziel nicht selbst und unmittelbar herbeizuführen beansprucht. Der öffentliche Vollzug gehört zur ethischen Rechtfertigungsfähigkeit des zivilen Ungehorsams, weil er sich als Appell an die öffentliche Meinung und den Gesetzgeber richtet. Die Loyalität gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen muß nicht nur im Verzicht auf physische Gewaltanwendung, sondern auch in der Bereitschaft der Akteure zum Ausdruck kommen, für mögliche rechtliche Sanktionen des Regelverstoßes einzustehen. Letzteres gilt unbeschadet des Umstands, daß sich bei der juristischen Prüfung des Einzelfalls im nachhinein eine (grund-) rechtliche Rechtfertigung als „prima-facie-Ungehorsam" ergeben kann. 3.3. Widerstandsrecht: Beim „großen" Recht auf Widerstand handelt es sich um die Befugnis zur aktiven und gewaltsamen Auflehnung gegen ein evidentes Unrechtsregime. Umgekehrt wie beim zivilen Ungehorsam wird hier die Staatsloyalität als solche aufgekündigt, während die Befolgung einzelner Gesetze und Anordnungen (z. B. der Straßenverkehrsordnung) wegen ihrer unverändert gemeinnützigen Ordnungsfunktion bestehen bleiben kann. Die das Widerstandsrecht kennzeichnende Anwendung von Gegengewalt ist im Grundsinn protestantischer Ethik zwar aus religiösen Gründen, d.h. zur Verteidigung des Glaubens verboten; sie ist aber individualethisch zur Notwehr erlaubt und zur Nothilfe für den anvertrauten Nächsten im Fall eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs unter Umständen geboten, schließt jedoch immer die Bereitschaft zur Schuldübernahme ein. Dem individuellen Notwehrrecht analog ist das Widerstandsrecht ein zunächst vorstaatliches, kollektives Notrecht des Volkes gegen eine institutionalisierte Gewaltherrschaft. Nach dem Prinzip der Demokratie sind die Bürger ebenso Autoren wie Adressaten der Rechtsordnung, darum sind Träger des Widerstandsrechts grundsätzlich alle Staatsbürger. Im Unterschied zur individuellen Notwehrsituation unterliegt allerdings Widerstand, da in ihm die Machtordnung und das Gewaltmonopol des Staates zur Disposition stehen, seitens der Akteure strengen Kriterien der Selbstprüfung ex ante und muß sich auf allgemein anerkennungsfähige Rechtsprinzipien stützen können: 1) Rechtfertigungsgrund können nur schwere und anhaltende Verletzungen der elementaren, moralisch begründeten Menschenrechte sein. 2) Gewaltsamer Widerstand muß dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. die eingesetzten Mittel müssen a) als ultima ratio (nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten) erforderlich sein, b) angemessen sein, d.h. sie dürfen das bestehende Übel nicht vergrößern, c) geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen (tatsächlicher Mißerfolg entscheidet aber nicht über die moralische und rechtliche Anerkennungswürdigkeit einer Widerstandshandlung ex post). 3) Die Träger des Widerstands müssen über eine Konzeption der legitimen politischen Neuordnung verfügen.

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Umstritten ist der Sinn eines verfassungsrechtlich positwierten Widerstandsrechts im demokratischen Rechtsstaat, wie es z. B. im Z u g e der Notstandsgesetzgebung in Art. 2 0 , 4 des deutschen Grundgesetzes normiert wurde. Die N o r m ermächtigt begriffsnotwendig nicht zum Widerstand gegen den Staat, sondern — als subsidiärer Staatsschutz - zur A b w e h r des Versuchs, die Verfassungsordnung zu beseitigen. Im Fall der erfolgreichen Verhinderung eines verfassungsfeindlichen Umsturzversuchs dürfte jedoch eine positiv-rechtliche Widerstandsbefugnis überflüssig, im Fall der Erfolglosigkeit der Abw e h r m a ß n a h m e hingegen juristisch nutzlos sein. Als moralisches R e c h t bleibt der „ g r o ß e " W i d e r s t a n d ein existentielles Wagnis und ein Akt freier Verantwortung, der im Ernstfall auch extra legem ausgeübt werden m u ß ; allerdings kann m a n das positivierte W i d e r s t a n d s r e c h t als Appell an den „Verfassungspatriotismus" der Bürger verstehen. Literatur 20. 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774

Wiederbringung aller

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Hans-Richard Reuter

Wiederbringung aller 1. Begriffsbestimmungen 2. Biblische und theologiegeschichtliche Bezüge Profilierung (Literatur S. 780)

1.

3. Systematische

Begriffsbestimmungen

Mit „Wiederbringung aller" ist diejenige eschatologische Vorstellung (-»Eschatologie) gemeint, die eine ausnahmslose Aufnahme aller Menschen (-»Mensch) oder Wesen (auch gefallener -»Engel, -»Dämonen, -»Teufel) in das eschatische Heil (-»Heil und Erlösung), in das Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) zum ewigen -»Leben annimmt. Letztlich wird alles, was ist, in allen Dimensionen: -»Natur und Geist, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Nahes und Fernes, Vertrautes und Fremdes, ego und alter ego aufgrund der relationalen Verbundenheit alles Seienden mit seinem Seinsgrund in das Heilsgeschehen einbezogen. Für diesen Vorstellungsgehalt bietet die Theologiegeschichte in Aufnahme paganer, aber auch neutestamentlicher Begrifflichkeit die Termini ajiOKaxäaxaait; (xcöv) navxcov, ävaKEtpalaicoaiQ bzw. recapitulatio, restitutio omnium, Allversöhnung oder auch Allerlösung an. Allerdings unterscheiden sich diese oft synonym verwendeten Begriffe durch nicht unerhebliche Akzentverschiebungen, die bereits im Ausgang vom Sprachgebrauch auf bestimmte Problemstellungen dieser eschatologischen Konzeption hinweisen, so daß nicht jeder dieser Ausdrücke in gleicher Weise geeignet ist, wenn mit Wiederbringung aller Dinge eine spezifisch christliche Vorstellung entwickelt und auch mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit vertreten werden soll. So meint änoKaxäaxaaiq im außerchristlichen Sprachgebrauch allgemein die Wiederherstellung eines früheren Zustands, z. B. die Wiederherstellung der Gesundheit eines Erkrankten (-»Heilung), die Wiederherstellung einer bestimmten Gestirnkonstellation im zyklischen Rhythmus kosmischer Zeitabläufe, die Rückerstattung von Vermögensobjekten, die Rückkehr von Gefangenen oder Verbannten in ihre Heimat oder auch — in neuplatonischer wie gnostischer (-»Gnosis/Gnostizismus) Tradition - die Rückkehr der in die Materie verbannten -»Seele in das ursprüngliche Lichtreich (v. Balthasar, Apokatastasis). Im Neuen Testament ist nur in Act 3,21 ausdrücklich von einer änoKaxcunaaig nävxcov die Rede, wobei jedoch der gemeinte Sinn nicht eindeutig zu ermitteln ist: geht es um die Wiederherstellung (Erneuerung, Wiederholung) dessen, was -»Gott durch die Propheten verkünden ließ, oder geht es um eine Wiederbringung aller Dinge im genannten eschatologischen Sinn? Es kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, daß das Präfix „äjio-", „ r e - " bzw. „Wieder-" im Unterschied zu einem für typisch jüdisch-christlich gehaltenen teleologischen Geschichts- und Heilsverständnis eher ein zyklisches (im Sinne einer Wiederkehr des Gleichen) oder ein regressives Geschichtsund Heilsverständnis nach dem Schema Endzeit = Urzeit nahe legt. Ähnliche geschichtstheologische Bedenken ergeben sich im Blick auf den nach Eph 1,10 gebildeten Ausdruck avaKE^>aXai(oaiQ bzw. recapitulatio im Sinne einer bloßen Wiederholung unter Vernachlässigung der Bedeutung von -»Geschichte zwischen np&xov und eoxaxov, zwischen Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung) und Erlösung; diese kann nicht einfach nur als Summierung oder Zusammenfassung, gar lediglich als Addition von Disparatem zu einer Einheit verstanden werden, wenn sie einen Sinn haben und nicht ein im Grunde obsoleter

Wiederbringung aller

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Umweg zum eaxaxov sein soll. Der in Anlehnung an Kol 1,20 verwendete Terminus „Allversöhnung" {änoKazallä^ai rä Ttdvra) ist zwar nicht diesem Bedenken gegenüber einer Geschichtsnivellierung ausgesetzt; aber er zieht den kritischen Vorwurf auf sich, unter Umgehung des Gerichtsgedankens nicht deutlich genug zwischen einer nicht gemeinten -»Versöhnung aller mit allem und jedem - einschließlich des -»Bösen bzw. des Üblen - und einer gemeinten Erlösung vom Bösen bzw. Üblen unterscheiden zu können, mit dem als solchem keine Versöhnung möglich ist. Insofern bietet sich eher der neuerdings favorisierte Begriff „Allerlösung" an (Janowski), um z. B. auch den Widerspruch zwischen Tätern und Opfern in eschatologischer Hinsicht zu berücksichtigen. Unter dem Vorbehalt dieser Kritik steht die eschatologische Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge einerseits im Gegensatz zur geläufigen Vorstellung vom „doppelten Ausgang" der Heilsgeschichte, der zufolge nur ein (kleiner) Teil der Menschheit letztlich in das Reich Gottes eingehen, der (große) andere Teil auf ewig verdammt und somit vom Heil ausgeschlossen wird (—»Gericht Gottes). Andererseits hebt sie sich von der seltener (z.B. von -»Zeugen Jehovas) vertretenen Vorstellung von einer annihilatio ab, der zufolge es eine eschatische Vernichtung aller und alles Gottlosen statt ewiger Höllenpein (-»Hölle) und Verdammnis gleichsam „neben" dem Reich Gottes geben wird (Apk 21,8). Somit vermittelt in gewisser Weise die Vorstellung von einer annihilatio zwischen Allversöhnung und doppeltem Ausgang und ist auf diese Weise anschlußfähig an die Konzeption einer „Allerlösung" unter Beibehaltung möglicher und nötiger eschatologischer Differenzierungen. Da es sich aber nach Apk 21,8 um einen endgültigen Heilsausschluß gottloser Menschen und nicht nur gottwidriger Taten oder Sachverhalte handelt, spricht vieles dafür, die Vorstellung von einer annihilatio als eine Variante der Vorstellung vom doppelten Ausgang zu verstehen. In Abgrenzung schließlich von einem im übrigen verwandten Heilsuniversalismus betont die Vorstellung der Wiederbringung aller Dinge, daß es im Unterschied zu heilspartikularistischen Perspektiven nicht nur um ein an alle gerichtetes Heilsangebot im Modus der Möglichkeit, sondern um die faktische Durchsetzung und Verwirklichung universalen Heils insbesondere aufgrund der allmächtigen -»Liebe und -»Gnade Gottes und der effektiven Versöhnung der Welt in -»Jesus Christus geht, der ausnahmslos für alle gestorben ist. 2. Biblische und theologiegeschichtliche

Bezüge

Insbesondere in pietistisch und evangelikal geprägten Kreisen ist die biblische Begründung einer Wiederbringung aller Dinge umstritten (Swarat; Wilder-Smith), obwohl besonders der schwäbische -»Pietismus des 18. und 19. Jh. eine Reihe namhafter, biblizistisch argumentierender Vertreter dieser Vorstellung hervorgebracht hat (J.A. -»Bengel; F. Chr. -»Oetinger; J . M . - » H a h n ; vgl. Groth). In Frage kommende Bezugsstellen sind etwa Kol 1,15-20; Eph 1,10; M k 10,45; M k 14,22-25; I Tim 2,3ff.; 4,10. Trotz des insgesamt uneinheitlichen Befundes im Corpus Paulinum kann aber auch Rom 11,32 herangezogen werden. Alttestamentliche Belege gibt es trotz allen heilsuniversalen Perspektiven in nachexilischen Traditionen (Deuterosacharja [-»Sacharja/Sacharjabuch]; -»Jona/Jonabuch; Weisheitstheologie [-»Weisheit]) nicht, es sei denn in allegorisierender Interpretation z.B. des Erlaß- oder Halljahres in Lev 25,8-12a oder vor dem Hintergrund einer (problematischen) Motivtransposition etwa von Jes 61,2 zu Lk 4,l8f. Somit lassen sich zwei wenn auch quantitativ unterschiedlich ausgeprägte, sachlich nicht miteinander zu einem einheitlichen eschatologischen Konzept harmonisierbare Heilsperspektiven in den Schriften des Neuen Testaments nachweisen: Wiederbringung aller Dinge und doppelter Ausgang bzw. annihilatio, die sich unter logischen Gesichtspunkten wechselseitig ausschließen. Versuche, beide Vorstellungen einander anzugleichen (Michaelis), indem z.B. vor dem Hintergrund der mehrdeutigen Semantik von aicbviot; („ewig" im quantitativen Sinn von langer, aber begrenzter -»Zeit, oder im Sinne unendlich langer Zeit oder auch im qualitativen Sinn von „endgültig") die Zweiteilung in Gerettete und Verworfene als

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vorläufig und die Wiederbringung aller Dinge als letztes Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen verstanden, oder aber indem eine allgemeine Wiederbringung aller Dinge als Heilsmöglichkeit, der doppelte Ausgang aber als (partielle) Heilswirklichkeit aufgefaßt wird, sind aus exegetischen Gründen ebenso wenig haltbar wie die Unterscheidung zwischen einer Oberflächen- (doppelter Ausgang) und einer Tiefensemantik (Wiederbringung aller Dinge) im neutestamentlichen Sprachgebrauch, die letztlich nur nach willkürlichen Kriterien getroffen werden kann. Schließlich führen auch historische Überlegungen — etwa angesichts des Befundes, daß sich Tendenzen zu einer Wiederbringung aller Dinge in sehr frühen, vielleicht sogar vorpaulinischen Traditionen des Neuen Testaments finden (Christushymnen; Eulogien; Tauf- und Abendmahlsformeln), wie sie insbesondere im hellenistisch geprägten Urchristentum entstanden sind (Rosenau, Allversöhnung 104f.), wohingegen sich die deutlichsten Aussagen zum doppelten Ausgang in überwiegend späten Schichten des Neuen Testaments finden, wie sie vor allem im jüdisch-apokalyptisch geprägten Christentum entwickelt worden sind - nicht zu einer eindeutigen Präferenz. Denn abgesehen von einem unterschiedlichen „Sitz im Leben" (gottesdienstliche Feier dort, Mission und Paränese hier) ist weder das zeitlich Frühere notwendig das auch sachlich Maßgebende, noch ist das zeitlich Spätere eo ipso als Abweichung oder Erstarrung zu disqualifizieren. Das Frühere kann durchaus auch das sachlich noch Unausgereifte, das Spätere das sachlich Geläuterte und insofern Verbindliche sein. So ist es vor dem Hintergrund eines uneinheitlichen bis widersprüchlichen Befundes im Neuen Testament verständlich, daß im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte immer wieder andere Wege beschritten worden sind, um eine Wiederbringung aller Dinge zu begründen. Während die Lehre des Universalismus (Heilsuniversalimus) im allgemeinen konfessionsunspezifisch ist, wird sie von den meisten -»Unitariern als fundamentales Element ihrer Lehre angesehen. In typologisierender Vereinfachung lassen sich hier drei unterschiedliche Wege voneinander abheben, wobei es faktisch immer wieder auch Mischformen gegeben hat: 1) Ein besonders in neuplatonischer (—»Neuplatonismus) Tradition mit ihrem monistischen Seinsverständnis (—»Orígenes; -»Johannes Scottus Eriugena) beschrittener metaphysischer Weg (-»Metaphysik) k o m m t aufgrund eines vernünftigen Bedenkens des Wesens Gottes als Liebe und Güte, der von Gottes -»Vorsehung und Pädagogik gelenkten menschlichen -»Freiheit zum Guten und der -»Unsterblichkeit der Seele im Kontext einer Äonenspekulation zu dem Ergebnis, daß am Ende aller Weltzeiten für alle gleichermaßen das Heil stehen wird. 2) Daneben gibt es einen der neuzeitlichen Metaphysikkritik Rechnung tragenden transzendentalen Weg, der aufgrund einer Analyse des spezifisch christlichen Selbstbewußtseins als notwendiger Bedingung der Möglichkeit eschatologischer Aussagen, des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit" (F.D.E. -»Schleiermacher) auch und gerade in bezug auf die Erlösung, ein starkes relationsontologisches Argument („Mitgefühl") für das eschatische Heil aller Menschen entwickelt (vgl. insbesondere Schleiermacher; N.A. -»Berdjajew). 3) Schließlich gibt es auch immer wieder christologisch argumentierende Entwürfe, die versuchen, die Vorstellung der Wiederbringung aller Dinge verbindlich zu machen oder sie zumindest (wie z. B., wenn auch umstritten, bei K. —»Barth, aber auch schon bei Chr. -»Blumhardt) nahezulegen, um die Wirklichkeit der Versöhnung der Welt mit Gott durch Jesus Christus gemäß der -»Erwählung Gottes für alle in Anspruch nehmen zu können. Allerdings verlieren diese Versuche oft aufgrund unkritischer erkenntnistheoretischer Voraussetzungen und hermeneutischer Unbekümmertheit hinsichtlich universaler Aussagen über die —»Welt als ganze oder innerer Unstimmigkeiten an Überzeugungskraft. Daher hat sich nicht zuletzt mit Blick auf „offizielle" Entscheidungen gegen die Lehre einer Wiederbringung aller Dinge - z. B. auf dem 5. Ökumenischen Konzil 553 n.Chr.

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(-•Konstantinopel, Ökumenische Synoden II) gegen Origenes bzw. die Origenisten; in CA XVII zur Abwehr von —•Chiliasmus und Schwärmertum (-»Schwärmer) - oder andere dogmatische Vorentscheidungen (-»Athanasianisches Symbol) eine verbindlich profilierte Lehraussage zugunsten einer Wiederbringung aller Dinge nicht durchsetzen können, auch wenn sie immer wieder mit guten theologischen, christologischen und auch seelsorglichen Gründen in Erwägung gezogen worden ist. Diese Gründe machen insbesondere geltend, daß diese Lehraussage sich nicht in den Aporien eines eschatologischen -»-Dualismus verfängt, sondern bei allen inhaltlich unterschiedlichen Bestimmungen von Heil und Erlösung ein begründetes soteriologisches und eschatologisches Konzept zur Erfassung der Einheit alles Wirklichen bietet, die sowohl überzeitlich-statisch (wie in der -»Mystik) als auch geschichtlich-evolutiv (wie in der -»Prozeßtheologie/ Prozeßphilosophie) erreicht werden kann; daß sie entschieden das Wesen Gottes als Liebe zur Geltung bringt, mittels der Unterscheidung zwischen Tat und Täter, Werk und -»Person den Sinn der -»Vergebung der Sünden deutlich macht und angesichts der universalen, zeitlich wie räumlich uneingeschränkten Bedeutung von -»Tod und -»Auferstehung Jesu Christi konsequent die allgemeine Angewiesenheit der Menschen auf das sola gratia zu ihrem Heil unterstreicht. So zeichnet sich bis in die gegenwärtige Diskussion hinein ein mehrheitlich vertretener dritter Weg (neben definitiver Ablehnung oder Behauptung) ab, der zwar die Vorstellung einer Wiederbringung aller Dinge nicht als dogmatisch verbindliche -»Lehre vortragen, aber doch als Ausdruck christlicher -»Hoffnung - auch modifiziert zur Erwartung eschatischer Sinntotalität - gelten lassen möchte (Pannenberg; Moltmann; Härle). Mag mit diesem Kompromiß auch ein problematisches Verständnis des Verhältnisses von -»Glaube und Lehre verbunden sein, so ist er doch als Versuch zu respektieren, einerseits der leitenden Tradition mit ihrer Ablehnung der Lehre einer Wiederbringung aller Dinge, aber andererseits auch dem eigenen Denken gerecht zu werden, ohne den Eindruck zu erwecken, in Gottes Geheimnisse hybriderweise eingreifen und mit fragloser Gewißheit eine Wiederbringung aller Dinge gleichsam im Modus der Notwendigkeit behaupten zu wollen. Eine Variante dieses Kompromisses ist die Transformation der dogmatischen Frage nach der Möglichkeit einer Wiederbringung aller Dinge in eine existenztheologisch (im Anschluß an S. -»Kierkegaard) gefaßte Betroffenheit, der zufolge der Ernst des Gerichts ausschließlich auf sich selbst bei gleichzeitiger Überzeugung von der ewigen Seligkeit aller anderen bezogen wird (Jungclaussen). Möglicherweise ist es gerade dieser Anschein von Notwendigkeit, der konfessionsübergreifend zur Ablehnung, gar Anathematisierung der Lehre von der Wiederbringung aller Dinge geführt hat, ohne jedoch damit pauschal alle denkbaren „Modelle" dieser Konzeption zu treffen (Janowski). Insbesondere die Auseinandersetzung um K. Barths heilsuniversale Affinität zur Vorstellung einer Allversöhnung bei gleichzeitiger Ablehnung dieses Ausdrucks oder analoger Formulierungen hat deutlich gemacht, daß es in erster Linie der Anspruch auf Notwendigkeit ist, der die Vorstellung einer Wiederbringung aller Dinge in Mißkredit bringt. Ob es aber eine alternative und dann auch im Blick auf verbindliche Lehre akzeptable Form dieser eschatologischen Vorstellung geben kann, hängt nicht zuletzt von der Möglichkeit ab, die immer wieder geäußerten Einwände gegen diese Lehre auf dem Boden eines stimmigen Konzepts einer Wiederbringung aller Dinge zu entkräften. 3. Systematische

Profilierung

Zu diesen Einwänden gehört vor allem der Vorwurf, die Lehre einer Wiederbringung aller Dinge vergreife sich mit einer Tendenz zum —»Pantheismus an dem uns unzugänglichen Geheimnis Gottes, der sich in seiner Majestät und Souveränität nicht nach menschlichen Erwartungen oder menschlicher Logik zu richten habe. Aber auch die Befürchtung, diese Lehre übergehe die von Gott verliehene und als Grundzug von Personalität wie -»Verantwortung zu achtende Freiheit der Menschen, mit der sich diese auch gegen Gott und das von ihm angebotene Heil kehren können, wird immer wieder vorgetragen.

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Flankiert werden diese Hauptkritikpunkte durch ethische und missionstheologische Überlegungen: verführt die Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge nicht zu einem leichtsinnigen Libertinismus angesichts der vermeintlich unverlierbaren Garantie ewigen Heils? Erlahmt nicht auch das Motiv zur -»Mission, wenn unabhängig von der subjektiven Annahme des objektiv von Gott verwirklichten Heils dieses ausnahmslos allen zuteil werden sollte? Und welchen Sinn kann das geschichtliche Handeln und Engagement der Menschen noch haben, wenn dieses so oder so nur zu einem einzigen heilsgeschichtlichen Ziel führen kann, nämlich zu einer Wiederbringung aller Dinge? Neben diesen gravierenden inhaltlichen Bedenken gibt es aber auch ein formales: ist es ratsam und zuträglich, gerade auch im Blick auf den ökumenischen Dialog (-> Ökumene) eine Lehre zu vertreten, die von der Kirche bzw. den Kirchen als Häresie beurteilt worden ist? Zudem wird die Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge gegenwärtig insbesondere gegenüber einer strukturalistischen bzw. postmodernen (—•Postmoderne) Bestreitung von Einheitskonzeptionen jeglicher Art nur schwer zu vermitteln sein. Solche Gegengründe geben nicht zuletzt Anlaß, sich sowohl methodisch über die Hermeneutik eschatologischer Aussagen im besonderen zu verständigen als auch den dogmatischen Kontext der Vorstellung einer Wiederbringung aller Dinge im allgemeinen zu bedenken, der nahezu alle Themenkreise der -»Dogmatik betrifft und hier zu erheblichen Revisionen zwingt. Dem Bedenken, unzulässigerweise in die Geheimnisse Gottes einzudringen und ihm gleichsam Vorschriften für sein eschatisches Handeln zu machen, wenn eine Wiederbringung aller Dinge angenommen oder gar gelehrt wird, sind insbesondere metaphysische, aber auch christologische Begründungen ausgesetzt, indem sie zum einen über das äonendauernde Zusammenwirken von göttlicher Güte und Freiheit des Menschen, zum anderen über eine supra- oder infralapsarische Erwählung aller in Christus vor dem Hintergrund einer Deszensus-Christologie (v. Balthasar, Diskurs; Moltmann) in eine unausgeglichene Spannung zwischen Güte und ->• Gerechtigkeit Gottes bzw. zwischen Christus als dem Retter und Christus als dem Richter geraten. Stellt man sich dagegen methodisch auf den Boden anthropologischer Argumentation mit Blick auf dasjenige, was sich aufgrund von menschlichem Denken und menschlicher Erfahrung durchaus verbindlich, aber lediglich quoad nos und nicht an sich eschatologisch sagen läßt, kann dem Anliegen dieses Einwandes weitgehend Rechnung getragen werden. Dann erhält die eschatologische Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge den modallogischen Status einer für uns verbindlichen Denkmöglichkeit. Sie gewinnt dadurch an auch lehrmäßig umsetzbarer Entschiedenheit, daß die alternative Vorstellung vom doppelten Ausgang zwar nicht als unmöglich, aber doch als für uns schlechter begründbar abgewiesen wird. Das hier nutzbare anthropologische Fundament ist nach den neutestamentlichen Vorgaben, die im Zusammenhang eschatologischer Themen implizite oder explizite Aussagen über den Menschen und seine Beteiligung am eschatischen Heilsgeschehen machen, das der soteriologischen Ohnmacht (Rosenau): die Unfähigkeit des Menschen, angesichts des Handelns Gottes für sein eschatisches Heil verantwortlich mitzuwirken oder es von sich her ins Werk zu setzen, wird von einschlägigen neutestamentlichen Bezugsstellen (z.B. Mk 10,45; 14,24; Rom 11,32; aber auch 1 Kor 15,23 - 28) für eine Wiederbringung aller Dinge nahegelegt. Im Gegenzug sprechen die für die Vorstellung vom doppelten Ausgang relevanten neutestamentlichen Passagen dem Menschen strukturell eine gewisse eschatische Verantwortlichkeit bzw. soteriologische Macht zu. Wenn nun unter der Voraussetzung einer vollständigen Disjunktion zwischen soteriologischer Macht und Ohnmacht einerseits sowie zwischen den korrelierenden eschatologischen Vorstellungen vom doppelten Ausgang und der Wiederbringung aller Dinge andererseits der anthropologische Grundsatz von der soteriologischen Ohnmacht aus theologischen wie philosophischen Gründen überzeugender ist als sein Gegenstück, dann läßt sich die eschatologische Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge auf dieser Basis unter Ausschluß der Alternativvorstellung als für uns verbindliche Denkmöglich-

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keit transzendentaltheologisch, mit Blick auf die notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit, sofern sie im menschlichen Denken bzw. Bewußtsein gesetzt sind, postulieren. Wiederbringung aller Dinge meint dann als transzendentaltheologisches Postulat das für uns verbindlich denkmögliche universale eschatische Heil als Gnade. Die im Blick auf eine Lehre von der doppelten -»Prädestination ebenfalls mögliche Kombination von soteriologischer Ohnmacht des Menschen einerseits mit der Erwartung eines doppelten Ausgangs am jüngsten Tag andererseits würde dann methodisch als transzendent, d.h. die Möglichkeiten menschlichen Denkens überschreitend ausgeschieden. Aufgrund der methodischen Rückführung eschatologischer Aussagen auf anthropologische Bestimmungen wie in diesem Fall die der soteriologischen Ohnmacht, kann auch der Einwand gegen die Annahme einer Wiederbringung aller Dinge relativiert werden, der auf die Freiheit und damit auf eine eschatische Verantwortung des Menschen für den doppelten Ausgang rekurriert. Denn eine eschatisch relevante, mithin absolute oder unbedingte Freiheit ist keine Möglichkeit soteriologisch ohnmächtiger Menschen, die nur über einen Spielraum endlicher Freiheit verfügen, aus dem keine unendlichen (eschatischen) Konsequenzen (ewiges Leben/ewige Verdammnis) abgeleitet werden können. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß sich Menschen als Freiheitswesen dem Heilswillen Gottes verschließen, und eine solche Entscheidung ist auch aus Gründen der Achtung vor der Person zu respektieren. Aber näher betrachtet verschließen sich diese Menschen nicht wissentlich und willentlich dem als solchen unmittelbar wahrgenommenen und dann gleichsam sehenden Auges abgelehnten Heilswillen Gottes, um sich somit selbst vom ewigen Leben auszuschließen. Sondern sie verschließen sich nur gegenüber der Art und Weise, wie ihnen dieser Heilswille - durch -»-Predigt, -»Verkündigung, Mission etc. — vermittelt wird. Insofern wird durch die verbindliche Annahme einer Wiederbringung aller Dinge auf dem Boden anthropologischer Grundsätze nicht der Respekt vor der persönlichen -»Entscheidung zugunsten eines vermeintlichen Heilsautomatismus geschmälert, sondern gerade dadurch gewahrt, daß er immer wieder Anlaß zur Selbstkritik hinsichtlich der Frage nach geeigneten, glaubwürdigen Vermittlungsformen für die Verkündigung des Evangeliums gibt. Daher wird durch die Annahme einer Wiederbringung aller Dinge entgegen der Warnung ihrer Kritiker auch die christliche -»Ethik ebensowenig obsolet wie die Mission. Denn beides kann als „darstellendes Handeln" (Schleiermacher) durchaus eine geeignete Vermittlungsinstanz für die Botschaft von der Wiederbringung aller Dinge als Eröffnung einer neuen, angstfreien Lebensperspektive sein, wenn sie z. B. aus Dankbarkeit gegenüber Gottes Heilshandeln (und nicht aus Sorge um das von Gott bewirkte eigene oder fremde Seelenheil) motiviert ist und im Blick auf die allgemeine soteriologische Ohnmacht des Menschen von Solidarität und Vergebungsbereitschaft geprägt ist (Spiegel). Eine solche ethische und missionarische Haltung muß nicht zu Gleichgültigkeit oder kritikloser Akzeptanz von allem und jedem führen, da sie gerade um des Zeugnisses von der (All-)Versöhnung willen kritisch zwischen Täter und Tat, Person und Werk zu unterscheiden vermag. An dieser Stelle kann auch die Vorstellung von einem jüngsten Gericht Gottes innerhalb der eschatologischen Konzeption einer Wiederbringung aller Dinge sinnvoll einbezogen werden. Gerade vor dem Hintergrund der ernsten Warnung, nicht den Unterschied zwischen Tätern und Opfern zu nivellieren, erhält z. B. das Votum des Ethikers, Widerstandskämpfers und Märtyrers D. -»Bonhoeffer für eine Wiederbringung aller Dinge besondere Eindrücklichkeit (Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der H a f t , hg. v. Eberhard Bethge, München 1970, 190 [Brief vom 18. Dezember 1943]). Hier äußert sich die Gewißheit, daß menschliches Handeln im „Vorletzten" auch „letztlich" nicht vergebens ist oder angesichts eines monistischen Ziels der Geschichte Gottes mit den Menschen vergleichgültigt oder überflüssig wird. Vielmehr bietet die eschatologische Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge den geschichtstheologischen —»Trost, daß unser Handeln in der Welt bei aller Gefährdung durch —»Schuld und Irrtum in einem heilsuniversalen Sinn gehalten

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wird und nicht (ungewollt) Ursache für endgültiges Verlorensein des Getanen ist, sondern zur bleibenden „Essentifikation" (P. Tillich) kommt, in der Wesentliches von Unwesentlichem geschieden wird. Insofern kann die christliche Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge als geschichtstheologische Umsetzung einer antiken (platonischen) —»Ontotogie interpretiert werden, der zufolge Sein im emphatischen Sinn als unvergängliche Anwesenheit aufgefaßt wird. Mag die eschatologische Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge damit auch der Problematik einer „Hellenisierung des Christentums" (A.v. ->Harnack) unterliegen und von maßgeblichen kirchlichen Traditionen als häretisch abgewiesen worden sein, so ist sie doch im ursprünglichen Sinne des Wortes keine Häresie (aipeaiQ = Scheidung, Unterscheidung, Abtrennung), weil sie niemanden vom eschatischen Heil ausschließt. Literatur Hans Urs v. Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle - Apokatastasis, Freiburg i.Br. 1987 1999. - Ders., Apokatastasis: T T h Z 97 (1988) 169-182. - Ernst Benz, Der Mensch u. die Sympathie aller Dinge am Ende der Zeit (nach Jacob Boehme u. seiner Schule): Erjb 24 (1955) 133-197. Martin Bieler, Der Grund der Gelassenheit. Die Frage nach der Allversöhnung als Weg zu Gott: GuL 60 (1987) 23 - 39. - Wilhelm Breuning, Zur Lehre v. der Apokatastasis: IKaZ 10 (1981) 19-31. - Friedhelm Groth, Die „Wiederbringung aller Dinge" im württembergischen Pietismus, Göttingen 1984. - Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995 22000, 610- 628. - Reinhart Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt. Zu einer Theol. der universalen Versöhnung, Darmstadt 1993. - J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, 2 Bde., Neukirchen-Vluyn 2000 (Lit.). - Emmanuel Jungclaussen, „Die Wiederbringung aller Dinge". Allversöhnung oder ewige Hölle?: US 57 (2002) 304- 310. - Wilhelm van Laak, Allversöhnung. Die Lehre v. der Apokatastasis. Ihre Grundlegung durch Origenes u. ihre Bewertung in der gegenwärtigen Theol. bei Karl Barth u. Hans Urs v. Balthasar, Sinzig 1990. - Wilhelm Michaelis, Versöhnung des Alls, Gümlingen 1950. - Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes, Gütersloh 1995, 262-284. - Gotthold Müller, Apokatastasis panton. A Bibliography, Basel 1969. - Ders., Ungeheuerliche Ontologie. Erwägungen zur christl. Lehre über Hölle u. Allversöhnung: EvTh 34 (1974) 256 - 275. - Franz Mußner, Die Idee der Apokatastasis in der Apostelgesch.: ders., Praesentia Salutis. GSt zu Fragen u. Themen des NT, Düsseldorf 1967, 223 -234. - Wolfhart Pannenberg, Syst. Theol., Göttingen, III 1993, bes. 490- 501. - Hartmut Rosenau, Allversöhnung. Ein transzendentaltheol. Grundlegungsversuch, 1993 (TBT 57) (Lit.). - Ders., Art. Allversöhnung: RGG 4 1 (1998) 322-323. - Leo Scheffczyk, Scheidung oder Rettung aller? Die Lehre vom Endschicksal des Menschen: NOrd 37 (1983) 414-424. - Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns, München 1989. - Ernst Staehelin, Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi. Zeugnisse aus allen Jahrhunderten u. allen Konfessionen, 7 Bde., Basel 1951-1965. - Konrad Stock, Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt, München 1971. - Uwe Swarat, Heilsuniversalismus u. ewige Verdammnis: Jb. f. evangelikale Theol., hg. v. Helmut Burchardt/Helge Stadelmann, Wuppertal 1987. - Arthur E. Wilder-Smith, Allversöhnung. Ausweg oder Irrweg?, Neuhausen-Stuttgart 1977 z1985. 3

Hartmut Rosenau

Anhang 1. Register 1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2. Mitarbeiter 2.1. Autoren 2.2. Ubersetzer 2.3. Registerbearbeiter 3. Artikel-und Verweisstichwörter 4. Karten 5. Bildquellen 6. Corrigenda

1. Register 1.1. Bibelstellen (bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Zur Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle vorkommt bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen.

lf. 1,1 1,14 1,26 f. 1,27 1,31 2 f. 2,7 3 3,1 3,1-6 3,22 6,1.4 8,21 10 10,9 10,11 12,2 f.

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Welt/Weltanschauung/ Weltbild Welt/Weltanschauung/ Weltbild Welt/Weltanschauung/ Weltbild Weisheit/Weisheitsliteratur Vollkommenheit Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versuchung Versuchung Versuchung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Weisheit/ Weisheitsliteratur Versöhnung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Weisheit/Weisheitsliteratur Volk Versuchung

571,39 538,43: 569,29; 584,5 571,42 570,34 501,15 273,21 501,17 588,34 47,8; 49,7 56,24 47,4 570,36 575,13 17,16 575,47 487,45 206,17 55,41

15,1.12 15,5 f. 15,6 18

Vision Vertrauen Versuchung Weisheit/Weisheitsliteratur Volk Versuchung

126,32 73,32 46,26 575,23

197,37 46,7.24. 44.48; 55,38. 49.54; 58,46; 59,20 22 Wahrheit/Wahr- 339,42 haftigkeit 22,2 Versuchung 46,16 22,8 Vorsehung 303,22 Versuchung 46,17 22,12 22,14 Versuchung 46,18 Wahrheit/Wahr- 338,3 24,28 haftigkeit 22-33 Vision 126,29 27.32 f. Versöhnung 16,16 28,12.17 575,27 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versöhnung 31 16,16 Volksfrömmig- 219,4 31 keit 31,24-32,1 Versöhnung 16,35 32,21 Versöhnung 16,34; 17,20 32,27 Versuchung 57,5 32,31 Vision 127,5 33 Versöhnung 16,32 16,14 37.39Versöhnung 45.50 37.39-50 Weisheit/Weis487,27 heitsliteratur 19,1 ff. 22

782

Bibelstellen

12,14 14,13.31 15.24 16.4

Versöhnung Versöhnung Versöhnung Versöhnung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vision Vorsehung Vision Vollkommenheit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wallfahrt Vision Versuchung Versuchung

17 17,1-7

Versuchung Versuchung

17,7 19,5 f. 19,8 20, Iff. 20,6 par. 20,13 20,20 21,16 21,1822,16 21,29 22.21 f. 23,7

Versuchung Werke Werke Werke Versöhnung Versuchung Versuchung Versöhnung Versöhnung

37.42 42-44 43 f. 45.50 50,20 Ex

3,1-4,18 3,14 6,1-12 12,5 12,12

23,17

Num

Versöhnung Waisenhaus Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wallfahrt

16,22 16,18 16,24 16,20 570,19 127,12 305,41 127,15 273,38 571,5 416,48 126,49 45,32 45,6; 48,30 44,14 45,17. 21.30; 46,3; 56,39 45,35.47 625,8 625,50 626,3 17,11 55,41 45,13 16,19 16,46 16,48 380,9 346,31

417,1.17; 419,6 24,1.9-11 Vision 126,34 29,11-16 Versöhnung 17,19 30,7 Weihrauch 474,30 30,34-38 Weihrauch 474,29 32,26-29 Versuchung 45,20.21 34,23 Wallfahrt 417,2.17 34,25 Wallfahrt 416,47 34,33-35 Vision 121,15 2,2.9.12 Weihrauch 474,34 ll,44f. Vollkommenheit 274,4 19,17f. Versöhnung 17,7 19,18 Werke 626,4; 629,13 Wallfahrt 23,39.41 416,42 24,7 Weihrauch 474,36 25,8-12 Wiederbringung 775,42 aller 12,6-8 Vision 127,17 14,22 Versuchung 45,42 18,20 Weisheit/Weis501,27 heitsliteratur 22-24 Vision 126,36 23,19 Wahrheit/Wahr- 338,44 haftigkeit 24,3 f. Vision 126,38 30,13 Weisheit/Weis499,51 heitsliteratur

Dtn

35,31 f. 4,34 6,4 6,4 f. 6,14 f. 6,16

Versöhnung Versuchung Weisheit/Weisheitsliteratur Wahrheit/Wahrhaftigkeit Versuchung Versuchung

17,3 44,14 504,8 341,3

45,49 48,35; 49,40 7,9 Wahrheit/Wahr- 339,10 haftigkeit 8,2-6 Versuchung 45,1.14.36; 46,21; 48,3 8,3 47,7; Versuchung 49,40 8,16 Versuchung 44,51 12,5 Volksfrömmig- 219,24 keit Wahrheit/Wahr- 339,30 13,3-6 haftigkeit 13,4 Versuchung 44,48 13,7 Weisheit/Weis500,1 heitsliteratur 14,28 ff. Waisenhaus 380,13 Wallfahrt 16,16 416,38; 417,2.18; 419,6 Vollkommenheit 273,39 18,13 18,21 f. Wahrheit/Wahr- 339,28 haftigkeit 20,10 Völkerrecht 177,47 20,19 Weisheit/Weis503,14 heitsliteratur 22,4 Weisheit/Weis503,30 heitsliteratur Wahrheit/Wahr- 339,9 32,4 haftigkeit 33,8 Versuchung 45,16.21 33,9 Versuchung 45,18 34,6 Volksfrömmig- 220,50 keit 2,22 Jdc Versuchung 44,37.42. 45.52; 45,36 21,19-23 Wallfahrt 416,30 417,11 Wallfahrt I Sam 1,3 ff. 2,6 Welt/Welt578,19 anschauung/ Weltbild 578,2 2,8 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 9,9.11.18 f. Vision 124,37.40 9,1 Iff. Wallfahrt 417,12 10,5.10 Vision 124,52 Vision 10,19 124,50 Werke 15,22 f. 629,11 Versuchung 17,39 44,21 Welt/Welt569,37 17,46 anschauung/ Weltbild Wallfahrt 417,14 20,28 f. Werke 626,8 24,20 II Sam 7,28 Wahrheit/Wahr- 339,22 haftigkeit Vision 24,11 124,38

Bibelstellen I Reg 2,9 3,16-28 4,20 5,4 f. 8,26 8,27 8,41-43 9,5-14 10,1 10,6 18,41-46 18,42 19,11 £. 19,15-18 22 II Reg 10,1 12,16 13,20 f. Jes

1,1 1,3

1,17 2,2 2,2-4 3,9 6,1-13 6,2 7,9 8,11 11,1

11,5 21,1-10 25,1 26,11 29,16 33,6 37,36

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/ Weltbild Weisheit/Weisheitsliteratur Wallfahrt Weisheit/Weisheitsliteratur Versuchung Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Vision Vision Vision Vision Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Volksfrömmigkeit Vision Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt Waisenhaus Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wallfahrt Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Weisheit/Weisheitsliteratur Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Vorsehung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vorsehung Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild

578,12

40,6-8

486,53 486,53 487,1 578,37 572,10 418,1 486,52 44,24 338,7 124,53 131,23 125,1 125,3 125,19 338,13

Jer

338,11 219,32 124,44 471,3

380,10 579,2 417,50 352,28 125,16 575,20 339,39

Ez

125,44 471,4

125,36 303,32 578,50

571,4

Wahrheit/Wahr- 339,31 haftigkeit Vision 125,24

41,15.21-29 41,4 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 43,9 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 44,9-20 Weisheit/Weisheitsliteratur 44,24 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 45,7 Vorsehung Vorsehung 49,1.5 52,6-10 Versöhnung 52,13Versöhnung 53,12 55,8-11 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 61,2 Wiederbringung aller 65,17 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 1,4-10 Vision 1,5 Vorsehung 1,11.13 Vision 6,20 Weihrauch 10,10 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 10,12 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 10,16 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 14,13 Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision 18,18 24,1-10 Vision 28,9 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 1 , 1 5 - 1 7 Wallfahrt 31,29 Weisheit/Weisheitsliteratur 1-3 Vision

11 11,23 18,23 27,4.2527

339,21

303,13 338,28

783

37 38,12 Hos

4,1 ff.

Joel

3,1 3,1 f. 3,1-5

346,16 339,15 506,13 538,43 303,15 303,12 19,48 19,48 339,31 775,43 578,47 125,14 303,12 125,31 474,28 346,9.11 569,38 569,38 338,4 125,9 125,31 339,26 422,44 487,51 125,37; 126,7; 129,1; 131,1.22 126,6 422,12 303,55 570,46

Vision Wallfahrt Vorsehung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vision 126,7 Welt/Welt578,29 anschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahr- 338,31 haftigkeit Vision 127,22; 135,34 Vision 127,27 Vision 142,35

784 Am

Mi Hab Sach

Bibelstellen 4,1 f. 3,8 5,21-23 7,1.4.7 7,1-8.9 7,1-9,6 8,1 6,8 3,3-15 1,7-6,8 4,1 £. 8,16

Mal

14,4 14,16 3,20

Ps

1

2,4 5,10 8,6 18,31 19,10-15 26,2 31,6 37,16 40,11 47,8 57,11 68,4 68,6 68,31 72 78 78,8.37 82,3 85,Iii. 86,15 89,3 89,15

Wallfahrt Vision Wallfahrt Vision Vision Vision Vision Vorsehung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vision Vision Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wallfahrt Wallfahrt Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vollkommenheit Weisheit/Weisheitsliteratur Versuchung

422,14 125,27 416,30 124,48 125,6 125,32 125,30 304,48 584,42

91

126,15 119,9 338,33 422,13 418,3.9 456,43

487,26; 490,9; 492,25; 520,41 572,48 339,8 570,36 Hi 273,47 520,42

46,32; 57,51 Wahrheit/Wahr- 338,46 haftigkeit Weisheit/Weis488,36 heitsliteratur Wahrheit/Wahr- 338,47 haftigkeit Vorsehung 303,14 Wahrheit/Wahr- 374,40 haftigkeit Westindische 700,51 Inseln Waisenhaus 380,7 Westindische 701,1 Inseln Weisheit/Weis487,3 heitsliteratur Versuchung 45,43.52 Wahrheit/Wahr- 339,43 haftigkeit Waisenhaus 380,8 Wahrheit/Wahr- 339,6 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 339,8 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 339,5 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 339,6 haftigkeit

Prov

Versuchung

53,42 60,40 91,4 Wahrheit/Wahr- 338,5 haftigkeit 91,11 Versuchung 56,28 91,11-13 Versuchung 49,28 94,8f. Versuchung 48,38 118,8 Vertrauen 71,34 118,27 Wallfahrt 416,3 119,19ff. Weisheit/Weis490,1 heitsliteratur 119,43.160 Wahrheit/Wahr- 339,2 haftigkeit 119,101- Weisheit/Weis520,4 108 heitsliteratur 119,142 Wahrheit/Wahr- 339,2 haftigkeit 119,151 Wahrheit/Wahr- 339,2 haftigkeit 120-134 Wallfahrt 417,2132,13 Wallfahrt 417,4 578,2i 139,8 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 139, l l f . Vorsehung 321,31 141,2 Weihrauch 475,4 146,6 Wahrheit/Wahr- 339,2 haftigkeit 146,9 Waisenhaus 380,8 148,4 Welt/Welt591,2 anschauung/ Weltbild 4,12-21 Vision 127,3 5,22f. Versuchung 49,28 10,12 Vorsehung 303,6 11,8 Welt/Welt569,3 anschauung/ Weltbild 14,1-6 Weisheit/Weis520,3 heitsliteratur 14,13 Welt/Welt578,1' anschauung/ Weltbild 17,16 Welt/Welt578,1 anschauung/ Weltbild 28 Weisheit/Weis511,3 heitsliteratur 38 f. Wahrheit/Wahr- 339,5 haftigkeit 42,1-6 Wahrheit/Wahr- 339,5 haftigkeit 42,7 f. Wahrheit/Wahr- 339,4; 340,2 haftigkeit 1-9 Weisheit/Weis488,2; heitsliteratur 489,8 38.52 492,61 494,2 1,1-7 487,61Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weis486,3; 1,7 heitsliteratur 521,3 511,3 1,20 f. Weisheit/Weisheitsliteratur

785

Bibelstellen 1,28 3,1-8 3,1-26 3,13 ff. 3,19f. 7,27 8,7 8,22-31 8,22-31 9,9 9,18 10-22 10,1 10,1-3 10,14 10,20 12,17 12,22 12,25 14,12 14,13.21 14,15 14,15 14,31 15,21 15,28 16,1-9 16,6 16,10-15 16,12 16,12.26 16,14

Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Weisheit/Weisheitsliteratur Werke Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/Welt bild Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Vertrauen Wahrheit/Wahrhaftigkeit Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Versöhnung Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Versöhnung

1 6 , 1 6 - 1 7 , 1 Weisheit/Weisheitsliteratur

511,34

16,18

520,30

17,1

489,51

17,4

492,11

19,4.7

486,29

21,2

578,15

22,1724,22 22,17ff.

338,21 511,31 631,38 486,39 578,16

22,21 23,23 23,33 25,13 28,14

489,23

28,20

489,20

29,18

491,51

30,24-28

491,9 491,10 338,8 338,30 488,13 487,52 486,34 71,38 338,32 491,32 486,41 486,41 520,29 16,39; 17,20 487,2 491,23 488,25 16,37; 17,20 489,32

Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision

Weisheit/Weisheitsliteratur Koh 3,1-9 Weisheit/Weisheitsliteratur 3,1-14 Weisheit/Weisheitsliteratur 3,1-15 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 3,11 Weisheit/Weisheitsliteratur 7,8-15 Weisheit/Weisheitsliteratur Dan 3 Versuchung 3,17f. Versuchung 6 Versuchung 7-12 Vision 8,26 Vision Neh 9,6 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 9,8 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 9,33 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 13,5.9 Weihrauch I Chr 9,22.26.31 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 16,32 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 28,2 Wallfahrt II Chr 32,31 Versuchung Bar 3,9-4,4 Weisheit/Weisheitsliteratur 3,15 Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weis4,1 heitsliteratur

488,11 488,31 488,12 488,38 491,24 482,38; 489,7 492,5 337,33; 338,40 338,37 127,34 338,9 338,35 338,10 127,32.33; 148,23 488,43 521,1 520,31 571,50 492,47 490,2 46,49 55,48 46,50 126,19 126,24 374,41 339,40 338,27 474,37 338,12 569,33 421,45 46,40 497,13 497,15 497,18

786

Bibelstellen 4,4

IV Esr 8 , 2 0 - 3 6 8,3133.35 f. äth1,2 Hen 14-36

Weisheit/Weisheitsliteratur Werke Werke

497,20

Vision

129,42

Vision

126,20; 129,42 584,50

26,4

Jdt

Jub

Welt/Weltanschauung/ Weltbild 48,1 Weisheit/Weisheitsliteratur 71 Vision 72,1 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 72,13. Welt/Welt19.25.31 anschauung/ Weltbild 7 4 , 1 0 - 1 6 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 75,3 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 82,4-6 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 97,6 Werke 102,6 Werke 1 0 8 , 1 1 - 1 5 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 8,12 Versuchung 8,25-27 Versuchung 10,8 10,8

17,15-18 19,8 II 1,5 M a k k 7,28 7,29 PsSal Sir

6,2 9,4 f. 18,8 2 2,1 4,17 26,28 44,20 44,20

Tob

12,15

Versuchung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versuchung Versuchung Versöhnung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Welt/Weltanschauung/ Weltbild Werke Werke Werke Versuchung Versuchung Versuchung Weisheit/Weisheitsliteratur Versuchung

626,32 626,27

Weish 3 3,1 3,4

497,28 129,50 582,11 582,13 582,15 582,20 582,21 626,16 626,18 585,12 48,36 45,23; 48,19.29. 33 48,50 585,7 48,56 48,17 19,30 583,44 570,12 626,52 626,50 626,53 46,34 48,26 46,34 488,44

46,26; 48,16 Wahrheit/Wahr- 339,41 haftigkeit 575,24 Weisheit/Weisheitsliteratur

Mt

Versuchung Wellhausen Weisheit/Weisheitsliteratur 3,5 f. Versuchung 3,13 Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weis4,1 heitsliteratur 7,25 f. Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weis8,1 heitsliteratur 9,15 Weisheit/Weisheitsliteratur 10,15 Weisheit/Weisheitsliteratur 10,21 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 11,9 Versuchung 12,11 Weisheit/Weisheitsliteratur 13,5 Weisheit/Weisheitsliteratur 14,2 f. Vorsehung 1 4 , 1 2 - 3 1 Weisheit/Weisheitsliteratur 19,13 Weisheit/Weisheitsliteratur 2,1-12 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2,3-6 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2 , 1 2 f . l 9 f . Welt/Weltanschauung/Weltbild 2,i6fr. Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 3,13 ff. Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 4 Versuchung

4,1-11

Versuchung

4 , 1 - 1 1 par .Vision 4 , 1 - 1 3 par .Vision Versuchung 4,3

46,36 528,10 507,1 48,27 506,51 506,52 505,51 505,44 505,38 506,28 588,33 45,23 506,32 506,8 303,5 506,14 506,35 471,5

470,36

584,27 454,29

460,26

52,52; 53,14; 56,13; 59,12; 61,28; 62,18.2 29.34 50,4; 52,51; 56,45.5 58,26; 69,10 141,23 135,12 48,52

Bibelstellen 4,5-7

Versuchung

48,41; 49,44 4,6 Versuchung 56,28 4,7 48,37 Versuchung Vollkommenheit 274,13 5,3 5,8 f. Vollkommenheit 274,17 5,8 Vision 135,28; 136,41; 138,6 5,16 Werke 631,24 5,18.34f. Welt/Welt584,4 anschauung/ Weltbild 5,20 Werke 631,28 631,29 5,21-48 Werke 5,24 Versöhnung 40,39 5,33 Wahrheit/Wahr- 340,47 haftigkeit 5,43 ff. Werke 631,49 271,14 5,45 Volksmission 5,45 Vorsehung 303,18 5,45 510,32 Weisheit/Weisheitsliteratur 5,48 Vollkommenheit 273,11; 275,25; 281,28; 282,19 631,40 5,48 Werke 6,2 631,51 Werke 6,10 585,1 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 6,13 par. Versuchung 49,2; 50,25; 52,47; 53,47 8,llf. Wallfahrt 420,4 8,27 Wahrheit/Wahr- 341,15 haftigkeit 9,13 Werke 631,47 9,36 271,14 Volksmission 11,2 Werke 631,33 11,4-6 Wahrheit/Wahr- 373,2 haftigkeit 11,5 Werke 631,36 11,6 Werke 631,36 11,19 Weisheit/Weis512,1 heitsliteratur 11,19 Werke 631,37 584,47 11,23 par. Welt/Weltanschauung/ Weltbild 11,28-30 Werke 631,45 11,29 276,45 Vollkommenheit 12,1-8.9 Werke 631,45 -13 12,12 Werke 628,35; 631,43 12,42 Welt/Welt584,33 anschauung/ Weltbild 13,24. 510,28 Weisheit/Weis31.33.44 ff. heitsliteratur 14,33 Wahrheit/Wahr- 341,13 haftigkeit

787 16,18 16,24-27 17,9 19,11 19,16-21 19,17 19,21 19,21

Mk

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vollkommenheit Vision Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Widerstand

585,35

274,21 135,26 281,45 274,28 273,6 275,33 752,21; 762,10 Wahrheit/Wahr- 341,6.8.11 22,16 haftigkeit 22,3 lf. Wahrheit/Wahr- 373,4 haftigkeit 23,34 Weisheit/Weis511,48 heitsliteratur 25,lff. Weisheit/Weis510,3 heitsliteratur 25,31-46 Werke 634,46; 637,10 26,10 par. Werke 632,1 2 8 , 1 8 - 2 0 Vision 134,25 Vollkommenheit 282,9 28,19 1,9-11 Versuchung 49,15 1 , 9 - 1 1 par .Vision 135,18 l,12f. Versuchung 49,13.25. 35 1,13 par. Versuchung 48,51 2,17 Weisheit/Weis510,12 heitsliteratur 3,23-27 Versuchung 49,29 4 Weisheit/Weis510,32 heitsliteratur Versuchung 49,31 8,11 8,27 Wallfahrt 419,12 8,27-38 Wahrheit/Wahr- 373,48 haftigkeit 8,29.31 Wallfahrt 419,16 Wallfahrt 419,13 8,31-38 Versuchung 49,30 8,33 8,34 f. par. Wallfahrt 419,17 Welt/Welt9,1-11 584,13 anschauung/ Weltbild 9 , 2 - 8 par. Vision 135,23 419,11 10,1 Wallfahrt Welt/Welt584,3 10,6 anschauung/ Weltbild 380,13.44 10,14 Waisenhaus Wiederbringung 775,37; 10,45 aller 778,43 12,1-9 Versöhnung 16,41 par. 12,14 Wahrheit/Wahr- 341,6.8 haftigkeit Vollkommenheit 281,30 12,30 12,32 f. Wahrheit/Wahr- 341,2 haftigkeit 13,26 Welt/Welt584,14 anschauung/ Weltbild Wallfahrt 418,41 14,1 14,7 Werke 628,34 14,36 par. Versuchung 50,39

788

Bibelstellen 14,38 15,39 15,39

Versuchung

Versuchung Wahrheit/Wahrhaftigkeit lf. Vision 1,38 Walther von der Vogelweide 2 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2,1 f. Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2,1-3 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2,8 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 2,40.52 Weisheit/Weisheitsliteratur 2,41 Wallfahrt 2,41f. Wallfahrt 2,41-52 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt Versuchung 2,49 2,49 Wallfahrt 4,1-13 Versuchung Versuchung 4,13 4,18 Wiederbringung aller 4,25 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 6,20Weisheit/Weis22 par. heitsliteratur 6,24-26 Weisheit/Weisheitsliteratur 6,27 ff. Weisheit/Weisheitsliteratur Werke 6,33-35 6,36 Vollkommenheit 6,40 Vollkommenheit 6,40 Weisheit/Weisheitsliteratur 7,31Weisheit/Weis35 par. heitsliteratur 9,27 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 10,18 Vision 10,18 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 11,4 Versuchung l l . l l f . par.Weisheit/Weisheitsliteratur 1 1 , 1 4 - 2 3 Vision 1 1 , 1 4 - 2 3 Welt/Weltanschauung/ Weltbild

49,31; 50,37 49,34 341,14 135,31 438,21 460,23; 462,6; 464,1 454,3

454,40

471,6

512,4 418,43 419,3 470,19

50,11 419,7 50,9 50,14 775,43 341,19 510,20 510,21 510,17.47 631,48 274,5 282,10 510,10 511,42 341,17 135,16 584,16; 585,43.48 50,25 510,4 135,17 585,40.45

12,2

Weisheit/Weisheitsliteratur 12,6.24. Weisheit/Weis27 f. heitsliteratur 12,20 Vorsehung 12,22 f. Weisheit/Weisheitsliteratur 12,25 par. Weisheit/Weisheitsliteratur 12,33 f. par.Weisheit/Weisheitsliteratur 1 2 , 5 4 - 5 7 Vision 13,1 Wallfahrt 16,13 par. Weisheit/Weisheitsliteratur 16,15 Vorsehung Vollkommenheit 17,21 Wallfahrt 19,45f. 22,3 Versuchung 22,28 Versuchung 2 4 , 1 3 - 3 5 Vision 24,34 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 1 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahr1,1 haftigkeit Wahrheit/Wahr1,1-16 haftigkeit 1,1-18 Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weis1,5 heitsliteratur Wahrheit/Wahr1,9 haftigkeit 1,14 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 1,14.18 Vision 1,29-34 Vision Vision 1,29.50 2,10 Weisheit/Weisheitsliteratur Wallfahrt 2,13-22 2 , 1 3 - 3 , 3 6 Wallfahrt 3,2.3.5 Weisheit/Weisheitsliteratur 3,8.12.20 Weisheit/Weisheitsliteratur 3,8.15. Weisheit/Weis20 f.29 heitsliteratur Vision 3,11-13 3,16 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 3,16 f. Weisheit/Weisheitsliteratur 3,21 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3,30 Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt Wahrheit/Wahr3,33 b haftigkeit Wahrheit/Wahr4,17b.18 haftigkeit

510,11 510,7 315,10 510,17 510,6 510,18 149,12 419,18 510,5 305,7 275,39 419,8 50,17 50,18 134,12 373,18 589,41 342,40 342,27 512,29 516,34 343,5 342,29.34. 50 136,4 136,7 136,12 511,22 419,33 419,22 511,24 511,20 511,24 136,9 579,8 512,14 343,29; 376,36 457,47

342,41 342,9

789

Bibelstellen 4,17b.19 4,23 f. 4,34 4,34 4,35.44 4,42 5,20.36 5,24 5,24 5,29 5,31 f. 5,45 ff. 6,28 f. 6,32.55 6,35 7,2 7,19 7,33 f. 7,37 f. 7,37 ff. 8,11 8,12-59 8,17 8,26 8,30-59 8,31 f. 8,32 8,40 8,44 8,45f. 8,56 10,32 f. 10,41 11,25 11,47-53 12,28 f. 12,32 12,32 13,34 13,34

Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vollkommenheit Werke Weisheit/Weisheitsliteratur Wahrheit/Wahrhaftigkeit Werke Versuchung Vollkommenheit Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Werke Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Weisheit/Weisheitsliteratur Wallfahrt Werke Weisheit/Weisheitsliteratur Weisheit/Weisheitsliteratur Waither von der Vogelweide Versöhnung Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wallfahrt Vision Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vollkommenheit Werke

342,9 343,31 281,49 632,9 511,19

14,2 14,6 14,12 14,17

343,6

15,1

632,9 58,23 280,36 632,17 342,4

15,26

632,15 632,10 343,6 512,39 418,47 632,15 512,38

16,13 17,3 17,3 17,17 b 17,17.19 17,20-24 18,37 18,38

512,37

19,35

438,18

342,16

1,8 2,1 2,1.5-11 2,3 2,17 2,17-20

342,42

2,27.31

41,13 343,33

373,7 343,34 342,1 342,2

2,33 3,21 4,9 4,24

343,24

4,26

342,4

4,27

136,6 632,8 342,11

5,29

586,12

6,3.10

419,35 136,11 373,13 586,15 281,31 632,13

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vollkommenheit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vollkommenheit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wallfahrt Wallfahrt Wallfahrt Vision Vision Vision Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wallfahrt Wiederbringung aller Werke Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Widerstand

Weisheit/Weisheitsliteratur 6,15 Vision 7,54 f. Vision 7,55 f. Vision 9,1-22 Westsemitische Religion 9,17 Vision 9,36 Werke 1 0 , 3 - 6 . 9 - Vision 17.19 f. 30-33

586,16 342,44 632,13 343,9.13 343,5 343,15 343,10 277,17 342,50 342,38 343,27 283,19 342,5; 343.19 343.20 342,13 419,48 418,46 419,41.45 135,46 135,34 127,30; 142,35 584,47 419,47 774,36 628,37 584,6 341,22 341,21 739,42; 745,36; 751,14; 771,28 512,5 135,36 135,35 137,53 720,49 135,38 631,50 135,47

790

Bibelstellen 10,34

Wahrheit/Wahrhaftigkeit 10,38 Werke 11,4-10.13 Vision 11,19-30 Westsemitische Religion 12,9 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 12,11 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 13,2 Werke 17,25 ff. Welt/Weltanschauung/ Weltbild 20,4.16 Wallfahrt 20,19 Versuchung 20,35 Weisheit/Weisheitsliteratur 21,3 f. Westsemitische Religion 22,17-21 Vision 26,20 Werke 26,25 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 1,16 Versöhnung 1,18 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 1,18-3,20 Versöhnung 1,20 Vision Wahrheit/Wahr1,25 haftigkeit 2,2 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 2,6 Weisheit/Weisheitsliteratur 2,7 Werke 2,8 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 2,15 Werke 2,18 Werke 2,20 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3,24 Versöhnung 3,26 Versöhnung 3,27 Werke 4,17 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versöhnung 5,1 5,1-11 Versöhnung 5,5 Vollkommenheit 5,5 ff. Werke 5,5.8 Versöhnung 5,8 Vollkommenheit 5,10 Versöhnung 5,10f.

Versöhnung

5,12-19 6,12-14 6,22 8,1-11 8,7 8,15 8,28

Versuchung Werke Werke Werke Versöhnung Werke Versuchung

341,27 632,3 135,47 720,49 341,26 341,30 630,33 588,34 419,51 50,22.45 509,20 720,45 135,40 632,4 341,31 23,1 344,20 18,26 136,36 344,18; 373,35 344,8 509,17 629,22 344,20 629,20 629,8 344,22 23,2 23,3 629,21 583,45; 589,35 19,3 19,4 274,39 629,16 20,41 274,39 18,27; 19,6.9; 22,42 18,16; 40,41 56,19 629,6 629,25 629,17 18,28 632,34 53,12

8,37 8,38 9-11 9,1 11,15

Vollkommenheit Vorsehung Volk Wahrheit/Wahrhaftigkeit Versöhnung

283,4 304,9 207,15 343,48

18,16; 19,12 420,12 l l , 2 5 b . 2 6 Wallfahrt 187,34 11,29 Vokation 11,32 Wiederbringung 775,38; aller 778,43 11,36 Vorsehung 304,12 12,1 25,27 Versöhnung Vollkommenheit 273,44 12,1 f. 12,1 f. Werke 629,28 12,2 Vollkommenheit 273,48 12,10ff. 513,29 Weisheit/Weisheitsliteratur 13 Widerstand 751,13.27; 768,49 1 3 , 1 -7 Widerstand 739,41; 771,30 13,8-10 Vollkommenheit 274,41 13,8-10 Werke 629,15 14,10-12 Werke 630,12 14,20 Werke 629,23 14,23 Werke 638,50 1-2 Weisheit/Weis- 512,16.21 heitsliteratur 1,7-9 Vollkommenheit 273,45 1,7-16 Wahrheit/Wahr- 373,36 haftigkeit 1,15 ff. Weisheit/Weis- 516,34 heitsliteratur 1,24 Vollkommenheit 276,38 2,6 ff. Weisheit/Weis512,24 heitsliteratur 3,13 ff. Werke 629,24 3,19 Wahrheit/Wahr- 352,21 haftigkeit 50,47 Versuchung 7,5 7,20 Vokation 187,27.29 541,44; 7,29 f. Welt/Weltanschauung/ 549,50 Weltbild 8,4 Welt/Welt584,1.31 anschauung/ Weltbild 8,6 Weisheit/Weis512,10 heitsliteratur 8,6 Welt/Welt583,41.49; anschauung/ 584,2 Weltbild Vision 133,43; 9,1 134,3.37 Vollkommenheit 282,52 9,24-27 512,11 10,1-4 Weisheit/Weisheitsliteratur 10,1-13 Versuchung 50,50; 51,1 10,6 Versuchung 50,52 49,2; 10,13 Versuchung 51,9.12; 52,47 10,14-22 Versuchung 51,3 11 Westphal 714,3

791

Bibelstellen 11,1 Vollkommenheit Versöhnung 11,20 12,31-14,1 Vollkommenheit 13,7 f. Vollkommenheit Vollkommenheit 13,9-13 15 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vision 15,5-8 15,8 f. 15,35-50 15,46 ff. 2,15 3,17f. 3,18 4,2 4,4 5,14-21 5,16 ff. 5,17 5,18 5,18-20 5,20 5,21 7,10 7,14 8,9 9,8 9,9 9,10 12,2 12,2-4 12,2-4 12,2- 5.9 12,6 13,8 Gal

1,4 1.7 1.8 1,15 2,4

Vision Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vorsehung Weihrauch Weisheit/Weisheitsliteratur Vision Wahrheit/Wahrhaftigkeit Weisheit/Weisheitsliteratur Versöhnung Versöhnung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versöhnung

2,5.14

276,25 25,28 274,41 274,44 274,45 586,3

2,10 2,14 2,19f. 2,20 3,19

133,43; 134,3.4 134,36 585,20

3,28 4,4 f. 4,4 f.

305,51 477,23 512,12

4.13

136,41 344,36

4.14 4,16

512,12 4,25 18,29; 20,41 40,41 585,29

18,41; 40,50 Versöhnung 18,16; 22,42 Versöhnung 18,43.48 40,44 Versöhnung 57,52 Versuchung Wahrheit/Wahr- 344,6 haftigkeit Vollkommenheit 274,13; 281,46 Werke 629,49; 630,4 Werke 630,2 Werke 630,3 Welt/Welt591,26 anschauung/ Weltbild Vision 139,11 Welt/Welt584,13.Ii anschauung/ Weltbild Vision 134,40.45 Wahrheit/Wahr- 344,1 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 344,41 haftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild 585,15 Wahrheit/Wahr 344,27 haftigkeit Welt/Welt584,15 anschauung/ Weltbild Vorsehung 303,12 Wahrheit/Wahr 344,34 haftigkeit

5,7 5,16ff. 5,17 5,19-23

Eph

5,22-25 5.24 5.25 6,1 1,10 1,13 2,11-22 2,14-18 4,9 4,12-16 4,15 f. 4,21.25

Phil

6,16 f. 1,18 2,5 2,7 f. 2,10 2,30 3,12-14 4,13 1,9 1,10

Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wallfahrt Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vollkommenheit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Volk Weisheit/Weisheitsliteratur Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Versuchung Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vollkommenheit Weisheit/Weisheitsliteratur Vollkommenheit Vollkommenheit Werke Versuchung Wiederbringung aller Wahrheit/Wahrhaftigkeit Werke Versöhnung

344.24 420,29 344,36 344,29 276.25 584,27 207,9 512,14 585,22 344,42 50,48 344,41 584,53 344,37 585,16 276,43 513,37 282,17 282,27 632,32 50,47 774,45; 775,37 345,8

20,27; 40,41 Vollkommenheit 276,40 584,21 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Vollkommenheit 282,12 Vollkommenheit 276,36 Wahrheit/Wahr- 345,7 haftigkeit 55,5 Versuchung Wahrheit/Wahr- 344,9 haftigkeit Vollkommenheit 279,51 Vollkommenheit 281,46 Welt/Welt584,6; anschauung/ 585,33 Weltbild 629,23 Werke Vollkommenheit 274,47; 282,51 Vollkommenheit 283,3 630,19 Werke 630,17 Werke

792

Bibelstellen 1,15-20 1,15-20 1,16

1,20 1,20 1,22 2,18 3,1 f. 3,5 3,8 3,12--14 3,18--4,2 1,3 1,9 1,10 2,13 3,5 5,13 5,16--18 5,23 2,17

II Thess I Tim 1,8 2,10 3.1 4.2 f. 5,10 5,25 6,9 6,18 II Tim 1,7 1,9 1,9 2,3-6 2,4 3,8

Tit

Hebr

Versöhnung

2,10 2.18

Werke Werke Werke Werke Werke Werke Versuchung Werke Volkskirche Vokation Werke Vollkommenheit Vogtei Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vollkommenheit Werke Werke Werke Werke Werke Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Versuchung Versuchung

4.9

Volk

3.17 4,1.8.14 2,11-14 2,14 3,1 3,5 3.8 1,1

4,14

18,18.21;

20,3.4.19; 40,41 Wiederbringung 775,37 aller 589,41 Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versöhnung 20,5.8.13. 14 Wiederbringung 775,1 aller Versöhnung 18,17 Vision 135,9 Welt/Welt585,2 anschauung/ Weltbild Weisheit/Weis513,45 heitsliteratur Weisheit/Weis513,46 heitsliteratur Vollkommenheit 274,43 513,36 Weisheit/Weisheitsliteratur Werke 630,23 Wahrheit/Wahr- 344,15 haftigkeit Welt/Welt584,27 anschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahr- 344,45 haftigkeit 50,45 Versuchung 630,31 Werke Vollkommenheit 280,5 Vollkommenheit 276,49 630,21 Werke 630,43 630,30 630,31 632,35 630.33 630.34 50,47 630.35 260,3 187,35 630.35 276,52 184,24 345,3 276,33 630,48 630,45 630.38 630.39 630.36 630,39 374,12 51,15 50,20; 51,19.22 206,48

4.15 4.16 5,7 6,10 9,11 10,23 f. 11,12

Jak

11,29 11,36 12,2 12,2 12.14 12,22 13.15 f. 13.16 1,2

1,2-12 1,4 1,5-8 1,9-11 1,13 f. l,14f. 1.17 1.18

1,19.26 1,25 1,25 1,27 2,8 2,12 14 2,14 ff. 3,1-12 3,2 3,13 4,1-3 I Petr 1,6 1,11

2,9 2,12 2,13 17 2,15.20 II Petr 1,10 3,5 I Joh

1,6 1,8

2,5 2,6 2,21

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versuchung Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versuchung Werke Welt/Weltanschauung/ Weltbild Werke Welt/Weltanschauung/ Weltbild Versuchung Versuchung Versuchung Vollkommenheit Vollkommenheit Wallfahrt Werke Werke Versuchung Versuchung

584,24 51,18.22 584,17 51,2 630,49 584,9 630,52 584,10

48.4 48.5 51,15 282,2 274.17 420,22 631,1 628,37 57,47 51,29.32. 41 Vollkommenheit 274,8 Versuchung 51.33 Versuchung 51,33.41 Versuchung 50,32; 51,36.37 51,31 Versuchung Vollkommenheit 274.6 Wahrheit/Wahr- 345,5 haftigkeit Versuchung 51.34 Vollkommenheit 274.7 Werke 631.8 Werke 631,7 Werke 631,7 Werke 631,6.10 Werke 629.45 Versuchung 51,34 Werke 631.9 Werke 628,36 Versuchung 51,38 Werke 631,20 Werke 631.18 Volk 206,48 Werke 631,13 Widerstand 739,42 Werke 631,15.17 Werke 637,18 Welt/Welt583.46 anschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahr- 343,43 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 343.45 haftigkeit Wahrheit/Wahr- 343.46 haftigkeit Vollkommenheit 279,51 Wahrheit/Wahr- 343,20 haftigkeit

793

Namen/Orte/Sachen 3,2 4,8.16 4,9 4,11 f.20 f. 4,12 4,16 4,16 4,18 4,19 5,4 5,6 4 1,1 1,10 1,12.17 1,15 2,23 3,7 3,12 3,14 4,1 1.2.

Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Vollkommenheit Werke Vollkommenheit Vollkommenheit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision Vision Vision Welt/Weltanschauung/ Weltbild Werke Wahrheit/Wahrhaftigkeit Welt/Weltanschauung/ Weltbild Wahrheit/Wahrhaftigkeit Vision

277,18 274,29 274,31 274,35 274,34 274,32 635,41 274,33 274,32 541,42 343,9 376,36 136,31 140,46 136,28 584,39 632,25 345,15 585,27 345,17 136,29.37;

5,13

Welt/Weltanschauung/ Weltbild Welt/Welt9,11 anschauung/ Weltbild 9,17 Vision 11,7 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 12 Vision 13 Widerstand 15,3 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 16,7 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 17,1.15 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 19,9 Wahrheit/Wahrhaftigkeit 20,1-3.7 f. Waldenser 20,8 Welt/Weltanschauung/ Weltbild 21 Vision 21,1-7 Vision 21,3 ff. Vision 21,8 Wiederbringung aller

138,35 584,7 584,46 136,31 584,45 136,34 770,1 345,12 345,13 584,43 345,14 397,43 584,34 149,22 149,19 149,20 775,18.

Namen/Orte/Sachen

(bearbeitet von Klaus Breuer) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. - Fettdruck von Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit f f . ist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für Agende; Bibelgesellschaften; Kirchenordnungen; Kirchentage; Klöster und Stifte; Konkordate; Missionsgesellschaften/Missionswerke; Ökumenische Versammlungen und Konferenzen; Päpste-, Päpstliche Bullen, Enzykliken und Breven; Religionsgespräche; Synoden; Universität. Die gesuchten Agenden, Bibelgesellschaften usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung. Abaelard, Petrus: Versöhnung 27,42- 28,10; Welt/Weltanschauung/Weltbild 591,5; Werke 635,31-38 Abendmahl: Welt/Weltanschauung/Weltbild 595,18-27; Westphal 713,39-714,36 Ablaß: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 427,44-428,1 Abraham: Versuchung 46,7-23; 48,15 Abraham Abulafia: Vision 131,14 Abraham ben Chananja de Galicchi Jagel: Vision 132,1 Abraham Ibn Daud: Vision 131,5 Abraham Ibn Ezra: Vision 131,34 Abu Mikhnaf: Wellhausen 533,22 Adiaphora: Westphal 713,14 Adler, Bruno: Westfalen 694,43

Adomnan v. Hy: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 426,12 Aelius Gallus: Weihrauch 474,17 Aenesidemus: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 351,32 Africanus, Julius: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,13; 457,35-45 Ägyptische Religion: Weihrauch 474,25; Weisheit/Weisheitsliteratur 482,14-57 Agende: Preußen (1821/22): West- und Ostpreußen 671,24; Westfalen 693,38 Aion: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 455,19 Alanus ab Insulis: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 591,29

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Namen/Orte/Sachen

Albericus de Rosciate: Widerstand 745,27 Albert d . G r . : Welt/Weltanschauung/Weltbild 591,16ff. Albert, Hans: Vertrauen 73,10 Albrecht v. Preußen: West- und Ostpreußen 668,30 Alexander, Samuel: Whitehead 731,38 Ali, Kalif: Wellhausen 533,23 Allen, William: Waldenser 398,33 Almain, Jacques: Vitoria 169,46 Altar: Weihrauch 4 7 6 , 2 0 - 3 6 Alte Kirche: Volksfrömmigkeit 222,6 - 2 2 5 , 4 0 ; Vollkommenheit 2 7 5 , 4 - 2 7 7 , 3 9 Altena: Westfalen 687,16 Altes Testament: Vollkommenheit 2 7 3 , 2 0 - 2 7 4 , 8 ; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 3 8 , 3 - 3 4 0 , 3 ; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 4 1 6 . 2 0 - 4 2 0 , 3 9 ; Weihrauch 474,27; Weisheit/Weisheitsliteratur 4 8 6 , 2 1 - 4 9 4 , 3 8 ; Wellhausen 5 2 8 , 1 7 - 5 3 1 , 2 ; 5 3 4 , 4 8 - 5 3 5 , 1 3 ; Welt/Weltanschauung/Weltbild 569,23-579,14 Althaus, Paul: Volk 2 0 1 , 5 2 - 2 0 2 , 3 3 ; Werke 645,14-24 Althusius, Johannes: Widerstand 757,38-758,16 Ambrosius Autpertus: Viktorin von Pettau 99,3 Ambrosius v. Mailand: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,31; 4 5 5 , 3 - 1 8 ; Widerstand 742,37 Amerika: Vitoria 172,16 Ammon, Friedrich Christoph v.: Versuchung 61,17 Amos/Amosbuch: Vision 125,6 Amt/Ämter/Amtsverständnis: Vokation 187,20ff.; Volksmission 265,52 Amtshandlungen: Volksfrömmigkeit 244,9 Anaxagoras v. Klazomenai: Vorsehung 302,20; Vorsokratik 3 3 2 , 3 9 - 3 3 3 , 2 Anaximander v. Milet: Vorsokratik 329,48-330,12 Anaximenes v. Milet: Vorsokratik 3 3 0 , 1 3 - 2 3 Angemessenheit: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 365,38-366,2 Anglikanismus: Wales 403,35 Anglokatholizismus: Volksfrömmigkeit 241.21-49 Aniket v. Rom: Viktor I. 95,5 Anselm v. Alessandria: Waldenser 390,33 Anselm v. Canterbury: Versöhnung 26,33 - 2 7 , 4 1 Anthropologie: Vernunft 1 0 , 5 0 - 1 2 , 5 0 Anthroposophische Gesellschaft: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,13 Antinomistischer Streit: Werke 638,30 Antiphon (Sophist): Vorsokratik 333,34 Antisemitismus: Vorsehung 326,41 Antonius v. Padua: Volksfrömmigkeit 236,6 Antonius d.Gr.: Vollkommenheit 2 7 5 , 3 1 - 4 0 Apokalypse des Johannes: Viktorin von Pettau 9 8 , 1 - 4 1 ; Vision 1 3 6 , 1 5 - 4 1 ; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 3 4 4 , 1 1 - 1 8 ; Wellhausen 531,43; Werke 6 3 2 , 2 0 - 25 Apokalyptik/Apokalypsen: Vision 129,29; Welt/Weltanschauung/Weltbild 5 8 5 , 1 4 - 3 6 ; Werke 6 2 6 , 9 - 3 2

Apokatastasis: Welt/Weltanschauung/Weltbild 589,3; Wiederbringung aller 774,20.29ff. Apokryphen: Weisheit/Weisheitsliteratur 4 9 7 , 1 0 - 3 3 ; Westcott 677,11 Apostelgeschichte: Vision 1 3 5 , 3 1 - 1 3 6 , 2 ; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 340,45 - 341,34; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 4 1 9 , 4 1 - 5 3 ; Wellhausen 531,43 Apostolischer Vikar: Vikar/Vikarin 84,41 Apringius v. Beja: Viktorin von Pettau 99,1 Arabistik: Wellhausen 5 3 2 , 4 0 - 5 3 4 , 4 0 ; 535,24-32 Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte: Welt/Weltanschauung/Weltbild 556,22 Arbeitervereine: Volksbildung/Volksbildungswesen 211,19 Arendt, Hannah: Versöhnung 4 1 , 3 4 - 4 5 Aretin, Johann Christoph Freiherr v.: Widerstand 760,41 Aristoteles/Aristotelismus: Vollkommenheit 283,46; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 5 0 , 4 - 351,12; Weisheit/Weisheitsliteratur 479,31; 517,47; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 539,30; 5 8 8 , 1 9 - 5 9 0 , 4 ; Widerstand 743,46 Arminius, Jacobus/Arminianismus: Werke 641,5 Arnaud, Henri: Waldenser 397,24 Arndt, Ernst Moritz: Volk 194,10; Vormärz 298,4; Waisenhaus 382,23 Arndt, Johann: Weigel 451,32 Arndt, Johann ( 1 8 3 4 - 1 8 6 7 ) : West- und Ostpreußen 671,7 Arnold II. v. Bentheim: Westfalen 690,4 Arnold, Thomas: Westcott 677,43 Askese: Volksfrömmigkeit 231,29; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 424,5 Asklepios: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 410,27 Astrologie: Vorsehung 325,12 Athanasianisches Symbol: Vinzenz von Lerins 110,37 Athanasius v. Alexandrien: Versuchung 5 3 , 5 - 1 3 ; Vision 138,42 at-Tabari: Wellhausen 533,20 Atterbury, Francis: Wesley 657,44 Atto v. Vercelli: Widerstand 742,29 Aufklärung: Visitation 1 5 7 , 2 5 - 3 4 ; Voltaire 2 8 7 , l l f f . ; Vorsehung 3 2 6 , 3 2 - 4 0 Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie: Vollkommenheit 278,50; Werke 637,30-51 Augsburger Religionsfriede: Westfälischer Friede 682,13.28 August v. Anhalt: Weigel 452,8 Augustin/Augustinismus: Versöhnung 2 6 , 2 1 - 2 5 ; Versuchung 5 3 , 2 7 - 3 8 ; Vision 1 3 9 , 1 0 - 1 9 ; Volksfrömmigkeit 2 2 5 , 1 1 - 4 0 ; Vollkommenheit 2 7 7 , 7 - 3 9 ; Vorsehung 3 0 5 , 1 0 - 3 0 6 , 5 ; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 5 2 , 2 4 - 3 5 3 , 3 1 ; Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,47; 458,51; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 5 9 0 , 5 - 2 6 ; Werke 6 3 4 , 1 5 - 4 9 ; Widerstand 740,8; 744,2 Augustiner-Eremiten: Westfalen 688,3 Aulen, Gustaf: Versöhnung 2 4 , 2 5 - 3 8 Aurobindo, Sri: Welt/Weltanschauung/Weltbild 568,12

Namen/Orte/Sachen Außenvikar: Vikar/Vikarin 85,48-86,10 Aussiedlung: Volk 199,26-47 Averroes/Averroismus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 592,20 Avicenna ibn Sina: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 354,5; Welt/Weltanschauung/Weltbild 592,44 Avot/Avotkommentare: Weisheit/ Weisheitsliteratur 507,8-29 Baal Shem Tov (Best): Vision 132,17; Volksfrömmigkeit 219,47 Baalbek: Westsemitische Religion 720,29 Bacon, Francis: Welt/Weltanschauung/Weltbild 596,30 Baden: Visitation 165,28-54; Wessenberg 663,28-665,18 Baillie, Robert: Westminster/Westminsterconfession 709,2 Baker, Moses: Westindische Inseln 702,35 Baldinotti, Giuliano: Vietnam 81,39 Baldus degli Ubaldi: Widerstand 745,27 Balthasar, Hans Urs v.: Versuchung 67,43-68,21 Banez, Domingo: Werke 641,27 Bannfahrt: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 427,28 Baptisten: Westindische Inseln 702,29-38; 703,47-704,1 Barmer Theologische Erklärung: Volkskirche 252,19; Volksmission 267,46 Barnabasbrief: Weiß 524,14 Barnardo, Thomas John: Waisenhaus 383,32-49 Barrows, Henry: Weltparlament der Religionen 618,10 Bartels, Adolf: Volk 196,3 Barth, Karl: Vernunft 3 , 1 2 - 4 3 ; 6,53-7,2; 8,1-20; Versöhnung 35,31-36,14; Versuchung 63,3-13; 66,4-18; Volk 203,45 - 2 0 4 - 4 ; Vollkommenheit 282,38; Vorsehung 315,35-316,12; Wales 407,25; Weisheit/Weisheitsliteratur 516,17; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 540,29; 550,19-36; Werke 644,40- 645,13; Widerstand 762,4; 769,24-38 Bartholomäus Anglicus: Vinzenz von Beauvais 107,51 Bartolus v. Sassoferrato: Widerstand 745,23 Baruch/Baruchschriften: Weisheit/ Weisheitsliteratur 497,12-20 Bauernkrieg: Widerstand 751,43 Baur, Ferdinand Christian: Versöhnung 23,36-49 Bayer, Oswald: Vernunft 6 , 1 8 - 4 1 ; 7,34-43; 10,38-46; 12,33 Beatus v. Liebana: Viktorin von Pettau 99,1 Beckwith, Charles: Waldenser 398,36 Beda Venerabiiis: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 590,51; 591,22 Beguin, Oliver: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,7 Behaim, Martin: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 593,42 Behaine, Pigneau de: Vietnam 82,21 Bekehrung: Wesley 660,14 Bekennende Kirche: Volksmission 267,36; Westund Ostpreußen 673,9- 29; Westfalen

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694,31-52; Widerstand 761,35-45 Bekenntniskirche: Volkskirche 257,45 - 5 2 Bellarmini, Roberto: Versuchung 59,28-37 Ben Meirll. (Gaon): Wallfahrt/Wallfahrtswesen 421,36 Bengel, Johann Albrecht: Wesley 661,29 Bentley, Richard: Wettstein 724,8 Bergbau: Westfalen 692,11 Berggrav, Eivind Josef: Weltbund der Bibelgesellschaften 613,16; Widerstand 762,14 Bergson, Henri: Whitehead 731,38 Berliner Stadtmission: Volksmission 266,51 Bernard Gui: Vinzenz von Beauvais 106,33 Bernardus Primus: Waldenser 390,9.37 Bemardus Silvestris: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 591,11.22 Bernhard v. Clairvaux: Versuchung 54,5-16; Werke 635,39-45 Berulle, Pierre de: Vinet 105,15; Vinzenz von Paul 111,48 Beteiligungskirche: Volkskirche 258,11 Bethmann-Hollweg, Moritz August v.: Wichern 735,3 Beukelsz, Jan: Westfalen 688,48 Beyerland, Abraham Wilhelmsz van: Weigel 452,12 Beza, Theodor: Widerstand 756,7-20 Bibelgesellschaften: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,11-617,39 American Bible Society: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,37; 612,8.13 British and Foreign Bible Society: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,37; 612,9-23 Cansteinsche Bibelanstalt: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,34 Katholische Bibelföderation: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,40-615,2 National Bible Society of Scotland: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,40; 612,14 Nederlands Bijbelgenootschap: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,40; 612,14 Bibelübersetzungen: Weltbund der Bibelgesellschaften 615,5-616,8 Bibelwissenschaft: Wettstein 723,37-726,28 Bibliander, Theodor: Westphal 714,12 Biedermann, Benedikt: Weigel 448,34 Bierwirt, Dietrich Michael: Westfalen 691,16 Bilder: Welt/Weltanschauung/Weltbild 607,26 Bildung: Werbung 622,38-52 Birgitta/Birgittenorden: Vision 141,38; 142,12 Bischof: Visitation 158,1; Waisenhaus 380,23 Bischofsvikar: Vikar/Vikarin 85,32 Bistum: Vikar/Vikarin 84,45-86,10 Blake, William: Vision 144,14 Bleek, Friedrich: Vormärz 292,40 Boeckel, Otto: Volk 195,33 Boeckh, August: Wach 336,4 Böhler, Peter: Wesley 660,12 Bonaventura: Versuchung 54,16-23; Welt/Weltanschauung/Weltbild 591,18ff. Bonhoeffer, Dietrich: Versöhnung 41,26-33; Versuchung 62,52; 66,19-51; 69,16-27; Volkskirche 252,35; Werke 645,25 - 5 0 ; Wert 654,6; Widerstand 761,47-762,3.36-50; Wiederbringung aller 779,45

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Namen/Orte/Sachen

Bonney, Charles C.: Weltparlament der Religionen 618,7 Bonnus, Hermann: Westfalen 689,9 Bonus, Arthur: Volk 206,34 Book of Common Prayer: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 463,6 Borchwede, Thomas: Westfalen 688,18 Bos(e), Lambert: Wettstein 725,1 Botsack, Johannes: West- und Ostpreußen 669,19 Boucher, Jean: Widerstand 757,24 Bourdaloue, Louis: Vinet 105,16 Brahe, Tycho: Welt/Weltanschauung/Weltbild 596,3.39 Brandenburg: Westfälischer Friede 681,18 Braunschweig-Lüneburg: Westfälischer Friede 681,26 Brentano, Clemens v.: Vormärz 298,42; Vision 144,19 Bridel, Philippe: Vinet 105,36 Briefe, neutestamentliche: Weisheit/ Weisheitsliteratur 5 1 2 , 7 - 2 8 Briesmann, Johann: West- und Ostpreußen 668,13 Brüderunität/Brüdergemeine: Wesley 659,45; Westindische Inseln 702,26; Whitefield 729,15 Brune, Johann de: Westfalen 688,23 Brunner, Emil: Vernunft 8 , 2 3 - 4 6 ; 11,11; Widerstand 7 6 9 , 1 7 - 2 3 Bruno, Giordano: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 5 9 4 , 4 0 - 5 3 Bucer, Martin: Versuchung 57,8; Waldenser 394,43; Widerstand 7 5 3 , 4 9 - 7 5 4 , 2 0 Buchanan, George: Widerstand 755,24 Buchner, Charles: Warneck 440,50 Buddhismus: Vietnam 80,19-81,31; 83,7; Vision 120,36-121,9; Volksfrömmigkeit 215,41-216,8; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 411.38-412,29; Weisheit/Weisheitsliteratur 484.39-485,15; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 601,34; Werke 6 2 4 , 5 2 - 6 2 5 , 3 2 Büchner, Georg: Vormärz 298,52 Bühler, Karl-Werner: Werbung 621,7 Bultmann, Rudolf: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 541,38; 549,24-550,18 Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands: Welt/Weltanschauung/Weltbild 558,8 Burchell, Thomas: Westindische Inseln 703,35 Burgon, John William: Westcott 678,6 Burschenschaften: Vormärz 297,28 Buße: Werke 633,48ff. Bußwallfahrt: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 427,33-43 Buzomi, Francesco: Vietnam 81,36 Byblos: Westsemitische Religion 7 1 7 , 4 0 - 7 1 8 , 3 Byrom, John: Wesley 659,2 Calvin, Johannes: Versöhnung 2 9 , 5 3 - 3 0 , 1 0 ; Versuchung 5 8 , 4 2 - 5 9 , 5 ; Vokation 188,40; 189,19; Vollkommenheit 279,15 - 4 0 ; Vorsehung 308,16; Werke 6 3 9 , 4 0 - 4 9 ; Westphal 7 1 3 , 4 0 - 7 1 4 , 1 6 ; Widerstand 754,22-47 Calvinismus: Whitefield 7 2 7 , 4 6 - 7 2 9 , 4 5 Campanella, Tommaso: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 593,49

Cantor, Georg: Vorsokratik 333,52 Carey, William: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,29 Caroli, Pierre: Viret 115,5 Carribean Conference of Churches: Westindische Inseln 705,33 Carus, Paul: Weltparlament der Religionen 619,3 Carvalho, Diego: Vietnam 81,37 Cassianus, Johannes: Vinzenz von Lérins 110,12; Werke 634,40 Cellini, Benvenuto: Vision 142,41 Ceylon (Sri Lanka): Weltparlament der Religionen 6 1 9 , 7 - 1 0 Chamberlain, Houston Stewart: Volk 195,41 Chamisso, Adalbert v.: Vormärz 298,46 Chantal, Jeanne-Françoise de: Vinzenz von Paul 112,17 Charles, Thomas: Wales 404,1 Charvaz, André, Bf. v. Pinerolo: Waldenser 398.20 Chasidismus: Vision 132,13; Vorsehung 325,16 Chateaubriand, François-René de: Vinet 103,40 Châtelet, Emilie du: Voltaire 286,43 Chemnitz, Martin: Versuchung 59,14 Chigi, Fabio: Westfälischer Friede 681,4 China: Vietnam 80,1 ff.; Weltbund der Bibelgesellschaften 6 1 6 , 3 2 - 4 5 Chinesische Religionen: Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 4 1 2 , 1 0 - 1 8 ; Weisheit/ Weisheitsliteratur 4 8 5 , 1 7 - 3 5 ; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 566,13 Christengemeinschaft: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 557,31 Christentum und Politik: Vormärz 296,4 Christine v. Stommeln: Vision 141,22 Christlicher Studentenweltbund: Visser't Hooft 166,44 Christlieb, Theodor: Warneck 440,49 Christvesper: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 462,6 Chromatius v. Aquileia: Viktorin von Pettau 98,45 Cicero, M . Tullius: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 589,19 Ciarenbach, Adolf: Westfalen 687,50 Ciauder, Isaak: Westfalen 691,15 Clemens v. Alexandrien: Vision 119,38; Vollkommenheit 2 7 5 , 6 - 2 7 ; Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,5 Clemensbrief, Zweiter: Werke 633,42 Codex Alexandrinus: Wettstein 7 2 4 , 1 2 - 3 9 Coggan, Donald: Weltbund der Bibelgesellschaften 6 1 3 , 3 2 - 4 9 Coluccio Salutati: Widerstand 745,28 Comenius, Johan Amos: Welt/Weltanschauung/Weltbild 587,35 Condorcet, M . J . Antoine, Marquis de: Widerstand 760,5 Confessio Gallicana (1559/1571): Waldenser 396,14 Confession of Faith (1647): Westminster/ Westminsterconfession 7 1 0 , 1 1 - 1 6 . 4 5 711,40 Congregatio Missionis: Vinzenz von Paul 112.21

Namen/Orte/Sachen Consilia Evangelica: Vienne, Konzil von 78,36 Contarini, Alvise: Westfälischer Friede 681,5 Convince: Westindische Inseln 700,41 Cordatus, Konrad: Werke 6 3 8 , 9 - 1 6 Corvin, Johann: West- und Ostpreußen 669,19 Cradock, Walter: Wales 403,24 Cramer, Johann Andreas: Versuchung 61,42 Crockaert, Petrus: Vitoria 169,50 Croy, Guillaume de: Vives 173,49 Cybi: Wales 402,24 Cyprian v. Karthago: Versöhnung 2 6 , 8 - 2 1 ; Vision 138,10; Werke 634,11 Cyrillus v. Jerusalem: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 455,37 Dämonen: Welt/Weltanschauung/Weltbild 584,31 Dänemark: Volkskirche 2 5 6 , 2 0 - 3 1 Dames de la Charité: Vinzenz von Paul 112,10; 113,26 Dammann, Julius: Volksmission 266,46 Daneau, Lambert: Widerstand 7 5 6 , 2 2 - 5 0 Daniel, John Edward: Wales 407,26 Daniel/Danielbuch und Zusätze: Versuchung 46,50 Dante Alighieri: Vision 141,49 Danzig: West- und Ostpreußen 6 6 9 , 2 . 1 5 25.47 ^ Dauphiné: Waldenser 393,8 David (Heiliger): Wales 402,23 David v. Dinant: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 592,19 David Qimchi: Vision 131,6 Davies, Richard: Wales 403,5 Deiniol: Wales 402,24 Delling, Gerhard: Wettstein 726,14 Demokrit: Vorsokratik 3 3 3 , 7 - 2 1 Denecke, Axel: Versuchung 70,23 Descartes, René: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 5 6 , 2 4 - 3 5 7 , 4 3 ; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 596,22 Deuterojesaja: Vision 125,22 Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule: Versuchung 4 4 , 3 8 - 4 5 , 2 6 ; Wellhausen 529,20 Deutsche Christen: Volk 196,33; West- und Ostpreußen 673,4; Westfalen 694,28 Deutsche Glaubensbewegung: Volk 196,41; Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,33 Deutscher Monistenbund: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 557,4 Deutschkatholiken: Vormärz 294,14 Deutschland: Waldenser 3 9 1 , 4 8 - 3 9 3 , 2 ; Volk 195,30ff. Devotio moderna: Werke 636,39 Dharmapala, Anagarika: Weltparlament der Religionen 619,7 Diakonie: Wichern 7 3 7 , 1 1 - 2 7 Dialektische Theologie: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 553,21 Diederichs, Eugen: Volk 196,3 Dilthey, Wilhelm: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 5 4 8 , 1 2 - 2 2 Dinter, Arthur: Volk 196,48 Diogenes Laertios: Vorsokratik 328,44

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Dionysius bar Sallbï: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 456,17 Dobschütz, Ernst v.: Wettstein 726,9 Doddridge, Philip: Wesley 660,40 Döllinger, Johann Joseph Ignaz: Vinzenz von Lérins 110,44 Dominikaner: Vinzenz von Beauvais 106,28 Domkapitel: Vikar/Vikarin 8 6 , 1 2 - 3 6 Dortmund: Westfalen 687,42 Dostojewskij, Fjodor Michaijlowitsch: Versuchung 6 2 , 2 4 - 3 3 ; 63,50 Dräseke, Johann Heinrich Bernhard: Versuchung 61,18 Dreier, Christian: West- und Ostpreußen 669,37 Dreißigjähriger Krieg: Westfalen 690,18; Westund Ostpreußen 670,6; Westfälischer Friede 679,24-685,14 Drews, Paul Gottfried: Volkskunde 262,22 Dreyer, Johann: Westfalen 688,12 Droste-Hülshoff, Annette v.: Vormärz 298,43 Dubricius: Wales 402,21 Dürerbund: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,4 Duns Scotus/Scotismus: Vorsehung 309,27; Welt/Weltanschauung/Weltbild 592,44 Duplessis-Mornay, Philippe: Widerstand 756,53-757,18 Durandus v. Osca: Waldenser 3 8 9 , 2 1 - 3 8 Durham: Westcott 675,42 Dürkheim, Emile: Volkskunde 263,18 Duval, André: Vinzenz von Paul 111,49 Ebel, Johann Wilhelm: West- und Ostpreußen 671,12 Ebeling, Gerhard: Vernunft 8 , 5 1 - 9 , 1 5 Ebla: Westsemitische Religion 7 1 7 , 2 5 - 3 8 Eckhart, Meister: Werke 636,17 Edelmann, Johann Christian: Versuchung 6 0 , 5 0 - 61,5 Edwards, Alfred Georges: Wales 406,45 Edwards, D. Miall: Wales 407,21 Edwards, Jonathan: Vorsehung 3 1 6 , 3 3 - 4 8 ; Wesley 660,24 Edwards, Lewis: Wales 404,47 Eichendorff, Joseph v.: Vormärz 298,42 Einstein, Albert: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 598,50 Eisenacher Rezeß: Werke 6 3 8 , 3 4 - 4 0 Eitzen, Paul v.: Westphal 712,46; 714,13 Elbing: West- und Ostpreußen 669,3 Eleazar b. Abinah: Werke 627,48 Eiert, Werner: Volk 202,34; Werke 645,51-646,10 Eliade, Mircea: Weltparlament der Religionen 619,27 Elias, John: Wales 404,15 Elija ben Menahem: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 421,37 Elk, Black: Vision 118,28 Elsaß: Westfälischer Friede 680,36 Eisner, J a k o b E.: Wettstein 725,2 Emesa: Westsemitische Religion 720,27 Emmanuel Philibert v. Savoyen: Waldenser 396,10 Emmerick, Anna Katharina: Vision 144,20 Empedokles: Vorsokratik 3 3 2 , 2 0 - 3 8

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Namen/Orte/Sachen

Engemann, Wilfried: Versuchung 70,14 England: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 462,37-48; Wesley 658,25ff.; Widerstand 755,4-14; 759,30-45 Enzner-Probst, Brigitte: Versuchung 69,36 Enzyklopädie: Vinzenz von Beauvais 107,6-108,16 Epheserbrief: Versöhnung 20,26-34 Ephesus: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 410,38 Epikur: Vorsehung 302,28 Epiphaniasfest: Volksfrömmigkeit 228,34 Erasmus v. Rotterdam: Vives 17428ff.; Weisheit/Weisheitsliteratur 516,28 Erastus, Thomas: Westminster/Westminsterconfession 709,18 Erdberg, Robert v.: Volksbildung/ Volksbildungswesen 212,20 Erde: Welt/Weltanschauung/Weltbild 575,43-578,4 Erfahrung: Vernunft 13,5 Erhaltungsordnung: Volk 202,34 Erikson, Erik Homburger: Vertrauen 72,2-14 Erkenntnis/Erkenntnistheorie: Weigel 451,27 Erlanger Schule: Vormärz 292,48 Ermland: West- und Ostpreußen 672,17 Ernst v. Bayern: Westfalen 689,34-45 Ernst, Christoph Friedrich Wilhelm: Vilmar 100,20 Erschließungsereignis: Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 371,6-373,37 Erskine, Ebenezer: Whitefield 728,51 Erskine, Ralph: Whitefield 728,51 Erwählung: Versuchung 44,33 Erweckung/Erweckungsbewegungen: Vilmar 99,37; Vinet 103,24; Visitation 159,13; Vormärz 292,33; Waldenser 398,44; Wesley 660,41ff.; West- und Ostpreußen 671,5.45; Westfalen 693,47; Whitefield 728,7; Wichern 734,1 Eschatologie: Weisheit/Weisheitsliteratur 510,24-43; Weiß 524,17; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 578,46-579,2; 595,28; Wiederbringung aller 774,12- 780,12 Essen (Bistum): Westfalen 695,13 Esther (Buch): Weisheit/Weisheitsliteratur 490,24-47 Etheria (Egeria): Wallfahrt/Wallfahrtswesen 425,48; Weihrauch 475,43 Ethik: Vernunft 7,44-10,46; 13,3-47; Versöhnung 40,16-43,12; Weber 443,17-444,7; Weisheit/Weisheitsliteratur 517,40-520,6; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 552,12; Werbung 622,19-28; Wert 653,10-657,6; Widerstand 768,32-773,11 Ethnogenese: Volk 197,8-29 Ethnozentrismus: Volk 197,31-198,5 Etienne v. Bourbon: Waldenser 391,29 Eucherius v. Lyon: Vinzenz von Lerins 109,7 Eusebius v. Cäsarea: Viktor I. 93,46; 94,34-95,46 Evangelien, synoptische: Vollkommenheit 274,9-28; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 340,45-341,34; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 419,9-20; Weisheit/Weisheitsliteratur 511,8-17.41-512,6; Wellhausen 531,22-42; Werke 631,21-632,5

Evangelisation: Volksmission 266,25 Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen: Welt/Weltanschauung/Weltbild 560,38 Evans, Christmas: Wales 404,15 Ewald, Heinrich Georg August: Wellhausen 527,18 Ezechiel/Ezechielbuch: Vision 125,53-126,10 Fabri, Friedrich: Warneck 439,28 Fabricius, Johann Jakob: Westfalen 691,12 Fabricius, Johann: West- und Ostpreußen 669,16 Falk, Johann Daniel: Waisenhaus 382,43 Familie: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 464,44 Farel, Guillaume: Viret 114,44; Waldenser 394,47 Fasten/Fasttage: Volksfrömmigkeit 227,46-228,13 Fastenpraxis: Viktor I. 94,33 Fatima: Vision 144,26 Featley, Daniel: Westminster/Westminsterconfession 709,13 Feldner, Ludwig: Volksmission 266,30 Feministische Theologie: Weisheit/ Weisheitsliteratur 494,22 Fénelon, François de: Vollkommenheit 281,14-23 Feste und Feiertage: Volksfrömmigkeit 220,27; 244,18 Feuerbach, Ludwig: Vorsehung 312,18-25 Fichte, Johann Gottlieb: Volk 193,37-56; Welt/Weltanschauung/Weltbild 546,7 Fick, Ulrich: Weltbund der Bibelgesellschaften 615,32 Findelhaus: Waisenhaus 381,3 Fitch, William: Vinzenz von Paul 111,51 Flitner, Wilhelm: Volksbildung/ Volksbildungswesen 212,20 Florinus: Viktor I. 94,24 Florus v. Lyon: Viktorin von Pettau 97,20 Föderaltheologie: Werke 641,16 Formgeschichte/Formenkritik: Weiß 525,28 - 36 Fortunatian: Viktorin von Pettau 98,45 Fournier, Jacques (Papst Benedikt XIII.): Waldenser 391,32 Fox, George: Vision 143,40 Foxe, John: Waldenser 397,48 Francke, August Hermann: Versuchung 60,26-37; Waisenhaus 382,1-16; Werke 640,47 Frank, Franz Hermann Reinhold v.: Werke 643,50-644,23 Franken: Visitation 152,1-27 Frankreich: Waldenser 391,8-46; Westfälischer Friede 679,18ff.; 680,35-45; Widerstand 755,31-757,18; 759,46-760,21 Franziskaner: Vienne, Konzil von 78,19-44 Französische Revolution: Widerstand 760,6 Frau: Vision 140,25-46 Freidenker: Welt/Weltanschauung/Weltbild 556,42 ff. Freiheit: Versuchung 64,48 Freimaurer: Westfalen 691,26

Namen/Orte/Sachen Freireligiöse Bewegungen: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 556,12 Freiwilligkeitskirche: Volkskirche 2 5 8 , 1 5 - 2 8 Frey, Johann Ludwig: Wettstein 723,19 Friedrich II., Kaiser: Walther von der Vogelweide 436,23; 437,30 Friedrich II., Kg. v. Preußen: Voltaire 286,47-287,2 Friedrich, Prince of Wales: Wesley 660,37 Friedrich Wilhelm I., Kg. in Preußen: West- und Ostpreußen 6 7 0 , 7 - 2 3 Friedrich Wilhelm III., Kg. v. Preußen: Westund Ostpreußen 671,16 Friedrich Wilhelm, Kurfürst v. Brandenburg: West- und Ostpreußen 669,28 Fritsch, Theodor: Volk 196,1 Frömmigkeit: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 460,17 Frommel, Gaston: Vinet 105,36 Füllkrug, Gerhard: Volksmission 267,11 Fürstenberg, Wilhelm v.: Waldenser 395,15 Fundamentalismus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 563,23 Fundamentaltheologie: Vernunft 1 , 2 0 - 2 , 6 0 Furbity, Guy: Viret 114,46 Furly, Benjamin: Weigel 452,12 Galen, Clemens August Kardinal Graf v.: Westfalen 695,1 Gallien: Vinzenz von Lerins 109,4ff. Gallus v. Neuhaus: Waldenser 392,20 Garden, Alexander: Whitefield 728,18 Gebet: Weigel 451,31 Gebetszeiten: Volksfrömmigkeit 220,39 Gebhard Truchseß v. Waldburg, Erzbf. v. Köln: Westfalen 689,36 Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge: Wichern 735,6 - 2 0 Geiger, Abraham: Wellhausen 528,24 Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben: Vernunft 1 2 , 3 9 - 5 0 ; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 343,7-15 Gemeinde: Volksmission 269,45 - 270,9 Gemeinde der Heiligen: Volkskirche 258,29 Gemeindeaufbau: Vertrauen 7 5 , 2 8 - 4 3 ; Volksmission 268,23 Gemeindekirche: Volkskirche 258,1 Gemeinschaftsbewegung: Volksmission 266,38 Generalvikar: Vikar/Vikarin 8 5 , 8 - 2 6 Genf (Stadt): Waldenser 395,48 Gennadius v. Marseille: Vinzenz von Lerins 109,4.16.24-34 Georgia: Wesley 6 5 9 , 3 5 - 6 6 0 , 7 ; Whitefield 727,3 lff. Gerechtigkeit: Weisheit/Weisheitsliteratur 4 9 1 , 6 - 2 4 ; Welt/Weltanschauung/Weltbild 571,27 Gerhard, Johann: Versuchung 59,9 Gericht Gottes: Welt/Weltanschauung/Weltbild 581,43£f. Gerichtsvikar: Vikar/Vikarin 85,28 Germanisierung des Christentums: Volk 196,31; 206,33; Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,15 Gerson, Johannes: Widerstand 747,4; 748,8 Gerstenmaier, Eugen: Wichern 738,14

799

Gertrud v. Hackeborn: Vision 140,31 Gesangbuch: Volksfrömmigkeit 243,46 Geschichte Israels: Wellhausen 5 2 9 , 1 - 5 3 0 , 3 4 Gesellschaft für ethische Kultur: Welt/Weltanschauung/Weltbild 556,49 Gesetz: Wellhausen 529,39 Gewissen: Weisheit/Weisheitsliteratur 519,26 Gibbons, James: Weltparlament der Religionen 618,31 Gildas: Wales 402,14 Gillespie, George: Westminster/Westminsterconfession 709,3 Gilly, William Stephen: Waldenser 398,34 Glandorp, Johann: Westfalen 6 8 7 , 5 2 - 6 8 8 , 3 Glase, Johann Friedrich: Westfalen 691,18 Glaube: Vernunft 1 , 6 - 1 2 , 5 0 ; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 363,54ff.; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 6 0 5 , 2 8 - 6 1 0 , 4 Globalisierung: Welt/Weltanschauung/Weltbild 567,38 Gmeiner, Hermann: Waisenhaus 384,42 Gnade: Werke 6 2 4 , 2 2 - 3 1 Gneisenau, Neidhardt v.: Volk 195,13 Gnesiolutheraner: Westphal 713,15 Gnosis/Gnostizismus: Vision 138,18; Welt/Weltanschauung/Weltbild 566,26 Gobineau, Arthur: Volk 195,37; 198,19 Gödel, Kurt: Vorsokratik 333,52 Goethe, Johann Wolfgang v.: Versuchung 61,46-62,10 Goethebund: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,4 Gogarten, Friedrich: Volk 201,45 - 5 1 Golinduch: Vision 139,6 Gollwitzer, Helmut: Volkskirche 255,38 Gomarus, Franciscus: Voetius 181,36 Gondi, Jean François de: Vinzenz von Paul 112,25.48 Gönnet, Giovanni: Waldenser 399,28 Goodman, Christopher: Widerstand 755,13 Goodwin, Thomas: Westminster/ Westminsterconfession 709,24 Gorgias: Vorsokratik 333,28 Gott: Vernunft l,39ff.; 1 3 , 4 9 - 1 4 , 3 4 ; Vollkommenheit 273,6ff.; 282,31; Vorsehung 319,25 - 3 2 1 , 3 9 ; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 3 8 , 4 1 - 3 3 9 , 1 7 ; Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 4 6 8 , 4 0 - 4 7 1 , 2 ; Weisheit/Weisheitsliteratur 4 9 1 , 4 6 - 4 9 2 , 3 3 ; Welt/Weltanschauung/Weltbild 538,45ff.; 570,5ff.; 588,4ff.; Whitehead 731,46 Gottesdienst: Vertrauen 74,45 - 7 5 , 2 ; Volksfrömmigkeit 2 2 6 , 5 2 - 2 2 7 , 1 5 Gottesgnadentum: Widerstand 742,18 - 7 4 3 , 3 0 Gotthelf, Jeremias: Vormärz 298,44 Gottschalk der Sachse: Werke 635,20 Gottschick, Johannes: Werke 643,39 Grab: Volksfrömmigkeit 219,29 Gratian v. Bologna: Völkerrecht 178,6 Gregor v. Elvira: Viktorin von Pettau 98,48 Gregor v. Nazianz: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,33; 461,31 Gregor v. Nyssa: Vollkommenheit 276,14-277,6 Gretser, Jakob: Waldenser 397,51

800

Namen/Orte/Sachen

Griechische Religion: Weihrauch 474,39 Grigelaitis, Klimkus: West- und Ostpreußen 671,6 Grimm, Hans: Volk 196,16 Großbritannien: Waisenhaus 383,31-384,4 Grosseteste, Robert: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 591,12 Grotius, Hugo: Versöhnung 31,39-48; Völkerrecht 179,10-17; Widerstand 759,1 Grundemann, Reinhold: Warneck 440,49 Grundwerte: Wert 655,21-656,7 Guericke, Otto v.: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 594,24 Guichard v. Pontigny, Erzbf. v. Lyon: Waldenser 3 8 8 , 4 6 - 3 8 9 - 1 1 Guillaume Durand d.J. v. Mende: Vienne, Konzil von 77,10 Guillaume le Maire v. Angers: Vienne, Konzil von 77,10.30 Gumplowicz, Ludwig: Volk 198,24 Gurlitt, Johann Gottfried: Wichern 733,54 Gutzkow, Karl: Vormärz 298,50 Guyon de la Mothe, Jeanne Marie: Vision 143,23; Wesley 659,4 Haeckel, Ernst: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,7; 598,31-42 Häresie: Vinzenz von Lerins 109,41 Härle, Wilfried: Vernunft 9 , 4 9 - 5 7 Haggada: Volksfrömmigkeit 218,39 Haiti: Westindische Inseln 699,25 Halacha: Volksfrömmigkeit 218,39 Halberstadt (Bistum): Westfälischer Friede 681,20 Haller, Albrecht v.: Vorsehung 311,21 Haller, Karl Ludwig v.: Vormärz 296,36; Widerstand 760,48 Hamburg: Westphal 712,29; Wiehern 733,47ff. H a r k o r t , Friedrich: Volksbildung/ Volksbildungswesen 211,26 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph v.: Volk 196,26; 200,6 Harris, Howell: Wales 403,44; Wesley 661,9; Whitefield 728,43 H a r t m a n n , Nikolai: Wert 649,46; 654,32 Hase, Karl August v.: Vormärz 292,41; 296,53 Haselmayr, Adam: Weigel 452,8 Haskell, Caroline E.: Weltparlament der Religionen 619,25 Hassenpflug, H a n s Daniel Ludwig: Vilmar 100,19 Hauer, Jakob Wilhelm: Volk 196,46 Hauffe, Friederike: Vision 144,18 Hausmann, Nikolaus: Visitation 154,42 Hebräerbrief: Versuchung 51,14-24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich/ Hegelianismus: Versöhnung 33,5-49; Vorsehung 313,40-314,21; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 360,28-361,6; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 546,40-547,4 Hegge, Jakob: West- und Ostpreußen 668,50 Heidegger, Martin: Versuchung 64,52; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 362,15-33; Welt/Weltanschauung/Weltbild 541,30; 562,11; 600,16

Heidelberger Katechismus: Werke 639,50-640,8 Heil und Erlösung: Versöhnung 2 3 , 1 2 - 3 4 Heilige/Heiligenverehrung: Volksfrömmigkeit 220.47-221,21; 229,42; Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 422,19-423,7 Heilige Stätten: Volksfrömmigkeit 219,22-220,2; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 424,23; 425,10; Westsemitische Religion 717,6 Heilige Zeiten: Volksfrömmigkeit 220,4 - 4 5 Heiliges Land: Vienne, Konzil von 78,2 Heilig-Geist-Orden: Waisenhaus 381,3 Heiligung: Vollkommenheit 279,15; Werke 642,8ff.; Wesley 658,41 Heilsarmee: Waisenhaus 383,50 Heim, Karl: Welt/Weltanschauung/Weltbild 550,39-47; 600,36-45 Heine, Heinrich: Vormärz 298,46 Heinrici, Georg: Wettstein 726,7 Hekhalot: Vision 130,17-37 Henderson, Alexander: Westminster/ Westminsterconfession 709,2 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Vormärz 296,30 Henochgestalt/Henochliteratur: Vision 129,39; Weisheit/Weisheitsliteratur 497,21 - 2 9 äthHen: Welt/Weltanschauung/Weltbild 582,9-24 Henri v. Marcy: Waldenser 389,3 Henry de Bracton: Widerstand 744,28 Herakleides Pontikos: Vision 119,40 Heraklit: Vorsokratik 331,10-26; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 348,21 Herberger, Valerius: Versuchung 59,19 Herder, Johann Gottfried: Volk 193,19-28; 195,7 Herford: Westfalen 688,3 Hermann v. Wied: Westfalen 688,32.51-689,6 Hermann, Rudolf: Widerstand 762,9 Hermas: Werke 633,47 Herms, Eilert: Vernunft 5,38-6,14; 7 , 2 0 - 3 4 ; 9,58-10,19; 12,37; Volkskirche 255,41; Welt/Weltanschauung/Weltbild 550.48-552,8 Herodot: Weihrauch 472,45 Herrmann, Wilhelm: Werke 643,16-36 Herrschaft/Herrschaftstheorie: Widerstand 740,19-748,32 Herrschaft Gottes/Reich Gottes: Weiß 524,27; Wiederbringung aller 774,15 Hesiod: Vorsokratik 329,22-35 Hessen: Westfälischer Friede 681,31 Hexateuch: Wellhausen 528,46; 529,28 Hieronymus: Viktorin von Pettau 97,15; 98,4.45 Hilbert, Gerhard: Volksmission 266,19; 267,8-34; Wichern 737,8 Hildegard v. Bingen: Vision 140,34 Himmel: Welt/Weltanschauung/Weltbild 572,48-575,40; 584,9-585,36 Hinduismus: Volksfrömmigkeit 216,9-17; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 410,49-411,26; Welt/Weltanschauung/Weltbild 564,12; Werke 625,16-25; Westindische Inseln 701,26 Hiob/Hiobbuch: Versuchung 46,44; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 339,45-340,3; Weisheit/Weisheitsliteratur 490,24-47; 492,36-493,9

Namen/Orte/Sachen Hiraethog, Gwilym: Wales 404,44 Hirsch, Emanuel: Vernunft 3 , 4 8 - 4 , 4 9 ; 7,3; Volk 203,3-30 Hirscher, J o h a n n Baptist: Waisenhaus 383,25 Hitler, Adolf: Volk 196,13 Hochzeit: Volksfrömmigkeit 2 2 0 , 1 1 - 1 7 Höllenfahrt Christi: Westphal 713,9 H o f m a n n , J o h a n n Christian Konrad: Vormärz 292,49 H o m a g i u s , Philipp Heinrich: Weigel 452,19 H o m e r : Vorsokratik 3 2 9 , 9 - 2 1 Homiletik: Versuchung 7 0 , 1 4 - 2 4 Honecker, Martin: Vernunft 9 , 1 6 - 4 3 H o n o r a t u s v. Arles: Vinzenz von Lérins 109,10 H o o m b e e c k , Johannes: Voetius 182,13 H o t m a n , François: Widerstand 7 5 5 , 4 0 - 7 5 6 , 5 H o w e l l , David: Wales 406,16 Hubble, Edwin: Vorsokratik 334,2; Welt/Weltanschauung/Weltbild 598,51 Huber, Ulrich: Widerstand 759,13 Huchzermeyer, Clamor: Westfalen 693,50 Hudtwalcker, Martin Hieronymus: Wiehern 734,4 Hughes, Stephen: Wales 403,38 H u g o v. Fleury: Widerstand 745,34 H u g o , Victor: Vinet 103,45 H u m a n i s m u s / H u m a n i s m u s f o r s c h u n g : Vives 174,26; Volk 192,45-193,3 Humanistische Union: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 558,11 H u m b o l d t , Alexander v.: Welt/Weltanschauung/Weltbild 546,30; 598,24 H u m b o l d t , Wilhelm v.: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 547,5 Huntingdon, Seiina v.: Whitefield 729,23 H u s , Johann/Hussiten: Waldenser 394,18 Husserl, Edmund: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 541,17; 548,23 Hutten, Kurt: Volk 2 0 0 , 4 7 - 2 0 1 , 1 8 Huxley, Aldous: Vision 122,29 Ibn al-Kalbl: Wellhausen 534,11 Idealismus: Welt/Weltanschauung/Weltbild 546,6-547,17 Ideologie/Ideologiekritik: Welt/Weltanschauung/Weltbild 563,21 Ignatius v. Antiochien: Werke 633,39 Ikonen: Volksfrömmigkeit 2 2 7 , 3 0 - 4 2 Illtud: Wales 402,20 Immanuel b. Solomon: Vision 131,32 Indien: Weltparlament der Religionen 618,42-51 Indische Religionen: Weisheit/Weisheitsliteratur 4 8 4 , 1 2 - 4 8 5 , 1 5 Industrialisierung: Volksbildung/ Volksbildungswesen 210,51; Westfalen 692,10-28 Ingham, Benjamin: Wesley 658,40 Innere Mission: Volksmission 2 6 6 , 6 - 20; Westund Ostpreußen 671,52; Wiehern 734,46-735,4; 736,25-57; 737,41-738,22 Inquisition: Vienne, Konzil von 76,38; Waldenser 390,50 Interim: Werke 638,21; Widerstand 753,7 International Association for Religious

801

Freedom: Welt/Weltanschauung/Weltbild 558,14 International H u m a n i s t and Ethical Union: Welt/Weltanschauung/Weltbild 558,15 Iranische Religionen: Weisheit/Weisheitsliteratur 4 8 3 , 2 - 4 8 4 , 1 0 Irenaus v. Lyon: Versöhnung 25,46; Viktor I. 95,17ff.; Viktorin von Pettau 98,35 Isaak ben Samuel von Akko: Vision 131,16 Isaak Israeli: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 354,4 Isaak, J a k o b : Vision 132,14 Iselin, J a k o b Christoph: Wettstein 723,19 Isidor v. Sevilla: Vinzenz von Lerins 110,36; Welt/Weltanschauung/Weltbild 590,47; Widerstand 744,8 Islam: Vision 1 2 1 , 1 4 - 4 2 ; Volksfrömmigkeit 2 1 6 , 1 9 - 3 4 ; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 4 1 2 , 3 0 - 4 1 3 , 1 3 ; Weisheit/Weisheitsliteratur 4 8 0 , 3 6 - 5 5 ; Wellhausen 533,10ff.; Werke 624,32-42 Israel: Volksfrömmigkeit 219,22; Waisenhaus 380,5-15 Iwand, H a n s J o a c h i m : Widerstand 769,44 J a h n , Friedrich L u d w i g : Volk 194,17; 195,16; Vormärz 298,4 J a i n i s m u s : Wallfahrt/Wallfahrtswesen 411,27-32 J a k o b u s b r i e f : Versuchung 5 1 , 2 5 - 4 1 ; Weisheit/Weisheitsliteratur 508,39; 5 1 4 , 2 - 1 5 ; Werke 6 3 1 , 4 - 1 2 J a m a i k a : Westindische Inseln 7 0 0 , 2 6 - 7 0 1 , 7 J a m e s , William: Vorsehung 317,28 Jansen, Cornelis/Jansenismus: Werke 641,31 J a p a n : Wallfahrt/Wallfahrtswesen 4 1 2 , 1 9 - 2 9 ; Weltparlament der Religionen 6 1 8 , 5 2 - 6 1 9 , 6 J a s p e r s , Karl: Welt/Weltanschauung/Weltbild 548,35-45 J e a n Bellesmains: Waldenser 389,7 J e a n Petit: Widerstand 748,4 J e h u d a ben Samuel he-Chasid: Vision 130,48 J e h u d a Hallevi: Vision 131,6 Jellinek, G e o r g : Weber 443,3 Jenseitsreise: Vision 140,4 J e r u s a l e m , J o h a n n Friedrich Wilhelm: Versuchung 61,8 Jerusalem: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 417,8-45; 418,36-420,39; 421,17-422,17; 426,17-34 J e s a j a / J e s a j a b u c h : Vision 125,16 Jesberger Konferenz: Vilmar 100,11 Jesuiten: Vietnam 81,35 J e s u s Christus: Versuchung 53,16ff.; Vollkommenheit 2 8 2 , 2 - 1 3 ; Vorsehung 303,26; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 3 4 2 , 3 0 - 3 4 3 , 6 ; 372,51; Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 453,38ff.; Weisheit/Weisheitsliteratur 5 0 9 , 3 2 - 5 1 3 , 8 ; Wellhausen 5 3 1 , 4 8 - 5 3 2 , 3 1 ; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 583,49; 585,39; Westphal 714,19 J o h a n n III. von Jülich-Cleve-Berg: Visitation 157,41; Westfalen 689,18 J o h a n n v. Sachsen: Visitation 154,43 J o h a n n van Kampen (Johann Wulf): Westfalen 688,19

802

Namen/Orte/Sachen

Johannes Chrysostomus: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,35; 461,35 Johannes de Legnano: Völkerrecht 178,43 Johannes de Ronco: Waldenser 389,42 Johannes Klimakos: Vision 139,23 Johannes Philoponus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 590,31 Johannes Scottus Eriugena: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 591,4 Johannes v. Nepomuk: Volksfrömmigkeit 236,5 Johannes v. Paris (Johannes Quidort): Widerstand 747,40-50 Johannes v. Salesbury: Widerstand 745,52-746,17 Johannesbriefe: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 341,36-343,46 Johannesevangelium: Vision 136,3-13; Vollkommenheit 274,29-36; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 341,36-343,46; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 419,22 - 4 0 ; Weisheit/Weisheitsliteratur 511,18 - 25; 512.29-40; Wellhausen 531,43; Welt/Weltanschauung/Weltbild 586,9; Werke 632,7-19 Johnstone, Archibald: Westminster/ Westminsterconfession 709,4 Jona/Jonabuch: Weisheit/Weisheitsliteratur 490,23 - 4 7 Jones, Griffith: Wales 403,41 Jones, John: Wales 405,7 Jones, John Morgan: Wales 407,20 Jose ben Jochanan: Weisheit/Weisheitsliteratur 507,16 Josephnovelle: Versöhnung 16,14; Weisheit/Weisheitsliteratur 490,23 - 47 Josephus Flavius: Vision 129,20; Vorsehung 324,41; Weisheit/Weisheitsliteratur 503,48 Jost, Ursula: Vision 142,29 Josuttis, Manfred: Versuchung 69,30; 70,21 Joyeuse Entrée: Widerstand 740,44 Judentum: Vision 129,5-132,31; Volksfrömmigkeit 218,21-221,21; Vorsehung 324,5 -327,2; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 346,3 -347,19; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 421,16-423,7; Weisheit/Weisheitsliteratur 497,4-507,41; Werke 625,44- 628,15 Judex, Matthaeus: Westphal 714,14 Jüngel, Eberhard: Versöhnung 36,28 Juliana v. Lüttich (Juliana v. Cornillon): Vision 141,45 Juliana v. Norwich: Vision 141,5 Julius, Nikolaus Heinrich: Wichern 734,11 Jurieu, Pierre: Widerstand 759,46 Justin der Märtyrer: Vision 139,21 Kabbala: Vision 131,12; Vorsehung 325,44-326,13 Kahler, Martin: Volk 200,11 Kairoer Geniza: Weisheit/Weisheitsliteratur 507.30-41 Kalender: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 457,20-458,30; Welt/Weltanschauung/Weltbild 582,8-44 Kanonistik: Völkerrecht 178,14ff. Kant, Immanuel/Neukantianismus:

Versöhnung 32,15-33,4; Vision 144,3; Volk 193,29-35; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 359,16-360,23; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 544,47- 545,27; 597,34-45; Widerstand 760,26 Kapitalismus: Weber 442,39-48 Kardinalvikar: Vikar/Vikarin 84,39 Karl Albert, Kg. v. Sardinien: Waldenser 398,22 Karl der Große: Vogtei 184,47; Westfalen 687,3 Karl V., Kaiser: Vitoria 171,48; 172,20 Karl der Kahle: Widerstand 741,32 Karma: Welt/Weltanschauung/Weltbild 565,51-566,12; Werke 624,43 - 625,15 Karo, Joseph: Vision 131,39; 132,6 Karthaus, Christian Heinrich: Westfalen 691,18 Karthaus, Johann: Westfalen 691,17 Kastilien: Vitoria 169,30ff. Kasualien: Volksfrömmigkeit 229,16-38; Weisheit/Weisheitsliteratur 520,50-521,20 Katechismus: Westminster/Westminsterconfession 710,23 Katharina v. Aragon: Vives 174,13 Katholische Reform und Gegenreformation: West- und Ostpreußen 669,4; Westfalen 689,49-690,2 Katholische Aktion: Volksfrömmigkeit 238,40 Kausalität: Welt/Weltanschauung/Weltbild 571,9 Keane, John J.: Weltparlament der Religionen 618,32 Kele-Religion: Westindische Inseln 700,18 Keltische Kirchen: Wales 402,18-33 Kempe, Margery: Vision 141,38 Kepler, Johannes: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 596,3 Keplerbund: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,5 Kerner, Justinus: Vision 144,17 Keßel, Fritz: West- und Ostpreußen 673,15 Keynes, John Maynard: Whitehead 730,30 Kierkegaard, Seren Aabye: Versuchung 55,54-56,7; 65,1-19; Vorsehung 315,6-31; 318,9 Kindervater, Christian Victor: Versuchung 61,20 Kirche: Vormärz 293,20-41; Warneck 440,24-40; Werbung 622,29-37 Kirche und Staat: Vinet 103,2; 105,24 Kirche von England: Volksfrömmigkeit 240,31-241,49; Wesley 661,28ff.; Westindische Inseln 702,48-703,44 Kirche von Schottland: Westminster/ Westminsterconfession 708,28 Kirchenjahr: Volksfrömmigkeit 227,44-229,14 Kirchenkampf: Versuchung 62,43; West- und Ostpreußen 673,1-29 Kirchenleitung: Visitation 151,26ff. Kirchenlied: Vilmar 100,45 Kirchenordnungen: Visitation 156,1-20 Cleve-Mark und Jülich-Berg (1654/66): Westfalen 690,32 Jülich, Kleve, M a r k (1532): Westfalen 689,20 Osnabrück (1543): Westfalen 689,9 Preußen (1568): West- und Ostpreußen 668,40 Rheinland und Westfalen (1835): Westfalen 693,42 Soest (1532): Westfalen 688,22

Namen/Orte/Sachen Tecklenburg (1543): Westfalen 688,41 Tecklenburg (1587): Westfalen 690,8 Kirchenreform: Vienne, Konzil von 78,12 Kirchentage: Wittenberg (1848): Wichern 734,44 Kirchenverfassung: Visitation 159,Off. Kircher, Athanasius: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 594,23 Klatt, Fritz: Volksbildung/Volksbildungswesen 212,21 Kleist, Heinrich v.: Vormärz 298,5 Klemme, Pankratius: West- und Ostpreußen 669,1 Kleve: Westfalen 687,35 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Volk 195,10 Klöster und Stifte: Vogtei 185,14ff.; Westfalen 691,45 Beauvais: Vinzenz von Beauvais 106,29 Cappenberg: Westfalen 687,14 Cluny: Vogtei 185,30 Corvey: Westfalen 687,11; 690,53 Czenstochau: West- und Ostpreußen 669,8 Helfta: Vision 140,30 Herford: Westfalen 687,10 Hirsau: Vogtei 185,30 Lerins: Vinzenz von Lerins 109,9 Remiremond: Vogtei 185,31 Royaumont: Vinzenz von Beauvais 106,30 St.Vedast: Vinzenz von Beauvais 108,10 Knibb, William: Westindische Inseln 703,37 Kniewel, Theodor: West- und Ostpreußen 671,7 Knox, John: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 462,30; Widerstand 755,14 Koch, Erich: West- und Ostpreußen 673,16 Koch, Karl: Westfalen 694,35-52; 695,38 Köln (Erzbistum): Westfalen 687,21; 688,52 Königsberg (Stadt): West- und Ostpreußen 667,18-673,49 Königsbücher: Wellhausen 529,19 Königtum: Westsemitische Religion 716,14 Köstlin, Julius: Vormärz 292,47 Koheletbuch: Weisheit/Weisheitsliteratur 487,36ff.; 492,36-493,9 Koiten, Hermann: Westfalen 688,14 Kolbenheyer, Erwin Guido: Volk 196,16 Kollekte des Paulus: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 420,25-39 Kolosserbrief: Versöhnung 20,4-26 Komitee Konfessionslos: Welt/Weltanschauung/Weltbild 557,10 Kompatibilismus: Vorsehung 316,49 Konfessionalisierung: Volksfrömmigkeit 235,17ff. Konfessionalismus: Vilmar 99,38ff. Konfuzius/Konfuzianismus: Weisheit/ Weisheitsliteratur 485,18 - 3 5 Kongregationalismus: Whitefield 729,38 Konkordate: 1583 (Salzburg): Visitation 158,38 1859 (Haiti): Westindische Inseln 704,15 1929 (Preußen): Westfalen 694,16 Konkordienformel: Versöhnung 30,16; Werke 638,45 -639,22; 640,32 Konrad v. Marburg: Waldenser 391,50 Konservatismus: Vormärz 296,28

803

Konsistorium: Visitation 156,28 Konstanz (Bistum): Wessenberg 663,14-664,26 Kontingenz: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 366,3-13 Konventikel: Weigel 452,15 Kopernikus, Nikolaus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 594,25-39 Koptische Kirche: Weihrauch 476,46 Kortum, Renatus Andreas: Westfalen 691,17 Kosmos/Kosmologie: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 538,33-541,10; 582,6ff.; Westsemitische Religion 716,48-717,5 Kostka, Stanislaus: Volksfrömmigkeit 236,6 Kotter, Christopher: Vision 143,36 Krafft, Justus Christoph: Versuchung 61,42 Krage, Nikolaus: Westfalen 688,9 Kreuz: Volksfrömmigkeit 227,17-29 Kreuzzüge: Vienne, Konzil von 78,5; Völkerrecht 178,16; Waldenser 393,18; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 426,25; Waither von der Vogelweide 437,29-438,5 Krieg: Völkerrecht 178,8-53; Widerstand 740,6 Krippe: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 460,32 Kropp, Gottschalk: Westfalen 688,11 Küng, Hans: Vertrauen 73,6; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 568,8; Weltparlament der Religionen 620,3 Künneth, Walter: Volk 202,43; Widerstand 770,3-15 Kuessner, Theodor: West- und Ostpreußen 673,17 Kuhlmann, Quirinus: Vision 143,9 Kukat, Christoph: West- und Ostpreußen 671,47 Kukatianer: West- und Ostpreußen 671,46 Kultur: Weber 445,6-446,49 Kulturkampf: West- und Ostpreußen 672,12-23 Kumina-Religion: Westindische Inseln 700,21 Lagarde, Paul Anton de: Volk 195,40 Lamettrie, Julien Offray de: Vorsokratik 334,4 Langbehn, August Julius: Volk 195,41 Lange, Friedrich: Volk 195,49 Las Casas, Bartolome de: Vitoria 172,16 Lassalle, Ferdinand: Volksbildung/ Volksbildungswesen 211,31 Lasterkataloge: Weisheit/Weisheitsliteratur 513,37-49 Lateinamerika: Weltbund der Bibelgesellschaften 613,22-30 Latermann, Johann: West- und Ostpreußen 669,37 Laube, Heinrich: Vormärz 298,50 Laud, William: Westminster/Westminsterconfession 708,24 Laurent v. Orleans: Waldenser 394,13 Law, William: Wesley 659,6 Lazaristen: Vinzenz von Paul 112,34 Leade, Jane: Vision 143,39 Leben: Wert 656,9-24 Lee, James Prince: Westcott 675,31 Lehrvikar/Lehrvikarin: Vikar/Vikarin 87,27-88,31 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vorsehung 312,1-11.47-313,13; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 357,48-359,13;

804

Namen/Orte/Sachen

Welt/Weltanschauung/Weltbild 597,10-22; Wert 650,3 Leich: Walther von der Vogelweide 438,6 Lemaitre, Auguste: Vinet 105,37 Lenau, Nikolaus: Vormärz 298,46 Lentolo, Scipione: Waldenser 396,17-38 Leopold VI. v. Österreich: Walther von der Vogel weide 435,19 Levi ben Gerson (Gerschom): Vorsehung 325,26 Lewis, Evan: Wales 406,17 Libanon: Westsemitische Religion 718,53-719,47 Liberale Theologie: Werke 643,37-49 Liberalismus: Vormärz 296,6-27; Wales 407,18 Lichtfreunde: Vormärz 294,12 Lied: Walther von der Vogelweide 436,30-437,13 Liele, George: Westindische Inseln 702,30 Lienhard, Friedrich: Volk 196,2 Lightfoot, John: Westminster/Westminsterconfession 709,20; Wettstein 725,1 Lippstadt: Westfalen 688,4.15 Lippstädter Katechismus 1524: Westfalen 688,15 Literatur: Vormärz 298,33-55 Liturgie: Weihrauch 475,34- 477,23; Westminster/Westminsterconfession 710,17 Liudger: Westfalen 687,7 Lloyd-Jones, Martyn: Wales 407,30 Llwyd, Morgan: Wales 403,25 Locke, John: Vitoria 172,33; Wesley 659,23; Widerstand 759,37 Lodenstein, Jodocus van: Voetius 182,14 Löhe, Wilhelm: Versuchung 69,13 Logienquelle (Redequelle, Spruchquelle): Weisheit/Weisheitsliteratur 508,43-48; 510,45-511,7 Logik: Whitehead 730,46-731,11 Logos: Welt/Weltanschauung/Weltbild 583,4 Lombardei: Waldenser 389,41-390,43 Lombardische Arme: Waldenser 389,44-390,43 Lopez, Gregorio (Gregor Lo Wentsao): Wesley 659,11 Lothringen: Westfälischer Friede 680,37 Lotze, Rudolph Hermann: Wert 648,23 Ludendorff, Erich: Volk 196,47 Ludendorff, Mathilde: Volk 196,47 Ludwig der Deutsche: Widerstand 741,31 Ludwig IX., Kg. v. Frankreich: Vinzenz von Beauvais 106,30 Lücke, Friedrich: Vormärz 292,40; Wichern 734,7 Luhmann, Niklas: Vertrauen 72,16-37 Lukasevangelium: Versuchung 50,9-22; Vision 135,30 Lullus, Raymundus: Widerstand 746,49-747,4 Luthardt, Christoph Ernst: Vilmar 100,27; Werke 644,24-31 Luther, Martin: Vernunft 1,32; 2,18-60; Versöhnung 28,46-29,33; Versuchung 54,33-58,41; Vertrauen 72,39-73,5; Visitation 154,43; Vokation 187,49-188,40; 189,8; Volk 193,4-16; Vollkommenheit 278,36-279,14; Vorsehung 307,12-309,5; Waisenhaus 381,31; Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 428,18-29; Weigel 451,5-18; Weihnachten/Weihnachtsfest/

Weihnachtspredigt 462,18; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 595,6; Werke 636,51-638,8; West- und Ostpreußen 668,31; Widerstand 751,4-752,31 Luzzatto, Mose Chaim: Vision 132,7 Luzzi, Giovanni: Waldenser 399,18 Lyon: Viret 115,31; Waldenser 388,34 Lyon, Arme von: Waldenser 388,34-389,38 Lysius, Heinrich: West- und Ostpreußen 670,9 Mach, Ernst: Vorsokratik 334,4 Macmillan, Alexander: Westcott 677,5 Märtyrer/Märtyrerverehrung: Volksfrömmigkeit 223,7 Magdeburg (Erzbistum): Westfälischer Friede 681,22 Magdeburger Bekenntnis: Widerstand 753,6-25 Magna Charta: Widerstand 743,9-30 Magna Mater: Westsemitische Religion 716,1 Mahäbhärata: Vision 120,18 Maitland, Lord: Westminster/Westminsterconfession 709,3 Major, Georg: Werke 638,23 Majoristischer Streit: Werke 638,17-29; Westphal 713,29 Majumdar, Protap Chunder: Weltparlament der Religionen 618,42 Majus, Johann Heinrich: Wettstein 725,2 Makarius (Symeon v. Mesopotamien): Wesley 659,9 Maldeninker: West- und Ostpreußen 671,46 Manegold v. Lautenbach: Widerstand 745,39 Manichäismus: Vision 138,24; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 566,26 Marcourt, Antoine: Viret 114,44; 115,5 Maria de Agreda: Vision 141,39 Maria/Marienfrömmigkeit: Vision 144,22-37; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 428,45 -429,26; Walther von der Vogelweide 438,11-24 Mariana, Juan de: Widerstand 757,34 Marillac, Louise de: Vinzenz von Paul 113,29-43 Mark: Westfalen 687,17.32-39; 689,17-30; 690,25-50; 693,31 Markusevangelium: Versuchung 49,13-34; Wellhausen 532,10 Marsh, Herbert: Westcott 677,43 Marsilius v. Padua: Widerstand 745,7 Martin, Gerhard Marcel: Versuchung 70,14 Marx/Marxismus: Vorsehung 312,26; Welt/Weltanschauung/Weltbild 553,19 Math, Paul: Weigel 452,22 Mathematik: Whitehead 730,46-731,11 Matthäusevangelium: Versuchung 49,35-50,8 Maximus Confessor: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 590,28 McGrath, Michael: Wales 407,36 Mecklenburg: Westfälischer Friede 681,23 Mekka: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 412,33-413,6 Melanchthon, Philipp: Versöhnung 29,34-44; Visitation 155,1-26; Vorsehung 309,47-310,14; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 595,10; Werke 637,29-638,16; Widerstand 752,33-753,4

Namen/Orte/Sachen Melissos v. Samos: Vorsokratik 331,52-332,3 Membidj: Westsemitische Religion 720,28 Menander v. Ephesus: Weisheit/ Weisheitsliteratur 504,31-505,3 Mensch: Welt/Weltanschauung/Weltbild 538,12ff. ; 570,32 Menschenrechte/Menschenwürde: Wert 655,42-656,7 Mensching, Gustav: Volksfrömmigkeit 215,6 Merkaba-Mystik: Vision 129,51-130,37 Meron: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 422,32 Mesopotamien: Vision 119,2; Weisheit/ Weisheitsliteratur 481,8-482,12 Messe: Weihrauch 476,19-28 Metaphysik: Whitehead 731,24 Meth, Ezechiel: Weigel 452,20 Methodistische Kirchen: Wales 403,45; Wesley 657,28-662,27; Westindische Inseln 702,27; Whitefield 727,44 Metz (Bistum): Westfälischer Friede 680,39 Micha/Michabuch: Vision 125,19 Miles, John: Wales 403,26 Minden (Bistum): Westfälischer Friede 681,20; Westfalen 687,9.30 Minne: Walther von der Vogelweide 436,50-437,13 Mirbt, Carl: Warneck 440,51 Mischna: Werke 627,10-30 Mislenta, Coelestin: West- und Ostpreußen 669,39 Missale Romanum (1570): Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 459,46-460,15 Mission: Vietnam 81,34-82,44; Vinzenz von Paul 113,2; Volksmission 265,33-271,19; Warneck 439,26-441,13; Westcott 676,6; Westindische Inseln 702,5 - 7 0 5 , 2 7 Missionarische Kirche: Volkskirche 258,5-10 Missionsgesellschaften/Missionswerke: Warneck 440,30-40; Weltbund der Bibelgesellschaften 611,27 Rheinische Missionsgesellschaft: Warneck 439,23 Missionswissenschaft: Warneck 439,38-441,13 Mittelalter: Vollkommenheit 277,40-278,34; Welt/Weltanschauung/Weltbild 590,36-593,23; Werke 634,50-636,42 Moeller van den Bruck, Arthur: Volk 195,42 Mönchtum: Vollkommenheit 275,29; Wales 402,25-47; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 424,10-20; Werke 634,40ff. Mörike, Eduard: Vormärz 298,42 Mohl, Robert v.: Widerstand 760,41 Molina/Molinismus: Vorsehung 317,18 Monarchianismus: Viktor I. 9 4 , 9 - 3 0 Monarchomachen: Widerstand 754,48-758,16 Moneta v. Cremona: Waldenser 390,32 Montaigne, Michel Eyquem de: Weisheit/Weisheitsliteratur 518,18 Montanismus: Vision 138,5 Montanus, Jakob: Westfalen 687,50 Morallehre: Wert 653,20-50 Morel, Georges: Waldenser 394,35 Morgan, William: Wales 403,8 Mormonen: Vision 121,44-51 Moscherosch, Johann Michael: Vision 143,14

805

Mose ben Maimon: Vision 130,51; Vorsehung 325,25; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 347,11 Mostyn, Francis: Wales 406,8 Motte, Lambert de la: Vietnam 82,8 Müller, Adam: Volk 195,15; Vormärz 296,36 Müller, Ludwig: West- und Ostpreußen 673,2 Münster (Westfalen), Bistum: Westfalen 687,8.25; 688,26.43-51 Münster (Westfalen), Stadt: Westfälischer Friede 679,48 Müntzer, Thomas: Versuchung 59,40; Vision 142,34 Müsing, Jakob: Westfalen 688,31 Muhammed: Vision 121,14-42; Wellhausen 532,44 Mündt, Theodor: Vormärz 298,51 Musik: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 465,36 Musil, Robert: Welt/Weltanschauung/Weltbild 549,33 Mussert, Anton A.: Visser't Hooft 167,3 Myalism: Westindische Inseln 700,31 Mystik: Vision 139,52; Weigel 451,24; Werke 636,16-21; Wesley 658,50 Nachhaltigkeit: Wert 654,37 Nachman v. Bratzlaw: Volksfrömmigkeit 219,49 Nadere Reformatie: Voetius 182,10-183,41 Napoleon III., Kaiser: Vietnam 82,28 Naseau, Marguerite: Vinzenz von Paul 113,27 Nathan v. Gaza: Vision 130,43; 131,49 Nation: Volk 192,31-194,31 Nationalismus: Vormärz 296,39 Nationalprotestantismus: Volkskirche 250,50-251,21 Nationalsozialismus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 553,18; 557,39-50 Nationalsozialismus und Kirchen: Volksmission 267,36; Widerstand 761,26-763,8 Natur: Vernunft 1,26 Naturphilosophie: Whitehead 731,12-33 Naturrecht: Widerstand 751,45; 758,48-760,21 Naumann, Friedrich: Wert 655,19 Neffe, Felix: Waldenser 398,44 Neologie: Versuchung 61,7 Nestorius/Nestorianischer Streit: Vinzenz von Lerins 110,8 Nethenus, Matthias: Voetius 182,14 Neue Religionen: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 559,21ff. Neues Testament: Vokation 187,25; Weisheit/Weisheitsliteratur 5 0 8 , 3 3 - 5 1 4 - 1 5 ; Wellhausen 531,4-532,38; 535,14-23; Werke 628,27-632,43; Westcott 676,10-678,36; Wettstein 723,40-726,28; Widerstand 739,40; Wiederbringung aller 775,46-776,20 Neumann, Therese: Vision 144,44 Neuplatonismus: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 351,44 Neuprotestantismus: Vormärz 292,23 New Age: Welt/Weltanschauung/Weltbild 567,19 Newton, Isaak: Welt/Weltanschauung/Weltbild 596,50-597,9 Ngo Dinh Diem: Vietnam 82,51

806

Namen/Orte/Sachen

Nguyen Änh: Vietnam 82,18 Nguyen P h u ' o ' c - K h o a t : Vietnam 82,16 Nguyen P h u ' o ' c - T ä n : Vietnam 82,12 Nguyen T h a n - t o : Vietnam 82,25 Nicolai, Philipp: Werke 640,40 Nicole Oresme: W i d e r s t a n d 7 4 7 , 1 8 - 3 4 N i d a , Eugene A.: Weltbund der Bibelgesellschaften 615,9 Niederlande: Voetius 181,29ff.; Westfälischer Friede 679,20ff.; 680,30 Nies, Albert: Westfalen 688,7 Nietzsche, Friedrich: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 361,16-362,11 N i k o l a u s v. Kues: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 355,5-356,4; Weisheit/Weisheitsliteratur 516,29; Welt/Weltanschauung/Weltbild 592,53-593,23 Nishitani, Keiji: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 568,12 N o m i n a l i s m u s : Vorsehung 309,23 - 4 4 N o n k o n f o r m i s m u s : Wales 403,13 - 4 0 8 , 8 Novalis (Friedrich v. H a r d e n b e r g ) : Versuchung 62,12 Nye, Philip: Westminster/Westminsterconfession 709,24 O b e a h : Westindische Inseln 700,29 O c k h a m , Wilhelm v . / O c k h a m i s m u s : Vorsehung 309,33; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 592,45; Werke 6 3 6 , 2 2 - 3 1 ; Widerstand 745,10-17 Oehler, T h e o d o r : Warneck 440,51 O e k o l a m p a d , Johannes: Waldenser 394,40 O e m e k e n , Gerd: Westfalen 688,17 ö k u m e n i s c h e Versammlungen und Konferenzen: O x f o r d 1937: Volk 2 0 4 , 8 - 2 5 ö k u m e n i s c h e r R a t der Kirchen: Visser't H o o f t 167,18-168,3 O f f e n b a r u n g : Vernunft 1 , 9 - 1 2 , 5 0 ; Vision 117,19; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 373,15; Welt/Weltanschauung/Weltbild 588,14 Olcott, H e n r y Steel: Weltparlament der Religionen 619,8 Olier, Jean-Jacques: Vinzenz von Paul 112,37 Olivetan, Pierre R o b e r t : Waldenser 395,7 Olivi, Petrus Johannis: Vienne, Konzil von 78,28 Ollivant, Alfred, Bf. v. Llandaff: Wales 406,10 O p t a t u s v. Mileve: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 454,27 O r d i n a t i o n : Vokation 189,13 Origenes/Origenismus: Versöhnung 2 5 , 4 7 - 2 6 , 6 ; Versuchung 5 3 , 4 0 - 4 6 ; Viktorin von Pettau 98,37; Vorsehung 304,32-305,9; Welt/Weltanschauung/Weltbild 589,5 Orisha-Religion: Westindische Inseln 700,11-17 O r t h o d o x e Kirchen: Volksfrömmigkeit 226,32-230,6; Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 4 6 1 , 3 9 - 4 6 2 , 4 O r t h o d o x i e : Versöhnung 30,38; Versuchung 5 9 , 7 - 2 5 ; Visitation 1 5 7 , 7 - 1 4 ; Werke 640,30-641,20 O r t h o d o x i e , Altlutherische: Weisheit/ Weisheitsliteratur 516,5 O r t h o d o x i e , Altreformierte: Voetius 182,25

Osiander, Andreas: Versöhnung 29,45 - 5 2 ; Versuchung 57,12; West- und O s t p r e u ß e n 668,37 Osiandrischer Streit: Westphal 713,34 O s n a b r ü c k (Bistum): Westfälischer Friede 681,28 O s n a b r ü c k (Stadt): Westfälischer Friede 679,48 Osterfasten: Viktor I. 94,42 O s t e r n / O s t e r f e s t / O s t e r p r e d i g t : Viktor I. 9 4 , 3 3 - 9 6 , 6 ; Volksfrömmigkeit 228,43-229,14 Ostervisionen: Vision 133,42-134,32 O t h o , Anthon: Werke 638,43 O t t o IV., Kaiser: Walther von der Vogelweide 436.17 O t t o b o n o Razzi: Vienne, Konzil von 77,33 O x f o r d b e w e g u n g : Volksfrömmigkeit 241,21 O z a n a m , Antoine Frédéric: Vinzenz von Paul 113.18 Pachomius v. Tabennëse: Vollkommenheit 275,41 Paderborn (Bistum): Westfalen 687,8.27; 688,29 Päpste: Alexander III.: Waldenser 388,50 Benedikt XIII.: Waldenser 391,32 Benedikt XIV.: Vision 144,37 Benedikt XV.: Vinzenz von Lérins 110,48; Weltbund der Bibelgesellschaften 614,18 Bonifaz IX.: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 427,52 Clemens V.: Vienne, Konzil von 7 6 , 2 8 - 7 8 , 4 4 Damasus: Volksfrömmigkeit 225,2 Gregor I. d.Gr.: Vision 139,33; Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 459,32; Werke 635,11; Widerstand 744,5 Gregor IX.: Völkerrecht 178,34; Walther von der Vogelweide 437,32 Gregor VII.: Widerstand 742,38 H o n o r i u s III.: Vogtei 185,47 Innocenz III.: Waisenhaus 381,3; Waldenser 389,30 Innocenz IV.: Völkerrecht 178,33; 179,4; W i d e r s t a n d 742,43; 744,39 Innocenz VIII.: Waldenser 393,17 Leo I. d.Gr.: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 4 5 6 , 2 4 - 4 3 ; 459,4 Leo XIII.: Wales 406,5; Weltbund der Bibelgesellschaften 614,15 Liberius: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 455,3 Lucius III.: Waldenser 389,11 N i k o l a u s I.: Widerstand 744,15 Pius X.: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,16 Pius XII.: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,22-31 Sixtus V.: Vitoria 171,2 U r b a n II.: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 426,24 U r b a n VIII.: Westfälischer Friede 679,38 Viktor I.: 9 3 - 9 7 Päpstliche Bullen, Enzykliken und Breven: Ad p r o v i d a m 1312: Vienne, Konzil von 77,48 Alma mater 1310: Vienne, Konzil von 77,6 Considérantes d u d u m 1312: Vienne, Konzil von 77,49

Namen/Orte/Sachen De salute animarum 1821: Westfalen 693,16 Divino afflante spiritu 1943: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,22 Exiit qui seminat 1279: Vienne, Konzil von 78,30 Exivi de paradiso 1312: Vienne, Konzil von 78,33 Fidei catholicae 1312: Vienne, Konzil von 78,34.39 Humani generis 1950: Weltbund der Bibelgesellschaften 614,26 Inter sollicitudines 1313: Vienne, Konzil von 78,9 Populorum progressio 1967: Widerstand/ Widerstandsrecht 769,10 Provida solersque 1821: Wessenberg 664,24 Regnans in coelis 1308: Vienne, Konzil von 76,28 Salvatoris nostri 1632: Vinzenz von Paul 112,28 Vox in excelso 1312: Vienne, Konzil von 77,46 Zelo domus dei 1650: Westfälischer Friede 682,21 Palästinafahrt: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 425,42-426,13 Palladius v. Helenopolis: Vollkommenheit 276,3-13 Pallu, François: Vietnam 82,8 Palmyra: Westsemitische Religion 720,15-26 Pannenberg, Wolfhart: Vernunft 5,17-34; 7,16; 10,52-11,10; Versöhnung 36,19; Vertrauen 73,14-32; Weisheit/Weisheitsliteratur 516,20; Welt/Weltanschauung/Weltbild 540,52 Papsttum: Vikar/Vikarin 84,30ff.; Völkerrecht 178,19-179,6; Waither von der Vogelweide 437,16-45; Wessenberg 664,11 Paracelsus: Welt/Weltanschauung/Weltbild 594,6 Paränese: Weisheit/Weisheitsliteratur 513,11-514,15 Parmenides: Vision 119,28; Vorsokratik 331,27-48; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 348,31-48 Parteien: Vormärz 297,6; Westfalen 692,29 - 48 Pascal, Blaise: Vinet 103,47 Passauer Vertrag: Westfälischer Friede 682,27 Pastoralbriefe: Werke 630,25 - 4 8 Pastoralreform: Wessenberg 664,27- 665,18 Pastoraltheologie: Versuchung 69,9-40; Vinet 104,19-105,16 Patristik: Werke 633,33- 634,49 Patrizi (Patrizzi), Francesco: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 593,48 Patronat: Vokation 189,29 Paulus, Apostel: Versuchung 50,51-51,13; Versöhnung 18,25 -20,2; Vision 134,34-135,10; Vollkommenheit 274,37-275,2; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 343,48-344,49; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 586,2; Werke 629,2-630,14 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Vormärz 292,32; 296,18 Pauluspseudepigraphen: Werke 630,15-631,2 Peake, Arthur Samuel: Wesley 662,11

807

Pelagius/Pelagianischer Streit: Vinzenz von Lerins 110,11; Vorsehung 308,17; Wales 402,16; Werke 634,20-37 Pentateuch: Vision 126,35-127,26 Peregrinatio: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 423.44-425,8 Pestalozzi, Johann Heinrich: Waisenhaus 382,39 Petrus, Apostel: Vikar/Vikarin 84,28 Petrus Lombardus: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 591,32 Petrus v. Verona: Waldenser 390,32 Petrusbriefe: I Petr: Werke 631,13-20 Pfaff, Nikolaus: Weigel 452,21 Pfalz: Westfälischer Friede 681,39 Pfarrer: Vertrauen 74,11-33; Vinet 104,27; Vokation 188,24 Pfarrvikar: Vikar/Vikarin 86,38-87,25 Pfingstkirchen/Charismatische Bewegungen: Vision 145,3; Westindische Inseln 705,14-27 Philipp IV., Kg. v. Frankreich: Vienne, Konzil von 77,24 Philipp v. Hessen: Westfalen 688,33 Philipp v. Schwaben: Walther von der Vogel weide 436,15 Philipponen: West- und Ostpreußen 671,39 Phillippo, James M.: Westindische Inseln 703,51 Philo v. Alexandrien: Vision 129,9-19; Vorsehung 324,35; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 347,5; Weisheit/Weisheitsliteratur 503,48; Welt/Weltanschauung/Weltbild 582.45-583,37 Philocalus: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 453,39 Philosophie: Vollkommenheit 283,29-284,55; Vorsokratik 328,18ff.; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 348,21-362,33; Weisheit/Weisheitsliteratur 479,15-37; Welt/Weltanschauung/Weltbild 548,10ff. Phönizien: Westsemitische Religion 718,53-719,47 Phönizische Religion: Westsemitische Religion 715,41 Physik: Welt/Weltanschauung/Weltbild 540,41; 608,16 Piemont: Waldenser 393,7; 395,13-21.47; 396,42-397,34 Pietismus: Versuchung 60,11-48; Visitation 157.15-24; Voetius 182,26; Wesley 658,47-660,7; West- und Ostpreußen 670,21; Westfalen 691,7-20; Wiederbringung aller 775,34 Pilgerfahrt: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 423.16-429,37 Pistorius, Jakob: Weigel 451,52 Pitt, William: Wesley 661,18 Planck, Max: Welt/Weltanschauung/Weltbild 598,50; 599,28 Plaß, Louis: Waisenhaus 384,25 Plato/Platonismus: Vollkommenheit 283,36-45; Vorsehung 302,22; Vorsokratik 333,47; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 349,4- 350,2; Weisheit/Weisheitsliteratur 479,30; Welt/Weltanschauung/Weltbild 588,20-590,4; 593,27 Plinius d.J.: Weihrauch 473,9; 474,6; Welt/Weltanschauung/Weltbild 590,47

808

Namen/Orte/Sachen

Plotin: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 351,46-352,13; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 590,2 Plutarch: Vision 119,43 Poach, Andreas: Werke 638,41 Polen: West- und Ostpreußen 668,49-669,25; 669,43 -670,3; 673,40 Polenz, Georg v.: West- und Ostpreußen 668,9 Polhenn, Johannes: Westfalen 688,31 Polier de Bottens, Georges-Pierre: Voltaire 290,2 Pollanus, Valerandus: Westphal 714,11 Pollius, Johannes: Westfalen 688,24.39 Polykrates v. Ephesus: Viktor I. 95,10 Ponet, John: Widerstand 755,12 Poniatovia, Christine: Vision 143,35 Portail, Antoine: Vinzenz von Paul 112,20 Positivismus: Volkskirche 251,52- 252,15 Possevino, Antonio: Waldenser 396,19 Powell, Vavasor: Wales 403,25 Prädestination: Werke 640,52-641,15; Whitefield 727,39 Praktische Theologie: Versuchung 68,47 ff.; Vertrauen 73,43ff.; Vinet 104,15-105,16; Volkskirche 254,50-260,3; Volkskunde 263,39ff.; Weisheit/Weisheitsliteratur 520.24-522,22 Praxeas: Viktor I. 94,9 Predigerseminar: Vikar/Vikarin 90,38 Predigt: Weisheit/Weisheitsliteratur 520,26 Presbyterianer: Westminster/Westminsterconfession 709,29 Preußen: West- und Ostpreußen 667,15 -673,49; Westfalen 691,35; 692,2-695,7 Priester/Priestertum: Wessenberg 664,27- 665,18 Primasius: Viktorin von Pettau 98,52 Proclus (Philosoph): Vision 119,39; Welt/Weltanschauung/Weltbild 590,27 Prokuration: Visitation 152,38 Propheten/Prophetie: Vision 124,32-126,26; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 339,26-340,3; Westsemitische Religion 717,48 Protagoras v. Abdera: Vorsokratik 333,30 Protestantismus: Volksfrömmigkeit 242,32-244,30; Vormärz 295,1; Weisheit/Weisheitsliteratur 518,24-519,16 Provence: Waldenser 393,28; 395,23 - 4 5 Proverbia: Weisheit/Weisheitsliteratur 487,36ff. Prozession: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 421,41 Psalmen/Psalmenbuch: Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 417,24-45 Pseudepigraphen des Alten Testaments: Weisheit/Weisheitsliteratur 497,10-33 Pseudo-Methodius: Vision 139,2 Pseudo-Phokylides: Weisheit/Weisheitsliteratur 502,27-504,28 Pufendorf, Samuel Freiherr v.: Widerstand 759,9 Pukkumina: Westindische Inseln 700,39 Puritanismus: Voetius 182,42; Wales 403,13- 27; Weber 443,20 Pythagoras/Pythagoreer: Vorsokratik 330.25-43; Weisheit/Weisheitsliteratur 479,16-23

Quäker: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 462,32 Quandt, Johann Jacob: West- und Ostpreußen 670,14 Queis, Erhard: West- und Ostpreußen 668,11 Quellenkritik: Wellhausen 528,16ff. Quenstedt, Johann Andreas: Weisheit/ Weisheitsliteratur 516,9 Quervain, Alfred de: Volk 203,45 Quietismus: Wesley 658,51 Qumran: Vision 129,22; Weisheit/ Weisheitsliteratur 497,36-502,20; Welt/Weltanschauung/Weltbild 582,25 Rabbinisches Judentum: Weisheit/ Weisheitsliteratur 507,6-41; Werke 627,1 Radhakrishnan, Sarvepalli: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 568,12 Radziwill, Boguslaus: West- und Ostpreußen 669,33 Rahner, Karl: Versuchung 67,30-42; Vollkommenheit 282,44 Ramakrishna (Ramakrsna): Vision 120,32 Ranke, Ernst Constantin: Vilmar 100,29 Raphelius, Georg: Wettstein 725,2 Rasse: Volk 198,6-41 Rassenlehre: Volk 195,35-47 Rastafari-Religion: Westindische Inseln 700,47-701,7 Rationalismus: Versuchung 61,7; Vormärz 292,30 Rauhes Haus: Wiehern 734,29-43; 735.35-736,18 Raumer, Friedrich: Volksbildung/ Volksbildungswesen 211,26 Rautenberg, Johann Wilhelm: Wichern 734,3 Ravensberg: Westfalen 687,17.37; 689,14-30 Recht: Versöhnung 16,44 Rechtfertigung: Werke 642,7ff. Recke-Volmerstein, Adalbert Graf v. der: Waisenhaus 384,12; Westfalen 693,52 Rees, David: Wales 404,44 Rees, Henry: Wales 405,7 Rees, Thomas: Wales 407,20 Reformation: Versöhnung 28,21-30,37; Visitation 154,35-157,34; Vollkommenheit 278.36-279,40; Vorsehung 307,2-310,14; Waldenser 394,35-396,38; Wales 402,49-403,12; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 428,16-41; Weber 443,5; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 595,1-42; Werke 636,43-640,8; West- und Ostpreußen 668,8-669,25; Westfalen 687,48-689,42 Reformierte Kirchen: Visitation 156,50-157,6; Weber 442,25; Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 462,26; Westfälischer Friede 682,53-683,8; Westfalen 690,3-50; Westminster/Westminsterconfession 708,19-711,40 Regino v. Prüm: Visitation 152,15-27 Reich/Reichsidee: Westfälischer Friede 680,4-22 Reichel, Johannes Gottlob: Weigel 450,41 Reichsreligionsrecht: Westfälischer Friede 682,12-685,14

Namen/Orte/Sachen Reichsverfassung: Westfälischer Friede 681,43-685,14 Reinhard, Franz Volkmar: Versuchung 61,33-40 Reinmar v. Hagenau: Walther von der Vogelweide 435,23-40 Religion: Vernunft 11,40-12,21; Volksfrömmigkeit 230,46; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 548,47 Religionsfreiheit: Wert 656,27 Religionsgemeinschaft Deutscher Unitarier: Welt/Weltanschauung/Weltbild 558,10 Religionsgeschichte: Weber 443,13; Wellhausen 528,35; 534,8-31; Werke 623,39-625,32 Religionsgeschichte des Urchristentums: Wettstein 725,48 Religionsgeschichtliche Schule: Weiß 524,50-525,26; Wellhausen 534,54 Religionsgespräche: Rastenburg 1531: West- und Ostpreußen 668,27 Thorn 1645: West- und Ostpreußen 669,21 Religionspädagogik: Vertrauen 7 5 , 5 - 1 2 Religionsphilosophie: Vorsehung 316,14ff. Religionsrecht: Westfälischer Friede 682,12-685,14 Religionssoziologie: Wach 336,17; Weber 442,24 Religionssystematik: Weber 444,8-446,49 Religionsunterricht: Vokation 190,9-36; Westund Ostpreußen 672,39 Religionswissenschaft: Wach 335,40-336,44 Reliquien/Reliquienverehrung: Volksfrömmigkeit 223,14 Renaissance: Vorsokratik 333,50; Welt/Weltanschauung/Weltbild 593,24-594,53 Rendtorff, Trutz: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 552,23 - 34; Widerstand 770,34-47 Renitenz: Vilmar 100,36 Renty, Gaston Jean-Baptiste de: Wesley 659,10 Rettungshaus: Waisenhaus 384,5; Westfalen 693,52; Wiehern 735,34-736,18 Revolution: Wichern 737,36-54 Reynolds, William: Widerstand 757,26 Rhiem, Theodor: Wiehern 735,28 Rhodes, Alexandre de: Vietnam 81,41 Rieh, Arthur: Wert 655,8 Richter, Julius: Warneck 440,51 Richterbuch: Wellhausen 529,19 Rickert, Heinrich: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 548,28-34 Ritsehl, Albrecht: Versöhnung 2 4 , 4 - 24; 35,3-30; Vollkommenheit 280,39-281,12; Welt/Weltanschauung/Weltbild 553,4-13; Werke 642,39-643,15 Roberts, Evan: Wales 406,28 Robinson, Joseph Armitage: Westcott 678,13 Rogall, Georg Friedrich: West- und Ostpreußen 670,14 Roger Bacon: Vinzenz von Beauvais 108,7; Welt/Weltanschauung/Weltbild 592,50 Rom: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 424,25; 427,16-21; Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 459,19-460,15; Weihrauch 475,47 Römisches Recht: Widerstand 740,9

809

Römisch-katholische Kirche: Visitation 157,35-159,10; Volksfrömmigkeit 230,27-239,10; Vormärz 295,19-43; Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 460,39-461,26; Weihrauch 476,8-43; Weltbund der Bibelgesellschaften 614,3-615,2; Werke 640,9-28; 641,20; 646.15-50; West- und Ostpreußen 672.16-23.29-37; Westfalen 695,10-34; Westindische Inseln 704,10-29; Widerstand 757,20-36 Rosenberg, Alfred: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 557,23.41-50 Rosenkreutzer: Weigel 452,7; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 595,36 Rosenzweig, Franz: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 547,37 Rothmann, Bernhard: Westfalen 688,26; Werke 639,36 Rotteck, Karl v.: Widerstand 760,40 Rousseau, Jean-Jacques: Widerstand 759,52 Rowland, Daniel: Wales 403,43; Wesley 661,8 Rudolf I. v. Habsburg, dt. König: Vogtei 186,26 Rüge, Arnold: Vormärz 292,45; 296,57 Rupp, Julius: West- und Ostpreußen 671,48 Rüssel, Bertrand: Whitehead 730,30 Ruth (Buch): Weisheit/Weisheitsliteratur 490,23 - 4 7 Rutherford, Samuel: Westminster/ Westminsterconfession 709,2 Saadja ben Josef (Gaon): Vision 130,43; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 347,11 Sabatier, Louis-Auguste: Vinet 105,35 Sabbatai Zwi/Sabbatianismus: Vision 131,49 Sacharja/Sacharjabuch: Vision 126,12 Sachsen (Territorium/Kirchenprovinz) : Visitation 154,38-155,51 Sachsen (Volk): Westfalen 686,54ff. Sachwahrheit: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 366,15-371,3 Sacramentarium Gelasianum: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 458,49-459,18 Sacramentarium Gellonense: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 459,37 Sacramentarium Gregorianum:Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 459,41-460,15 Sacramentarium Veronense: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 459,8 Säkularisation: Westfalen 691,36 Säkularisierung: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 541,48; Westfälischer Friede 684,15 Saif b. 'Umar: Wellhausen 533,20 Saint Cyran (Jean-Ambroise Duvergier de Hauranne): Vinet 105,14; Vinzenz von Paul 112,50 Sakramente: Volksfrömmigkeit 244,9 Salesbury, William: Wales 403,6 Salomo/Salomoschriften: Weisheit/ Weisheitsliteratur 505,4-507,4 Salomon Molkho: Vision 131,15 Salvo Burci: Waldenser 390,31

810

Namen/Orte/Sachen

Salzmann, Christian Gotthelf: Waisenhaus 382,20 Samothrake: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 410,33 Samuel: Wellhausen 529,19 Santeria: Westindische Inseln 699,52-700,10 Santiago de Compostela: Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 424,35 - 5 0 ; 426,36-427,15 Sartre, Jean-Paul: Versuchung 64,54 Schamanismus: Vision 118,39-52 Scharfenberg, Joachim: Versuchung 69,45 Scharnhorst, Gerhard Johann David: Volk 195.14 Scheler, M a x : Wert 649,45 Schelhammer, Johannes: Weigel 450,38 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Welt/Weltanschauung/Weltbild 546,13 Schlegel, August Wilhelm: Volk 195,15 Schlegel, Friedrich: Versuchung 62,11; Volk 195.15 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Versöhnung 33,50-34,37; Versuchung 62,15-23; Vertrauen 74,10; Vikar/Vikarin 90,47; Volk 194,4; 195,25; 200,5; Volksfrömmigkeit 245,35-246,38; Volkskirche 249,31-250,4; Vollkommenheit 280,19-37; Vorsehung 314,42-315,5; Weisheit/Weisheitsliteratur 516,12; 518,49; Welt/Weltanschauung/Weltbild 540,18; 542,16-544,2; 546,27; 551,26-55; 598,18; Werke 642,24-38 Schlink, Edmund: Versuchung 62,49 Schlunk, Rudolf: Vilmar 101,11 Schmalenbach, Theodor: Westfalen 693,49 Schmidlin, Joseph: Warneck 441,2 Schön, Theodor: West- und Ostpreußen 671,26 Schöpfer/Schöpfung: Vernunft 11,26-39; Versuchung 47,4; Vollkommenheit 273,21; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 368,17-371,3; 373,3; Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 468,40; Weisheit/ Weisheitsliteratur 491,28-40; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 538,20; 562,43ff.; 570,9ff.; 571,36-572,2; 581,41ff.; 588,4ff. Schöpfungsordnung: Volk 201,53 Schöttgen, Johann Christian: Wettstein 725,3 Scholastik: Werke 635,49-636,15 Schomerus, Hans: Volk 201,43 Schopenhauer, Arthur: Wert 650,7 Schottland: Whitefield 729,2; Widerstand 755,15-30 Schreiber, August: Warneck 440,50 Schrift, Heilige: Volksfrömmigkeit 243,43 Schriftauslegung: Viktorin von Pettau 97,38 - 9 9 , 3 Schuderoff, Jonathan: Versuchung 61,14.28 Schultz, Franz Albert: West- und Ostpreußen 670,15 Schwager, Johann Moritz: Westfalen 691,23 Schwaner, Wilhelm: Volk 206,35 Schwarz, Christian: Volksmission 268,26 Schwarz, Fritz: Volksmission 268,26 Schweden: Westfälischer Friede 679,19ff.; 680,46-681,3 Schwegler, Friedrich Karl Albert: Vormärz 292,47 Schweitzer, Albert: Weiß 524,38;

Welt/Weltanschauung/Weltbild 552,43 Schweizer, Alexander: Vormärz 292,41 Schwenckfeld, Kaspar v./Schwenckfelder: Versuchung 59,47-60,3 Scientology Church: Vision 122,9 Seelsorge: Versuchung 69,41-70,13; Vertrauen 75,13-27; Waisenhaus 387,16 Seiriol: Wales 402,24 Seidon, John: Westminster/Westminsterconfession 709,20 Semipelagianismus: Vinzenz von Lerins 110,13-34 Sendgericht: Visitation 152,7.45 Seneca, Lucius Annaeus d.J.: Vorsehung 302,37-48 Seward, William: Whitefield 728,9 Sextus Empiricus: Vorsokratik 328,49; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 351,35 Shango: Westindische Inseln 700,11-17 Sharpe, Sam: Westindische Inseln 703,34 Shim'on ben Gamli'el: Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 346,34 Short, Thomas Vowler, Bf. v. St. Asaph: Wales 406,11 Si(e)bmacher, Wolfgang: Weigel 452,21 Sidney, Algernon: Widerstand 759,38 Sieveking, Amalie: Wichern 734,5 Sieveking, Karl: Wichern 734,5 Sigismund I., Kg. v. Polen: West- und Ostpreußen 668,49 Sigismund III., Kg. v. Polen: West- und Ostpreußen 669,4 Sikh-Religion: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 411,34 Sim'on bar Yohay (Simon bar Jochaj): Wallfahrt/Wallfahrtswesen 422,31 Sim'on ben Laqis: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 346,14 Simeon Stylites d.Ä.: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 425,27 Simmel, Georg: Wert 653,16 Simon der Gerechte: Weisheit/Weisheitsliteratur 507,12 Simon, Glynn: Wales 407,33 Simplicius v. Athen: Vorsokratik 328,51 Singh, Sadhu Sundar: Vision 145,9 Sirach/Sirachbuch: Weisheit/Weisheitsliteratur 487,36ff. Siriane, Carlo Emanuele Filiberto di: Waldenser 397,8 Sklaverei: Westindische Inseln 698,15; 702,41-704,29 Sleidanus, Johannes: Widerstand 753,26 Smith, John: Westindische Inseln 703,9 Smith, Joseph: Vision 121,44 Society for the Propagation of Christian Knowledge: Wesley 659,38 Sae, Niels Hansen: Volk 203,45 Soen, Shaku: Weltparlament der Religionen 619,2 Soest: Westfalen 687,33; 688,19-25; 689,30 Sokrates: Vorsokratik 333,40; Wahrheit/ Wahrhaftigkeit 349,4-350,2; Weisheit/ Weisheitsliteratur 479,29; Widerstand 743,43 Sol invictus: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 455,56-457,17

Namen/Orte/Sachen Solomon ben Jehuda (Gaon): Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 421,37 Solon: Widerstand 743,38 Sophistik: Vorsokratik 333,23 Sozzini/Sozinianer: Versöhnung 3 0 , 4 3 - 3 1 , 3 2 Spangenberg, August Gottlieb: Wesley 659,52 Spanien: Westfälischer Friede 679,19ff. Spekulative Theologie: Vormärz 292,43 Spener, Philipp J a k o b : Versuchung 6 0 , 1 1 - 2 4 ; Werke 640,43 Speratus, Paul: West- und Ostpreußen 668,13-28 Spiritual Baptists: Westindische Inseln 701,12 Spruch: Weisheit/Weisheitsliteratur 480,18; 488,6ff. Staat: Vormärz 2 9 5 , 2 9 - 4 3 ; 2 9 7 , 4 7 - 2 9 8 , 3 1 Stadt: Volksfrömmigkeit 232,18; 236,41; Waisenhaus 381,45 Stahl, Friedrich Julius: Vormärz 296,29 Stammesgesellschaften: Vision 1 1 8 , 2 4 - 5 2 Stapel, Wilhelm: Volk 2 0 1 , 3 1 - 4 2 Staricius, Johann: Weigel 452,4 Steffens, Heinrich: Vormärz 296,42 Steil, Ludwig: Westfalen 695,7 Steiner, Rudolf: Vision 122,4 Stephan, Horst: Welt/Weltanschauung/Weltbild 553,38-554,16 Stiefel, Esajas: Weigel 452,20 Stifter, Adalbert: Vormärz 298,44 Stiftsvikar: Vikar/Vikarin 86,13 Stoa/Stoizismus/Neustoizismus: Vorsehung 302,28; Welt/Weltanschauung/Weltbild 588,43 Stock, Konrad: Vernunft 1 0 , 2 0 - 3 7 Stoecker, Adolf: Volksmission 267,1 Strecker, Georg: Wettstein 726,15 Subjekt: Wert 6 5 1 , 1 - 6 5 2 , 4 Südafrika: Versöhnung 42,50 Sünde: Vernunft 1,27; 1 1 , 2 2 - 3 8 ; Versuchung 48,53 Sumerische Religion: Weisheit/Weisheitsliteratur 4 8 1 , 3 1 - 4 5 Sumner, William Graham: Volk 197,32 Swedenborg, Emanuel/Swedenborgianer: Vision 1 4 3 , 4 8 - 1 4 4 , 7 ; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 598,13 Synergistischer Streit: Werke 638,31 Synkretismus: Westindische Inseln 698,55 Synkretistischer Streit: Werke 640,41 Synoden: Vinzenz von Lerins 110,3; West- und Ostpreußen 6 7 1 , 3 0 - 3 5 Antiochien 328/330: Visitation 151,35 Arles 314: Wales 402,14 Braga 572: Visitation 151,44 Dordrecht 1618/1619: Werke 641,8 Karthago ca. 3 4 5 - 3 4 9 : Vogtei 184,34 Konstantinopel 553: Wiederbringung aller 776,53 Konstanz 1 4 1 4 - 1 4 1 8 : Vision 142,13; Widerstand 748,10 Lateran I 1123: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 424,36 Lateran II 1139: Völkerrecht 178,27 Lateran III 1179: Völkerrecht 178,28; Waldenser 388,49 Lateran IV 1215: Werke 635,46

811

Lyon 1245: Widerstand 742,43 Orange 529: Werke 634,48 Sevilla 619: Vinzenz von Lerins 110,36 Tarragona 516: Visitation 151,42 Toledo 589: Waisenhaus 380,50 Toledo 633: Visitation 151,45 Tridentinum 1 5 4 5 - 1 5 6 3 : Visitation 151,37; 1 5 8 , 5 - 2 0 ; Werke 640,11 Vatikanum 1 1 8 6 9 - 1 8 7 0 : Vernunft 1 , 3 6 - 2 , 1 5 ; Vinzenz von Lerins 110,46 Vatikanum II 1 9 6 2 - 1 9 6 5 : Vision 149,11; Vokation 188,49; Volk 2 0 6 , 4 8 - 2 0 7 , 1 5 ; Volkskunde 263,33; Vollkommenheit 2 8 1 , 2 4 - 5 2 ; Weltbund der Bibelgesellschaften 6 1 4 , 6 . 3 1 - 3 8 Verona 1184: Waldenser 389,11 Syrien: Westsemitische Religion 7 1 9 , 4 9 - 7 2 0 , 1 4 Tacitus: Widerstand 740,22 Täufer/Täuferische Gemeinschaften: Werke 6 3 9 , 3 0 - 3 9 ; Westfalen 6 8 8 , 4 4 - 5 1 Taffin, Jean: Voetius 182,8 Talmud: Werke 6 2 7 , 3 1 - 6 2 8 , 3 Tannenbergbund: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 557,36 Tecklenburg: Westfalen 687,17 Teelinck, Willem: Voetius 182,8 Teilhard de Chardin, Pierre: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 599,49 Teilo: Wales 402,23 Teller, Wilhelm Abraham: Versuchung 6 1 , 9 - 1 4 Tempel: Welt/Weltanschauung/Weltbild 5 7 8 , 2 3 - 4 3 ; Westsemitische Religion 716,21-32 Tempier, Stephan: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 539,40 Temple, John: Weltbund der Bibelgesellschaften

612,21

Templer: Vienne, Konzil von 7 6 , 3 6 - 7 7 , 5 1 Teresa v. Avila: Vision 142,46 Tertullian: Versöhnung 2 6 , 7 - 2 1 ; Vision 138,7; Wallfahrt/Wallfahrtswesen 423,50; Werke 634,6 Testamente der X I I Patriarchen: Weisheit/ Weisheitsliteratur 497,31; Werke 6 2 6 , 3 7 - 4 7 Teufel: Versuchung 48,49 Textgeschichte/Textkritik: Wellhausen 528,15ff.; Wettstein 7 2 4 , 1 - 7 2 6 , 2 8 Thaies v. Milet: Vorsokratik 3 2 9 , 3 7 - 4 6 Theismus: Voltaire 2 8 8 , 4 1 - 2 9 0 , 6 Theodizee: Vorsehung 312,1; 316,26; 325,36; Werke 626,16 Theologie: Weisheit/Weisheitsliteratur 5 1 5 , 2 6 - 5 1 7 , 2 3 ; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 5 4 9 , 2 3 - 5 5 4 , 5 0 ; Werbung 621,18-622,52 Theologie der Befreiung: Westindische Inseln 706,16-31 Theologiestudium: Vikar/Vikarin 90,27 Theophrast v. Lesbos: Vorsokratik 328,40 Thielicke, Helmut: Volk 202,48; Werke 646,10; Widerstand 770,15 Thierry v. Chartres: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 591,8 Thomas v. Aquino/Thomismus/Neuthomismus: Versuchung 5 4 , 2 3 - 3 1 ; Vitoria 170,lff.;

812

Namen/Orte/Sachen

Vollkommenheit 277,41-278,34; Vorsehung 306,6-49; Wahrheit/Wahrhaftigkeit 353,34-354,32; Weisheit/Weisheitsliteratur 518,8; Welt/Weltanschauung/Weltbild 539,30; 591,19ff.; Widerstand 745,19; 746,19-47 Thomasin v. Zerclaere: Walther von der Vogelweide 437,42 Thorn: West- und Ostpreußen 669,3 Thorner Blutgericht: West- und Ostpreußen 670,32 Tibet: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 411,52-412,9 Tillich, Paul: Vernunft 4,51-5,14; 7,9; 12,30; Versuchung 65,24- 41; Volk 204,5 Timann, Johannes: Westphal 714,13.26 Titius, Arthur: Volkskirche 250,9; Welt/ Weltanschauung/Weltbild 600,46 Tod: Volksfrömmigkeit 220,18 Toellner, Johann Gottlieb: Versöhnung 31,49-32,13 Toland, John: Westcott 677,42; Wettstein 725,34 Tora: Werke 628,42 Totengedenken: Volksfrömmigkeit 223,4; 224,35 - 4 6 Totenkult: Westsemitische Religion 716,40-47 Totenpflege: Westsemitische Religion 716,39-47 Toul (Bistum): Westfälischer Friede 680,39 Traphagen, Heinrich: Westfalen 688,7 Traum: Vision 117,19 Trauttmannsdorff, Maximilian Graf von und zu: Westfälischer Friede 682,16 Treue: Widerstand 741,32-742,17 Trinidad: Westindische Inseln 701,11-31 Trinität: Vollkommenheit 282,15 - 2 5 Troeltsch, Ernst: Volkskirche 251,25 - 5 0 ; Welt/Weltanschauung/Weltbild 540,19; Wert 655,13 Tübinger Schulen: Vormärz 292,46 Tugend: Weisheit/Weisheitsliteratur 517,48 Tugendkataloge: Weisheit/Weisheitsliteratur 513,37-49 Turner, Victor: Volkskunde 263,36 Turretini, Jean Alphonse: Wettstein 725,34 Twesten, August Detlef Christian: Vormärz 292,39 Twisse, William: Westminster/Westminsterconfession 709,33 Tyrann: Widerstand 743,36-748,23 Tyrannenmord: Widerstand 745,50-748,23 Tzschirner, Heinrich Gottlieb: Vormärz 295,5 Ubiquität: Westphal 714,31 Udemann, Godefridus Cornelisz: Voetius 182,9 Überlieferung: Wellhausen 529,50 Ugarit: Westsemitische Religion 7 1 8 , 5 - 5 0 Ulimann, Carl Christian: Vormärz 292,40 Ultramontanismus: Volksfrömmigkeit 237,27 Unionen, Kirchliche: Vormärz 293,51; Westund Ostpreußen 671,18 Universität: Widerstand 744,45 Basel: Wettstein 723,17 Harvard: Whitehead 730,38 Heidelberg: Weiß 523,49

Königsberg: West- und Ostpreußen 668,37; 669,38 Lausanne: Vinet 103,1 Marburg: Vilmar 100,30 Oxford: Wesley 658,31 Utrecht: Voetius 182,5 Unterwelt: Welt/Weltanschauung/Weltbild 578,5-21; 584,44 Ussher, James: Waldenser 397,48; Westminster/Westminsterconfession 709,10 Valdes, Petrus: Waldenser 388,36-389,11 Valentine, Lewis: Wales 407,26 Vaterunser: Versuchung 50,23-40; 53,51 Vatke, Wilhelm: Wellhausen 529,59 Vattel, Emer de: Völkerrecht 179,23 Vaughan, Charles John: Westcott 675,40 Venediger, Georg v.: West- und Ostpreußen 668,42 Verdun (Bistum): Westfälischer Friede 680,39 Vereinigte Staaten v. Amerika: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 462,49-463,2; Westindische Inseln 704,41-705,2; Whitefield 7 2 8 , 6 - 3 2 Vereinswesen: Wichern 736,28 Vereinte Nationen: Völkerrecht 180,1-40 Vergil: Welt/Weltanschauung/Weltbild 589,20 Verhaltenswahrheit: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 365,17-37 Vermittlungstheologie: Vormärz 292,38 Vernes, Jacob: Voltaire 290,2 Vernet, Jacob: Voltaire 290,2 Vernou v. Poitiers, Jean: Waldenser 395,49 Vernunft III: 1 - 1 5 ; Vorsehung 302,23 Versöhnung: 16-43; Versuchung 58,17 Verstehen: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 369,34-370,49 Versuchung: 4 4 - 7 0 Vertrauen: 7 1 - 7 6 Vertreibung: Volk 198,44-199,25 Vicarius Christi: Vikar/Vikarin 84,27-37 Vico, Giambattista: Vorsokratik 334,2 Vienne, Konzil von: 7 6 - 7 9 Vietnam: 7 9 - 8 3 Vikar/Vikarin: 8 4 - 9 3 Vikarin: Vikar/Vikarin 89,30-90,13 Viktor Amadeus II., Hzg. v. Piémont: Waldenser 397,15.26 Viktor I., Bischof von R o m : 9 3 - 9 7 ; s. a. Päpste Viktorin von Pettau: 9 7 - 9 9 Vilmar, August Friedrich Christian: 9 9 - 1 0 2 Vilmar, Wilhelm: Vilmar 100,35 Vinet, Alexandre: 102-106 Vintras, Eugène: Vision 143,28 Vinzentinerinnen: Vinzenz von Paul 113,30 Vinzenz von Beauvais: 106-108 Vinzenz von Lérins: 109-111 Vinzenz von Paul: 111-114 Vinzenzkonferenzen: Vinzenz von Paul 113,20 Viret, Pierre: 114-117 Vision: 117-150 Visitation: 151-166 Visitationsakten: Visitation 153,25-154,33 Visser't Hooft, Willem Adolf: 166-169 Vita Antonii: Versuchung 52,52

Namen/Orte/Sachen Vital, Chajjim: Vision 131,42 Vitoria, Francisco de: 169-173 Vivekananda, Swami: Weltparlament der Religionen 618,43 Vives, Juan Luis: 173-177 Völkerbund: Völkerrecht 179,46 Völkerrecht: 177-181 Völkische Bewegung: Volk 195,2-197,5 Voetius, Gisbert: 181-184 Vogel, Heinrich: Versuchung 62,56 Vogtei: 184-187 Voigdt, Karl Ferdinand: West- und Ostpreußen 672,1 Vokation: 187-190 Volk: 191-209; Volkskunde 262,30ff. Volkening, Johann Heinrich: Westfalen 693,49 Volksaufklärung: Volksfrömmigkeit 236,24 Volksbildung/Volksbildungswesen: 209-214 Volksbund für Geistesfreiheit: Welt/ Weltanschauung/Weltbild 557,28 Volksfrömmigkeit: 214-248 Volksglaube: Volksfrömmigkeit 214,28 ff. Volkskirche: 249-262; Wichern 737,2 Volkskunde, Religiöse: 262-265 Volksmission: 265-272; Wichern 737,8 Volksreligionen: Volksfrömmigkeit 215,2 Vollkommenheit: 273-285 Voltaire: 286-290; Vorsehung 312,1 ff. Voodoo: s. Wodu-Kult Vormärz: 291-301 Vorplatoniker: Vorsokratik 328,13-334,11 Vorsehung: 302-327; Versöhnung 16,17 Vorsokratik: 328-334 Vossius, Gerardus Joannis: Vinzenz von Lérins 110,17 Waadtland: Viret 114,54-115,23 Wach, Joachim: 335-337 Wagner-Rau, Ulrike: Versuchung 69,36 Wahrhaftigkeit: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 368,17-369,30 Wahrheit/Wahrhaftigkeit: 337-378; Vernunft 6,6-14; Vorsokratik 328,24ff. Waisenhaus: 379-388; Whitefield 727,33.49 Waldeck, Franz v.: Westfalen 689,8 Waldenser: 388-402 Waldensische Theologische Fakultät: Waldenser 399,8-21 Waldorf-Pädagogik: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 558,9 Wales: 402-408; Wesley 660,41ff.; Whitefield 728,44 Wallfahrt/Wallfahrtswesen: 408 -435; Volksfrömmigkeit 219,33; 223,20 Wallfahrtspsalmen: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 417,24-45 Wallfahrtsseelsorge: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 432,19-433,10 Wallis, John: Westminster/Westminsterconfession 710,30 Walpole, Robert: Wesley 660,39 Walther von der Vogelweide: 435-439 Warneck, Gustav: 439-441 Warneck, Johannes: Warneck 440,52 Weber, Max: 442-447; Welt/Weltanschauung/ Weltbild 547,46

813

Wegscheider, Julius August: Vormärz 292,32 Weickhart, Christoph: Weigel 448,42 Weidig, Friedrich Ludwig: Vormärz 298,53 Weigel, Valentin: 447-453; Versuchung 60,5-10 Weihe, Friedrich August: Westfalen 691,19 Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt: 453-471; Volksfrömmigkeit 227,51-228,32; 244,19 Weihnachtsbaum: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 465,10-19 Weihnachtsgeschenke: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 465,20-35 Weihnachtsgottesdienst: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 463.41-464,4 Weihnachtspredigt: Weihnachten/ Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt 468,29-471,2 Weihnachtsspiel: Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 460,20-38 Weihrauch: 472-477 Weimarer Kartell: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 557,10 Weisheit/Weisheitsliteratur: 478-520; Versuchung 48,24; Vorsehung 303,1-18 Weiß, Johannes: 523-526 Weiße, Christian Hermann: Vormärz 292,41 Weitling, Wilhelm: Wichern 737,43 Wellhausen, Julius: 527-536 Welsh Prayer Book: Wales 403,4 Welt/Weltanschauung/Weltbild: 536-611 Welt: Welt/Weltanschauung/Weltbild 537,10-25 Weltanschauung: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 537,26-43; 544,39 -561,13 Weltbild: Welt/Weltanschauung/Weltbild 537,45-538,7; 562,9-610,4 Weltbund der Bibelgesellschaften: 611-617 Weltlichkeit: Welt/Weltanschauung/Weltbild 541,12-542,13 Weltparlament der Religionen: 618-620 Wenz, Gunther: Versöhnung 24,40 Werbung: 621-623 Werenfels, Samuel: Wettstein 723,18 Werfel, Franz: Versuchung 62,34-42 Werke, Gute: 623-648 Wert: 648-657 Wertarten: Wert 650,26-52 Wertewandel: Wert 652,6-33 Wertobjekt: Wert 649,28 -650,17 Wertrelation: Wert 648,20-649,26 Wertungsweise: Wert 650,22-52 Wesley, Charles: Vollkommenheit 283,10; Whitefield 727,18 Wesley, John: 657-662; Vollkommenheit 279.42-280,17; Whitefield 727,36 Wesley, Susanna: Wesley 657,31 Wessenberg, Ignaz Heinrich von: 662-667 West- und Ostpreußen: 667-675 Westcott, Brooke Foss: 675-679 Westermann, Johann: Westfalen 688,14 Westfälischer Friede: 679-686 Westfalen: 686-698 Westindische Inseln: 698-708

814

Mitarbeiter

Westminster/Westminsterconfession: 7 0 8 - 7 1 2 ; Vorsehung 310,35 Westminstersynode: Westminster/ Westminsterconfession 7 0 8 , 4 0 - 7 1 0 , 3 8 Westphal, Joachim: 7 1 2 - 7 1 5 Westsemitische Religion: 7 1 5 - 7 2 3 Wettergott: Westsemitische Religion 715,50 Wettstein, Johann J a k o b : 7 2 3 - 7 2 7 Whitefield, George: 7 2 7 - 7 3 0 ; Wesley 658,40 Whitehead, Alfred North: 7 3 0 - 7 3 3 ; Versöhnung 36,43; Vorsehung 317,48; Welt/Weltanschauung/Weltbild 599,33 Wiehern, Johann Hinrich: 7 3 3 - 7 3 9 ; Volkskirche 2 5 0 , 1 9 - 4 1 ; Volksmission 2 6 6 , 7 - 2 0 ; Waisenhaus 3 8 2 , 5 1 - 3 8 3 , 2 4 Wichern, Johannes: Wiehern 735,30 Widemann, Carl: Weigel 452,1 Widerstand/Widerstandsrecht: 7 3 9 - 7 7 4 Wiederbringung aller: 7 7 4 - 7 8 0 Wienbarg, Ludolf: Vormärz 298,50 Wiener Kongreß: Wessenberg 663,21 Wilberforce, William: Westindische Inseln 702,46 Wild, Eberhard: Weigel 452,23 Wilhelm Arnaldi: Waldenser 390,37 Wilhelm II., Kurfürst v. Hessen: Vilmar 99,43 Wilker, Karl: Waisenhaus 384,26 Williams, John: Wales 406,24 Williams, Thomas Charles: Wales 406,25 Williams, William (aus Pantycelyn): Wales 403,44 Williams, William (aus Wem): Wales 404,16 Wilm, Ernst: Westfalen 695,5 Windisch, Hans: Wettstein 726,10 Wirklichkeit: Welt/Weltanschauung/Weltbild 552,9 Wise, Isaak Mayer: Weltparlament der Religionen 618,34 Wissen: Weisheit/Weisheitsliteratur 516,1 Wissenschaft/Wissenschaftstheorie: Vernunft 6 , 4 4 - 7 , 4 3 ; Vorsokratik 328,18ff.; Welt/Weltanschauung/Weltbild 563,5 Wittgenstein, Ludwig: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 554,32 Wodu-Kult (Voodoo): Westindische Inseln 699,24-41 Wolf, Abraham: West- und Ostpreußen 670,14 Wolf, Emst: Widerstand 769,44

Wolff, Christian: Welt/Weltanschauung/ Weltbild 587,37 Wolfger v. Erla, Bf. v. Passau: Walther von der Vogelweide 435,44; 4 3 6 , 1 - 1 4 Wolters, Otto: Wiehern 734,2 Wort Gottes: Versöhnung 1 8 , 3 5 - 2 0 , 2 ; Versuchung 6 6 , 3 0 - 5 1 Württemberg: Visitation 1 5 6 , 3 2 - 4 3 Xenophanes v. Kolophon: Vorsehung 302,16; Vorsokratik 3 3 0 , 4 4 - 3 3 1 , 9 Yäqüt: Wellhausen 534,10 Yoga: Vision 120,26 Yudah b. Pazzi: Werke 627,51 Zahl/Zahlenspekulation/Zahlensymbolik:Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt 4 5 7 , 1 9 - 4 5 8 , 3 0 Zahlenspruch: Weisheit/Weisheitsliteratur 487,41 Zahn, Franz Michael: Warneck 440,49 Zarathustra/Zoroastrismus: Weisheit/ Weisheitsliteratur 4 8 3 , 1 0 - 4 8 4 , 1 0 Zeidler, Melchior: West- und Ostpreußen 669,37 Zeit: Viktorin von Pettau 98,19; Westsemitische Religion 716,33 Zeller, Eduard: Vormärz 292,47 Zeller, Heinrich: Waisenhaus 382,46 Zenon v. Elea: Vorsokratik 3 3 2 , 3 - 1 9 Ziegenbalg, Bartholomäus: Weltbund der Bibelgesellschaften 611,28 Zimmermann, Georg: Weigel 452,19 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf v.: Versuchung 6 0 , 3 8 - 4 6 Zion: Wallfahrt/Wallfahrtswesen 417,28-418,11; 420,4-24 Zion Revivalism: Westindische Inseln 700,37 Zisterzienser: Wales 402,41 Zohar: Vision 131,18; Wallfahrt/ Wallfahrtswesen 422,30 Zweifel: Wahrheit/Wahrhaftigkeit 356,8ff. Zwicker, Peter: Waldenser 392,25 Zwingli, Ulrich: Vorsehung 308,30; Werke 6 3 9 , 2 3 - 2 9 ; Widerstand 7 5 3 , 3 1 - 4 8

2. Mitarbeiter 2.1.

Autoren

Prof. Dr. Christian Albrecht, Münster (Vormärz) Prof. Dr. Arnold Angenendt, Münster (Volksfrömmigkeit V/1.) Prof. Dr. Erik Aurelius, Göttingen (Versuchung I) Prof. Dr. Malcolm Charles Barber, Reading/Großbritannien (Vienne, Konzil von) Prof. Dr. Hans-Jürgen Benedict, Hamburg (Waisenhaus) PDoz. Dr. Michael Bergunder, Heidelberg (Warneck, Gustav) Prof. Dr. Sabine Bobert, Berlin (Versuchung V) Prof. Dr. Felix Böhl, Freiburg i.Br. (Wahrheit/Wahrhaftigkeit III; Wallfahrt/ Wallfahrtswesen IV) Hans-Martin Bregger, Saarbrücken (Vikar/Vikarin I)

Mitarbeiter

815

Prof. Dr. Christine Burckhardt-Seebass, Basel/Schweiz (Volkskunde, Religiöse) Prof. Dr. Euan K. Cameron, New York, N.Y./USA (Waldenser) Prof. Dr. John J. Collins, New Häven, Conn./USA (Weisheit/Weisheitsliteratur III) Dr. Daniel Deckers, Frankfurt a.M. (Vitoria, Francisco de) Prof. Dr. Hermann Deuser, Frankfurt a.M. (Vorsehung I) Prof. Dr. Irene Dingel, Mainz (Westphal, Joachim) Dr. Hans-Dieter Döpmann, Berlin (Volksfrömmigkeit IV) Prof. Dr. Gero Dolezalek, Leipzig (Vikar/Vikarin I) Prof. Dr. Reinhard Düchting, Heidelberg (Vinzenz von Beauvais) Martine Dulaey, Verneuil s. Seine/Frankreich (Viktorin von Pettau) Dr. Oliver Freiberger, Bayreuth (Werke, Gute I) PDoz. Dr. Marco Frenschkowski, Hofheim (Ts.) (Vision I - V ) PDoz. Dr. Susanne Galley, Potsdam (Volksfrömmigkeit II) Prof. Dr. Wolfgang Gantke, Bonn (Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/1.) Dr. Albrecht Geck, Recklinghausen (West- und Ostpreußen) Prof. Dr. Albert Gerhards, Bonn (Wallfahrt/Wallfahrtswesen VI) Dr. Sheridan Gilley, Durham/Großbritannien (Vinzenz von Paul) Dr. Karl-Heinz Golzio, Bonn (Vietnam) Prof. Dr. Wilhelm Grab, Berlin (Volksfrömmigkeit VII) Dr. Martin Hailer, Bayreuth (Weisheit/Weisheitsliteratur V) PDoz. Dr. Bernd Harbeck-Pingel, Remscheid (Vernunft III) Prof. Dr. Jörg Haustein, Bonn (Volksfrömmigkeit VI/2.) Dr. Reinhard Hempelmann, Berlin (Welt/Weltanschauung/Weltbild III/3.) Prof. Dr. Wolfhart Henckmann, München (Wert I) Prof. Dr. Eilert Herms, Tübingen (Wahrheit/Wahrhaftigkeit V) Dr. Volker Herrmann, Heidelberg (Wichern, Johann Hinrich) Prof. Dr. Catherine Hezser, Dublin/Irland (Werke, Gute II) Prof. Dr. Otfried Hofius, Tübingen (Versöhnung II) Prof. Dr. Karl Hoheisel, Bonn (Volksfrömmigkeit I) Prof. Dr. Andreas Holzem, Tübingen (Volksfrömmigkeit V/2.; Wessenberg, Ignaz Heinrich von) Prof. Dr. Martin Honecker, Bonn (Volk) Margarethe Hopf M.Th., Bonn (Volksfrömmigkeit VI/1.) Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, Berlin (Volkskirche I) Prof. Dr. Isolde Karle, Bochum (Vikar/Vikarin II) Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Göttingen (Westfälischer Friede) Prof. Dr. Hans G. Kippenberg, Bremen (Weber, Max) Dr. Martin Klein, Dortmund (Versuchung II) Prof. Dr. H a r m Klueting, Köln (Westfalen) Dr. Melanie Köhlmoos, Hamburg (Weisheit/Weisheitsliteratur II) Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz, Jena (Volksbildung/Volksbildungswesen) Dr. Corinna Körting, Göttingen (Wallfahrt/Wallfahrtswesen II) Prof. Dr. Dietrich Korsch, Marburg (Versöhnung III) Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz, Göttingen (Wellhausen, Julius) PDoz. Dr. Friedrich Krause, Leipzig (Visitation II) Prof. Dr. H a r t m u t Kreß, Bonn (Wert II) Dr. Oliver Krüger, Heidelberg (Wach, Joachim; Wallfahrt/Wallfahrtswesen I) Dr. Hartmut Kühne, Berlin (Wallfahrt/Wallfahrtswesen V) PDoz. Dr. Frank-Michael Kuhlemann, Bielefeld (Welt/Weltanschauung/Weltbild III/2.) Prof. Dr. Ralph Kunz, Seuzach/Schweiz (Weisheit/Weisheitsliteratur VI) PDoz. Dr. Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe (Visser't H o o f t , Willem Adolf) Prof. Dr. Peter Landau, München (Völkerrecht) PDoz. Dr. Christof Landmesser, Tübingen (Wahrheit/Wahrhaftigkeit II)

816

Mitarbeiter

Dr. Berthold Lannert, Stuttgart (Weiß, Johannes) Prof. Dr. Hermann von Lips, Halle a.d.S. (Weisheit/Weisheitsliteratur IV) Heinz-Jürgen Loth, M.A., Neuss (Westindische Inseln) Dr. Dorothea Lüddeckens, Margetshöchheim (Weltparlament der Religionen) Dr. Helmut Maaßen, Geldern (Whitehead, Alfred North) Prof. Dr. Johann Maier, Mittenwald (Vorsehung II) Prof. Dr. Andreas Merkt, Regensburg (Volksfrömmigkeit III) Prof. Dr. Dr. h.c. Norbert Mette, Dortmund (Vision VI) Prof. Dr. Jürgen Miethke, Heidelberg (Widerstand/Widerstandsrecht I) Dr. D. Densil Morgan, Bangor/Großbritannien (Wales) Prof. Dr. Michael Moxter, Hamburg (Welt/Weltanschauung/Weltbild II; III/l.) PDoz. Dr. Andreas Mühling, Bonn (Voetius, Gisbert) Prof. Dr. Hans Martin Müller, Tübingen (Vokation) Prof. Dr. Herbert Niehr, Tübingen (Westsemitische Religion) Dr. Robert M. Norris, Bethesda, Md./USA (Westminster/Westminsterconfession) Dr. James Lionel North, Durham/Großbritannien (Westcott, Brooke Foss) Prof. Dr. Friederike Nüssel, Münster (Werke, Gute V) Prof. Dr. Manfred Oeming, Heidelberg (Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/2.) Prof. Dr. Jürgen van Oorschot, Jena (Wahrheit/Wahrhaftigkeit I) Prof. Dr. Martien Parmentier, Bern/Schweiz (Vinzenz von Lerins) Prof. Dr. Christian Peters, Münster (Visitation I; Werke, Gute IV) Dr. Horst Pfefferl, Marburg (Weigel, Valentin) Prof. Dr. Manfred L. Pirner, Ludwigsburg (Werbung) Prof. Dr. Hermann Reichert, Wien/Österreich (Walther von der Vogelweide) Prof. Dr. Eckart Reinmuth, Rostock (Werke, Gute III) Prof. Dr. Hans-Richard Reuter, Münster (Versöhnung IV; Widerstand/Widerstandsrecht III) Prof. Dr. Bernard Reymond, Lausanne/Schweiz (Vinet, Alexandre) PDoz. Dr. Uwe Rieske-Braun, Aachen (Vilmar, August Friedrich Christian) The Revd. Dr. Edwin H. Robertson, London/Großbritannien (Weltbund der Bibelgesellschaften) Prof. Dr. Susan K. Roll, Ottawa/Kanada (Weihnachten/Weihnachtsfest/ Weihnachtspredigt I) Prof. Dr. Hartmut Rosenau, Kiel (Wiederbringung aller) PDoz. Dr. Michael Roth, Bonn/Köln (Vernunft III) Prof. Dr. Dr. Kurt Rudolph, Marburg (Weisheit/Weisheitsliteratur I) Prof. Dr. Dieter Sänger, Kiel (Wallfahrt/Wallfahrtswesen III) Prof. Dr. Adrian Schenker, Freiburg i.Ue./Schweiz (Versöhnung I) Prof. Dr. Günter Rudolf Schmidt, Erlangen (Voltaire) Prof. Dr. Hans-Joachim Schmidt, Freiburg i.Ue./Schweiz (Vogtei) Prof. Dr. Udo Schnelle, Halle a.d.S. (Wettstein, Johann Jakob) Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schoberth, Bayreuth (Weisheit/Weisheitsliteratur V) Prof. Dr. Henning Schröer f (Volkskirche II) Prof. Dr. Ingeborg Schüßler, Lausanne/Schweiz (Wahrheit/Wahrhaftigkeit IV) PDoz. Dr. Albrecht Scriba, Mainz (Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/3.) PDoz. Dr. Georg Siegmann, Wuppertal (Vorsokratik) Prof. Dr. Walter Sparn, Erlangen (Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/4.; IV/5.) Prof. Eric O. Springsted, Princeton, N.J./USA (Versuchung IV) Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Hamburg (Versuchung III) Prof. Dr. Konrad Stock, Bonn/Köln (Welt/Weltanschauung/Weltbild I) Prof. Dr. Christoph Strohm, Bochum (Widerstand/Widerstandsrecht II) Dr. Reiner Strunk, Denkendorf ( Vertrauen I; II) Dr. Rainer Stuhlmann, Köln (Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt II)

Artikel- und Verweisstichwörter

817

Klaus Teschner, Düsseldorf (Volksmission) Prof. Dr. Jürgen Tubach, Halle a.d.S. (Weihrauch I) Prof. Dr. Markus Vinzent, Cambridge/Großbritannien (Viktor I., Bischof von Rom) Prof. D. Dr. Geoffrey Wainwright D.D., Durham, N.C./USA (Vollkommenheit) Prof. Dr. William Reginald Ward, Durham/Großbritannien (Wesley, John; Whitefield, George) Prof. Dr. Markus Wriedt, Mainz/Milwaukee, Wis./USA (Viret, Pierre; Vives, Juan Luis) Prof. Dr. Peter Wünsche, Bamberg (Weihrauch II) 2.2.

Übersetzer

Aus dem

Englischen:

PDoz. Dr. Friedrich Avemarie, Tübingen (Weisheit/Weisheitsliteratur III) Jan Dochhorn, Münster (Westcott, Brooke Foss) Dr. Thomas Rigl, Regensburg (Vollkommenheit) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Vienne, Konzil von; Vinzenz von Paul; Waldenser; Wales; Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt I; Weltbund der Bibelgesellschaften; Westminster/Westminsterconfession; Whitefield, George) Dr. Walter Schöpsdau, Bensheim (Versuchung IV; Wesley, John) Aus dem

Französischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Viktorin von Pettau; Vinet, Alexandre) 2.3.

Registerbearbeiter

Pfarrerin Hannelore Hollstein, Unna (Bibelstellen) Dr. Klaus Breuer, Heidelberg (Namen, Orte, Sachen)

3. Artikel- und Verweisstichwörter Vernunft III (B. Harbeck-Pingel/M. Roth) Versöhnung (A. Schenker/O. Hofius/D. Korsch/H.-R. Reuter) Versöhnungstag - * Feste und Feiertage Versuchung (E. Aurelius/M. Klein/J.A. Steiger/E. O. Springsted/S. Bobert) . . . Vertrauen (R. Strunk) Verwaltungsgerichtsbarkeit Gerichtsbarkeit, kirchliche Verzicht Askese Vesper - * Stundengebet Vesperbild Andachtsbild Vetus Latina Bibelübersetzungen Via antiqua/via moderna -» Scholastik/Neuscholastik Vienne, Konzil von (M.Ch. Barber) Vietnam (K.-H. Golzio) Vigilie -+ Stundengebet Vikar/Vikarin (G. Dolezalek/H.-M. Bregger/I. Karle) Viktor I., Bischof von Rom (M. Vinzent) Viktor von Capua Evangelienharmonie Viktorin von Pettau (M. Dulaey) Vilmar, August Friedrich Christian (U. Rieske-Braun) Vinet, Alexandre (B. Reymond) Vinzentiner/Vinzentinerinnen -» Mönchtum, —» Orden, —» Vinzenz von Paul Vinzenz von Beauvais (R. Düchting)

1 16 44 71

76 79 84 93 97 99 102 106

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Artikel- und Verweisstichwörter

Vinzenz von Lerins (M. Parmentier) Vinzenz von Paul (S. Gilley) Viret, Pierre (M. Wriedt) Vision (M. Frenschkowski/N. Mette) Visitation (Ch. Peters/F. Krause) Visser't Hooft, Willem Adolf (R.-U. Kunze) Vita Adae et Evae -» Adam, -> Pseudepigraphen des Alten Testamentes Vitoria, Francisco de (D. Deckers) Vives, Juan Luis (M. Wriedt) Völkerrecht (P. Landau) Voetius, Gisbert (A. Mühling) Vogtei (H.-J. Schmidt) Vokation (H.M. Müller) Volk (M. Honecker) Volk Gottes Heidentum, —• Israel, —• Judentum, —> Kirche Volksbildung/Volksbildungswesen (R. Koerrenz) Volksfrömmigkeit (K. Hoheisel/S. Galley/A. Merkt/H.-D. Döpmann/ A. Angenendt/A. Holzem/M. Hopf/J. Haustein/W. Gräb) Volkskirche (W. Huber/H. Schröer) Volkskunde, Religiöse (Ch. Burckhardt-Seebass) Volksmission (K. Teschner) Volkssouveränität -» Staat Volkstrauertag -» Feste und Feiertage Vollkommenheit (G. Wainwright) Voltaire (G.R. Schmidt) Voluntarismus -» Wille/Willensfreiheit Vormärz (Ch. Albrecht) Vorsehung (H. Deuser/J. Maier) Vorsokratik (G. Siegmann) Vulgata -» Bibelübersetzungen Wach, Joachim (O. Krüger) Wahlrecht, Kirchliches -* Kirchenwahlen Wahrheit/Wahrhaftigkeit (J. van Oorschot/Ch. Landmesser/F. Böhl/I. Schüßler/ E. Herms) Waisenhaus (H.-J. Benedict) Waldenser (E.K. Cameron) Wales (D.D. Morgan) Wallfahrt/Wallfahrtswesen (O. Krüger/C. Körting/D. Sänger/F. Böhl/H. Kühne/ A. Gerhards) Walther von der Vogelweide (H. Reichert) Warneck, Gustav (M. Bergunder) Waschungen, Rituelle Reinheit Weber, Max (H.-G. Kippenberg) Wehrdienst/Wehrdienstverweigerung —• Krieg Weigel, Valentin (H. Pfefferl) Weihen -» Amt, Bischof, -» Ordination, -> Priester/Priestertum, -» Sakramentalien, —> Sakramente Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt (S. Roll/R. Stuhlmann) . . . . Weihrauch (J. Tubach/P. Wünsche) Weisheit/Weisheitsliteratur (K. Rudolph/M. Köhlmoos/J. J. Collins/ H. von Lips/W. Schoberth/M. Hailer/R. Kunz) Weisheit Salomos -* Salomo/Salomoschriften, - • Weisheit Weiß, Johannes (B. Lannert)

109 111 114 117 151 166 169 173 177 181 184 187 191 209 214 249 262 265 273 286 291 302 328 335 337 379 388 402 408 435 439 442 447 453 472 478 523

Karten/Bildquellen/Corrigenda Weissagung und Erfüllung -> Bibel, Schriftauslegung, -» Verheißung Weißer Sonntag -» Kirchenjahr Weizsäcker, Carl -» Bibelwissenschaften Wellhausen, Julius (R.G. Kratz) Welt/Weltanschauung/Weltbild (K. Stock/M. Moxter/ F.-M. Kuhlemann/R. Hempelmann/W. Gantke/M. Oeming/A. Scriba/W. Sparn) Weltbünde, Konfessionelle -» Lutherischer Weltbund, —• Reformierter Weltbund Weltbund der Bibelgesellschaften (E.H. Robertson) Weltparlament der Religionen (D. Lüddeckens) Weltrat der Kirchen Ökumene, -» Ökumenismus Wendland, Heinz Dietrich —• Sozialethik Werbung (M.L. Pirner) Werke, Gute (O. Freiberger/C. Hezser/E. Reinmuth/Ch. Peters/F. Nüssel) . . . Wert (W. Henckmann/H. Kreß) Wertethik -» Scheler, Max; —» Wert Wesley, John (W.R. Ward) Wessenberg, Ignaz Heinrich von (A. Holzem) West- und Ostpreußen (A. Geck) Westcott, Brooke Foss (J.L. North) Westfälischer Friede (Th. Kaufmann) Westfalen (H. Klueting) Westindische Inseln (H.-J. Loth) Westminster/Westminsterconfession (R.M. Norris) Westphal, Joachim (I. Dingel) Westsemitische Religion (H. Niehr) Wettstein, Johann Jakob (U. Schnelle) Whitefield, George (W.R. Ward) Whitehead, Alfred North (H. Maaßen) Wichern, Johann Hinrich (V. Herrmann) Widerstand/Widerstandsrecht (J. Miethke/Ch. Strohm/H.-R. Reuter) Wiederbringung aller (H. Rosenau)

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527 536 611 618

621 623 648 657 662 667 675 679 686 698 708 712 715 723 727 730 733 739 774

4. Karten Art. Wales: Wales mit den Grenzen der 13 Grafschaften, mit freundlicher Genehmigung der University of Wales, Bangor, © Department of Education, University of Wales, Bangor S. 405 Art. Westfalen: Karte 1, Die westfälischen Territorien 1789 - Karte 2, Die Kirchenkreise der Evangelischen Kirche von Westfalen (Stand 1998) - Karte 3, Die katholischen Bistümer Westfalens in der Gegenwart, © für alle Karten: Geographische Kommission für Westfalen (Zeichner: Dipl.-Ing. Horst Pohlmann) nach S.690

5. Bildquellen Art. Welt/Weltanschauung/Weltbildbild 1V/2.: Abb. 1: Neues Bibel-Lexikon, Bd. III. (Sp. 1099), hrsg. von Manfred Görg u. Bernhard Lang, Zürich, Düsseldorf 2001 - Abb. 2: Bruno Meißner, Babylonien und Assyrien, Bd. 2 (Abb. 27), Heidelberg 1925 (mit freundlicher Genehmigung des Universitätsverlags C. Winter, Heidelberg) - Abb. 3: T h . Schwegler, Die biblische Urgeschichte im Lichte der Forschung, München 1960, © Universitätsverlag Anton Pustet, Salzburg - Abb. 4: Reclams Bibellexikon, hrsg. von Klaus Koch e.a. (Abb. S. 546), Stuttgart 1992, © Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart Abb. 5: O t h m a r Keel/Sylvia Schröer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext

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Karten/Bildquellen/Corrigenda

altorientalischer Religionen, Göttingen 2002 (Abb. 6), © Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen — Abb. 6: Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsy mbolik und das Alte Testament, Göttingen 1996 (Abb. 41), © Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

6. Corrigenda S. S. S. S.

195,42 lies Moeller van den Bruck statt Moeller von der Bruck 303,28 lies npovoeiv statt npoveiv 311,8 lies when we may statt when me may 456,17 lies Dionysius bar SallbT statt Dionysius bar Salibi

1

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Pierre Auffret

• Que seulement de tes yeux tu regardes ... Etude structurelle de treize psaumes 2003. XII, 386 pages. Relié. ISBN 3-11-017867-2 (Band 330)

Detlef Dieckmann

• Segen für Isaak Eine rezeptionsästhetische Auslegung von Gen 26 und Kotexten 2003. IX, 374 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-017761-7 (Band 329)

Charles D. Harvey

• Finding Morality in the Diaspora? Moral Ambiguity and Transformed Morality in the Books of Esther

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2003. XIV, 274 pages. Cloth. ISBN 3-11-017743-9 (Band 328)

Ulrike Dahm

• Opferkult und Priestertum in Alt-Israel Ein kultur- und religionswissenschaftlicher Beitrag 2003. XII, 318 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-017669-6 (Band 327)

Rainer Albertz

• Geschichte und Theologie Studien zur Exegese des Alten Testaments und zur Religionsgeschichte Israels Herausgegeben von Ingo Kottsieper und Jakob Wöhrle Unter Mitarbeit von Gabi Kern

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2003. X, 396 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-017633-5 (Band 326)

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WilMF.

de Gruyter Berlin • New York

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BuchVerlag.

• Nag Hammadi Deutsch Band 2: NHCV,2-XIII,1, BG 1 und 4 (Koptisch-gnostische Schriften III) Herausgegeben von Hans-Martin Schenke, Hans-Gebhard Bethge und Ursula Ulrike Kaiser 2003. XXV, S. 399-918. Leinen. ISBN 3-11-017656-4 (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte NF 12)

• Papyrus Michigan 3520 und 6868(a) Ecclesiastes, Erster Johannesbrief und Zweiter Petrusbrief im fayumischen Dialekt Herausgegeben von Hans-Martin Schenke In Zusammenarbeit mit Rodolphe Kasser 2003. XIII, 318 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-017793-5 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 151)

Adolf Harnack

• Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator Die Dorpater Preisschrift (1870) Kritische Edition des handschriftlichen Exemplars mit einem Anhang, herausgegeben von Friedemann Steck

I

2003. Ca. XVI, 384 Seiten. 9 Abbildungen. Leinen. ISBN 3-11-017533-9 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 149)

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