Preußische Jahrbücher: Band 35 [Reprint 2020 ed.] 9783112367421, 9783112367414


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Preußische Jahrbücher: Band 35 [Reprint 2020 ed.]
 9783112367421, 9783112367414

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Preußische Jahrbücher Herausgegeben

von

H. v. Treitfchke und W. Wehrenpfennig.

Fünfunddreißigster Band.

Berlin, 1875. Druck und Verlag von Georg Reimer.

Inhalt. Erstes Heft.

Dries Goethe's an den Fürsten Radziwill.

(Herman Grimm.)...................... Seile

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

(Ernst von der Brüggen.).................................................................................... — L6on Gambetta und die Loirearmee. Norbalbingische Studien.

I.

III.

(Frh. v.

d. Goltz.)..........................—

(Nitzsch.)...................................................................—

Zaunkönig und Spielmannskönig.

1

I.

(W. Scherer.)..................................................—

6

26 62 85

(W.).................................................................................... —

91

Notizen............................................................................................................................. —

102

Politische Correspondenz.

Zweites Heft. Nordalbingische Studien.

II.

(Nitzsch.)................................................................... —

Die gegenwärtigen Reformfragen in unserem höheren Schulwesen.(H.Bonitz.)



Cornelius und dsie ersten fünfzig Jahre nach 1800.(Herman Grimm.)

113

143



165

Kritische Streifzüige. IV. Wahrheit und Dichtung in neuer Ausgabe. (Julian Schmidt.)

.............................................................................................................. —

Stiftungen für Studirende an hauptstädtischen Universttäten.

(E.Curtius.) .



Notizen............................................................................................................................... —

196

213

219

Drittes Heft. Norbalbingische Studien.

III.

(Schluß.)

(Nitzsch.)............................................ —

221

IV.

(Frh. v. d.Goltz.)............................. —

245

LSon Gambetta und die Loirearmee.

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

II.

(Ernst von der Brüggen.)..................................................................................... —

271

Shakespeare und die Dichter seiner Zeit. (Charles Grant.).................................... —

289

Schmidt.)........................................... —

313

Kritische Streifzüge.

V.

Essays.

(Julian

(W.).................................................................................... —

323

Nottzen................................................................................................................................. —

332

Politische Correspondenz.

IV

Inhalt.

Viertes Heft. V.(Frh. v. d. Goltz.).............................Seite 333

Löon Gambetta und die Loirearmee. Freiheitspflichten. Hamlet.

(Friedrich Thudichum.).............................................................. —

(Herman Grimm.)........................................................................................ —

Zum 22. März 1875.

(Theodor Mommsen.).......................................................... —

Die gerechte Bertheilung der Güter.

356 385 404

Offener Brief an Gustav Schmöller.

(Heinrich v. Treitschke.)......................................................................................

— 409

(W.).................................................................................... —

448

Notizen................................................................................................................................. —

460

Politische Eorrespondenz.

Fünftes Heft. Die erste Theilung Polens und die (Konstitution vom 3. Mai 1791.

III.

(Ernst von der Brüggen.)........................................................................... — Kritische Streifzüge.

VI.

(Julian Schmidt.) ...

(Au- der Wertherzeit.)

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868. I. (Friedrich Kapp.)

Die Umgestaltung der Monumenta Germaniae.

(H. Brunner.).................. —

Die Einweihung der Zoologischen Station in Neapel.





483



509

535 —

542

(L. Schneider.)................................................. —

557

.............................................................................................................................—

575

England und Rußland im Orient.

Notizen.

(Dr. H. E.)

465





Sechstes Heft. Friedrich August, Freiherr von Hardenberg.

Ein Lebensbild.

(Von einem

Mitgliede der Familie.)......................................................................................... —

Ein Freiwilliger von Gravelotte.

Samuel Pufendorf.

I.

604

(Heinrich v. Treitschke.)...................................................... —

614

Die Abtheilung der Leges der Monumenta Germaniae historica. (G. Waitz.) Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.



656

(Fortsetzung.)

(Friedrich Kapp.).................................................................................................. — Politische Eorrespondenz.

581

(Fritz Stein.)...................................................... —

660

(W.).................................................................................... —

684

Notizen................................................................................................................................. —

692

Bries Goethe's an den Fürsten Radziwill. Den 2. April 1814 schreibt Goethe an Knebel:

„Gestern überraschte uns eine ganz besondere Erscheinung,

Fürst

Radziwill, der ein herrlich Violoncell spielt, selbst componirt und zu diesem

Bogeninstrumente singt.

ES ist der erste wahre Troubadour, der mir

vorgekommen; ein kräftiges Talent, ein Enthusiasmus, ja — wenn man

will — etwas Phantastisches zeichnen ihn aus, und Alles was er vor­ bringt, hat einen individuellen Charakter.

Wäre seine Stimme entschie­

dener, so würde der Eindruck, den er machen könnte, unberechenbar sein."

Ueber das was damals zwischen Goethe und dem Fürsten besprochen

wurde giebt eine briefliche Sendung Auskunft, deren Abdruck S. Durch­ laucht der Fürst Anton Radziwill freundlichst gestattet hat. I. (Aus des Prinzen Schreibtisch in Berlin.)

Durchlauchtigster Fürst,

Gnädigster Herr,

Ew. Durchlaucht geruhen, gegenwärtige kleine Sendung gnädig auf­ zunehmen, in Erinnerung jeneö häuslichen CirkelS, dem Sie so unvergeß­

liche Stunden schenken wollen.

Ich wünsche, daß die Scene des Garten-

HäuSchenS, in ihrer gegenwärtigen Form, der Musik mehr geeignet sein

mW, als sie eS bisher in ihrem LaconiömuS gewesen.

Noch eine andere

liegt bei, welche bestimmt ist der Garten-Scene vorauszugehen. Möge Ew. Durchlaucht hierdurch eine kleine Freude und in jeder

Hinsicht so viel GuteS gewährt sein, als Sie andern zu verschaffen wissen. Mich zu Gnaden empfehlend Weimar den 11. April 1814. (Bon der Hand des Fürsten:)

*

Die Unterschrift von Goethe ist herausgeschnitten

F. Radziwill. Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Hefti.

1

Brief Goethe'- an den Fürsten Radziwill.

2

II.

(Heft in 4”)

Zwei Teufelchen tauchen aus der rechten Versenkung.

A. Nun, sagt' ich's nicht, da sind wir ja:

B. DaS ging geschwind! wo ist denn der Papa? Wir kriegen'S ab für unsern Frevel.

(sie sind herausgetreten.) Er ist nicht weit, eS riecht schon stark nach Schwefel.--------

Ich fahre nicht fort mit dem Abdrucke, da die Scene bereits nach einer früheren Mittheilung im Berliner Conversationsblatte von 1827, von

Loeper im Anhänge zum zweiten Theile seiner ausgezeichneten Ausgabe des

Faust (bei Hempel) abgedruckt worden ist. Nur irrt Loeper (Dorr. LXXX.)

indem er glaubt, diese Scene habe ihre Stelle am Schlüsse der Garten­ scene, in der Bearbeitung des ersten Theiles des Faust als Oratorium, finden

sollen.

Der Irrthum hätte nicht

stattfinden können,

wäre im

Conversationsblatte auch die Schlußbemerkung wiedergegeben worden:

Amor fliegt gegen die Seite, wo sogleich Faust und Gretchen hervor­ treten.

Die Teufelchen hüpfen in die entgegengesetzte, wo später Mephi­

stopheles und Martha heraus kommen. Auö dieser Bemerkung wird auch ersichtlich, daß diese Scene nicht

für das Oratorium bestimmt war, sondern daß Goethe die Bühne im

Sinne hatte, da er sonst die nur für ein Theater anwendbare Bestimmung des Auftretens der Personen von verschiedenen Seiten und ihrer Bewe­ gung nichtgetroffen haben würde. Er hat die Scene offenbar nur deshalb

abschriftlich dem Fürsten mitgetheilt, um ihm eine Artigkeit zu erweisen. Wir haben sie als Paralipomenon zum zweiten Theile zu betrachten.

Es folgt nun die Gartenscene selber.

Auch diese hat G. von Loeper, aber nur auö dem belangen Texte der Radziwillschen Faustcomposition abgedruckt, welcher jedoch zum Zwecke

der Musik auS Goethe'S Worten zu einer, dem Componisten bequemeren Form in manchen Kleinigkeiten umgeändert worden war.

Wir geben die

Scene mithin nun zum erstenmale in ihrer vom Dichter selbst für die

Musik vorgeschlagenen einfacheren Gestalt.

Brief Goethe'« an den Fürsten Rmdziwitl.

3

III. (Besonderer Bogen.)

Ein Gartenhäusche«. Margarete springt herein, steckt sich hinter die Thür, hält die Finger­ spitzen an die Lippen, und guckt durch die Ritze.

Margarete. Er kommt! Er kommt so schnell, Er wird mich fragen. Da draußen ist's so hell — Ich kann's nicht sagen.

Faust kommt.

Ach Schelm, so neckst du mich! Willst du'S nicht sagen?

Ich lieb' ich liebe dich! Sollt' ich nicht ftagen?

Margarete. Was soll denn aber das? Warum verfolgst du mich? Faust.

Ich will kein ander Was, Ich will nur dich!

Margarete. Verlangst du noch einmal

Was du genommen? —

Komm an mein Herz! du bist Du bist willkommen!

Faust.

O welchen süßen Schatz Hab' ich genommen! So sei denn Herz an Herz

Sich hoch willkommen! Marthe und Mephistopheles

außen.

Kluge Frau und kluger Freund Kennen solche Flammen,' Bis der Herr es redlich meint,

Laßt sie nicht beisammen.

4

Brief Goethe'- an den Fürsten Radziwill.

Faust.

Wer da? Mephistopheles.

Gut Freund!

Faust. Ein Thier!

Mephistopheles mit Diarthe hereintretend.

Nun endlich, so gefällst du mir! Mephistopheles und Marthe.

Wer Gelegenheit gegeben Der soll leben;

Wer Gelegenheit benommen, Schlecht willkommen! Margarete und Faust.

Sag' wer hat eö uns gegeben Dieses Leben? Niemals wird eS unS genommen Dies Willkommen.

Das Ganze von der Hand RiemerS lateinisch geschrieben, in einer

Schrift, welche der Goethe's so sehr ähnelt, daß ich bei oberflächlichem Anblicke zuerst denken konnte, Goethe selber habe die Feder geführt. Wenn man diese im kühlen Operncanzleisthl abgefaßte Umbildung der so lebendigen Scene mit dem Originale vergleicht, sollte man für unmöglich

halten, Goethe habe den reizenden Strom seiner eignen Dichtung in so hart geschnittene Eiöblöcke verwandeln können.

Indessen bedenken wir.

Goethe trug den Inhalt seiner Dichtungen so lebendig in der Seele,

daß ihr Ausdruck in Worten, selbst wenn er ihm am herrlichsten gelungen

war, dennoch für ihn eine über alle festen Formeln erhabene Berechtigung blieb.

Er glaubte sein Eigenthum jeden Tag anders gewandt und anders

accentuirt neu mittheilen zu dürfen.

Aus dieser souverainen Freiheit heraus

sehen wir ihn den Götz für die Bühne umgestalten, sehen wir ihn die

Iphigenie immer wieder frisch modelliren, als sei sein Werk weicher Thon, der jedesmal erneuter Umformung gehorchen müßte.

Goethe war der Herr

«nd seine Werke hatten sich jederzeit seinem Willen zu fügen.

Sobald er

die Composition deS Faust als Oratorium ins Auge faßt, stellt sich seinem Geiste eine Gestalt dar, für deren Gebrauch er ihn in die bequemsten ent­

sprechenden Worte bringt. Goethe war 1814 ein anderer als 1774. ihm gleichgültig,

ES war

ob litterar-historische Betrachtung ihm später vorwerfen

könne, seine Dichtung in gewissem Sinne zerstört und willkürlich anders

aufgebaut zu haben.

Er that auch hier was ihm beliebte.

Goethe sagt,

indem er sich selbst im Alter critisirt, er habe Anfangs „gar keinen eige­ nen Styl"

Jugend

gehabt.

schreibt

er

Uns heute erscheint das freilich nicht so. einen Styl,

dessen Wesen unS in

In der

jedem kleinsten

Zettelchen seines Briefwechsels so klar ist, daß wir nichts was von Goethe herrührt einem andern Autor beimessen würden. einen andern Styl.

Im Alter schreibt er

Er hatte ihn sich im Laufe der Zeit gebildet und

bringt ihn zur Anwendung. Auch wurde die Herrschaft dieses SthleS seiner

letzten Periode anerkannt, so lange er selbst von Weimar auö bis in sein höchstes Alter die Deutsche Litteratur regierte.

überwunden.

Wir haben ihm gegenüber

Heute ist diese Herrschaft

unsere Unbefangenheit

gewonnen und lassen nur gelten was uns zusagt. Rechte,

wieder

Und so sind wir im

diese Veränderung seiner Faustscene nur noch alS ein seltsames

Symptom der Entwicklung des großen Dichters aufzufassen: alS ein Zei­

chen seiner inneren Freiheit und deS höheren idealen Lebens, mit dem seine Dichtungen in ihm und mit ihm sich fortbildeten, alternd mit ihm selber gleichsam.

31. Dec. 1874.

Herman Grimm.

Die erste Theilung Polens und die Constituston vom 3. Mai 1791. (Vgl. Preuß. Jahrb. 1873, Heft 5 und 6, Art.: „Innere Zustände Polen'« vor der

ersten Theilung".)

I.

Einstmals hatte Polen in einem losen LehnSverhältniß zum deutschen Reich gestanden.

ES war damals, als die ersten Piasten nach der Eini­

gung der polnischen Theilfürstenthümer in Einer Hand strebten und als die sächsischen Kaiser nach allen Seiten hin und vornehmlich nach Osten das Gewicht der deutschen Krone ausbreiteten.

Dann hatte sich diese

schwache Verbindung allmählich gelöst und Heinrich II. versuchte vergebens, den aufstrebenden Polenstaat beim Reich zu erhalten.

Nicht mehr das

deutsche Reich legte der Selbständigkeit Polens Hindernisse in den Weg,

sondern auf der anderen Seite erstand Großfürstenthum Moskau.

ein gefährlicherer Nachbar im

Fast ununterbrochen ziehen sich von nun an

die Kämpfe der beiden Nachbarn durch die Jahrhunderte hin, und Ruß­

land wird der ganz eigentliche Erbfeind Polens.

Es ist ein Kampf ohne

feste Ausgangspunkte und ohne scharf begrenzte Ziele im Einzelnen, wie

er von Völkern, die zur staatlichen Consolidation hinstreben, häufig geführt wird,

ein Kampf um die Vorherrschaft in Osteuropa.

Die Ansprüche,

welche Rußland zum Vorwande der immer erneuten Angriffe auf das sinkende Polen nahm, waren ebenso schwach begründet wie der Anspruch, den Polen aus den Großfürstenstuhl von Moskau erhob.

Beide verlangten

nach der Oberhoheit über sämmtliche slavischen Stämme, und nur die

Macht konnte entscheiden.

Als Rußland die genügende innere Festigung

erreicht hatte und Zar Peter nun in die Reihe der europäischen Mächte

fein Reich einzuführen beschloß, da traten die alten Ansprüche auf ein­ zelne polnisch-lithauische Provinzen gegen das Bestreben zurück, das pol­

nische Staatswesen im Ganzen dem russischen Einflüsse zu unterwerfen.

Wollte Peter in unmittelbare Verbindung mit westlicher Cultur und Po­ litik treten, so mußte er die weite Länderstrecke, die seine Grenzen vom

Westen trennte, überbrücken, und der Nordische Krieg gab ihm Gelegenheit, in Polen einen Einfluß zu begründen, der wenigstens eine mittelbare Ver­

bindung mit Deutschland herstellte.

ES gelang ihm, an die Stelle des

schwedischen Schützlings Stanislaus LesczhnSki den Kurfürsten August von Sachsen wieder einzusetzen, und dieser konnte nun, den Angriffen der feind­

lichen Partei

entbehren.

im eigenen Lande

gegenüber,

Rußlands Hülfe

nicht mehr

Als August wiederkehrte, versuchte er, gegen die Gesetze und

Gewohnheiten des Landes in absolutistischer Weise zu regieren.

Die Folge

davon war die Bildung einer Consöderation, welche Rußland zum Schutze der adligen

Freiheiten aufrief.

Peter zögerte natürlich

nicht da- Land

zu retten, indem er im Jahre 1717 eine Verfassung feststellte, welche vom

Reichstage sanctionirt ward. außerdem um

Die Freiheiten

wurden gewährleistet und

neuen Vergewaltigungen derselben durch den König vorzu-

beugen festgesetzt, daß Polen fernerhin nie mehr als 18,000 M. Truppen halten dürfe, deren Führer, der Hetman, vom Könige unabhängig sein

und nur unter dem Reichstage stehen sollte.

Der Reichstag aber hatte

inzwischen eine Entwickelung genommen, die eS dahin brachte, daß fast nie ein Beschluß desselben zu Stande kam, und daher wurde der Hetman der Armee durch diese Bestimmung fast unabhängig.

Seitdem blieb der russische

Einfluß in Polen maßgebend. Wenige Decennien waren seit PeterS Tode vergangen, als Katha­

rina II. auf den russischen Thron sich setzte, eine Fürstin von ungewöhn­ lichem Verstände,

gewaltiger Energie und großem Ehrgeiz.

Sie nahm

alsbald Peters Politik auf und ging an die Ausführung weitblickender Pläne.

Die Türkei und Polen boten verlockende Angriffsobjecte dar, und sie be­ gann

gegen

diese Staaten

eine Eroberungspolitik,

welche an Festigkeit,

Gewandtheit, Rücksichtslosigkeit und Ausdauer ihres Gleichen sucht.

Der HubertSburger Friede war geschloffen und Friedrich der Große

hatte den ungleichen Kampf mit Aufbietung der letzten Kräfte überstanden. Ein günstiges Geschick hatte im letzten kritischen Moment ihn einen Freund

finden lassen, wo er bisher einem Feinde gegenübergestanden hatte.

Ruß­

lands Austritt aus den Reihen der Feinde beschleunigte den Frieden, nach dem sich Friedrich sehnte, und als er geschlossen war,

neue Band fester.

knüpfte sich daS

Katharina bewahrte Friedrich einen Theil der Bewun­

derung, welche ihr Gemahl für ihn gehegt hatte, die Stütze an Rußland von großem Werth.

und für Friedrich war

Gegenüber den zahlreichen

Feinden, die ihm noch immer unversöhnt entgegenstanden, besonders aber

gegen den Hauptfeind Oesterreich war Rußland ein vortrefflicher Genosse; so bemühte sich denn Friedrich, eine Allianz zur gemeinschaftlichen Verthei­ digung zu Stande zu bringen.

Dieselbe wurde am 11. April 1764 ge-

8

Dir erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

Friedrich hatte hiebei wohl nur die eigene Sicherung gegen neue

schloffen.

Angriffe seitens der alten Feinde im Auge.

Ruhe war es, wonach er

sich vor allem sehnte, eS lag ihm nichts ferner, al» der Gedanke an neue Eroberungen, an Uebergreifen in die staatlichen Verhältnisse der

Das aber war grade die Absicht Katharina'-, und so lag in

Nachbarn.

diesem Bündniß von vorne herein ein innerer Widerspruch, der daffelbe

sprengen oder aber dem schwächeren Genossen gefährlich werden mußte: Friedrich sah sich genöthigt, gegen die Sicherung seines Besitzes die Unter­

stützung der Politik Katharinas in Polen und Schweden zu versprechen. In beiden Reichen, dort in Polen von langer Hand her, hier in Schwe­

den seit 1720, war die königliche Gewalt und damit die Kraft nach außen durch eine octroyirte Verfassung gelähmt, und diese Verfassungen wollten

die Verbündeten erhalten.

Sie versprachen einander, in beiden Reichen

jede Stärkung der Krone, in Polen namentlich die Erbmonarchie zu hin­

dern, und kamen überein, den vor kurzem, am 5. Oktober 1763, durch

den Tod Augusts III. erledigten polnischen Thron durch einen Einheimischen, wie man es nannte einen Piasten zu besetzen.

Schon früher hatte Katha­

rina daran gedacht, Stanislaus August, ihren einstigen Günstling, den zweiten in der Reihe dieser Emporkömmlinge

durch die kaiserliche Liebe,

in Polen einzusetzen. — Jetzt wurde er zum Nachfolger Augusts in dem Vertrage

ausersehen.

Friedrich mochte auf die Person wenig Gewicht

legen, wenn eS nur nicht ein Mann war, der ihm seinen jungen Staat und seinen heiß ersehnten Frieden durch eigene kräftige Politik zu gefähr­

den drohte. sonders

Daß StaniSlauS Poniatowski seiner früheren Geliebten be­

ergeben bleiben würde, hoffte Katharina, und daher lag

Wahl vorzüglich in ihrem Interesse.

diese

Nicht minder war das mit einer

andern Stipulation des Vertrages der Fall.

Friedrichs Absichten waren

anfangs rein defensiver Natur, aber um diesen Schutz zu erreichen, mußte

er Zugeständnisse machen, die über die Defensive hinausgingen, die in die

inneren Verhältnisse Polens Übergriffen. So wurde stipulirt, daß die pol­ nischen Akatholiken, die Dissidenten, geschützt und womöglich in ihre früheren

Rechte wieder eingesetzt werden sollten.

DaS war aber ein Gegenstand,

dem Friedrich eigentlich ebenso abgeneigt war, als er Rußland nahe lag, und

der Katharina eine erwünschte Handhabe zu beständiger Einmischung in die

innern polnischen Angelegenheiten bot. Dieser Allianz standen Österreich und Frankreich in nicht sehr fester,

aber andauernder Verbindung gegenüber, mißtrauisch das große Rußland

wie auch den gefährlichen und tödtlich gehaßten Rivalen deS Kaiserhauses

beobachtend.

Sie wünschten keinen Piasten auf dem polnischen Thron,

der den feindlichen

Einflüssen nur schutzloser ausgesetzt sein mußte, sie

wünschten Polen zu stärken zum Bollwerlk gegen die nordischen Mächte.^

AIS schon damals Gerüchte von einer Theilung Polens auftanchten, stellte der große österreichische Staatsmann, der damals die Politik Maria The­ resias leitete, Kaunitz, den Grundsatz auf, Oesterreich dürfe gegen keine

Vortheile, die ihm etwa bei einer Theiluing durch Ländererwerb geboten

würden,

den Nachtheil einer Vernichtuug Polens

eintauschen. — Die

Anschauungen, welche hier und in dem preußisch-russischen Verttage her­

vortreten, bleiben für lange Zeit maßgebend; die augenblicklichen Verhält­ nisse modifiziren wohl ihre Anwendung im einzelnen Fall, aber im Grunde

ändern sich die Prinzipien der drei Nachbarmächte in Rücksicht auf Polen Oesterreich stet« mißtrauisch, zurückhaltend gegen jede Verlockung,

nicht:

die polnische Selbstständigkeit nach Maßgabe der eigenen Kraft und Sicher­ heit schützend; Preußen vorwiegend die politische Ruhe, den Frieden im Auge behaltend und nur allmählich dem Drängen Rußlands ^u einer

aggressiven Politik nachgebend; endlich Rußland unausgesetzt bedacht, seine

Macht in Polen zu befestigen; dann, durch die Verhältnisse vorwärts ge­ trieben, fest entschlossen, das polnische Staatswesen aufzulösen und eine

Theilung herbeizuführen. — Nach Augusts Tode befehdeten sich, wie gewöhnlich in diesen Fällen,

die Parteien um die Besetzung des Thrones.

Vorzüglich standen sich die

sächsische Partei mit ihrem sächsischsn Candidaten und die „Familie", daN

große Haus Czartoryski gegenüber, welches durch die Krönung eines Glie­ des dieses Geschlechts die StaatSleitvng in die Hände zu bekommen hoffte.

Die CzartorhSki'S wünschten eine innere Kräftigung Polens, Reformen,

welche die königliche Gewalt stärken und der Anarchie ein Ende machen

sollten, aber um anS Ruder zu kommen waren sie genöthigt, sich an die­ jenige Macht anzuschließen, welche ganz entgegengesetzte Prinzipien ver­

folgte.

Sie verbanden sich mit Rußland.

Gin

ConvocationSreichStag

wurde einberufen, derselbe wurde conföderirt und die Wahl des Neffen der beiden Brüder Czartoryski, PoniatowSki'S, wurde gegen den Protest einer großen Zahl von Reichstagsgliedern gesichert. Große Summen wa­

ren auf Bestechung verwandt worden, russische Truppen unter Repnin

hatten Warschau besetzt und die nöthigen Anordnungen und Wahlen in ihrem Sinne unterstützt.

Ein einberufener Wahllandtag rief Poniatowski

am 7. September 1764 zum Könige aus. — Von nun ab beginnt das politische Spiel, welches 30 Jahre lang

Polen in stetem Athem hielt; es wechseln wohl die Personen, die Prin­ zipien aber, die Ziele und die Mittel bleiben dieselben. — Die Czartoryski gelangten ans Rnder und suchten ihren Einfluß auf den König zum Wohl des Vaterlandes auszubeuten, indem sie mm

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

10

plötzlich ihre Verbindung mit Rußland abbrachen.

Kaum hatten sie mit

russischer Hilfe ihrer Partei auf dem ConvocationSreichStage die Wege geebnet, so traten sie mit wichtigen Reformprojecten hervor.

Die Justiz

und das Kriegswesen, die Finanzen und daS Innere wurden den betreffen­

den vom Könige fast unabhängigen Würdenträgern genommen und Com­ missionen übergeben, die aus je 16 Gliedern bestanden, und vom Reichs­ tag, eventuell vom Könige, wenn kein Reichstag zu Stande kommen sollte,

ernannt wurden.

Wenn ein Reichstag zerrissen wurde, so sollten fürder

doch die schon gefaßten Einzelbeschlüffe Geltung behalten.

Angelegenheiten

der Finanzen und der Verwaltung, die Wohlfahrt der Republik sollten

künftig mit Stimmenmehrheit auf dem Reichstage entschieden

werden.

Erst als noch weiter gegen das liberum veto vorgegangen werden sollte,

Mehrere

schritten die Gesandten von Preußen und Rußland dagegen ein.

Magnaten, welche sich mit Waffengewalt der Wahl PoniatowSki'S wider­ setzten, wie der Kronfeldherr Branicki und der Fürst Radziwill, wurden

ihrer Aemter entsetzt.

Rußland widerstrebte damals den Reformen im Prinzip nicht.

Panin,

der eben die auswärtigen Angelegenheiten übernommen hatte, und auch

Katharina meinten, in dem Könige, welchen sie gemacht hatten, eine ge­

nügende Sicherheit dafür zu haben, daß ihr Einfluß in Polen maßgebend bleibe.

Hatte Rußland durch den König die thatsächliche Gewalt in Polen

in Händen, so war eS besser, wenn dieselbe gestärkt wurde, als daß sie in ihrer bisherigen Ohnmacht Rußland nöthigte, seinen Vasallen immer

tvieder durch eine kostbare Unterstützung mit Truppen und Geld über den streitenden Parteien zu erhalten.

Nur eine Frage innerer Reform gab

eS, welche Katharina nicht aus dem Auge verlor und vor allem andern

entschieden haben wollte: die Dissidentenfrage.

Die „Familie" war zwar

nicht abgeneigt, den Dissidenten einige Vortheile einzuräumen, aber die

Masse der maßgebenden Persönlichkeiten war eifrig dagegen und die Czar­ toryski

waren

nur dann geneigt, hierin nachzugeben, wenn sie zugleich

in ihrem Bestreben, die königliche Gewalt zu stärken, unterstützt würden.

Bald kam eS zum Bruch zwischen Rußland und der Familie.

Ein neuer

Reichstag stand bevor, und Rußland setzte alles in Bewegung, um die

Dissidentenfrage hier zur Erledigung zu bringen.

Die Czartoryski, der

Bereitwilligkeit Rußlands, ihre weiteren Reformabsichten zu unterstützen, mißtrauend,

weigerten sich, mit dieser Macht gemeinschaftlich zu handeln

und hielten sich zurück, während ihre Gegner eine Verbindung mit Ruß­

land suchten, um die dominirende Stellung der Famllie zu brechen. 6. Oktober 1766 wurde der Reichstag eröffnet.

Am

Der König entwickelte

hier eine Selbständigkeit, wie er sie später kaum wieder gezeigt hat, er

fcheutte weder eine Verfeindung mit den Oheime«, noch den Bruch mit

Rußltand, in der Aussicht durch eine Abwehr der Dissidentenfrage die gesammnte Nation für sich zu gewinnen.

Um die katholische Kirche gegen

die Angriffe der Gegner zu schützen verlangte er Stärkung der königlichen Machht, Vermehrung des Heeres.

Es gelang ihm, daS liberum veto für

die Wahlen auf den Provinziallandtagen abzuschaffen, aber alle weiteren Schrritte in dieser Richtung riefen den heftigsten Widerstand der fremden Gesarndten hervor, die nun mit allen Mitteln gegen den König agitirten.

Die Meformfrage erlitt eine Niederlage, aber die Gleichstellung der Diffidenteen mit den Katholiken wurde unter großer Aufregung ebenfalls zurückgewikesen.

Rußland war auf diese Eventualität vorbereitet und Repnin,

der 'russische Gesandte, traf Vorbereitungen zur Bildung einer Conföde-

ratioui der Dissidenten.

Die Haltung des Königs

auf dem Reichstage

hatt« gezeigt, daß Rußland nicht mit der gewünschten Sicherheit auf die

Willffährigkeit seiner Creatur rechnen könne und daß die beiden alten und klvg«n Brüder Czartoryski ebenfalls

ihre eigenen Wege gingen.

Nun

setzt« sich die Ueberzeugung fest, daß fede Stärkung Polens gefährlich und

schäwlich für Rußland wie für Preußen sei, und die Höfe gaben alle Zweifel über: die Politik auf, welche sie künftig in Polen zu vertreten hätten. Vor allem, sollte Rußland durch die Conföderation den Diffidenten zu

ihrem Rechte verhelfen, dann aber sollten auch die neuerdings geschaffenen Refwrmen umgestoßen werden, da sie, wie Panin sagte, die Freiheit des Adells gefährdeten.

Der Bildung einer Conföderatton war auch der Um­

stand sehr günstig, daß der König auf dem letzten Reichstage eö mit fast

allem Parteien verdorben und endlich sich dem russischen Gesandten doch wieder in die Arme geworfen hatte.

Die zahlreichen Feinde hofften, ihn

nun durch die Hülfe Rußlands zu stürzen und traten in die Confhderation. Repnin vertheilte die Rollen, in die einzelnen Provinzen begaben sich an-

gefchene Magnaten und errichteten überall Conföderationen,

welche im

Inni 1767 zu Radom sich sammelten und den seinerzeit berühmten Schlem­ mer Fürsten Karl Radziwill zum Marschall erwählten.

Die Abfassung

der Conföderationsakte aber rief schon große Schwierigkeiten hervor, denn

Repnin verlangte die Bestimmung, daß für die sestzustellende neue Ver­ fassung Polens die russische Garantie erbeten werde.

Kostomarow,

mit andern Worten gesetzmäßig

Rußland treten."

„Das hieß, gesteht

in die Abhängigkeit von

Den Widerstand gegen diese Zumuthung zu brechen

ward die Versammlung von russischem Militär umstellt, die

Straßen

wurden von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonnett besetzt, und mit den

härtesten Drohungen zwang Repnin die Conföderation zur Unterschrift der Acte.

Wenn Repnin aber glaubte, nun die Hauptfchwierigkeit beseitigt

12

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

zu haben, so täuschte er sich. verschiedenen Gründen

Viele hervorragende Prälaten hatten auS

sich Rußland willfährig gezeigt und waren der

Conföderation beigetreten.

Unter ihnen PodoSki, die Seele der Conföde­

ration, ein Mann von vieler Gewandtheit und Verstandesschärfe.

Zum

Lohn für seine Dienste bewog Repnin den König, ihm den eben erledigten erzbischöflichen Stuhl von ®nefen zu geben.

Kaum hatte PodoSki die

oberste Würde nach dem König erreicht, so verband er sich mit den Fein­

den Rußlands, den Anhängern der Curie, die die Herrschaft des Katho­ licismus um jeden Preis zu halten gesonnen waren.

Der Bischof von

Krakau, Soltyk, hatte sich ebenfalls bisher ziemlich russenfreundlich gezeigt. Cs war das ein Mann von großen Gaben des Geistes, gewaltiger Rede,

unbeugsamem Willen.

Nun trat er mit unermüdlichem Eifer gegen die

Dissidenten auf und ließ sich durch keine Versuche RepninS hiervon ab­ bringen.

Der Landadel wurde überall fanatisirt für die Erhaltung der

Kirche, und als die Wahlen für den conföderirten Reichstag vorgenommen werden sollten, konnte Repnin nur durch Waffengewalt in den einzelnen Landtagen die Wahl seiner erbittertsten Feinde hindern. Ueberall auch war

die Curie durch ihren Nuntius in ihrem Sinne thätig.

Als die Landboten

in Warschau sich sammelten, glaubten die Conföderirten, nachdem sie mit Hilfe Rußlands die Conföderation zu Stande gebracht, nun das Werkzeug beseitigen zu können, da die Staatsgewalt in ihre Hände übergegangen war.

Sie verlangten die Entfernung der russischen Truppen, und als

der König und die ConföderationS-Marschälle den Ausweg versuchten, die Truppen

kraft eines ConföderationSdecretS für befreundete zu erklären,

verwarfen sie diesen Antrag*).

Repnin entschloß sich nun wieder zu Ge­

waltmaßregeln und ließ einen Hauptagitator, KozuchowSki, verhaften und Allgemeine Aufregung war die Folge dieser Verletzung deS

fortschicken.

polnischen Ehrgefühls.

Am 3. October sollte der Reichstag eröffnet werden.

Die Landboten

hatten sich beim Marschall Radziwill versammelt und ergingen sich, von dem Nuntius angefeuert, in den heftigsten Ausdrücken gegen das gewalt­

same Verfahren des russischen Gesandten.

Plötzlich trat Repnin in die

Versammlung und wurde von allen Seiten mit Borwürfen und den Betheuerungen, für die Kirche sterben zu wollen, überhäuft.

entgegen:

Er schrie ihnen

„Hören Sie auf zu lärmen, sonst werde ich einen Lärm er­

heben, der stärker sein wird als der Ihrige!"

Diese Haltnng wirkte und

man Bequemte sich, durch Bitten von Repnin die LoSlassung KozuchowSki'S

zu erlangen.

*) Solowjew. Gesch. der Falles von Polen.

Kaum aber war der Reichstag eröffnet,

so ging der Sturm los.

Solthk erhob sich und die hinreißende Gewalt seiner Rede durchbrach alle

von Repnin sorglich getroffene Vorsorge, warf alle Versuche des Königs nieder, in maaßvoller Berathung die russischen Forderungen zu erörtern. Neben Soltyk ragten Rzewuski, der Palatin von Krakau, und ZaluSki,

Erzbischof von Lemberg und Bischof von Kiew, hervor, desgleichen der Sohn des

Palatins von Krakau,

der später so bedeutende Severin

Rzewuski. — Repnin bedachte sich nicht lange: e.r ließ alle vier verhaften und nach Rußland abführen.

Alle Proteste, alle Bitten fruchteten nicht,

Repnin erklärte, von seinen Handlungen Niemandem als seiner Kaiserin Rechenschaft schuldig zu sein. —

Man fügte sich der Uebermacht.

Eine Commission zur Erledigung

der Dissidentensache wurde ernannt, welche feststellte: daß nur ein Katholik König sein dürfe, daß die katholische Religion die herrschende sein, der Uebertritt zu einer andern strafrechtlich verfolgt werden solle; die adligen

Dissidenten genießen gleiche staatsbürgerliche Rechte mit den Katholiken; Streitigkeiten zwischen Dissidenten und Katholiken sollen durch gemischte Gerichte entschieden werden; die Dissidenten haben eigene Consistorien und

Synoden, dürfen Kirchen und Schulen bauen. Ferner hob der Reichstag alle neuen Reformen der letzten Jahre auf, welche die Stärkung des Reichstags und des Königs bezweckt hatten. —

Repnin hatte seine Forderung- daß die russischen Anträge bedingungslos an­

genommen würden, durchgesetzt.

Dafür verwandte er sich bei der Kaiserin

für die vom Könige erbetenen Reformen in Bezug auf das liberum veto, und Katharina ließ sich herbei, die Bestimmung gut zu heißen, daß künftig

auf den Reichstagen, welche gesetzlich eine sechswöchige Dauer hatten,

in den ersten drei Wochen nur ökonomische Angelegenheiten, in den letzten drei Wochen die staatsrechtlichen Materien verhandelt, und zwar erstere

nach

Stimmenmehrheit, und nur letztere nach Siimmeneinheit erledigt

würden. — Außerdem kam auf diesem Reichstage die Garantie der ge­

faßten Beschlüffe durch Rußland zur Annahme, die gesetzliche Unterwerfung Polens unter den russischen Einfluß. —

Katharina meinte wohl, ihre Herrschaft in, Polen nun auf genügender Grundlage hergerichtet und in der neuen Stellung der Dissidenten bedeu­

tend verstärkt zu haben. Denn zu den Dissidenten gehörten auch die nicht

unirten Griechen, welche besonders im Süden, in Podolien, Wolhynien und der polnische Ukraine die Mehrheit der Bevölkerung bildeten und durch

die Gleichheit der Religion so wie nähere nationale Verwandtschaft stet- zu Rußland hinneigten.

Aber bald erfuhr Katharina, wie wenig sie auf ihr

gewonnenes Uebergewicht rechnen durfte. — Kaum war die Consöderation

14

Die erste Theilung Polens und die Konstitution vom 3. Mai 1791.

von Radom im Beginn des Jahres 1768 aufgelöst worben, so kamen

drohende Nachrichten von neuen Unruhen grade im Süden, in Podolien. Dort trat der Adel unter Anführung des Bischofs Krasinökt und Josef

PulawSki's zusammen zur Erhebung für Glauben und Freiheit und be­ mächtigte sich der Stadt Bar^

ES wurde eine Conföderation gebildet zur

Vernichtung der von der Conföderation von Radom herbeigeführten Neuerun­

gen, der dissidentischen Rechte und der russischen Garantie.

Aber nur

zum Theil wurde die entstehende Verbindung von diesen großen prin­ zipiellen Gegensätze gegen die von Rußland her aufgenöthigten Neuerungen in Bewegung gesetzt.

Die Dissidentenfrage war das treibende Motiv für

die Curie, für einzelne fanatische Priester, für das fanatisirte Volk, wie

anderseits die russische Garantie die geringe Zahl der wahren Patrioten entflammte.

Vielleicht der größere Theil der Gewalten, welche sich in Bar

gegen den König erhoben, hatte zur eigentlichen innerlichen Triebfeder ein Moment der innern Politik, das in der ganzen Zeit der Regierung Stanis­

laus Augusts nur wenig an die Oberfläche der politischen Erscheinungen

getreten ist, aber um so mehr im Verborgenen wirkte und am deutlichsten bewußt in der Conföderation von Bar die Geister an einander schloß.

Stanislaus Poniatowski war von jeher für einen König der Szlachta an­ gesehen worden.

Er entsprang einem Hause, auf welches die großen

Magnatenfamilien mit Stolz herabblickten, welches erst in neuer Zeit und zuletzt durch die Verbindung mit den Czartorhski, einem ebenfalls nicht eben sehr alten und glänzenden Magnatengeschlecht, emporgekommen war.

Leute, wie Karl Radziwill, Felix Potocki, der alte Branicki, von der letzten

KönigSwahl her verletzte Concurrenten Poniatowöki'S

um

die

höchste

StaatSehre, verschmerzten es nicht, daß der König „nicht aus ihrer Kaste hervorgegangen war", in Spottversen wurde die Herkunft eines Königs

geschmäht, dessen Geschlecht erst vor 2 Jahrhunderten in den polnischen Adel getreten, desien Großvater „Verwalter" gewesen war.

In natür­

licher Folge, die genauer zu entwickeln hier nicht der Ort ist, suchte StaniSlauS August im Laufe seiner Herrschaft die königliche Macht fester auf die Szlachta, den niederen Adel, zu stützen, und in gleich natürlicher

Folge lehnten sich die Magnaten, die Anhänger der alten goldenen Zeit des allmächtigen Oligarchenthums unter den sächsischen Augusten, gegen

diese Untergrabung ihres Einflusses auf.

Diese Strebungen gegen den

demokratisirenden Poniatowski waren nun auch ein vorwiegender Impuls

zu den Magnatenverbindungen von Bar.

„Glaube und Freiheit" war die

äußere Devise dieser Conföderation, ihr eigentlicher Sinn war die altpol­ nische „Freiheit", wie sie immer von den Magnaten verstanden worden

ist, eö war die Gegenwehr deö PanthumS gegen den Versuch deS könig-

lichen Emporkömmlings, sich von der Uebermacht desselben zu befreien,

eng verbündet mit dem Fanatismus der vom Iesuitenthum geleiteten Kirche. StaniölauS August sollte gestürzt und die Krone dem Kurfürsten von Sachsen gegeben werden, in Kurland sollte Herzog Biron verjagt und Prinz Karl von Sachsen in

seine Rechte wieder eingesetzt

werden*).

Rasch

verbreitete sich die Verbindung und die Hülfe Oesterreichs, der Pforte, Frankreichs wurde angerufen.

Der König sah die Aussichtslosigkeit des Aufstandes ein, der über­ dies seine Absetzung offen auf seine Fahne schrieb, und stützte sich nur um so fester auf Rußland. Ein Senatsbeschluß ersuchte die Zarin, als Bürgin

der Verfassung ihre Truppen gegen die Aufständischen vorrücken zu lassen,

uyd Repnin beeilte sich diesem Wunsche nachzukommen.

Gleichzeitig aber

entbrannte ein Kampf anderer Art, der von wesentlichem Werth für die

Absichten Rußlands war.

Das russisch-orthodoxe Landvolk der südlichen

Provinzen war stets ein natürlicher Bundesgenosse Rußland« und stand

dern übermüthigen polnischen Landadel feindselig gegenüber.

Es war nicht

schwer, dort den armen Bauer gegen den adligen alleinbesitzenden Polen,

den Orthodoxen gegen den Katholiken oder Unirten, den Kleinrussen und Kosaken gegen den Liachen oder Polen aufzuwiegeln, und so darf man sich nicht wundern,

wenn die Polen die Hand Katharina'S jedesmal thätig

glaubten, wann in kritischen Momenten, da die Widersetzlichkeit der Polen gegen Rußland wuchs, da Rußland durch innere oder äußere Verhältnisse

anderweit in Anspruch genommen war, im Süden Polens wiederholt der

bäuerliche Aufstand sein Haupt erhob.

Zwar ward die Anstiftung von

russischer Seite geleugnet, ja Repnin äußerte seinen Unwillen über die Empörung der Saporoger Kosaken oder Haidamaken und nach Beendigung

des Aufstandes

wurden

die Häupter derselben von Rußland

scheußlichen Grausamkeiten bestraft.

Empörungen

stets

für ihre

Indessen war es auffällig, daß die

in Momente fielen, wo Rußland dadurch eine beson­

ders nützliche Hülfe geleistet wurde.

Wie jetzt die Conföderation von Bar

durch den Ausstand SaliSnak's und Gonta'S in Schrecken gesetzt wurde,

so erstwnd 20 Jahre später, als Rußland durch den Krieg mit der Pforte zur Unthätigkeil in Polen gezwungen war und dem feindlichen Treiben des *) Interessante Schilderungen au» den Verhältnissen der Eonföderation so wie der späteren Geschichte de» polnischen Untergang» und de» polnischen Geschlecht» jener Zeit fiude» sich in de» bisher leider nngedruckten Denkwürdigkeiten des Freiherrn H. C. v. Heyking, welche mir von der Verwaltung der Freih. Heykingschen Familien­ stiftung, in deren Besitz sie sich gegenwärtig befinden, mit dankenSwerther Liberalität Mr Einsicht überlaffen worden sind. — Zu vergleichen find auch die ebenfalls un­ gedruckten Berichte HeykingS als Delegirten der kurländischen Ritterschaft in Warschau, nach Mitau aus jener Zeit, in der Bibliothek der livländischen Ritterschaft be­ findlich. —

Die erste Theilung Polens und die Konstitution votn 3. Mai 1791.

16

Reichstages von 1788 ruhig zusehen mußte, dasselbe Gespenst in den Unruhen, die von der russischen Geistlichkeit und Emissären, so tote nach der allgemeinen

Annahme, von dem orthodoxen Erzpriester SadkofSki im Süden angefacht und von der Furcht weit über die Wahrheit hinaus vergrößert wurden. Jetzt wurde der Aufstand der Haidamaken nach fürchterlichen Gräueln

unterdrückt.

Zugleich wurden die Conföderirten überM von den russischen

Truppen in die Enge getrieben, die Hauptplätze erobert, Krakau erstürmt, und nach großen Verwüstungen schien die Conföderotion überwältigt zu

sein.

Da kam der Krieg Rußlands mit der Pforte zum Ausbruch.

Die ganze Lage ward dadurch plötzlich verändert, Alles hoffte in Polen auf eine Schwächung Rußlands, auf türkische Siege, und in Folge

dessen auf die Möglichkeit, das russische Joch abzuschütteln.

Die Con,

föderirten, die Czartoryski's, selbst der König schöpften neuen Muth und hielten in ihrer Nachgiebigkeit gegen Repnin inne.

Bald darauf wurde

Repnin abberufen. — Der Verlauf der polnischen Dinge blieb in den nächsten Jahren im Wesentlichen unter dem steten Einfluß der Kriegsereignisse und der damit zusammenhängenden Politik der benachbarten Höfe.

Die Conföderirten

suchten nach Hilfe von auswärts und erhielten von Oesterreich gute Worte und geringe Unterstützung,

von

Frankreich Geld und einige Offiziere.

Sie erklärten den König für einen Berräther und des Thrones verlustig, hatten aber nicht die Kraft dieser Erklärung Nachdruck zu geben.

Die

französischen Gelder und Offiziere mit dem General Dümouriez, später dem General Biomönil an der Spitze suchten vergeblich die Streitkräfte der Conföderation in festere Formen zu fügen:

Die polnische sogenannte

Freiheit vereitelte alles Bemühen, einen taktischen Truppenkörper zu schaffen. Das Auftreten der Conföderation gegen Stanislaus August aber drängte

diesen immer mehr in die Verbindung mit Rußland hinein.

Um ihr An­

sehen zu stärken machten die Conföderirten einen Angriff auf die Freiheit

deS Königs.

Sie bemächtigten sich seiner in Warschau und wollten ihn

inS Lager bringen, aber ein Zufall befreite den König und er wandte sich nun vollends von der patriotischen und russenfeindlichen Partei ab.

Denkwürdig ist eS,

wie hier der UltramontaniSmuS wieder einmal in

seiner staatsfeindlichen, rücksichtslosen Gewaltthätigkeit eingreift.

Ein glaub­

würdiger Gewährsmann, der bekannte englische Reisende Coxe, der damals sich eben in Polen aufhielt, erzählt uns*), daß der päpstliche Nuntius in

Polen nicht nur den Anschlag auf das Leben des Königs guthieß, sondern

sogar die Waffen der Verschworenen, als sie sich zu Czenstochow ver*) W. Coxe, Reise durch Polen, Rußland k. — Bd. I

sammelt hatten,

für das Unternehmen weihte.

Offener hat die Curie

kaum jemals den politischen Mord in Schutz genommen. — Der neue

russische Gesandte Saldern erklärte die Conföderirten im Juni 1771 für des Kriegrechts verlustig, nannte sie Räuber und ordnete die äußerste

Strenge gegen sie an.

Bald darauf erschien der junge General Suworow

auf dem Kampfplatz, und in mehreren kleinen Treffen gelang eS ihm, die

Conföderirten in Polen und dann auch in Lithauen zn schlagen.

Im

Frühjahr 1772 löste sich die Conföderation durch ein von der Schweiz

auS erlassenes Manifest auf. Inzwischen war die Diplomatie der benachbarten Höfe ununterbrochen in lebhafter Thätigkeit gewesen.

Als der türkische Krieg im Jahre 1768 ausbrach, war Katharina

trotz des unvorbereiteten Zustandes des Heeres sogleich entschloffen, mit aller Kraft gegen die Pforte vorzugehen und dauernden Gewinn aus dem

Kriege zu ziehen.

Je erfolgreicher ihre Waffen in den Feldzügen der

nächsten Jahre vordrangen, um so fester gestalteten sich ihre Pläne nicht nur in Bezug auf die Türkei, sondern auch auf Polen.

Aber so lange

sich das Kriegsglück noch wenden konnte, war sie bemüht, die Lösung der

polnischen Wirren hinzuhalten und später mit ruhiger Kraft ihren Willen gegenüber Polen und den beiden benachbarten Staaten durchzusetzen. —

Friedrich war dem mit Rußland abgeschlossenen Vertrage gemäß zur Un­ terstützung wenigstens durch Subsidien verpflichtet, und- ihm war der Aus­

bruch des Krieges daher um so unwiNommener.

Er hatte sich an Ruß­

land angeschlossen, um seine Ruhe zu sichern und sah sich nun in der

Gefahr, in einen Krieg verwickelt zu werden, deffen AuSgang ganz zwei­ felhaft war.

Denn die Siege Rußlands konnten Oesterreich leicht nöthigen,.

die Waffen zu ergreifen, und dann entbrannte ein Kampf, der Friedrich nothwendig mit fortriß. bewahren.

Friedrich setzte Alles dran, sich den- Frieden zu

Aber die Erfolge Katharina'S weckten das alte Mißtrauen in

ihm, welches er gegen den großen östlichen Rachbar nie zu verVannen

vermochte.

Das Anwachsen dieses Staates, der unruhig und erobernd

nach außen hindrängte, trug auch für Preußen eine Drohung in sich, die Friedrich wohl erkannte und der entgegenzuwirken er nur durch die un­

vertilgbare Feindschaft gegen Oesterreich verhindert war.

Er konnte nicht

von der Allianz mit Rußland lassen, denn er war keines andern BundeSgenoffen sicher genug.

Mit Rußland schnitten sich die preußischen Jnter-

effen vorläufig noch nicht, sondern sie stimmten in manchen Punkten über­

ein.

Die zukünftigen Möglichkeiten, welche ein übermächtiges Rußland

darbieten konnte, mußten den gegenwärtigen Gefahren gegenüber schweigen,

die in Oesterreich schlummerten.

Friedrich glaubte, nie mit Oesterreich

Preußische Jahrbücher. St. XXXV. Heft i.

2

18

Die erste Theilung Polen- und die Constitution vom 3. Mai 1791.

einen dauernden Frieden machen zu können.

Dennoch wurde der Versuch

einer Annäherung nicht zuriickgewiesen als Josef und Kaunitz solche Wünsche

anklingen ließen. —

Oesterreich allein hatte den türkischen Krieg mit Freuden begrüßt und Kaunitz hoffte vergnügt einem Kampfe zuzuschanen, in welchem die beiden Nachbarn sich gegenseitig schwächen würden ohne daß einer einen nam­

haften Gewinn erzielte.

Als Rußland seine Uebermacht, die Türkei aber

ihre ungeahnte Schwäche bloSlegte, da wurde der alte Rechner unruhig. Wenn es sich wirklich um bedeutenden reellen Gewinn handelte, wenn

Rußland einen größeren Länderzuwachs inS Auge faßte, so konnte Oester­ reich unmöglich dazu stillhalten, eS mußte entweder diesen Zuwachs hindern,

oder einen gleichen für sich selbst in Anspruch nehmen.

Der große Kämpe

«nd Professor des europäischen Gleichgewichts durfte dieses höchste Princip

Wie aber das Eine thun und das

der StaatSweiSheit nicht aufgeben. Andere nicht lasten?

Wie für das Gleichgewicht gegen Rußland thätig

auftreten und Preußen in Ruhe halten?

Denn es war klar, daß sobald

Oesterreich daS Schwert erhob, Friedrich ihm in den Arm fiel.

Und der

Staatskanzler traute Friedrich auch ohne die Einmischung Oesterreichs den

Wunsch nach Frieden nicht zu, er witterte stets neue Eroberungöpläne des

großen Feldherrn.

Indessen war die Gefahr drängend und die Allianz

der nordischen Mächte lag wie ein Alp auf der Brust

Staatsmannes.

deS gequälten

Ein Versuch der Annäherung konnte gemacht, vielleicht

die Pläne Friedrichs errathen, oder er selbst zu der Politik Oesterreichs

bekehrt und gegen das Vordringen Rußlands aufzutreten bewogen werden. Zweimal trafen Friedrich und Josef zusammen zu friedlichen Be­

sprechungen.

Friedrich kam im August 1769 nach Neiße in der aufrich­

tigen Absicht, eine Verständigung mit Oesterreich zu suchen,

welche ihm

gestatten könnte, sich von der drückenden russischen Allianz loSzumacheu.

Aber daS Mißtrauen ließ Kaunitz zu keiner entschiedenen Darlegung seiner letzten Absichten und zu keinem offenen Entgegenkommen gelangen.

So

lag eS nahe, daß als Friedrich bei seiner Rückkehr die Verhandlungen mit

Rußland wegen Erneuerung des ablaufenden Allianzvertrages wieder anf-

nahm, er dem Abschluß desselben geneigter war als vorher. land war geschmeidiger geworden,

Auch Ruß­

denn eine Annäherung Friedrichs an

Oesterreich hätte die übelsten Folgen für seine türkisch-polnischen Pläne

haben müssen, und so ward eine neue Defensivallianz am 12. October 1769 auf weitere acht Jahre abgeschlossen.

Allein bald drängte die Nachricht von neuen Siegen der russischen Waffen Kaunitz auS seiner unfruchtbaren Politik heraus.

Fortwährend

wurden der Türkei Hoffnungen auf thätige Unterstützung gemacht, die

Minister wurden angefeuert zu energischer Fortführung des Krieges und

Vorsorge getroffen, daß kein Friede ohne die Betheiligung Oesterreich- zu Stande käme.

Wenn man aber Rußland wirksam entgegentreten wollte,

sobald der Moment einttat, wo diplomatische- Verhandeln nicht mehr auS-

reichte, dann mußte doch Alles von dem Verhalten Preußen- abhängen

und e- war nothwendig, sich auf diese Eventualität vorzubereiten.

Noch

einmal mußte man eine Verständigung mit Preußen suchen. Im September 1770 standen die alten Feinde sich in Neustadt gegenüber, beide von dem

sehnlichen Wunsche nach engem Zusammengehen in der türkischen Sache,

nach gemeinschaftlichem Vorgehen gegen die Kriegslust und Eroberungslust Rußland- erfüllt, beide nach Frieden seufzend.

Aber da- gegenseitige Miß­

trauen wurzelte zu tief um einem gedeihlichen Resultat Raum zu geben. Kaunitz hatte nicht den Muth, mehr als allgemeine,

unbestimmte Vor­

schläge zu machen, und Friedrich konnte für solche lose Allianzanerbietungen die festen Stützen der russischen Freundschaft nicht opfern.

Oesterreich

gewann- wiederum wie vor einem Jahre in Neiße keinerlei Vortheile, wie

große Stücke auch der alte Staat-künstler auf seine politischen Vorle­ sungen und deren Wirkung auf Friedrich hielt; Friedrich aber kam eS zu Gute, daß die Neustädter Zusammenkunft Katharina nur um so eifriger

die Aufrechthaltung der Verbindung mit Preußen suchen ließ.

Nur in

einem Punkt begegneten sich die Bemühungen Oesterreichs und Preußen-, nämlich in dem Bestreben, der Pforte zur Nachsuchung der Mediation

jener beiden Staaten bei dem abzuschließenden Frieden zü veranlassen. —

Al- Katharina aber die angebotene Mediation zurückwies und dem Drängen Friedrichs nach Abschluß eines Friedens und nach Paclfication Polens nur di« Thatsache der Einleitung direkter Friedensverhandlungen

mit der

Pforte entgegensetzte, da stieg die Sehnsucht nach einer Allianz mit Friedrich in Wien immer höher.

ES wurden energische Schritte in Berlin gethan

um Preußen wenigstens das Versprechen der Neutralität im Falle eines

Krieges zwischen Oesterreich und Rußland zu entlocken. war durch den Vertrag an Rußland opfern.

Aber Friedrich

gebunden und wollte diesen nicht

Zugleich begann Oesterreich zu rüsten, um durch lautes Waffen­

klirren Rußland einzuschüchtern.

Im Geheimen wurden mit der Türkei

die lange versprochenen Verhandlungen zu einem Defensivbündniß gepflogen

und als Friedrich sich einer Allianz unzugänglich erwies, ward der Ver­ trag mit der Pforte im Juli 1771 abgeschloffen. — Friedrichs ganze Sorge war während des Krieges stets auf Wieder­ herstellung des Friedens mit den Türken und Beruhigung Polens gerichtet.

Dieses Ziel hatte er im Auge als er gleich bei Ausbruch

des Krieges

einen Plan entwarf zu einer Allianz zwischen Rußland, Oesterreich und

2*

20

Die erste Theilung Polens nnd die Constitution vom 3. Mai 1791.

Preußen und zu einer Theilung Polens unter diesen Mächten.

Dieses

sogenannte Lhnar'sche Project war vorübergehend und wurde bald fallen gelassen.

Nun kam Friedrich auf den Gedanken zurück, alle drei Mächte,

ohne damit einen Ländererwerb zu verbinden,

zur Pacification Polens

Rußland wies die Hereinziehnng Oesterreichs in die polni­

herbeizuziehen.

schen Händel kurzweg ab, aber bald darauf regte Katharina die Gedanken

von 1769 über eine Theilung wieder an.

Eben hatte Oesterreich unter

dem Vorwande alter Rechte und des Schutzes der eigenen Grenzen einen polnischen Landstrich, darunter die Zipfer Städte und die Salzwerke von Wieliczka und Bochnia militairisch besetzt. mit dem Prinzen Heinrich,

Katharina ließ

im Gespräch

der eben von Friedrich zur Förderung der

Friedensangelegenheiten nach Petersburg geschickt worden war, Andeutungen

fallen, welche ihre Bereitwilligkeit bekundeten, daß Preußen und Rußland dem Beispiele Oesterreichs folgten.

Die wiederholt den Polen feierlich ge­

gebene Zusicherung der Unverletzlichkeit ihres Gebiets wog bei Katharina wenig wo es galt, das eigene Gebiet ohne Opfer zu vergrößern und den

wichtigen Bundesgenossen, der mehrmals den Anerbietungen Oesterreichs

sein Ohr geliehen hatte, sich zu erhalten.

Vorläufig wurde die Sache nicht

Friedrich war ausschließlich mit den Anstrengungen be­

weiter verfolgt.

schäftigt, den Frieden herbeizuführen,

Neutralität herauSzntreten zu ersparen.

sich

die Nothwendigkeit aus der

Keine Erwerbungen konnten den

Nachtheil aufwiegen, den ein Krieg von großer Tragweite für ihn mit sich führen mußte.

Und selbst Erwerbungen auf Kosten Polen-, würden sie

wohl diejenigen auSgleichen die Rußland dagegen für sich voraussichtlich in Anspruch nahm?

Anderseits rüstete Oesterreich; die engere Verbindung

und die ersten Keime zu der späteren Convention mit der Pforte blieben auch nicht verborgen und der österreichische Gesandte ließ durchblicken, daß

sein Hof denn doch nicht gesonnen sei um jeden Preis, selbst um den einer bedeutenden Schwächung der Türken zu Gunsten Rußlands, den Kampf zu vermeiden.

Friedrichs Lage war sehr schwierig, seine Mühen um Er­

haltung seiner Ruhe drohten nun dennoch zu scheitern.

Da langte sein

Bruder, Prinz Heinrich zu Anfang des JahreS 1771 aus Petersburg an. Er brachte mäßige Forderungen aus Petersburg für den Fall einer Thei­

lung und volle Bereitwilligkeit dazu seitens Panins.

Run entschloß sich

Friedrich zur Annahme des Planes und legte auch sogleich Hand an die

Ausführung.

Und rasch mußte die Sache gefördert werden, ehe Rußland

durch den Abschluß eines Friedens mit der Pforte freie Hand bekam und

feine Forderungen erhöhen konnte.

UeberdieS begann kurz

vorher, im

Januar 1771, zwischen Petersburg und Wien, die seither gespannt eingnder gegenüber gestanden und nur durch Friedrichs Vermittelung mit

einander verkehrt hatten, eine Annäherung sich anzubahnen.

Der Peters­

burger Hof suchte eine directe Verständigung mit Kaunitz über die Friedenö-

bedivgungen mit den Türken und die österreichischen Ansprüche einzuleiten, und so drohte Friedrich nun gar eine völlige Isolirung in

allen wich­

tigsten Fragen der Politik, eine Auflösung- der russischen Allianz und eine

Verbindung seiner gefährlichen Nachbarn. Mit Eifer und Energie ging er anS Werk.

In Petersburg wurden

Vorschläge zu neuer Theilung gemacht und die weiteren Besetzungen polni­

schen Gebiets durch Oesterreich hervorgehoben.

Rußland begann in der

polnischen Sache zu zögern, dagegen nahm es die Vermittelung Friedrichs in den Unterhandlungen mit Oesterreich an.

Lange schwankten die Dinge nun hin und her,

die Wagschals deS

Friedens stieg auf und ab, Friedrich war unermüdlich thätig, die Hinder­

nisse zu beseitigen und neben den Friedensunterhandlungen gingen die Er­ örterungen über die ThellungSpläne vorwärts.

AIS Oesterreich sich der

Pforte wieder näherte und zum Abschluß der Convention vom 6. Juli 1771

schritt,

drängte Panin zur Lösung der TheilungSfrage,

wozu er um so

mehr Veranlassung hatte, als in Polen die russische Sache schlechter alS je stand und fast alle früheren Freunde in daS Lager der Conföderirten

übergegangen waren. Schwanken ein.

Um dieselbe Zeit trat in der wiener Politik ein

Hatte Kaunitz bisher eine schroffe abweisende Haltung

gegen die nordischen Alliirten und gegen die Bedrohungen der Türkei ge­ zeigt, so war die Verbindung mit den Türken doch für Maria Thexesia stet- eine drückende Bürde gewesen.

Run pfuschte sie ihrem großen Meister

inS Handwerk, indem sie dem preußischen Gesandten offen erklärte , wie wenig eS ihr mit den Krieg-rüstungen Ernst sei und wie dringend sie den

Frieden selbst um den Preis einer harten Demüthigung der Türkei wünschte. Auf Friedrich baue sie die Hoffnung einer glücklichen Lösung aller Wirren. Kaunitz sah sich durch die offenen Bekenntnisse seiner Herrin plötzlich de-

diplomatischen Dunkels, in das er sich gehüllt hatte, entblößt, er mußte

seine Politik ändern und den harten Friedensbedingungen Rußlands gegen­ über gefügiger werden. Diese Bedingungen waren durch die letzten Siege Rußlands wiederum unterstützt worden, und wollte man in Wien nun

einmal nicht zu den Waffen greifen, so mußte man bedeutende Gebiets­ abtretungen der Türkei sich schon gefallen lassen ohne auf Entschädigungen

auf türkischem Boden dabei rechnen zu können.

Kaunitz mußte sich ent­

schließen, um nicht teer auszugehen, nicht nur den formell Verbündeten,

die Pforte, im Stich« zu lassen, sondern auch Polen, dessen Hoffnung auf Hülfe stets genährt worden war, zu täuschen, sich auf seine Kosten schadlos

zu halten. —

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791,

22

Noch einmal platzten die feindlichen Interessen Oesterreichs und Ruß­ lands auf einander, dann im Frühjahr 1772 reichte man sich über dem

polnischen Geschäft die Hände. ES war hohe Zeit.

Denn unterdessen waren die TheilungSpläne

zwischen Rußland und Preußen fast zum Abschluß gediehen und ein Ver­

trag stand in nächster Aussicht, der die Theilung ohne Oesterreich auch Preußen hatte nach langer Weige­

mit Waffengewalt durchsetzen sollte.

rung gegen Rußland sich entschloffen, Posen zu occupiren, und Suworow hatte siegreich die polnische Conföderation überall zu Boden geschlagen.

Der österreichische Gesandte erklärte nun Friedrich die Bereitwilligkeit sei­ ne- HofeS, eine Theilung Polens auf dem Prinzip der Gleichheit anzu­

nehmen, und in Petersburg fügte sich Kaunitz den russischen Bedingungen für den Frieden mit der Pforte. Am 17. Februar 1772 war der preußisch­

russische TheilungSverttag unterzeichnet worden, und alle Abneigung Ma­ ria Theresia'S gegen einen Erwerb auf Kosten der bisher von Oesterreich gehätschelten Polen konnte dieser Thatsache gegenüber den Beittitt Oester­

reichs zur Theilung nicht zurückhalten.

Es handelte sich nur noch um die

Größe der abzutretenden Gebiete, und man bemühte sich gegenseitig, be­

sonders von Wien aus, die Gehässigkeit des ganzen Handels von sich ab­

zuwälzen.

Im August kam man über den Antheil der drei Mächte überein,

Panin entwarf die Grundzüge einer neuen Verfassung und Einrichtung

Polens.

Darnach sollte Stanislaus August auf dem Throne erhalten und

für seine materiellen Verluste bei der Theilung durch Einziehung von Starosteien, die den großen Magnaten verliehen waren, entschädigt wer­ den.

Die Magnaten sollten in ihrem Vermögen, welches sie häufig in

schädlicher Weise benutzten, geschmälert und dadurch eine größere Gleichheit unter dem Adel hergestellt werden.

Das Wahlkönigthum sollte wenigsten-

nur auf Piasten beschränkt werden und stets die Nachfolge de- Sohne-

ausgeschloffen sein.

Im Uebrigen sollte die auf dem letzten Reichstage

angenommene Constitutioü beibehalten werden. Im September 1772 erließen die drei

Mächte Declarationen, in

welchen Polen die Beschlüffe der Theilung bekannt gemacht wurden.

Im

November ersuchten sie den König, einen Reichstag zur Regelung dieser

Angelegenheit einzuberufen, und die 3 Gesandten waren bemüht, Stanis­ laus August in völlige Abhängigkeit von sich zu bringen.

Nach langem

Widerstreben, nach vielen Bitten und Ränken, Betheuerungen, lieber zu

sterben als in die Theilung zu willigen, nach salbungsvollen Reden und heißen Thränen willigte der König im Dezember in die Einberufung. Nun wurden alle Mittel in Bewegung gesetzt, einen gefügigen Reichstag

zusammenzubringen.

Drohungen und Maßregelungen, Schmeichelei, Ver-

sprechung und Bestechung bearbeiteten um die Wette die

Häupter für günstige Wahlen.

Grade damals

Krakau, Solthk, aus der Verbannung zurück.

einflußreichen

kehrte der Bischof von

Er zeigte sich gefügig, bot

den fremden Gesandten dienstbeflissen seine Hülfe an, stimmte allen ihren Anschauungen bei und arbeitete im Geheimen energisch gegen sie, wozu

ihm seine durch die Verbannung nur gesteigerte Popularität und die augen­ blickliche traurige Lage des Landes die besten Mittel lieferten.

Plötzlich

warf er die Maske ab und trat als erbitterter Gegner der drei Mächte auf.

Die Wahlen fielen ungünstig auö und nur nach heftigen Kämpfen

gelang es, den Reichstag zu conföderiren und den König zum Beitritt zu

bewegen.

Bei der Wahl des Marschalls wurde PoninSki, ein im russischen

Solde stehender Mann durchgesetzt, von dem der russische Gesandte Sal-

dern sagte, man könne ihm mit der einen Hand eine Ohrfeige, mit der andern einen Beutel geben.

Noch schwieriger wurde es, den Reichstag

zur Wahl einer Delegation zu bewegen, die mit genügenden Vollmachten

zum Abschluß der gewünschten Verträge versehen wäre.

Man sah sich

genöthigt trotz der 5000 Dncaten, die gemeinschaftlich anf Bestechungen

verwandt waren, zu Gewaltmaßregeln zu greifen und Truppen in War­ schau einrücken zu lassen.

Endlich wurde die Delegation ernannt, aber

die Verhandlungen boten neue Hindernisse dar.

Nicht nur, daß die De-

legirten stets Schwierigkeiten schufen, auch die verbündeten Mächte selbst

wnrden uneins.

Denn Oesterreich war mit dem Antheil, der ihm in der

Convention der drei Mächte zugefallen war, nicht mehr zufrieden, ver­

langte weitere Abtretungen und besetzte die beanspruchten Gebiete; dann erweiterte es wiederum seine Forderungen. — Nun beeilte sich Friedrich, auch seinerseits mehr zu verlangen alursprünglich

festgesetzt war.

Natürlich erbitterte dieses Verfahren

die

Delegirten und immer neue Mittel mußten angewandt werden sie zu be­

ruhigen.

ES wurden an die Delegation

im Ganzen 45000 Ducaten

verwandt, ob zwar die Sache der fremden Höfe in dem Umstände eine

Stütze hatte, daß in der Delegation eine Partei bestand, welche in der Theilung-fache sich fügte um später bei Feststellung der Verfassung-artikel

mit Hülfe der Gesandten die königliche Macht einznschränken, zu Gunsten

der alten Freiheit.

Die Verhandlungen rückten nicht von der Stelle,

Rußland schloß mit der Türkei zwar einen Waffenstillstand, war aber dort noch zu sehr in Anspruch genommen um den Forderungen der Verbün­

deten ernstlich Widerstand zu leisten; diese aber suchten die Gleichheit, auf welche ihre Erwerbungen gegründet sein sollten, immer wieder durch neue Stücke Lande- herzustellen.

Kaunitz ging einige Meilen Uber den Bug

vor, und Friedrich besetzte ein paar Hundert Dörfer in Cnjavien.

Ruß-

24

Die erste Theilung Polens und die Constitutton vom 3. Mai 1791.

land schloß den Frieden von Kutschuk-Kainardsche, Oesterreich ließ alle Großmuth fahren und riß schnell nun auch von seinem Verkündeten, der

machtlosen Pforte ein Landstück ab, aber noch immer waren die polni­ schen Grenzregulirungen nicht beendet, in unerquicklicher Weise feilschten die Nachbarn

um

die

Beute.

Erst

ein neuer

Reichstag schloß am

22. August 1776 die Grenzacte endlich ab. Polen verlor bei der ersten Theilung fast 4000 Quadratmeilen, da­

von an Rußland etwa die Hafte mit ungefähr anderthalb Millionen Ein­ wohnern,

die durch den Lauf der Düna, des Dniepr und Drusch be­

grenzt wurden.

Oesterreich erhielt 1300 Quadratmeilen, d. h. Ostgalizien

und Lodomerien mit den reichsten Landstrichen und den wichtigen Salz­

werken von Bochnia und Wieliczka.

Preußen'S Antheil von 630 Qua­

dratmeilen war durch seine geographische Lage von großer Bedeutung:

Die Verbindung Ostpreußens

mit der Mark und Hinterpommern wurde

durch die Erwerbung ErmelandS,

PomerellenS,

des PalatinatS Marien­

burg mit Elbing, des CulmerlandeS und des Netzedistrikts,

die heute in

der Provinz Westpreußen zusammengefaßt werden, hergestellt.

Nur Thorn

und Danzig mit ihren Gebieten blieben polnische Enclaven. Raschere Erledigung fanden die Erörterungen der Verfassungsfrage. Im Wesentlichen wurde das Paninsche Projekt angenommen.

Um aber

dem übermächtigen Einfluß der Magnaten eine Schranke entgegenznstellen, sollte der niedere Adel unterstützt werden.

Ein dem Könige zur Seite

gestellter Rath, in welchem auch die Ritterschaft neben den Senatoren ihre Vertreter haben sollte,

wurde hiezu förderlich befunden.

Dieser

„permanente Rath" sollte die Beschlüsse des Reichstages ausführen und

die ganze Verwaltung controliren.

Man einigte sich dahin, daß dieser

aus 15 Senatoren und 15 Vertretern des niederen Adels bestehende Rath

vom Reichstage alle 2 Jahre erwählt werden sollte, der König muß die vom Rathe genehmigten Beschlüsse des Reichstages unterschreiben, er ver­

zichtet auf das alte Recht die Würdenträger zu ernennen und muß dem dreimaligen Vorschläge des Raths in dieser Beziehung sich fügen.

in Betreff der Dissidenten wurden

schlossen.

Auch

einige wesentliche Neuerungen be­

Polen wurde unter die Garantie der drei verbündeten Mächte

gestellt, aber während Oesterreich und Preußen nur die Bürgschaft für

die Integrität des polnischen Gebiets auf sich nahmen, wurde die neue Verfassung dem besonderen Schutz Rußlands übergeben.

Dieser Theil

der Verhandlungen erhielt seine Sanktion im März 1775. Damit war die erste Theilung vollbracht, die drei Nachbarn vergrö­

ßerten und verbesserten ihre Gebiete um wesentliche Landstriche, besonders

Preußen hatte die wichtige Verbindung seiner getrennten Theile hergestellt.

ES war eine bedeutende Errungenschaft; aber dennoch hätte Friedrich wohl

nie freiwillig sich entschlossen, den Plan einer polnischen Theilung zu ver­

folgen.

Er hatte für seinen Staat genug gethan,

um die weitere Ent­

wickelung seinen Nachfolgern überlassen zu dürfen und er wollte wirklich keine Eroberungspolikik mehr treiben.

Auch Oesterreich wäre sicherlich

damals nicht zu dem Entschluß gekommen, den einmal von Kaunitz ausge­ sprochenen Gedanken einer polnischen Theilung auszuführen, wenn nicht

hier ebenso wie in Berlin die Nöthigung durch die Stellung deS dritten

Participienten eingetreten wäre.

Seit Decennien

wuchs der

russische

Einfluß in Warschau, seit 1764 war Polen thatsächlich abhängiger von Rußland als ein deutscher Vasallenstaat vom Reich. — Klar vor Jeder­

manns Auge lag die völlige Unterwerfung Polens in naher Zukunft: das

war das zwingende Motiv.

Rußlands Eroberungspolitik war es im letzten

Grunde allein zuzufchreiben, wenn Friedrich sowohl als Kaunitz endlich

gegen dieselbe reagiren

mußten durch eine gleiche Politik.

Wer zuerst

das Wort sprach, das ist eine fast müßige Frage gegenüber der unbe­

streitbaren Thatsache, daß die beiden deutschen Nachbarmächte

auf die

Dauer die Stellung nicht dulden konnten, die ein Repnin, ein Kehserlingl in Warschau einnahmen und die eines Tages die Heere der ehrgeizigen

Zarin in ein paar Tagemärschen vor Wien

konnte.

oder vor Berlin führen

Gallizien durfte Oesterreich ebensowenig russisch werden lasten,

alS Friedrich das heutige Westpreußen.

Wozu auf der einen Seite Ehr­

geiz und eine allerdings in dem besonderen staatlichen Entwickelungsgänge

begründete Eroberungslust trieben, das war auf der anderen Seite die

Folge der Nothwehr. Der Vortheil, den Rußland bei der ersten Theilung davontrug, war

ohnehin groß genug, übergroß im Verhältniß zu den Errungenschaften der beiden andern Mächte.

Denn Rußland hatte seine Absichten in Betreff

der Verfaffuug erreicht, es hatte in dem permanenten Rath ein Organ

geschaffen, dessen Glieder stets in russischem Solde erhalten und wirksam

gegen alle Bestrebungen des Königs und des Reichstages nach Selbststän­ digkeit verwandt werden konnten. Der russische Einfluß war wiederum be­

festigt, und die folgenden Jahre zeigten deutlich die Planmäßigkeit und Zweckdienlichkeit von Katharinens und Panins polnischer Politik.

Ernst von der Brüggen.

Leon Gambetta und die Loirearmee*). 5.

Die Tage unmittelbar nach der Schlacht bei Orleans zeigen die Contraste in Gambetta's Natur am deutlichsten.

Alle seine großartigen Eigenschaften- entfalten sich noch einmal auf daS glänzendste, aber daneben treten jetzt auch die Schattenseiten seine-

CharacterS schärfer al- früher hervor. Gambetta hatte am Nachmittage des 4. December Tours mit einem

Extrazuge verlassen, um sich nach Orleans zur Armee zu begeben, den patriotischen Eifer derselben zu entflammen und den General d'Aurelle in dem letzten energischen Entschlusie zu stärken.

Aber schon bei la Capelle

wurde der Train von preußischen Granaten begrüßt.

Die Bahnlinie war

durch daraufgeworfenes Holz und Strauchwerk gesperrt.

Der Zugführer

hielt und weil er gewahrte, daß die „Ulanen" schon die ganze Gegend

durchstreiften, so drehte er gegen BloiS hin um.

Der Dictator faßte dann

noch die Idee, zu Wagen zur Armee zu gelangen, gab aber auch einen solchen

Versuch auf und erfuhr Abends um 6 Uhr in BloiS durch de Freycinet, daß OrlöanS geräumt werden würde, es fei dem General d'Aurelle un­

möglich gewesen, einen ernsten Widerstand zu organisiren. Um 3 Uhr Morgens traf Gambetta wieder in Tour- ein.

Dort lag

eine Reihe von Depeschen der einzÄnen CorpScomandeure der Loirearmee,

dann die Meldung des General des PalliöreS: „OrlöanS wird nach einer Convention mit dem Feinde heute (am 4.) Abends 11'/, Uhr geräumt

werden," sowie ein Telegramm des GeneralsecretairS der Präfectur von

OrlöanS aus La FertL St. Aubin.

Diese- Telegramm meldete, daß die

Stadt schon von den deutschen Truppen besetzt wäre. ES enthielt außerdem

den Zusatz „man sagt, daß die Preußen fast ohne Munition seien."

Diese

Notiz hatte natürlich keinen anderen Zweck, als die Verdächtigung der

eignen Heerführer, welche danach die verschanzte und mit schweren Batterien *) Vergleiche October- und Novemberheft 1874. Wir bitten unsre Leser im Jnhaltsverzeichniß de« letzteren Heft» da« Wort „Schluß" in „Fortsetzung" corrigiren zn wollen. A. d. R.

versehene Stadt einem Feinde überliefert hätten, dem e- selbst an Pulver ttttb Blei mangelte*).

So vermochte der Dictator nun klar zu übersehen, daß sein erster Plan, Pari» und Frankreich zu Befreien, gescheitert wäre, daß sein erste- große-

Werk, auf welche- er alle seine geistigen Kräfte, alle Mittel, die Frankreich ihm bewilligt, verwendet hatte — die Loirearmee — in Trümmern läge.

Er

glaubte den Kampf bei Pari- noch im Gange,

Trochu und Ducrot

siegreich und während er gehofft, durch seine Initiative die Hauptstadt

zu befreien, sah er sich anscheinend der Unmöglichkeit gegenüber

ihr

selbst nur zur Hülfe zu eilen — gewiß eine Reihe bittrer Enttäu­

schungen. Doch statt muthlo- selbst seine gescheiterten Unternehmungen im Stiche zu fassen, faßte er den kühnen Gedanken, jetzt noch den Rückzug in eine Offensive, die Niederlage in einen Sieg zu verwandeln.

Und so „wider­

sinnig", wie die französischen Generale später einstimmig diesen Entschluß

genannt haben, war er durchaus nicht.

Das

18. unb 20. französische

Corps hatten zwar durch die Kämpfe im November eine heftige Erschütte­ rung erlitten, während der letzten Tage dafür aber gar nicht gefochten.

Die

Betheiligung de- 16. und 17. Corpö während der Schlachttage vom 3. und

4. December konnte gleichfalls nicht ins Gewicht fallen.

Am Walde von

Marchenoir stand das neuformirte 21. Corps, andere frische Truppen bei Beaugench, wohin man sie vor» Tours aus während der Schlachttage von OrlöanS vorgeschoben. ES war dies die Division Camö, welche 9500 Mann

zählte.

Die Loirearmee konnte daher sofort eine erhebliche Verstärkung

erfahren und welche Bedeutung daö Erscheinen von noch

ganz intacten

Truppen auf dem Kampfplatz, in solchen Momenten, wo beide Theile bereits eine Reihe von Gefechtstagen hinter sich haben, bedeutet, das ist

Jedermann klar der den Krieg kennt. Wenn Gambetta schon am 5. December Nachmittags in einem Tele­ gramm an General Bourbaki einen neuen großartigen FeldzngSplan entwarf,

so darf man dies durchaus nicht als leere Prahlerei ansehen:

„Ebenso unglückliche, als unerklärliche Conjunctnren haben gestern die Räumung von Orleans und die Trennung unserer Armee in drei Gruppen

herbeigeführt.

Die eine ist die Loire abwärts nach Beaugench marschirt;

die andere geht auf der Linie de- Centrums zurück; die dritte, die au» dem 18. und 20. Corps gebildet wird und die den Befehl hat nach Gien

abzuziehen, ist die Ihre."

„Wohlan, General, die Regierung — weit entfernt, sich *) Beide Telegramme waren übrigens dem Dictator schon am 4. December Abends nach Beaugency entgegen gesendet worden.

Lsoil Gambetta und die Loirearmee.

28

durch diesen „echec“ entmuthigen zu lassen, schöpft neue Kräfte daraus.

Sie ist entschlossen, ihre Operationsbasis zu ändern

und einen großen Schlag zu versuchen. nehmstes

Instrument sein,

Sie werden dessen vor­

während die Corps

PalliLreS — unfern Orleans

von Chanzh und des

angehalten — sich vorbereiten, um diese

Stadt durch eine kräftige Offensive wieder zu nehmen." „Sie Ihrerseits werden

augenblicklich

ihre Bewegung auf Gien

suspendiren, das 18. und 20. Corps vereinigen und sobald Sie eö können,

ohne einen Augenblick zu verlieren, sich auf MontargiS dirigiren. Stadt ist wenig oder gar nicht besetzt.

Diese

Sie wird Sie nicht aufhalten."

„Dann werden Sie schleunig nach Fontainebleau vordringen und

von da — wenn nöthig — den Marsch nach Melun fortsetzen.

Sie

tönen sicher sein, im gegebenen Augenblicke Ducrot'S Armee zn begegnen,

die sich mit prächtigen Erfolgen an den Ufern der Marne schlägt und eben im Begriffe ist, gegen den Wald von Fontainebleau vorzudringeu.

Nachrichten aus Paris, welche eben eintreffen, berichten Dncrot'S Siege. Kommen wir denselben wenigstens in Etwas gleich.

An Ihnen ist es,

Paris gegenüber Frankreichs Ehre anfrecht zu erhalten!"

„Ihre Richtschnnr sei eS, daß der Osten vom Feinde fast entblößt

ist.

Jene Seite ist eS in Folge dessen, wohin Sie sich werfen müßten,

falls Sie zu lebhaft gedrängt würden.

Endlich, wenn gegen alle unsere

Erwartung der Rückzug nöthig werden sollte, würden Sie ihn ans der Linie SenS Ioigny, Auxerre ausführen."

„Wir senden Ihnen einen MunitionStrain nach MontargiS."

Der Dictator wollte also den Siegern Orleans numittelbar nach

der Schlacht wieder entreißen und zugleich seinen ersten Operationsplan, der einmal bei Beaune-la-Rolande gescheitert war, wieder aufnehmen. Gewiß ein verwegener Gedanke.

Zugleich sollte die öffentliche Meinung durch alle Mittel erregt und

der Rückschlag in der BolkSstimmung abgewendet werden.

Dieser Rück­

schlag schien nach der Niederlage von Orleans,

welche unerwartet auf

pomphafte Siegesdepeschen folgte, unvermeidlich.

Anch dem Volke ver­

kündeten der „Moniteur-universel“, das officielle Journal Gambetta'S, Maueranschläge und Proclamationen, daß die Regierung nicht entmuthigt sei, sondern daß sie sofort die Offensive wieder anfnehmen würde, um

Paris zu befreien.

Gewiß war eS in diesem Augenblicke nöthig, die Gemüther durch eine feste und energische Haltung zu entflammen.

Der Niedergeschlagenheit

durfte kein Raum gelassen werden, sollte überhanpt der Kampf feinen Fortgang nehmen.

Unnöthig aber war die Lüge, und doch griffen der Dictator und sei» Delegirter dazu.

Sie fürchteten das Land und dachten daran da- Meer

des allgemeinen Unwillens durch ein Opfer zu beschwichtigen. Und diese-

Opfer sollte General d'Aurelle de Paladine- sein, bessert Dienste man seit

der Theilung der Loirearmee entbehren konnte.

öffentlichen Mittheilungen den Verdacht. Ursachen der Niederlage,

Sie

die dreitägigen

Truppen, sondern stellten den Sachverhalt

Auf ihn

lenkten alle

sprachen nicht über

Kämpfe, so dar,

die

die Auflösung der als

ob allein die

Feigheit oder Verrätherei d'Aurelle'S den verhängnißvollen Act herbeige­

führt' habe. Der Moniteur vom 5. December Abend- (mit dem Datum des 6.) veröffentlichte folgende offizielle Note: „Nach verschiedenen Kämpfen am 2. und 3., welche dem Feinde

viel Schaden zugefügt hatten, aber die auch den Marsch der Loire­

armee aufhielten, erschien dem Oberbefehlshaber,

General d'Aurelle de

Paladines die allgemeine Lage dieser Armee plötzlich beunruhigend.

In

der Nacht vom 3. zum 4. sprach General d'Aurelle plötzlich von der Nothwendigkeit, Orleans zu räumen und den Rückzug der verschiedenen CorpS der Armee auf da- linke Loireufer vorzunehmen — eine Nothwen­

digkeit,

welche sich „ihm zufolge" ihm aufdrängte.

„Dennoch blieb ihm

noch eine Armee von mehr al- 200,000 Mann und 500 Kanonen, in

einem befestigten Lager verschanzt, daS mit weittragenden schweren Marine­ geschützen armirt war."

ES scheint, daß diese ausnahmsweise gün­

stigen Bedingungen einen Widerstand hätten erlauben müssen, welchen auf alle Fälle die einfachsten rnilitairischen Pflichten erforder­

ten.

General d'Aurelle bestand nichts destoweniger auf sei­

nem Rückzüge."

Dann folgte das Telegramm der Regierung, welche- den Rückzug

unter Vorbehalt genehmigte und dasjenige d'Aurelle'S, welche- seinen vor­ übergehend gefaßten Entschluß kund gab, die Armee bei Orleans zusam­ menzurufen, um Widerstand zu leisten. Im Hinblick auf diese- letzte Telegramm, welche- d'Aurelle'S selbst­

ständiger Entschluß dictirt hatte, wurde die Mittheilung hinzugefügt:

„Dieser ConcentrationSplan war genau derjenige,

welcher seit 24

Stunden angerathen, ja durch den Krieg-Minister befohlen wurde." Weiter heißt es, nach Anführung der Meldung des GeneralsecretairS der Prefectur von Orleans „On dit Prussiens entrös presque sans

munitions; ils n'ont presque pas fait de prisonniers“:

„Zur gegenwärtigen Stunde melden die Depeschen der verschiedenen CorpSchefS, daß der Rückzug in guter Ordnung vor sich geht, aber nf«n

ist ohne jede Nachricht von d'Aurelle, der nichts an die Re­ gierung hat gelangen lassen."

„Wir hoffen bald, die Offensive wieder aufzunehmen.

Die Moral

der Truppen ist ausgezeichnet."

Dieses Circular ist durchaus verwerflich.

Die Anklagen sind nicht

direct gegen den General gerichtet, allein sie weisen in der gehässigsten

Art auf ihn, als den Schuldigen hin.

General d'Aurelle also hatte

allein die vom Minister befohlene Concentration verhindert, die einfachste

Pflicht nicht erfüllt, da er ein Heer von 200,000 Mann ungenützt ließ, da er Verschanzungen und schwere Batterien einem Gegner übergab,' dem

eS selbst an Munition fehlte, und zuletzt die braven Truppen von „aus­ gezeichneter Moral" im Stiche ließ, ohne von sich eine Nachricht zu geben.

Der Rückzug ging in guter Ordnung vor sich, damit sollte nun er­ wiesen werden, daß er eigentlich garnicht nöthig gewesen.

Dieses Schriftstück ist ein würdiges Pendant zu der bekannten Pro-

clamation vom 30. October: „Der Marschall Bazaine hat verrathen; er

hat sich zum Agenten des Mannes von Södan gemacht, zum Mitschuldigen

der fremden Eindringlinge."

Welch' einen Contrast enthält eö gegen den

wahren Hergang der Operationen der Loirearmee seit dem 23. November!

Es darf nicht Wunder nehmen, wenn angesichts solcher Publicationen

die Anhänger Gambetta's noch weiter gingen. Der Präfect der „Bouches-du-Rhdn“, Gambetta's treuer Anhänger Gent, veröffentlichte unter Anderem folgende Version:

„Mitbürger! sie ankommen.

Ihr sehet, daß wir Euch die Depeschen geben, sobald

Nach den guten die schlechten Nachrichten, nach den glor­

reichen Erfolgen der Armee von Paris, denen sich neue anschließen und die sich vergrößern, um unS Erfahrung und Trost zu geben, dieser noch

unerklärte Rückzug der Armee von Orleans ohne Kampf, ohne eine Gegenwehr, ohne Niederlage!"

„Unser Enthusiasmus war ungeheuer, als wir von den ersten erfuh­ ren.

Unsere Energie,

unsere Entschlossenheit, unser Vertrauen werden

nicht geringer sein, da wir nun die Befteiung und den Triumph hinauSgeschoben sehen, welchen alle Anzeichen unS von Tag zu Tage hoffen

ließen."

„Wir erwarten, daß dieses System aufgeklärt, daß dieser Rückmarsch, dieses Preisgeben der ruhmvoll wiedereroberten

Stadt entweder gerechtfertigt, oder bestraft werde." „Frankreich bat S^dan und Metz überstanden, es ist groß genug, stark genug, entschlossen genug, um nicht nach einem dritten Echec, oder

ein-em dritten Verrath zu verzweifeln"....

„Die Pariser Armee dringt immer weiter vor, und wen» sich die der Loire vor dem Feinde zurückzogen hat, so geschah eS, ohne daß sie

angegriffen wurde.

Morgen schon werden wir sie — voll Scham auf

den Befehl eines Chef geflohen zu sein, den wir nun endlich zu durchschauen gelernt haben, ihre Bahn der Schwesterarmee entgegen

wieder aufnehmen sehen, welche ihr die Arme entgegenreckt und die ihr den Weg vorzeichnet."

So reiche Ernte hatte die von Tour- au- gestreute Saat de- Miß­ trauen- jetzt schon getragen.

Daß Gambetta und de Frehcinet in Wahrheit durchaus nicht im Unklaren darüber waren, wie es am 4. December bei der Armee stand,

und daß ein Mißlingen des Widerstandsversuches, welchen d'Aurelle so plötzlich gegen Mittag hin versprochen hatte, ihnen sehr erklärlich gewesen

sein muß, geht aus den an jenem Tage zwischen TourS und der Armee gewechselten Depeschen deutlich hervor.

Noch

um 7 Uhr 35 Minuten

AbendS am 4. December war in Tours die letzte verzweifelte Depefche d'Anrelle'S eingelaufen, daß der fernere Kampf unmöglich sei.

De Frey-

cinet antwortete auf diese ,,d6p6che imprSvue et bien enteile“, wie er sie bezeichnet, sofort.

Des Abends um 10 Uhr 20 Minuten ließ er ein

längeres Telegramm folgen, das schon ziemlich deutlich voraussagt, man

werde dem unglücklichen General alle Schuld zuschieben und Nicht- davon auf sich nehmen.

In diesem Telegramm heißt eS unter Anderem:

„Je

mehr ich über den von Ihnen gefaßten Entschluß, Orleans zu räumen,

nachdenke, desto mehr beklaze, und desto weniger verstehe ich ihn."

„Ich

kann ihn nur — erlauben Sie mir, die« zu sagen — einer veritabeln Panik

zuschreiben.

Bin ich auch nicht an Ort und Stelle, um die Umstände

genau würdigen zu können, so habe ich dennoch nicht- destoweniger die tiefe Ueberzeugung, daß Sie in Orleans hätten Widerstand leisten müssen.

Nach meiner Meinung haben Sie eine furchtbare Verantwortung auf sich genommen, über welche sich die Geschichte aussprechen wird." ....

Diese Depesche gelangte am 5. des Morgens um 9 Uhr 15 Minuten

zu La Ferts St. Aubin in General d'Anrelle'S Hände.

Daß sie ihr Ziel

nicht verfehlt habe, wird dem Kriegsministerium nicht unbekannt geblieben Jedenfalls wäre eS durch die Telegraphenbeamten zu erfahren ge­

sein.

wesen.

Daß der General ferner am 5. La Motte-Beuvron erreicht habe,

erfuhr der Kriegsminister gleichfalls, denn er dirigirte am Abende deffelben Tageö seine telegraphischen Befehle dorthin.

Ein Recht für Gambetta in einer öffentlichen Kundgebung, wie er e« gethan, zu sagen: „man ist ohne eine jede Nachricht von d'Aurelle, der

Nichts an die Regierung hat gelangen lassen", bestand daher ebenso wenig,

86on Ganibetta und die Loirearmee.

32

als es edelmüthig war, über die verdächtigenden Andeutungen noch die

besondere Ueberschrift zu setzen: „Le public apprSciera.“ DeS Generals Abberufung von seinem hohen Posten war schon am 5. December in TourS beschlossene Sache, und ein solcher Entschluß ebenso richtig, wie der,

zu bilden.

aus

der

geschlagenen

zwei neue

Loirearmee sofort

Die Animosität zwischen d'Aurelle de Paladine- und dem

Kriegsminister hatte sich schon so weit gesteigert, daß von einem ferneren

gemeinsamen Wirken kein Segen mehr erwartet werden konnte. mation

Die For­

der I. und II. Loirearmee besaß überdieß thatsächlich erhebliche

Vortheile.

Da jetzt noch daS 21. Corps, welches an 50,0000 Mann

zählte, zu der Feldarmee trat und ebenso die Division Camö, so wäre daS Ganze zu einer riesigen unbehilfliche» Masse ohne Beweglichkeit und

Schlagfertigkeit geworden. Ernährung, Reorganisation und Aufrechterhal­ tung der Disciplin würden sich immer schwieriger gestaltet haben.

Die

Theilung erleichterte Alles und vergrößerte die Einwirkung des Oberbefehls­ haber- auf die einzelnen Truppentheile.

Der excentrische Rückzug entzog

die geschlagenen Corps ferner am ehesten der Verfolgung. mußten zweifelhaft werden,

Die Sieger

wohin sie sich jetzt zu wenden hätten,

sobald

sie auf allen Straßen, im Süden sowohl wie im Osten und Westen, französische Truppen im Abzüge begriffen fanden.

Concentrirte sich die

ganze Loirearmee an Einem Punkte, so war es keine Frage, daß auch

Prinz Friedrich Karl mit der ganzen Macht dorthin marschirte und sie

angriff. Gewiß war eö auch nicht zu gering zu veranschlagen, daß die Bil­ dung zweier gesonderter Armeen im Lande am ehesten die Wirkung deUmstandes paralhsirte, daß die große Loirearmee zertrümmert worden sei.

Daß die beiden französischen Heere sich zweckmäßig zu unterstützen ver­ mochten, lehrte die Folge.

Sie konnten sich, wenn eS nöthig wurde, auch

durch Eisenbahntransporte leicht wieder vereinigen.

Hat Gambetta daher, al- er diese Maßregel ergriff, auch nur auder Noth eine Tugend gemacht, so geschah eS doch mit viel Geschick und

Entschlossenheit. Nur die Art, wie man auch hierbei gegen

den General d'Amelle

persönlich verfuhr, war der hohen Stellung jene- Manne- und der Sache,

um die e- sich handelte, nicht würdig.

„DaS Obercommando der Loirearmee ist aufgehoben!" telegraphirte

der Kriegsminister ihm.

„Uebergeben Sie Ihre Functionen unverzüglich

an General des PalliöreS.

Sie sind zum Commandanten der strategischen

Linien von Cherbourg ernannt und werden sich auf der Stelle an den Ort Ihrer neuen Bestimmung begeben."

Alle Corpscommandanten erhielten von dieser Depesche eine Copie^ Allein das war nicht genug, eS geschahen noch weitere Schritte. Gambetta

befahl an demselben Tage die Zusammensetzung einer Commission, welche

die der Räumung von OrlöanS vorangegangenen Ereignisse untersuchen sollte.

AuS dieser Untersuchung ist freilich

nichts geworden — doch

wen hätte die Commission auch anklagen sollen, wenn nicht den Minister

selbst und seine Rathgeber. Gambetta war zu weit gegangen.

gegen ihn.

Ein Theil der Presse wendete sich

Die Affichen mit den gegen d'Aurelle gerichteten Denunciatio­

nen wurden hier und dort von den Mauern gerissen.

Der in seinem

Stolz und seinem Ehrgefühl durch die gerade jetzt besonders empfindliche

Absetzung tief gekränkte General verweigerte die Annahme deS Commando'S in Cherbourg und gab von SalbriS aus, wohin er das 15. CorpS zurück geführt hatte, feine Demission.

Die Stimmung im Kriegsministerium änderte sich darum urplötzlich und wurde eine mildere.

De Frehcinet bat d'Aurelle „trös-instamment“,

mit seiner Erfahrung, seiner Kenntniß der Gegend von SalbriS und deS 15. Armeecorps den General des PalliöreS zu unterstützen, ebenso dem General Crouzat die nöthigen Weisungen zu geben.

Ueber sein Abschieds­

gesuch sollte am nächsten Tage entschieden werden.

Diese Mittheilungen gingen

an ihn von TourS nach SalbriS

in

demselben Augenblicke ab, als er schon vor ganz Frankreich durch Zeitungen und Placate der Feigheit und deS BerrathS beschuldigt, als bereits über

seine Commandoführung eine kriegsrechtliche Untersuchung verhängt worden

war.

Bon diesem Vorgehen gegen ihn gab ihm der Dictator mit keinem

Worte Nachricht.

Obgleich er somit keine Ahnung hatte, was ihm bevor­

stand, blieb er indessen dennoch fest und erwirkte sich die Erlaubniß, am 7. December SalbriS zu verlassen und in den Ruhestand zurückzutreten. Gebrochenen Herzens schied er von der Armee, eigenthümlicherweise

an derselben Stelle, wo er sie zuerst aus Lamotterouge'S Händen über­

nommen, ausgebildet und für einen Sieg erzogen hatte. Gewiß hätte er sich diese Demüthigung ersparen können, wenn er mit derjenigen Energie aufgetreten wäre, welche für

Armeebefehlshaber unerläßlich ist.

eiuen so hochgestellten

Er durfte sich niemals in solcher Art,

wie eS geschehen, zum willenlosen Werkzeug der souverainen ministeriellen

Einfälle machen.

Das Unheil sah er schon im Monat November voraus.

Damals war eS Zeit, seine Demission zu geben,

um entweder

einem

anderen Dianne Platz zu machen, dem die Regierung Vertrauen schenkte,

oder, um eS durchzusetzen, daß man ihm freie Hand ließ.

Die Art, wie Gambetta ihn und die übrigen Generale der Armee Preußische Jahrbücher. St. XXXV. Heft I

3

behandelte, konnte zu keinem ersprießlichen Ende führen.

Freilich haben

diese Männer sich mit wenig Ausnahmen mehr'als vornehme patriotisch gesinnte Cavaliere, vom besten Willen beseelt, gezeigt, wie als gute Sdldaten,

die aus hartem Holz geschnitten sind. Allein Gambetta'S und Frehcinet'S Methode konnte diesen Mangel

wahrlich nicht ausgletchen.

Durch Chicanen und Intriguen wird man

schwankenden weichen Naturen niemals die Festigkeit geben, die einmal

zu dem rauhen Kriegshandwerk nothwendig ist.

Wie die beiden Allmächtigen

von Tours über ihre Truppenführer

dachten, geht auf unvergleichlich characteristifche Weife aus einem Telegramm Frehcinet'S an Gambetta hervor, in welchem der erstere seinem Gebieter gute Lehren giebt, wie er sich bei der Armee verhalten sollte.

Eö geschah

dies, als sich der Dictator am 4. December nach Orleans auf den Weg

gemacht hatte: „In dem Augenblicke, wo Sie in Orleans ankommen, erlauben Sie

mir eine Andeutung.

Die Generale, mit welchen Sie zu thun haben,

sind nur eines begrenzten Grades von Elan fähig.

Weil sie stets zum

Widerspruch geneigt sind, ist es vielleicht viel besser, sie ihren persönlichen

Eingebungen folgen zu lassen, als sie noch mehr anzufeuern (chauffier). Sie würden ihr „ressort naturel“ überschreiten und eine Reaction herbei­ führen." „ES sind ruhige Naturen, ein wenig schwerfällig, man muß es vermei­

den, sie durch eine zu hochgespannte Energie aus der Fassung zubringen." „Vermeiden Sie eS, sie in Anspruch zu nehmen.

Sie haben materiell

viel zu thun. Befehle zu befördern, vielleicht verschiedene Positionen zu besichtigen.

Sie dürfen mit ihnen nur sehr wenig Beziehungen haben

und sagen Sie ihnen gleich von Hause aus, daß sie sich in keiner Weise

mit Ihrer Person zu beschäftigen hätten, daß sie vielmehr ihrem Beruf

nachgehen sollten, als ob Sie garnicht da wären."

.

„Wenn sie aber trotz Allem durch Ihre Gegenwart mehr oder weniger

zerstreut werden und wenn die Generale selbst vielleicht darnach trachten sollten, Sie zu sehen, während sie besser thäten, auf ihren Posten zu bleiben, so dehnen Sie Ihren Besuch so kurze Zeit wie möglich aus.

Nach meinem

Sinne müßten Sie schon heute Abend zurückkehren; denn wenn einmal der erste Eindruck Ihrer Anwesenheit erreicht ist, so fürchte ich, daß die Ver­

längerung des Aufenthaltes mehr schlechte als gute Seiten habe.

In

Le Mans hatten Sie zu organisiren; hier nur einen moralischen Impuls

zu geben.

Nach meiner Meinung ist eine Entrevue von einer Stunde

und dann die Rückkehr das Richtige.

Glauben Sie mir, ich kenne diese

Leut? und die Situation, mit der Sie zu thun haben."

„Seien Sie sicher, daß ich daö Rechte treffe und daß mein Rath

gut ist.

Verzeihen Sie meine Freiheit."

Sehr

schmeichelhaft für deS

Dictators militairifche Capacität ist

diese so ausführliche Instruction keineswegs.

Bor Allem aber zeigt sie

wieder dieselbe Halbheit und Unaufrichtigkeit, welche schon in den Novem­

bertagen den ganzen Verkehr deS Kriegsministeriums mit den Armeebe­ fehlshabern kennzeichnet.

Wie ein Theatercoup sollte Gambetta'S Erschei­

nen bei der Armee verwerthet werden, während er kraft seiner Autorität

und seiner Vollmachten dort die Unfähigen und Schwankenden beseitigen, die Fähigen an die Spitze hätte stellen müssen, die Kampflust und die Hoffnungen beleben, die Verantwortung für alle Folgen aus freiem Ent-

schlusse aus sich nehmen. —

Schon am 5. December war General Chanzy zum Oberbefehlshaber der II. Loirearmee ernannt worden, die aus dem 16., 17. und 21. Corps

bestand; auch die Division Camö wurde ihm vorläufig zur tactischen Ver­ wendung,

später rückhaltlos

So erfuhr seine Armee eine

unterstellt.

Vermehrung von 50—60,000 Mann frischer Truppen.

Das 21. Armee-

corps war freilich noch nicht vereinigt, sondern stand über die ganze Aus­

dehnung deö Waldes von Marchenoir vertheilt.

Allein an diesem Walde

auf seinem linken Flügel, so wie an der Loire bei Mer und Beaugency

aus seinem rechten fand er doch einen kräftigen Halt. Er führte seine zurückgehenden Truppen zwischen beide Stützpunkte hinein,

ließ sie dort Halt

machen und

stellte

sie

den von ihm

in

mit dem Namen „die Linien von IoSneS" bezeichneten Positionen auf. Nur zwei seiner Divisionen unter den Generalen Barry und Manrandy

setzten den Rückzug unaufhaltsam bis Mer, Blois und selbst bis Am­ boise fort.

General Chanzy griff jetzt z« dem für seine jungen Truppen richtigen

System.

Er verzichtete auf weitaussehende Offensivbewegungen und be­

gann die zähe abschnittsweise geführte Defensive,

von welcher er nicht

ohne Grund voraussetzte, daß sie seine Gegner mit der Zeit ermüden

müsse.

Die große numerische Ueberlegenheit seines Heeres, das weit­

tragende Gewehr seiner Infanterie, die zahlreiche zum Theil recht gute

Artillerie begünstigten ihn dabei.

Gegen ihn wandte sich der Großherzog von Mecklenburg, welchen Prinz Friedrich Karl

nach Tours zu

entsenden

dachte,

während er

selbst in südlicher Richtung die Früchte des Sieges von Orleans auSbeuten wollte.

DeS Großherzog'S Truppen hatten in letzter Zeit hintereinander viele starke-Märsche gemacht, seit dem 1. Dezember, zum Theil unter großem

3*

Verluste gefochten, sie hatten Gefangenen-Eskorten, kleinere Besatzungen

und Commando'S aller Art zurücklassen müssen, Kranke.

ferner Ermüdete und

So kam es, daß sie am 7. Dezember nicht mehr als 18—20,000

Gewehre in die Gefechtslinie stellen konnten. Die Artillerie zählte freilich

über 200 Geschütze, die Cavallerie war recht zahlreich, allein so wichtig auch diese Waffengattungen für die Durchführung der Kämpfe sind, so

liegt in ihnen doch nicht das entscheidende Element. Trat nun der Großherzog am 7., 8., 9. und 10. Dezember der bedeutenden Ueberzahl seiner Feinde zwischen Beaugench und dem Walde

von March6noir zwar mnthig entgegen, gelang eS ihm auch, 7 Kanonen zu erobern und einige Tausend Gefangene zu machen, so vermochte er

dennoch nicht, wiederum nicht,

Chanzy zu verdrängen.

Glückte es diesem seinerseits

wie er gehofft, den Großherzog auf OrlsanS zurückzu­

werfen, so sah er doch schon den Umstand, daß er seine Truppen mit Mühe festhielt, wo sie standen, für einen Erfolg — für einen Sieg an. Im Vergleich zu den Erlebnissen der Loirearmee während der Tage

von OrlsanS konnte französischerseitS ein solcher AuSgang auch schon als

eine nicht unbedeutende Errungenschaft gelten. war groß.

Die Freude in Frankreich

Sofort wurde von Tours ans eine sehr geschickte Reklame

für Chanzh's Kämpfe ins Werk gesetzt; Gambetta reiste nach IosneS und

erklärte sehr bald im Moniteur, General Chanzy sei der „wahre Kriegs­ mann", dessen Frankreich in dieser Zeit bedürfe, um von Sieg zu Sieg

zu eilen.

Die Gemüther begannen sich aufzurichten, die Hoffnungen ge­

wannen neues Leben. Zwischen General Chanzy und dem Dictator aber knüpfte sich hier ein

Einverständniß, das auch später nicht erschüttert wurde.

DeS Generals

energische zähe Natur fand Gambetta'S hohen Beifall und der Dictator

übersah eö völlig, daß Chanzh's Erfolge im Gebiete der Defensive lägen, welches auch d'Aurelle immer für sich gewollt und anS dem das Kriegs­

ministerium selbst diesen General unter Anfbietung aller Mittel hinauSgedrängt hatte. — Anders gestalteten sich die Dinge hei Bourbaki, der zunächst das 15.

und 18. Corps unter seiner Leitung vereinigte, — während das 20. noch dem Kriegsminister direkt gehorchen sollte, — der aber später, als dieser

vorübergehend gefaßte Gedanke wieder fiel, Oberbefehlshaber der ganzen 1. Loirearmee wurde, die auö allen drei Corps bestand.

Bourbaki war, wie erwähnt, ursprünglich auserlesen worden, um bei der Durchführung der neuen kühnen Entwürfe des Kriegsministers die

Hauptrolle zu spielen.

Ihm fiel die Offensive den Loing abwärts gegen

Fontainebleau und Melun, also die aktive Theilnahme an der Befteiung von

Paris zu.

Er sollte das

Schwert

der Republik

sein,

Chanzy

das

Schild. General Bourbaki, der ehemalige Commandeur des Garde-Corps,

hatte in der französischen Armee einen ausgezeichneten Ruf. Auch Trochu hielt ihn, wie seine nach Tours gerichteten Depeschen beweisen, für eine Autorität.

Von ihm hoffte man vor allen Dingen die Belebung des

nationalen Widerstandes.

Bald sollte sich herausstellen, daß er trotz Allem für so ungewöhn­ liche

Verhältnisse,

wie

hier,

garnicht geschaffen

sei;

neue

historische

Situationen erfordern auch neue Männer. Ein Spiel begann nun, das den Verhandlungen zwischen Gambetta

und d'Aurelle zu Ende des Monats November erstaunlich ähnlich sieht.

Die nächste Meldung Bourbaki'S, welche nach Tours gelangte,

wär

die, daß eö ihm gelungen sei, das 18. und 20. Armeecorps bei Iargeau und Sully glücklich über die Loire zurückzuführen.

DaS war die erste

Enttäuschung, auf die dem General zugegangenen umfassenden Offensivpläne.

„Ich verstehe Ihre Bewegung auf daS linke Ufer nicht," telegraphirte ihm der Kriegsminister zurück. müssen.

„Sie

hätten

das rechte

Ufer halten

ES ist unerläßlich, die Offensive gegenJMontargiS wieder auf-

zunehmen."

Allein die Chancen sollten schnell noch mehr schwinden.

Der von

Paris am 4. Dezember abgelassene Ballon brachte eine mit dem Datum Nneil den 5. Dezember Nachm. 2 Uhr 45 Minut. versehene Depesche des

Gouverneurs von Paris vom 4. Dezember am 5. 5 Uhr 25 Minut. Nachm. in des Dictators Hände:

„General Trochu an Lson Gambetta für den Oberbefehlshaber der Loirearmee und General Bourbaki:" „Nach zwei großen Anstrengungen und nach zwei für die Truppen

ruhmvollen Schlachten, welche unö aber nicht erlaubt haben, die Ein­ schließungslinien zu durchbrechen, entscheiden wir unS, die Operation dahin

zu ändern, daß wir die große Rückzugslinie des Feindes durch die Ebene von St. Denis direkt bedrohen.

Wir glauben,^daß dies daS^ficherste und

einzige Mittel ist, welches wir besitzen, um die Loirearmee zu degagiren und die Action des General Bourbaki vorzubereiten"*). Der Nord feite sollte also der nächsteMuSfall der.Pariser gelten.

Soviel stand nach dieser Depesche fest, wenn dieselbe auch^die wahre Lage der Dinge und die erlittene Niederlage noch zu verhüllen suchte.^ Darüber,

daß Bourbaki, wenn er bis Fontainebleau und Melunz, vordrang, keine *) Trochu setzte danach wohl voraus, daß Bourbaki noch selbstständig im Norden commandirte.

Leon Gambetta und die Loirearmee.

38

ihm von Paris aus entgegenkommende Unterstützung vorfinden würde, war Gambetta völlig im Klaren.

Nichtsdestoweniger theilte er dem General

telegraphisch Folgendes mit:

„Neue Depeschen aus Paris, die man Ihnen mittheilen wird,

er­

lauben eS nicht mehr genau die Richtung vorauszusehen, welche Ducrot verfolgen wird.

Wollen Sie daher die Ausführung meiner letzten

Depesche, die sich auf einen Marsch nach Fontainebleau bezog, ausschieben und sich nach Gien begeben, wo Sie neue Befehle erhalten werden."

Ob diese Pariser Nachrichten Bourbaki wirklich mitgetheilt worden sind, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

Ist es später ge­

schehen, so bleibt eS noch unerklärlicher, warum der Dictator ihn zunächst

im Zweifel

ließ.

Nach

dem Inhalte der eben

mitgetheilten Depesche

mußte Bourbaki glauben, daß bei Paris noch gekämpft würde, daß nur in

General sei.

Ducrot'S

Operationsrichtung

eine Modification

eingetreten

Eine energische Natur an seinem Platze hätte darum auS eigener

Initiative noch sehr leicht den Entschluß fassen können, dennoch den Marsch über Montargiö anzutreten.

Gambetta ließ der Hoffnung noch Spiel­

raum, daß die deutsche Einschließungsarmee durch die Angriffe der Pariser beschäftigt sei — während thatsächlich diese Hoffnung schon völlig grund­

Dem Oberbefehlshaber einer großen Armee durfte aber die

los war.

volle Wahrheit niemals vorenthalten

werden.

Allein Gambetta wollte,

auch trotzdem die wichtigsten Voraussetzungen für das Unternehmen fetzt

fortfielen, feine Pläne dennoch nicht aufgeben. Um dem Widerspruch, den

er dabei von Bourbaki's Seite erwartete, nicht Waffen in die Hand zu

geben, ließ er ihn im Unklaren. DaS war immerhin ein bitteres Unrecht. General Bourbaki war nicht der Mann, der unter solchen Umständen

ein tollkühnes Unternehmen auf eigene Faust begann. Er trat entschieden gegen alle Offensivgedanken auf und athmete erst wieder frei, als er ver­

nahm, daß auch die Regierung dieselben hätte fallen lassen. Die ihm nun fernerhin zugehenden Befehle beschieden ihn nach Gien. Dort sollte er mit seinen Truppen vom linken Loireufer wieder auf das rechte zurückkehrey, und sich auf diesem Ufer stromabwärts auSdehuen, so

daß er auch die Brücke von Sully noch sicherte und bereit stand, den nach

Orleans

vorgedrungenen

Truppen des Prinzen Friedrich Karl in die

Flanke zu fallen, sobald die Strategen von Tours dies für gut befanden.

Am

6. schon

wurde dieser Befehl aber

geändert.

Der Gedanke deö

Offensiv-FeldzugeS über MontargiS gegen Fontainebleau trat trotz der

ungünstigen Meldungen aus Paris abermals in den Vordergrund. entsprechend

Dem­

wurde Bonrbaki nun angewiesen, sich nördlich Gien bis

Halbwegs nach MontargiS hin aufzustellen.

Der General feilst begehrte, seine Truppen nach BourgeS und NeverS

zurückführen und sie dort von Neuem ordnen und ausrüsten zu dürfen. Selbst BourgeS schien ihm zeitweise noch nicht sicher genug und er dachte

daran, die Retirade bis St. Amand fortzusetzen — Projekte, welche der Dictator und sein Delegirter natürlich mit Entrüstung zurückwiesen.

Mit dem Gedanken, vorerst nach Gien zu marschiren, machte sich Bourbaki indeffen leicht vertraut;

denn er hoffte,

tiren und mit Munition versehen zu können.

sich dort verprovian-

Er rückte mit dem 18.

CorpS schon am 6. Dezember dahin, ließ einen Theil desselben wieder auf daS rechte Stromufer hinüber gehen und dort zum Schutze von Gien

eine Aufstellung nehmen. commandiren.

General Billot sollte diese Truppen in Person

DaS 20. Armeecorps erreichte gleichzeitig Argent,

war

also ganz in der Nähe. ES ist nun nöthig, dem Rückzüge des 15. Armeecorps zu folgen, welche

immer noch das Centrum und zugleich machte.

den Kern der Loirearmee aus-

Dieses Corps hatte sich unter seinem Commandeur, General

des PalliereS, direkt über Orleans auf der großen Straße nach Bierzon zurückgezogen; nur 1000 Mann unter General Pehtavin

schloffen

sich

irrthümlich Chanzh an.

Am 5. December erreichten sie glücklich la Fertö St. Aubin, eben­ dahin hatte sich der große Armeetrain, nicht weniger als 6000 Fahrzeuge,

gewendet, den man mit anerkennenswerther Umsicht und Energie am 4. December größtencheilS durch Orleans hindurchgezogen.

Die Einbuße

war dabei eine ziemlich geringe gewesen, und de Frehcinet fand Ursache

genug, den Generalintendanten der Armee telegraphisch zu beglückwünschen. Dem 15. CorpS hatten sich zahlreiche Heertrümmer der änderen CorpS — zumal des 16. — angeschloffen, daS ans dieser Rückzugslinie

durch mehrere tausend Mann vertreten war.

General des PalliöreS or-

ganistrte zunächst in la Fertö eine Arrteregarde, dann marschirte er noch

am 5. December bis la Motte-Beuvron.

Hier traf er d'Aurelle, der ihm

befahl, am 6. nach SalbriS zurückzugehen, daselbst aber zu halten.

Die Unordnung und Auflösung unter den zahlreichen hier vereinigten

Truppen war groß. Nahrung.

Biel TraineurS bedeckten das Land und

suchten

Um sich von ihnen zu befreien, sprengten die Bauern noch

am Abend die Nachricht aus, die „PrussienS" seien im Anmarsche.

Die

Folge davon war eine Panique im Lager von la Mottö-Beuvron und die

noch in der Nacht aufbrechende Reserve-Artillerie wurde schon von einem Strom von Flüchtlingen begleitet.

nach SalbriS.

AlS der Tag anbrach, folgte Alles

Diejenigen Truppen, welche noch die sicherste Haltung

zeigten, blieben bei Nouan-le-Fuzelier als Nachhut stehen.

Leon Gambetta und die Loirearmee.

40

In SalbriS machten sich die anwesenden Generale und ihre Stäbe

daran, das Gewirr der Mannschaften wieder zu lösen.

Hinter der Saul-

dre wurden die Bivouaksplätze bezeichnet; auf der einen Seite der großen

Straße lagerte das 15. Armeecorpö, auf der andern Alles, was zum 16.

und 17. Corps

gehörte.

Diese letzten Mannschaften formirte man in

Detachement« und instradirte dieselben auf Blois.

Nach Vierzon, das

bereits von Flüchtlingen iiberfiillt war, eilte ein Commandant mit einer kleinen zuverlässigen Garnison voraus.

Wie bekannt war nun zunächst das 15. Armeecorps von dem Dic­ tator auöersehen worden, um sich bei Gien zu der beabsichtigten Offen­

sive mit dem 18. Armeekorps zu vereinigen, während das 20. Corps an

Stelle des 15. sich bei SalbriS aufstellen, auch das wichtige Argent decken sollte.

Diese beiden Corpö hätten demnach im Angesichte des siegreichen

Feindes ein „chassez-croisö“ von mehreren Tagemärschen anSführen müssen — eine Bewegung, die jedenfalls unzweckmäßig war, und die ein geringes znilitairischeS Verständniß bei Herrn de Frehcinet verräth, der diese Ein­

zelheiten ordnete.

General deS Palliereö empfing den abenteuerlichen Befehl bei Sal­ briS, als er soeben sein Corps mühsam zum Stehen gebracht hatte, wäh­ rend Train'S und zahllose Trainenr'S, mit Offizieren aller Chargen unter­

mischt, die Flucht bi« Vierzon sortsetzten. Er gerieth hierüber außer sich.

„II y avait de quoi y perdre la tete“

berichtet er selbst über jene Vorgänge.

„Nach drei Tagen voll ununterbrochener Kämpfe und nach drei auf­

einanderfolgenden

Nachtmärschen

sind die aller Verpflegung beraubten

Truppen in der größten Unordnung in SalbriS angekommen," meldete er

telegraphisch nach Tour« zurück.

„Eine große Menge Traineurs und fast der

ganze Train haben „par pauique" Vierzon erreicht. Der gesammte Train

der 2. Division ist in BloiS; die Leute sind „extdnu6s“ vor Müdigkeit und Kälte.

ES ist eine materielle Unmöglichkeit in diesem Augenblicke

irgend eine Bewegung zu machen."

Dann sprach er das Begehren aus, bei SalbriS stehen zu bleiben, später, nach Vierzon abzurücken.

Dort wollte er seine Versprengten her­

anziehen und den wichtigen Eisenbahnknoten decken.

Um die AnSführung

dieses Entschlusse- einzuleiten, sandte er den Rest der Train'S und die

3. Division nach^Bierzon voraus.

Allein General d'Aurelle, der noch in

SalbriS weilte und auch nach seiner Absetzung durch de Freycinet'S zweite

Depesche eine Art von Autorität über deS PalliöreS erhalten hatte, bewog ihn wieber, dem Minister gehorsam zu sein. Er entschloß sich nun wenig­ stens mit den übrigen Truppen, die er noch beisammen hatte, zu der Con-

centration nach Gien aufzubrechen. So wurde dieses Corps auch noch völlig

in

zwei Theile

zerrissen.

Am

7. December marschirte des PalliüreS

von SalbriS zunächst nach Aubignh Bille.

Dort fand er drei Befehle

vor: Zwei davon waren von Gambetta unterzeichnet, der eine widerrief

den Marschbefehl nach Gien, der andere beauftragte ihn, Vierzon zu decken, der dritte, der von seinem neuen Ober-BefehlShaber Bourbaki herrührte, beorderte ihn nach Bourges.

UeberdieS hatte er bereits am 6. seine Entlassung eingereicht.

Um die Verwirrung voll zu machen, kamen auch noch in den nächsten Tagen daS 18. und 20. Corps auf dem Rückmärsche nach BourgeS durch

Aubignh und somit befand sich Bourbaki'S ganze Armee — wohl noch an 70,000 Mann — auf einer einzigen Straße.

Glatteis und harter Frost

erschwerten dabei jede Bewegung ungemein.

Völlig entkräftet arbeiteten

sich Menschen und Pferde nur mühsam vorwärts.

Bourbaki'S Rückzug von Gien hatte seinen Grund in Prinz Friedrich

Karl'S letzten Bewegungen. Sobald er Orlöanö genommen und den Großherzog gegen Tours entsendet hatte, faßte der Prinz die Fortsetzung des Feldzuges nach dem Süden hin ins Auge.

Höhere Befehle betonten die Nothwendigkeit ener­

gischer Verfolgung des Feindes und entbanden ihn von der Deckung der Belagerung von Paris.

Nun war er frei, feine Bewegungen auszudehnen

uud er wählte sofort das wichtige BourgeS, sowie Bourbaki'S Armee zum

Object.

Allein die Ausführung eines solchen weitgreifenden Planes hatte ihre

Schwierigkeiten.

Der Prinz sah voraus, daß der Feind Alles aufbieten

werde, Tours zu sichern und den Großherzog' aufzuhalten.

Um diesen

wenigstens indirect zu unterstützen, ließ er eins feiner 3 Armeekorps, das 9., auf dem. linken Loireufer zunächst stromabwärts marschiren, um

so den auf diesem Ufer gelegenen Regierungssitz Tours zu bedrohen.

Ferner traf man

in Orleans in richtiger Diagnose die Absicht

Gambetta'S, welche daraus hinausging die Offensive über Montargis um

jeden Preis aufzunehmen.

In Folge dessen wandte sich das 3. preußische ArmeecorpS strom­ aufwärts nach Gien, um zunächst auf jener Seite Klarheit über des Fein­

des Vorhaben zu schaffen.

Nur das 10. ArmeecorpS blieb in der direct

südlichen Richtung. Hier eilte außerdem General Schmidt mit der 6. Cavallerie-Division — 2000 Reitern — voraus und besetzte am

8. December schon Bierzon.

Diese Stadt war von den dort versammelten Bruchtheilen der geschla­ genen Armee am 7. December schleunig geräumt worden, als dort die

LSon Gambetta und die Loirearmee.

42

Kunde anlangte, General de« Pallieres habe SalbriS verlaffen und sich ostwärts gewendet.

Die Mehrzahl der Flüchtlinge schlug sofort den Weg

nach Issoudun ein. .

So drangen die 3 ArmeecorpS des Prinzen Friedrich Karl unmittelbar nach

der Schlacht

nach drei ganz divergirenden Richtungen vor, allein

diese Trennung der Armee war nur eine scheinbare, weil für alle drei

CorpS das Ziel ein und dasselbe blieb.

Auch die beiden Flügel sollten

sich nämlich, sobald sie zu Vienne (gegenüber Blois auf dem linken Loire­

ufer) und zu Gien angekommen waren, südwärts wenden, um mit dem 10. Corps gemeinsam vor Bourges, oder vor der Front Bourbaki'S zu

erscheinen. Prinz Friedrich Karl hoffte,

daß bis zu

dem Augenblicke, wo die

Flügelcorps das Loirethal verließen, auf der einen Seite dem Großherzoge

eine wirksame Hülfe gebracht, auf der anderen der Feind von Gien ver­ trieben und die Flanke der Armee frei gemacht sein würde.

Die Herstellung einer Brücke für das 3. ArmeecorpS über die Loire oberhalb von OrlöanS war an mehreren Punkten gleichzeitig in Angriff

genommen worden. Die Colonnen des Großherzogs und der Armee des Prinzen trafen nun in den ersten Tagen nach der Schlacht auf allen 3 Straßen gegen Tours, gegen Vierzon, und stromaufwärts gegen Gien hin, Nachzügler

der verschiedenen Corps.

Der Großherzog spürte neben einem neu for-

mirten Corps das 16. und 17. vor seiner Front.

Mannschaften von

beiden CorpS aber waren auch südlich OrlöanS zu Gefangenen gemacht, Trümmer vom 16. sogar oberhalb Orleans bei dem 18. und 20. entdeckt

worden*).

Wie die einzelnen zurückweichenden Colonnen der feindlichen

Armee in sich zusammengesetzt waren, ließ sich demnach im deutschen Haupt­ quartier nicht genau übersehen.

»

Am 7. December kam es auf allen drei Rückzugöstraßen deS Feindes zu den ersten Gefechten mit geschloffenen Arrieregarden.

Oberhalb Orleans stieß das 3. preußische Corps auf die zum Schutze von Gien

bei Nevoy aufgestellten Truppen Billot'S.

griff dieselben sogleich an, doch bald machte die schon

Dunkelheit dem Gefecht ein Ende.

Die Avantgarde

hereinbrechende

Bourbaki, der in Gien weilte, ritt

selbst auf den Kampfplatz hinaus und traf dort mit dem General Billot

zusammen.

Beide berathschlagten, ob es besser sei — den Befehlen deö

*) CS scheint nach mehreren Anzeichen, daß innerhalb der Loirearmee selbst die Di­ vision Martin deS PallisreS vielfach irrthümlich als 16. Torps bezeichnet worden ist. Bon dieser Division haben sich versprengte Trupps ohne Zweifel dem Rück­ züge Bourbakis angeschloffen.

Kriegsministers gehorchend — die Schlacht anzunehmen, oder auf eigene Verantwortung hin nach Bourges abzuziehen.

Für den ersten Fast wollte Billot sofort das ganze 18. Corpö auf das rechte Stromufer ziehen und auch das 20. Corps noch in der Nacht

von Argent herbeirufen.

Allein eine Schlacht vor dem Defilee mit einer

einzigen Brücke hinter sich, erschien dem General Bourbaki zu gefahrvoll.

Er mag auch die Verlegung seiner Rückzugslinien

nach Osten hin für

bedenklich gehalten haben und entschloß sich nach längerem Schwanken zum Rückzüge.

So hatte das an sich unbedeutende Gefecht von Nevoy dennoch einen wesentlichen Einfluß auf die Operationen der feindlichen Armee anSgeübt. General Billot führte noch in der Nacht seine Truppen über Gien

auf daS linke Stromufer zurück und sprengte hinter sich die Brücke in die

Im Laufe des 8. December setzte daS ganze Corps den Marsch in

Luft.

südlicher Richtung fort.

An demselben Tage passirte daö 20. CorpS von

Argent her kommend das durch PalliöreS Truppen angefüllte Aubigny; dann kam auch Bourbaki persönlich dorthin und kündigte für den 9. De­

cember den Durchzug des 18. Armeecorps an.

General des PalliöreS

beschloß in Folge dessen, über Henrichemont, also noch weiter östlich aus­ holend, nach BourgeS zu marschiren, da er sonst auf der Straße AubignyBourgeS

eine heillose Verwirrung voraussah.

deckte bei Allogny den Marsch der Armee.

Seine Cavalleriedivision

Erst am 11. Abends trafen

die letzten Truppen bei BourgeS sehr ermüdet ein. sofort nach TourS:

Bourbaki meldete

Hommes et chevaux sont extenuös de fatigues,

par suite de la continuite et de la longueur des marches, qu’ils viennent de faire, de la neige et du verglas et de la raretd du bois.“

Auf allen Straßen waren zahlreiche TraineurS zurückgeblieben. mal die Mobilgarden begannen sich zu zerstreuen.

Zu­

Dies Uebel ward so

groß, daß auch die Regierung mit scharfen Decreten und mit der An­

drohung von Kriegsgerichten gegen die Pflichtvergeflenen einschreiten mußte. Sie sagt in ihren Erlassen, daß selbst Offiziere „aller Grade" sich von

der Armee entfernt hätten. Allein die Anstrengungen waren für so

Truppen in der That zu bedeutend.

junge, wenig ausgebildete

Märsche, wie die des PalliöreS'

mußten auflösend wirken, auch das 18. und 20. CorpS waren in letzter Zeit mehrfach Nachts in Bewegung gewesen.

gungen hatten keinen Zweck gehabt.

Und alle diese Anstren­

Sie bildeten die Einleitung für hoch­

fliegende Pläne der Strategen von Tours, mit denen die Unternehmungs­ lust der Generale durchaus nicht gleichen Schritt hielt, und die daher scholl

im Beginn wieder aufgegeben wurden, um mit dem Rückzüge zu enden,

den die Armeebefehlshaber von Haufe aus gewollt. Daß Bourbaki für Gambetta'S und Frehcinet'S Wünsche keineswegs der geeignete auöführende Arm fei, zeigte sich in diesen Tagen deutlich.

Des Palliares hatte gegen seinen Marsch nach Gien protestirt, Crou« zat sich in Argent bedroht gefühlt, weil er fürchtete, die Verfolger würden über Clömont und Aubignh vordringen, um ihn so von BourgeS abzu­

Alle drei

schneiden.

CorpScommandenre erhielten

direkte Befehle auS

Tours, die sich theils widersprachen oder gegenseitig aufhoben, theils nicht

mit den Verhältnissen übereinstimmten, wie diese sich inzwischen verändert

gestaltet hatten. Am 7. Dezember gegen Mittag forderte de Frehcinet den Oberbe­ fehlshaber deshalb auf, er möge nach Argent und Salbris reisen, um

allen 3 Corps feine Weisungen zu ertheilen und selbst die militärische

Situation, so gut wie möglich, zu wahren. Am Abend desselben TageS, um 6 Uhr 15 Minuten erhielt der Ge­ neral in Gien folgendes Telegramm:

„Die Regierungsdelegation an General Bourbaki." Tours, den 7. Dezember.

„Meine Intention und meine Hoffnung waren es, Sie mit dem ver­ einigten 18. und 15. Corps eine kräftige Offensive wieder aufnehmen zu

sehen.

Aber das, was Sie von den Bedingungen eines morgen oder stattfindenden Kampfes sagen, sowie die gegenwärtige Ent­

übermorgen

fernung des

15. Corps berechtigen den Rückmarsch

zur

Deckung

von

BourgeS und NeverS." „Die Position des 15. und 20. Corps wird es wahrscheinlich noth­ wendig machen, daß Sie in dem Moment und auf dem Punkte, welchen Sie für den günstigsten halten, auf das linke Loireufer zurückgehen. Wohl­

verstanden bleibt das 20. Corps, alleinigen Oberleitung.

vereinigt,

wie das 15.

und

18. unter Ihrer

Haben Sie so erst einmal Alles in Ihrer Hand

so rechne ich, daß Sie „röellement“ für eine entscheidende

Action bereit sein werden." Leon Gambetta.

Was die Klarheit über die eigentlichen Absichten des Dictators anbclangt, ließ auch dieser Befehl viel zu wünschen übrig.

Jedenfalls konnte

Bourbaki übersehen, daß man ihm für alle Fälle die Verantwortung zu­

schieben würde, wenn die Dinge sich ungünstig gestalteten, den kriegsmi­ nisteriellen Anordnungen aber das Verdienst, sobald Alles glücklich ging.

Bourbaki war aber immerhin zum Rückzüge ermächtigt.

Er entschied

sich also für denselben, zumal, weil er seine 3 Corps auf weite Ent-

fernung auseinandergezogen

glaubte.

Aubigny besaß er keine Kenntniß.

Von des PalliäreS Marsch nach

„Zersplittert zu bleiben, wie wir eS

sind, hieße einem CorpS nach dem andern eine vollständige Niederlage bereiten" fügte er seiner Meldung hinzu.

Schon hierüber zeigte sich

Gambetta sehr empfindlich, stimmte es auch mit seinen Befehlen überein: „Ich habe allen Grund zu glauben, antwortete er am 8. dem General, daß

diejenige Colonne, vor welcher Sie sich zurückziehen, weit von der Bedeu­ tung derjenigen entfernt ist, welche Chanzh seit zwei Tagen mit Truppen

zurückweist, die mindestens ebenso ermüdet sind, wie die Ihrigen." „Ich rechne sehr darauf „que vous allez faire töte“ und daß Sie diese entscheidende Action vorbereiten, von der ich Ihnen in meiner

letzten Depesche sprach, und welche auch die Theilung der feindlichen Armee nach der Schlacht von Orleans znehr und mehr vortheilhaft er­ scheinen läßt." Der Verkehr zwischen dem Kriegsminister und dem General Bourbaki

sollte sich aber sehr schnell noch mehr zuspitzen.

Chanzh'S UuSharren bei

Beaugency machte eine Einwirkung Bourbaki'S auf die Armee des Prinzen

Friedrich Karl sehr erwünscht. Zumal erschien daS Vorgehen des deutschen

9. Armeecorps auf dem linken Loireufer bedrohlich, aber zugleich so kühn, Die Re­

daß ein dagegen geführter Schlag Erfolg zu versprechen schien.

gierung floh nach Bordeaux — Chanzh fürchtete, von dem anderen Fluß­

ufer her plötzlich umgangen und im Rücken bedroht zu werden.

Nur Bourbaki konnte helfen.

Schon vom 9. Dezember ab beginnt

die Pression der Regierung auf seine Entschlüfle wieder.

Er sollte gegen

Blois vorstoßen und den kühnen Feind in den Strom werfen.

Allein der General sah sehr schwarz.

provisirten

Die Zustände in seiner im-

Armee beunruhigten ihn auf'S Aeußerste.

Schon in Sully

soll er unmuthig geäußert haben, er sei es müde, solche Horden zu commandiren.

Jetzt bezeichnete er seine Armee abermals mit dem Ausdruck

„troupeau d’hommes“. sein Gemüth.

Das Elend, das er um sich sah,

„Ich habe alle

erschütterte

nur mögliche Dispositionen

um zu kämpfen, wenn es nöthig wird.

getroffen,

Aber mit einer Heerde von

Menschen, die größtentheilS durch aufeinanderfolgende EchecS, welche sie

betroffen haben, durch die

Anstrengungen

der

fortwährenden

rapiden

Märsche und das abscheuliche Wetter und zumal durch die Debandade deS 15. CorpS demoralisirt sind, sehe ich das unheilvolle Resultat voraus, das

uns bevorsteht ....

Die Leute find in einem Zustande von Elend und

„marasme“ von welchem Sie sich keine Idee machen können."

So lau­

teten seine Klagen. Er glaubte ferner, daß bei Orleans an 70,000 Deutsche über die

Loire gegangen seien.

Im Geiste sah er die ganze Sologne von Feinden

wimmeln und er verlangte, man sollte ihn bis St. Amand-Montrond zu­

rückgehen lassen.

Wenn ich in diesem Augenblicke nach Blois marschiren

würde, so möchten Sie wahrscheinlich nicht eine einzige Kanone, nicht einen einzigen Mann von

den drei Corps Wiedersehen, deren Führung

Sie mir anvertraut haben,"

versichert er den

Kriegsminister in einer

anderen Depesche, mit der er wohl da- letzte Wort über den Zug nach

Blois zu sprechen dachte.

Er fügte nämlich schließlich hinzu:

„Wollen Sie die Armee retten, so müssen Sie sie zurückgehen lassen;

legen Sie ihr die Offensive ans, welche sie in den gegenwärtigen Ver­ hältnissen unfähig ist, durchzumachen, so setzen Sie sich dem aus, sie zu verlieren." „In dem Falle, in welchem Ihre Intention dahin geht, das zweite

zu wählen, bin ich so tief von den Folgen überzeugt, welche daraus hervor­ gehen können, daß ich Sie bitten würde, diesen Versuch einem Anderen anzuvertrauen."

Der Kriegsminister weilte zur Zeit bei Chanzy'S Armee, sein Delegirter de Frehcinet antwortete dem General jetzt schon im Tone der Be­

leidigung und deö HohnS: „Ihre Depeschen, General, stehen in einem peinlichen Contrast zu denjenigen des General Chanzy,

der seit 5 Tagen heroische und sieg­

reiche Kämpfe gegen die Armee des Prinzen Karl mit denselben CorpS unterhält, welche schon die ganze Last der Kämpfe vor OrlöanS zu tragen

hatten." .... —

ES muß Ihnen am Herzen liegen, mit Chanzh zu

rivalisiren und Theil zu nehmen an seinen ruhmreichen Anstrengungen. Wir kennen die Lage Ihrer Truppen und der Kräfte, welche Ihnen nahe

sind, nicht genau genug, um Ihnen in diesem Augenblick einen präcisen Befehl geben zu können.

Aber ich weiß wohl, — wäre ich an Ihrer

Stelle, so würde ich unverzüglich meine drei CorpS vereinigen; ich wollte

dann die Banden abstrafen, die sich nach Vierzon gewagt haben und die

viel mehr auf die Einbildungskraft Ihrer Truppen gerechnet haben, als auf die eigenen Kräfte, unsere Armee zurückzutreiben."

„Ich würde den Feind lebhaft über Salbriö hinausjagen, und eine starke Colonne auf Blois vortreiben.

Sie sagen selbst, daß der Feind

die Trümmer der Loirearmee umgehen will; ich möchte ihm doch beweisen,

daß diese Trümmer nicht so mit sich verfahren laffen und so lange ich einen

Soldaten auf den Beinen hätte, würde ich so wenig zahlreichen

Truppen nicht erlauben hen Schrecken in der Sologne zu verbreiten und dem

Prinzen

Karl

die

Chanzh'ö zu vernichten."

Hand zu reichen, um die braven Phalangen

So schrieb der Brücken- und Chaussee-Inspektor, den die Gunst eines befreundeten Advocaten und Deputirten an die Spitze des Kriegs­ departements gestellt hatte, an den ehemaligen Commandeur der Kaiser­

garde, jetzt Oberbefehlshaber einer Armee, die man in nächster Zeit auf 100,000 Mann bringen wollte.

Zudem theilte das Kriegöministerium dem General eine Menge von

Meldungen der Territorialcommandanten

und

der

Civilbehörden

mit,

welche erwiesen, daß die Sologne und daö obere Loirethal von deutschen Truppen beinahe frei seien, und daß ihm keinerlei Gefahr drohe.

Thatsächlich war de Frehcinet bei diesem Falle im Recht. Bourbaki hatte nichts zu befürchten.

Südlich Orleans, sowie in Bierzon und in

Gien standen nur noch ganz schwache Abtheilungen von der Armee deS

Prinzen Friedrich Karl, hauptsächlich Cavallerie. Der Prinz selbst war schon genöchigt worden, sich mit der Masse seiner Armee nach Westen zu wenden, wo Chanzh dem Großherzoge bis zum 11. December Stand gehalten hatte

und wo eine endgültige Entscheidung der Kämpfe dringend nothwendig wurde, sollten nicht die jungen Truppen der Republik durch halbe Erfolge

ihre Moral heben und wirklich gefährliche Gegner werden. Doch, wenn dem auch so war, so mußte de Frehcinet alS ein Mann

von Bildung und Einsicht begreifen, daß aus einem derartigen Gezänk, aus solchen Chikanen gegen die Truppenführer nimmermehr Gutes ent­ stehen könne/

Bourbaki hatte fteilich schon genugsam erwiesen, daß er für diese ganz eigenthümlichen Verhältnisse, bei denen eS galt, mit rücksichtsloser Anwendung aller Mittel wenigstens etwas zu leisten, nicht der geeignete Mann sei.

Bon

einem General, der an das KriegSministerinm telegraphirte: daß es ihm

Eisnägel für den Hufbeschlag seiner Pferde besorgen solle, stand nicht zu erwarten, daß er die SisyphuS-Arbeit glücklich vollenden werde, aus den

zusammengetriebenen Menschenmaffen, die fortwährend schmolzen wie der frische Schnee an der Sonne, immer wieder Armeen zu bilden, sie auSzu rüsten, zu diScipliniren und gegen den Feind zu führen.

Da Gambetta bei Chanzh in IoSneS verweilte, de Frehcinet in Bor­

deaux: so mußten sich beide telegraphisch darüber verständigen, was zn thun fei. De Frehcinet wollte das Richtige, die einzige Maßnahme, welche durch­ greifend wirken konnte, Bourbaki'S Abberufung.

Er ging dann augenschein­

lich noch weiter und begehrte eine Art von Schreckensherrschaft über die Führer der Armee.

Das war das Prinzip der Republik von 1792.

deutlichsten spricht er sich in diesem Sinne am 10. December aus.

„Bon Bourbaki nur entmuthigende Nachrichten.... Er quäkt mich,

daß Sie zu ihm nach Bourges kommen sollen."

Am

„Ich glaube, dasjenige, was wir zu thun haben, wird die Uebergabe

deS Oberbefehls an Billot fein, während Borel Generalstabschef bleibt, da das fein richtiger Platz ist."

„Billot muß durch Feillet-Pilatrie, Divisionsgeneral im 18. CorpS ersetzt werden."

„Crouzat und Baraigne*) beseitigen!" „Ersetzen Sie den ersten durch Bonnet**), wenn derselbe noch im

20. CorpS ist, mit einem Generalstabschef, den er sich wählt.

Endlich ist

deö PalliöreS seines CommandoS zu entheben und selbst, je nachdem, was Sie mit eigenen Augen sehen werden, vor ein Kriegsgericht zu stellen, dann bleibt des PlaS***) fortzujagen,

der nichts als ein Baraigne mit

etwas mehr Intelligenz ist." Ein anderes Telegramm von demselben Tage besagt:

„Die Depeschen, die mir von Peytavin j'), Maurandy ff), und Michaud zugehen, sind herzzerreißend.

Ich fordere Sie auf, diese Generale

vor ein Kriegsgericht zu stellen.

Thun Sie dasselbe mit PalliöreS,

dessen CorpS sichtbar herunterkommt." Also Kriegsgerichte über Kriegsgerichte und eine Absetzung über die

andere. Rigourose Maßnahmen hätten jetzt freilich allein zum Ziele führen

können.

Dem KriegSdelegirten war es leicht gemacht, dieselben zu ver­

langen, da er sie nicht mit seiner Verantwortung decken

daS blieb Gambetta'S Sache.

Der Dictator schwankte.

durfte —

Er konnte sich

nicht entschließen, znm Aeußersteu zu greifen und seinen Günstling Billot an die Spitze der Armee zu stellen.

Dieser war ohnehin in den 10 Tagen

vom 26. November bis znm 6. December vom Obersten zum DivisionLGeneral emporgestiegen, ein Avancement, welches wohl in der Geschichte aller Armeen seines Gleichen sucht.

Der Dictator machte sich selbst nach BourgeS auf den Weg.

Bour-

baki'S großes militairifcheS Ansehen schien ihm noch unantastbar, mochte er auch wohl ahnen, daß er mit diesem General nicht einig werden könne. Freycinet hörte zwar nicht auf, ihn zur Entscheidung zu treiben.

Als er

ihm die letzte Depesche Bourbaki'S mittheilte, setzte er noch am 11. hinzu:

„Im Hinblick auf diese Depesche, welche auf meine dringendsten Bitten antwortet, ist eS mir unmöglich, Bourbaki einen formellen Marschbefehl ♦) **) ***) t) ff)

Generalstabschef des 20. Corps (Genie-Major der kaiserlichen Armee). Brigade-Commandeur im 20. Corps. Brigade-Commandeur im 20. Corps (Oberst). Commandeur der 3. Division deS 15. Corps, der sich nach BloiS gewendet, Maurandp, Commandeur der 3. Division des 16. Corps in Blois, Michand, Territorialcommandant von BloiS.

zu gebe«.

Die persönliche militairische Stellung, welche man ihm geschaffen

hat, verbietet es mir, seine Demission über eine solche Frage zu provociren."

„Sie allein als Regierungsmitglied haben die Möglichkeit in der Hand,

die Sache weiter zu treiben, wenn Sie es für nützlich erachten".............. Gerade in diesem Augenblick änderte Bourbaki seine Entschlüffe.

Er

erhielt von Chanzh am 11. December ein Telegramm, daS ihn «mstimmte.

Die Art und Weise, in welcher diese Aufforderung gehalten war, wirkte

mehr, wie alle Beleidigungen de Freycinet'S. „Marschiren Sie entschloffen und ohne eine Minute zu verlieren vorwärts; meine Lage ist die aller­

kritischste und nur Sie können mich retten!" nicht ohne Eindruck.

Ein solcher Appell blieb

Bourbaki zeigte sich nun bereit, wenigstens bis Bier-

zon vorzurücken, obschon, wie erwähnt, seine letzten Truppen erst am 11. Abend- bei Bourges eintrafen.

Nun schlug auch de Freycinet'S Stimmung

urplötzlich um:

„Die

Regierung ist glücklich über den Entschluß, den Sie gefaßt, Chanzh Hülfe

zu bringen."

So telegraphirte er dem General.

„Sie weiß', daß Nie­

mand im Stande ist, wie Sie, eine Unternehmung zum guten Ende zu führen, welche von ihrem Chef zu gleicher Zeit eine große Energie und

ein seltenes Prestige erfordert."

Die Armee blieb also in der Bewegung. Als nun Gambetta in Bourges eintraf, zeigte er sich daher auch zu­

frieden.

Bourbaki empfing ihn mit den Worten:

„Sie müssen meinen

Leuten einige Tage Ruhe in CantonnementS geben, um sie sich erholen zu lassen, sie mit Schuhwerk und Kleidern zu versorgen und um die Pferde ein wenig gegen das Unwetter zu schützen, bei welchem täglich eine gute Anzahl fällt."

Er stellte dem Minister vor, daß er auch Zeit brauche-

dip Mannschaften zu instruiren, sie mit ihren Chefs und ihren Pflichten bekannt zu machen.

Gambetta gab nach und es scheint zwischen ihm und dem General

eine momentane Verständigung erfolgt zu fein.

Durch ein besonderes

ministerielles Decret vom 12. December wurden alle selbstständig com-

mandirenden Generale autorisirt, ihre Truppen in CantonnementS zu ver­ legen.

Der Dictator genehmigte auch, daß Bourbaki mit seiner zu Gun­

sten Chanzy'S unternommenen Diversion bei Vierzon halt machte, nachdem

feine Avantgarde am 13. December Nachmittags schwache preußische Cavallerie aus dieser Stadt verdrängt hatte.

Der General machte geltend,

daß BloiS, wohin er vorrVcken sollte, seine Wichtigkeit verloren habe, weil Chanzh mittlerweile schon int Rückzüge war und die Räumung des rechten

LoireuserS ohne Zweifel mähe bevorstand.

Das leuchtete dem Dictator

ein und außerdem wirkte a«ch auf ihn der jammervolle Anblick der Truppen, Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hefl 1.

4

86ott Gambetta und die Loirearmee.

50

»Ich lasse die Bewegung auf Vierzon vor sich gehe«, werde sie aber dort anhalten," theilt

er seinem alter ego de Freycinet mit, der seit

dem 10. December in Bordeaux war, „daS 15. 18. und 20. Corps sind in einer wahren Auflösung, eS ist daS traurigste, waS ich noch jemals

gesehen habe.

Ich werde die Dinge hier noch einmal von Grund aus

ansangen müssen und einige Zeit dazu brauchen, indessen ich werde nicht

wieder abreisen, ohne die Sachlage geregelt zu haben." ES ist charakteristisch, wahrzunehmen, wie das nähere Eingehen auf

die Dinge, der Anblick der Schwierigkeiten an Ort und Stelle auch bei

dem kühnen und rücksichtslosen Manne die Entschlußkraft lähmte. war zur Armee geeilt,

Er

um sie zu dem Zuge nach Blois zu zwingen,

und er selbst ließ sie nun halten.

Die Depesche, welche dies halb ent­

schuldigend an seinen Genossen mittheilt, wird noch interessant durch fol-

gmden Zusatz:

„Die Nachrichten, welche ich erhalte, beweisen, daß die

Streitkräfte des Prinzen Friedrich Karl größtentheilS gegen Chanzy marschiren.

Er hat gerade im richtigen Augenblick seine OperationSbasiS ge­

ändert. Ha, welch' ein braver General!"

Gambetta war also doch

für die Verdienste und Fähigkeiten seiner Gegner durchaus- nicht so blind,

als man eS ihm oft nachgesagt hat.

Er vermochte es wohl, dem Feinde

Anerkennung zu zollen. Daß Bourbaki'S militairifcher Name den Dictator in seinen Maß­

nahmen beengte, zeigte sich deutlich in dem Tone der ersten Depesche, die

er dem General am 13. nach seinem neuen auf dem Wege nach Bierzon gelegenen Hauptquartier MLhun für Jävre nachsandte.

Bourbaki kam

nämlich urplötzlich auf seine RückzugSprojecte zurück und wollte nach St.

Amand abmarschiren.

Gambetta bat ihn, daran zu denken, daß Trochu

die Besetzung von Gien und die Behauptung von BourgeS stets für wichtig erklärt habe, er möge darum von seinen Ideen abstehen.

Auch alS diese

Bitte nichts gefruchtet hatte, theilte er Freycinet, dem er verschiedene Er­

nennungen in der Armee auftrug, mit: er wolle Bourbaki momentan noch an der Spitze der Armee belassen.

„Ich kann," setzt er gleich darauf

hinzu, „trotz meiner dringenden Bitten, Bourbaki nicht bestimmen seine

Positionen zu halten und sich nicht auf St. Amand zurückzuziehen.

Ich

habe noch keinen entscheidenden Entschluß gefaßt — ich überlege noch." Der KriegSdelegirte war mit seines Gebieters Nachgiebigkeit und

Mangel an Härte sehr unzufrieden. Generals Absetzung.

Er drang immer wieder auf Zes

Er verlangte die Fortführung des Marsches über

Vierzon gegen Tours, um Chanzy zu degagiren und jene Stadt zu decken;

später schlug er eine Stellung bei Selles sur Cher, zwischen Cher und Sauldre vor.

„Es ist unerläßlich, daß Bourbaki seine Bewegung etwas

über Bierzon ausdehne, wenn auch nur sehr langsam,"

am 14. December an Gambetta.

wendete er sich

„Roch heute spricht sich Chanzh drin­

gend in demselben Sinne aus. Ich würde an Ihrer Stelle nicht schwan­

ken, Bourbaki durch Billot zu ersetzen.

Mit Bourbaki immobilisiren Sie

„clair et net“ die Hälfte der Loirearmee.

Wie können Sie nur noch

nach Allem, was in diesem Feldzuge und vordem im Norden vorgefallen

ist, auf Bourbaki bauen?

Der Fetischdienst gegen die alten militairischen

Größen ist eS, der unS in'S Verderben gestürzt hat.

Ich weiß wohl, daß

wenn ich Herr wäre, ich mit dem Vorurtheil längst gebrochen haben würde. —" „Ich bitte Sie um Alles in der Welt," telegraphirt er- an demsel­

ben Tage noch, „verhindern Sie Bourbaki, seine Positionen bei Vierzon zu verlasien.

bedecken."....

Dieser Rückzug nach St. Amand würde uns mit Schande

„Warum denn ohne Unterlaß zurückgehen, eS ist vielmehr

ein Intereffe erster Ordnung, unsere beiden Armeen nicht von einander

zn entfernen.

Können Sie ihm denn nicht einen formellen Befehl geben

— oder bester noch, ihn absetzen?"

In demselben Stile gehalten, folgen noch bis zum 16. December mehrere dringende Aufforderungen.

nach

St. Amand durch nichts

Und thatsächlich

war der

Rückzug

Die I. Loirearmee hatte

gerechtfertigt.

am diese Zeit nur ganz schwache Cavallerie-Abtheilungen vor sich, irgend

eine Gefahr war ihr gar nicht nahe und das Verlangen,

sie abermals

drei Märsche zurück machen zu lasten, ohne jeden vernünftigen Grund.

Selbst Gambetta sah ein, daß die Truppen dabei nur körperlich und mo­ ralisch auf ein noch niedrigeres Niveau herabgedrückt werden

würde«.

Allein er konnte sich doch zu der einzig heilsamen Aenderung, z« einem

Wechsel in der Person des Oberbefehlshabers nicht entschließen.

Dem

großartigen Aufschwünge, den er nach der Niederlage von Orleans ge­

nommen, folgte die Unentschlossenheit,

die

er

einem äußersten Falle, wie hier, gezeigt hatte. sich nicht an Bourbaki's Ruf.

in der Armee;

schon

einmal

in

solch

Augenscheinlich wagte er

Er fürchtete die Opposition im Lande und

denn, daß es nicht Rücksicht und Güte waren,

die ihn

verhinderten, das AbsetzungSdecret zu unterzeichnen, beweist die Behand­ lung, welche in denselben Tagen zwei Corpscommandeure, nämlich Crouzat

und des Palliöreö erfuhren*).

ES ist diese Epoche wohl die bewegteste und unruhigste in Gambetta'S gesammter Amtsführung.

Von allen Seiten her kamen an ihn Forde-

*) Crouzat wurde ohne Grund seines Commando« enthoben, de» PallisreS allerdings auf seinen Antrag abbcrufen, ihm aber, wie mitAetheilt, noch mit einem Kriegs­ gericht gedroht.

rangen, Warnungen, Rathschläge, Projecte.

Aus seinem eigenen General-

Secretariat ging ihm in IoSneS ein langes Schriftstück mit abenteuer­

lichen KriegSplänen zu, die ihm zur Rettung Frankreichs vorgeschlagen

wurden.

Am 18. December forderte Graf Keratrh ihn auf, ihm das

LkriegS- und Marineministerium für einen Monat versuchsweise anzuver­ trauen — eine Zumuthung, welche er ganz passend mit Stillschweigen überging. Selbst zwischen Gambetta und de Frehcinet scheint hier ein Mißver­

ständniß nicht ganz ausgeblieben zu sein, obwohl eS sich schnell auSglich und zu keiner nach außen hin wahrnehmbaren Differenz führte. Eine Depesche de Freycinet'S an den Dictator vom 16. December sagt: „Erlauben Sie mir, mein lieber Minister, Ihnen zu bemerken, daß

Sie es sind, der die Verwirrung in unsere Erlaffe bringt."....

In dieser Zeit ist auch der Grund für den Entwurf deS später unternommenen ZugeS gegen das obere Elsaß und Belfort gelegt worden,

der so verhängnißvoll für Frankreich enden sollte.

gen

Die ersten Andeutun­

dazu finden sich in senem anonymen Operationsentwurf, welcher

Bourbaki nach LangreS marfchiren lasten wollte, von wo auS er dann, gestützt auf die Festung und ein schnell errichtetes verschanztes Lager die

rückwärtigen Verbindungen der deutschen Heere bedrohen sollte.

Am 12. December setzte sich Gambetta mit Frehcinet über die Idee

eine- Feldzuges in Ostfrankreich in Verbindung.

Allein Frehcinet rieth

jetzt noch ab, weil er glaubte, im Westen sei im Verein mit Chanzh'S Armee Größeres auSzurichten.

Er blieb dabei Bourbaki's Marsch gegen

die untere Loire zu verlangen.

So war eS gekommen, daß die I. Loirearmee während dieser Zeit

Nichts gethan und doch auch nicht geruht hatte.

Unnütze Hin- und Her-

märsche nahmen ihre Zeit und ihre Kräfte in Anspruch.

Doch den Ge­

neral Bourbaki trifft, so wenig er sich auch für die ihm anvertraute Rolle

eignete, hierin nicht allein die Schuld.

Hätte ihm die Regierung freie

Hand gelassen, so würde er seine Armee unmittelbar nach der Schlacht von Orleans bis Bourges zurückgeführt und dort reorganisirt haben. Um

die Mitte des December wäre sie dann ohne Zweifel wieder operations­ fähig, Bourbaki aber in der Lage und auch genöthigt gewesen, an den

Kämpfen gegen Prinz Friedrich Karl Theil zu nehmen.

So aber war

er immer nur halb auf die von der Regierung gewollten Bahnen gezerrt worden, um dann entschlußlos das Angefangene wieder aufzugebea.

Wer

so kühne Pläne faßte, der mußte auch die Energie besitzen, positive Be­

fehle zu ihrer Ausführung zu geben, ober noch härtere Maßnahmen zu

ergreifen — sonst blieb auch der Gedanke werth- und verdienstlos.

Klagen über den Zustand der Truppen, die Rauhheit der Jahreszeit, über Mangel und Schwierigkeiten aller Art auf der einen, — unmögliche

Anforderungen auf der anderen Seite, blieben auch weiterhin das Characteristifche für den Verkehr zwischen der Armee und der Regierung.

In welcher Ungeduld Gambetta diese Tage in Bourges zugebracht hat,

ist leicht zu

schlossenheit.

ermessen.

Um so unbegreiflicher bleibt seine Unent­

Er durchschaute sehr wohl die Wichtigkeit, welche Bourbaki'-

Er war sich wohl bewußt, wie schwer

Eingreifen gerade jetzt haben könne.

auch den Siegern die Fortsetzung des Feldzuges fei.

Er sah die Mög­

lichkeit vor Augen, diese dadurch, daß man sie immer wieder von Neuem

zu Kämpfen und anstrengenden Märschen zwang, zu ermüden, ihrer wohl gar am Ende doch noch Herr zu werden — und dennoch vermochte er

nicht, den Widerstand eine- Generals zu besiegen, der gegen diese großen, und vielleicht erreichbaren Ziele technische Bedenken hegte.

Prinz Friedrich Karl hatte sich mit allen seinen Kräften nach dem Westen gegen Chanzy gewendet und trachtete danach, erst mit diesem Ge­

neral abzurechnen, bevor er sich dann seinen übrigen Feinden zuwendete. Noch ehe aber die aus de» verschiedenen Richtungen zurückgerufenen Ca-

lonnen sich auf dem Schlachtfelde von Beaugency geltend machen konnten,

wich General Chanzh, von den langen Kämpfen gegen den Großherzog erschöpft, bedroht durch daS Vordringen

des 9. Armeecorps am linken

Stromufer gegen Tours, und das Anwachsen der Streitkräfte vor seiner

Front gewahrend, gegen Westen aus.

Das tief eingefchntttene Bergthal

des LoirfluffeS und das dahinter beginnende,

dicht von Gehölz, Gärten,

aller Art

und von Wohnstätten bedeckte Gelände boten ihm

einen sicheren Hort.

Der Prinz folgte ihm, so schnell eS die Umstände

Culturen

und die vom plötzlich eingetretenen Regen- und Thauwetter grundlos ge­ machten Wege erlaubten, um es, — wennmöglich noch dieffeitS oder am Loirflusse — zur Schlacht zu bringen.

Er mußte sich dabei von Orleans entfernen, das unter dem Schutze des damals arg decimirten bayerischen Armeecorps v. d. Tann zurückblieb. Die berühmte Loirestadt lag also ziemlich fre,i vor Bonrbaki'S Armee — und nicht sie allein, sondern auch der von je her durch Gambetta erkorne

Weg über MontargiS nach Fontainebleau.

jetzt den Angreifern

nur eine ganz schwache

Auf diesem Wege stellte sich

bayerische Abtheilung ent­

gegen, welche in Gien cantonnirte und von da aus das Gebiet der oberen Loire beobachtete. Französische

Auch dieses geringe Hemmnis sollte noch beseitigt werden.

Territorialtruppen

— vermuthlich

zu

den

von

dem

Obersten, später General Pallu de la Barriöre commandirten gehörig —

verdrängten

die Bayern

aus

Gien.

Gamibetta

erhielt

davon

sofort

Leon Gambetta und dir Loirearmee.

54

Nachricht.

Daß jene Gegenden auch

im

Uebrigen von den deutschen

Truppen geräumt seien, hatte er schon zuvor erfahren. Am 11. Dezember

meldete

ihm

Pallu:

Feinde geräumt.

OrlöanS hin.

„ Briare,

Ouzouer,

Gien sind

urplötzlich vom

Alle- deutet auf eine Concentration der Preußen gegen

Diese in der Puisahe gesammelten Nachrichten scheinen

sicher."

Schon am Loir war Prinz Friedrich Karl an 18 Meilen weit vom oberen Loinglaufe entfernt, seine Armee aber von außerordentlichen An­

strengungen ermüdet.

Ließ er sich von Chanzy in das Labyrinth der Ge­

gend von le MaNS nachziehen und in Kämpfe verwickeln, so konnte er

nimmermehr zur rechten Zeit an jenem Flusse erscheinen, wenn eS galt, Bourbaki auf seinem Zuge zur Befreiung der Hauptstadt aufzuhalten. Grund­

lose Wege hätten gerade jetzt auch seinen Marsch erschwert.

Und eS schien,

als könne der Prinz nicht anders, wie den Gegner immer hitziger ver­ folgen, gegen welchen er, alle anderen Pläne aufgebend, fast feine ganze

Streitmacht

in Bewegung gesetzt hatte, ohne ihn bisher zur Schlacht

zwingen zu können.

Chanzh'S Armee war der Auflösung ebenso nahe,

wie die Bourbaki'S, ja nach den letzten Schlachten und Märschen theil­ weise gewiß noch in traurigerer Verfassung.

Gambetta mochte glauben,

daß die Erfolge, die sich hier dem Prinzen

scheinbar mühelos boten,

Anziehungskraft genug besitzen würden, um ihn höhere strategische Ziele

vergessen zu machen.

Noch einmal streckte er daher kühn und hoffnungsvoll

gerade zu der Zeit die Hand nach der Palme aus, wo neue Niederlagen und neues Mißgeschick große Hoffnungen für Frankreich zn Grabe getragen

hatten.

Darin, daß sich der Dictator unmittelbar nach so schweren Schlägen

hoffnungsvoll wieder erhob und er sich mit einem einzigen großen Wagniß an das Ziel feines Strebens zu versetzen trachtete, gleicht diese Epoche

derjenigen nach der Schlacht von OrlöanS. Eines berechtigte die Hoffnung auf den Erfolg.

Wenn die Armee

Bourbaki'S trotz ihres üblen Zustandes vordrang, und Prinz Friedrich

Karl, dessen Truppen ununterbrochen in Berührung mit dem Feinde ge­

blieben waren, dann in überstürzter Hast, zn einem Feldzuge im Osten umkehrte, konnte auch er nur mit sehr erschöpften Streitkräften ans den

entscheidenden Feldern anlangen. Der Gedanke, Paris nahe kommen, die Einschließungsarmee bedrohen

und vielleicht sprengen zu können, Chanzy aber zu gleicher Zeit von seinen

Verfolgern zu befreien, entflammte Gambetta'S ganzen Eifer.

„General," schrieb er am 17. December an Bourbaki,

„die letzte

Depesche Chanzh'S zeigt diesen General fast mit den gesammten Streit­ kräften der CorpS von Friedrich Karl, YeS Herzogs von Mecklenburg und

einer Colonne im Kampfe, die aus dem Enrethale kommt und deren Stärke

man nicht kennt"*). „Mehr denn jemals ist eS nothwendig, daß die energische Diversion, zu der Sie

entschlossen sind,

so lebhaft als möglich ausgeführt werde,

um durch den Marsch allein einen großen Vortheil über den Feind zu gewinnen."

»Ich glaube, Sie werden in Folge dessen, wie ich, der Ansicht sein, daß keine Minute zu verlieren ist und daß Sie eher daran denken, die

Bewegung gegen MontargiS zu unterstützen, als sie zu verzögern. Stellen Sie sich vor, welch ein Ruhm es für Sie sein würde, fast ohne einen

Schuß zu thun, bis Fontainebleau vorzudringen." „Aus guter Quelle bin ich informirt, daß kein Preuße in „Seine und Marne" steht. Man muß daher so schnell als möglich aus dieser Situation

Rutzen ziehen.

In Fontainebleau ist man — berücksichtigt man die Forts

und die vorgeschobenen Werke der Hauptstadt — nur 2 Märsche von Paris.

Ihre Truppen müssen ausgeruht sein, sowohl durch die Zeit, als, weil

sie seit acht Tagen keinen Feind gesehen haben." „Sie

haben junge und thatkräftige Corpscommandanten, die nur '

verlangen, vorwärts zu gehen.

Ihre Truppen selbst — obgleich sie jung

sind — werden in dieser Offensive die besten Eigenschaften der fränkischen

Race wiederfinden.

Sie werden zu ihnen sprechen, Sie werden eS ver­

stehen, ste fortzureißen"

. . .

„Ich kann nicht umhin, Sie zu drängen, fie zu quälen, so sehr fsthle

ich, wie kostbar die Minuten sind". ...

Am 14. Dezember, nach seinem kmzen Vormärsche bis Vierzon hin war Bourbaki aus seinem Hauptquartter Möhuu für Aävre nach Bourges

zum Kriegsminister gefahren.

Dort hatten

ohne Zweifel schon Bespr^

chungen über dieses Projekt stattgesunden und eS scheint hier aus Gam­ betta'» Worten hervorzugehen, daß Bourbaki mit dem ganzen Plane ein­

verstanden gewesen sei.

Doch dem kann nicht so sein; nur deS Dictator»

reiche Einbildungskraft, die sich da am thätigsten erwies, wo eS dis Er­

füllung seiner Wünsche galt, mag eS vorausgesetzt haben.

Bourbaki war auch jetzt nur halb entschloffen.

Er widersprach nicht

ganz, doch er hatte auch zu dem Unternehmen weder Lust noch Vertrauen

und suchte eS darum aufzuschieben.

Er sürchtete zumal, daß die in Chau­

mont, Chätillon für Seine und — wie er meinte — auch in Auxerre schon

versammelten deutschen Truppen sich, wenn er gegen Fontainebleau mar-

schirte, schnell in Bewegumg setzen würden, um ihm den Rückzug abzuschneide».

*) Es waren dies Theile Ler durch Gardelandwehrbataillone verstärkten 5. Cavalleriedivifion.

ThatsLchlich hatte er dort noch wenig zu fürchten, nur schwache Etappen­

garnisonen sowie das halbe 7. ArmeecorpS vermochten deutscherseits von

jener Seite her einzugreifen.

Er scheint diese Streitkräfte sehr hoch an­

geschlagen zu haben und war zumal deßwegen dem Unternehmen abhold.

Allein er setzte diesmal nichts durch.

wendungen am Ende mit einem

Gambetta schnitt seine Ein­

kurzen „il saut faire“ ab.

Es ward

vereinbart, daß er mit seinem Heere bei Nevers die Loire wieder über­ schreiten sollte, dann auf dem rechten Stromufer bis Gien marschiren und

von da nach MontargiS. Bourbaki, der über die Verhältnisse seiner Gegner auffallend schlecht orientirt war, nahm an, daß starke Theile der Armee

des Prinzen Friedrich Karl noch in Cosne ständen.

Er wollte diese Trup­

pen nun während deS ersten Vormarsches umgehen, im Rücken fassen und in den Strom zu werfen suchen.

Weiterhin dachte er seinen Marsch zwischen Loing und Donne auSzuführen, wo daö bedeckte, coupirte Gelände, ohne Querstraßen für den herankommenden Feind seinem Vorhaben günstig zu sein schien.

Der

Lauf deS Loing sollte ihn gegen den Prinzen Friedrich Karl, die Donne

ihn gegen die von Osten kommenden deutschen Truppen schützen. So baute er durch die Hinzufügung dieses Gedankens noch Gam-

betta'ö Pläne aus.

Der Dictator war mit allem einverstanden, wenn

ihm nur die Offensive zugesagt wurde.

Die Armee begann auch wirklich den Marsch.

Am 19. Dezember

nahm Bourbaki sein Hauptquartier in Baugh, seine 3 CorpS waren im Verrücken auf Revers. Dennoch sollte das Unternehmen auch jetzt nicht wirklich zur Aus­

führung kommen. ES schwebte über diesem Plane deS Dictators ein eigen­ thümliches Verhängniß. Bourbaki fürchtete, Prinz Friedrich Karl werde zwischen Chanzh'S und

seiner Armee hin und her marschiren, bald die eine, bald die andere schlagen und so Alles vereiteln.

Er wollte die Entfernung zwischen sich und dem

gefürchteten Gegner darum auch so groß wie möglich machen.

Er gab sich

nicht, wie Gambetta, der Hoffnung hin, daß der Prinz der II. Loirearmee in daS Unbegrenzte folgen werde. Damit behielt er Recht; hier, wo es sich nur um die einfache Be­

urtheilung einzelner militärischer Grundsätze und Nothwendigkeiten han­

delte, sah er weiter als der Dictator.

Prinz Friedrich Karl hatte während der letzten Tage sein Hauptquar­ tier im Schlosse von SuövreS gehabt, seine Armee war am 15. December auf der ganzen Linie von Moret bis vorwärts Vendöme mit Chanzh'S Truppen in Berührung gewesen.

Zahlreiche französische

Streitmaffen

standen jenseits des steilen und tiefen Flußthales in schnell verschanzten

Stellungen, überall auf große Batterien gestützt.

Auch vorwärts Bendöme

auf den Höhen von Sie. Anne und Bel-Essort hatte sie gut eingerichtete

feste Positionen inne. bevor.

Eine entscheidende Schlacht stand nach allen Anzeichen

Die im Lande

verbreiteten Nachrichten gaben für die einzelnen

französischen Colonnen, welche zum Loir gezogen waren,

ansehnliche Ziffern.

noch immerhin

der höheren

Aufgefangene Depeschen

französischen

Befehlshaber und Armeebeamten deuteten auf die Anwesenheit eines frischen feindlichen Corps, des 19., von dem man bei dem Bormarsche von Beaugench

her keine. Spuren entdeckt hatte, in den Stellungen hinter jenem Flusse. Schon einmal waren, kurze Zeit zuvor, dem feindlichen Heere unvermuthet

bedeutende HülfStruppen zugeflossen und hatten eS befähigt, nach eben er­ littener Niederlage, eine neue Waffenentscheidung anzunehmen. AehnlicheS konnte sich hier gleichfalls ereignen.

Prinz Friedrich Karl

traf deßhalb alle Anstalten zur Schlacht^ er befahl für den 16. December, daß seine Corpö sich mit allen

ihren Streitkräften versammeln und bis

zum Fuße der französischen Positionen heranrücken sollten.

Er ordnete

ferner an, daß die einleitenden Kämpfe gegen die vorgeschobenen franzö­ sischen Posten weiter durchgeführt würden, damit am 17. Dezember früh

der entscheidende Angriff

in den Morgenstunden

beginnen

könne.

Die

kurzen Wintertage gewährten für einen energischen Kampf nur wenig Helle Tagesstunden.

Dichter Nebel bedeckte in der Frühe dergestalt das Land,

daß sich Nichts mit Sicherheit unternehmen ließ.

Und mit den Kräften

der deutschen Armee mußte schon haushälterisch umgegangen werden.

Sie

hatte während der letzten Tage nahezu Unerträgliches durchgemacht.

Alle

CadreS waren ungemein zusammengeschmolzen, ganz neue militärische Be­ griffe bildeten sich heraus.

Die Armeecorps

waren

an Infanterie in

Reih und Glied nicht mehr so stark, wie Divisionen zu Beginn des Krieges. Die Divisionen glichen schwachen Brigaden.

Die Zahl der Offiziere hatte

sich noch über dies Verhältniß hinaus herabgemindert.

.Nach unaufhör­

lichen Märschen und Gefechten war zumal bei den Truppen des GroßHerzogs die Erschöpfung eine hohe.

Nur mühsam rafften sich die braven

Soldaten auf, um immer noch alle Anforderungen zu erfüllen, die man

an sie stellte.

DaS Alles erheischte doppelte Vorsicht und Gründlichkeit. Gerade alS aber Alles für die entscheidende Schlacht bereit gemacht

wurde, traf in SuövreS die Nachricht ein, die Bayern feien aus Gien

verdrängt worden.

Ebenso, wie Gambetta eS verlangte, daß Bourbaki

vorwärts marschire, um Chanzy dadurch der Verfolgung zu entziehen, ebenso sicher erwartete man auch im deutschen Hauptquartier, daß eS geschehen werde.

Näher lag indessen noch die Gefahr für den Besitz von OrläanS, wo sich da-

schwache v. d. Tann'sche CorpS nimmermehr lange gegen die ganze fran­ zösische Armee behaupten konnte, zumal wenn der Angriff von Osten her auf dem rechten Loireufer ausgeführt wurde.

Die Wiedereroberung von

OrläanS aber würde noch davon begleitet gewesen sein, daß dem Feinde seine vor kurzem verlorenen schweren Geschütze und Tausende von deut­

schen Soldaten, welche krank oder verwundet in den Lazarethen von Or­ leans lagen, in die Hände fielen.

Die Einnahme einer Stadt, um deren

Besitz aber Prinz Friedrich Karl wmige Wochen zuvor mit allen seinen

Streitkräften eine Schlacht geschlagen hatte, würde der französischen Na­ tion für einen großen Sieg gegolten haben.

alSdann gezwungen zurückkehren müssen.

Der deutsche Feldherr hätte

Er beschloß deshalb zwar, die

Schlacht am Loirflusse, wenn Chanzy Stand hielt, bis zur letzten Ent­

scheidung durchzufechten, gleich darauf aber mit dem größeren Theile seiner Armee wieder an die mittlere Loire zu marschiren. General Chanzy hielt nicht Stand. Schon die Gefechte mit den Avant­ garden der II. deutschen Armee hatten auf seine Truppen einen großen

Eindruck gemacht.

Noch in der Nacht vom 15. zum 16. December hielt

er zwar an dem Gedanken fest, den entscheidenden Kampf zu wagen, als aber gegen Morgen immer düsterer gefärbte Berichte einliefen, als selbst der Commandeur des 16. Armeecorps, Admiral Iauröguiberry, auf den

er ganz besonderes Vertrauen setzte, ihm erklärte, daß der Kampf unmög­

lich sei, da gab er nach. Am 16. December fand Prinz Friedrich Karl die französische Armee

im vollen Rückzüge vom Loir gegen die Sarthe hin.

Den nachsetzenden

Truppen vom 10. Armeecorps fielen noch 7 Geschütze und einige hundert Gefangene in

die Hände.

In Eile und Auflösung begannen fich die

feindlichen Colonnen in das unübersichtliche Hügelland zurückzuziehen.

Ge­

neral Chanzy selbst berichtet, daß Le ManS der allgemeine Anziehungs­ punkt für feine Truppen geworden wäre.

Die Aussicht auf einen Entscheidungskampf war verschwunden und

ohne jedes Zögern überließ der Prinz nun dem Großherzoge, dem 10.

Armeecorps und der 1. Cavallerie-Division die Verfolgung und setzte

seine Armee wieder nach OrlsanS in Bewegung.

Noch

an demselben

Abend begann der so berühmt gewordene Eilmarsch des 9. Armeecorps, der dieses Corps schon am Nachmittag des 17. December das Ziel er­

reichen ließ.

Am 19. December aber, als Bourbaki säumig seine Be­

wegungen begann, stand der Prinz bereits mit zweien seiner ArmeecorpS bei OrläanS bereit.

Er hatte die Besetzung von Gien durch den Feind für die Einleitung

Leon Gambetta und die Loirearmee.

59

zu dem Feldzuge der I. Loirearmee zwischen Donne und Loing gehalten.

War jenes Ereigniß thatsächlich auch nur aus einem isolirten Unternehme« hervorgegangen,

so

täuschte man sich

im deutschen Hauptquatier

über

Gambetta'S wahre Absichten, wie es hier dargelegt worden ist, dennoch nicht. Zu seinem Staunen mußte der kühne Dictator abermals erfahren,

daß seine Pläne von seinem Gegner erkannt und durchkreuzt seien, noch ehe ihre Ausführung ernstlich begonnen hatte.

Der Zug über Montar-

giS und Fontainebleau, auf den er so glänzende Hoffnungen gesetzt hatte,

sollte nichts bleiben, als ein Luftschloß, an dem sich sein thatendurstigeS

Herz wenig Tage erfreut hatte. Er sah die Nothwendigkeit ein, seine Pläne zu ändern, denn ganz aufgeben mochte er den Gedanken einer neuen Offensive auch jetzt noch

nicht.

AuS dem eben gescheiterten Entwurf wurde nun derjenige zu dem

Ostfeldzuge gegen General von Werder, welcher Frankreich'» letztes großes

Unglück in diesem Feldzuge herbeiführen und des Dictators Ansehen im Lande den ersten wirklich empfindlichen Stoß versetzen sollte. Der Loirefeldzug war hiermit zu Ende; Frankreich hatte wahrhaft

ungeheure Anstrengungen zu seiner Durchführung gemacht und dennoch erndtete eS jetzt nur eine Fluth von Trümmern.

„Ein großer Aufwand

war schmählich verthan."

Frh. v. d. Goltz.

Nordalbingische Studien. Die im vorigen Jahre erschienenen Vorlesungen Dahlmann- über

die Geschichte Ditmarschen- wurden im Winter 1826 gehalten, als er mit der Herausgabe der Chronik deS NevcoruS beschäftigt war.

Sie bie­

ten wie der Herausgeber sagt „die Resultate der Forschungen, die in den Excursen zum NevcoruS gegeben, in leichter, Zusammenhänge der Begebenheiten eingereiht."

übersichtlicher Form

dem

Man erkennt auch hier,

wie bei Dahlmann seine Docenten- und Gelehrtenthätigkeit so eng und

productiv mit einander verbunden waren.

Der Herausgeber, der Director des Gymnasiums zu Meldorf, Dr. Kolster, einer der scharfsinnigsten und gelehrtesten Kenner deS alten Ditmarschen,

hat sich aber durch diese Arbeit ein doppeltes weiteres Verdienst erworben.

Die Dahlmannsche Darstellung, die nur bis 1559 reicht, ist bis zum Ende

deS dreißigjährigen Krieges fortgeführt worden, so daß man die Umbildung der alten republikanischen Verfassung zur Landesverfassung der folgenden drei Jahrhunderte übersieht, die erst jetzt durch die Preußische KreiSverfaffung verdrängt wurde.

Dann aber hat der Herausgeber mit seltener aber wohlbegründeter Pietät zu der originalen Darstellung die Resultate der neueren Forschun­ gen hinzuzufügen versucht,

seine eignen wie die Ergebnisse überhaupt,

welche die große Bewegung gerade ans dem Gebiet nordelbischer Geschichte seit Dahlmanns Arbeit herbeigeführt hat. Die Aufgabe war nicht leicht, aber man wird der hier vorliegenden

Lösung seine dankbare Zustimmung nicht versagen können.

DaS

Buch

vergegenwärtigt unö mit seltener Lebendigkeit diese ganze reiche wissenschaft­ liche Bewegung.

Im gewissen Sinne wird man sagen dürfen, daß die dänische Gesammtmonarchie im Anfang dieses Jahrhunderts die Voraussetzung der historischen

Arbeiten Dahlmanns war.

Sie umfaßte von Island bis Ditmarschen eine

merkwürdige Gruppe nord- und südgermanischer Bildungen.

Der Gegensatz der Isländisch-Norwegischen und der dänischen Ueber­

lieferung, der nordischen und der sächsischen Rechtsinstitute machte dieses

Eonglomerat so verschiedener Nationalitäten und Stämme zu einem für

geschichtliche und namentlich rechtshistorische Studien

Boden.

überaus ergiebigen

Man braucht nur an P. E. Möllers und Dahlmanns Arbeiten

über Saxo, an Kolderup-Rosenvinges und Falcks rechtshistorische Arbeiten zu erinnern um klar zu machen, wie lebendig die Wechselwirkungen, wie reich die wissenschaftliche Anregung dieser Atmosphäre waren. war der volle und lebendige Repräsentant dieses Lebens.

Falck selbst Es sind die

Interessen und die Gegensätze der verschiedenen Erscheinungen selbst, die eS Hervorrufen.

Bon einer Schule und ihrer Methode kann hier nicht

gesprochen werden, der seltene Reichthum verschiedener Anschauungen reist in dem Einzelnen und in dem ganzen Kreis die wiffenschaftliche Kritik

und Combination. Wie sehr Dahlmann durch diese Einflüsse gebildet, wie er ganz ihnen

gerecht geworden war, daS beweist die größte historische Arbeit seines Lebens,

die Geschichte Dänemarks und die zum Theil widerwillige Anerkennung, welche sie selbst in Dänemark fand.

Die eigenthümliche Fassung der Aufgabe, in

die er Norwegen und JSland vollständig mit hineinzieht, das tiefe Eingehen

auf die Rechts- und BerfaffungSgeschichte, wie sie einen Grundzug jener dänischen Studien bildet, und endlich die Freiheit und Unbefangenheit der

ganzen Auffassnng waren allerdings durch seine wiffenschaftliche und sitt­

liche Individualität bedingt, aber zugleich die Consequenzen jener früheren für ihn so einflußreichen Berhältniffe. AIS er das Buch schrieb, war er längst aus der Gesammtmonarchie

geschieden, aber gerade deßhalb ist diese wiffenschaftliche Leistung für daS Gesagte um so bezeichnender.

Der wissenschaftliche Boden, auS dem er

die Keime dazu mitgenommen, war hinter ihm untergegangen.

Natürlich,

würde man auf dem Wege der weiter fortschreitenden Forschung auf dem­ selben endlich auch an dem Resultat angelangt sein, daß die bestehenden

politischen Formen mit den hier vorliegenden inneren politischen und nqtio-

nalen Thatsachen unverträglich seien.

Aber bekanntlich ging die Entwick»

lung nicht diesen Weg: die Fehlgriffe einer sowohl unwiffenschastlichen wie

unpolitischen Nationaleitelkeit, einer weder ehrlichen noch geschickten StaatS» tunst störten wenn auch erst leise den Frieden dieses internationalen wiffen-

schaftlichen Verkehrs, noch bevor Dahlmann in denselben eingetreten war.

ES ist interessant zu sehen, wie die so wach gerufenen politischen Interessen in ihrer unabweiSlichen Berechtigung von Jahr zu Jahr der ruhigen wissen­ schaftlichen Debatte immer mehr Boden entziehen: wie dagegen daS Gefühl

jener alten wiffenschaftliche» Gemeinsamkeit immer wieder bei Männern wie Falck und Oerstedt retardirend und calmirend auf die Verhandlungen ein» wirkt, tote der ehrlichste und begabteste Vertreter der deutschen Jntereffen,

Jen- Uwe Lornsen die langen Jahre seines Exils daran setzt, um diesen Ge­

gensatz der wissenschaftlichen und politischen Debatte durch eine Untersuchung und Darstellung zu bewältigen, der die sittliche und intellektuelle Energie

des Verfassers noch heute einen so unwiderstehlichen Ton verleiht. Wie man auch sonst über LornsenS „UnionSverfaffung Dänemarks

und Schleswig-Holsteins" urtheilen mag, unzweifelhaft bezeichnet daö Buch die Epoche, von der an sich die wiffenfchaftlichen und die politischen Käm­

pfer auf beiden Seiten immer mehr zu einer festen Phalanx zusammenschließen und dadurch die Wucht deS Kampfes sich mächtiger als vorher

steigert, bis er, auf den großen „Kampfplatz der europäischen Politik" über­

tragen durch die Einwirkung neuhinzutretender Mächte entschieden wird. ES war vollkommen erNärlich, wenn Männer wie Oerstedt auf dä­

nischer, Falk auf Schleswig-Holsteinischer Seite, je hitziger der Streit

entbrannte, mit tiefer innerer Ueberzeugung nicht allein an der Berechti­ gung, sondern auch an dem Segen jener alten Gemeinsamkeit festhielten, die für sie und ihr ganzes -wissenschaftliches Leben von so großer Bedeu­ tung gewesen. Wir dürfen eS heute anerkennen, daß durch diese Bewegung in jener Gemeinsamkeit eben jener Fruchtboden eines reichen wiffenschaft-

lichen Lebens zerstört wurde. Der volle Eindruck dieser Zerstörung ist freilich für die heutige Ge­ neration durch den Umstand verwischt, daß gerade in jenen Jahren die Arbeiten der neuerstehenden deutschen GeschichtSwisienschaft dieses Gebiet

erreichten, auf dem sie jetzt seit Jahrzehnten nach allen Seiten hin ihre

neugeschaffene und so sicher vorschreitende Methode zur Geltung gebracht haben. In wie engen persönlichen Beziehungen auch Lappenberg und Waitz

zu Dahlmann und Falck standen, der Unterschied zweier verschiedenen wissenschaftlichen Atmosphären ist doch hier und dort unverkennbar.

Ein

Blick in die Reihe der Falckschen Zeitschriften und die von Waitz edirten

„Nordalbingischen Studien" genügt, um das zu erkennen.

Die kritische

Exactheit in der Feststellung der Ueberlieferung und der Berwerthnng der

Thatsachen, die unbedingte Forderung eines wirklich vollständigen und ganz gesichteten Material- ist doch wesentlich verschieden von jener unbefangenen genialen Sicherheit, mit der Dahlmann die großen Massen der Islän­

dischen und der Dänischen Ueberlieferung kritisch gegeneinander stellte und so seine Resultate zog.

Es war eine überaus glückliche Fügung, daß auf dem Boden, den

Dahlmanns tiefer historischer und politischer Sinn zum ersten Mal gleich­

sam wieder für nationales Leben aufgebrochen, durch Waitz' Berufung uach Kiel und feine unmittelbare Betheiligung an jener neuen Wissenschaft-

lichen Entwicklung die kritische Bearbeitung dieses ganzen Geschichtsfeldes

so wesentlich gefördert ward. Man braucht nur an daS zu erinnern, was Waitz'S und UsingerS Ar­

beiten für die Kritik der älteren Dänischen Annaleu, waS Biernatzki's Forschun­

gen für die ältere Holsteinische Ueberlieferung geleistet haben, um zu begreifen, daß von LappenbergS ersten Arbeiten

bis zu den großen Publicationen

dieser Jahre, dem Meklenburgischen und Lübschen Urkundenbuch und der

Herausgabe der Hansarecesse hier ein ganz neuer Grund für die historische Darstellung gelegt ist. In den Jahren, wo jene alte wissenschaftlich so bedeutsame Berbin-

bung mit Dänemark zerriß, breiteten sich die Arbeiten deutscher historischer Kritik neubelebend über die Ostseegebiete a«S. Die Thatsachen einer für unser nationales Leben so wichtigen Geschichte, wie die der westlichen Ostseelande ist, erhalten mit dem Fortschreiten die­

ser Publicationen ein neues Licht: es wird möglich, auf diesen neueren und festeren Grundlagen Gesichtspuncte wiederzugewinnen, die zum Theil erst in der tiefen nationalen Bewegung der letzten Kämpfe verloren gegangen

waren. Bor Mem gewinnt man, wie uns scheint, durch den Reichthum der Lübscheu und Hansischen Publikationen für den Zusammenhang und das innere

Verhältniß

dieser Gebiete sehr

wesentliche neue Haltpuncte.

Die Ge­

schichte Holsteins, für die jetzt erst eine sichere genealogische und chrono­ logische Grundlage geschaffen, tritt dann auch von dieser Seite her in ein

neues Licht, diese ganze Gruppe politischer Mächte und Verfassungen er­

scheint immer deutlicher in ihrer singulären Gestaltung. Man wird zugeben müffen, daß eS hier kaum so möglich sein würde,

die großen und kleinen Züge der Dahlmann'schen Darstellung für die Ge­

schichte dieser Verhältnisse so festzuhalten, wie Kolster eS bei der Ditmarsischen Geschichte konnte.

Schon als Waitz vor mehr alS 20 Jahren die

damals gewonnenen Resultate in der Geschichte SchleSwig-HolsteinS zu­ sammenstellte, Materials

und

war daS so nicht mehr möglich. neuer

Und welche Fülle neuen

Resultate ist seitdem hinMekommen!

In

dem

nachfolgenden Aufsatz ist der Versuch gemacht, im Großen daS Bild der

Nordelblschen Geschichte, der Holsteinischen wie der Lübischen und Dit-

marsischen so zu umreißen, wie es sich auf Grund dieser stets fortschrei­

tenden Forschungen augenblicklich zu reichen*).

gestalten

scheint,

soweit sie

eben

DaS Lübsche und Schleswig-Holsteinische Urkundenbuch, die

*) Für einzelne ihm eigenthümliche Ansichten, die Mw Theil in der folgenden Dar­ stellung berührt sind, verweist der Verf. auf folgende von ihm früher publicirten Untersuchungen. „Der Holsteinische Adel im XU. Jahrh." Allg. Monatsschrift Mai 1854. „DaS Sächsische Heergewäte" Jährst, f. d. Landeskunde der Herzog-

Nordalbingische Studien.

64

Hansarecesse, haben das Ende des 15. Jahrhunderts vollständig oder doch

fast erreicht, das Mecklenburgische noch nicht die Mitte deffelben. Es ist doch von Interesse in Mitten dieser Bewegung zu erkennen, wie die Umrisse jener Jahrhunderte sich zum Theil schärfer zum Theil

anders darstellen als früher, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, daß

auch so nicht noch manche unklare und nebelhafte Stelle bleibt.

Eins

aber darf unbedingt hier hervorgehoben werden, der Eindruck von unmit­ telbarem Leben und tiefer historischer Wahrheit, den auch bei einer solchen

Betrachtung Dahlmanns dänische Geschichte noch immer bietet.

I. Die Sachsen zwischen Elbe und Eider waren zur Zeit Karls des Großen die einzigen Germanen des rechten ElbuferS, die vor dem un­

widerstehlichen Andrang der Slaven nicht ihre alten Sitze geräumt hatten. Karl selbst fand bei ihnen den letzten und zähesten Widerstand; nach­ dem er ihre Bundesgenossen im Süden Ringen

unterworfen,

der Elbe in jahrzehntelangem

richtete er zum Schutz dieser unsicheren Gebiete

vielleicht die Dänische, jedenfalls die Sächsische Mark im Norden und

Osten der drei jüngsterworbenen Gaue auf. Nach dem Tode des großen Kaisers begann die Bewegung der Dä­

nischen Seezüge, die auch die Elbmündung traf:

gleichsam am Schluß

derselben, nicht mit den Waffen, sondern durch Vertrag erwarb der letzte

und größte König der Wikingerflotten die nördliche der beiden Marken,

die Gaue selbst blieben in ihrem alten Bestand.

Schon aus diesen Thatsachen wäre zu schließen, daß hier mitten in

den großen Metamorphosen unserer früheren Geschichte sich ein Rest jener älteren und ältesten Bildungen erhielt, welche fast überall sonst sich ent­

weder verschoben oder vollständig verschwanden.

Und dieß war in der

That der Fall.

Ehe die Dänen vom Norden bis au die Schlei und die Slaven vom Osten bis an die Kieler Bucht und die Sventine vordrangen, saßen im Norden der Schlei die Angeln, im Süden der Elbe die Longobarden als

nächste Nachbarn dieser Nordelbischen Germanen.

Eben nur bei ihnen

und diesen ihren Nachbarn erscheinen eine Reihe von Instituten und Ge­

walten, die zur Zeit deS TacituS bei allen, in der nachtaciteifchen Zeit bei den übrigen Germanen nicht nachzuweisen sind.

Nur hier in dieser

thlimer. Bd. I. „Geschichte der Ditmarsischen Geschlechterverfaffung" ebd. Bd. HI. „Schleswig, Soest und Lübeck" ebd. Bd. V. „Da» Taufbecken der Kieler Mcvlaikirche" Kiel 1858.

Völkergruppe steht der königlichen Gewalt und ihrem Unterbeamten dem

Grafen eine andere gegenüber, die des Herzogs oder des LandeSältesten.

„Wol empfängt" sagt Sohm „der Longobardische Herzog und der Angel­

sächsische Ealdorman sein Amt aus der Hand des Königs, aber sein Amt ist nicht Dieneramt, sondern Herrrenamt, die herzogliche Gewalt ist bei

den Longobarden und Angelsachsen nicht durch das Königthum hervorge­ bracht, sondern älter als das Königthum."

Dem entspricht die Stellung,

welche bei den nordalbingischen Sachsen noch des 12. Jahrhunderts der

Ealdorman dem König und dem Grafen gegenüber einnimmt und wieder

dieser Stellung

der Gewalten gemäß kennt die Berfassung der Angel­

der Nordelbinge ein

sachsen und

wirkliches „Staatsgut"

im Gegensatz

gegen das Königsgut, ein öffentliches Vermögen, daS nicht allein unter der Verfügung des Königs steht.

ES ist

ein vollberechtigter Schluß,

wenn wir

diese gerade

dieser

Völkergruppe eigenthümlichen Institute auf die Zeit zurückführen, wo sie noch vom Süde« der Elbe bis an den Belt hart nebeneinander saßen,

d. h. in die Zeit,

ehe die Longobarden ihre lange Wanderung gegen den

Süden, die Angelsachsen die Reihe ihrer siegreichen Seezüge gegen Brit-

tannien

Bei beiden setzte sich der Kampf und das Ringen

eröffneten.

dieser Gewalten sowol im Süden der Alpen wie auf den Brittischen In­ seln fort: eS nahm im Verlauf jener großen und glückhaften kriegerischen

Unternehmungen größere und neue Formen an, aber auch bei den Nord­

albingen dauerte der Gegensatz fort und die Landesältesten und das Volkland der drei nordelbischen Gaue erscheinen im 12. und 13. Jahrhundert

nur als die Reste derselben alten Verfassung, die in Italien unter der Brittannien

unter der Normännischen Eroberung zu

Karolingischen,

in

Grunde ging.

Die Nordelbinge bildeten

ihre königliche Gewalt nicht

auf großen Wanderungen aus; als die Eroberung Karls sie der Frän­ kischen Reichsgewalt unterworfen hatte, erst in den letzten Jahren seiner

Regierung gestaltete sich der Zusammenhang mit diesem Königthum die Länge so

locker

und blieb die Stellung der Gaue auch später

auf so

eigenthümlich, daß hier die Gewalt des königlichen Grafen noch im 12.

Jahrhundert so schwach und die des LandeSältesten so stark war wie in den Zeiten, als die Angeln und Sachsen nach Brittannien segelten.

ES ist nicht die Aufgabe dieses Versuch» zu erörtern, wie diese Stä­ tigkeit der Nordellbischen Verfassung

möglich war.

Es genügt an dem

Gesagten um darauf hinzuweisen, wie alt wir uns die Zustände denken müssen, in welchen Holstein, Stormarn und Ditmarschen uns in der ersten

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft i

5

Schilderung eines einheimischen Geschichtsschreibers,

des Pfarrers Hel­

mold zu Bosau, um 1170 erscheinen.

Bildete damals noch die Elbe von Böhmen bis zur Nordsee die lang­ gedehnte Grenzlinie gegen daS Slavische Gebiet, so lagen diese drei Gaue

eine

wie

vorgeschobene

Bastion

im Norden derselben,

im Westen und

Süden durch die Elb- und Seemarschen gedeckt, im Osten in beständiger

und

Kriegsverfassung

Kriegserwartung

gegen die feindlichen Nachbarn.

Noch die Aufzeichnungen aus dem Schluß des

12. Jahrhunderts zeigen,

daß dieser stehende Krieg mit einer Unmenschlichkeit und Grausamkeit geführt wurde wie der der Weißen gegen die Rothhäute des Amerikanischen Westen. Die äußersten Vorposten dieser Stellungen bildeten seit Jahrhunderten

die Holsteinischen Adelsgeschlechter in ihren Sitzen vom heutigen Neumünster bis Bordesholm,

an und auf den Haiden und Wiesen der oberen Eider.

Aber auch für den Bauern war der Krieg und der Raubzug sein halbes

Leben, der Wald und die Haide, in die er nur oberflächlich hineinrodete, voll von alten Göttern und Dämonen, das Feld nie abreißender Ueberfälle und Gewaltthaten.

Nehmen

die Stöße

und

Gegenstöße

dieses

Grenzerlebens

größere

Dimensionen an, so sehen wir die westlicheren Gaue, Stormarn und Dit­ marschen

in gleicher Bewegung zu

Holsteinern vereinigt,

größeren

Unternehmungen mit den

ja aus den alten Longobardensitzen, dem Barden­

gau, die Zuzüge gegen die Slaven aufgeboten und geleistet. Aus

der Art und dem Gang eben dieser Fehden erklärt sich zum

Theil die lange Dauer jener Verfassung.

Der Sitz des Landesältesten ist unter dem Grenzadel, mit ihm trägt er die Last und erntet er die Erträge dieses stehenden Kriegs;

von der

alten Karolingischen Verfassung der Grenzmark ist jede Spur verschwun­ den, aber unzweifelhaft hatte eben diese Verfassung den alteinheimischen Ge­

schlechtern und Gewalten den Boden gegeben, auf dem sie Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert so tiefe und feste Wurzeln trieben.

Nur wenn die Unternehmungen größerer Kräfte bedurften und die

ganze Macht der nordelbischen, ja auch südelbischer Gebiete beanspruchte, bedurfte es einer Vertretung der königlichen Heeresgewalt, und hier lag

die Thätigkeit,

in welcher die gräfliche Gewalt früher der Ludolfinger,

der Billunger den Landesältesten gegenüber sich

dann

ausgebildet

und

als Vertreterin des Königthums die herzogliche Würde behauptet hatte. Der unklare Begriff, die schwankende Haltung dieses Sächsischen HerzogthumS erklärt sich aus seiner unsichern Stellung im Norden der

Elbe,

wo

eS bis zu den Tagen Heinrichs des Löwen der Grafenämter

immer, pber der Landesältesten nur zeitweilig mächtig gewesen war.

Eben

deßhalb stand die Bevölkerung dieser Gaue fast unabhängig

zwischen jenen beiden Gewalten und erhielt sich hier so lange das Recht

jedes Freien, sich für Krieg und Fehde dem „hlaford“ oder „Herren" seiner Wahl als Gefolgsmann anzuschließen, was die Angelsachsen jenseits

des Meeres „hlafordt socn“ nannten.

Vollständig jedoch

wird

das

Bild dieser stillstehenden und Jahr­

hunderte wild wachsenden Verfassung erst dann, wenn wir nicht übersehen, daß

ehe

Konrad II.

die dänische Mark zwischen Schlei und Eider den

Dänen überließ, der Schleihafen von Schleswig und seine Verfassung ein wesentliches Glied ihres wirthschaftlichen und politischen Lebens bildete.

Die städtische Gilde und das Stadtrecht dieser „nordelbischen Gemeinde", Städteverfassungen,

erinnert unS

daran, daß einst das Leben der Nordelbinge keineswegs

allein in den

vielleicht das

Urbild der Englischen

Interessen emeS wilden und halbbarbarischen Bauern- und Kriegerlebens aufging,

sondern

daß hier dem friedlichen Verkehr eine geschützte Frei­

statt bereitet ward, ehe die Dänen von Norden her durch das verlaffeue

Gebiet der Angeln bis an die Schlei und diesen ihren Markt vorrückten. Diese Occupation und später jene Abtretung der Dänischen Mark

rissen Schleswig, wenn es auch Adam von Bremen noch einen Ort der überelbischen Sachsen nennt, mit den

aus dem alten nationalen Zusammenhang

südlicher liegenden Gauen, die Dänische Mark, die den Markt

von seinen alten Gründern trennte, erscheint im 12. Jahrhundert als ein

wüstes und unheimliches Grenzgebiet,

nördlich derselben ist eben dieser

Markt eine Dänische Stadt geworden, südlich sind Holsteiner und Stor-

marer in eine vollständig antistädtifche Cultur zurückgesunken. Allerdings lagen hier zwischen Ost- und Westfee

an

der'^ unteren

Elbe das Sächsische Bardewik, an der Schlei das neue Dänische Schles­ wig,

an

der Wagrischen Küste das Slavische Stargart,

oder wie die

Deutschen es nannten, Altenburg, aber zwischen diesen Plätzen, die gleich­

sam berufen schienen, die Zwischenglieder zweier großer HandelSgebiete zu bilden, konnte auf dem wüsten Haide-, Wald- und Marschland der drei

Nordelbischen Gaue

unter einer halbwilden und fast unabhängigen Be­

völkerung sich der Verkehr nur unsicher entwickeln.

Wir wollen die mannigfachen Versuche zur Ordnung dieser Verhält­

nisse nicht betrachten, welche bald von Slavischer, bald von Deutscher, zuletzt von Dänischer Seite gemacht wurden.

Immer wieder fielen sie

in die alte Barbarei zurück, bis Heinrich des Löwen gewaltige Hand den Hebel seiner Macht mit kluger Berechnung endlich so ansetzte, daß eS ihm 5*

gelang, den Widerstand all der verschiedenen alten Kräfte zu brechen und

auf dem so geklärten Boden dann einer neuen Cultur Raum zu ES war eine Heroenarbeit;

die Art und Weise,

schaffen.

in der sie auöge-

führt wurde, das Maaß, bis zu welchem sie vollendet ward, das Stadium, iu dem dieser TheseuS NordalbingienS seine Hand von seinem Werke zurück­

ziehen mußte, sind für die ganze folgende Geschichte des Gebiets bestim­ mend geblieben.

Als Heinrich in die Verwaltung Sachsens

eintrat standen sich in

Holstein und Stormarn jedenfalls Landesältester und Graf noch wie zwei feindliche Gewalten gegenüber,

dieser ein Vertreter der nicht

jener an der

Spitze

des

Landesadels,

einheimischen königlichen und herzoglichen

Gewalt, in Ditmarschen rang die Grafengewalt mit den Landesgewalten,

von denen wir nicht den Landesältesten, wol aber den Adel und die Gau­ gemeinde „das Heer" erkennen können.

In allen drei Gauen bestand

daS Recht des freien Gefolgs des „hlafordt socn“ ungebrochen, in allen gab eS ein „Bolkland" über das die Gaugemeinde verfügte. Heinrich hat die Gewalt der Landesältesten unter die des Grafen

herabgedrückt, er hat das Recht des fteien Gefolges gebrochen, aber er hat

die Stellung deS Adels sonst bestehen lasten.

Ebenso ist daö Recht der

Gaugemeinde über daö Bolkland, ja über eine Reihe andrer Gegenstände zu verfügen in seiner alten Bedeutung von ihm anerkannt worden.

Aber

indem auf diesem Volkland, an Stör, Elbe und Nordsee eine Reihe ein­

zelner Neugründungen erfolgten, ließ der Herzog daS Wagrische Gebiet

an der Ostsee den Grafen und förderte durch seinen mächtigen Schütz die Colonisation, die in der Hand Adolfs II. die Slavischen Grenzlande über­

raschend schnell mit deutschen „Markmannen" bevölkerte.

Indem durch

diese Ansiedelungen die Slaven hinter die Wagrische Seenkette an

die

Ostsee zusammengedrängt wurden, ein willenloses Werkzeug in der Hand

des Herzogs, ging dadurch jener uralte Grenzkrieg, jener Zustand bestän­ Fehde, das Lebenselement der alten Nordelbischen Gauverfassnng

diger

nicht so rasch, wie wir gewöhnlich denken, aber er ging seinem Ende ent­

gegen.

Gerade dadurch sank die Bedeutung der bisher mächtigen Grenz­

geschlechter. Die Colonieen der Friesen, Holländer und Westfalen lagerten sich ihren Grenzersitzen wie neue Bollwerke vor, an

denen sich in der

ersten Zeit wenigstens die Kraft der Slavischen Einfälle brach, die dann

aber mehr und mehr, je weiter ihr Pflug und sein tiefgebrochenes Acker­ land sich ausbreitete, dem

alten Grenzerleben dieser Gaue den Boden

und die Gelegenheit entzogen.

Es geht ein Zug tiefer Berechnung durch diese Neuordnungen:

der

hewußttp Hebung der gräflichen Gewalt entspricht die rücksichtslose Ent-

schiedenheit in der Behandlung der neugegründeten Kirchen und BiSthümer,

dieselbe Politik, die dem deutschen Colonisten Raum auf Slavischen Boden

schafft,

läßt

diese gehetzten

und

zurückgedrängten Slaven im gelegnen

Augenblick zu neuen Raubzügen gegen die Dänischen Inseln los.

Die

Begeisterung kirchlicher Mission, die arbeitsfrohe Unternehmungslust des niederdeutschen Bauern, der kriegerische Stolz deS alten LandeSadels und

alle diese ver­

der Rachedurst der dem Untergang geweihten Slaven:

schiedenen Regungen sind für den großen Welfen nur dienstbare Kräfte, mit denen er,

eine durch die andere

seiner weit­

in Schach haltend,

schauenden StaatSkunst ihre Wege bahnt.

Aber wie deutlich das auch

alles ist, nirgends tritt uns die Sicherheit der Ziele, die Klarheit der Aufgabe und die gerade auf ihre Durchführung gerichtete Kraft so schla­

gend entgegen wie in der Gründung des neuen Markts, auf dem er die Er­ träge aller dieser neuen Gründungen nicht mittelbar, sondern unmittelbar

für sich einzuziehen entschlossen war.

Der Gedanke, an der westlichsten

Bucht der Ostsee den Verkehr derselben mit dem Binnenlands all Einem

Brennpunkt für sich auszubeuten, bewegt ihn Jahre lang: scheint eS ihm

zuerst genügend, sich mit den Holstein'schen Grafen in dem Zoll seines Marktes Lübeck zu theilen, so schreitet er dann zu dem Plan eines eignen herzoglichen Marktes vor, bis er endlich durch sein rücksichtsloses Drän­

gen, immer dies Eine Ziel im Auge, Adolf II. zwingt,

Markt zwischen Trave und Wakenitz ganz abzutreten.

ihm

eben jenen

Sobald dies

er­

reicht, erhält der eben erworbene Platz die Rechte und Ordnungen von Soest, unter welchen nach den Erfahrungen seiner Zeit die rascheste und kräftigte Entwicklung des Verkehrs zu erwarten war.

Damit trat zwischen Bardewik, Stargart und Schleswig ein vierter

Markt, der, nach dem ganzen Zug der Politik Heinrichs, von Anfang an berechnet war, auf dem von ihm neu geklärten Cultukboden die Einflüffe eines gesicherten und möglichst geförderten Verkehrs, zu entwiche!« und gleichzeitig auf die einzuwirken.

Ausbildung der gejammten Berhältniffe

segensreich '

Können wir auch mit dem ältesten Recht Lübek'S das von Bardewik und Stargart nicht vergleichen,

so steht die Verfassung Schleswigs so

deutlich vor uns, daß ein vergleichender Blick genügt, um zu erkennen, wie der Markt des Sächsischen Herzogs an der Trave nur darauf ange­

legt ward, den des Dänischen Königs an der Schlei zu«überflügeln.

Dem

wesentlich königlichen Schleswig gegenüber erscheint der Traveplatz von Anfang an, wenn auch unter dem Vogt des H«rzogS, doch in auffallender

Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

Bon jenen Diensten

und Rechten,

welche dort die königliche Hofhaltung sich vorbchielt, hier keine Spur, statt

des beschränkten Marktfriedens, den dort der einzelne Kaufmann,beim

König nachsuchen muß, hier der allgemeine Marktfrieden der Sächsischen Märkte, , am. Ufer der Schlei eine knapp zugemessene Freiheit der Ufer­

nutzung, an der Trave Wald und Weide zu beiden Seiten des Flusses in freigebigster Weise den Bürgern deö neuen Markts gestattet.

ES ist hier nicht der Ort zu erörtern, iy welcher Weife Heinrich

sonst das Recht des Deutschen Kaufmanns auf der Ostsee gefördert, es genügt hervorzuheben, daß auf Grund seiner Ordnungen Lübeck, des Her­

zogs neue Stadt, so überraschend schnell nicht zu einem, sondern zu dem Mittelpunkt des Sächsischen Ostseeverkehrs emporwuchs. Im Lauf weniger Jahrzehnte überholte die kaufmännische Colonie die alten Nachbarplätze,

die bäuerlichen Colonien des benachbarten Wagrier- und Polabenlandes und die neugeordnete Cultur der Nordelbtschen Gaue.

AuS dem einfachen kaufmännischen Marktort wird eine Stätte städti­ scher Cultur, der sich bis nach Cöln hin schon am Ende des 12. und

in den

ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts keine andere

chen läßt.

verglei­

Neben Aufzeichnungen eines frisch und glücklich entwickelten

städtischen Rechts, ja Jahrzehnte vor ihnen bezeugen zwei historische Ar­ beiten auf dem Boden der Lübecker Diöcese, wie schnell unter dem Ein­

druck dieser Welfischen Politik das Bewußtsein einer großen und neuen Zeit heranreifte, zugleich die Fähigkeit, Verhältnisse und Persönlichkeiten

aufzufaffen und historisch darzustellen. Helmolds und Arnolds „Slavische Chronik" sind so erfüllt von den

Eindrücken dessen, was Heinrich gewollt,

gekonnt und vollbracht, das

historische Urtheil über ihn und seine Gegner ist so merkwürdig reif und

unbefangen, daß wir unS in diesen Büchern wie mit einem Zauberschlag aus einer wüsten Urzeit, die Hulmold noch selbst gekannt, in ein Jahr­

hundert überall wirksamer Cultur, in die großen Gegensätze der neuen

Bildung versetzt fühlen, die auf daS Geheiß des großen Welfen so plötzlich hier hereingebrochen waren.

„Und die Macht des Herzogs" schreibt eben

dieser Pfarrer von Bosau, „wuchs über alle, die vor ihm gewesen, er

ward der Fürst aller Landesfürsten.

spenstigen

und brach ihre Festen.

machte Frieden im Lande.

Er trat auf die Nacken der Wider­ Er vernichtete die Abtrünnigen und

Er baute die stärksten Festen und besaß ein

überreiches.Erbe."

Wir können jenen Geschichtschreibern aus Lübecks Gründungsjahrhun­

dert hier nicht nacherzählen, wie Heinrichs des Löwen Schöpfungen die Reaction immer weitrer Kreise, immer mächtigerer Gewalten hervorrief.

Mr uns kommt es darauf an, in welchem Stadium der Entwicklung die

nordelbischen Gauen begriffen waren, als die immer erneuerten Angriff« de« deutschen Episcopats und der Staufer endlich seine Macht unwider­ ruflich gebrochen hatten.

Von all den Elementen, die er mit seiner Hand gebändigt und ge­ knickt hatte, war das eine, die Slavischen Stämme rettungslos dem Unter­ gang anheimgefallen, ein anderes, die nordelbischen BiSthümer eben durch ihn von Anfang an auf ein bescheidenes Maaß der Entwicklung reducirt,

ein drittes dagegen die nordelbische Grafengewalt, die er gleichsam neu

geschaffen, hatte überraschend schnell die früher versäumte Ausbildung nach­ geholt.

Auf den Grundlagen, die Adolf II. behutsam gelegt,

war Adolf

III., unternehmungsdurstiger und ehrgeiziger als sein besonnener Vater, in den glänzenden Grafenkreis Kaiser Heinrichs VI. als ein ebenbürtiger

eingetreten.

Er hat die Neustadt Hamburg gegründet,

Jahre lang die

Einkünfte Lübecks bezogen, seine Macht im Süden der Elbe auSgedchnt

und durch seine Verbindungen mit der Bremischen Ritterschaft die Erz­ bischöfe von Bremen in Schach gehalten.

Unter ihm gewinnt der Hof

der Holsteinischen Grafen die Gestalt und Verfassung südelbischer Fiirsten-

hvfe.

Der erste Truchseß desselben erscheint urkundlich 1197, auf seinen

Burgen Plön, Segeberg, Stade und Hamburg eine Burgmannschaft, seine

Dienstmannen

traten

den

alteinheimischen Geschlechtern

und schon deßhalb als ein feindliches Element entgegen.

als

ein neues

Nicht der As-

kanier, dem die Reste des HerzogthumS Sachsen durch kaiserliche Gnade zugefallen, sondern dieser Schauenburger erscheint an der unteren Elbe al­

ber Erbe des großen Welfen, und für Nordalbingien eine keineswegs gün­

stige Fügung.

Es bedurfte in dem letzten Iah^ehnt des 12. Jahrhun­

derts einer ruhigeren und festeren Hand, um die so widerstreitenden Ele­

mente deutscher Bildung fest zusammenzufassen, sollten sie an dieser Grenze nicht dem gewaltigen Andrang der dänischen Macht rettungslos erliegen.

Gleichzeitig mit der Herrschaft Heinrichs des Löwen hatte sich auf der

Grundlage der alten VolkSverfaffung das Dänische Königthum zu neuem Leben erhoben; aber wie nah sich diese beiden Neubildungen örtlich und

zeitlich berührten, so verschieden war doch zunächst die Grundrichtung ihrer inneren Bewegung. Heinrich hatte zwischen Elbe und Eider die Elemente einer uralten Verfassung zu regeln, ihren Widerstand zu brechen gesucht, er hatte vor

Allem einen alteinheimischen Adel durch eine Reihe ganz neuer Bildungen

unter seine Leitung gezwungen.

In Dänemark war die alte Aristokratie,

die sich jenen Holsteinischen und Ditmarsischen Etheliugen vergleichen ließ,

Nordalbingische Studie«.

72

in der Periode der großen SeezUge bis auf Knud den Großen vollstän­

dig untergegangen; was übrig geblieben, war ein gleichmäßig gebildetes und politisch gleich berechtigtes bäuerliches Volk, ohne den alten kriege­

rischen Geist jener gewaltigen Seekönige und ihrer Helden, aber in der

Rechts- und Kriegsverfassung,

wie sie sich nach dem Ausscheiden jenes

Adels gleichsam von selbst gebildet hatte.

Eben diese Berfassung, erlahmt

durch die natürliche Indolenz eines reinen Bauernvolks

steigende Noth der Slavischen Raubzüge

war durch die

und durch die Energie zweier

großer Männer, Waldemars des Königs und AbsalonS des Bischofs, gleich­ sam vom Todesschlaf erweckt worden.

Es ist ein historisches Schauspiel

von seltener Größe nnd Reinheit, zu sehen, wie unter der Führung jenes

Heldenpaarö die Bauernschaften des Dänischen Archipelagus ihre Wehr­ verfassung wieder aufnehmen, wie ihre Flotten sich neubilden, vereinigen und dann unwiderstehlich in eben der Zeit die Slavischen Piraten ver­

nichten, in welcher die Kolonisten Heinrichs des Löwen den Slavischen

Pflug durch den dentschen verdrängen. Aber diese Dänische Bewegung geht nun gleichsam wie nach einem

Naturgesetz zu ihren weiteren Consequenzen fort: auf der hergestellten KriegS-

und Rechtsordnung bildet sich Königthum und Kirche vcu selbst aus; fehlt eS auch nicht, je weiter die Dinge wachsen, an einzelnen zum Theil hefti­

gen Reibungen, im Großen und Ganzen steigt diese neu erweckte Macht wie ein vom Gipfel bis zur Wurzel einfacher und gesunder Baum aus

ihrem heimischen Boden auf.

Von jener Berechnung und Gewaltsamkeit,

mit der Heinrich der Löwe seinen Bau zusammenschob, ist hier keine Spur,

und alö der Sturz des Sächsischen Herzogs auf dem ganzen Gebiet seiner

Macht alle ihre verschiednen Bestandtheile gleichsam haltlos durcheinander warf,

stand diesem ChaoS

geschlossen

fortwachsende

im Norden der Eider

und auf der

die geschlossene und

Macht deS Dänischen Königthums Ostsee gegenüber.

Im Dänischen Reich

entwickelte sich daö Neue fast organisch auS

dem Alten, erwuchsen auS der festen inneren Bildung wie eine unvermeid­ liche Blüthe die Gedanken einer großen auswärtigen Machtpolitik, auf dem

deutschen Boden dagegen trat der Gegensatz zwischen den alten Einrich­

tungen und Gewalten, die Heinrich nicht ganz zu zerstören für gut befun­ den und den neuen um so schroffer hervor, je weniger die habgierige und

unsichere Hand Adolfs DI. geeignet war, alle diese so widersprechenden Kräfte wirklich zusammenzufassen.

Einige Jahre tastet er unruhig nach

Erfolgen und Haltpuncten hin und her, dann aber lagert sich unwider­ stehlich die Macht Dänemarks über der ganzen westlichen Ostseeküste.



scheint, als sollte das Haus Waldemars des Großen, an staatsmännischem

Geist dem großen Welfen vollkommen ebenbürtig, wirklich hier der Erbe seiner Schöpfungen werden, während seine eignen Söhne, voll von dem Ehrgeiz ihres Vaters aber seines Geistes baar, im Süden der Elbe den

Brand eines Thronstreits in das deutsche Reich schleuderten.

ES ist so oft und neuerdings mit so eingehender Kenntniß und Kritik dar­ gestellt worden, wie die Macht Waldemars des Siegers dennoch zusammen­ brach, daß diese Katastrophe, ihre Ursachen und Folgen jetzt mit seltener

Klarheit vor uns liegt.

Für die Geschichte Schleswig-Holsteins bietet diese

Periode aber nicht allein das Bild einer unerwarteten nationalen Erhe­ bung,

in ihr entschied sich zugleich die Gestaltung

BUdungen,

aller der politischen

zum 16. Jahrhundert für die Geschichte der

die dann bis

südlichen cimbrischen Halbinsel maaßgebend geblieben sind.

Die Gefangennahme des Dänischen Königs durch den Grafen von Schwerin und daS an der ganzen Ostsee erwachte deutsche Nationalgefühl gegenüber der.DKnischen Herrschaft, alle die anderen äußeren und inneren

Motive der Bewegung treten für unS zurück gegen die Thatsache, daß auf dem Felde von Bornhöveds sich diejenigen specifischen politischen Bildun­

gen zu einem gemeinsamen Kampf für ihre Unabhängigkeit vereinigten, die

wir sofort von da an im schroffsten Gegensatz fich Jahrhunderte hindurch

gegenüberstehen sehen. Jene große EntscheiidungSschlacht, an deren Abend die Dänische Herr­

schaft unter den deutschen Schwertern znsammenbrach, war,

darf man

sagen, zugleich die erste Schlacht, in der Lübek für seine städtische und Ditmarschen für seine bäuerliche Unabhängigkeit focht und durch die die

eigenthümliche Holsteinische Fürsten- und Landespolitik der Schauenburger Periode begründet ward.

Dieser Sieg war der erste und — wir müssest

hinzufügen — der letzte große Erfolg einer einmüthigen Combination aller

dieser selbständigen Factoren, die eben in den nächst vorhergehenden Mo­ naten ihre Neubildung vollzogen, sich dann zusammengethan und dieses glänzende Resultat erfochten hatten, um von da an sich nie wieder zu einem gleichen zu vereinigen:

Ebenso merkwürdig ist aber die andere Thatsache, daß trotz der Tren­ nung und des sofort eintretenden Sondertriebs dieser deutschen Gemein­

wesen Dänemark von jener Niederlage an Jahrhunderte lang umsonst ge­

rungen hat,

die damals verlorne Stellung

Umfang wiederzugewinnen.

Und gerade,

im größern

oder geringeren

weil dieser Druck von außen

fast nie fehlte, ist es um so wunderbarer, daß hier nie wieder sich eine Bereinigung vollzog, wie sie im Siidwesten Deutschlands im Rheinischen

Städtebund versucht,

in der Eidgenossenschaft und dem

Schwäbischen

Bund« mehr oder minder erfolgreich gewonnen ward, d. h. eine Verbin­ dung von Fürsten, Städten, Rittern und Bauern im größern oder gerin­

geren Umfang. Leider ist das vorhandene Material keineswegs ausreichend, um die inneren Bewegungen klar zu legen, in welchen

vor und während der

Dänischen Herrschaft die Bildungen ansetzten und heranreiften, die nach­ dem sie bei Bornhöveds mit vereinigter Kraft die Dänischen Bande ge­ sprengt, sofort als durchaus verschieden an Inhalt und Form sich gegen­

über stehen.

Und doch sind die Gegensätze, die sie trennen, so diametral,

daß es auch trotz dieser ungenügenden Ueberlieferung möglich ist, sie in

den

allgemeinen

Umrissen

zu

fixiren.

Heinrich der Löwe hatte den

Schwerpunkt seiner nordelbischen Politik an die OstseMste gelegt. Schon

daraus erklärt es sich, daß dieselbe trotz einzelner großer und energischer Maaßregeln an der Nordseeküste zwischen Elbe und Eider viel geringere

Spuren hinterließ als dort.

Unzweifelhaft war die Grafengewalt hier im

Gaue Ditmarschen in den Händen der Grafen von Stade früher ent­

wickelt als in Holstein, denn eben deßhalb war es hier zwischen ihr und

den übrigen Landesgewalten zu gewaltsamem Zusammenstoß gekommen.

Der Herzog richtete sie nach der Ermordung des letzten Grafen von Stade

mit gewaffneter Hand wieder auf, aber trotzdem ist dieser sein Versuch und sind alle späteren, sie herzustellen, erfolglos geblieben.

Auf dieser

von allen Seiten von unwegsamen Niederungen und Marschen umgebenen

Halbinsel — denn das war damals Ditmarschen — gewinnen die Institute

jener uralten Verfassung, denen erst Heinrich der Löwe fest entgegenge­ treten, während seines Sturzes und in den nächstfolgenden Jahrzehnten

neue Bedeutung.

Es ist als ob die Stürme und Wetter der tieferregten

Zeit hier den alten Trieben neue Kraft gegeben, als ob die Bedrängniffe

der Dänischen Eroberung die Leistungsfähigkeit dieser altgermanischen Ge­

schlechter und Gewalten gesteigert hätten. Schon vor der Grafengewalt war, so weit wir sehen, hier das Amt des Landesältesten verschwunden.

DaS Recht des freien Gefolges, hatte

Heinrichs des Löwen Verbot auch hier wie in Holstein vernichtet, dafür

aber und vielleicht eben deshalb ist die Gaugemeinde und ihr Bolkland, ist die Stellung der Ethelinge, auch hier an der Landesgrenze, und vor

Allem ist die Bedeutung der Geschlechter und ihrer Verfassung in voller Mächtigkeit lebendig geblieben.

Sowie erst der Landesälteste, dann der

Graf und endlich der Herzog aus der Gauverfassung verschwand, ward das Recht und die Verfassung der Geschlechter für Adel und Freie der

natürlichste Halt.

Nicht nur, daß das Recht der Blutrache

Pflicht der EideShülfe,

daß die Wehrverfassung

und

die

und der Erbgang

der

Rüstung mit Hengst und Harnisch darnach geordnet, gerade in dieser Zeit wird die Reihe neuer Dörfergründungen, durch welche der Gau erst halb ein Marschland wurde, mit den Kräften oder unter der Form alter oder

neuvereinter Geschlechter vollzogen.

Die Dörfer der jetzt allmälig ein­

gedeichten Nordermarsch tragen den Namen von Geschlechtern, die längst bestanden oder geben ihren Namen neuen Geschlechtern: die Deiche dieser neuen Ackerfluren, die Kirchen der neuen Kirchspiele erscheinen als das

Werk der einzelnen Geschlechter.

In dieser uralten Ordnung rangen

diese Bauern dem Meer ein Meilen weites Fruchtland voll unerschöpflicher Erträge ab, während sie unzweifelhaft damals wie später gleichzeitig jen­

seits ihrer Deiche mit den Kräften ihrer Geschlechter dem unsicheren aber lockenderen Gewinn des Seeraubs nachgingen. Eine solche ganz selbständige, so wilde und doch so productive innere

Bewegung erklärt es nun, daß die Gesammtheit dieser Kirchspiele, Bauern­

schaften und Geschlechter „der Adel und die Landeögemeinde" nach außen hin mit einer wahrhaft erstaunlichen, sollen wir sagen, Haltlosigkeit oder Rücksichtslosigkeit Haltpunkte suchen und wieder aufgeben, Ansprüche an­

erkennen oder zurückweisen, bis sie dann endlich zunächst auch ihrer SeitS

der Dänischen Herrschaft verfallen.

In den mehr oder weniger sicheren

Nachrichten über ihren Antheil an dem Sturz derselben tritt uuS zweifel­ los jene Mischung von egoistischer Berechnung und kühner Entscheidung

entgegen, die seitdem Jahrhunderte hindurch für ihre Politik maaßgebend

geblieben.

Eö steht fest, baß erst am Abend des Schlachttages der Ver­

rath des Ditmarsischen Aufgebots den Sieg der Deutschen bei Bornhö-

vede entschied und es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie diesen Verrath

vorher

in

geheimen Verhandlungen

mit dem Erzbischof von

Bremen

pactirt hatten, indem sie sich dafür die Formen garantiren ließen, unter

welchen sie seit jenem Tage die Oberhoheit Bremens als Schutz gegen jede andere Landesherrschaft neben der fast vollständigen inneren Unab­

hängigkeit festhielten.

Jener Vertrag und seine Ausführung auf dem Felde von Bornhö­

veds haben es möglich gemacht, daß das Land Ditmarfchen sich von dem Einfluß der steigenden nordeuropäischen Cultur und

hunderte frei

machte,

daß auf

dieser Halbinsel

Politik für Jahr­

germanische

Institute,

gegen die der CleruS des 5. und 6. Jahrhunderts schon bei Alemannen

und Baiern erfolgreich angekämpft, Blutrache und EideShülfe, sich hier

unter der Oberhoheit des ersten geistlichen Fürsten Norddeutschlands bis zur Reformation ungebrochen erhielten.

Eben die Zähigkeit, mit der sie

festgehalten, mit der die Geschlechterverfassung nicht allein erhalten, son­

dern ausgebildet ward, wird die nächsten Jahrhunderte hindurch wieder-

helentlich als der Grund dafür bezeichnet, daß sich zwischen diesem Ge­ meinwesen und den benachbarten ein wirklich geordnetes und zuverlässiges Verhältniß nicht bilden könne.

Allerdings hat sich hier wie auch sonst im

Norden und Süden Deutschlands neben der bäuerlichen Landeögemeinde

ein Rath gebildet, allerdings ist etwa ein Bierteljahrhundert nach der Schlacht von Bornhövede, Meldorf, das älteste Kirchdorf deS Landes mit

Stadtrecht begabt worden, allerdings erscheint später der „Marktfriede" als der höchste Friede deS Landrechts, aber jeder Blick in die Geschichte zeigt, daß auf diesem Boden daS Landrecht das Stadtrecht eben so wenig zur Entwickelung, zu einem nachhaltigen Einfluß kommen ließ, wie das

Recht der Geschlechter die centralen Landesgewalten.

Eben wegen der

Allgewalt der Geschlechter konnten die „Rathgeber" daS ganze 13. und

14. Jahrhundert hindurch zu keiner festen Autorität und in Folge desien zu keinem festen Verhältniß zu den benachbarten Mächten gelangen. Man braucht das

trotzige

und

vollkommen

einflußlose Gemeinwesen

dieser

„stolten Ditmerschen“ und seine permanenten inneren Fehden nur mit der fast parallelen Geschichte deS

„Landes Uri" zusammenzuhalten,

um

das eigenthümlich Trostlose der Erscheinung zu erfassen. Freilich aber lebt dafür hier zwischen den Grenzfehden der Festland­

enge und den Piratenzügen der Seeküste, in diesen zum Theil reich

und

wolbestellten Bauerschaften eine uralte ungebrochene Bolksitte, durch welche

das HauS in feiner altheimischen Organisation, die Gemeinde in Marsch und Geest, die Versammlungen und „Gelage" der BlutS-,

OrtS- und

RechtSgenoffenschaften für den Landesangehörigen auch deS kleinsten und schwächsten Geschlechts Etwas waren und blieben, dessen gleichen wirklich auch damals nirgend mehr zu finden war.

Wie die Ditmarscher seit mehr alS einem halben Jahrhundert vor

der Bornhöveder Schlacht sich den fremden Einflüffen widersetzt, wie sie dann in dem Vertrag mit dem Erzbischof von Bremen dieselben für

immer abschnitten, so war die Selbständigkeit Lübecks durch den Gang der großen Verhältnisse in denselben fünfzig oder sechözig Jahren gegrün­ det und herangewachsen: als Stadt deS Herzogs, dann des Kaisers außer­

halb deS Einflusses der sie umgrenzenden Gewalten, dann auch unter den

dänischen Königen ausdrücklich im Genuß der bis dahin gewonnenen Rechte anerkannt, hatte sie vor der Schlacht von Bornhövede eine ausdrückliche Be­

stätigung ihrer Reichsfreiheit vom Kaiser Friedrich II. zu erwerben gewußt. Der Gegensatz zwischen diesen Anfängen der Reichstadt Lübeck und

jenen deS unabhängigen Bauernstaats Ditmarschen siegt nicht nur in der

Differenz städtischen und bäuerlichen Lebens, er ist zugleich der einer von

Anfang rationellen Gründung mit möglichst einfachen und fest organisirten Mitteln für ganz klare und bestimmte Zwecke und einer unendlich alten Bildung,

die gleichsam unbewußt,

nur um

ihre tägliche

Existenz zu

sichern, bald dieses bald jenes ihoer verschiedenen Organe weiterentwickelt. Einmal ist, wie neuerdings hervivrgehoben ward, schon das

Gebiet der

Travestadt so knapp bemessen, daß zur Ausbildung einer grundbesttzenden Aristokratie gar kein Boden vorhanden

war.

Eine zweite mit Recht

hervorgehobene Eigenthümlichkeit isst, daß in dieser so rasch aufblühenden

Stadt gerade in dem Jahrhundert ihrer ersten Blüthe keine Spur exclusiv herrschender Geschlechter, ja überhaupt so gut wie Nichts von jenen reli­

giösen oder bürgerlichen Genossensahaften begegnet, die im Innern Deutsch­ lands fast überall die deutlichen »der undeutlichen Ausgangspunkte städti­

scher Verfaffung bilden. Der Markt an der TkÜVk linfc sein eingewanderter, meist Westfälischer Kaufmann erscheint von Anfang rnur auf das Geschäft seines so wunder­ bar günstig gelegenen Platzes und auf Nichts anders feine Aufmerksamkeit gerichtet zu haben.

In den Binnienlandstädten beginnt zumeist dann erst

die städtische Verwaltung und Ulnabhängigkeit, nachdem ein erheblicher

Theil der Bevölkerung „sich, wie

die Urkunden sagen, auf dem Markte

des WaarenumsatzeS befleißigt",

hier gab eS offenbar von Anfang an

kaum eine andere als eben eine

solche Bevölkerung.

Auf den Westfä­

lischen Märkten hatte der „GotteSsfriede" von Soest den Verkehr mit den

anderen Jntereffen einer alten baiuerlichen und hofrechtlichen Bevölkerung

inS Gleichgewicht setzen müssen, hiier auf diesem rein kaufmännischen Boden hatte er kein altes Bauernrecht zm überwinden.

Bildete nur die grund-

angesessene Bürgerschaft oder die Wersammlung der Gemeinde, die dreimal

jährlich im Echteding zusammentrmt, und war die Zahl dieser Grundbesitzer im ersten Jahrhundert der Stadlt eine beschränkte, so waren eben diese verhältnißmäßig großen Grundbestitzer, deren Eigen innerhalb der Stadt­ mauern lag, zugleich wesentlich mn dem Handelsgeschäft betheiligt. Ehe

sie sich hier niederließen, müssen micht wenige von ihnen schon seit Jahren

auf den Märkten zu WiSbh und

Nowgorod heimisch gewesen und dort

unter dem Frieden deS deutschen /Kaufmanns ihre gewagten aber gewinn­ bringenden Geschäfte getrieben hcaben.

Herzog Heinrich, der gleichzeitig

von dem deutschen und einheimischen Kaufmann auf Gothland als Frie­

densvermittler angerufen war, tonnte unzweifelhaft die geschäftliche Be­ deutung und den sicher rechnendem Tact dieser SchleSwig-Gothland- und

Rußlandfahrer, als er ihnen nicht allein ihr Recht zn WiSbh regelte,

sondern durch die Gründung seimeS TravemarktS den weiten Weg vom

7g

Nordalbingische Studien.

SSchfischen Binnenland für viele von Strecke bis an die Ostsee kürzte.

ihnen auf immer um die lange

Er wußte, daß der Deutsche Kaufmann

nirgend« eindringlicher als dort in der fernen Fremde gelernt hatte, daß

das Interesse des

Deutschen

Geschäfts auf der

eigenen und unabhängigen Rechts beruhe.

Voraussetzung

eines

Erst unter dieser unabweis-

lichen Annahme gewinnt der Umstand eine besondere Bedeutung, daß er

den Rath seiner neuen Stadt nur auS solchen erbgesesienen Bürgern zu­

sammensetzte, die kein Handwerk trieben und fteigeboren waren, d. h. auS

der offenbar nicht großen Zahl von Freien, die sich, eben weil sie voll­ kommen unabhängig, an diesem Verkehr mit dem größten Nachdruck und Erfolg betheiligten.

Der gelehrteste und feinste Kenner dieses alten Ostseehandelö schil­

dert ihn in folgenden Worten: ES gab damals nur Properhandel.

Den

CommissionS- und Speditionshandel, die jenem eigentlichen Handel dienen,

kannte man damals nicht.

und doch viel gehandelt.

ES ward daher unendlich wenig geschrieben

Der Umsatz konnte allerdings nicht so bedeutend

wie heute sein, dagegen war der Gewinn bei dem einzelnen Geschäft weit

bedeutender und bei den geringen Preisschwankungen sicherer.

Und der

Kaufmann verdiente eS auch zu verdienen, denn die Reisen der damaligen Kaufleute, die sie meistens zu bestimmten Zeiten nach den verschiedenen

Märkten in zahlreicher Gesellschaft unternahmen, waren gleichsam bewaff­ nete Kriegszüge.

Hier stählte sich der Mann in Ungemach und Gefahr,

hier bildeten sich in kleinem Krieg die Helden, die später als Bürger­ meister die OrlogSflotten zum Siege führten." ES ist in dieser Schilderung die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts

vor Allem ins Auge gefaßt.

Damals vollzog sich doch allmälig die Schei­

dung zwischen Patricier und Kaufmann, die seit dem Ende des 14. Jahrh,

eine anerkannte Thatsache war.

Vor dem Tage von Bornhöved« und

ehe die erste Lübsche OrlogSflotte zum Sieg geführt wurde, haben wir uns

die Vertreter und Regenten der jungen Colonie wie jene Kauflente zu

denken, die in den Isländischen Sagas des 11. Jahrhunderts mit Schild

und Schwert vom Strande her auf den Markt reiten. Ostsee Jahrhunderte hindurch das

War auf der

Doppelgefchäft von Kaufmann und

Pirat ebenso einträglich und ebenso gesucht gewesen wie zur Zeit Homers in den Griechischen Gewässern, hatte erst da- Aussterben der Dänischen

Aristokratie und dann die Neuschöpfung einer Dänischen Bauernflotte den Seefrieden hergestellt, so ward der Deutsche Binnenlandskaufmann, der hisher diese Straßen befahren, in wenig Jahren a«S einem verwegenen

Abentheurer zu einem bewußten Träger und Vertreter großer und segens­

reicher Interessen.

Das Soester Recht in seinen Bestimmungen gegen Bigamie und mit seiner Forderung, in der Fremde Händel unter Bürgern nur durch Bür­

ger entscheiden zu lassen, zeigt deutlich, wo die sittlichen Gefahren dieser

fernen Handelsreisen lagen.

Es war ein großer nationaler Fortschritt,

als der deutsche Kaufmann für sich und sein Recht die deutsche Gemeinde

zu Wisbh schuf, ein noch größerer, als ein Rath freier Kaufleute an die

Spitze der Stadt Lübeck trat, ein dritter, als diese Stadt durch Friedrich I. nach dem Sturz Heinrichs des Löwen zum ersten Mal an das Reich kam.

Wir kennen keines der Rathsmitglieder jener Zeit und dürfen doch

behaupten, daß in ihnen die großen Interessen, die sie zu vertreten be­ rufen waren, mit seltener Umsicht und Energie festgehalten wurden.

Das

Verhältniß der Stadt zu Heinrich dem Löwen, die ehrende Anerkennung,

mit der Waldemar II. sie behandelt, der sichere Tact, mit der sie in die große Bewegung gegen Dänemark eiugreift und die mächtige Stellung, in

welcher sie nach derselben erscheint, sind nicht die einzigen Zeugnisse dafür. In derselben Zeit, wo die Reichsstadt Lübeck zu einer solchen Macht

emporwuchs, hatte das bischöfliche Cöln in dem Thronstreit zwischen Welfen

und Staufen mit der Kühnheit und Selbständigkeit einer dominirenden

Republik etngegriffen und dem Kampf gegen die gesammte Staufische Macht fast allein gekämpft. Mächtiger nach diesem gewaltigen Ringen als je zuvor nimmt eS auf dem alten Hauptplatz feines überseeischen Verkehrs, in England

für sich allein, jetzt mit immer größerem Nachdruck das Recht des deutschen Kaufmann« als die exclusiv führende Gemeinde in Anspruch, der deutsche

Kaufmann verschwindet hinter dem Cölnischen: im endschiedenen Gegensatz erscheint dagegm gerade hier und gerade jetzt Lübeck als Vertreter nicht

nur seiner, sondern der allgemeinen Jntereffen.

Wir erkennen, was für

den Rath von Lübeck seit seinem Ursprung dieser Begriff „des gemeinen Kaufmanns" bedeutete, wie er, hierin von seinem Ursprung an Wisbh

eng verwandt, von Anfang an die Gesammtvertretung des deutschen See­ verkehrs als feine Aufgabe betrachtete.

Gerade da Cöln diesen alten Titel seiner Macht fallen ließ,

nimmt

Lübeck ihn mit um so größerer Energie auf, als hätten seine Staatsmänner

vorausgesehn, daß sie in diesem Zeichen unüberwindlich sein würden.

Und in der That ist diese Handelspolitik auf der Grundlage einer

nationalen Vertretung, nicht in der Hand einer fürstlichen Landesgewalt

sondern in der einer kleinen, jedenfalls jungen Stadtgemeinde ebenso einzig, wie die Zähigkeit und der Erfolg, womit sie unzweifelhaft von Anfang an

Jahrhunderte hindurch festgehalten und ausgebildet wurde. Liegt der Ursprung der Hansa jetzt historisch gerade in dieser Rich­ tung immer deutlicher vor uns, so wird damit auch immer klarer, daß

der Rath von Lübeck in der Vertretung des gemeinen Kaufmanns das

Element fand, das die Politik und die innere Verwaltung dieser meist

Westfälischen

freien Kaufleute in

den Gefahren einer geschwinden Zeit

und eines reißend wachsenden BerkehrsgebietS mit der Umsicht und Ent­

schlossenheit geborner Staatsmänner stählte. Als politische Bildung erscheint nach dem Gesagten die Stadt Lübeck ebenso eigenthümlich als das Land Ditmarschen, für beide würde es schwer sein, im ganzen Bereich der mittelalterlichen Geschichte eine Analogie zu

finden.

Aber beide Gemeinwesen selbst stehen vor allem unter sich in dem

denkbar schroffsten Gegensatz. In Ditmarschen die Reste einer uralten Verfassung, altgermanische

Sitten einer durch und durch ländlichen Bevölkerung auf der beständigen Defensive gegen das Andringen neuer Gewalten, zurückgedrängt in die engen

Grenzen eines kleinen Gebiets, eine Welt für sich, voll von dem stolzen Gefühl einer rein persönlichen Ungebundenheit, ohne jeden nachhaltigen Einfluß nach außen und ebenso ohne das Bedürfniß eines solchen. In Lübeck eine junge Germanische Gemeinde, die erste städtische auf

undeutschen Boden, eine Marktstadt fast ohne Gebiet, aber von Anfang an gegründet als ein Knotenpunct weitreichender Beziehungen und deshalb mit dem Bedürfniß einer festen und klaren Ordnung im Innern, allseitiger

Anerkennung nach außen. Dort die eigentlich unüberwindliche Gewalt das einzelne unabhängige

Geschlecht in seiner altgermanischen Verfassung und Ehre, hier der innerste LebenStrieb die allgemeine Vertretung derjenigen allgemeinen nationalen

Interessen, ohne deren Gedeihen diese Gemeinde eben nicht leben und gedeihen könnte.

Die Parallele erklärt sehr einfach, weßhalb in Ditmarschen der Rath

des Landes trotz aller urkundlichen Erwähnung Jahrhunderte hindurch wie unfaßbar hin und her schwankt, und weshalb in Lübeck der Rath eben

diese Jahrhunderte hindurch der unerschütterliche und einzige Träger der gesammten Regierungsgewalt bleibt. Sie erklärt aber auch weiter, warum in der Bauernrepublik der

Reichthum kommunaler Bildungen, ihr Ringen uud Drängen gegen einander nie stillsteht, warum dagegen gerade diese Stadtgemeinde sich vielleicht vor

allen ebenbürtigen durch die Gleichmäßigkeit, um nicht zu sagen durch den Mangel solcher Bildungen auözeichnet.

Wenn in den Bewegungen am Anfang des 15. Jahrhunderts von

Seiten des Lübeckfchen Raths mit dem größten Nachdruck urgirt ward,

daß auf seinem unbedingten Ansehn

und

seiner

ungebrochenen Gewalt

allein die einflußreiche Stellung der Stadt nach außen «nd dadurch ihre

Existenz beruhe, so darf man anderer Seits diese vollständig richtige Be­

hauptung dahin umkehren, daß der Rath für Lübeck von Anfang an so viel bedeutete, weil er von seiner Geburtsstnnde an sich in so weiten und großen Verhältnissen bewegte, daß eine Concentration des Regiments in Einer allein maaßgebenden Behörde unumgänglich war.

Für die Geschichte Holsteins und seiner Verfassung ist es von dem größten Einfluß gewesen, daß es seit der Wiederaufrichtung der Grafen­

gewalt der Schauenburger durch Adolf IV. die beiden Republiken, die wir

eben geschildert, unmittelbar sich zur Seite hatte. Der Kampf der Grafengewalt mit den übrigen Landesgewalten, wie

ihn Adolf III. geführt, war zunächst in den Dänisch'Deutschen Krieg mit aufgegangen.

Eine mächtige Partei des alten Landesadels war vor dem

Grafen an den dänischen Hof entwichen und im Dienste der dänischen

Eroberung ins Land zurückgekehrt.

Ein holsteinischer Etheling war vom

dänischen König als Graf über Ditmarschen gesetzt worden. Aber die Drangsale der dänischen Herrschaft hatten

darauf

die

Schauenburger mit ihrem Landesadel zunächst zu gemeinsamem Handeln vereinigt.

Die Stiftungsurkunde des Klosters Preetz, die Adolf IV. „auf

gemeiner Heerfahrt aller Holsten" am 29. September 1226 vor Rends­

burg ausstellte, zeigt uns um ihn eine ganze Reihe edler Geschlechter, unter welchen die Tralows schon früher erwähnt werden, die Ranzau und Qua­

len von den jetzt lebenden damals zuerst urkundlich in die Geschichte ein­ treten.

Der Gegensatz zwischen der alten und neuen Adelsverfassung,

zwischen dem Dienstrecht und seinen Aemtern einer, und dem Rechte der

Ethelinge und des Landesältesten auf der andern Seite scheint in eigen­

thümlicher Weise ausgeglichen.

Wir finden wiederholentlich das Amt des

Truchseßen und des Landesältesten oder „Overboden" wechselnd in der Hand derselben Männer.

Man kann nicht sagen, daß die Stellung der

großen alten Geschlechter gebrochen ist, aber sie ist doch um ein Wesent­

liches verschoben. Bis zum Anfang des nächsten Jahrhunderts erscheinen sie in ihren

alten Sitzen an der früheren Slavengrenze und eben so lange ist die stän­ dische Scheidung zwischen Adel und Bauern, oder nach der Sprache der

Lübschen Chroniken, zwischen „Hovemann" und „Husmann" noch nicht vollzogen, wie im übrigen Deutschland schon längst.

Beide Stände bilden

um so mehr zusammen und als eine fast gleiche Masse das Landesaufgebot,

weil und so lange die Rüstung des Bauern hier wie in Ditmarschen eine ritterliche ist, zu der das „beste Pferd" so gut wie der Harnisch, das Schwert Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hefti.

6

Norbalbingische Studie«.

82 und der Feldkessel gehört.

Sie suchen zusammen das KirchspielSgericht, ja

bei den ersten und frühsten Landestheilungen wird die „Mannschaft" so wie

die übrige Bevölkerung mit getheilt. Auf den colonisirten Gebieten wird der Bauer der Stör- und Elb­

marschen ebenso wie der der alten Gaue zur Landwehr aufgeboten.

In

Wagrien erfolgt allerdings die Uebertragung der Lehengüter mit dem Recht,

Bauern an und abzusetzen, ja das Recht des „HofslagS" giebt hier dem Herrn das Recht, immer von Neuem die verliehenen Hufen zu messen und

darnach die Leistungen zu steigern, der Unterschied zwischen Hofland und

Bauernland gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung, aber dennoch-be­ stand

auch hier

noch ein Gleichgewicht der Stände.

Bis in das 14.

Jahrhundert geht nicht allein Bauernland in Hofland, sondern ebensowol Hofland in die Hände der angränzenden Bauern über.

Der alte Zu­

sammenhang zwischen Adel und Bauern ist eben noch nicht gebrochen und trotz der Ausbildung der Grafengewalt sind die neuen Formen derselben

in Amt und Lehen mehr an die der alten Verfassung angewachsen, als daß sie dieselben gesprengt und mattgelegt hätten.

Noch bestand hier wie in Ditmarschen ein Volkland und eine Landes­

versammlung, die nicht allein hierüber, sondern über die LandeSmünze und andere Landessachen beschloß.

Für die Politik der Grafen und man darf sagen, für die weitere LandeSgeschichte war eS bei dieser Sachlage von unzweifelhafter Bedeu­

tung, daß gerade jetzt die innere Entwicklung Dänemarks dort zu ganz ähnlichen Zuständen führte.

Dahlmann hat in einigen ganz meisterhaften Abschnitten seiner dä­

nischen Geschichte eingehend dargelegt, wie aus dem Boden der Waldemarischen durch und durch bäuerlichen Kriegsverfassung sich früh ein neuer

bevorzugter ritterlicher Kriegerstand ausbildete, der in derselben Periode

langsam über den Bauer und dessen Recht hinauswuchs, in welcher der

Holsteinische Etheling sich noch nicht, wie wir sahen, von der Banerngemeinde vollständig getrennt hatte.

Der Dänische „Heermann" saß ebenso

wie der Holsteinische „Hofmann" zum Theil mitten zwischen den bäuer­

lichen Hufen deS Dorfs auf seiner bescheidnen Hofstelle, die in Holstein ein ebenso bescheidner „Bergfried" allein von der des Nachbars unterschied.

Ja wie im Süden der Eider noch immer einzelne große Geschlechter

wiederholt den Grafen mit den Waffen entgegentraten, so waren in Dä­ nemark schon seit den Zeiten WaldemarS I. einzelne Häuser durch ihre langjährige Verbindung mit dem königlichen Geschlecht zu

einer

neuen

Aristokratie herangewachsen. PSie verschieden also auch die AuSgangSpuncte, nach dieser Seite hin

befanden sich die Holsteinische und die Dänische Verfassung damals we­

sentlich in demselben Entwicklungsstadium.

Die Lage der Schauenburgischen

Grafen und der Waldemarischen Könige war jener Aristokratie gegenüber auffallend gleich.

Der so alte Holsteinische und der so junge Dänische Adel waren deß­ halb für bie fürstliche Gewalt so schwer zu bewältigen, weil sie beide mit

der großen Masie der Freien noch in der unmittelbarsten Verbindung standen.

Zu dieser Gleichmäßigkeit der Verhältnisse hier und dort kam noch ein Andere- hinzu.

Wie nach einem politischen Naturgesetz regte sich bei

allen Fürstenhäusern des Occidents damals das Gefühl, daß es für die Erhaltung ihrer Gewalten neuer Mittel und Einkünfte bedürfte und daß

dieselben am sichersten durch die Gründung oder die Ausbeutung städtischer

Communen gewonnen würden.

War das Französische Königthum Philipp

Augusts und Louis IX. ganz auf einer solchen Grundlage gegründet und

suchte damals jeder Deutsche Landesherr voin Herzog bis zum freien Herrn

hinunter seiner Kammer durch Städtegründungen aufzuhelfen, ward dann diese Politik von den Slavischen Fürsten mit immer größerem Eifer all­

gemein nachgeahmt, so war unzweifelhaft sowol für das Dänische König­ thum wie für Adolf IV. die Stunde gekommen, in größerer Ausdehnung als bisher sich derartige Mittel zu eröffnen, um ihrem Regiment den un­

entbehrlichen größeren Nachdruck zu verleihen.

Nsrgend aber trat solchen fürstlichen Absichten ein so eigenthümlicheund gewaltiges Hemmniß entgegen, wie gerade hier dadurch, daß durch die

Gründung erst Wisbys, dann Lübecks der Gesammtverkehr dieser Lande, des Festlands wie der Inseln zwei vollkommen unabhängige Mittelpuncte

gewonnen hatte. ES war nur eine natürliche Folge jenes fürstlichen Erhaltungstriebes,

daß kein Jahrzehnt nach der Schlacht von Bornhöveds die beiden Gegner Waldemar II. und Adolf IV. sich zu einem Unternehmen gegen die Trave-

stadt vereinigten; daß eS vollständig mißlang, ist für die Geschichte NordEuropaS eine folgenschwere Entscheidung gewesen.

Wie eS gemeint war,

zeigt die Thatsache, daß Adolf IV. in den nächstfolgenden Jahren vier Städte mit Lübschem Recht gründete, deren einer er ausdrücklich für den

Fall eines Krieges mit Lübeck die Freiheit gab, in streitigen Rechtsachen

in Hamburg ihr Recht zu suchen.

Die Ueberzeugung von der Ueberlegenheit der Lübschen Rechts- und Gemeindeverfassung stellte ihn vor die Alternative, entweder dessen mer­ kantile Bedeutung mit Gewalt zu brechen, oder durch die Gründung gleich­

begabter Plätze, diesem Alles an sich ziehenden Centrum, so viel an ihm

war, die Zuflüsse abzudämmen.

Notbalbingische Studien.

84

Die Lübecker Ueberlieferung hat jenen Dänisch-Holsteinischen Angriff

und sein Mißlingen ebenso sagenhaft verherrlicht wie die Erhebung gegen

Dänemark zehn Jahre früher.

Und in der That steht die siegreiche Ge­

meinde seitdem gleichsam , stnrmfrei Jahrhunderte hindurch der Politik aller benachbarten

Fürsten

gegenüber.

Die Holsteinischen Städtegründungen

jener Jahre, Oldenburg, Plön und die „Holstenstadt tom Kyle" haben

durch ihre armselige Entwicklung den Beweis geliefert, daß mit dem Markt an Trave und Wakenitz die Holsteinischen Grafen eine städtische Pflanz­

stätte weggegeben hatten, der sich für den damaligen Ostseeverkehr eben absolut keine andere vergleichen ließ.

Waldemar II. arbeitete in den Jahren, die jenem Angriff ans Lübeck folgten, bis zu seinem Tode rastlos an der Ordnung und Herstellung der

königlichen Einkünfte und der Vervollständigung und Fixirung der RechtSverfaflung.

Sein Erdbuch und

das Rechtsbuch für Jütland sind die

Resultate dieser Anstrengungen, die Macht Dänemarks mit den erreich­

baren Mitteln von Neuem zusammenzufassen. Mit seinem Tode am 28. März 1241 begann für die Geschichte der Fürsten- und Adelsgewalt in dem weiten Umkreis deö Lübschen Verkehrs

diejenige Entwicklung, die durch den Gang der Ereignisse und namentlich durch jene letzten Entscheidungen unaufhaltsam vorbereitet war.

Berlin, Angnst 1874.

Nitzsch.

Zaunkönig und Spielmannskönig. Gustav Freytag, die Ahnen: II. Das Nest der Zaunkönige (1873). III. Die Brüder vom Deutschen Hause (1874). Leider ist es mir nicht möglich gjewesen meinen Borsatz auszuführen und

jeden Band von Freytags „Ahnen" beimr Erscheinen mit einem historisch-litterari­

schen Commentar zu empfangen, wie iich's bei dem ersten versucht. dem zweiten und dritten nur flüchtige Bemerkungen widmen.

Ich kann

Und so entgeht

mir das große Vergnügen, an eine Diichtung der Gegenwart, deren Fortsetzun­ gen von Jedermann mit Spannung erwiartet und begierig gelesen werden, allerlei

wissenschaftliche Ansichten, Meinungen, vielleicht auch Träume, zu knüpfen, die mir am Herzen liegen, über die ich geirn discvtire, und denen durch Freytags

Verdienst jetzt ein höheres Interesse enttgegengebracht wird als sonst. Der erste Band der „Ahnen" umsschloß zwei Geschichten: in den Bewegungen der Bölkerwaudercung; Christenthum seine Wohnung ausschlug

„Jngraban"

„Ingo" spielte

zeigte uns wie daS

in den thüringischen Waldbergen.

Jin „Nest der Zaunkönige" tritt mns die Herrschaft der Kirche schon recht

ausgebreitet entgegen, aber noch ist deer Kaiser der Herr, dem es Vergnügen

macht Kloster und Bischof sich streiten .zu sehen, und beide um ihre Beute zu betrügen.

In der vierten Geschichte, die ebem erscheint, ist es leider offenbar, daß der

Papst mit seinen Bettelmönchen mehr iim deutschen Reiche vermag als der Kaiser, und nur „die Brüder vom deutschen

Hause", welche den Titel deS BucheS

liefern, erschließen den Blick auf eine meue Macht, die über den alten Vater in

Rom hinauswächst.

In der dritten Erzählung sehen uvir den Kaiser walten als starken Herrn

in seinem Hause, wir sehen ihn die Empörung dämpfen und als Richter den gebrochenen Frieden rächen. an die Landesherren ab.

In der wierten gibt der Kaiser sein Gerichtsrecht

Dort sind uvir mitten drin in der deutschen Kaiser­

zeit, hier stehen wir an der Schwelle der territorialen Hoheit.

König Heinrich der Zweite, der wirkliche König, der über die Zaunkönige

Gericht hält, ist die Lieblingsgestalt des Dichters innerhalb jener Geschichte. Er ist der richtige Durchschnittsmensch, wie ihn der eulturhistorische Roman

braucht. den.

Er hat viel von der Klosterbildung eingesogen. Er weiß wohl zu re­

Er ist kirchlich und weltlich in

seltsamer Mischung, und den AuSschlag

zwischen diesen beiden Mächten gibt der augenblickliche Vortheil.

Freytag hat

86

Zaunkönig und SpielmannSköuig.

ihn reich mit kleinen charakterisirenden Zügen ausgestattet,

deren historische

Richtigkeit zum Theil bestreitbar ist: die Abneigung gegen die Spielleute scheint

von seinem Nachfolger, Heinrich dem Dritten, auf ihn übertragen.

Aber nur

um so reicher, um so lebendiger stellt er sich dar, ein ganz begreiflicher Mensch

und doch ganz der Sohn seiner Zeit. Als historische Begebenheit steht im Mittelpunct die Empörung Heinrichs von Babenberg, des Markgrafen im Nordgau, welche König Heinrich im Jahre 1003

bezwang, wovon der Geschichtsschreiber Thietmar (5, 21) erzählt.

Der Raub

des königlichen Schatzes, die Belagerung und Einnahme von Creußen, der

Ueberfall des Entsatzheers, die Gefangennahme des Grafen Ernst, das alles ist

historisch, und dem Helden der Geschichte, dem Thüring Immo, dem Abkömm­ ling Ingos und Jngrabans, wird ein wesentliches Verdienst an den Thaten des Königs zugemessen, dem er lieb ist.

In der belagerten Stadt befindet sich

seine Geliebte und sie ist die Tochter eines Feindes.

Dem erweist er sich ge­

fällig und erregt den Zorn deö Königs, und der Raub dieser Braut macht ihn zum Friedensbrecher.

Die Mutter des Helden Immo aber, selbst eine Heldin aus sächsischem

Stamme, schützt die künftige Schwiegertochter und will aus der Burg ihres Hauses nicht weichen: den beiden geistlichen Herren, die sie zur Nachgiebigkeit

mahnen, erklärt sie, die Burg selbst gegen den König zu vertheidigen, in der Capelle wolle sie ausharren und den Tod erwarten. historisches Motiv benutzt.

Auch hier

scheint ein

Auch der geschichtliche König Heinrich sendet zwei

Geistliche ab, um die Burg eines Gegners zu zerstören, Schweinfurt, welches dem Markgrafen Heinrich gehört und von dessen Mutter geschützt wird:

sie

eilt voll Entsetzen in die Kirche und schwört, wenn dieselbe angezündet würde, lieber mit derselben in den Flammen umzukommen, als sie lebend zu verlassen. In beiden Fällen kommt die Zerstörung nicht ganz zum Vollzug.

Held Immo ist als ein Gegenbild des Königs gedacht.

Sein Gut trägt

er von der Sonne zu Lehen; er ist ein Freier in einer unfreien Zeit; auf seinem kleinen Gute selbst ein König, setzt er dem Umsichgreifen des Feudalis­

mus für sich und sein Geschlecht den zähesten Widerstand entgegen.

Dieser

stolz bewahrten Freiheit dankt das Geschlecht den Spitznamen der Zaunkönige. Denn wir befinden uns in einer Epoche, in der humoristische Dichtung überhaupt

und speciell die Thierdichtung blüht, vielfältige Wendungen im Munde der re­ denden Personen erinnern uns daran.

Aber Immo, der streitbare Kämpfer, hat auch die Klosterbildung genossen wie der König. Er ist ein entlaufener Klosterschüler, das Motiv erinnert sofort

an ein bekanntes Gedicht des zehnten Jahrhunderts, die „Entweichung eines Gefangenen" (Ecbasis cuiusdam captivi).

Unter den frommen Vätern des

Klosters Hersfeld lernen wir ihn kennen. Zwei liebenswürdige Mönche, Bertram und Sintram, haben ihn ins Herz geschlossen und geben ihm drei Räthe mit

auf seinen Lebensweg: was er befolgt schlägt ihm zum Heil aus, waS er nicht

befolgt bringt ihm Gefahr und Leid.

Ganz wie dem Helden Rudlieb in einem

andern Gedichte der Zeit eine Anzahl Rathschläge zu Theil werden, die er zu befolgen oder zu verletzen im Verfolg seiner Geschichte Gelegenheit bekommt.

Wie das Kloster geschildert wird, wie uns die Kirchenfürsten der Zeit in

anschaulichen Typen entgegentreten, das möchte ich gern des näheren darlegen,

und Scheffels „Ekkehard" forderte zu lehrreicher Vergleichung auf. Aber betrachten wir nun den neuesten Band, mit welchem Freytag uns zu Weihnachten dieses Jahres beschenkte.

Aus dem elften Jahrhundert sind wir ins dreizehnte versetzt.

Der Held

ist Ivo von Ingersleben, auch er ist freier als die Standesgenossen, er hat sich

der Landeshoheit nicht unterworfen; auch er wird ein König genannt, aber ein

König der Spielleute, er ist Minnesänger, der einer hochadeligen Herrin dient, mit Mühe dem Dolche ihres eifersüchtigen Gemahls entgeht und schließlich eine

Bauerntochter heimführt.

Auch er ist wohlgelitten in der Nähe eines Kaisers,

Friedrichs des Zweiten, dessen Kreuzzug er mitmacht.

Herzog Ludwig von Baiern, der frühere Pfleger des kaiserlichen Sohnes, König Heinrichs des Siebenten, dann aber dem Kaiser abgewandt und untreu,

wurde am 16. September 1231 auf der Kehlheimer Brücke von einem Unbe­ kannten ermordet.

Man glaubte, daß die That auf Geheiß deS Kaisers ge­

schehen sei, durch einen Sarraeenen, einen Abgesandten des Alten vom Berge, des Hauptes der Assassinen. Freylag nimmt an, daß es sich wirklich so verhalten habe.

Aber den

Herzog Ludwig, eine historisch zu helle Persönlichkeit, kann er nicht brauchen. Er verwandelt ihn in einen Humbert von Meran und macht diesen zum Ge­ nossen Heinrichs des Siebenten, der schon auf Empörung gegen den Vater

sinnt. Er macht ihn ferner zu dem Gemahl jener Herrin, Frau Hedwig, welcher Ivo sein Herz und seine Lieder weiht.

Humbert selbst hat im Orient auf dem

Kreuzzuge, in der Vermummung eines Kurden, den Nebenbuhler überfallen und

ihn scheinbar todt zurückgelaffen; so finden ihn die Affassinen die er sich durch ritterlichen Edelmuth verpflichtet hat; und erst spät gelingt es einem treuen Dienstmann, ihn aus ihrem Lande wegzuholen.

Für jene That wird Humbert

durch ben doppelt erzürnten Kaiser bestraft.

Die Grafen von Andechs und Meran sind nicht unbekannt in der Ge­

schichte der altdeutschen Dichtung, deren Aufblühen sie begünstigten. Die Mutter der heiligen Elisaberh von Thüringen stammt aus dieser Familie, und so finden wir denn in der That jene Hedwig als Verwandte am thüringischen Hofe.

Und ganz eigenthümlich schalkhaft weiß Freytag auch die Heilige entfernt in

jene Liebesintrigue hineinzuziehen.

Einige Schwierigkeiten, welche sich Freylag bei seinem großen Plane ent­ gegenstellen, kann — dünkt mich — auch der Laie ermessen, der, wie ich, zu­ nächst nur dankbarer Leser sein will. Wie sich-Freytag die Geschichten unter einander verbunden denkt, daS tritt

nun nach und nach schon hervor.

Das Gedächtniß der Ahnen lebt als Sage

fort unter den späten Enkeln und der Leser fieht diese Sagen entstehen.

Die

88

Zaunkönig und Spielmannsköuig.

Bauern von Frimar und die Herren von Ingersleben, die wir schon in der ersten Erzählung verbunden fanden und deren Verbindung im Volksliede fort­

lebt, sind in dem Paare vereinigt, welchem das künftige Geschlecht entstammen wird.

Ivo zieht mit seiner Friderun (der Name als solcher, der eine berühmte

Dorfschönheit schmückt, ist aus Neidhart von Reuenthal wohlbekannt) nach Thorn

unter dem Schutze des Deutschen Ordens. Eine große Gefahr bei solchen an einander gereihten Erzählungen ist die

Wiederholung der Motive und Situationen, ja der Gestalten.

Für die Mehr­

zahl der Leser verschwindet der Unterschied der Jahrhunderte, wenn's in fernere Vergangenheit zurückgeht.

Diese deutschen Kaiser des Mittelalters zum Beispiel!

Wie wenige von denen, die alljährlich im Römer zu Frankfurt ihre Bildnisse beschauen, wissen die einzelnen als Charaktere zu sondern! Essind nur Namen,

die einem verblaßten Ideal entsprechen, wozu ein paar besonders hervorragende die wenigen Grundzüge geliefert haben.

Da muß sich nun der Dichter die

schärfsten Contraste heraussuchen, sonst wird alle seine Kunst au der blassen

Allgemeinheit der gangbaren Vorstellungen zu Schanden.

Unter den Königen

um das Jahr 1000 fordert der phantastische Otto der Dritte eigentlich viel mehr den Roman heraus, als der prosaische Heinrich der Zweite. Aber man

versuche einmal, wie viel sich an Otto anknüpfen läßt von den realen Gegen­

sätzen, welche das deutsche Leben bewegten und int Nest der Zaunkönige ge­ schildert werden.

Und man male sich das Bild des Kaisers aus ohne Nom

und Italien: diese gehören nothwendig dazu. Aber Italien braucht der Dichter bei Friedrich dem Zweiten wieder.

Und Otto und Friedrich könnten auch sonst

gar leicht in Eine Vorstellung zusammenrinnen. ist in beiden mächtig.

schauung kommen.

Die Idee der Weltherrschaft

Die auswärtige Kaiserpolitik muß in ihnen zur An­

Was aber Freytag gewählt hat ist ein vortrefflicher in die

Augen fallender Gegensatz, den ich nicht näher ausführen will: dort der Haus­

herr, das deutsche Königthum bei sich, in der prosaischen Arbeit des Tages; hier der weltbeherrschende Kaiser, glanzumflossen, fast bei Lebzeiten ein Mythus

für seine fernen Deutschen.

Jener ist mit der Zeit verweht, in der er eifrig

seine Pflicht that. Dieser lebt in der Sage fort, und die ganze Kaiseridee wird durch ihn getragen, wie durch keinen andern, er ist's bekanntlich der im Kiff­

häuser sitzt, nicht der Rothbart: wieder sehen wir die Sage vor unseren Augen entstehen. Weil die „Ahnen" Sittenschilderungen geben müssen, damit wir das Fühlen

und Handeln der einzelnen Personen aus dem allgemeinen Zustand begreifen, so müssen gewisse Dinge nothwendig wiederkehren.. Wechselgespräch der Lieben­

den z. B. wird sich jedesmal finden.

Es wird nichts anderes übrig bleiben,

als aus der Noth eine Tugend zu machen und gewisse unentbehrliche Theile

typisch werden zu lassen: um so schärfer hebt sich heraus, wie ein und daffelbe Motiv der Erfindung sich je nach dem Geist der Zeit verschieden gestaltet.

Der Styl der Liebesgespräche, um bei dem Beispiele zu bleiben, ist jedesmal sehr viel anders in den vier Erzählungen.

Auch liegt es in der Natur der Sache, daß die Exposition am meisten von Sittenschilderung enthält.

Später läßt der Fluß der Erzählung dazu wenig

Raum, die etwaige Retardation vor dem Schluß darf doch nicht durch cultur-

historische Orientirung bedingt sein.

So befinden wir uns zu Anfang der dritten

Geschichte im Kloster und werden gleich mit den Elementen der Bildung und

des Gefühles vertraut, aus denen die Charaktere die wir später kennen lernen zusammengesetzt sind.

In der vierten Erzählung wird uns zum Beginn das

ganze reiche litterarische und sittliche Leben der Zeit entrollt.

Höfischer Ge­

sang, Volksgesang, Bagantenpoesie, Minnelyrik, Dorfpoesie, höfisch zierlicher

Ausdruck und dessen mit französischen Fremdwörtern gespickte Caricatur, Eti­ kette und wirkliche Verfeinerung der Gesinnung: es ist Alles da, und das

Feinste, Edelste, Liebenswürdigste findet sich in dem Helden zusammen.

So erhält jede Geschichte ihren eigenthümlichen Ton, ihre eigenthümliche Farbe. Und so fest und so bestimmt ist dieser Eindruck, daß ich kaum der Ver­

suchung widerstehe, wirkliche Farben zu nennen, in die ich mir den besonderen Geist jeder Erzählung unwillkürlich übersetze.

DaS Nest der Zaunkönige mu-

thet mich an wie ein grauer kühler Herbstmorgen. In dem letzten Bande über­

wiegt die Stimmung eines goldigen blüthenreichen Sommertages. Die Hauptschwierigkeit scheint mir die Wahl der richtigen Zeit, oft geradezu des richtigen Jahres, in welchem die Erzählung beginnt. Ich habe ben Eindruck,

daß die Wahl diesmal besonders glücklich war, daß sich daher auch die Ver­ kettung wie mit spielendem Leichtigkeit fügte.

Die Jahre 1226—1232 und in

Thüringen: was hängt nicht gleich daran! Die heilige Elisabeth, also einerseits

Landgraf Ludwig, Kreuzzug, Italien, Kaiser Friedrich, Hermann von Salza und der Deutsche Orden; andererseits der fanatische Mönch Konrad von Marburg,

der Ketzerrichter — es müssen also Ketzer vorkommen, die bedroht sind und mit

dem Helden zusammen hangen, durch deren Gefährdung sich seine Auswande­ rung motivirt.

In das Ganze hineingepflanzt, als Träger und Nättelpunet,

die rechte typische Figur der Zeit, ein litterarischer Ritter, ein Minnesänger,

für dessen friedliche Abenteuer die Memoiren Ulrichs von Lichtenstein das Muster hergaben, für dessen tragische Verwickelungen sich die Geschichte des Kastellans

von Couch und ähnliches darbot. Wenn ich mich im Nest der Zaunkönige von dem Geiste des Rudlieb und ähnlicher Gedichte angeweht fühle, so waltet hier die Stimmung des höfischen

Epos, in die es manchmal wie aus dem Meier Helmbrecht hinein klingt. Ganz wie in der gebildeten Erzählung des dreizehnten Jahrhunderts herrscht ein ge­

wisses Ebenmaß der Gemüthskräfte, es wird alles in uns angeregt und doch nichts iudiscret zu stark hervorgedrängt, und eine leise Ironie glitzert hier

und da wie ein silberner Fluß in der Ferne. Unter den Gestalten des Dichters hat am meisten Kaiser Friedrich von diesem ironischen Elemente mitbekommen.

Aber auch an vielen rührenden Momenten fehlt es nicht, wir athmen die Luft einer Zeit, in welcher Gefühle stark gepflegt und fein ausgebildet wurden.

Und

die Schicksale der Menschen und die Situationen, in die sie kommen, sind mehr

Zaunkönig und Spielmannskönig.

90

als man denkt von dem psychologischen Mittelmaße bestimmt.

Tiefen Eindruck

hat mir besonders die Scene S. 158 f. gemacht, wo Friderun zu Weihnachten

als Himmelskönigin durch das Dorf schreitet und die Kinder beschenkt und in einer gar niedrigen und elenden Hütte einkehrt und der Knecht Ruprecht, der sie begleitet, sich der Späße enthalten muß, denn die Mutter liegt krank, und

wie die Kinder auf sie zukommen, und — nein, ich will es nicht nacherzählen.

Wir fühlen, wie Liebe ausströmt aus dem Mädchen und die Kinder umfängt und sie ihr ans Herz trägt.

Und wir erleben das mit gleichsam aus der Seele

Jvo's, der dem Gange beiwohnt.

sein muß.

Wir begreifen, daß auch sein Herz bewegt

Und ästhetisch ist das Ganze vollkommen wie eins jener altdeutschen

Gedichte, in denen die feinste Phraseologie, die weichsten und süßesten poetischen

Klänge des Minneliedes zu Ehren der allerseligsten Jungfrau verwendet werden, so daß Himmlisches und Irdisches sich in der Sphäre der Schönheit unauflös­

lich durchdringt. dem

Es ist die Stimmung, in der die Seele sich befreit fühlt von

starren Drucke bestimmter herrisch überlieferter Glaubenssatzung.

Das,

worin sie schwelgt, ist ihr eigenes Product, daS feine geistig-sinnliche Lied ist

ihr Werk.

Bon da aus begreift man die Unabhängigkeit dieser Menschen und

ihre freie schöne Humanität, wovon die Freytagsche Erzählung voll ist.

Der Schluß hat wieder etwas Typisches.

Alle vier bisher erschienenen

Theile der „Ahnen" schließen mit einer Art Belagerung, worin der Satz: „Mein Haus ist meine Burg" eine praktische Illustration zu erhalten scheint.

Freytag liebt es solchen Kampf um das eigene Besitzthum

und die Abwehr

eines feindlichen Angriffs zu schildern: man erinnert sich der polnischen Revo­ lutionsscenen aus „Soll und Haben," womit das fünfte Buch schließt.

Ivo von Ingersleben hat sich gegen die gräulichen Schergen des domini­ canischen Ketzerrichters zu wehren und seine Rettung ist, daß er um Bruder­

schaft wirbt bei den Rittern des Deutschen Ordens.

In der Nachbarschaft der

Polen siedelt auch er dann sich an. Straßburg, 24. Dezember 1874.

W. Scherer.

Politische Correspondenz. Berlin, 10. Januar 1875. Wir thun wohl nicht unrecht, wenn wir uns trotz der Erhebung des

Prinzen AlphonS zum König von Spanien, trotz der Botschaft Mac Mahons und der Ministerkrisis in Paris heute vorzugsweise mit unseren inneren Dingen beschäftigen.

Seitdem Deutichland seinen Schwerpunkt in sich selbst

gefunden, sind seine Angelegenheiten die wichtigsten in Europa.

Weit weniger

wichtig ist eS, unsern Lesern zu erzählen, wie der Präsident von Frankreich ^an

dein Sisyphusstein der „eonstitutionellen Vorlagen" wälzt, wie er noch immer das Skptennat organisiren und eine Majorität aus den heutigen Parteien der Nationalversammlung bilden will.

Auch die plötzliche Rückverwandlung der

„Republik'" Spanien in eine Monarchie ist zwar ein Ereigniß, an welches der Menschenfreund die Hoffnung auf das Ende der Verwüstungen knüpfen mag,

die geistlicher und weltlicher Despotismus in dem schönen Lande angerichtet haben;

aber der 17 jährige Alphons ist ein Sproß aus dem Bourbonenstamm, und sollte das Unglück seine unreife Jugend belehrt haben, so wird der „glimmende

Docht" staatlicher Organisation, der dem Erlöschen nahe war, doch nicht sobald

mit gleichmäßiger Flamme brennen; erst nach manchem Jahr wird Spanien wieder ein bescheidenes Gewicht in die Wagschale Europas werfen können. Nur für die Carlisten und damit für die Hoffnungen des elericalen Legitimismus, der

erst Madrid, dann Paris zu erobern dachte, ist die Krönung des Sohns der

Isabella ein empfindlicher Schlag.

Aber für uns war der Kampf der Carlisten

und ihr Einverständniß mit den Ultramontanen in Frankreich nicht eigentlich an sich von Bedeutung; er gewann eine gewisse Bedeutung nur dadurch, daß er die klerikale Bewegung in Deutschland durch die unbestimmte Aussicht auf europäische Bundesgenossen ermuthigte.

In Frankreich hat der „kalte Wasser­

strahl" die GemÄther ernüchtert; seitdem haben die Bischöfe dort keine Brand­ briefe inehr gegen die deutsche Kirchenpolitik geschleudert.

In Spanien wird die

nichtswürdige Beschießung und Plünderung der Brigg „Gustav" wohl die letzte

Großthat der Carlisten gegen die deutschen Ketzer gewesen sein.

Nehmen wir

die Stellung hinzu, welche Oesterreich durch seine kirchliche Gesetzgebung gegen Rom bekommen hat, die Erregung ferner, welche in England seit Gladstone's

Schrift gegen die vaticanischen Beschlüsse entstanden ist, so darf der römische Versuch, eine mächtige Strömung in Europa gegen uns hervorzurufen, gleichsam

einen lärmenden Chor, der unS die Gemüthsruhe im Kampfe erschüttern sollte,

als gescheitert betrachtet werden.

Aber die Entscheidung des Kampfes selbst liegt

92

Politische Lorrespondenz.

doch nicht in jenen auswärtigen Verhältnissen, sondern in dem Geist und der

Kraft unsrer Nation.

Weil in der großen Mehrheit unsres Volks, weil selbst

in dem gebildeten Theil unsrer katholischen Bevölkerung die protestantischen

Ideen staatlicher Selbstständigkeit, bürgerlichen Pflichtgefühls und einer durch keine Priestercasuistik zu zerstörenden Gesetzlichkeit festgewurzelt sind, darum wird die "römische Herrschsucht uns nicht bewältigen.

Und durch unsern Sieg wird

auch den Nationen Europas das volle Gefühl ihrer staatlichen Würde zurück­

gegeben werden.

Sie leiden heute mit durch unser Leiden, unser Triumph wird

auch ihnen den bürgerlichen Frieden und die Autorität des Gesetzes sichern.

Gladstone, der in seiner berühmten Broschüre anerkennt, daß „die Ansprüche (des Baticanums) und die Macht, welche sie erhoben, in erster Linie verantwort­

lich seien für alle etwaigen Mühen und Gefahren des gegenwärtigen Conflikts zwischen deutschen und römischen Forderungen", fügt zugleich hinzu:

„Was

einst von Frankreich gesagt wurde, läßt sich jetzt nicht weniger richtig von

Deutschland sagen:

Wenn Deutschland beunruhigt ist, kann Europa nicht im

Frieden sein."

Diese allgemeine Betrachtung mag es rechtfertigen, wenn wir uns auf unsre innere Arbeit zur Befestigung der Institutionen des Reichs beschränken.

In

der diesmaligen Session des Reichstags lag kein einziger Gesetzentwurf vor, der

die römische Kirche betraf.

Gleichwohl hat die ultramontane Partei gerade

diesmal die verzweifeltsten Anstrengungen zur Opposition gemacht.

Die Aus­

fälle gegen die Person des Kanzlers, die Verdächtigungen seiner Politik sind

niemals maßloser gewesen.

Der innere Grund dieser Leidenschaftlichkeit war

das Gefühl, daß die Partei ihre Mittel erschöpft habe.

Sie hat das Mögliche

gethan, um die katholischen Volksmassen durch den Wahn der Religions- und Kirchenverfolgung in Erregung zu bringen. Gleichwohl sind die unteren Stände

träg, die mittleren mehr als kühl und zurückhaltend geblieben.

Den Gesetzes­

übertretungen der Bischöfe und des Clerus ist die Strafe auf dem Fuße ge­ folgt, ohne daß die Blindgläubigen über harmlose Sympathiebezeugungen hin­ auszubringen waren.

Bewußt oder unbewußt — die Politik der Partei lief auf

das bekannte Hülfsmittel des Nuntius Meglia hinaus, und dieses Mittel versagte.

Selbst in den höheren Regionen war durch die Drohung mit dem Aufruhr

und mit der Lockerung der Disciplin in der Armee, nichts auszurichten.

Der

Staat, der bisher immer schwach und ängstlich gewesen war, blieb stark und furchüos.

Noch ein Paar solcher Jahre, und die katholische Laienwelt wird

sich der Kirche entfremden, oder ihren Clerus zum Frieden zwingen. Diese miß­ liche Lage steigerte bei den ultramontanen Führern die Erbitterung.

Aber in

der Leidenschaft und Unruhe greift man fehl, und so hat die Partei gerade in

dieser Session eine Reihe der schwersten Niederlagen zu verzeichnen. Gleichwohl ist in der Regierungspreffe den Liberalen der Vorwurf gemacht, daß sie sich nicht einmüthig genug gegenüber den Clericalen zusammengeschlossen

hätten.

Gewiß sind Fehler begangen; es ist außerordentlich schwer, in einem

hitzigen, Monate währenden Kampf niemals ein taktisches Versehen zu machen,

zurttal wentt die Last der Arbeit so unmäßig auf die Abgeordneten drückt, wie

eS in dieser Session der Fall war.

Ueberblickt man aber den ganzen Verlauf,

so waren die Augenblicke, wo die Clericalen aus dem Zwiespalt der reichs­ freundlichen Parteien Nutzen zogen, doch außerordentlich selten, und die momen­ tane Verwirrung löste sich regelmäßig zu ihren Ungunsten.

Bei der ersten Le­

sung des Bankgesetzes wünschten die Freunde der Reichsbank, den Regierungen

den Standpunkt des Hauses sofort durch eine Abstimmung klar zu machen. Es galt

Zeit zu sparen und den preußischen Finanzminister wie den Bundesrath rasch zu Ver­ handlungen über die Reichsbank zu veranlaffen. Aus diesem Grunde wurde statt de- einfachen ein motivirter Antrag auf Einsetzung einer Commission gestellt, und als Motiv für die letztere geltend gemacht, daß der Entwurf durch Be­

stimmungen über die Reichsbank ergänzt werden müsse.

Da entstand nun die

Frage, ob dies nicht ein directer Abänderungsantrag zu der Vorlage sei, den die Geschäftsordnung vor Schluß der ersten Berathung verbietet.

Dieses

formalen Streitpunkts bemächtigten sich die Ultramontanen, und der ursprüng­ lich von den Parteien der Mehrheit fH allgemein gebilligte Antrag fiel, weil

bei einem Theil der Liberalen sich juristische Bedenken regten.

Hätte man nach

der Lage der Dinge nicht ans ein anderes Stimmenverhältniß rechnen dürfen, so wäre es allerdings praktischer gewesen, einige Tage später die zweite Lesung

anzuberaumen und erst dann das PrinzKp der Reichsbank zu votiren.

Im ersten

Augenblick war große Verwirrung; Präsident Forkenbeck, gereizt durch die starke Kritik des von ihm für zulässig erklärten Antrags, legte sein Amt nieder, und Herr Windthorst spielte am andern TaAe den Wortführer des Hauses, indem

er die Wiederwahl durch Acclamatiom vorschlug.

Aber in der Hauptsache

schadeten diese Vorgänge wenig. Die Rkegierung hatte die Strömung im HaUse

vollständig erkannt; der preußische Fiwanzminister verdeckte durch kluge Nach­

giebigkeit die bis dahin im Bundesrath eingenommene Stellung und das worauf eS allein ankam —• die Institution der» Reichsbank — wurde im friedlichen Ein­

vernehmen mit den Regierungen siegreich von der Mehrheit durchgesetzt. Noch in einer anderen hochwichtigen Frage glichen sich die Anschauungen

deS Reichskanzlers und der Majorität aus, während die Verdächtigungen des CentrumS wirkungslos zu Boden fielen. neugeschaffene Reichsjustizamt.

Es war bei der Berathung über das

Die nationalen Parteien konnten diese Ein­

richtung nur mit gemischter Empfindung begrüßen.

Sie erkannten den Fort­

schritt an, daß das Reich für die juristische Vorbereitung wichtiger Gesetze und für die Verwaltungsgeschäfte, die nach Durchführung der Justizorganisation ent­

stehen, ein eigenes Organ erhalten sollte, aber sie mußten fordern, daß dieses Organ aus einer Unterabtheilung des Reichskanzleramis sich zu einer selbstän­ digen Reichsjustizbehörde entwickle. Bereitwilliger als je ging der Kanzler auf diesen Gedankengang ein.

Er

erklärte ausdrücklich, daß in der Stellung des Kanzlers kein Hinderniß liege,

die Selbständigkeit der Reichsministerien so weit auszudehnen, als die ver­

fassungsmäßigen Berechtigungen des Bundesraths es irgend gestalteten.

Für

sich beanspruchte er nur entweder das Recht, die Entlaffung eines Ministers zu fordern, wenn er die Verantwortung für das Verfahren desselben nicht weiter

übernehmen könne, oder — da dies die Majestätsrechte deS Kaisers berühre — die Befugniß, in den Lauf eines solchen Kollegen verfügend einzugreifen und

dadurch die Richtung der verschiedenen Reichsministerien im Einklang zu erhal­ ten.

Das Eine wie das Andere kommt auf die Stellung eines englischen Ca-

binetSchefs hinaus; und diese ist, weil sie allein eine Einheit des Ministeriums

und die persönliche Verantwortlichkeit des leitenden Ministers für alle großen Maßregeln neben der mehr fachmäßigen Verantwortlichkeit seiner Collegen sichert,

mit dem constitutionellen Leben weit verträglicher als das Collegialsystem der preußischen Minister.

Fürst Bismarck stellte ferner in Aussicht, daß aus den

Abtheilungen des Reichskanzleramts sich ein Justiz-, ein Handels-, ein Finanz-,

ein Elsasser-Ministerium entwickeln müsse, wenn er auch den Zeitpunkt für die Erreichung des Ziels nicht in die nächste Zukunft rückte.

So war der vieljäh­

rige Streit über die Organisation der obersten Reichsbehörde wenigstens im Prinzip nach den nationalen Wünschen erledigt.

Die heutigen Zustände, deren

große Bedenken noch jüngst bei dem Bankgesetzentwurf in dem Mangel eines verantwortlichen Leiters der Reichsfinanzpolitik heraustraten, waren ausdrücklich

als Uebergangszustände anerkannt.

Die Erörterungen schloffen unter größter

Befriedigung der reichstreuen Majorität; und wenn Herr Windthorst den außer­ preußischen Justizministern vorwarf, daß sie durch daS neue Reichsamt die Justiz­ hoheit der Einzelheiten aufheben ließen, daß es zweifelhaft sei, ob diese Staaten

überhaupt noch existirten, so waren diese gehässigen Versuche, den höchsten Be­ amten der Bundesstaaten bei ihren Souveränen eine schwarze Censur auszu­

stellen, jedenfalls nicht geeignet, die Sympathien der mittelstaatlichen Regierungen

für die Centrumspartei zu erhöhen. Als Führer der Ultramontanen in Baiern gilt der Abgeordnete Jörg; im Reichstag hat er sich nur durch einige wohlpräparirte und mit ausgesuchter Malice vorgetragene Reden bemerkbar gemacht, von denen die letztere einen besonders unglücklichen Ausgang für seine Partei nahm.

Seit Jahren ist es die

Taktik der Ultramontanen, den Reichskanzler als den allgemeinen Friedensstörer vor­ der Welt darzustellen.

Aber während die Mallinckrodt und Windthorst sich wohl

hüteten, diese Verdächtigung anders als in hingeworfenen Andeutungen auszu­ sprechen, beging Jörg die Thorheit, sie durch eine Vorlesung über die auswärtige

Politik des Jahres beweisen zu wollen. Und da die Thatsachen fehlten, so kam er zu der Ungeheuerlichkeit, eine flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs darin zu finden, daß die Reichsregierung sich Beleidigungen des Kaisers in der inspirirten und unter dem Belagerungszustand stehenden Pariser

Presse verbat, oder daß sie Abhülfe, durch die Gesetze Frankreichs zulässige Ab­ hülfe forderte gegenüber den Bischöfen, die in ihren Hirtenbriefen die Gemüther

gegen Deutschland hetzten, und deren Diöeesen obenein zum Theil über deutsches Gebiet gingen.

So kam er ferner zu der Ungeheuerlichkeit, die Karlisten wegen

der Ermordung des Hauptmann Schmidt zu vertheidigen unb den Schritt, den

wir zur Revanche thaten und bei dem alle Mächte Europas außer Rußland

unS folgten, ein Fiasko zu nennen.

Er griff den Reichskanzler an der Stelle

an, wo dieser am unverwundbarsten ist, in seiner stolzen Vertretung der Ehre

der Nation, die ohne Unterschied der Confession schlechthin der Meinung ist. daß auch ein Deutscher nicht mehr ungestraft im Auslande ermordet werden dürfe.

Und auf solche Betrachtungen stützte er die wunderliche Forderung, daß der diplomatische Ausschuß des Bundesraths den blutdürstigen Kanzler unter Kon­ trolle nehmen und ihm die Milch der frommen Denkart und der Achtung

vor fremden Nationen beibringen solle.

Jeder Satz dieser schulmeisterlichen

Weisheit war eine Beleidigung des gesunden Selbstgefühls des Volks, auch des

Selbstgefühls jedes deutschgesinnten Katholiken.

Und in diesen Zusammenhang

verwebte nun der Redner das Kissinger Attentat, als die Frevelthat eines halb-

verrückten Menschen, die einen guten Theil der deutschen Denkernation in's Deliriren gebracht, und anfänglich auch die wahnsinnige Absicht einer förmlichen

Intervention in Spanien erzeugt habe!

Mehr als einen Monat lang hatten

die Ultramontanen sich gehütet, jenen dunklen Punkt zu berühren, der mit der

von ihnen hervorgerufenen Verwirrung der Maffen in so nachweisbarem Zu­ sammenhang stand.

Jetzt ward die That höhnend erwähnt, als die Handlung

eines Halbverrücktea gegen einen Mann, der dadurch in's Deliciren gericth! Die Züchtigung, die dem Redner und seinen Freunden für alle diese Sün­ den zu Theil ward, war hart, aber nach Verdienst.

Jetzt traf sie das Wort:

Er nannte Sie seine Fraction und mögen Sie sich lossagen von diesem Mör­

der, wie Sie wollen, er hängt sich an Ihre Rockschöße! — Und wenn bei der

äußersten Erregung der Gemüther es Herr Windthorst nun gleichwohl wagte, die Schuld an dem wahnsinnigen Unternehmen des

„unglücklichen" Kullmann

denen zuzujchreiben, die den Kirchenstreit herbeigeführt, wenn er eS wagte die

Verläumdung zu wiederholen,

allmählich

„daß wir (durch des Kanzlers Interventionen)

einem Krieg unvermeidlich

entgegensteuern,"

so brach endlich die

Entrüstung des HauseS in dem Urtheil aus: Die Regierung Deutschlands der

Anreizung zum Kriege beschuldigen, das ganze Ausland auf diese Weise gegen

Deutschland hetzen, das ist ein Manöver, welches gebrandmarkt werden muß, unwürdig eines Vertreters, ein Verbrechen gegen das Vaterland! — Der 4. De­

cember war ein schlimmer Tag für die CentrumSpartei.

Er offenbarte den

Abgrund, der zwischen ihrem vaterlandslosen Treiben und dem Gewiffen der

Nation liegt. An demselben Tage hatte ein Schreiben des Kanzlers dem Hause angezeigt, daß er die Etatsforderung für die Gesandtschaft bei dem römischen

Stuhl zurückziehe.

Zu dem Entschluffe mochten die Insinuationen beigetragen

haben, die zur Ermnthigung des clericalen Widerstandes ausgesprengt waren,

als habe das deutsche Reich geheime Schritte in Rom gethan, um vom Pabst den Frieden zu erkaufen. Bor einem Jahr hatte Dr. Jörg im bairischen Land­

tag die Stteichung aller Gesandtschaften, auch der in Rom beantragt; England, Amerika, Rußland haben keine Vertretung bei dem römischen Stuhl; gleichwohl

Politische Corresponbenz.

96

behauptete Herr Windthorst, daß der Wegfall deS Gehalts eines seit Äahren

auf Urlaub befindlichen Geschäftsträgers für die Katholiken die Bedeutung habe,

daß man ihre höchsten Lebensinteressen nicht mehr berücksichtigen und den Pabst ferner nicht als Oberhaupt der katholischen Kirche anerkennen wolle.

Dafür

lohnte ihm der Kanzler durch den Vergleich mit dem armenischen Patriarchen,

der das geistliche Oberhaupt von Millionen russischer Unterthanen sei und bei

dem Rußland gleichwohl keinen diplomatischen Vertreter halte. kam noch schlimmer.

Aber die Sache

Es sei eine Anstandspflicht des Reichs, so erklärte der

Kanzler, auch nicht den Schein der Anerkennung einer Macht auf sich zu la­

den, welche Ansprüche erhebe, deren Durchführung mit jedem geordneten Staats­ wesen unverträglich sei, und welche von den deutschen Katholiken die Auflehnung gegen die Gesetze ihres Vaterlandes als geschworne Dienstpflicht fordere.

Und

durch zwei schwerwiegende Thatsachen kennzeichnete er dann den schlechthin

deutschfeindlichen und revolutionären Charakter des römischen

Stuhls.

Er

wiffe aus den in Frankreich aufgefundenen Papieren so wie aus den Mitthei­

lungen der betheiligten Kreise, daß im Juli 1870 jesuitische Einflüsse am fran­

zösischen Hofe den eigentlichen Aus sch lag zum Krieg gaben; daß der von Napoleon III. bereits gefaßte Entschluß, den Frieden zu erhalten, durch jene

Einflüsse umgeworfen wurde.

Er wisse ferner, daß vor dem Ausbruch jenes

Krieges der päbstliche Nuntius Meglia in München vor einem deutschen Ge­

schäftsträger die Aeußerung that: der katholischen Kirche kann nur die Revolution helfen.

Lautloser hat das Haus niemals einem Redner gelauscht, als jetzt den

Worten deS Abgeordneten v. Varnbühler, der aus der Zeit seiner amtlichen

Thätigkeit als

Würtembergischer Ministerpräsident

jene Thatsache

bestätigte

und durch Darstellung der näheren Umstände die Ausflucht abschnitt, daß der fromme Wunsch des Nuntius sich nur auf Italien bezogen habe.

Der unfehl­

bare Stellvertreter Christi, der geweihte Träger des Friedens und aller conser-

vativen Ordnung, wie er sich sehnt nach dem Umsturz der deutschen Fürstenthrone und den blutigsten Krieg gegen die ketzerische Nation heraufbeschwört — mit der Darstellung dieses lebenden Bildes schloß die Verhandlung über die

römische Gesandtschaft. Die parlamentarischen Kämpfe haben ihre Zwischenfälle, die Niemand vor­

aussieht.

Ein solcher Zwischenfall war die Verhaftung

des Abgeordneten

Majunke und die ungeahnte politische Bedeutung, welche den in Anlaß dieses

Falles gefaßten Beschlüssen des Reichstags beigelegt wurde.

Die Verhaftung

eines Abgeordneten zur Verbüßung gerichtlich zuerkannter Strafe ist während einer Sitzungsperiode bisher in Deutschland niemals vorgekommen.

Cs ist da­

her auch niemals die Frage untersucht, ob das Privilegium des Art. 31 sich nur auf die Untersuchungshaft oder auch auf den Beginn einer Strafhaft

während der Dauer der Session beziehe.

Sobald der praktische Fall eintrat,

mußte auch die Frage auftauchen. Darüber ist wohl heute allgemeines Einver-

ständniß, daß es für das Reich höchst gleichgültig war, ob der Vernrtheilte seine

Strafe im December oder im Februar anirat, daß also die Justizverwaltung

daS Auftauchen jener Frage durch eine »«nöthige und unzweckmäßige Maß­ regel

provocirte.

Und

auch

das wird

Niemand mehr bestreiten,

daß das

HauS, indem es unter Zustimmung aller Parteien, die Zulässigkeit der Maßregel und die Schritte zur Verhinderung künftiger Wiederholungen erwog, dazu durch keine Sympathie mit dem Ultramontanismus sondern durch die Rücksicht auf

das objective Recht und die für Garantien veranlaßt

wurde.

schläge Becker beschlossen,

den Bestand des Parlaments Hätte der Reichstag

nothwendigen

später nach

dem Vor­

die Frage bei Berathung der Strafprozeßordnung

zu erledigen, so würde der Zwischenfall ohne weitere Wirkung vorübergegangm sein.

Erst die Phrase von der Wahrung der Würde des Reichstags, mit der

die Hoverbeck'sche Resolution begann, weckte den Gedanke», daß der Reichstag sich ans die Seite des „verfolgten" Majunke gegen den „gewaltthätigen^ Reichs­ kanzler stelle, daß er zum mindesten einen Beschluß gefaßt habe, der, wenn auch anders gemeint, doch diesen Schein in ganz Europa wecken werde.

Die bedauerlichen Wirren, welche diese Auffassung für wenige Tage her­ Nachdem der Zwiespalt seine Lösung ge­

vorrief, liegen jetzt weit hinter uns.

funden, erinnern wir «nS am liebsten nur dieser Lösung.

Soweit der Mangel

an Fühlung zwischen dem Reichskanzler und der Mehrheit deS HauseS durch die letzter: verschuldet war, hat sie ihren Antheil an der Schuld mit rascher Ent­

schlossenheit abgetragen.

Die politische Unklugheit der Ultramontanen gaö dazu

den erwünschten Anlaß.

Es war thöricht den Reichskanzler der Krieg-- und

JnterventionSlust in dem Augenblick anzuklagen, wo die Arnim'schen Afteustücke seine großartige Friedenspolitik vor aller Welt klar gelegt hatten.

ES war

ebenso thöricht, gerade auS jene» Proceßverhandlungen, die von der erfolgreichsten journalistischen Betriebsamkeit einer Privatperson gegen den Kanzler Kunde ga­

ben, den Vorwurf herzuleiten, daß die Presse deS letzter» die öffentliche Meinung

in Generalpacht nehme.

Aber der Gipfel der Thorheit war, gerade in jener

Zeit der KrisöS der Mchrheit die Gelegenheit zu einem glänzenden Vertrauens­ votum für deir Fürsten Bismarck zu geben. — „Eure Angriffe gegen den Kanzler gelten nicht der Person, sondern dem Träger der Institutionen deS Reichs «nd

je verzweifeltem diese Angriffe werden, desto mehr stärken sie daS Vertrauen der Nation zu dem Leiter unserer nationalen Politik!"

DaS war der Sinn des Bo-

tums, welches von fast drei Biertheilen deS Reichstags bis hin zum äußersten Fortschrittsmann abgegeben wurde.

Der 18. December konnte dem Kanzler be­

weisen, daß eS doch nicht allzuschwierig ist, mit den nationale» Gesinnungen dieses Reichstags sich in Fühlung z« erhalten.

UnauSgemacht aber ist ge­

blieben, ob Jörg oder Windthorst diesmal das größere Mißgeschick über ihre

Genossen gebracht habe». Wir haben von den eigentlichen Geschäften des Reichstags noch gar nicht

gesprochen, und doch waren sie eS gerade, wo die reichstreue Mehrheit ihren festen Zusammenhalt bewies. Weder bei dem Militärbudget, noch bei den ande­

ren Zweigen des Reichshaushalts, weder bei dem Gesetzvorlagen deS KriegSministeriumS, noch bei den verwickelten Berhältniiffen Elsaß-Lothringens ist es

Preußische Jahrrücher. Bd. XXXV. Heft 1

7

Politische Korrespondenz.

98

der Opposition gelungen, die Majorität zu sprengen.

In einem Erlaß vom

December 1872 machte der Reichskanzler einmal darauf aufmerksam, „wie stark

und maffenhaft in Deutschland die Bekehrung gewesen sei und noch sei von rothen zu gemäßigt-liberalen, von gemäßigt-liberalen zu conservativen Gesin­ nungen, von doktrinärer Opposition zu dem Gefühl des Interesses am Staat

und der Verantwortlichkeit für denselben".

Die Richtung in dem politischen

Geist der Nation ist damit gewiß treffend bezeichnet.

Zwar die alte conser-

vative Partei in Preußen ging unter, weil sie sich in die Bedingungen der neuen nationalen Existenz nicht finden konnte.

Aber der große Gang der Bis-

marck'schen Politik, die die Träume von Jahrhunderten erfüllte, ihr realistischer

Zug, ihre geniale Erfindsamkeit in der Ueberwindung aller Schwierigkeiten hat die deutschen Liberalen innerlich politikern gemacht.

verwandelt und aus Doctrinären zu Real­

Nur möge man nicht vergessen^ daß schon die Wahlen zu

dem jetzigen Reichstag unter der Macht dieser Strömung erfolgten; und daß vielleicht die Stimmung einzelner Provinzen aber nicht die Nation im Großen

und Ganzen weiter rechts steht als diese Versammlung.

Die Popularität des

Reichskanzlers ist heute beispiellos; die öffentliche Meinung fordert ganz ent­ schieden, daß der Reichstag die Bismarcksche Politik, vor Allem in dem Kampf

gegen Rom treu unterstütze.

So lange aber keine wichtige und verständliche

Frage vorliegt, wo jene Unterstützung versagt wurde, wäre es ein sehr gewag­

tes Spiel, durch eine Auflösung ein HauS gewinnen zu wollen, dessen Schwer­ punkt mehr nach rechts läge.

Bon allen Vorlagen hat nur der Bankgesetzentwurf zu einem prinzi­ piellen Widerspruch deS Reichstags geführt, zu einem Widerspruch aber, der die nationale Idee gegen particularistische Gesichtspunkte vertrat, welche die Schöpfung

der Reichsbank noch auf Jahre hinaus verhindern wollten.

Wir zweifeln nicht,

daß auch der Kanzler diese oppositionelle That der Mehrheit des Hauses als Verdienst anrechnen wird, wie diese ihrerseits die rasche Bereitwilligkeit aner­

kennen muß, mit der die Reichsregierung auf die Umgestaltung der Vorlage

einging.

Aber auch die Sorgen, welche die Feststellung des Militär et als

weckte, sind durch den Gang der Verhandlungen völlig zerstreut worden.

Es

war die erste Berathung seit der Schöpfung des Norddeutschen Bundes und des

Reichs, und dieser Etat überstieg die Ausgaben im letzten Jahr des Pauschquantums um 15 Millionen Thaler. Der größere Theil der Mehrausgaben war allerdings durch das Militärgesetz bedingt, welches im vorigen Frühjahr die Friedenspräsenz­

stärke der Armee auf 401,000 Mann fixirt hatte. Aber Veränderungen aller Art in der Zahl der Officiere, der Pferde; Zulagen und-Lohnverbesserungen, ver­ mehrte Ausrüstung und außerordentliche Bauten u. s. w. wurden verlangt, wo

das Gesetz keinen Zwang auflegte, sondern die Erwägung des Bedürfnisses ent­

schied.

Ohne jede vorgefaßte Tendenz, vielmehr mit entschiedenster Sympathie

für die Armee prüfte die Commission jene Bedürfnisse und das Haus folgte ihr nicht blos in seinen Beschlüssen, sondern lehnte auch die Anträge ab, durch

welche einige, finanziell ziemlich unerhebliche, aber dem Kaiser persönlich werth-

volle Besonderheiten bei einzelnen Gardetruppemtheiilen beseitigt werden sollten. Nur durch ein in der Regel geschlossenes Ausannnuenstimmen der nationallibe-

ralen mit den eonservativen Mitgliedern wurde jenes Resultat in der Com­

mission erreicht.

Denn Anträge auf Abstreichmngen waren in Fülle gestellt,

und die Clericalen, denen es politisch klug schien, iim Plenum später nicht den

Mund aufzuthun, unterstützten mit ihrer starken Stimmenzahl in der Com­

mission unbesehen jede Streichung, selbst wenn dringliche Kirchenbauten bezog.

dieselbe sich

cmf ein Paar

Im Ganzen verminderte der Reichstag den

Militäretat um 1V3 Mill. Mark, und verwies noch etwa 2l/2 Mill. Mark statt

auf die Matrikularbeiträge, auf einen Fonds, der Thierwelt die Analogien,

welche die beobachtbare menschliche Geschichte darbietet, so viel als möglich aus­ nützen muß.

Aber in dieser gegenseitigen Befruchtung von Natur- und Geistes-

Wissenschaft schärfen sich die Begriffe und verfeinern sich die Methoden.

Und es

ist kein Zweifel, daß die Sprachforschung wesentlichen Nutzen ziehen kann aus

dem Vorbilde von Darwins Theorie.

Das ist, so viel ich sehe, bis jetzt wenig

geschehen. Der einfache methodische Grundsatz, das Nahe, Erreichbare möglichst

genau zu beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang zu stndiren, um ihn in die Vergangenheit zu projiziren und so deren Ereigniffe zu begreifen,

ist noch lange nicht in seiner Wichtigkeit erkannt. Wie durch Darwin die verach­ teten Liebhabereien der Züchter plötzlich eine ungeahnte wiffenschaftliche Bedeu­

tung erhielten, so mag noch manche jetzt zurückgestellte philologische Disciplin die merkwürdigsten Aufschlüsse in ihrem Schoße bergen.

Wer weiß, ob nicht

Synonymik, Rhetorik, Stylistik in geschichtlicher Anwendung und das intimste

Leben der Sprache zu enthüllen bestimmt sind. so kann ich daran nicht zweifeln.

Was die Synonymik anlangt,

Die synonymen Bildungen in der Sprache

gehen durch: sie schafft gleichbedeutende Wurzeln, gleichbedeutende Ableitungssil­

ben, gleichbedeutende Flexionssilben, gleichbedeutende syntaktische Constructionen. Das stylistische Bedürfniß, den Ausdruck zu variiren und einen Begriff durch

mehrere parallelgeordnete Ausdrücke anschaulich zu machen, war allem Anschein nach schon in der Urzeit vorhanden.

Die Sprachverschiedenheit, die sich inner­

halb eines Sprachstammes heraus bildet, hat ohne Zweifel die Ueberfülle syno­

nymer Bildungen zur Voraussetzung.

In folgender Weise.

Auch zwischen den Wörtern herrscht ein Kampf ums Dasein.

Die einen

breiten ihr Gebiet aus, gewinnen an Macht, die andern weichen zurück und verkümmern.

Es ist eine ganz bestimmte Richtung, in welcher sich dieser Pro­

ceß wenigstens in den indogermanischen Sprachen vollzieht.

Neben viele ein­

fache Wörter können gleichbedeutende Composita gestellt werden; diese Composita haben in der Regel Aussicht, jene einfachen Wörter zu verdrängen und zu überleben.

Gewiffe Lieblingswörter empfangen eine übertragene Bedeutung, sie

werden dadurch zu allgemein, es ist nöthig, feinere Unterschiede zu bezeichnen; aber diese Unterschiede bezeichnet man an ihnen selbst, meist durch beigesügte

Elemente, welche ihre Bedeutung modificiren.

dadurch überflüssig.

Viele einfache Wörter werden

Der Proceß kann durch zwei Dinge befördert werden.

Erstens steigt die Fähigkeit zu generalisiren im Laufe der nationalen Entwicklung;

man zieht es vor, in dem Individuum nur die Modification seiner Gattung darzustellen, anstatt jedes mit einem Eigennamen zu bezeichnen.

die Sprache gedächtnißmäßig überliefert.

Zweitens wird

Es ist aber leichter mit wenigen ein­

fachen Elementen zu operiren, die sich unter einander in mannigfaltigerer Weise

verbinden, als mit vielen einfachen Elementen, die nur geringe wechselseitige

Verbindungen eingehen. Mit einem Wort also: die Wurzeln vermindern sich, und die äußeren, mehr niechanischen Mittel überwiegen zusehends im Laufe der Sprachgeschichte.

Dies ist das Absteigen von leiblicher Vollkommenheit, das

Aufsteigen zu geistiger Vollkommenheit, daS Jacob Grimm so früh beobachtete.

Wenn nun aus einer Ueberfülle ursprünglicher Synonymen eine verhältnißmäßig geringe Zahl übrig bleibt, so ist es klar, daß ihre Präponderanz auf der Wahl der Sprechenden beruht, auf dem Borzug, welchen ihnen eine Nation

oder ein Stamm ertheilt.

Und da eben wegen der großen Zahl der Synonymen

die Möglichkeiten der Wahl sehr verschieden sind, so werden verschiedene geistige

Einheiten, verschiedene Menschengruppen und -Verbände, als da sind Stämme und Stammestheile, bei ihrer Wahl sehr verschiedene Wege wandeln.

sie sich infolge von Wanderungen

Je mehr

und Trennungen geistig abschließen, desto

sicherer werden die vernachlässigten Möglichkeiten des Ausdrucks verschwinden und untergehen. So werden aus den Mundarten Sprachen, aus den Stämmen Nationen.

Man sieht, in welcher Weise hier Anpaffnng und Vererbung wirksam sind.

Die Bedürfniffe der Geister, welche die Sprache gebrauchen, sind die

Bedingungen für die Existenz der Sprache.

Eine bestimmte Richtung der Phan­

tasie, vorwaltende Stimmungen und Meinungen, Geschmack und Stylgefühl werden die Wahl unter den möglichen Ausdrücken beherrschen. Das nähere dieses

Vorganges werden wir nur verstehen, wenn es uns gelingt, die Motive zu er­ forschen, durch welche individueller Styl und individueller Sprachgebrauch be­

dingt ist.

Hier berühren sich Litteraturgeschichte und Sprachwisienschaft.

Jede

Untersuchung über die Sprache Goethe's, welche nicht blos den Sprachgebrauch mechanisch verzeichnet, sondern desien Gründe zu erkennen sucht, ist ein Beitrag

zur Lösung des Problems von der Sprachverschiedenheit.

Daß die geistige Eigenthümlichkeit und ebenso die sprachliche Eigenthüm­ lichkeit sich durch Vererbung steigert, bedarf kaum der Bemerkung.

Die Ueber-

tragung der Sprache auf das Kind ist noch ein verstärkendes Moment; auf die Wirksamkeit des Gedächtniffes wurde schon hingewiesen: aber es kommt dazu,

daß die Lieblingswendungen der Erwachsenen von diesen häufiger wiederholt werden und sich daher dem lernenden Kinde leichter einprägen, während die

vernachlässigten Ausdrücke durch ihr selteneres Vorkommen wenig oder garnicht

haften....

Aber ich kehre zu Whitney zurück.

Er hat mit großer Klarheit sich über

das Verhältniß der jüngeren Sprachepochen zu den älteren geäußert (S. 269):

„Bei noch so großem Wechsel der äußeren Verhältniffe müssen sich doch in allen Phasen der Sprachgeschichte die Grundzüge und Hauptgesetze der Ent­

wicklung sprachlicher Organismen gleich geblieben sein; und nur dadurch kann man daS Dunkel einer unbekannten vorgeschichtlichen Urzeit aufhellen, daß man die lebenden und die in Denkmälern überlieferten todten Sprachen durchforscht

und die auf diesem Wege abstrahirten Gesetze auf die frühesten Perioden des Sprachlebens anwendet.

„Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen" ist, wie wir

schon mehrfach bestätigt gefunden haben, ein Axiom der Sprachwissenschaft so

gut wie der Naturwissenschaften, und wer sich das Wesen und die Entstehung der Sprachen in der alten Zeit ganz anders vorstellen zu sollen glaubt als die der neueren Sprachtypen und Redeformen, der setzt sich der Vergleichung mit

Notizen.

110

einem Geologen aus, der für junge Formationen wie für Kalk und Kiesel die neptunistische Erklärung zulaffen, aber dagegen in Abrede stellen wollte, daß

das Wasser irgend etwas mit der Hervorbringung alter Sandsteine und Conglomerate zu thun habe." Whitney hat von diesen Sätzen mehrfach praktischen Gebrauch gemacht.

Es ist nur eine Anwendung davon, wenn er dem menschlichen Willen eine

größere Rotte in dem Geschäfte der Sprachschöpfung beimißt, als dies gemeinig­

lich geschieht.

Er weist auf viele Wörter der Neuzeit hin, welche von einzelnen

bekannten Männern herrühren und jetzt allgemein angenommen sind.

Und er

läßt folgerichtig eine ähnliche Bethätigung des Individuums auch in den älteren Sprachepochen und in der Sprachschöpfnng selber zu.

Man erinnert sich dabei

vielfach an verwandte Ausführungen von Bagehot („Ursprung der Nationen"),

der den Einfluß des vorangehenden Ersten, dem die Uebrigen folgen, wieder­

holt betont und sehr gut mit Beispielen illustrirt.

Ich möchte nur hervorheben,

daß diese Macht des Einzelnen darum noch nicht Willkür und Zufall in die Ge­

schichte bringt, denn sie ist von festen Schranken umgeben, welche eben wieder die Beobachtung historisch Heller Zeiten kennen und abschätzen lehrt.

Man wird

sich vielleicht künftig weniger sträuben von Erfindung der Sprache zu reden, wenn man nur den psychologischen Vorgang des Erfindens, wie weit da Be­

wußtes und Unbewußtes sich mischt, einer näheren Untersuchung unterzieht. Vor allem aber folgt aus jenen methodologischen Sätzen Whitneys, daß das Wesen der Sprache, die Art der in ihr statthabenden Veränderungen, ihr

Werden und Wachsen ebenso gut an den jüngeren Sprachepochen, ja darin mit größerer Klarheit studirt und dargestellt werden kann, wie an den älteren.

Er

geht demgemäß überall vom Englische» aus und entwickelt seine allgemeinen Sätze so viel als möglich an dem Sprachstoff, der jedem seiner Zuhörer aus

täglichem Gebrauche bekannt ist.

Nach dieser Seite hin lag der schwerste, aber

auch der ehrenvollste Theil der Aufgabe für den deutschen Bearbeiter. Er mußte an die Stelle des Englischen durchweg das Deutsche setzen.

Und man darf

sagen, daß er diese Aufgabe mit Glück gelöst hat.

Ob im übrigen der Verfasser sich stets im Einklang mit seinen eigenen Grundsätzen befindet, das bleibe dahin gestellt. Auf die strenge Beobachtung der Lautgesetze' bei etymologischen Forschungen scheint er nicht allzu ängstlich zu Hallen.

Und wenn er S. 221 die Entlehnung aus fremden Sprachen nur dort

eintreten läßt, wo eine Sprache aus eigenen Mitteln ihre Bedürfnisse nicht decken kann, so übersieht er völlig die Macht der Mode, welche in vergangenen

Zeiten ebenso stark ist, wie in der Gegmwart und welche sehr viel an sich unnöthiges, aber dem augenblicklichen Geschmacke willkommenes aus der Fremde

einschleppt.

Sehr ost waltet auch dabeä das Streben, über mehrere Möglich­

keiten des Ausdruckes zu verfügen: wie auch wir wohl nach einem Fremdwort

greifen, um den Ausdruck zu variiren. Der Bearbeiter hat seinem Originrl eine gute und übersichtliche Geschichte der Sprachwissenschaft angehängt.

Ich verweile darcürf so wenig wie auf den

Abschnitten des ursprünglichen Werkes, die dem populärsten Theile der Sprach­ wissenschaft, den Resultaten der linguistischen Paläontologie, den Zuständen des indogermanischen Urvolkes und dergl. gewidmet sind.

Ich will nur zum Schluß

noch auf eine fernere Berührung zwischen Sprachwissenschaft und Naturwissen­ schaft Hinweisen, welche gleichfalls noch lange nicht hinlänglich ausgebeutet, ja in

ihrer mechodischm Berechtigung kaum genügend anerkannt ist.

Auch bei der

Sprache scheint eS möglich, den Verhältnissen niedriger stehender Idiome einige

Aufschlüsse abzugewinnen über die früheren Entwickelungsphasen höher stehender Sprachen.

Die Urgeschichte des Indogermanischen kann — so scheint es —

nur mit Rücksicht auf die sogenannten agglutinirenden Sprachen reconstruirt werden.

Man weiß, welche glänzenden Resultate z. B. Mr. Tylor durch dieses

Verfahren fnr die Culturgeschichte erzielt hat.

Aber man erinnert sich

wohl

selten, daß die erste einschlägige Beobachtung von Thukydides herrührt, der unter Anführung von Belegen hervorhebt, daß die verschwundenen älteren Sitten der

Hellenen viele Uebereinstimmung mit den noch dauernden Sitten der Barbaren W. Sch.

gezeigt hätten.

B ü ch e r s ch a u.

Mendelssohns Werke. Erste kritische durch gesehen e Gesammt-

ausgabe (Leipzig, Breitkopf und Härtel). —

Vollständig sind bis jetzt folgende Abtheilungen erschienen:

Pianoforte-Werke zu 2 Händen 72 Band, Sämmtliche Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung, Tenor für Pianoforte, Violine und Vio­ loncell.

Diesen werden in Kürze folgen:

Symphonim, Kammermusik für Streichinstrumente, Pianoforte-Quartette,

Pianoforte-Werke zu 4 Händen, Lieder für Sopran, Alt, Tenor und Baß, sowie 9 Ouvertüren.

Tagebücher von Friedr, von Gentz IV. Band.

Aus dem Nachlasse

Varnhagen's von Ense (Leipzig, Brockhaus).

Ausgewählte Schriften von K. A. Varnhagen von Ense XV. u.

XVI. Band (Leipzig, Brockhaus). Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten, von I. I. Honegger (Berlin, R. Oppenheim).

Leibnitz' Stellung zur katholischen Kirche von Dr. Fr. Kirchner

(Berlin, C. Duncker).

Mark Aurel's Meditationen. Schneider.

Gesammelte 4. Auflage.

Aus dem Griechischen von F. C.

3. verbesserte Aussage (Breslau, Trewendt). Werke

von Adolph Stahr.

Ein Jahr in Italien.

L—5. Band (Berlin, I. Guttentag).

Bismarck et Cavour. L’unitö de FAllemagne et Funitö de Fltalie, par H. N. Reyntiens, membre du sönat beige. (Brüssel, Maquardt.)

112

Notizen.

Rußland im neunzehnten Jahrhundert, von Theodor v. Lengen­ feld t (Berlin, Wedekind u. Schwieger). Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie, herausg. von Rudolf Birchow. Zweiundsechzigster Band, zweites Heft (Berlin, Georg

Reimer). Etudes politiques sur l’histoire ancienne et moderne et sur Finfluence de l’ötat de guerre et de Fötat de paix par Paul Devaux (Berlin, F. Schneider). Die Gewerbe-Gesetzgebung im Deutschen Reich, für den praktischen Gebrauch dargestellt und erläutert von L. Jacobi, Geh. Reg. Rath, Mitgl. des Reichstags und des Abgeordnetenhauses (Berlin, Fr. Kortkampf). Das Recht der deutschen Reichsbeamten, aus den Materialien und der Reichs- und Landes-Gesetzgebung erläutert von Herm. Kanngießer, K. Apellations-GerichtSrath, Mitglied des Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten und Abgeordneten zum ersten Deutschen Reichstage (Berlin, Fr. Kortkampf). Die Errichtung eines Reichseisenbahnamts, erläutert von W.Jun­ germann, Reg. Rath a. D. (Berlin, Fr. Kortkampf). Umzugskosten, Tagegelder sowie Wohnungsgeldzuschüsse der Preußischen Civil-Staatsbeamten, nach amtlichen Quellen und der neuesten Ge­ setzgebung von Dr. H. M. Kletke, 2. Aust. (Berlin, L. Pfeiffer). Das Reichs-Gesetz über den Unterstützungswohnsitz, erläutert von Dr. jur. H. Eger, K. KreiSrichter (Breslau, Kern). Die gesetzliche Regelung des Strafvollzug- im Deutschen Reich von Krohne, StrafanstaltS-Director in Vechta (Oldenburg, Schulze). Sachenrecht, mit besonderer Rücksicht auf das frühere Kurfürstenthum Hessen, von Dr. Platner, Professor der Rechte zu Marburg (Marburg, Elwert). Ueber Arbeiterwohnungen von Dr. O. Engelen, aus dem Hollän­ dischen von R. Wegener (Berlin, Wedekind u. Schwieger). La Questione Universitaria, per Carlo Cantoni (Milano,

Bortolotti). Marschenbuch, Land- und Volksbilder aus den Marschen der Weser

und Elbe von H. Allmers (2. Anst. Oldenburg, Schulze).

Verantwortlicher Redacteur: Dr. W. Wehrenpfennig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.

Nordalbingische Studien. ii. Wir haben uns vor Allem in den Zeiten der brennenden nationalen

Gegensätze nur zu sehr daran gewöhnt, bei der Betrachtung dieser Periode immer gerade in ihnen die bestimmenden Mächte zu sehen.

Bei einer ge­

naueren Betrachtung wird man zugeben, daß eine Reihe anderer Inter­

essen ebenso maßgebend sind, ja daß diese manche Jahrzehnte hindurch allein die bestimmenden sind, bis dann in dem Streit und Widerstreit

der ringenden Gewalten die Gefühle nationaler Pflicht und Ehre aus dem tiefsten Grunde der Verhältnisse unwiderstehlich auftauchen.

Für den Wechsel, die Zu- und Abnahme dieser verschiedenen Bewe­ gungen, ohne die die Geschichte NordalbingienS gar nicht zu verstehen ist, bietet die Lübsche Stadtchronik jedenfalls vom Anfang des

Schluß des

14. bis zum

15. Jahrhunderts einen fast untrüglichen Gradmesser, der

im Anfang in längeren Absätzen, später oft Jahr für Jahr den allge­ meinen Stand derselben angiebt.

Eine zweite ähnliche Angewöhnung — und sie datirt freilich

viel

weiter zurück — ist die, die Geschichte der Hansa nicht allein von einem bestimmten Anfang an zu datiren, sondern diese Geschichte als ein beson­

ders glänzendes Stück Deutscher Geschichte aus dem Zusammenhang der Übrigen Entwickelungen möglichst selbständig herauszuheben. Es bedarf auch hier nur eines

Blickes in die wirklich Lübfchen

Theile der Lübfchen Chroniken um zu erkennen, daß der große Gedanke

der Vertretung „des gemeinen Deutschen Kaufmanns"

allerdings sehr

früh der Punkt war, in dem Lübeck mit Cöln und Wisby rivalisirte, daß er aber nur eins der Rüststücke feiner Politik bildete, die mit fast unglaub­

licher Unbefangenheit und mit eben so großem Geschick bald mit Fürsten bald mit Städten Verbindungen anknüpfte oder abbrach.

Ebenso nur

erklärt eS sich, daß in den früheren Theilen jener Chronik von einem specifisch städtischen oder gor bündischen Interesse nach keiner Seite auch nur eine Spur zu entdecken ist.

Man verkennt dst eminente Bedeutung

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hest?,

tz

Lübecks und eben Lübecks allem für sich, wenn man unter seinen bald hier

bald dort erscheinenden Verbündeten nach einer oder mehreren Städten

sucht, um ihnen die Ehre der Mitgründung der Hansa zu übertragen. Die Ostsee war, seitdem Dänemarks Macht gebrochen, von einem

Kreis staatlicher Bildungen umgeben, deren Charakter im Süden Westen sich wesentlich gleichmäßig zu gestalten

schien.

und

ES gab an der

ganzen Ostseeküste mit Ausnahme des Herzogs von Sachsen keinen „LaienFürsten" deS Deutschen Reichs: die „Herren" von.Pommern, Rügen und

Mecklenburg stehen in dieser Beziehung den Grafen von kommen gleich.

Holstein voll'

Aber diese Thatsache bezeugte nur, daß das Reich, seit

den Tagen Friedrichs I. und Friedrichs II., nachdem es den Fürstenstand der Slavischen BiSthümer, das ASkanifche Herzogthum und die Reich­ städt

Lübeck

anerkannt,

sich

von

diesen Küsten vollkommen

zurückge­

zogen hatte. Außerhalb der Reichsgeschäfte, nicht beeinflußt durch die Wahlkämpfe

der Staufer und ihrer Nachfolger bewegten sich diese Herrschaften eben so

frei wie daS Dänische Königthum.

Ja auf dem ursprünglich rein

slavischen Boden vereinten sie als die eigentlichen Leiter und Führer der deutschen Colonisation, so lange diese im ersten frischen Fluß war, alle

Interessen der neueingewanderten Elemente, des deutschen Bauernstandes wie des Bürgerstandes, des Clerus wie des Adels in ihren Händen. WaS die Premysliden in Böhmen, die ASkanier in den Marken im größern

Stile ausführten, wurde hier in einfacheren Verhältnissen fast noch inten­

siver erreicht.

ES ist für diese Uebereinstimmung sehr bezeichnend, daß

ein Schauenburger, Bischof Bruno von Olmütz, damals in Böhmen der

eigentliche Leiter der deutschen Colonisation war.

Und so begreift eS sich, daß das Vorbild dieser Deutschen Grafenund Fürstenpolitik auch auf die Dänischen Verhältnisse einwirkte, nicht nur

die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Deutschen Fürstenhäusern, sondern vielmehr

noch

der Eindruck

ihrer

glänzenden

Erfolge verschaffte der

Deutschen Politik allmälig Einfluß auf daS Waldemarische Königshaus.

Erst als Herzog von Schleswig, dann als König ergriff Waldemars II.

zweiter Sohn Abel am ftühsten und energischsten diese Ideen: unter ihm erhielt Tondern LübscheS Recht nnd erschienen die kleinen Städte des Dänischen Reichs zuerst auf den Reichstagen.

Von hier an sehen wir nun den Einfluß deS Deutschen Elements von Jahr zu Jahr immer mehr in die inneren Conflikte der Dänischen Verfaffung eindringen. Während die Holsteinischen Grafen mit Hülfe ihrer Stadt Hamburg

|ie letzten übermächtigen Adelsgeschlechter niederbrechen, wächst jener Dä-

Nische Bauernadel im Kampf gegen das Dänische Königthum und

die

eindringenden Deutschen Elemente von Jahr zu Jahr an Bedeutung.

Lübeck konnte diesen Ereignissen nicht fern bleiben, die Streitigkeiten und Verhandlungen der norddeutschen Dynastien, die Pläne und Erfolge

ihrer Politik berührten es zu uumittelbar und so sehen wir die einzige Reichstadt der Ostsee wiederholentlich in diese wechselnden Fehden «nd

Tagfahrten eingreifen, während sie auf dem weiten Gebiet deS Norddeut­ schen Verkehrs in Flandern und England die Vertretung „des gemeinen Kaufmanns" mit steigendem Nachdruck durchführt.

Die alte Sage, daß der Bertrag lnit Hamburg im Jahre 1241 gleichsam den Anfang der Hansa bezeichne ist neuerdings endgültig besei­

ES hat sich herausgestellt, daß diese Urkunde eine ganz

tigt worden.

momentane Bedeutung hatte, abeit entfernt, die Nothwendigkeit dieser Frage zu verkennen,

wozu berechtigst diese Schule den Schüler, der ihren Forderungen genügt. Diese Frage würde auch an die in Aussicht genommenen Bürgerschulen

gestellt werden.

Wer seinen Sohn

dem auf sechs Jahre beabsichtigten

Unterrichte der Mittelschule übergiebt, damit er den ganzen Cursuö absol-

vire, der stellt die Forderung, daß durch sechs Jahre eines fleißigen und erfolgreichen Arbeitens an dieser wohlorganisirten Schule sein Sohn dasselbe

Recht des einjährigen MilitairdiensteS erwerbe, welches durch sechsjährigen Besuch deS Gymnasiums oder der Realschule erworben werden kann; jenes

Recht, das nicht bloß als Ehren-AuSzeichnung eines gewissen Maßes der Bildung

hochgeschätzt wird,

sondern bereits für eine große Anzahl von

Lebensstellungen im öffentlichen und Privatdienste zur unerläßlichen Be­

dingung geworden ist.

Jeder Vater würde also mit Recht sich ein Ge­

wissen daraus machen, ohne ausdrückliche Noth seinen Sohn einem BildungSwege zuzuführen, welcher ihm die Erwerbung dieses Rechtes erschwerte

und unsicher machte.

Ferner, ein großer Theil der Väter, welche ihren

Söhnen bis in das 16. Lebensjahr die Wohlthat allgemeiner Schulbildung

zuznwenden fähig und entschlossen sind, möchte denselben den Weg in dir

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 2,

11

162

Dir gegenwärtigen Reformfragen in unserem höheren Schulwese«.

mannigfachen Stellen der Verwaltung offen erhalten, zu welchen ein sechs­ jähriger Besuch des Gymnasiums oder der Realschule, zum Theil schon

eine kürzere Dauer desselben den Zutritt giebt, und es ist gewiß für die StaatS-Verwaltung selbst von Werth, daß diese Stellungen geschätzt und erstrebt werden.

Von

allen diesen Berechtigungen ist die beabsichtigte

Bürgerschule ausgeschlossen.

Diese Bürgerschule hält prinzipiell darauf

nur eine fremde lebende Sprache in ihren Unterrichtskreis zu ziehen, um in dieser wirklich dauerhafte Erfolge zu erreichen; die Militair-Verwaltung

aber erachtet bei der Entscheidung über das Recht zum einjährigen Dienste für die sonst geforderte Kenntniß deS Latein erst die Kenntniß von zwei

fremden lebenden Sprachen als ausreichenden Ersatz und glaubt Schulen,

welche sich auf eine beschränken, erst nach gemachter Erfahrung das erbe­

tene Vertrauen schenken zu dürfen; aber diese Erfahrung kann nicht ge­ macht, denn die Schulen können nicht gegründet werden, ohne sichere Aus­

sicht auf dieses Recht.

Und die verschiedenen Zweige der StaatS-Verwaltung

haben, auf Anlaß der beabsichtigten Mittelschulen neuerdings darum be­ fragt, fast ausnahmslos, selbst z. B. die Militair-Jntendantur, die ForstVerwaltung, die Post-Verwaltung, die Kenntniß deS Latein zur unerläß­

lichen Bedingung der Aufnahme überhaupt oder der Aufnahme mit der Möglichkeit eines weiteren Aufsteigens

gemacht*).

Diese Ausschließung

von jeder Berechtigung, vor allem von der unerläßlichen in Betreff der Wehrpflicht, macht die Gründung von Bürgerschulen, möge sie noch so

sehr alS Nothwendigkeit anerkannt werden, zu einer Unmöglichkeit.

Ich wünsche, daß diese Bemerkungen nicht mißverstanden werden, als

sollten sie einen Vorwurf gegen die Behörden enthalten, welche die er­ wähnten Entscheidungen getroffen haben.

Die Militair-Verwaltung er­

füllt eine wichtige Pflicht, indem sie die Auszeichnung des einjährigen

Dienstes an strenge Bedingungen eines bestimmten Maßes allgemeiner Bildung bindet, und sie erachtet eben daö Znrücklegen von zwei Drittel

des Gymnasial- oder Realschuli-CursuS für eine werthvollere Bildung, als

die gleiche Dauer der Lernzeit an einer geben könne**).

wohlorganistrten Bürgerschule

Ferner jedem BerwaltungSkörper steht unzweifelhaft das

Recht zu, die Bedingungen für die Aufnahme in feine Mitte festzusetzen. Man hat wohl neuerdings öfters den Vorschlag vernommen, die Erfüllung dieser Bedingungen solle durch besondere Prüfung ermittelt, nicht durch

die Zeugnisse bestimmter Arten von Schulen alö erwiesen betrachtet wer*) Centralblatt für die gesammte UnterrichtSverwaltung in Preußen. 1874. S. 329. **) Die etwaige Besorgniß, als werde durch die den beabsichtigten Mittelschulen ge­ währte Militärberechtigung die Erwerbung derselben erleichtert und erhalte dadurch eine zu weite Ausdehnung, dürfte durch die in den Protokollen @. 40 — 42. 172 ff. enthaltenen Bemerkungen beseitigt sein.

163

Die gegenwärtigen Resormftagen in unserem höheren Schulwesen.

den; aber selbst abgesehen von der zu solchen Prüfungen erforderlichen

nutzlosen Verschwendung geistiger Kräfte ist der Vorschlag an sich möglichst unzweckmäßig; denn in dem Zeugnisse einer wohlgeordneten Schule liegt

eine größere Garantie für den erreichten Bildungsgrad, als in dem Er»

gebniffe einer einzelnen, noch so gewissenhaft gehaltenen Prüfung; trotz der zufällig daraus entstandenen Uebel müssen wir es hochschätzen, daß

alle Verwaltungsgebiete für die Auswahl der Aufzunehmenden in erster Linie den Schulen ihr Vertrauen schenken.

Entscheidungen,

In Betreff der erwähnten

welche der dringend erforderlichen Gründung

wirklicher

Bürgerschulen für jetzt entgegenstehen, dürften indest zwei Momente noch Erstens, in der für fast alle Seiten des nie­

der Beachtung werth sein.

deren Staatsdienstes aufrecht gehaltenen Forderung des Latein ist vielleicht

nicht bestimmt unterschieden worden, ob hierdurch nur eine gewisse Höhe

und Art der Bildung hat bezeichnet sein sollen, oder ein für den Dienst selbst unerläßliches Werkzeug.

Es ist denkbar, daß das Einhalten dieser

principiell gewiß anzuerkennenden Unterscheidung Entschlüffe führen kann.

zu Modificationen

der

Zweitens, jedes BerwaltungSgebiet stellt feine

Forderungen an die in seinem Bereich aufzunehmenden selbstäudig und

unabhängig; schwerlich wird dabei ausdrücklich in Rechnung gebracht, daß

durch die Summe dieser Forderungen ein großer Theil unseres höheren Schulwesens bestimmt wird, und die Entscheidungen daher mit dem Be­ wußtsein dieser ihrer Tragweite zu treffen sind.

Möge daher die Hoffnung

nicht anmaßend erscheinen, daß in den neuerdings erfolgten, für die Ge­

staltung unseres Schulwesens hochwichtigen Entscheidungen hoher Verwal­ tungsbehörden uoch nicht deren letztes Wort in der Sache gesprochen sei. Hiermit breche ich meine Erörterungen an der Stelle ab, wo That­ sachen, die für jetzt feststehen, ihnen eine Grenze setzen.

Ich habe nicht

beabsichtigt, durch zuversichtliche Zeichnung eines in sich zusammenhängen­ den Planes der Reform einen erfreuenden Blick in die Zukunft zu eröffnen, sondern über die Reformfragen so zu handeln,

daß die thatsächlichen

Uebelstände der Gegenwart und die principiellsten Aufgaben aus der verwir­ renden Menge der Einzelheiten sich möglichst bestimmt herausheben möchten.

ES sei mir nur gestattet diese Hauptpunkte noch

kur; zusammenzufassen.

Die Gymnasien hatten ihren eigenthümlichen Charakter bereits zur Festig­ keit entwickelt, als die Staatsregierung einen entscheidenden Einfluß auf sie auSzuüben begann; die Staatsleitung hat an dem wesentlichen Charakter

der Gymnasien nichts geändert, sondern dazu beigetragen, ihn vor eigensin­ niger Erstarrung zu bewahren.

Das Vertrauen, welches der gymnasialen

Bildung schon nach znrückgelegter Hälfte oder zwei Drittel der Lehrzeit von

den Behörden des Staates und der Gemeinden und von den Privater;

164

Die gegenwärtigen Reform fragen in unserem höheren Schulwesen.

zugewendet wird, hat das Zuströmen zu den Gymnasien gesteigert; aber

durch daS Ueberwuchern fremdartiger Elemente ist das eigenartige Leben

der Gymnasien bereits in die äußerste Gefahr gesetzt, sie müssen, wenn

sie ihren Werth behaupten wollen, dringend wünschen, daß jenes Ver­ trauen anderen, dazu in Wahrheit geeigneteren Anstalten zugewendet werde.

Die Realschulen und höheren Bürgerschulen hatten sich eben auS einem

bloßen Conglomerat

niederer Fachschulen

einer allgemeinen Bildung,

zu

dem

belebenden Gedanken

einer edlen bürgerlichen Bildung neben

der

gelehrten, erhoben, alS die StaatSregierung sich genöthigt sah, in die frei erwachsende Mannigfaltigkeit von noch nicht consolidirtem Charakter regelnde

Ordnung zu bringen.

Verfügt ist diese Organisation allerdings von der

höchsten UnterrichtS-Leitung, aber erwägt man den schwer wiegenden Ein­

fluß, welchen auf viele Bestimmungen die Forderungen der Verwaltungs­ behörden geübt haben, so wird man diesen in ihrer Gesammtheit einen

erheblichen Theil der geistigen Urheberschaft zuzuschreiben haben.

Man

mag in der Höhe des Zieles, welches allen Realschulen gestellt wurde, die

edle Absicht, in der Einhaltung möglichster Nähe an die Lehretnrichtung der Gymnasien die besonnene Vorsicht hochschätzen, so wurde doch durch

diese Organisation der Gedanke wahrhaft bürgerlicher Bildung getrübt und

in seiner Entwickelung gehemmt und daS BildungS-Bedürfniß eines wich­ tigen Theiles unserer Nation einer stiefmütterlichen Behandlung überlasten. Wohlwollende Absicht, aufrichtige Hochachtung vor den Schulen, ideales

Streben haben Folgen entgegengesetzter Art hervorgerufen.

Die Einsicht

in den untrennbaren Zusammenhang aller Fragen des höheren Schulwesens, welche das zweifellose Ergebniß der eindringend geführten DiScussion ist,

schützt davor, daß von kleinen Reparaturen einzelner Mängel eine wirkliche Besserung erwartet werde; dem preußischen Staate hat die Energie noch

nie gefehlt, in noch schwierigern Fragen des inneren Lebens das besonnen Erwogene mit Ausdauer durchzuführen.

Hoffen und vertrauen wir, daß

es auch gelingen wird, daö höhere Schulwesen, in dessen Gedeihen der

Staat einen gerechten, ihn selbst ehrenden Stolz setzt, aus den verdunkeln­

den Nebeln der Gegenwart zu erneutem Glanze zu erheben. H. Bonitz.

Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800. Peter von Cornelius. Ein Gedenkbuch aus seinem Leben und Wirken, mit Be­ nutzung seines künstlerischen, wie handschriftlichen NachlaffeS, nach mündlichen und

schriftlichen Mittheilungen seiner Freunde und eigenen Erinnerungen und Auf­ zeichnungen von Ernst Förster. Zwei Theile. Mit Cornelius Bildniß. 1874. (Berlin, Georg Reimer.) Preis 14 Mark.

ES ist eine Lebenserfahrung, einen Mann historisch werden zu sehen: auS einer in Wachsthum begriffenen, energischen, mächtigen Persönlichkeit

mit bedeutenden Absichten für die Zukunft, Plänen für die Gegenwart und Geheimnissen was seine Vergangenheit anlangt, einen machtlosen Bewohner des Schattenreiches, dem auch nicht der leiseste Hauch von befehlendem Athem mehr auf den Lippen wohnt, dessen Weiterentwicklung für immer abgebrochen ist und sich voll erfüllte, dessen Gegenwart verschwand und

befielt verhüllte Vergangenheit schonungslos, wie alte Proceßakten die man ballenweise auf Karren sortschafft, entweder zerstört oder an'S Tageslicht gezerrt wird.

Mir fällt das Kindermärchen vom Treuen Iohannes ein,

dem gesagt worden war, er würde in Stein verwandelt werden wenn er sein Geheimniß ausspräche.

Bei jedem Wort mehr das er sagte, wurde

er mehr zu Stein und beim letzten war er eS ganz geworden.

Als vor

etwa fünfzehn Jahren Cornelius' Cartons in Berlin ausgestellt wurden

und ich eisten Catalog dazu schreiben sollte mit einleitenden LebenSnachrichten des Meisters, fand sich, daß ich, der ich ihn so gut kannte, sehr wenig

von ihm wußte. Cornelius lebte noch. Von wem denn, die unsere älteren oder jüngeren Ort,

mitlebenden Freunde

sind,

wissen wir Geburtsjahr und

Bildungsgang und Aufenthaltswechsel anders als zufällig?

Was

überhaupt liegt uns an exacten Nachrichten über ihre Vergangenheit wo

diese nicht unmittelbar auf ihr gegenwärtiges Wirken Bezug hat?

Wer,

der heute einen Mann mit weißen Haaren oder kahlem Kopfe als den energischen Vertreter wichtiger Gedanken sieht, stellt darüber Untersuchungen

an, wie diese Gedanken wohl auSsahen damals als seine Haare noch braun waren?

Die Schul- und Universitätsgeschichten unserer hervorragenden

Männer haben keinen Werth für die Beurtheilung ihrer heutigen Thätig«

leit und brauchen nicht gewußt zu werden. Mühsam mußte ich mir damals

meine Nachrichten zusammenlesen, in lauter Ecken danach gucken, ob da

oder dort nicht ein historisches Fädchen hängengeblieben sei, daS sich an'S andere anknoten ließe, und endlich kam etwas zusammen, das mehr Knoten

als Faden war.

Heute aber ist Cornelius schon Jahre lang todt und die

Zeit dieser Unwissenheit so ganz vorüber.

Nachrichten aus Büchern holen.

Jeder kann

sich ausgiebige

Bei jedem Worte mehr aber verschwindet

seine Gestalt mehr für mich aus der Reihe der Lebendigen. Doch der Vergleich mit dem zur Statue werden trifft nicht einmal

ganz zu.

Kein rundes, vollständiges Steinbild haben wir vor unö.

In

Rom sah ich einen Schuster auf der bepauzerteu Marmorschulter eines

Kaisers, die als Steinblock auf dem Boden lag, feine Sohlen hämmern;

wer weiß, in welche Maner das Uebrige miteingemauert oder in welchen

Kalkofen es gewandert war.

Wunderbar ist mir zu Muthe, Cornelius'

Daseinsfragmente in Försters zwei Bänden nun so ans zusammengeschüttet vor Angen zu haben.

einen Haufen

In so kleinem Raume die

Ueberbleibsel siebzigjähriger ruhmvoller Existenz.

In ein paar Stunden

durchfliegt man blätternd diese lange Entwicklung.

Alles

ist offenbar,

nirgends der Einblick mehr verboten, die geheimsten Briefe nun auf den Wirthshaustisch gelegt zu jedes Vorübergehenden Anblick und Betastung. Hoffnungen der Jugend, Thaten der vollen Kraft, abermals Hoffnungen,

und endlich die Täuschungen des Alters.

Ereignisse die

Menschen die er kennen lernte, die er mit sich fortzog.

in zufälligem Anblicke sichtbar.

er miterlebte, Alles aber nur

Hier breites geschwätziges Detail über

Nebensachen, nach denen man kaum fragt, hier Lücken tiefen Schweigens bei wichtigen Momenten.

Der Zufall hat so gewaltet.

Die Wirksamkeit deö Meisters aber ganz vorüber. hätte er nie gelebt.

Alles ist still als

Sein Leben ein gewaltiger Eisenbahnzug, der nur für

diese einzige Fahrt gebaut worden war, ans Geleisen, die gleichfalls nur für diese einzige Fahrt gelegt worden waren: hinterher alles in sich ver­ rostend und von Unkraut überwachsen.

Versuchen wir, alö einsame Fuß­

gänger der verödeten Bahn dieses Lebens nachzugehn.

I. Jede schöpferische Kraft beginnt mit der Nachahmung dessen, was das

Jahrhundert ihr als zufälligerweise mustergültig entgegenbringt.

Cornelius

wuchs auf unter den Eindrücken der alten Düsseldorfer Gallerie, damals noch nicht nach München tranSportirt, an der fein Vater Jnfpector war. Er fand da Werke aus allen Zeiten und Schulen.

Diese Anfänge feiner

Thätigkeit, von denen noch viel erhalten blieb, sind uns heute gleichgültig.

Die ersten

und

Versuche, als arbeitender Künstler sich

den

Seinigen

den Unterhalt zu schaffen, stellte er in Düsseldorf und in Frankfurt a./M. an.

Hier sehen wir ihn in den verschiedensten Manieren sich mit Leichtig­

keit

bewegen.

Ein

Transparent

wird

im Style

Davids

gezeichnet.

Biblische Compofitionen erinnern theils an Rubens, theils an Carstens'

Schule. gefaßt.

Mythologisches in Sepia wird noch mehr im Geiste des letzteren

Illustrationen aus dem bürgerlichen Leben laufen dazwischen, die

sogar elegant gezeichnet sind.

ES kam ihm darauf an, denen verständlich

und angenehm zu sein, von denen er Geld, um zu leben, «nb Mittel er­

warten mußte,

vorwärts zu kommen.

Es fehlte noch an einem großen

Stoffe, an dem fein eigenstes Talent sich erproben könnte.

Ein Anfänger, den der Ehrgeiz treibt und der feine Kräfte sich regen fühlt, hat nur einen einzigen bewußten oder unbewußten Wunsch, der unter dem allgemeinen Begriffe „Unabhängigkeit" ein Vielfaches umfaßt: sich zu

erheben über das zufällige Wohl- oder Uebelwollen der zufälligen Freunde

und Förderer, die das Schicksal ihm als anfängliche, erste Repräsentanten deS unsichtbaren öffentlichen großen Publikums zuführte; sodann, sich in unmittelbarer Verbindung zu fühlen mit diesem selbst, der wogenden un­

bekannten Masse die man ahnt, und die man zwingen will die Augen auf unS zu richten; weiter, bemerkt zu werden von denen besonders, die an der Spitze der geistigen Bewegung stehen,

«m sich

allmählich leise in ihre

Reihen selbst etnzuschleichen; endlich, zu diesem Zwecke auS eigener Fähig-

keit sich eine große Aufgabe zu stellen, von der zuerst Keiner wissen darf,

später aber Kenner sein soll, der nicht von ihr wüßte.

Cornelius konnte

der richtige Instinkt für die Richtung nicht versagt sein,

zuschlagen hätte.

welche er ein­

Er fühlte, daß er auf Goethe loSsteuern müsse.

Cor­

nelius' erste große Enthüllung seines Talentes waren seine Compofitionen zu

Goethe'S Faust, der im Jahre 1808, für die größere Welt damals als eine Neuigkeit ersten Ranges, in vollendeter Gestalt deS ersten Theiles erschien.

Und so muß vor allen Dingen von Goethe hier die Rede sein.

UnS heute ist, als litterarhistorisch gebildeten Leuten, der Unterschied geläufig zwischen dem Alten und dem Jungen Goethe.

Der Goethe deS

18. und der des 19. Jahrhunderts sind für unseren Blick zwei fast von

einander unabhängige mythische Personen nebeneinander, jeder in besonderer Uniform und beide mit ganz gesonderter Hofhaltung.

Der eine der frische,

vorwärtSstrebende, demokratische, republicanische, frankfurter Advocat; der

andere der leise erstarrende, sich zurückziehende, monarchische,

tische Weimarische Minister, Excellenz. zählend

im

Durchschnitt,

der

aristokra­

Der eine 27 Jahr und weniger

andere 57

und mehr

im Durchschnitt.

Der eine mit feurigem, lebhaft leidenschaftlichem Blick, der andere mit

ruhigem, groß befehlendem Auge.

Der eine sich überstürzend, der andere

wohlüberlegt. Der eine seine Gedanken auf'S Papier hinwühlend, der andere

dictirend.

Zwischen den beiden Reichen der Jugend und des Alters aber,

in denen Goethe so oder so seine Herrschaft führte, liegt ein Terrain, wo weder von Alter noch von Jugend die Rede sein kann: die Jahre um die Vierzig und Fünfzig.

Was war Goethe in ihnen?

Die gleiche Frage könnte ausstoßen bei Friedrich dem Großen.

kennen

Wir

sein Kronprinzen- und jugendliches Königthum, wo er dichtete,

Musik machte und Voltaire kommen ließ, und sein Alter, wo er alle seine Siege schwer auf dem Rücken trug, Voltaire längst fortgeschickt hatte und

Europa so hart im Zügel hielt, daß man immer ungeduldiger seine hohen Jahre berechnete.

Wie war er in seiner besten ManneSzeit, als er weder

jung noch alt war?

Er verschwindet in gewissem Sinne für unsere Au­

gen, er führte seine Kriege.

Dasselbe läßt sich von Goethe sagen.

Als

er 1788 aus Italien zurückgekehrt war und die Zeit der Jugend voll

hinter ihm lag, begannen für ihn die Tage der wistenfchaftlichen Arbeit: Wir brauchen ihn

er wurde Gelehrter.

nur daraufhin zu beobachten,

um zn gewahren, wie er von der Schule an nach dieser Seite neigte, wie das Leben ihn immer auf andere Wege lenkte, wie seine Natur ihn im­ mer dahin zurückführte.

In Italien durfte er zum erstenmale in völliger

Stille mit sich allein nur umgehen.

Er

war

entschlossen,

alles

zu

überwinden von nun an, was seinem eigentlichen Berufe hinderlich sei.

Neben Schiller hat er jetzt ganz das Ansehen eines Professors, der sich

in Weimar seine eigne Universität errichtet hat, wo er zu gleicher Zeit ein­ ziger Ordinarius, Privatdocent und Student in allen vier Facultäten ist,

und zugleich Rector und Pedell. schaft seines Alters.

Er bereitete den Boden für die Herr­

Aller augenblickliche Einfluß und Eindruck auf das

Publicum, in poetischen Dingen, schien ihm gleichgültig geworden.

Er

überließ es der französischen Revolution und Schiller, in Deutschland primo loco von sich reden zu machen, er verfaßte und veröffentlichte Vieles, deffen momentanen Mißerfolg er beinahe berechnete.

Es schien ihm so

wenig daran gelegen, wie augenblicklich von ihm genrtheilt wurde, wie Friedrich an seinen gewonnenen oder verlorenen Schlachten, über die der König so oder so, aus gleicher Tonart an Voltaire schreibt: Friedrich hatte

immer nur den Abschluß im Auge, den Tag, wo er oder seine Feinde nicht mehr könnten, und er glaubte daran, daß er es sein würde an diesem

Tage, der die meisten Kräfte hätte.

Und so Goethe.

Er erwartete still den Tag, wo man mit ihm als einem Manne rech­

nen müßte, der immer doch noch an seinem Platze stände.

durfte sich schließlich sagen, der stärkere gewesen zu sein.

Und auch er

Während dieser zwanzigjährigen, auf gelehrte Arbeit gerichteten Zurück­

gezogenheit Goethe'S bereitete sich in Deutschland der völlige Umschwung deS litterarischen LebenS, den man die Herrschaft der älteren Romantischen (vom Beginn der französischen Revolution bis zur siegreichen

Schule,

Uebermacht Napoleon'S in Deutschland), und die der jüngeren Roman­

tischen Schule, (von

dem Unterliegen Deutschlands bis zu seiner Be­

freiung), zu nennen Pflegt. Für Cornelius sind beide Phänomene von Wichtigkeit.

Seine An­

fänge hängen zusammen mit dem, was unter der Herrschaft der älteren Romantischen Schule von Goethe für die bildende Kunst gethan ward. Seine Fortentwicklung beruht auf dem, was die jüngeren Romantiker

persönlich für ihn thaten. Soll völlig begriffen werden, wo Goethe stand als Cornelius sich an

ihn wandte, und soll begriffen werden, wie beide innerhalb der eignen Zeitbewegung standen, so muß daS Emporkommen dieser beiden sogenannten

Romantischen Schulen in seine letzten Ursachen verfolgt werden. Beidemale handelt es sich um den Einfluß neuer und übermächtiger Gewalt von außen her.

ES war als die französische Revolution ausbrach, ein Moment einge­ treten im Leben der Völker, wo ein dämonisches Verlangen erwachte, po­

litisch,

litterarisch und künstlerisch das Bisherige nicht mehr zu wollen.

Auch die exquisiteste, historisch als vorzüglich beglaubigte geistige Nahrung erschien schaal und abgestanden.

Ein langes Jahrhundert hindurch hatten

Engländer, Franzosen und Deutsche, um nur die Mächte ersten Ranges

zu nennen, mit ihren edelsten Kräften darauf loS gearbeitet, das beseli­ gende wahre Reich der Humanität langsam herbeizuführen.

Immer näher

schien eS zu rücken, immer häufiger traten die Vorzeichen ein: aus sorg­

sam zubereitetem Materiale sollte in Mitwirkung der gesammten Mensch­ heit die Welt deS Friedens hervorgehen.

Revolution :

So beginnt die französische

gleichsam daS erste wirkliche Ausbrechen des neuen Bölker-

frühlingS auf dem Boden Frankreichs.

lution schon so viel geleistet,

Hatte die amerikanische Revo­

wo einfache edle Menschen auf jungfräu­

lichem neuen Erdtheile ein Reich der Tugend zu stiften schienen, was würde Frankreich erst hervorbringen!

Die stolzeste Aristokratie, die reichste

Geistlichkeit, die großartigsten, bestgeschulten litterarischen Legionen reichten sich brüderlich die Hände und der Erfolg war, daß nach einem Taumel

politischen

Wahnsinnes bald die executive Staatsgewalt in die Hände

energischer Canaillen gelangte, die es möglich machten, Alles so völlig durch ciuander zu buttern, daß eine neue Schöpfung der Dinge von Grund aus nothwendig war.

Diese unternahm der erste Napoleon.

Corneliu» und die ersten funfjig Jahre nach 1800.

170

Bei uns hatte man anfangs den äußeren Umsturz der Dinge nicht

miterlebt, wohl aber den

inneren.

Ein durchdringendes Gefühl hegte

Jedermann, daß auch in Deutschland das Alte abgethan fei.

Man ver­

langte Neues und zeigte sich willig, jede dargebotene Neuigkeit zu acceptiren.

Und

da auf politischem

und gesellschaftlichem Gebiete die Dinge

beim Alten blieben, so kam der ganze innere Drang auf dem Gebiete der DaS war jene Begeisterung des PublicumS,

Litteratur zum Auöbruch.

von der Schiller getragen ward.

So standen die Dinge bei uns als Goethe aus Italien zurückkam. Goethe fühlte beim Anbruche dieser Bewegung sehr wohl, daß er

nicht auf sie vorbereitet sei. wohl zu statten.

Sein Talent, sich zurückzuziehen,

Er geht mit dem Herzoge auf Reisen,

kam ihm

er macht den

Feldzug in der Champagne mit, er begann endlich den Verkehr mit Schiller.

Was er dichtete scheint er so ganz nur für sich selber zu schreiben oder drucken zu lassen, daß das Publikum die Nichtachtung, mit der es behan­

delt wurde, dem Dichter von der Stirne zu lesen glaubte. fand nur in ausgewählten Kreisen die richtige Schätzung.

Das Beste Die venetia-

nischen Epigramme, die römischen Elegien, Wilhelm Meister, Reineke Fuchs, die natürliche Tochter bedurften zu reiner, feiner Luft, um recht erkannt

und gefühlt zu werden.

Fehlte eine gewisse ästhetische Vorbereitung, so

war das Beste an ihnen vorweggenommen.

ES waren keine vollen Wein­

fässer, vor denen, wie bei Götz und Werther, ganz Deutschland begeistert gelegen hatte.

Wem damals die feine Zunge fehlte, dem imponirte desto-

mehr die Quantität: jetzt dagegen ward nur auf die feine Zunge Rücksicht

genommen. Bot Goethe von dieser Seite einer sich empordrängenden jungen Kraft, wie Cornelius, nichts dar, was, gleich Schiller's Werken, im Sturm­

wind sie hätte packen können, so that er es von einer anderen.

Bekannt ist, ein wie großer Theil von Goethe'S damaliger Arbeit auf die Geschichte der bildenden Kunst gerichtet war.

In Italien hatten sich

ihm Antike und Renaissance erst offenbart. Mit ächtgelehrtem Eifer suchte er sie völlig in sich aufzunehmen.

Aus erweiterter, befestigter Kenntniß

erwuchs dann der Wunsch, sich mitzutheilen und zu wirken, und so sehen wir ihn in immer größerem Maaße sich diesen Interessen zuwenden, bis eS

ihm gelungen war, Weimar zum ästhetischen Vorort für Kunstgeschichte zu machen.

Er redigirte die Propyläen, er schrieb sein Buch über Winckel­

mann, übersetzte Cellini, vermehrte seine eigenen Sammlungen, bewirkte

öffentliche Ankäufe und gründete — Alles mit geringen Mitteln — in Weimar die einflußreichen Ausstellungen von Concurrenzarbeiten, für die

die Themata vorher ausgeschrieben wurden und die er selbst später dann

öffentlich recensirte.

Bei diesen Concurrenzen betheiligte sich Cornelius.

Es war seine früheste Zeit,

eine

wo er noch völlig in Nachahmung befangen

EinS der Hierhergehörigen Blätter besitzt das Berliner Museum:

war.

reinlich durchgeführte, große Sepiazeichnung ohne persönliche Eigen­ Auch hat eS Cornelius von Seiten Goethe'S damals zu nicht

thümlichkeit.

mehr als einer ehrenvollen Erwähnung bringen können, obgleich er den

Versuch mehr zu erlangen wiederholt hat.

Eine Natur wie Cornelius konnte bei dergleichen nicht an erster Stelle stehen; es brauchte eines anderen Anstoßes, um Goethe'S Blicke auf ihn zu lenken.

Abermals sehen wir nun ein neues politisch-litterarisches Phänomen auftauchen.

All diese wohlwollenden, friedlichen Bestrebungen, welchen die kriegerische Bewegung am Rheine keinen Eintrag gethan hatte, erlitten durch den Ein­

bruch Napoleon- in Norddeutschland 1806 einen plötzlichen Umsturz und eS

ist bekannt,

welche Gedanken

es jetzt waren,

an

denen sich

unter

dem Drucke der fremden Herrschaft jetzt eine neue Generation emporrich­

tete.

Beim Walten jener älteren Romantik hatte das verheerende Feuer,

welches Frankreich verzehrte, Deutschland im Ganzen nur eine wohlthätige

Wärme geschenkt. daß antike,

Was neu und reizend erschien, wurde hervorgeholt, so

spanische,

italienische,

französische, englische und altdeutsche

Litteratur umd Kunst gleichmäßige Pflege empfingen.

ES war ein heiteres

Spiel mit den Schätzen der Vergangenheit gewesen.

Jetzt, wo die Nation

mit furchtbarem Ernste in den Kampf um Leben und Tod hineingerissen

wurde, nahm das Deutsche Alterthum in Schrift und Kunst den ersten Rang ein. Von den Franzosen im eignen Vaterlande an der Gurgel gehalten, er­ stickend unter dem Verbote jeder freien Gedankenäußernng, flüchtete man in

die unschuldig erscheinenden alten Jahrhunderte der eigenen Geschichte. Goethe aber hatte seiner Anlage nach wenig damit zu thun.

Die

älteren Romantiker, deren Feldlager Jena war, hatten in einem zuletzt

doch natürlichem Verhältniffe zu ihm gestanden, so daß er ihre Bestrebungen

allmählich schätzen lernte, sogar an ihnen Theil nahm; die jüngeren Ro­ mantiker dagegen, deren Schwerpunkt in Süddeutschland lag, ließen ihn

kalt.

Auch er hatte einst für vaterländisches Wesen geschwärmt.

Die Be­

geisterung der jetzt aufschießenden, jungen Leute aber war verschieden von

der, aus der heraus dreißig Jahre früher die ersten Gedanken des Faust und des Götz hervorströmten.

Damals allgemein menschliche Ideen, zu

denen man sich träumend erhob; jetzt politische Absichten, die man mit ge­

spannten Blicken und Fäusten verfolgte. wieder empor.

Das getretene Deutschland sollte

Alle guten Geister vergangener Jahrhunderte sich an diesem

Kampfe betheiligen.

Ein neues nationales Leben voll alter Sitte und

Gottesfurcht sollte beginnen. zu alt dafür.

Goethe fühlte sich bei seinen sechözig Jahren

Und doch! — in diese Stimmung hinein kommt jetzt der

Faust in seiner neuen Gestaltung.

Als er 1792 als „Fragment" in der

Form eines unscheinbaren Bändchens erschienen war, hatten sich nur Wenige

darum gekümmert: jetzt, wie Werther ehedem so ganz im rechten Momente einschlug, wirkte er wunderbar.

Die älteren und die jüngeren Romantiker

hatten wieder einen Meister gefunden.

Goethe war ihnen längst nicht mehr

der unnahbare GLtterjüngling, sondern nur der litterarisch vornehme Mann,

an den die jüngeren Herren von der Feder sich immer brüderlicher heran­

drängten.

Nun wurde Jedem wieder klar, wo der Unterschied läge.

Das

war, nach langen Mitteljahren, einmal wieder ein üppiger Herbst, der den

gestimmten europäischen Durst herausfordern durfte.

Der alternde, dick­

werdende Geheirnerath von Goethe war wieder nur „Goethe", ohne jung

oder alt, ohne Von und Excellenz, der Mann, der jetzt die jungen Litteraten

und die alten schriftstellernden Autoritäten, weil er zu übermächtig war, lobpreisend sämmtlich auf seiner Seite hatte und dem gegenüber Opposition

inopportun war. Nun erinnerte man sich, daß Goethe ehedem ja der erste gewesen,

der den Dom von Straßburg gepriesen, daß fein Goetz das Deutsche Kaiserthum und die Thatkraft des Deutschen Mannes verherrlichte. Goethe hatte in den vergangenen 70er Jahren nichts politisches im Sinne gehabt,

aber er konnte nicht hindern, daß man sich nun an ihm begeisterte.

Faust wirkte als fei er eben aus feiner Phantasie entsprungen. freilich empfand andere.

Der

Goethe

Schon 1797 schrieb er „Ihr naht euch wieder

schwankende Gestalten," das Stück war ihm zu alt geworden, die hörten

es nicht mehr, die eö zuerst vernommen, und der Beifall selbst macht seinem Herzen bange.

Wie viel stärker mußte zehn Jahre später dies Gefühl

sein, als sein Werk eine Wirkung that, die er nach soviel Erfahrungen nicht mehr hoffen durfte.

Nichts natürlicher, alö daß dies Gedicht, deffen

Figuren lebendiger sind als die irgend einer anderen Dichtung aller Völker und aller Zeiten, Cornelius' jugendlichen Genius erfüllte.

In Anschlag müssen wir dabei bringen, daß Cornelius damals, wenn auch ein Anfänger in der Kunst, doch kein Anfänger im Leben war.

stand im 25. Jahre.

Er

Er war völlig in der Lage, die leidenschaftliche

Gluth, aus der heraus der Faust gedichtet worden war, zu empfinden.

Und ferner, fein Geist war durch feine zu große Belesenheit abgeschwächt. Er hatte kaum Schulbildung genossen: die Bibel war sein Lesebuch ge­

wesen.

Der ihm zu Theil gewordene Unterricht so mittelmäßig, daß

er mcht orthographisch schreiben konnte.

Wa- wir an Briefen und Ge-

dichten aus dieser frühesten Periode besitzen, deutet auf den oberflächlichen Nun höchst seltsam aber,

Einfluß Schillerscher Gefühle und Ausdrucksweise.

wie,

während auf der einen Seite sein Geist durch die Aufnahme der

großen Dichtung Goethe'S zu solcher Höhe gehoben wird, auf der anderen jetzt ein den künstlerischen Ausdruck beengender Einfluß flch bei ihm geltend

macht,

wie sehr auch daS bedeutendste

welcher recht inne werden läßt,

Talent von

den Zufällen der Zeit abhängig ist,

lung fällt. Der Einbruch

in die seine Entwick­

der französischen Republicaner

in

die Nieder- und

Rheinlande hatte ein völliges Ausschütten von Verhältnissen bewirkt, an die

seit undenklichen Zeiten von Niemanden gerührt worden war. Dieser Sturm, der Kirchen, Stifter und Paläste erschütterte oder vernichtete, hatte eine

Masse von Werken altdeutscher und niederländischer Kunst ganz zerstört, den erhaltenen Rest aber frei auf den Markt geworfen, so daß aus den gelegentlichen Ankäufen dieser Reliquien die Sammlung entstehen konnte, welche, obgleich längst in das Münchner Museum eingeflossen, immer noch

als „Sammlung der Gebrüder Boisseröe" berühmt ist.

In Cöln, wo diese

Sammlung entstand, brachte Friedrich Schlegel, eines der Häupter der jüngeren romantischen Schule, einen entscheidenden Winter zu. Man verstän­

digte sich.

Auf diesen herrlichen Tafeln schien sich die Form zu offenbaren, Die Werke der Van Eyck, Ban

deren da- neue Deutsche Wesen bedurfte.

der Weyden und Memlings wirkten wie überirdische Offenbarungen, wie

direkter Wiederschein der

himmlischen

Dinge.

Nur

dem vorbereiteten,

würdigen Kunstfreunde wurden sie wie Heiligthümer gezeigt.

ächte Kunst, daS Natur, daS Gottesdienst im edelsten Sinne.

DaS war

Hier waren

gleichsam die Coulissen, Dekorationen und die Garderobe der wiederauf­ lebenden Deutschen Herrlichkeit gegeben.

Diese Werke sind eS gewesen, die

dem in unstäter Nachahmung dahin und dorthin sich wendenden Cornelius festen Ankergrund

Geschicklichkeit,

boten.

Er änderte

sich von Grundauö,

mit der er sich in den

tauschte die

antikisirenden Formen

der Da-

vidschen und der CarstenS'schen Schule flüssig bewegte, gegen daS eckige Wesen ein, daS die Stiche Dürers oder gar Martin Schön's boten, und

brachte so den Faust zu Stande, der ohne eine Erklärung der Umstände

heute weder begreiflich noch genießbar ist, der zu seiner Zeit aber für die, in deren Kreisen er lebte, der Inbegriff der ächten Kunst schien.

Romantikern

Boifferüe,

war

Cornelius jetzt

der,

der

die bei Goethe soviel galten,

Goethe sollte ihm

einen Zweig

Gedicht ihm selber eingetragen. sie am Erfolge nicht zweifelten.

von

da

kommen mußte.

Den

Die

traten bei diesem für ihn ein.

dem

Lorbeer

abgeben,

den

das

Sie waren ihrer Sache so sicher, daß Goethe würde gleichsam ein Manifest er-

EorneliuS und die ersten fünfzig Hahre nach 1800.

174

lassen und Cornelius, etwa zum Nationalkünstler des Deutschen VolkeanSgerufen — dergleichen mag man sich gedacht haben — würde als Fort­ setzer der alten Meister das Größte leisten.

Hatte Goethe den schönsten

dichterischen Ausdruck für Deutsches Leben gefunden, so sollte nun auch

die künstlerische Form dafür gegeben sein. Goethe jedoch durchschaute,

daß seine Anerkennung des Künstlers

diesem am wenigsten zu Gute kommen, sondern von einer Partei au-ge-

beutet werden würde, mit der er zwar nicht brechen, aber der er nur den Finger und nicht die ganze Hand reichen wollte.

Er hatte mehr von der

Welt gesehen als die junge Generation um ihn her ahnen konnte, welche

des guten Glaubens lebte, daß alle menschliche Entwicklung frisch mit ihr erst angefangen habe.

Seine Correspondenzen liegen ja nun vor

und man erkennt die Linie die er innehielt. cipien hier gehandelt haben.

Er muß nach festen Prin­

AuS dem ungedruckten Briefwechsel Wilhelm

GrimmS mit Achim von Arnim ersehe ich, welche Mühe letzterer sich gab, aus Goethe'S Feder eine Vorrede zur Ueberfetzung der Dänischen Helden­ lieder GrimmS herauszulocken.

Arnim stand Goethe nahe, dieser wieder

hat Wilhelm Grimm persönlich auf das wohlwollendste empfangen, allein zur Vorrede, — mein Vater hat natürlich direct niemals Schritte ge­ than — war er nicht zu bewegen.

Daher auch der zurückhaltende Ton,

mit dem Goethe das ihm zugeeignete Wunderhorn besprach, seine Abnei­ gung gegen

die Dichtungen Arnim'S, Brentano'S, Uhland'S, Kleist'S.

Goethe sah in den Bestrebungen der jüngeren Romantiker, soweit sie Kunst

und Poesie betrafen, einen Rückschritt.

DaS politische Parteiwesen war ihm

verhaßt. Der jüngsterschienene Briefwechsel von GörreS mit seinen Freunden

läßt die jüngeren Romantiker, was die katholischen Mitglieder der Gemeinde anbetrifft, bei weitem geschlossener erscheinen als bis dahin bekannt war.

Boifferöe fungirte als Diplomat am Goethe'schen Hoflager.

im intimsten Verkehr mit ihm;

Goethe steht

manchmal glaubt Boisseröe ihn fest in

seinem Fahrwasser zu heben bis er plötzlich inne wird, Goethe habe nur

zufällig für eine kurze Strecke den gleichen CourS eingeschlagen.

Daher,

bei aller Verehrung, die manchmaligen wahren Wuthanfälle Boisserse'S

gegen ihn.

Heute erkennen wir, daß Goethe nicht anders konnte wenn er

sich so zurückhielt.

Ich lasse, um die Dinge völlig klar zu legen, einige Betrachtungen ganz allgemeiner Art einfließen.

ES giebt für unS neben dem engeren nationalen Bewußtsein inner­

halb der übrigen Völker ein weiteres nationales Bewußtsein innerhalb der

großen Menschheit. Dort fühlen wir unS als Deutsche gegenüber Franzosen,

Engländern, Dänen, Russen;

hier mit allen übrigen zu einer einzigen

Masse vereinigt nur als Europäer für uns.

Bet Betrachtung unserer

europäischen Gesammtentwicklung erkennen wir bald die eine, bald die andere Form diese- Bewußtseins als die Ursache des allgemeinen Fort­

Die griechische Cultur kam im Gegensatze zu der der an­

schrittes.

derer Nationen empor, satzes.

die römische aus dem Vergessen dieses Gegen­

dieses

Die höchste Blüthe

Vergessens

waren

Pabstthum

und

Deutsches Kaiserreich, bis hier der Gegensatz deS engeren nationalen Ge­ fühles einbrach.

Bon jetzt an wechseln beide Contraste schneller, fast von

Jahrhundert zu Jahrhundert.

Die Cultur deS Zeitalters, in welchem Goethe aufgewachsen war, be­ ruhte auf europäischem Gemeingefühle.

sollten zusammenfließen.

Richtung,

daS

Die geistigen Güter aller Nationen

Die ftanzösische Republik trieb noch in dieser

Kaiserreich

erst

unterbrach

die Strömung.

Auch die

älteren Romantiker hatten sich von ihr treiben lassen: die jüngeren ver­ achteten sie.

Ihr Patriotismus hatte etwas ausschließliches, feindliches:

Arndt wollte die Grenzen Deutschlands mit einer Wüste umziehen, in der wilde Thiere gezüchtet werden sollten.

Goethe konnte das nicht verstehen;

er konnte aber auch nicht begreifen, daß ein historisches Gesetz hier waltete.

Beschränkung auf Sprache, Wissenschaft, Poesie, Kunst, die nnr Dentsch

sein sollte, waren ihm Widersprüche in sich selbst.

Und ferner, auch die politische Seite dieses Umschwunges könnte er nicht verstehen.

Er war freilich ein freier Reichsstädter, der eine Kaiser­

krönung miterlebt hatte, das Deutsche Kaiserthum aber, das man damals

schon für Norddeutschland begehrte, lag ihm so wenig im Blute als die

ganze, auf bürgerliche Freiheit gerichteten Deutsche Bewegung. er sie sollen kennen lernen?

geläufig.

Wo hätte

Ihm waren nur ganz kleine Verhältnisse

Die Forderung politischer Unabhängigkeit nach außen hat er

niemals gestellt, die Empörung, auS der Kleist'S Hermansschlacht hervorgmg,

niemals empfunden.

Das Appelliren an

das Volk, als die bewegende

und tragende Kraft der Ideen, war ihm etwas Fremdes.

Wir heute sehen

in den Romantikern die ersten ahnenden Apostel unserer jetzigen bürger­ lichen Freiheit, wir haben die Lehre von dem sich selbst reinigenden Geiste deS Germanischen Volkes inne wie etwas langgewohntes; Goethe aber —

vor den Freiheitskriegen — stand hier nichts vor Augen als das FiaSco der französischen Revolution, aus der härtere Tyrannei entstanden war

als jemals herrschte.

Nach den Freiheitskriegen mußte er in Deutschland

bald genug sehen, wie alles Politische zur Karrikatur ward.

Der demo-

cratische Zug im Wesen der jüngeren Romantiker war ihm unheimlich.

Obgleich er erkennen mußte, daß der Deutsche Adel weder die Macht noch die Erziehung besaß, die Leitung der Dinge an sich zu reißen, schau-



Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.

bette ihm doch vor dem Uebergang der entscheidenden Macht an die allge­

meine Masse deS Volkes.

Es war ihm so unmöglich, hierin daS Wirken

eines historischen Gesetzes

zu erkennen,

Generationen,

als es den auf uns

folgenden

im Jahre 1970 etwa, vielleicht unmöglich sein wird, ein

Wiedereinstürzen des heutigen democratischen Aufbaues und ein Wiederein-

treten

von

Herrschaftsformen

welche

zu verstehen,

dann vielleicht mit

Theocratie und Adelsregiment abermals Aehnlichkeit haben werden. Leider hatte Boisseröe nun gerade Cornelius ausgesucht, um mit dessen

großem, aber ganz democratisch angelegtem Talente Trümpfe gegen Goethe

auSzuspielen.

Offenbar Imponirten dessen Blätter Goethe.

Hätte Cornelius

als unbefangener junger Mensch, ohne Protection und Verbindungen, mit

einer Rolle solcher Arbeiten in der Hand an Goethe'S Thür geklopft,

so

würde dieser vielleicht sein AeußersteS daran gesetzt haben, sich seines Talentes

anzunehmen.

Wie die Dinge lagen jedoch,

blieb ihm nichts übrig,

mit Vorsicht und Kühle eine bedingte Anerkennung auszusprechen.

als Man

wollte ja auch nicht guten Rath von ihm, sondern wußte ohne ihn, sogar ihm entgegen,

wie

man es anzufangen habe.

Goethe'S Lob befriedigte

deshalb wenig, man sah Kälte des alternden Mannes und undeutsche Be­

fangenheit darin.

Goethe aber that gerade soviel als er durfte.

WaS

er an den Compofitionen rühmte, war das Lebendige, Aechte, die eigene

Bewegung der Gestalten.

In der That ist diese so stark,

daß sie daS

wunderlich eckige Wesen, in daS der Künstler sich hinein zwängte, durch­

dringend, zuweilen in ganz reiner Wirkung zur Erscheinung kommt.

fühlte: der Mensch könne etwas machen.

Goethe

Wie hat Cornelius daS brutale

LoSstürmen Faust's auf Gretchen, in dem er zu Anfang mut das „Ding"

sieht, das Mephisto ihm, sei eS wie es sei, verschaffen sollt, zum Ausdrucke gebracht ! Wie, Faust gegenüber, die Unschuld deS Mädchens, das sich ihm hingiebt als wenn er ein Engel Gottes wäre, und wie hat er den Ab­

glanz dieser Unschuld rückwärts auf Faust selbst wieder wirken lassen, der

durch

diesen Glauben deS armen KindeS an ihn

erscheint.

wieder hoch und edel

Wer, nach Cornelius, hat das darzustellen überhaupt nur ver­

sucht? Cornelius hat sich in Goethe'S Welt hinein begeben, athmet in ihr

und

empfindet sie

leibhaftig wie Goethe selber.

Man fühlt eS seinen

Zeichnungen an: er ist überall selbst dabei gewesen, er wandelte in diesem

Lande der Phantasie, war zu Hause in Faust und Gretchen'S Stadt und ihrer Straße,

kennt jede Ecke da und würde sich im Dunkeln

Gretchen'S Thüre finden.

Er war im kleinen Gärtchen,

selber zu

wo Faust und

Gretchen sich suchten und fanden, und sah, unter dem Volk in der Kirche, Gretchen

da zusammensinken.

Jeden behauenen Stein im alten Dome

hat er so scharf gewissenhaft gezeichnet alö sei er als Küsterssohn da auf-

gewachsen und habe als Kind den Kalk zwischen ihren Ritzen herauSgepolkt. Cornelius' Nachfolger haben auf diesem Felde ihre Phantasie höchstens mit dem genährt, was sie aus dem Theater mit nach Hause brachten.

Cornelius offenbart in seinen Blättern eine erstaunliche Macht, uns

symbolisch in daS Gefühl hinein zu versetzen, das er darstellen will. Mit

einfachen, harten,

unbehülflichen Linien gelingt ihm das.

Da wo der

Sturm Mephistopheles an eine schroffe Felswand drückt, als sei er platt

angeklebt,

ist die Macht des WindeS im Gebirge überzeugend dargestellt.

Wo er Faust und

Mephisto

zu Pferde am Rabensteine

läßt, empfindet man den sausenden Galopp.

vorüberfliegen

Goethe rühmt einmal,^ als

ihm in den zwanziger Jahren eine Illustration Delacroix'S zur gleichen

Scene vorgelegt wurde (Eckermann erzählt es) die feine Unterscheidung, mit der der Künstler den unbewegt im Sattel sitzenden Mephisto dargestellt

hat, dem Sturm und irdischer PferdecarriLre ganz gleichgültige Elemente

sind, so daß er behaglich beguem sein Roß nur als zufälligen Sitzpunkt

behandelt, während Faust als voller luftgepeitschter Reiter wie zu einem Theile seines Pferdes geworden ist. Genau daffelbe hatte Cornelius soviel

früher bereits empfunden und dargestellt.

Der Gegensatz springt sofort

in die Augen und wirtt besonders scharf auf dem ersten Entwürfe,

weil

da Mephisto's Antlitz bei weitem weniger teufelsmäßig geschnitten erscheint, indem das carrikirt Gespenstermäßige der äußeren Erscheinung

so daß,

zurücktritt, das innerlich GespeNstische um so durchdringender wird.

Diese

erste Skizze des Blattes befindet sich im Privatbesitz in Frankfurt a./M.

Ein Blick wie der Goethe's mußte diese und soviel andere Züge ja sofort entdecken.

Allein er sah Cornelius in einer Befangenheit, genährt

durch den Einfluß bestimmter Persönlichkeiten, aus der ihn, wie ihm die

Erfahrun^ssagen mußte, nur eigene Kraft vielleicht befreien konnte. Goethe hatte eS sott, den Leuten zu predigen. Ihm standen illustre und näherlie­ gende, überzeugende Beweise vor Augen, wie sie Alle, die er hatte war­

nen wollen, ja doch nur wieder nach den Garnen gelaufen waren.

Wie

bei jedem großen Talente schien ihm „der Erfolg auch hier abzuwarten." Dennoch, der Rath, welchen er Cornelius damals ertheilte, zeigt, wie klar

ihm

das

hier Nothwendige vor Augen stand.

Offenen Wider­

spruch gegen dieses leidenschaftliche Hineinkriechen in die abgelebten alt­

nationalen Formen erkannte er als vergeblich.

Es kam darauf an, den

Künstler eben innerhalb dieses Materiales selbst auf den rechten Weg zu bringen.

Deshalb, wollte er Dürer nachahmen, so mußte er ihn ganz

kennen, um ihn in sich aufzunehmen.

Goethe wies Cornelius auf diejenige

Production Dürer'S hin, welche als daS Höchste erscheinen mußte, was seiner

illustrtrenden,

phantastischen

Preußische JahMchcr. Bd. XXXV. Heft 2,

Manier

entspringen

12

konnte:

da-

Münchner Gebetbuch des Kaiser Max.

Cornelius konnte daraus vielleicht

erkennen, wieweit man bei bloßen Umrissen mit der Feder alS künstlerischem

Mittel überhaupt zu gelangen im Stande sei. wesen sein,

ihm

vorzurechnen,

ES würde vergeblich ge­

wer Modellirung,

daß,

Verkürzungen

und Farbe absichtlich ignorire und die Figuren mehr auf den Schattenriß als auf Rundung durch Licht und Schatten hin anlege, auf das Höchste in der Kunst Verzicht geleistet habe.

Dürer's Arabesken predigten Cor­

nelius möglicherweise in der Stille, daß mehr als Arabesken auf seinem jetzigen Wege nicht zu erreichen sei. Wir sehen in der Com-

Cornelius nahm diesen Wink dankend an.

position des Titelblattes zum Faust, wie wörtlich er Goethe's Hinweisung aufgefaßt, und wir gewahren in der Folge bei allem,

was Cornelius

arrangirt, den Einfluß dieses Dürer'schen ornamentalen Wesens.

Jeden­

falls war Goethe's Interefle, soweit es durch Annahme der angetragenen Dedication zum Vorschein kam, Ursache, öffentlichung der Blätter übernahm.

daß ein Buchhändler die Ver­

DaS dafür vorausempfangene Geld

die Abreise nach Italien möglich, wo die Stiche vergeben und

machte

ausgeführt, auch die letzten fehlenden Compositionen geschaffen werden sollten.

Förster giebt über alt dies die genauesten Mittheilungen. —

Ehe wir zu Cornelius' Aufenthalte in Rom übergehen, einige Bemer­

kungen. Ich möchte die Frage stellen: .Wer kennt Cornelius' Faust?

Ich

meine damit nicht, daß man die Kupferstiche nach seinen Federzeichnungen,

oder

vielleicht

Federzeichnungen

die,

in

selber,

Besitz

des

Städelschen

einmal oder öfter,

Museums befindlichen

betrachtet habe;

sondern,

daß man, was von vorbereitenden Zeichnungen von Cornelius' Hand für

dieses Werk vorhanden ist, kenne und verglichen habe.

Nur aus solchem

Studium kann die volle Würdigung des Geleisteten hervorgehen.

Einen Theil seiner Skizzen, darunter Entwürfe zu Blättern welche

später gar nicht gestochen worden sind, fand ich im vergangenen Herbste beim Kunsthändler Prestel in Frankfurt käuflich. besitzt ein sainmelnder Privatmann ebenda.

Einen anderen Theil

Wiederum andere Skizzen

befinden sich, gleichfalls in Frankfurt a./M., in den Händen des InspectorS

des Städelschen Institutes Herrn Malz. Leider haben wir in Berlin kein öffentliches Institut, für welches ich

den Ankauf dieser Blätter, oder auch nur die Bestellung photographischer Copien derselben hätte übernehmen dürfen.

Um nur bei einer dieser Compositionen zu sagen, ankommt:

worauf eS hier

beim Ritte zum Rabenstein würden wir mit Hülfe der Frank­

furter Skizzen — wenn etwa unser Königliches Museum dergleichen anSzu-

legen gesonnen wäre — Cornelius' Composition in ihren ersten Keimen be­

AuS, die Figuren nur umhüllenden, nebelhaft umschrei­

obachten können.

benden Strichen leuchtet uns auf dem ältesten Blatte die.erste Gestaltung der Scene entgegen. Immer mehr scheidet sich auf den folgenden das Zu­

fällige von dem, was bleiben soll.

Immer härter aber auch legt sich um

die ursprünglich blühend lebendige Anschauung etwas, was

sich

einem

Panzer vergleichen ließe: die absichtlich gewählte harte Manier; bis endlich, unter den Händen des fremden Kupferstechers, Alles wie erstarrt scheint. Ein Stadium gab es für diesen Ritt der beiden Gestalten,

wo auS den

flüssigen, warmen Bleistiftstrichen ein farbiges Bild

weichen,

sich, wie

eS Rubens nur gemalt hätte, in colossalen Formen entwickeln konnte.

ES hätte nur bedurft, daß durch ein Wunder Cornelius damals in eine Werkstätte, wie die Rubens' war, hineinversetzt, auö den ihn umgebenden

Eindrücken heraus in dies großartige Element hineingezaubert worden wäre.

Denn wie farbig er anfangs zn malen wußte, zeigt feine ans dieser Zeit stammende Heilige Familie auf der Frankfurter Städtischen Gallerie.

Statt dessen sehen wir die kalte historische Wirklichkeit ihn festhalten. Daim Kupferstiche dem Publicum endlich zu Gesichte Kommende war weder ein Abbild dessen mehr, was Cornelius wollte, noch dessen was er ver­

mochte. Die Pflicht unbefangener wissenschaftlicher Critik ist, dies hervor­

Förster'« Buch zeigt unS in unwiderleglichen Actenstvcken, wie

zuheben.

Cornelius' freier Geist in ungünstigen, engen Berhältniffen emporküm­

merte.

Die Frankfurter Skizzen bilden eine unentbehrliche Ergänzung

dieser Nachrichten.

Sie erst enthüllen ganz die innere Geschichte seiner

damaligen Thätigkeit.

II. Corneliu-

macht sich 1811 auf nach Italien.

Man sollte denken,

Mailand, Parma, Bologna, Floren; wären für den Ankömmling im Lande der künstlerischen Verheißung Stufen sich steigernder Glückseligkeit gewesen.

Me Briefe sagen wenig von solcher Stimmung.

Wie zwischen Zwangö-

schMedern geht er vorwärts, nur das erkennend was in den Kreis der in

Frarikfurt empfangenen Eindrücke hineinreicht, bis zuletzt- dann in Rom

eine feste Gesellschaft, wie ein extra dazu ausgestellter und avisiter Polizei­ posten, ihn in Empfang und Beaufsichtigung nimmt. Doch eS dürfte kein junger Künstler jemals nach Italien gegangen fein,

von den Zeiten Raphaels an, wo diese Wanderungen begannen, bis zur heutigen,

wo sie aufhören,

dem nicht in ähnlicher Weise vorgezeichnet

worden wäre, was zn sehen sei und was nicht, was anznerkennen und

was zu verurtheilen, was nachahmungSwerth fei und wovor man sich als

12*

gleichgültig oder verderblich zu hüten habe.

Den Wechsel dieser Anschau­

ungen, nebst den Ursachen des Umschwunges jedesmal, darzustellen, würde eine schöne Aufgabe kunsthistorischer Forschung sein, wenn Material auS

erster Hand dafür gesucht wird.

Diese Untersuchung würde zeigen, daß

eS, selbst bei bedeutender Unabhängigkeit des Geistes, oft fast unmöglich

fällt, sich von der Macht der Parteiansicht unbefangen zu halten.

In

jenen Tagen war der Haß gegen den älteren Napoleon aller geistigen Be­

wegung in Deutschland zugemischt.

Die Seelen der Menschen

wurden

gekeltert, damit junger Most entstände, der die alten Schläuche sprengte.

Mochte er trübe sein: er schien nützlicher und edler als der alte, ruhig

liegende, abgeklärte Wein der klassischen Bildung.

Diese goldnen Fluthen

mundeten denen damals nicht mehr, denen das Deutsche Vaterland näher

stand als die unpersönliche europäische Kunst.

Zwei Jahrhunderte hindurch

hatten Jtaliäner, Franzosen, Niederländer und Deutsche die gemeinsamen Erfahrungen erforscht, genutzt, vermehrt und in Privatateliers oder auf Academien sorgsam weitergegeben, welche sie der Kunst des 16. und 17. Jahr­

hunderts verdankten.

Nun war dem nachwachsenden Geschlechte der Sinn

dafür abhanden gekommen.

Die alten Meister, welche das Publicum Lud­

wigs des Fünfzehnten eben noch mit Werken entzückten (die heute, vielleicht in noch viel höherem Maaße, von neuem das Entzücken und den Stolz

der Sammler bilden:

Grenze,

Fragonard,

Chardin u. s. w., wie sie

durch die Brüder Goncourt in ihren zwei Bänden über die französische

Kunst im 18. Jahrhundert in einem höchst geziertem, aber äußerst leben­ digem pariser Französisch kürzlich biographirt worden sind) saßen mit ihrer

Kunst und ihren Künsten verlassen da, während der jüngere Revolutions­ franzose sich im Anblicke der ghpsernen, basreliefartig flachen und äußer­

lichen Nachahmung der Antike patriotisch berauschte, welche von David und den Seinigen als officielle Kunst auftecht erhalten wurde. Welche Ansprüche durfte erlernte Kenntniß alter todter Atelierkniffe erheben gegenüber den

Inspirationen der neuesten lebendigen Begeisterung?

In ähnlicher Weise

wird nun, als die schweren Zeiten kamen, auch in Deutschland gerechnet. Was bei Carstens noch die stille Ueberzeugung eines eigenthümlichen, mit

persönlicher Berechtigung für diese Auffaffnng begabten Mannes gewesen

war, wurde jetzt als Grundlage allgemeiner.Kunstbildung verwerthet. Eine Art politisch-religiösen Gottesdienstes, dem die visionäre Anschauung der. darzustellenden Kunstwerke entspränge, sollte der AuSgang für jedes

große Talent fein. In Lübeck war dieser neue Geist in die Seele eines jungen Mannes eingedrungen,

der

ohne technisch künstlerische Anregung — welche die

Talente meist hervorzulocken pflegt — rein auS der Hingebung an die in

Deutschland waltende begeisternde Stimmung sich zum Künstler bestimmt,'

oder sagen wir: sich der Kunst geweiht hatte:

Friedrich Overbeck.

Er­

ziehung und Umgebung hätten ihn in anderen Zeiten vielleicht anders ge­

leitet; jetzt, als gölte es in einen heiligen Kampf zu ziehen, erwählt er die

Künstlerlaufbahn und, da in Lübeck nichts zu lernen war, auch Berlin Hier fiel er in die

nichts bot, wendet er sich an die Wiener Academie.

abgelebte Fortübung dessen, was man später abschließend und aburtheilend den „Zopf" nannte.

Die Zöpfe wurden damals in Europa, zum Theil

unter hartnäckigem Widerstande, abgeschnitten. ES muß Overbecks vor gewaltsamer Initiative zurückweichende, mäd­

chenhafte Natur in Anschlag gebracht werden, um zu würdigen was jetzt

in Wien geschah.

Er und eine Anzahl gleichgesinnter Schüler erklären

daS auf der Academie gelehrte sei Götzendienst.

Nur Begeisterung und

unverfälschtes Naturstudium dürften maaßgebend sein.

DaS Ende war,

daß die kleine Gemeinde relegirt wurde und sich, 1810, auf eigne Faust nach Rom begab.

Wenn man hört,

wie die jungen Leute in einem verlassenen Kloster

sich dort einquartieren, (waS ihnen den Namen „Klosterbrüder von San

Isidoro" einbrachte), sich abschließen, in ununterbrochener lernender Thä­ tigkeit sich selbst genügend und alle geistige Nahrung nur sich selbst zube­

reitend, so sollte man für unmöglich halten, daß zu gleicher Zeit in Rom Canova'S glänzendste

Zeiten

daß

walteten,

Thorwaldsen

als fertiger

Meister arbeitete, Rauch alS studirender Anfänger erschienen war.

Ihnen

galt die allen Nationen gemeinsam gleich ehrwürdige Antike als die höchste Blüthe der menschlichen Kunst. brüder von San Isidoro.

Wüste fühlen sie sich.

Ihre Kunstgeschichte geht von Giotto bis Fiesole,

höchsten- bis zu Raphael.

Der Rest Sünde und Verfall.

vollere römische Thätigkeit ist Renaissance von

All daö wie fortgeblasen für die Kloster­

Wie einsame Ansiedler innerhalb einer großen

das Verderben.

schon

1500 an nicht vorhanden für sie.

die Nibelungen Quellen ihrer Begeisterung.

am besten formulirt,

indem er sagt:

schichte zum erstenmale ein,

Raphael's

Die Pracht der Die Bibel, Dante,

Goethe hat diese Richtung

„der Fall tritt in der Kunstge­

daß bedeutende Talente Lust haben, sich

rückwärts zu bilden, in den Schooß der Mutter zurückzukehren und so eine neue Kunstepoche zu gründen.

Dies war den ehrlichen Deutschen

vorbehalten und freilich durch den Geist bewirkt, der nicht Einzelne, son­ dern die ganze gleichzeitige Masse ergriff".

An diese, mit Cornelius' frankfurter und rheinischen Freunden in Verbindung stehenden römischen Hauptvertreter der Deutschen Richtung

war Cornelius adressirt worden.

Seine ersten Briefe lassen

ihn al»

gänzlich befangen von ihnen erscheinen. Wäre das nicht der Fall gewesen, so begriffe sich nicht, wie jetzt in Rom seine neue große Arbeit zu den Nibelungen so entstehen konnte, wie sie entstand. Riegel will bei der Compositionsweise der ersten Nibelungenblätter

den Einfluß deS frühen Italieners erkennen.

Demnach wäre für Cornelius

Dürer selbst nun bereits zu modern gewesen und er hätte sich der ein halbes Jahrhundert älteren Auffassung Fiesole'S zugewandt.

Verhält eS sich

in der That so, dann wäre hier ein neues Zurückweichen zu constatiren, das zu den seltsamsten Phänomenen in der Entwicklung eines Meisters gehörte.

Cornelius hätte sich, wenn er die beiden Blätter: Siegfried, wel­

cher in der Küche den Bären losläßt, und Siegfried'S Abschied von Chrim-

nachdem seine gesammte frankfurter Thätig­

hilde erst in Rom zeichnete, keit bereits hinter ihm lag,

die mir unbegreiflich ist.

in einer Weise wieder verkindlichen müssen

Noch weniger verständlich aber werden

diese

Arbeiten, wenn, wie Riegel die römischen Verhältnisse darstellt, Cornelius sich nicht ausschließlich zu den Klosterbrüdern von San Isidoro gehalten

hätte, sondern früh bereits mit Thorwaldsen und Koch,

welche als Car­

stens' Nachahmer und Fortsetzer die classische Richtung der älteren roman­ tischen Schule

in Rom vertraten,

in Verkehr

gekommen

wäre.

Und

schließlich: die in Rom hinzncomponirten letzten Faustcompositionen erhoben sich in gewissem Sinne bedeutend über die frankfurter Blätter; wie sollten

neben ihnen in Rom jetzt die ersten Nibelungenblätter entstanden sein?

Bei den späteren Nibelungencompositionen ist die Nachahmung römischer Werke offenbar.

Am auffallendsten beim Zusammensinken Chrimhilden'S

vor der Leiche Siegfried'S, wo wir die Gruppe der ohnmächtig werdenden,

von ihren Begleiterinnen aufgefangenen Maria der Grablegung Raphael'S im

Palazzo Borghese wörtlich

wiederfinden.

in'S Deutsche

übertragen

bei Cornelius

Die großartigste unter diesen Compositionen ist die letzte,

daö Titelblatt: eine Wiederholung deS gesammte» Gedichtes in den ein­ zelnen Scenen, welche in eine große romanische Architektur hineingepaßt

sind: eine bildliche Inhaltsangabe.

Das innerlich colossale der Auffaffung

macht sich in auffallendem Maaße geltend.

einem ungeheuren Wandgemälde zu sehen.

May glaubt die Skizze zu

Dem entsprechend haben die

Bewegungen der Figuren jedoch eine gewisse historische Geziertheit.

Sie

spielen Weltgeschichte und, da Manier immer Nachahmung erzeugt, ist eS

Cornelius hier besser gelungen, eine Reihe in einer Schule fortpflanzbarer Typen zu schaffen, als beim Faust, nur daß auch diese männlichen und weiblichen Nibelungenhelden heute schon keinen rechten Glauben mehr ein­ flößen.

ES ist

wenig darüber erhalten, wie Cornelius

aus dem engeren

Klosterverbande von San Isidoro loskam, so daß er später mehr als afft« Urte- freies Mitglied erscheint.

Fveund.

Overbeck war 1813/14 sein einflußreichster

Nicht- aber ist so verschieden alö der innerliche Figurenmaaß-

staSb beider.

Keine Figur, die mir von Overbeck bekannt ist, erhebt sich,

was ihre innere, angeborene Größe und Dimension anlangt, über halbe LetenSgröße.

Dasselbe war der Fall bei Fiesole.

Wo dieser lebensgroße-

oder überlebensgroße- Format wählt, erscheinen seine Gestalten sofort

al» nur mechanisch vergrößerte Darstellungen, welche von der Phantasie

in viel geringerer Dimension producirt worden waren.

Bei Corneliu-

dagegen kenne ich au- den Zeiten seiner vollen Kraft keine Figur, auch

wenn sie nur drei Zoll hoch auf ein Blättchen Papier gezeichnet wäre, die nicht alö eine au- der Ferne gesehene, oder sonst in daS geringe Format

nur äußerlich comprimirte, ihrer eigentlichen Größe nach jedoch colossale Ge­

stalt wirkte.

Dieser kapitale Gegensatz der hervorbringenden Phantasie, der

gerade damal- zu Tage zu brechen begann, muß bald zur Sprache gekommen sein zwischen Freunden, die sich ihr innere- Leben in fortwährenden Beich­

te« gegenseitig ausschütteten. Im August 1813 war Cornelius mit Leller,

einem seiner ältesten Freunde, nach Orvieto gegangen (I, 140).

Signo­

relli'- jüngste- Gericht nimmt ihn da völlig ein und Teller'- fortwähren­ des Berweisen auf Fiesole wird ihm zuviel.

Ein folgender Bries au-

Florenz, vom 13. Dec. 1813, enthält einen Vergleich, den Cornelius zwi­

schen seiner und Overbeck'S Natur anstellt.

Er spricht sich offen auS,

ohne einen Gedanken an Trennung, aber ihr Auseinandergehen war darin indicirt ohne feinen Willen. Das Leben, sagt Cornelius, habe hohe

und tiefe Abgründe in ihm gebildet, von denen ein Wesen wie Overbeck sich keinen Begriff machen könne.

Dennoch, wie fest die Klosterbrüder

mit Cornelius verkettet blieben, zeigt dessen Brief vom 3. Nov. 1814 an

Görres, worin die Anschauung der römisch-Deutschen jüngeren Künstlerfchule zu einem festen Programme formulirt wird. Corneliu- dankt Görreö zuvörderst, daß dieser sich zu seinen Gunsten

um eine preußische Pension bemüht habe. Nicht für sich, sondern für seine Sache im Großen, bittet er sodann um weitere Theilnahme.

Er spricht

in dem Tone eine- Manne-, der sich vollberechtigt fühlt, Ansprüche zu erheben.

Die jüngeren Romantiker betrachteten sich damals als diejenigen,

deren geistiges Ringen Deutschland zu seinen Siegen verholfen hatte. gebildeten Stände, welche allein da- Volk repräsentirten,

Die

hatten nichts

anderes, ihre Begeisterung auözusprechen, als die Sprache dieser Schule. Studenten, Professoren, Künstler, Beamte, Politiker, Ofsiciere, Adel und

höherer Bürgerstaud athmeten in

ihren Worten und Vorstellungen den

Geist de- neuerwachten Deutschthumeö.

Man vertraute, eö werde sich

durch einfachen Naturprozeß, los aufsprießen,

wie die Blüthen im Frühlingswinde mühe­

aus dem Wehen und Walten des siegreichen nationalen

Geistes alles ergeben, was die idealen Wünsche jedes Einzelnen begehrten. Ein entzückendes ChaoS, aus dem die neue, beste, schönste Welt sich formen

müsse.

Ein kindlicher Glaube daran durchströmte das Volk.

und Erfüllung schienen

genau

aufeinanderzupassen.

Hoffnung

Was die bildende

Kunst anlangte, so erachtete man nur für erforderlich, daß der Künstler im

Allgemeinen Begeisterung und Kraft besitze, um dann, ohne viel Unterwei­

sung, Werke großartigster Natur zu produciren.

All daS stand so fest, daß

von Zweifel gar keine Rede war.

Dies muß in Anschlag gebracht werden, um Cornelius' Manifest an Er redet prophetisch.

Görres zu verstehen.

der Erde sein.

Die Kunst soll daS Salz

AuS den Urquellen: Tugend, Religion, Vaterland wird

ihre Mission hergeleitet.

Göttliche Erleuchtung hat die in Rom versam­

melten Deutschen Künstler über ihren Beruf aufgeklärt.

negativ:

Ihre Aufgabe,

„den Lügengeist der modernen Kunst" zu besiegen.

(Lügengeist

nannte man im Allgemeinen, was auf den damaligen Academien noch gelehrt wurde);

positiv: die alte FreScomalerei, als das der Idee der Malerei

am nieisten Entsprechende wiederzuerwecken. Künstler:

Der persönliche Anspruch der

eine würdige Veranlassung, zu zeigen, was man könne.

Wie

Columbus Schiffe verlangte, um die neue Welt zu finden. Das wunderbarste für den heutigen, rückwärts gewandten Blick ist nun, daß auf diesen prophetischen Zustand der Deutschen Künstlerschaft nicht etwa die unausbleiblich erscheinende allseitige Nüchternheit folgte.

Vielmehr verketten sich die Weltverhältnisse derart, daß während bald die andern Deutschen Phantasien in Nichts verfliegen, dieser eine künstlerische

Traum den Schein von Wirklichkeit empfängt und über vierzig Jahre lang darin erhalten wird.

Alles bricht bald zusammen.

Die Hoffnungen ziehen

sich entweder scheu zurück oder werden offen zu Boden geschlagen. sorgniß und Verzagtheit geben den Ton an.

Be­

Litteratur und Politik hatten

so schön für die Deutsche Herrlichkeit vorgearbeitet: ihre Arbeit wird von der Polizei bei Seite geräumt.

Nur die Kunst wandelt in vollem Sonnen­

schein als Liebling der Machthaber schuldlos weiter einher und gedeiht.

Damit aber auch ist Cornelius fernere Entwicklung besiegelt.

Ich

überfliege seine Zukunft, die damals sich vorbereitete.

Es ward ihm Alles gewährt.

den geforderten,

Sein ungemeines Talent empfängt

gewaltigen Spielraum,

sich zu

entfalten.

Allein nicht

die gesunde Freiheit eines in eigner Selbständigkeit bestehenden Volkes bietet ihn ihm dar.

Cornelius arbeitete für Fürsten

deren großartigen Launen

und Regierungen,

dort und deren politischen Zwecken hier er

Er

diente. er

that

that eS ohne darum

eS.

Die Arbeit eines

zu wissen

oder nur zu ahnen, aber

unter solchen

welcher

Mannes,

Um­

ständen, sei eS das Größte, schuf, mußte trotzdem irgend woher einen Stempel

empfangen,

dieses Zeichen. Cornelius,

durch

sie

welchen

discreditirt

emporhoben

durch

eine

bildenden

der

zu Theil gewordene Fürsorge, hat endlich

Kunst

die Zeiten

hat

trug

er gelitten. , Allein er war groß genug, Seine

seit jenem Manifest

letzten Zubodensinken der Hoffnung,

in

hat er geschaffen in

in sich selbst Beruhenden:

Cartons zum berliner projectirten Camposanto. die seiner Thätigkeit

erlebt,

Unter diesen

nm sich über ihre Ungunst

letzten und erhabensten Werke

der Rückkehr zum Einfachen, Gemässen,

unnatürlich

noch

denen diese Unnatur gesunden Verhältnissen weichen mußte. zu erheben.

Sie

ward.

Um hier gleich das Aeußerste über Cornelius zu sagen:

seine

Cornelius' Geschichte ist

vom Jahre 1814 bis zu dem

es würden feine Compositionen

für

das Camposanto, Kohlenzeichnungeu auf einfaches Papier, jemals in FreSco

ausgeführt werden; zu der Gewißheit: daS erhabenste Werk feines Lebenin der armseligen Gestalt von überhaupt nur Kohlenzeichnungen auf Papier

geschaffen zu. haben, und zu der Resignation:

trotz allem, in dieser Ma­

nier, nun al- freier Mann, dennoch weiter arbeiten zu wollen.

III. Bildliche Darstellungen aus wen Werken der Dichter haben niemals neben den Dichtungen selber auflounmen können.

Die italienische Kunst hat

keine bleibende Illustration Dant«'S zu Stande gebracht. keine Goethe'» oder Schillers.

Götz, Gretchen,

Iphigenie,

Die unsrige

Tasso

sind

schwankende Gestalten geblieben, bei denen der Leser sich alle Rechte vorbe­

hält.

Eine Zeitlang schien eS gelungen zu sein, durch die Nachahmung

griechischer Basenbilder in den Abschlußjahrzehnten deS vorigen Jahrhun­

dert- unsere Anschauung der homerischen Ereignisse auf eine Reihe fester

Typen zu beschränken, allein auch das hat nur seine Zeit gedauert.

Wir

sind auch hier wieder frei nach allen Richtungen. Kein Mensch denkt mehr

bei Götz an Tischbein- Gemälde oder bei Iphigenie an Angelika KauffmannAuffassung, von der Göthe befriedigt war.

Sämmtliche Leonoren sind zu

Grabe getragen, und ich hoffe Kaulbachs und seiner Schule neueste Faust-

compositionen werden kein langes Leben genießen.

Es sind papperne Ge­

spenster, in deren noch so üppig scheinenden Körpern kein Tropfen war­

me- Blut rieselt.

Mag Kaulbach- Gretchen in den nnverhüllten Formen

einer angehenden Amme vor der Madonna knien, Gretchen in verdächtiger abgehärmter Magerkeit

oder Arh Scheffer-

am Brunnen

von den

Nachbarmägden angestiert werden: beide- find Versuche, die Niemandem

über Goethe'S Versen in den Sinn zurückkehren werden.

Das Einzige

von allen Bildern und Bildchen zu Goethe'S Werken waS ich nicht wieder loswerden kann, sind Chodowieckh'S paar radierte Blättchen zu Werthers

Hier meint man wirklich, der Künstler sei dabei gewesen.

Leiden.

Doch

hat er nur einige gleichgültige Situationen dargestellt, die zum Romane

nichts hinzuthun. Kaulbachs Compositionen zum Werther sind unerträglich.

Als habe Jemand ein modernes Schauspiel aus dem Romane fabricirt, und er einige Scenen daraus für den Bühneneffect gezeichnet.

Ein

Die

großes bildendes Talent bedarf ganz allgemeiner Stoffe.

Werke unserer modernen großen Dichter, keinen immer nur

ein beschränktes Publikum gehabt.

ausgeschlossen, haben

Dante war in manchen

Jahrhunderten an manchen Orten in Italien vielleicht so populär wie Homer tausend Jahre lang in ganz Griechenland gewesen ist, dennoch lieferte auch er den italienischen Malern und Bildhauern nichts, was ihnen allge­

mein genug gewesen wäre.

Cornelius brauchte Stoffe, die jedem Auge sofort

verständlich waren, und diese vermochte allein die Bibel zu liefern.

Ueber

das waö zwischen Joseph und seinen Brüdern vorging, kann jedes Kind in

der Welt,

jedes Mütterchen, jeder Bauer, jeder Droschkenkutscher

Auskunft geben.

Nun gar über die Ereignisse des Neuen Testaments.

Hier finden wir gemeingültige Gestalten und hier ein wirkliches Publi­ kum.

Von den thörigten Jungfrauen weiß die Welt mehr als von allen

Beatricen, Iphigenien, Julien, Chimenen zusammengenommen. von Maria

und der Heiligen

Familie.

Gar erst

Den Uebergang des Weges,

welchen Cornelius aus der mit hohen Mauern

nationalen mittelalterlichen Poesie zu den freien

umzogenen Stätte der

Gefilden der Antike

zurückzulegen hatte, schaffte ihm die über allen Nationen waltende Bibel:

Cornelius' „erstes, großes Werk", Nr. I seines CatalogeS als Meister ersten

Ranges, sind die

Freöcomalereien in der römischen Casa Bartholdy.

Bisher war nichts für die Deutschen Künstler in Rom gethan wor­

den.

Weder GörreS konnte etwas durchsetzen, noch dachten die Fürsten

oder die Regierungen, daran, mit Aufträgen zu kommen.

Der erste,

welcher das Vertrauen und die Courage hatte, der CorneliuS-Overbeckschen

Deutschen Künstlerschule die Ausführung einer monumentalen FreScomalerei anzubieten, war der preußische Generalkonsul Bartholdy — ob getauft

oder ungetanst — jedenfalls ein Mann, der, wenn er kein Jude gewesen wäre, sich auf eine solche Unternehmung nicht eingelassen habe» würde.

Leider kann über daS Eingreifen jüdischer Elemente im modernen Leben noch nicht gesprochen werden.

treffen waS sie wollen,

Während heute alle Fragen, sie mögen be­

mit wachsender Unbefangenheit erörtert werden,

läßt sich über die jüdische Nationalität nicht unbefangen diSkutiren.

ES

-«findendem

sich in unserer Zeit Inden

in

fast allen Stellungen,

welche

CßristeUsten innehaben, und eö offenbart sich ihr Charakter in ganz anderer

Weise Ich beschränke mich deshalb darauf, zu sagen, daß alS wichtigster spä­ terer r Zuzug ans Deutschland der Deutsch-römischen Kunstlerschaft

äußerhrft

scher r Abkunft und Overtrbeck

den

zwei

begabte junge Leute sich anschlossen, ganz ober zum Theil jüdi­

Erstrebte

mit

der ausgezeichneten

hineinzuarbeiten,

begabt,

Energie,

sich

in

daS

von

die als

ein

Ausfluß

der

Juden verliehenen allgemeinen Energie auf bestimmte Ziele, deutlich

herawuStritt:

Veit

feinerer Mutter.

und

Diesen

Wilhelm beiden,

Schadow. nebst

Veit

unter

Overbeck und

Malelereien im Hause Bartholdy's zugetheilt.

dem

Cornelius

Einfluß

werden

Das alte Testament lieferte

den 1 beiden Parteien völlig genügenden Ausgangspunct.

BartHoldH hatte

Josephs Trübsale und

seine Herrlichkeit

dies! zur Bedingung gemacht.

sollteten als symbolische Glanzepisoden alttestamentarischer Historie

stelltet werben.

So kamen Cornelius' Fresken zu Staube:

bärge«

Joseph beu

Traaum bes Pharao beuteub, nnb Joseph ber sich beu Brübern zu er« kenunen giebt. Neunen

Carrriere

wir birse Arbeit Cornelius' Erstlingswerk was seine große

anlangt,

Jahhre alt.

so

kam sie nicht zu

frühe.

Er war über breißig

Dürer unb bie Deutschen Meister, aber auch, was die äußere

Forrm anlangt, Fiesole ftnb nun überwunden und abgethan.

Zeitt hatte er gebraucht, um sich frei zu machen.

So lange

Es ist als sei die von

vorfgesaßten Meinungen bis dahin eingeschnürte Phantasie endlich ihrer Ban-

Cornelius und die ersten fünfzig Zahre nach 1800.

188

den entledigt worden und athme freie Luft in natürlichen Athemzügen.

DaS

Gefühl, nach den Tagen der großen Italiener der Renaissance zum ersten

Male wieder die ächte heilige FreScomalerei aufzunehmen, leitete seine Die Compositionen gehörten dem Geiste nach ganz in die Reihe

Hand.

der Loggiencompositionen Raphaels. gends

sichtbar.

aber Nachahmung

Figuren.

Die Aehnlichkeit ist auffallend, nir­

Cornelius beschränkt sich auf wenig

Er läßt das historische Gewandgefältel bei Seite.

Während

eS bei den Nibelnngen den Figuren um die Beine und um die Schultern

flattert, als sei jedem sein aparter unsichtbarer Windgott beigegeben, der

die wallenden Kleider mit künstlerisch wirkenden Lungenstößen dahin und

dorthin bläst, hält Cornelius sich von nun an frei davon. Er studirt daS Nackte und läßt eS gehörig sichtbar werden.

Niemals wieder in der Folge hat Cornelius eine rein menschliche Handlung so ergreifend dargestellt, wie in dem einen der beiden Werke,

Joseph und seine Brüder. das begreift Jeder. stehen.

Wie Benjamin Joseph

an den HalS fliegt:

Wie die Brüder verwirrt, beschämt, angstvoll umher­

Was bei Raphael so groß und so schön erscheint: daß in seinen

Compositionen jede beliebige Figur für sich, dann aber mit der zunächst­

stehenden zusammengenommen, dann ferner mit den abermals zunächst­ stehenden vereint,

stets eine plastische Einheit bildet, welche, ganz abge­

trennt betrachtet, von der reinsten Wirkung ist, das gewahren wir hier

bei Cornelius.

Die beiden Brüder allein bilden den Kern des Ganzen,

die Gruppe der Brüder verbindet sich dann aber organisch natürlich mit

den Hauptfiguren. des Gemäldes.

Sodann, die Composition erstreckt sich in die Tiefe

Die Gruppen haben Luft um sich,

haben ihre gehörigen Licht- und Schattenmasien Figur für sich, wie Cornelius später arbeitete.

die einzelnen Theile nicht jede

im Ganzen,

Mit einem Worte: dies

Werk ist eine vollendete Schöpfung, etwas Fertiges, etwas Gutes, ein

Kunstwerk nach jeder Richtung, eine Arbeit, welche die Frische der Jugend und die Kraft deö Mannes zeigt.

Ich kenne nichts Späteres, das so nach

allen Seiten zeigte, was Cornelius zu leisten vermochte. Leider ist das Werk so gut wie unbekannt und unzugänglich.

Der

Carton, in Besitz der königlichen Academie der Künste in Berlin, hat seinen Platz

hinter den für die Gemälde der Nationalgallerie in den

Räumen deS oberen Stockwerkes aufgeschlagenen Gerüsten,

ihn

nicht sehen kann.

so

daß man

Gezeichnet mit einer Sorgfalt wie kein späterer

Carton deS Meisters, darf man ihn als

eine der edelsten

barsten Arbeiten Deutscher Kunst bezeichnen.

Die

jetzige

und

Stelle,

kost­ an

der das Werk sich schon geraume Zeit befindet und wo eS jedenfalls un­ bestimmte Zeit noch wird verharren mässen, ist wohl schon deshalb nicht

die rechte, weil es im Falle einer Gefahr nicht zu retten wäre.

Man

sollte den Carton aus dem Verschlage hervorthun, ihn (was früher oder

später doch geschehen wird) mit einem schützenden Glase versehen, und bis auf weiteres in einem der Säle der Academie aufstellen. Glücklicherweise hat der verstorbene A. Hoffmann einen vortrefflichen Stich danach auS-

geführt. War Cornelius in Rom durch den Anblick dessen,

waS sich vor

seinen Blicken doch nicht wegläugnen ließ, auf Raphael hingelenkt worden,

Dahin drängten

so blieb noch ein weiterer Schritt z« thun: zur Antike.

ihn nicht allein die Werke der antiken Meister.

Er mußte gewahren, wie

hoch die Bildhauerei, an äußerem Ansehen wie an innerem Bewußtsein deS innegehaltenen Weges, in Rom über der gleichzeitigen Malerei stand, und

Auch hatten die römischen Modelle Cornelius doch wohl ahnen lassen, daß die Kunst ein

mit welcher Sicherheit sie von der Antike ausging.

höheres Ziel habe, als das in feinem Manifest an Görres ausgesprochene.

Religion, Tugend und Vaterland sind große Gedanken und wohl würdig die Seele eines Menschen auszufüllen, allein sie würden kalte, kahle Be­ griffe werden, wenn die Menschheit neben ihnen sich nicht erinnern dürfte,

daß eS eine zweite Gedankenreihe gebe: Gefühl der eignen Kraft, Genuß des Daseins, Cultus der Schönheit, und so weiter in dieser Richtung. In Cornelius, der eine Römerin geheirathet hatte, der von Jahr zu Jahr

selber mehr ein Römer geworden war, mußte sich allmählich ein histo­ rische« Bewußtsein bilden, das von dem verschieden war, waS man ihm

bei der Abreise in Frankfurt in sein Bündel mit eingeschnürt hatte.

Sein

gutes Glück ließ ihn jetzt dem Manne begegnen, der wie vom Schicksal prä-

parirt erscheint für die Mission, welche ihm bei Cornelius zufiel: Niebuhr

traf als preußischer Gesandter in Rom ein.

Er verschaffte Cornelius

durch seinen Umgang zum erstenmale den Einblick in die geistigen Reich­ thümer, welche einem Manne, der zugleich Staatsmann und Deutscher

Philologe im höchsten Sinne war, zu Gebote standen.

dafür, daß in Deutschland jetzt in den ihrer im rechten Tone von Cornelius

Cornelius,

höchster Art.

Endlich, er sorgte

rechten Kreisen und innerhalb

die Rede war.

Niebuhr schuf

wenn auch nur für kaum vier Jahre, jetzt

eine Existenz

So oft Cornelius in späteren Jahren auf diese Zeit kam,

erzählt Förster, so ging ihm das Herz in Freudigkeit auf.

Tage der höchsten Lust und Begeiisterung.

Es waxen die

Im October 1816 trat Niebuhr

ein und vom 30. November schom ist der Bericht ans Ministerium datirt,

worin eine umfassende Charactewkstik der Deutsch-römischen Künstler ge­

geben und Cornelius die erste Sitelle eingeräumt wird.

Riegel ist in der

Zusammenstellung der hierher Aehörigen Auszüge aus Niebuhrs Corrr«

spondenz sorgsamer und anschaulicher als Förster, der zu actenmäßig zu

Werke geht. Riegel beginnt mit der Erzählung, wie Niebuhr den 18. Ok­ tober,

als

die Leipziger Schlacht durch

zwischen Thorwaldsen und Cornelius saß.

ein Festmahl

gefeiert wurde,

Das Wachsthum ihrer Freund­

schaft läßt sich von da weiter genau verfolgen. In einem Briefe vom 30. October 1816 wird Schadow noch der „be­

deutendste" unter den Künstlern genannt. Den 20. November hat Cornelius

bereits dieses Prädicat in Besitz.

Den 17. Dezember: Cornelius liebe

ihn, das Verhältniß werde aber doch in den Schranken einer Bekanntschaft bleiben, die sich entbehren lasse.

Weihnachtsabend: wir kommen uns im­

mer näher und können uns schon Freunde nennen.

1817:

Den 16. Februar

Cornelius und Platner, die eigentlichen vertrauten Hausfreunde.

Den 20. Juni 1818 ist von Cornelius'

„lichtem, reichen Genius"

die

Rede, den 20. Mai nennt Niebuhr ihn den „Goethe unter den Malern,

in jeder Hinsicht einen frischen und mächtigen Geist; frei von aller Be­ schränktheit." Dieses langsam ansteigende Lob ist bei Niebuhr, dem peinlichen Beobachter seiner selbst und Anderer, durchaus zuverlässig. Wir heute dürfen

hinzusetzen, daß Niebuhr derjenige war, dem Cornelius diese „Befreiung

von aller Beschränktheit" zu verdanken hatte.

Den höchsten Glanz aber

empfängt er durch daS Erscheinen des jugendlichen Kronprinzen von Bayern.

Dieser und Niebuhr vereint begannen jetzt das Feld zu bereiten, auf dem Cornelius aus einem armen Schlucker, den elende kleine Schulden pei­

nigten, zu einem Meister sich aufarbeitete, welcher in Deutschland Academien befehligte, Aufträge bis zu 100,000 Gulden empfing, mit Orden be­

deckt, in den Adel erhoben und mit all' den übrigen Ehrenbezeugungen der Menschheit reichlich überschüttet wurde.

IV. Förster druckt eine ziemliche Masse officieller und unofsicieller Correspondenz ab, welche Cornelius' Berufung nach Preußen behandelt: die

eigentlichen Erwägungen aber, welche den Ausschlag gaben, konnte er nicht

mittheilen:

darüber belehren

uns später vielleicht einmal noch versteckt

liegende Memoiren oder Briefwechsel. Freiheitskriegen große Dinge vor.

Man hatte in Berlin nach den

Niebuhr, der von Natur ängstlich genug

und durch Erfahrung über den Geist der Sparsamkeit nicht uuunterrichtet

war, der in Berlin maaßgebend zu sein pflegte, hätte sonst nicht von so großartigen monumentalen Malereien gesprochen als er Cornelius dem

Ministerium

dringend empfahl.

Niebuhr wußte, daß Außerordentliches

geplant wurde für den Schmuck der Hauptstadt.

Rauch war der indi-

cirte Bildhauer für die Helden des Freiheitskrieges, Schinkel der uatür-

liche Architekt für die Ruhmeshallen, Dankeskirchen, Säulen, Thürme, Thore, Brunnen die man aufrichten wollte — der Maler fehlte, der an alle die auf steigen sollenden neuen Wände die Thaten des Deutschen Volkes malte. Nebenbei aber lief der heimliche Gedanke: die technische Thätigkeit der Nation, recht angefeuert und auf die nöthige ideale Höhe erhoben, werde

die politische Ader vielleicht verwachsen lassen.

Anfang-, als alle Welt

noch an die Möglichkeit einer Erfüllung der allgemeinen Erwartungen in

politischen Dingen glaubte, war von Kunst wenig die Rede.

Allmählig

erst wurde den Fürsten klar, sie hätten mehr versprochen al- sich halten lasse, die Freiheit fei gefährlicher al- man gedacht, und es müsse dafür

irgendwie,Ersatz geboten werden.. Darin lag da- Bedenkliche.

In früheren Zeiten wenn die Künste

blühten war ihre Beförderung und ihr Genuß Sache natürlicher froher Lust am Schönen gewesen — in diesem Sinne sehen wir Päbste, Prinzen und

Publicum de- 16. und 17. Jahrhunderts, ja noch des achtzehnten, die

Kunst protegiren —; jetzt dagegen spielt sie eine Rolle, die mit ihr selbst gar nicht- zu thun hat. Wir sehen die Kunst zu einem der edelsten völker­ polizeilichen Mittel gemacht.

Man hoffte, daß wenn nur „die Künstler

beschäftigt würden", viele Stimmen in Deutschland schweigen müßten, die auf andere Weise still zu machen vielleicht weit mehr gekostet haben würde

al» Akademien, Statuen und AehnlicheS.

Was Friedrich Wilhelm III., der

offenbar eine natürliche Vorliebe für Werke der ächten Kunst hegte, wie

die Gemälde an den Wänden der Zimmer, die er bewohnte, beweisen, an Kunstwerken bedurfte, konnte ihm trotzdem Berlin reichlich liefern.

treibende Kraft für größere Pläne war der Kronprinz.

Die

Aber auch bei

diesem war weniger der Genuß am Schönen, al- da- Bedürfniß geistiger Neuigkeiten und Überraschungen der Ausgangspunkt de- Interesse- für die

großen Talente, welche er beschützte.

Und trotzdem: warum, da Niebuhr

Anfang- doch immer nur von Berlin gesprochen hatte, ist plötzlich von

Berlin gar keine Rede mehr und Corneliu- soll Direktor der Akademie in Düffeldorf werden?

WaS München dagegen anlangt, so giebt Förster- Buch genügend

Auskunft über die persönlichen Täuschungen des Kronprinzen, bald Königs, Ludwig, der das wa» seine Künstler anSführten, bona fide, weil er eS

bezahlte, für Werke ansah, die er selber eigentlich aus dem Brunnen

geholt hätte.

DaS war es, was Cornelius in Deutschland erwartete. Der Kronprinz von Bayern und der Minister Altenstein, vertreten

durch den das Feuer eifrig schürenden Niebuhr, fingen gleichzeitig mit ihm

zu unterhandeln an.

Speciell diese Tage sind wohl seine schönsten in

Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.

192 Rom gewesen.

Das Wiederaufblühen der Künste erstreckte sich, ziemlich

auS den gleichen Ursachen, damals über ganz Europa.

Es sollte durch

Hingabe an die Werke des Friedens die der Welt endlich wiedergeschenkte

Ruhe als nunmehrige LebenSnorm der Völker besiegelt werde. Ein Biertel­ jahrhundert lang war geraubt, gemordet und gehaßt worden: endlich brachen

sonnige Tage an, wo für alle Ewigkeit einer Wiederkehr dieser Verwilde­ Selbst in Rom schienen uralte Samen­

rung vorgebaut werden mußte.

körner wieder zu keimen. Nach Bartholdy wandte sich der Marchese Massimi an die Deutschen Künstler, die ihm seinen Palast auSmalen sollten. Hatte

Bartholdy, indem er jüdische Geschichte begehrte, nichts den Klosterbrüdern

Fremdes verlangt, so fühlten sie sich nicht weniger im gegebenen Stoffe zu Hause, wenn Massimi für sein Theil Gemälde zu Dante bestellte. Auch zu dem waö Cornelius hierbei zufiel, besitzen wir die Cartons in Deutsch­ land: auSgeführt hat er sie nicht, weil er fortging.

Auch hier sehen wir

ihn unter dem Einflüsse Raphaels. ES giebt Verehrer des Meistere, welche diese Leistung für seine größte und für diejenige halten, welche mit dem meisten Rechte als die seiner „Blü­ thezeit" betrachtet werden müsse.

Ich kann diese Meinung nicht theilen. „nachgeahmt" worden.

Raphael ist hier zu offenbar

Joseph und seine Brüder haben nicht eine einzige

raphaelische Form, nur die Auffassung des Ganzen ist raphaelisch.

Auf

den Dantecompositionen jedoch entspringen die nebeneinander thronenden

Heiligen zu deutlich den Heiligen der DiSputa.

Die Arbeit bekundek

größere Freiheit der Hand als die für die Casa Bartholdy, aber geringere Orginalität der Erfindung.

Völlig in Schatten aber werden sie gestellt

durch das Werk, das ich, für meine Person, jetzt als die Blüthe der Thä­ tigkeit des Meisters bezeichne:

die Cartons für die Decke und für das

erste Wandgemälde des ersten Raumes der Münchner Glyptothek, welche

Cornelius in Rom noch zeichnete.

Der Kronprinz von Bayern hatte eS

durchgesetzt, ihm den ersten Auftrag für Deutschland ertheilen zu dürfen. Hier war nun endlich dem heidnischen Alterthume nicht mehr aus dem

Wege zu gehen.

Cornelius mußte zeigen, was die Antike ihn gelehrt hatte.

Wie unbeschreiblich schön ist das jetzt Entstehende.

Hier zuerst und

nie wieder bietet sich der Gebrauch des Wortes „schön" bei Cornelius ohne Einschränkung dar.

Hier gab er sich hin.

Hier wollte er nichts als

rühren und es gelang ihm.

Man fühlt, wie das griechische Alterthum ihn ergreift.

Kein Schul­

unterricht, keine Universitätszeit hatten da etwas vorweggencmmen.

Als

roher Anfänger war Cornelius bei Niebuhr eingetreten, nach kurzer Lehre

alö vollendeter Meister aus seinem Verkehr hervorgegangen.

Auch diese

EoriicliuS und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.

itzZ

Cattons, die als eigene, mit der größten Zartheit durchgeführte Zeichnungen

Lei weitem schöner als die zum Theil von fremden Händen hergestellten Ge­

mälde sind, lagern eingepackt in Berlin. Hoffentlich zu baldiger befreiender Auferstehung im Nationalmuseum bernfen, dessen Bau doch nicht ewig währen kann.

Sind sie dort erst aufgestellt, dann wird sich zeigen, auf

welchem Wege Cornelius war als er Rom verlassen mußte. Cs zog ihn wieder dem Farbigen entgegen, er mäßigte das in ihm waltende Streben nach

dem Coloffalen, ein sanftes, mildes Element durchdrang feine Phantasie,

und

die Freude, jede einzelne Figur durch Naturstudien zur

lebendigen

Wahrheit

zu

fördern,

leitete

Hand.

seine

Eine

höchsten Zartheit

poetischer Empfindung hauchen diese Compositionen aus, die nicht nur an

die Antike selbst, sondern an deren frühe naive Auffassung bei den vorraphaellschen florentiner Meistern erinnert.

Welch ein Abstich gegen daS,

was im directen Anschluß daran in Deutschland später zu Stande kam!

1820 ging Cornelius fort von Rom.

Förster druckt einen unter seinen

Papieren von damals gefundenen Zettel ab, auf dem er, wie einen Seufzer von dem Niemand außer ihm wissen sollte, das Lob Italiens niederfchreibt,

dessen Sonne ihm so wie damals niemals wieder im Leben geleuchtet hat. Ich suche noch einmal zu formuliren was Cornelius verlor und was

er gewann als er von Rom nach Deutschland ging. Es ist fast zu viel bei uns letzter Zeit von Rom und Italien in Bezug auf" Kunst und Cultur die Rede gewesen.

Die Arbeit aber, die

am interessantesten wäre, hat noch Niemand übernommen: eine historische Darstellung deS Wechsels, der in Betreff des öffentlichen geistigen Verkehrs

dort stattfand.

Drei bis viermal in jedem Jahrhundert hat dieser dort

ganz andere Gestalt angenommen.

Für unS heute würde am wichtigsten

sein, diese Successionen zumeist bei der Deutschen Gesellschaft kennen zn lernen.

DaS Rom Winckelmann's, daS Justi so gut schildert, war ein

anderes als das Goethe'S.

Das Rom Goethe'« schien wieder fast ver­

wandelt als Carstens dort eintraf.

Nun die Zeiten Zoega'S und Hum­

boldts. Dann die Niebuhrs, dann die BunfenS, und von diesem die Deutsche

Heimath auf dem Capitol gestiftet, ohne die für eine ganze Schichte der

heutigen Generation Rom nicht denkbar wäre. Rom hat daS Eigene: unaufhörlich in einem gewissen Procentsatze

immer den jeweiligen Extract dessen zu beherbergen, was in Europa an

geistig bedeutenden Menschen vorhanden ist.

Masse

die auS allen Nationen

und gründlich zu

ES hat die Macht, die große

sich alljährlich so zusammenfindet,

einem homogenen Teige zu

Publikum der Saison bildet.

verkneten,

der

rasch

nun daS

In Rom packt Jeden daS Leben von einer

andern Seite, Jeden aber so, daß eS ihn im Innersten aufrührt.

Preussische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hest r

13

Dep

Eine sieht die Spuren der Männer von denen Livius und Tacitus schrie­ ben, der Andere die Wege die die Märtyrer und Kirchenväter wandelten, der Dritte die Schritte der Künstler von denen Basari berichtet, der Vierte

die verschleierte Weltregierung des Vatikans, und so weiter ins Unend­ Jeder ordnet sich irgend einem geistigen Interesse unter, Jedem

liche.

geht der Begriff der Historie i» ftische geistige Düngung.

eine

Jüngere kräftigere Naturen schlagen zu unge­

ahntem originalen Wachsthum aus,

wenigstens

auf und er erleidet

neuem Lichte

eine frische Rasendecke

ältere, selbst ganz dürre,

hervor.

Mögen

mager sein, sie wirken Grün im Ganzen betrachtet.

bringen

die Gräser noch so

Niemand aber, der, sein

Hauptinteresse liege wo eS will, nicht auf irgend einem Wege zum höchsten Respecte vor den Werken der großen bildenden Künstler in Rom gelangte.

Für ein so geartetes, sich immer aus den vornehmsten Elementen recrutirendeS Publicum zu arbeiten, ist ein Reiz wie er dem productiven

Geiste eines Künstlers sonst nirgends geboten werden kann. Critik,

sondern

auch Enthusiasmus

findet er hier.

Nicht nur

Wenn Kaiser

und

Könige für Geld und Ehre auf ein paar Jahrzehnte um sich versammeln

waS sich an Sommltäten des Geistes gerade disponibel findet und zu haben

ist, so würde dieser Gesellschaft, verglichen mit dem römischen Publicum, daS Beste fehlen: der unabhängige Character.

Der persönliche Geschmack

deS hohen Herrn wird schließlich doch den Ausschlag geben bei der Werth­ schätzung der Kunstwerke.

In Paris scheint während des ersten Kaiser­

reiches etwas von ferne mit Rom vergleichbares existirt zn haben, als die

geraubten Schätze der Welt in die dortigen Museen und Bibliotheken zu-

sammenfloffen und durch das unendliche Gewühl bedeutender Kräfte, welche Jntereffen jeder Art nach Paris führten, eine selbständige, supröme Ge­

selligkeit dort

geschaffen ward.

Indeß

dauerte daS kaum zehn Jahre,

während in Rom das freiwillige Zusammenkommen der höchsten Potenzen Jahr auf Jahr sich gleich bleibt.

In dieses römische Leben sahen wir Cornelius nicht plötzlich geschleu­ dert werde, sondern langsam hinein wachsen. Zuerst ganz außen stehend, fühlt er sich nur als ein bedrängter armer Künstler mit engem Gesichtskreise; ehrgeizig, ohne zu wiffen wie er seine

Leidenschaft Genüge schaffen könnte.

Dann aus der Dämmerung dieses Da­

seins sichl herauswindend, wächst ihm als dem Führer seiner Partei immer größeres Ansehen zu.

Endlich, als ebenbürtig von den Ersten anerkannt^

darf er die höchsten Ansprüche erheben und sieht sie befriedigt.

Die Bil­

dung der verschiedenen Jahrhunderte dringt in großen Massen auf ihn zn, er überwältigt sie und macht sie sich zu eigen.

Wie jeder selbständige

Geist, dem die Geschichte lebendig zu reden anfängt, mauert sich Cornelius

aiiS den Fragmenten aller Epochen einen immer höher steigenden eigenen

Palast zusammen,

auf dessen gothischen Unterbauten lichter und lichter

werdende, griechische Stockwerke sich übereinander thürmen.

Und durch

diesen Bau zieht die heitere römische Luft, und er, in seinen besten Jahren,

weitumherblickend, sieht wie man auS der Ferne seines Vaterlandes ihn dort aufsucht, wie immer höherer Preis auf den Gewinn seiner Thätigkeit wird.

Und dieses Rom verläßt er.

Die Hälfte des Jahres wird er von

nun an als Direktor der Akademie in Düsieldorf, die andere Hälfte als Hofmaler in München zubringen.

Düffeldorf freilich seine Vaterstadt.

Die Academie mit Cornelius an der Spitze nahm über allem sonst dort den höchsten Rang ein und eS sollte geschehen was ihm irgend recht und

wünschenSwerth wäre.

München dagegen eine Residenz zweiten Ranges,

ohne eignes geistiges Leben, künstlich nur bewegt durch die Unruhe des Kronprinzen, dann des Königs, dessen unbestimmter Ehrgeiz nach allem

griff was historisch wie Gold glänzte, und der mit ungemeinen Mitteln die Stadt zu einem Sammelplätze von Monumenten der Architektur zu machen begann, die heute, so sehr sie «nS imponiren, dennoch kaum ohne den Hinter­ gedanken betrachtet werden können, es hätten diese Schöpfungen nur bei

einer gewissen Dosis von Narrheit nebst ungeheurer Eitelkeit ihres Ur­

hebers zu Stande kommen können.

Als einer von denen, die München

in so gewaltiger Weise umgestalten sollten, ward Cornelius berufen und griff seine Arbeit in einer Stimmung an, als würden seiner Person

jetzt Aufgaben geboten wie niemals vorher einem Künstler so lange die

Welt stand.

Wir werden sehen, welch fundamentaler Irrthum Cornelius

hier verleitete, und welch' ein Ende die dortige Begeisterung genommen hat.

Cornelius war siebenunddreißig Jahre alt als er aus Rom fortging. Raphael, gerade 300 Jahre vor ihm (1483) geboren, hatte überhaupt nur

soviel Jahre vom Schicksal empfangen, innerhalb deren seine ganze ungeheure Cornelius standen noch die Umschwünge eint»

Arbeit zu Stande kam.

Menschenlebens bevor.

Heute wo dieses in all seinen Ereignissen vor uns

liegt, dürfen wir aussprechen: es wurde als er Rom jetzt verließ eine Entwicklung plötzlich in ihm unterbrochen, welche zu den höchsten Er­

wartungen berechtigte.

Es war als trage die Deutsche Luft ganz andere

Gesetze des Wachsthums

jetzt

in ihn hinein, so

daß es eines unge­

heuren Umweges erst bedurfte, ehe die innerste Natur des Mannes dieser

Uebermacht gegenüber sich erholte, um im höchsten Alter erst den 1820

abgerissenen Faden wiederanzuknüpfen. (Fotsetzung folgt.)

Berlin, Februar 1875.

Herman Grimm.

Kritische Streifzüge. IV. Wahrheit und Dichtung in neuer Ausgabe.

Wenn zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Dichter und Philosophen

in Klagen über die stumpfe Unempfindlichkeit des PublicumS wetteiferten,

so war das zum Theil die Hypochondrie eines übermäßig angeregten Ide­ alismus: heute haben ähnliche Klagen eine ungleich größere Berechtigung. Namentlich feit den letzten Jahren sind die Pflichten und Sorgen des bürgerlichen Lebens in's Unermeßliche gewachsen und haben sich auf Kreise

ausgedehnt, die früher garnicht davon berührt wurden. Das Geschäft eines Rentiers war früher eine Sinecur, heute ist es

eine Last; der Rentier hat sich täglich mühsam durch Gründer und Striker

durchzuschlagen,

und außerdem

nehmen

ihn die Interessen

lichen Wohles in Staat und Gemeinde in Anspruch.

des öffent«

Der Rentierstand

aber im besseren Sinn, das heißt der Stand derer, die Zeit- und Lebens­

kraft genug übrig haben um sich mit Behagen dem gebildeten Genuß des Schönen hinzugeben,

muß dem Publicum, welches wirkliche Wechselbezie­

hungen zu seinen Dichtern haben soll, zu Grunde liegen, nnd nur, wo solche Wechselbeziehungen statt finden, kommt die schöne Literatur zur Blüthe.

Das Publicum, welches der Dichter zu wünschen hat, an dem er sich bilden kann, und dessen Beifall ihn fördert, muß eine gewiffe Consistenz haben: eö darf nicht zerstreut, zufällig, bald hie, bald da zugreifen,

eS muß von einer festen Ueberlieferung getragen sein; eS muß wenigstens ahnen, was eS bei dem Kunstwerk zu erwarten und zu fordern hat.

Je

gebildeter seine Ansprüche sind, desto nachsichtiger wird es bei der Beur­

theilung unwesentlicher Schwächen sein, entgegentritt. Dies Publicum wird für

wo ihm echte Gestaltungskraft

die sogenannten idealen Richtungen der

Poesie immer kleiner; der Roman, namentlich wenn er die Tagesfragen

berührt, bricht sich schon eher Bahn, und ebendarum weiß der Roman-

dichter von vornherein bestimmter, worauf er sein Augenmerk zu richten hat.

Der

dramatische

Dichter

dagegen

ist

aufs Tasten

angewiesen:

wenn man eine Reihe von derartigen Versuchen durchgeht, so findet man

oft die feinsten poetischen Motive, auch Sinn fiirS Große und Characteristische, aber nicht leicht wird man sich die Frage beantworten: welches

Publicum sich der Dichter eigentlich gedacht hat?

DaS GroS der Theater­

besucher bilden keineswegs diejenigen, welche sich für geistige Dinge

teressiren:

in-

jenen wird Offenbach und Seinesgleichen weit mehr gerecht,

und für die Lectüre schreibt man doch am Ende keine Theaterstücke. ES ist ein gutes Wort, das Publicum solle seine Dichter erziehen;

auf der andern Seite bedarf das Publicum aber in noch weit höheren Grade der Erziehung.

Im vorigen Heft der „Preußischen Jahrbücher" ist von einem Andern nachgewiesen, wie wenig das frühere Erziehungsmittel, die Kritik, heute noch

fruchten will; man liest die Tagesrecensionen noch viel unaufmerksamer als

die Tagesnovesten.

Um das Publicum wirklich zu bilden, muß man an

das Vorhandene anknüpfen, und vorhanden ist glücklicherweise noch die Pietät für die frühere große Zeit unserer Literatur; diese zu pflegen, zu

erweitern und aufzullären, ist das dringendste Geschäft derer, die nicht den

Beruf haben, selbst einzugreifen. Sehr günstig

ist für diese. Aufgabe die Erleichterung, mit welcher

seit einigen Jahren der Besitz unserer classischen Schriftsteller dem Publi­

cum zugänAlich gemacht

wird;

Ausgaben der Werke Goethe'S.

ich meine vor allen Dingen

die neuen

Auf eine derselben habe ich vor Jahren

aufmerksam gemacht, ich kehre heute, wo sie ein ganz verändertes Ansehen gewonnen hat, noch einmal zu ihr zurück.

Ein Vergleich mit andern Aus­

gaben ist nicht beabsichtigt, mir fehlt dazu daS Material. Ich meine die von dem Buchhändler Hempel in Berlin veranstaltete

Ausgabe.

In den ersten Bänden

hatte sie ausschließlich zweierlei zum

Zweck, Vollständigkeit und Correctheit: in beiden Beziehungen hat sie nach dem

einstimmigen Urtheil aller Kenner Außerordentliches geleistet,

und

wenn viele Freunde des Dichters durch das lange Druckfehlerverzeichniß

aus den ftüheren Ausgaben gestört werden, so ist doch nicht abzusehn, wie der Nachweis der absoluten Gewissenhaftigkeit in den Correcturen anders hätte geführt werden sollen.

In einem Theil der späteren Bände nun ist

eine neue Redaction

eingetreten, die neben jenen Zwecken noch einen dritten verfolgt, einen fort­

laufenden Commentar.

Bei vielen Werken des Dichters, deren Beziehungen

zum Theil schon verdunkelt sind, ist dieser durchaus nothwendig; bei andern,

die sehr verständlich auSsehn, dennoch wünschenSwerth, weil oft grade das

Kritische Streifzüge.

198

Feinste erst durch Combination entdeckt wird.

Wir haben allen Grund,

und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wird sich dieser Grund vermehren, Goethe

in dieser Beziehung so zu behandeln wie die Italiener ihren Dante. Zur Uebernahme solcher Aufgabe ist nur derjenige geeignet, für den das Studium Goethe'S ein Lebenswerk war, und der in der ungeheuren

Breite des geistigen Raums, den Goethes Dichten und Denken umfaßt, we­

nigstens einigermaßen gleichmäßig zu Hause ist. Herausgeber der

Hempel'schen

Sammlung,

Ein solcher ist der neue

Geheimerath

von Loeper.

Seine tiefe Pietät für den Dichter hat ihn schon in der frühesten Jugend

veranlaßt, für ihn zu sammeln, und in einer sehr auSgebreiteten Lectüre

aller möglichen Fächer auf alles zu merken, was in irgend einer Beziehung zu Goethe stehen könnte.

Ich bin keineswegs mit allem einverstanden,

waS er giebt, und behalte mir vor, meine Bedenken bei einer andern Ge­ legenheit vorzutragen: da es aber sehr schwer, fast unmöglich ist, Verdienste,

die hauptsächlich im einsichtsvollen Sammeln und immer neuen Durchdenken des Stoffs bestehn, zu machen,

durch eine kurze Anzeige dem Nichtkundigen deutlich

so fordere ich wenigstens den Kenner auf, diejenigen Stücke,

die mir besonders meisterhaft ausgeführt scheinen, darauf hin anzusehn. ES sind in erster Linie die „Sprüche in Prosa", wo durch seltene Belesen­ heit und einen sicher treffenden Jnstinct die Parallelstellen gefunden sind; sodann der „West-Oestliche Divan"; wie sehr möchte man wünschen, daß

in derselben Art die sämmtlichen Gedichte Goethe'S behandelt wären!

ES

ist durchaus nicht bloß historische Neugier, wenn man zu missen wünscht, wann oder bei welcher Deranlaffung dies oder jenes Gedicht entstanden

ist, welches Vorbild vorgeschwebt hat: erst auf solche gründlich und ge­

wissenhaft durchgeführte Vorarbeiten muß daS größere Unternehmen sich stützen,

die Entwicklung deS Goetheschen Stil'S zu

hängt dann

construiren.

Davon

auch vieles andere ab: wo uns äußere Anhaltspunkte fehlen,

wird durch den Stil mit annähernder Sicherheit die Zeit des Entstehens festgestellt werden können.

Um hier vorzugreifen: im zweiten Theil des

Faust, besten Commentar übrigens viel höchst Ausgezeichnetes enthält, würde Herr von Loeper in manchen Punkten zu andern Schlüffen gekommen sein,

wenn er die Entwicklung des Stil'S aufmerksamer geprüft hätte. Ich hoffe nun, daß der Commentar zu „Wahrheit und Dichtung", von dem soeben die beiden ersten Bände erschienen find, sich würdig dem

Commentar zu den Sprüchen und zum Divan anschließen wird.

Die Ein­

leitung fehlt noch; die Anmerkungen geben ziemlich über alle Fragen Aus­

kunft,

die

dem Leser in

erster Jugend aufstoßen.

den Erinnerungen

aus Götheö Kindheit

und

Herr von Loeper hat hierin zwar sehr tüchtige

Vorarbeiter gehabt, er hat sie aber nicht blos mit Umsicht benutzt, sondern

sehr Vieles Neue und Eigene hinzugefügt.

Auszusetzen wüßte ich wenig

oder nichts, ich will versuchen, meinen Dank für die mannigfaltige Belehrung indirect dadurch

abzutragen, daß ich ihm Gelegenheit gebe, das Nach­

folgende zum Behuf seiner Einleitung einer näheren Prüfung zu unter­

ziehen. — Nicht der kleinste Gewinn dieser neuen Ausgaben liegt nämlich darin,

daß sie den Leser, der sonst gern in

den bekannten Schriften nur her­

umnascht, veranlassen, die einzelnen Werke wieder einmal ganz durchzu­

nehmen.

So oft man auch „Wahrheit und Dichtung" durchgelesen hat, etritt einem immer wieder mit neuer wunderbarer Kraft entgegen. vollendet schön

ist

eö in

seiner künstlerischen

Compositiov!

Wie

die Nove-

letten von Margarethe, Lucinde, Friederike, Lotte und Lili, wie vortheichast stechen sie durch Farbe und Sttmmung gegen die eigentlichen Noveletten ab, die Goethe später und gleichzeitig geschrieben hat! wie weit bleiben die

Hersilien, Hilarim u. s. w. dagegen zurück! die leicht hingeworfenen Cha-

racter-Köpfe aus der Leipziger und Frankfurter Zeit, wie spricht das alles ! Wie schön greift die eine Geschichte in die andere ein! Viel wichtiger aber ist die andere Seite des Buchs: es ist für die

Zeit von 1768 — 75 die beste Literaturgeschichte,

die wir haben und je

haben werden; sie bedarf nur noch eines Commentar'S.

Wer in der Welt

wäre auch im Stande gewesen, eine solche zu schreiben, als der Mann, der recipirend allurch den Mangel an Einfachheit gestört, aber man kann eS als Erklärung einer sonst unbegreiflichen Erscheinung nehmen. Ebenso

ist eS viel leichter, die Scene zwischen Iulia und der Amme (Romeo und

Iulia, Akt III. Scene II.) zu verdammen, als zu sage«, wie sie zu ver­ meiden gewesen wäre.

Die tragischen Motive häufen sich hier so, daß

wenn sie ihren vollen, klaren, einfachen Ausdruck gefunden hätten, sie den

ganzen Schluß der Tragödie lahm gelegt haben würden; und doch mußte man aus handgreiflichen Gründen die Zuschauer wieder daran erinnern.

Bei diesen Schwierigkeiten half sich Shakespeare dann mit einer künst­ lichen Diction, die — das müssen wir immer bedenken — seinen Zeit­ genossen viel weniger unnatürlich schien, als unS. Doch bleibt die Scene immer ein großer Fehler in seinen Werken. In Hamlet dagegen sind die

Wortspiele dem Charakter des Polonius und dem Geiste deS ganzen Stücks

so gut angepaßt, daß sie eher eine Schönheit als ein Fehler sind. Wenden wir uns nun wieder zu den Sonnetten, die weitaus die schönsten von Shakespeare'- nichtdramatischen Gedichten sind, mit Ausnahme

vielleicht der herrlichen Lieder, die in seinen Stücken verstreut find, so tritt

uns in ihnen derselbe Reichthum der Phantasie, dieselbe Leichtigkeit des

Ausdrucks, die auch „Lukrezia" charakterisiren, entgegen, und hier wie dort wird unser Geschmack manchmal durch eine für uns übertriebene Redeweise und Sentimentalität beleidigt.

Aber hier hat die Schönheit ihren Platz

gefunden, und die Fehler sind mehr als halb entschuldigt durch die Form, die sich der Dichter gewählt hat.

Es kann nicht unsere Absicht sein, auf

eine der verwickelten und schwierigen Fragen, die diese Sonnette schon

veranlaßt haben, einzugehen, oder bei einem der biographischen Romane

zu verweilen, zu denen sie Anlaß geboten haben.

Jeder Kritiker aber,

der diesen dornigen Gegenstand berührt, wird gut thun, daran zu denken,

daß man sie nur verstehen kann, wenn man sie in Zusammenhang mit ähnlichen gleichzeitigen Gedichten bringt.

Vieles, was dem modernen Leser

an ihnen auf's höchste auffällt, ist durchaus nicht individuell; wir können

Shakespeare darauf hin kein träumerisches, empfindsames Temperament

zuschreiben, wie Tasso in Goethe'S großer Tragödie, wenn wir nicht das­ selbe von Earl von Surrey, Sir Philipp Sydney und überhaupt jedem

Sonnettendichter von irgend welchem Talent, der in England vor Elisa­

beths Tode schrieb, behaupten wollen.

Wollte man diese Gedichte als

Shakespeare'- poetische Selbstbiographie betrachten, so häufen sich die Schwierigkeiten ihrer Erklärung dermaßen, daß es hoffnungslos scheint,

sie zu lösen, ehe man nicht von andern Seiten über des Dichters Leben und Charakter mehr Aufklärung erhält, als wohl jemals an'S Licht kom­

men durfte.

Doch ist das auch kein großes Unglück für uns.

Ein echtes

Gedicht braucht keine Erklärung, ebenso wenig kann die genaue Kennt­ niß von Zeit und Umständen, unter denen es entstanden ist, seinen Werth

vermindern oder erhöhen.

Oder gewinnt Byron'S „Traum" dadurch eine

neue poetische Bedeutung für unS, daß wir erfahren,

wie er durch

Thatsachen aus des Dichters eignem Leben veranlaßt wurde, oder verliert er auch nur einen Zug seiner hohen Schönheit, weil wir überzeugt sind,

daß er kein glücklicher Mensch geworden wäre, wenn Mary Chaworth

seine Knabenliebe getheilt hätte?

Der, der seine innersten Gedanken und

Gefühle in die allgemeine Sprache übersetzen kann, die Alle verstehen, ist

ein Dichter, aber zu was eine Rückübersetzung dienen soll, ist schwer be­ greiflich.

Wahrhaftig, die Neugierde, auö der solche Fragen entstehen, ist

nicht viel bester, als der Wunsch zu wissen, was der Nachbar zu Mittag ißt, oder warum er sich mit seiner Frau zankt, — Fragen, die auch ein

gewisses psychologisches Interesse habe».

Aus dem Obigen ergiebt sich wohl, daß Shakespeare in seiner nicht-

dramatischen Poesie wenig Anderes bezweckte, als was schon mit mehr

oder weniger Erfolg von worden war.

seinen Vorgängern

und Zeitgenoffen versucht

Er erkannte die Autorität ihrer Vorbilder an,

und ihm

scheint, wie den übrigen, Reichthum der Phantasie und eine gewisse An­

muth in Gefühl nnd Ausdruck der Endzweck aller lyrischen und erzählen­ den Poesie gewesen zu sein.

Hier und da findet sich wohl eine Zeile,

auch ein ganzer Vers, von unvergleichlicher Wärme und Schönheit, aber

wir können doch nicht unbedingt zugeben, daß seine Lukrezia bedeutender ist, als das Marlowe'sche Gedicht „Hero und Leander", oder seine Son-

nette im Ganzen schöner als die von Spenser. Das giebt uns jedoch kein Recht, zu glauben, daß er sich immer mit

diesen „engen Banden" begnügt hätte, wenn ihn die Umstände nicht ge­ sein Hauptangenmerk auf das Drama zu richten.

nöthigt hätten,

Eben

weil er auf der Bühne einen so vollen Ausdruck der einen Seite seines Genius fand, mag er in seinen Gedichten der andern so ungezügelt ihren Lauf gelassen haben.

In TituS AndronicuS haben wir eine Tragödie, schlimmsten von Marlowe'S Vorgängern erinnert.

die nnS an die

Hier folgt Gräuel auf

Gräuel, so dicht, daß für ästhetische Eindrücke gar kein Platz mehr bleibt.

Die furchtbarsten Schandthaten werden fast wie etwas ganz Natürliches behandelt.

Eine gewisse instinktive Geschicklichkeit kann man in der Art

wie einige derselben auf der Bühne dargestellt werden, entdecken, aber im

ganzen Stücke ist keine Stelle, kaum eine Zeile, die man wirklich poetisch

nennen

könnte.

Und der Dichter bleibt bei diesen Entsetzlichkeiten so

ruhig, er wird selbst nie warm dabei, grade als ob ihn sein schauerlicher

Traum keinen Augenblick erschreckt hätte. Autors sein,

Kann das ein Werk desselben

dessen Gedichte man tadelte, weil in ihnen Gedanken und

Ausdruck von allzu mädchenhafter Zartheit und Feinheit wären? Trotzdem wurde „TituS AndronicuS" populär, er wird von Shakes­ peares Zeitgenossen rühmend der Bühne lange Zeit.

erwähnt, und behauptete feinen Platz auf

Und das ist kein Wunder.

Die nicht eben wähle­

rische Menge, die sich alle Abende zu den BolkStheatern drängte, suchte da

Unterhaltung, Erregung, machte sich aber wenig aus der ihr fast unbe­ kannten Kunst.

Wie alle Menschen konnten sie sich am Schönen freuen,

wenn eS in ihren geistigen Bereich gebracht war, aber so wenig wie ein Publikum heutzutage, verlangten sie eS als Hauptelement und Endzweck

jedes Drama'S.

Sie sahen Makbeth, fühlten auch wohl undeutlich die po­

etische Größe deS Stücks, wußten aber keinen großen Unterschied zwischen

diesem Gefühl und dem, daS ihnen eine Reihe Schreckensthaten auf der Bühne erregt hätte.

Vor allem verlangten sie nicht, daß die ihnen vor­

geführten Charaktere und Ereignisse besonders sorgfältig motivirt waren,

sie nahmen sie für wahr,

und darum für wahrscheinlich hin.

DaS ist

einer der charakteristischen Züge, der die Volksbühne gegenüber der Litera­

Der Balladendichter sucht sich ein

tur höherer Bildung kennzeichnet.

merkwürdiges Ereigniß aus, manchmal sogar eine ganze Menge, die er

dann mit großer Genauigkeit schildert; häufig läßt er sich auf Details ein,

manchmal verleiht er auch ihrer tragischen oder heroischen Bedeutung den

vollsten Ausdruck.

Weiter geht er aber nicht.

Er will keine innere Noth­

wendigkeit, keinen organischen Zusammenhang bei seinem Gegenstände be­ noch weniger sucht er sie mit den gewöhnlichen Erfahrungen

weisen,

seiner Hörer zu vergleichen, das thut er nur nebenbei, gewissermaßen zu­

fällig.

Ihm genügt die einfache Thatsache, wie seinem Publikum auch.

Man muß bedenken, daß der Eindruck des Unwahrscheinlichen, den TituS AndronicuS auf jeden Leser macht, verschwand, sobald man das Stück in Fleisch und Blut kleidete, und den Sinnen sichtbar und fühlbar

darstellte.

Freilich wäre das wohl kein Vorzug in den Augen des gebil­

deten Lesers,

im Gegentheil, es würde seinen Abscheu erhöhen, aber der

Ungebildete scheint eine gewisse Freude zu empfinden bei dem kalten Schau­

der und dem nervösen Zucken das der Anblick einer gewiffen Art von

Grausamkeit und Schmerz erregt.

Während wir vom tragischen Dichter

fast als Hauptsache verlangen, daß er die Furcht und das Mitleiden, da« das Schicksal seines Helden einflößt, von dieser fast körperlichen Empfin­ dung trenne, Weinen Jene kaum den Unterschied zwischen beiden zu fühlen.

So ergiebt sich, daß, was unsern Widerwillen in TituS AndronicuS errttzt, denen für die es geschrieben war, wohl schwerlich auffiel, daß fer­

ner, was unS zu fehlen scheint von ihnen nicht vermißt ward, während

das Stück übrigen« vollkommen den Anforderungen entsprach, die sie an jede dramatische Vorstellung zu machen gewohnt waren.

Es enthielt Leben,

Bewegung, ungewöhnliche Ereignisse und schreckliche Situationen.

ES war

sogar weniger Erzählung und mehr Handlung darin, alS in den allermei­ sten gleichzeitigen Stücken.

Kein dramatischer Kritiker wird läugnen, daß

daS ein Vorzug ist, wennschon er sagen wird, er sei hier übertrieben und falsch angewandt, mache daher keinen ästhetischen Eindruck, weßhalb man

TituS kein Kunstwerk, und folglich genau genommen auch keine Tragödie

nennen könne.

DaS ist alles wahr, nichtsdestoweniger war es seiner Zeit

ein gnteS Zugstück, ebenso wie es tausend andre mit ähnlichen Fehlern in unsern Tagen sind, die auch mit Erfolg aufgeführt werden. großen Drama stehn zwei Elemente nebeneinander.

In jedem

DaS eine macht eS

zum Gedicht, zum Kunstwerke, das andre zur Darstellung auf der Bühne geeignet.

In den größten dramatischen Werken, die die Welt kennt, in

dm Tragödien des Sophokles, den Lustspielen des AristophaneS und dm Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft».

21

reiferen Werken von Shakespeare- Genin- erscheinen diese beiden Elemente so

nah

Wort.

mit einander verbunden, wie Geist und Körper, Gedanke und In andern Dramen die jenen an poetischem Werth vielleicht gleich­

stehn, überwiegt die poetische Richtung, das Wort versagt dem Gedanken,

das Organ gehorcht nicht mehr vollkommen dem Willen.

Zu dieser Klasse

gehören jene großen dramatischen Gedichte, gegen deren Einfluß die Kri­

tiker von jeher vergebens protestirt haben, weil ihre innere Wahrheit und Schönheit das

„große Herz der Menschheit" gerührt haben.

Unterneh­

mende Direktoren bringen sie zwar immer wieder auf die Bühne,

aber

nur mit jenem getheilten Erfolg, der fast einem Fiasko gleich kommt, weil ihnen der dramatische Takt fehlt.

Dann wieder giebt eö Stücke, bei denen eö vor Allem auf Bühnen­ wirkung abgesehen ist, die eine kleine Weile lustig auf .den Brettern leben und dann sterben und vergessen werden, weil sie eben von Anfang an

seelenlos und leer waren; arme, leblose Dinger, die nur vom unstäten Winde der Bolksgunst und öffentlichen Meinung gehoben und bewegt wur­

den.

TituS AndronicuS ist nun zwar durchaus kein günstiges Beispiel

für diese letzte Classe. Jedoch beweist die Thatsache, daß eS mit warmem Beifall ausgenommen wurde, und sich eine gute Zeit auf der Bühne be­

hauptete, daß eS manche dieser letzterwähnten Tugenden besaß, da niemand

seinen Erfolg von seiner poetischen Bortrefflichkeit herleiten kann.

Wenn

man das bedenkt, so wird eS weniger schwierig zu begreifen, wie Shake­

speare jemals solch ein Stück schreiben konnte.

Seine eigne Phantasie

blickte ohne Freude auf die Gräuel, die er schilderte.

In diesem Werke,

wie in all seiner nichtdramatischen Poesie folgte er dem Vorbildern, die

seine Zeitgenossen anerkannten, und die Thatsache, daß das Stück eben

von den Fehlern frei ist, zu denen sein Genie sonst am meisten neigte, rechtfertigt den Glauben, daß er, als er es schrieb, das BolkSdrama für nichts besseres, als ein Mittel, sich fein Brod zu verdienen, ansah. Wir haben so lange bei Shakespeare'S Gedichten und seinem wenigst werthvollen Drama verweilt, weil ihre Fehler gerade zur Erklärung zweier

Seiten seines inneren Wesens dienen, wie sie zugleich die beiden Rich­ tungen charakterisiren, die der poetische Geschmack England'- im Anfang seiner literarischen Laufbahn hauptsächlich einschlug.

Wir können hier nicht

Schritt vor Schritt den Anstrengungen nachforschen, die er machte, um die Anmuth, Zartheit, Schönheit und Musik der höfischen Poesie seiner Zeit mit der wilden Leidenschaft, dem schroffen aber gesunden Humor der Volks­ bühne, die Ueberfeinerung der Hochgebildeten mit der rauhen Kraft und

Wahrheit derer, die nur von der Natur gelernt hatten, zu vereinen. Auch kann man das nicht einmal mit annähernder kritischer Treue, ehe nicht

die Reihenfolge, in der er seine Stücke schrieb, endgültig festgesteüt ist. Auch dann wird eS noch eine wichtige und schwierige Frage bleiben, in wiefern sie

ihre ursprüngliche Form bewahrt haben, und waS der Meister selber an ihnen veränderte, als er sie in einer späteren Periode wieder umarbeitete. Daß dies aber, bewußt oder unbewußt, Shakespeare'- Lebensaufgabe war, beweist der ganze Charakter seiner Stücke, wenn man sie mit den Werken

seiner Borgänger oder früherer Zeitgenossen vergleicht.

Das größte poe­

tische Genie konnte dabei den Dichter nicht vor Fehlern bewahren, daher seine übergroße Vorliebe für zarte Bildersprache und die übrigen Verzie­ rungen, die da- Entzücken der Sonnet-Dichter seiner Zeit waren — daher auch ein gelegentlicher Sprung in Barbarisches, wie im Lear.

Die nachfolgenden Betrachtungen mögen zur näheren Erklärung des

Gesagten dienen.

Die Vielseitigkeit und Geschmeidigkeit von Shakespeare'S

GeniuS ist so groß, daß, wenn uns nur zwei seiner Stücke, etwa König Lear und „Was ihr wollt" erhalten geblieben wären, kein Kritiker nach dem

innern Wesen beider behaupten würde, daß sie vom selben Dichter ge­

schrieben wären.

Nur, weil wir noch die Werke besitzen, die zwischen

diesen beiden Extremen liegen, ist eS uns möglich zu glauben, daß sie aus

demselben Geiste entsprungen sind.

Doch ward der Grundstein zu diesen

beiden Stücken in England lange vor ShakeSpeare'S Zeit gelegt. hatten gearbeitet und er baute darauf weiter.

Andre

ES ist unnöthig zu betonen,

daß das in nichts die Größe feines Thun- herabsetzt.

Witz und Wissen,

tiefer Einblick toi bedeutet nicht:

an Zahl, sondern: geringer an Macht.

gering

Wird jener Rath nicht befolgt,

gelingt eS der Masse, die Herrschaft unmittelbar an sich zu reißen, dann bricht die verkehrte Welt herein, Staat und Gesellschaft lösen sich auf und eS beginnt das Regiment des Knüttels, darin Griechenlands tausendjährige

Gesittung unterging.

Ich wiederhole diese Worte, weil Sie auch an ihnen

zu mäkeln haben und unter Berufung auf Aristoteles, Dropsen, Oncken nyd andere mir nicht ganz unbekannte Schriftsteller mich belehren, der

attische Demos sei besser gewesen als sein Ruf.

Sie konnten Sich dies«

Mühe sparen, wenn Sie Sich ruhig gefragt hätten: an welche Epoche bet

griechischen Geschichte ich denn bei meinen Worten gedacht habe?

Natürlich

nicht an die Tage deS Kleon^ sondern an eine Zeit, die Aristoteles nicht mehr erlebt hat, an die Zeit der römischen Eroberung.

wirklich

Damals ging

die hellenische Gesittung in frecher Pöbelherrschaft unter.

In

Boeotien gab IdaS souveräne Volk Keinem ein Amt, wenn er sich nicht im voraus verpfliichtete jeden klagenden Gläubiger abzuweisen, und der ge-

sittnungStüchtize Socialist pflegte sein Vermögen seiner Zechbrüderschaft zu vermachen; iw Sparta plünderte Nabis mit einer verworfenen Rotte die Besitzenden aus — eine naturivüchsige Socialpolitik, deren Leistungen Sie doch gewiß nicht als „durch und durch kathederfocialistifche Maßregeln"

preisen werden — und das Erste was der römische Sieger that um die

letzten Trümmer der alten Bildung aus dieser gräßlichen Verwüstung zu reiten, war die Verkündigung von neuen Stadtverfassungen, welche das

Regiment wieder in die Hände der Besitzenden legten.

Ich halte für die Pflicht jedes Lehrers der StaatSwiffenschaften, statt in vieldeutigen Worten , über die tragische Schuld der Gesellschaft und die enterbten Klassen zn reden, vielmehr zunächst mit unbarmherziger Sicher­ heit die nothwendige Gliederung der Gesellschaft darzustellen.

Populär

sind solche Lehren freilich nicht, sie verletzen den unbestimmten GleichheitS-

drang der Gegenwart.

Ich mache seit vielen Jahren, so oft ich über Po­

litik lese, regelmäßig die Erfahrung, daß die Zuhörer bei den Elementen

der Wissenschaft sich befremdet fühlen; der ungeschulte Verstand erschrickt,

wenn man ihm zeigt, daß der Staat Macht ist, daß ein Staat ohne Frei­

heit immerhin ein klägliches Dasein fristen kann, während ein Staat ohne Gehorsam unfehlbar untergeht «. s. w.

Seichte Schönredner klagen dann

wohl, das heiße den Idealismus der Jugend zerstören.

Aber der gesimde

Sinn der Jugend erkennt rasch, daß eine klare Vorstellung von dem Wesen

politischer und socialer Freiheit sich erst bilden läßt, wenn man begriffen hat, was den Staat und die Gesellschaft trägt und zusammenhält.

Der

sicherste Weg um schließlich an der Menschheit zu verzweifeln ist — sie zu

überschätzen.

Hören Sie Jemand versichern, eS gebe kein Völkerrecht, die

rohe Gewalt allein gebiete in der Staatengesellschaft, so verlassen Sie Sich

darauf: der Mann ist ein enttäuschter Schwärmer, er hat früher vom ewigen Frieden geträumt.

Ebenso kann man nur dann an die Wirklich­

keit des socialen Fortschritts glauben, wenn man sich erfüllt hat mit dem Gefühle neidloser Resignation, das für den socialen Frieden ebenso wichtig ist wie die gesetzliche Gesinnung für den politischen.

Der Arme soll eS

wisien, die Klage: warum bin ich nicht reich? ist um kein Haarbreit ver­

nünftiger als die Klage: warum bin ich nicht deutscher Kronprinz?

Er

soll wissen: die Weltgeschichte beginnt nicht mit Dir, sondern Du trittst

durch die Geburt ein in eine durch die Arbeit vieler Geschlechter geschaffene

Rechtsordnung; Du hast die Stelle, welche Dir diese Ordnung anweist, ohne Murren einzunehmen; bleibst Du träge, so wirst Du nie hinaus­ kommen über das Maß der Bildung und des Wohlstandes, das Dir Ge­

burt und Erziehung ohne Dein Verdienst schenkten, oder vielleicht noch tiefer sinken; spannst Du alle Deine Kräfte an, so darfst Du hoffen höher zu steigen.

So erweckt die unwillkommene Erkenntniß der nothwendigen Klassen­ ordnung in jedem starken Menschen da» Pflichtgefühl, den Thatendrang, da» frohe Bewußtsein der persönlichen Kraft, und in diesem Bewußtsein wurzelt

alle politische Freiheit.

Ich schreibe nicht, wie Sie freundlich vorauSsetzen,

jedem Menschen dasselbe Gewissen zu; sondern ich weiß, daß jeder Mensch ein

Gewissen hat, und ich halte für sündlich, die» Gewissen einzuschläfern durch unklare Theorien, die den Halbgebildeten verleiten, die Verantwortung für

sein eigne» Thun der Gesellschaft aufzubürden. — Don diesen natürlichen Grundlagen der Gesellschaft soll, so scheint mir, jede sociale Theorie auSgehen und sodann zeigen, daß die Menschheit, wie sie im Stande ist ab­

solute wissenschaftliche Wahrheiten zu entdecken, auch absolute sittliche Ideen

zu verwirklichen vermag und für einzelne sociale Institutionen im Verlauf der Geschichte eine Form findet, welche einmal gefunden unabänderlich bleibt

und nur mit der menschlichen Gesittung selbst verschwinden kann: — so vor Allem die Monogamie, ein überzeugende» Beispiel, da» Sie Sich wohl

gehütet haben zn bestreiten. —

Erst von diesem festen Boden ans läßt sich eine klare Ansicht gewinnen

von dem möglichen Fortschritt des socialen Lebens.

Da tritt mir leider das

ärgste und unbegreiflichste Ihrer Mißverständnisse entgegen, und wenn ich

nicht so ganz sicher wüßte,

daß Sie stets in gutem Glauben sprechen,

so könnte ich hier in der That versucht sein, ein beabsichtigtes Mißver­

stehen anzunehmen. nur

Sie schieben mir die Behauptung unter, daß immer

dieselbe Minderheit sich der

könne.

höchsten

Güter der Cultur

erfreuen

Meine wirkliche Meinung aber — und ich glaube sie sehr deutlich

ausgesprochen zu haben — geht dahin, freien Volke nicht dieselbe bleiben soll.

daß diese Minderheit in einem

Ich sehe den größten Gewinn der

gereiften Volkswirthschaft in dem ungehemmten Auf- und Absteigen der

socialen Kräfte und ich denke ebendeßhalb weit höher als Sie von dem bleibenden Verdienst der Schule Adam Smith'S, weil sie wirksamer als irgend eine andere volkSwirthsHaftliche Theorie diesen allerwichtigstm Fort­

schritt der Gesellschaft gefördert hat. Die allmähliche Milderung der Klassengegensätze erfolgt, im Großen gesehen, auf zweifachem Wege.

Der Wohlstand der niedere» Klaffm steigt

nach und nach, mit ihm ihre Bildung und ihr Ansehen in der Gesellschaft;

die Menschenwürde wird verstanden, auf die unfreie Arbeit folgt die freie; Staat und Gesellschaft sorgen durch Gesetz und Sitte für die Gesundheit,

die Erziehung, da- Behagen der kleinen Leute; und während im Alterthum

nur. der Nicht-Arbeiter ein freier Mann war, zwingt die reifere Entwickelung der Volkswirthschaft allmählich Jeden zum Arbeiten, also daß heutzutage nur

noch die Sophistik erbitterter Parteien, nicht «her das ruhige Urtheil der

Wisienschaft einen schroffen Gegensatz von Arbeitern und Nicht-Arbeitern

zu entdecken vermag, und damit gelangt die Ehre der Arbeit zur allge­

meinen Anerkennung.

Jedoch diese unmittelbare Erhebung der

niederen

Klaffen, so unerläßlich und segensreich sie ist, bleibt nothwendig innerhalb

enger Grenzen.

Kein Gesetz und keine Wohlthätigkeit kann eS dahin brin­

gen, daß die gemeine Handarbeit ebenso reich belohnt wird wie das geistige

Schaffen; ja eine solche Ausgleichung der Ahne, wie sie von manchem wohlmeinenden Nationalökonomen, unter Anderen von Thünen, verlangt

wird, wäre ein Rückfall in die Barbarei.

Die große Ueberlegenheit der

englischen VolkSwirthschast gegenüber der unseren zeigt sich auch darin,

daß dort die geistige Arbeit richtiger geschätzt, weit höher gelohnt wird al­

bet «nS.

Mag die Ehre der Arbeit noch so allgemein anerkannt werden,

der Unternehmer und der Gelehrte stehen doch höher in der Achtung der Menschen al.S der Handarbeiter, weil sie mehr für die Gesellschaft leisten.

Mag der Staat die niederen Klassen noch so reichlich auSstatten mit po­ litischen Rechten, eS bleibt doch dabei, daß sie nicht selbst regieren können.

Das Wahlrecht kann man ihnen geben, die Wählbarkeit erhalten sie ithatsächlich nur in seltenen Ausnahmefällen; «nd daran ist nichts zu beklmgen,

denn daS Parlament soll nicht die Klasseninteressen als solche vertneten,

sondern die durch die Gemeinschaft der Pflichterfüllung verbundenen Selbstverwaltungskörper, welche alle Klassen umschließen.

Mag die Gesellsichaft

noch so menschenfreundlich für die Wohlfahrt der unteren Klaffen winken,

der Handarbeiter wohnt doch besten Falls im bescheidenen Häuschen,

der

Dmch diese Hebung der niederen Schichten der

Grundherr im Schlosse.

Gesellschaft erreicht man also niemals das Ziel der Ausgleichung der Be­ gierden, die nach Aristoteles schönem Worte wichtiger ist als die AuSAlei-

chung des Besitzes. Ungleich sicherer ist der andere Weg, der zur Milderung der Klasisen­

gegensätze führt: die Beseitigung der Schranken, welche den in Armuth

Geborenen hindern emporzusteigen in den Kreis der Besitzenden und Ge­

bildeten.

Nach dieser Richtung können' Staat und Gesellschaft nie genug

thun, wenn sie den unendlichen Werth deS Talents zu würdigen ver­ stehen; hier eröffnet sich ihrer Thätigkeit ein großes, fast unabfehba-reö Bleibt

Feld.

es

unmöglich,

die

große Mehrzahl der Menschen

an

allen Genüssen der Cultur theilnehmen zu lassen, so muß doch jede rüstige Kraft hoffen können hinauszutreten auS den Reihen dieser Mehrheit. Der

Staat soll nicht bloS die Arbeitskraft entfesseln und dem Armen daö Recht geben, auS seiner Klasse sich zu erheben; er soll auch durch gute BollkS-

schulen und durch einen leicht zugänglichen höheren Unterricht dafür sor­

gen, daß das echte Talent dies Recht wirklich gebrauchen könne.

Nur so

kommt beständig frisches Blut in die höheren Klassen, nur so kann jene

Ausgleichung der Begierden annähernd erreicht werden.

Wir sind wohl

Beide darüber einverstanden, daß der Staat daS Eine thun und das An­

dere nicht lassen soll, und der Moderne Staat erkennt wirklich diese zwei­ fache Aufgabe; zwei kurze Jahrzehnte haben uns die Aufhebung der un­

freien Arbeit in Rußland und Amerika, die deutsche Gewerbefreiheit und die englischen Fabrikgesetze gebracht.

Nur bleibt zwischen unS der Unter­

schied, daß Sie von der unmittelbaren Hebung der niederen Klassen daS Größte erwarten, ich von dem ungehemmten Auf- und Niedersteigen zwischen

den Schichten der Gesellschaft.

Der freie Wettbewerb Aller um die Güter

der Gesittung, deren volles Maaß immer nur von einer Minderheit er­ reicht werden kann — das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe.

-

Sie sind mit diesem Gleichheitsbegriffe sehr unzufrieden und vermissen ein beherrschendes Princip darin; Sie fragen, warum ich nicht lieber den

großen Satz herangezogen habe: „kein Mensch darf blos als Mittel benutzt

werden" — und beweisen dadurch auf- Neue, wie wenig Sie fähig sind, die Begriffe fest und sicher auseinander zu halten.

Sie schreiben diesen Satz

Schleiermacher zu; er stammt aber bekanntlich aus Kants „Grundlegung zü einer Metaphysik der Sitten" und ist von da in die politische Literatur hin­

über gekommen. Ich habe in einer früheren Schrift (in dem Aufsatze über

die Freiheit) diesen Ausspruch als das fruchtbarste Ergebniß der metaphysischen

Freiheitökämpfe des achtzehnten Jahrhunderts bezeichnet und ihn dort an

den Platz gestellt, welcher ihm in dem Systeme der Staatswissenschast ge­ bührt, in die Lehre von der Freiheit. ein Postulat der Freiheit.

Offenbar enthalten die Worte Kant'»

AuS dem Grundsätze: „der Mensch darf im

Menschen niemals blos ein Mittel sehen" ergiebt sich, sobald man ihn auf den Staat anwendet, der Schluß, den ich in jenem Auffatze gezogen habe:

die Wirksamkeit der Regierung ist vernünstig, wenn sie die Selbstthätigkeit der Bürger hervorruft, fördert, läutert; unvernünftig, wenn sie diese Selbstthätigkeit unterdrückt.

Hingegen die Frage: inwiefern sind die thatsächlich

ungleichen Menschen dennoch von dem gesitteten Staate als Gleiche zu be­ handeln? — diese zwischen uns Beiden streitige Frage der Gleichheit wird

von dem Kantischen Satze gar nicht berührt oder doch nur negativ beant­ wortet.

Ich versuchte eine positive Antwort und fand: die Menschen sind

gleich insofern sie Alle gleichen Anspruch haben auf die höchsten und allge­

meinen Güter, welche den Menschen zum Menschen machen; nur wo diese

allgemeinen Güter Allen zustehen ist freier Wettbewerb vorhanden. DarauS

folgt: die gleiche Rechtsfähigkeit, die gleiche Befugniß frei zu denken und zu glauben, das gleiche Recht Aller auf freie Benutzung ihrer persönlichen

Gaben;

ferner, damit dies Recht nicht zum leeren Scheine werde, der

gleiche Anspruch Aller auf das nach dem Stande der Gesittung unentbehr­

liche Maß der Bildung; endlich das gleiche Recht Aller auf das Leben, dergestalt, daß die Gemeinschaft aushelfend eintritt, wo der Einzelne völlig außer Stände ist sich dies Gut zu erhalten. Es folgt aber nicht die so­ cialistische Gleichheit des Rechtserwerbs: aus dem einfachen Grunde weil der Staat diese Gleichheit gar nicht anbefehlen kann; denn welche Rechte

die an Besitz, Bildung, Begabung ungleichen Menschen durch ihre gleiche

Rechtsfähigkeit wirklich erwerben, darüber entscheidet nicht der Staat, son­ dern die Kraft und das Glück der Einzelnen.

Ich denke, dem also be­

schränkten Gleichheitsbegriffe liegt ein klares Princip zu Grunde, ein klareres sicherlich als der unbestimmte Satz von der Theilnahme Aller an allen Segnungen der Cultur. —

Sie versuchen nun eine rechtliche Ordnung einzuführen in die Kämpfe

de» Wettbewerbs, die Ihnen chaotisch erscheinen.

Sie entlehnen dem

Aristoteles den Begriff der »ertheilenden Gerechtigkeit und fordern: ,,da» Prmßische Jahrbücher. Bb. XXXV. Hest«.

29

Einkommen und Vermögen soll den Tugenden und Leistlingen entsprechen"

oder auch: „die äußere Bertheilung der Güter und Ehren hat den inneren sittlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen zu entsprechen."

Sie

erneuern damit in mildernder Umschreibung die Lehre der St. Simonisten:

Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Leistungen!

Ich

sehe in dieser Lehre eine ungeheuerliche Vermengung und Verwirrung von grundverschiedenen sittlichen, politischen, rechtlichen und wirthschaftlichen

Begriffen und stelle Ihnen gradezu diese Wahl: Entweder Sie haben den Muth, auch nur einen einzigen bündigen Schluß aus Ihrer Forderung zu

ziehen, dann vernichten Sie jede Ordnung, jeden historischen Zusammen­ hang in der Gesellschaft.

Oder Sie gießen Wasser in Ihren Feuertrank,

und verwischen den eigentlichen Sinn Ihres Satzes durch gewundene Aus­

legungen so vollständig, daß nichts davon übrig bleibt als die Tugendlehre: Jeder bestrebe sich seiner socialen Stellung durch ernste Pflichterfüllung

Ehre zu machen. Dann begreife ich nicht, warum Sie so viel Gelehrsam­ keit verschwendet haben; diese Weisheit konnten Sie auch aus dem kleinen

Katechismus und aus Gellerts Fabeln lernen.

Um Ihnen dies zu erklären, erlaube ich mir zunächst die Autorität des Aristoteles zurückzuweisen.

Wenn irgend eine Aristotelische Lehre ver­

altet und wiffenschaftlich überwunden ist, so doch sicherlich seine Lehre von

der Gerechtigkeit.

Der Staat der Griechen umfaßte das gesammte Volks­

leben; darum vermag kein Hellene die Begriffe des Rechts, der Sittlich­ keit, der Zweckmäßigkeit scharf zu scheiden, die griechische Sprache besitzt nicht

einmal ein unzweideutiges Wort für das Recht.

Auch Aristoteles kommt

aus den Fesseln des nationalen Denkens nicht los.

Wenn er von der

vertheilenden Gerechtigkeit spricht, so setzt er eine Allmacht des Gesetzgebers voraus, die in dem modernen Staate ganz undenkbar ist; und bei der Be­

trachtung der ausgleichenden Gerechtigkeit verfällt er gar in leere Gedanken­

spiele.

Er unternimmt nämlich einen absoluten Maßstab aufzufinden für

die materielle Gerechtigkeit der Verträge des Privatverkehrs und durch einen allgemeinen Lehrsatz festzustellen, welche Gütermassen gerechterweise

gegen einander ausgetauscht werden dürfen; seine Commentatoren haben dann versucht durch Gleichungen und geometrische Figuren diesen unfrucht­ baren Gedanken zu verdeutlichen. klarheit überwunden.

Erst das römische Recht hat solche Un­

Der scharfe juristische Verstand der Römer erkannte,

daß eS einen absoluten Maßstab für den Werth der Güter nicht giebt, wie ich schon oben nachwieS; desgleichen, daß bei unzähligen Verträgen die

Gleichheit von Leistung und Gegenleistung gar nicht beabsichtigt wird.

Der römische Richter begnügt sich also die formelle Gerechtigkeit zu wahren,

pr sorgt dafür, daß die im Vertrage ausbedungenen Leistungen wirklich er-

fiifit werden; nach der materieLen Gerechtigkeit des Vertrags fragt er nur in seltenen Ausnahmefüllen, wenn ein grober Betrug zu vermuthen steht,

darn werden die Grundsätze der aequitas angewendet, daß Niemand zum Schaden eines Anderen sich bereichern dürfe «. f. w.

Da ich auf diese Begriffe zurückkommen muß, so gestatten Sie mir, sie an einem Beispiel aus dem Leben der Gegenwart zu erläutern. Nehmen Sie an, ein deuffcher Gelehrter schreibt ein treffliches Buch über die Satzbildung des Sanskrit oder einen anderen dem großen Publicum unverständlichen Stoff

und läßt es von einem Buchhändler drucken und verlegen.

Dann stellt

sich das wirthschaftliche Ergebniß des Unternehmens (nach jenem Buch­

druckertarife vom Juli 1873, der Ihnen wohl zu gefallen scheint, in mir

aber nur gemischte Gefühle erweckt) folgendermaßen.

Der Gelehrte hat

unbestritten den größten Antheil an der gemeinsamen Leistung und erWt kein Honorar oder eine Summe, die nicht einmal seine baaren Auslagen Der Verleger, der nächst dem Verfaffer das Beste gethan, erreicht

deckt.

im allergünstigsten Falle eine ungenügende Verzinsung seines Capitals; die Setzer und Laufburschen endlich empfangen ihren reichlichen Lohn.

materielle Ungerechtigkeit des Vertrages ist unverkennbar.

Die

Aristoteles würde

nunmehr durch den Richler entscheiden lasten, wie viel jedem der Betheiligten nach seiner Leistung gebühre.

Der moderne Staat aber, der durch

die Schule des römischen Recht» gegangen, fragt einfach: sind die Bedin­

gungen des Vertrages erfüllt worden? und zeigt dadurch seine Ueberlegeyheit gegenüber dem griechischen Denker.

Er weiß, daß er nicht im Stande

ist die Kaufkraft und Kauflust des PublicumS zu verstärken, und er sagt sich: wenn verständige Männer mit freiem Willen einen unvortheilhaften Vertrag schließen, so werden sie wohl gute Gründe dazu haben; die

sehr achtungSwerthen Beweggründe, welche^ in diesem Falle den Verfaffer

und den Verleger geleitet, liegen denn auch auf flacher Hand.

Ich branche

kaum anzudeuten, wie eng diese schärferen RechtSbegriffe der Römer mit

dem hohen Stande ihrer BolkSwirthschast zusammenhängen und wie nahe sie sich berühre» mit der modernen Freihandelslehre.

Lassen wir also den Aristoteles aus dem Spiele und prüfen wir die

Sache.

Wenn Sie die Vertheilung der Güter und Ehren nach dem Maß­

stabe der Tugenden und Leistungen verlangen, so frage ich zunächst:

wen stellen Sie diese Forderung?

an

Die Ehren vertheilt der Stagt; die

Güter vertheilt die Arbeit der Gesellschaft, allerdings unter fühlbarer Ein­

wirkung der StaatSgesetze.

Sie vermischen also zwei grundverschiedene

Verhältnisse, ich versuche zwischen ihnen z« unterscheiden.

So lange Sie

von der Vertheilung der politischen Rechte und Ehren sprechen, kann ich

Ihre Forderung nicht geradezu falsch nennen; ich finde sie nur allzu w 29*

43tz

Die gerechte Bcrtheiluirg der Güter.

turalistisch, allzu einfach für die verwickelten Bedürfnisse deS StaatSlebens und darum ziemlich unfruchtbar.

Das Gleichgewicht der

Rechte

»ud

Pflichten bildet, wie heute wohl Jedermann zugiebt, den Grundgedancken

des modernen Rechtsstaats.

Jede höhere Machtstellung im Staate soll

erhalten und gerechtfertigt werden durch die Erfüllung schwerer Pflichten;

verliert eine regierende Klasse durch den Fortschritt der Volkswirthschaft die Vorzüge deS Besitzes und der Bildung, so soll sie auch ihre politische Macht verlieren; der Staat soll die Lasten vertheilen nach dem Maßstabe

der Leistungsfähigkeit, die politischen Rechte je nach der Fähigkeit sie zum Heile deS Ganzen auSzuüben.

Diese allgemeinen Grundsätze wird nicht

leicht Jemand anfechten; die Schwierigkeit liegt in ihrer Anwendung. Ich

ziehe auS ihnen mehrere Schlüsse, welche den Ihrigen schnurstracks zuwider laufen.

Sie nennen die allgemeine Wehrpflicht noch viel demokratischer

als das allgemeine Stimmrecht und billigen Beides; ich meine, das Princip

der vertheilenden Gerechtigkeit wird durch jene Pflicht anerkannt, durch dieses Recht verletzt.

Eine gerechter vertheilte Staatslast, als die allge­

meine Wehrpflicht, läßt sich in dieser gebrechlichen Welt kaum erdenken.

Die Pflicht das Vaterland zu vertheidigen ergiebt sich unwiderfprechlich

aus dem richtig verstandenen Begriffe des StaatSbürgerthumS. Mit seinem Leben opfert Jeder das Höchste waS er opfern kann, der Tod deS Hoch­

begabten ist ein schwerer, der des Unfähigen ein geringerer Verlust für die Nation; doch da das Leben dem Einen genau so lieb ist wie dem An­ deren, so glaubt Jeder das gleiche Opfer zu bringen, und Niemand kann sich beschweren.

Dagegen daS Recht mitzuwirken bei der Bildung der gs-

setzgebenden Gewalt gebührt nicht dem Staatsbürger als solchen, sondern

nur denen, welche durch Besitz und Bildung fähig sind ihr Wahlrecht zum Wohle deS StaateS zu gebrauchen; verleiht der Staat dieses Recht allen

Erwachsenen ohne Unterschied, so begünstigt er die Masse der Ungebildeten

zum Nachtheil der gebildeten Minderheit, er giebt die vertheilende Gerech­ tigkeit auf.

Und gleichwohl würde ich als Schweizerbürger unbedenklich

daS allgemeine Stimmrecht vertheidigen, weil ich diese Verletzung der ver­ theilenden Gerechtigkeit für eine Lebensbedingung der demokratischen Re­

publik halte. Sie sehen, Ihr Grundsatz stößt überall auf andere politische Rück­

sichten,

die

ihn beschränken oder aufheben.

Man

kommt nicht weit

mit ihm; er kann nicht einmal alö unbedingte Vorschrift gelten für die

Beförderung der Beamten. Niemand bezweifelt, daß die Aemter den Tüch­

tigsten gegeben werden sollen.

Aber diese kahle Regel wird in aristokra­

tischen Staaten beschränkt durch die berechtigten Ansprüche der regierenden

Geschlechter, in Demokratien durch das wechselnde Verhältniß der Parteien.

Utib in allen Staaten muß die alte Klugheitsregel gelten, daß der Ehrgeiz nicht blos gespornt, sondern auch um deS Friedens willen zur rechten Zeit

gezügelt werden soll.

Erinnern Sie Sich noch aus den

Patriotischen

Phantasien des Aufsatzes: „Keine Beförderung nach Verdiensten"?

Mir

ist JustuS Mösers grunddeutsche Natur selten so achtungSwerth erschienen. DeS Zöpfchen, daS dem advocatus patriae dabei unter dem Dreispitz

hervorfchaut, haben wir freilich längst abgeschnitten, und doch liegt ein

In

underlierbarer Kern in den Warnungen deS alten Menschenkenners.

de» französischen Heere wird weit rücksichtsloser „nach den Leistungen"

befördert alS in dem deutschen — wahrlich nicht zu unserem Schaden; die

Entfesselung der Ehrsucht und der Ränkesucht untergräbt den Geist treuer

Kameradschaft, und dieser ist für ein Heer wichtiger alS die schnelle Beföcherung jedes Talents.

Und welche Unklarheit versteckt sich doch hinter

der friedlichen Zusammenstellung der Tugenden und Leistungen!

Al» ob

da- Talent immer tugendhaft, die Tugend immer leistungsfähig wäre! Also können selbst die Ehren, welche der Staat unmittelbar verleiht,

nicht unbedingt nach den Tugenden und Leistungen vertheilt werden. noch weit weniger die Güter.

Und

Ist eS Ihnen irgend Ernst mit Ihrer

Forderung, so müssen Sie das Erbrecht aufheben und nur da» persönliche

Eigenthum bestehen lassen.

St. Simon, folgerichtiger als Sie, hat diesen

unabweisbaren Schluß in der That gezogen.

Jedes erdenkliche System

des Erbrechts, gleichviel wie es durch die Gesetzgebung des Staates ge­ staltet wird, bestimm» unzweideutig: die Vertheilung der Güter syll großentheils nicht den Tugenden und Leistungen entsprechen.

Und durch diesen

weisen Grnndsatz wird nicht blos der historische Zusammenhang deS BolkS-

thums gewahrt, das Gefühl der Pietät und die Innigkeit des Familienlebens erhalten, alle Ruhe und Sättigung der Cultur erst ermöglicht, sondern auch -7—.MUe Forderung der Gerechtigkeit erfüllt.

heutiger VolkSverüiögenS

Der größte Theil des

ist nicht durch die Arbeit deS gegenwärtigen

Geschlechts erworben, folglich darf er auch nicht nach den Tugenden und Leistungen der heute Lebenden vertheilt werden.

Der in der Erbordnung

fovtwirkende Wille der vergangenen Geschlechter, welche dies BolkSvermögen, hat von Re^tSwegen über die Gütervertheilung mitzuentscheiden.

Wer kurzweg die Bertheilung der Güter nach den Leistungen verlangt, der

mag, berauscht von dem Klange seiner eigenen Worte, sich selber sehr ge­ recht und tugendhaft dünken;

in Wahrheit tritt er die Gerechtigkeit mit

Füßen.

Sie wagen selbst nicht diesen nothwendigen Schluß zu ziehen; Sie fühlen lebhaft die gefährliche Vieldeutigkeit Ihres Satzes und suchen ihm

den Stachel zu nehmen durch ein wiederholtes „nur so ganz ungefähr"

und ähnliche abschwächende Zusätze.

Alle solche Künste ersparen Ihnen

nicht einen anderen Schluß, der sich als ein Allermindestes aus Ihrer Forderung ergiebt, wenn sie nicht jeden Sinn verlieren soll.

Er lautet:

Wenn die Gerechtigkeit fordert, daß die Vertheilung der Güter „nur so ganz ungefähr" den Tugenden und Leistungen entspreche,

so müssen in

einer gerechten Gesellschaftsordnung die Reichen „nur so ganz ungefähr"

tugendhafter sein als die Armen!

Das bestreite ich rundweg als Unsinn,

als den Ausfluß einer ganz junkerhaften Weltanschauung.

Und hier kommt

eS an den Tag, daß wir Aristokraten über die einfachsten sittlichen Fragen weit demokratischer denken als Sie.

Die aristokratische HerzenShärtigkeit

der hellenischen Philosophie leitete die Tugend aus dem Erkennen ab; solcher Gesinnung voll gelangt Aristoteles zu der entsetzlichen Behauptung:

eS ist unmöglich, daß Werke der Tugend übe wer das Leben eines Hand­ arbeiters führt. Die Verlogenheit unserer socialdemokratischen Wühler hat

diese heidnischen Irrthümer auS dem Schutt der Jahrhunderte wieder hervorgegraben; um den Klassenhaß zu schüren redet sie den Massen vor,

die Tugend entspringe der Aufllärung, und die Reichen suchten durch das

bösliche Versagen höherer Bildung auch

verkümmern.

die Sittlichkeit der Armen zu

Ich aber halte mich an die demokratische Sittenlehre des

Christenthums; ich weiß und erlebe es an jedem neuen Tage, daß die

höchste Tugend in jeder Schicht der Gesellschaft möglich und wirklich ist; mich ergreift das volle Gefühl demüthiger Beschämung, so oft ich an einer

armen Mutter eine Kraft der Liebe und der Hingebung beobachte, die ich nie zu erreichen vermöchte. Fühlen Sie denn nicht, daß Sie mit Ihren menschenfteundlichen Plänen

dem Armen gradezu den einzigen Trost rauben, der ein edles Herz Hinwegtragen kann über die unvermeidlichen Härten der wirthschaftlichen Ordnung? Gingen Ihre Träume jemals in Erfüllung, dann würde die Erde in der

That ein Jammerthal, wie die Theologen fabeln. Nur deshalb darf der Arme stolz und froh sein Haupt erheben, weil er weiß, daß die irdischen Güter

nicht nach der Tugend vertheilt sind. Soll er zu dem Vielen, was er heute

ertragen muß, noch das vernichtende Bewußtsein erhalten: „ist mir schon recht; dafür bin ich der Lump und die Reichen sind die Tugendhaften"? — Auch dem Reichen rauben Sie in aller Unschuld die einzigen wirksamen Be­

weggründe, die ihn vor Härte und Uekerhebung bewahren können. Eindring­

licher, ergreifender hat Niemand den Vornehmen und Reichen ihre Pflichten vorgehalten, als Pascal in dem discours sur la condition des grands. Da wird mit unnachahmlicher Anmuth geschildert, wie ein Schiffbrüchiger, an

den Strand einer Insel verschlagen,

belnden Volkshaufen umringt findet.

beim Erwachen sich von einem ju­

Der König der Insel ist vor Kurzem

spurlos verschwunden; der Fremdling sieht dem Verschollenen ähnlich und wird vom Volke als König begrüßt.

Er fügt sich in die ihm aufgedrun«

geue Rolle und lebt fortan ein doppeltes Leben; vor den Leuten spielt er de« Herrscher, in der Stille sagt er sich: daS ist nicht mein wahrer Stand,

ich bin um nichts besser als die Anderen. Ebenso, Monseigneur — fährt Pascal fort, zu seinem jungen vornehmen Zuhörer gewendet — ebenso

sollt auch Ihr in einer double pensSe leben.

Ihr dankt Euren Rang

und Reichthum zwar nicht einer Lüge, sondern einer Erbordnung, die von der Weisheit unserer Väter eingesetzt wurde; aber Euer Rang und Glanz

ist nicht Euer wahrer Stand, er hat mit Eurem Selbst nichts gemein. Empfanget darum vor der Welt die Ehren Eures Ranges, doch saget Euch

in Eurem Herzen: ich bin nicht besser als die Andren, auch wenn da»

thörichte Volk mich dafür. hält. — Ich meine, diese einfältigen Worte werden wahr bleiben so lange die Gesellschaft besieht.

Danke« wir der

Natur, daß sie minder systematisch verfährt alS unsere Prosefsoren, daß

sie die wirthschaftlichen Güter nach anderen Gesetzen vertheilt als die

Tugenden.

Entspräche jemals die Gütervertheilung auch nur annähernd

den Tugenden der Manschen, dann verschwände die Zufriedenheit der Armen wie die Bescheidenheit der Reichen, der sociale Friede wäre unrettbar zerstört. Unmerklich sinken Sie mit Ihren ethischen Forderungen auf den Boden deS platten Epikuräerthums herab.

Jede Wiffenfchaft unterliegt

eigenthümliche« Versuchungen, Ihr Nationalökonomen fallt immer wieder

Eurem geliebten Eudämonismus in die Arme.

soll schon auf Erden ihren Lohn finden.

Sie fordern, die Tugend

Ganz gewiß, und sie hat ihn zu

allen Zeiten gefunden, doch wahrlich nicht in Thalern und Doppelkronen, sondern in dem Gewissen. „WaS einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch

etwa- Anderes als Aequivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis

erhaben ist, mithin kein Aequivalent verstattet, das hat eine Würde. Würde hat allein die Sittlichkeit und, sofern sie derselben fähig ist, die Menschheit." Dieser Ausspruch Kants und die ganze erhabene Gedankenwelt, die mit

dem kategorischen Imperativ zusammenhängt, find allen edlen Deutschen in Fleisch und Blut gedrungen; wir müßten unser BolkSthum verleugnen,

wenn wir von den reifsten und reinsten Früchten der Gedankenarbeit des

deutschen Protestantismus uns trennen wollten.

Auch Sie selbst sind im

Grunde der Seele von dieser deutschen Auffassung der Sittlichkeit erfüllt; dafür bürgen mir Ihre deutsche Natur und alle Ihre Schriften. Doch

Sie halten Ihre Gedanken nicht in fester Zucht;

Sie kaffen Sich be­

thören von der saint-simonistischen Phrase und bemerken nicht, daß diese französische Theorie halb aus katholischer halb aus materialistischer Quelle

stammt.

Sie fordern, gut katholisch, daß das Innerliche einer äußeren

Ordnung sich einfügen solle; und Sie verlangen, gut materialistisch, daß

was über allen Preis erhaben ist gleichwohl einen Preis habe.

Nein, die

Welt der Sittlichkeit wird von der Vertheilung der wirthfchaftlichen Güter

nur ganz an der Oberfläche berührt; das wahre Glück des Lebens — der Friede des Gewissens, die Kraft der Liebe und des Glaubens — ist jedem

Menschen erreichbar. Da Sie auch wegen der Macht des Glaubens, nicht

gerade mit

großem Aufwande von Zartgefühl, mich zur Rede stellen, so muß ich hier

eine unwillkommene Abschweifung einschalten.

Ich tadelte den Hochmuth

deS Wissens, der auf den schlichten Glauben des Ungebildeten hoffärtig

niederblickt nnd sagte wörtlich: „Niemals kann auch die durchdachte wissen­

schaftliche Erkenntniß irgend einem Menschen den Segen deS Glaubens ersetzen.

Bor den schweren Schicksalsfragen des Lebens, vor den Fragen,

welche das Gemüth im Innersten quälen und erschüttern, steht der Gelehrte ebenso rathloS wie der Einfältige. Ueber solche Fragen führt nur eine dumpfe

unfruchtbare Resignation hinweg oder — die Kraft des Glaubens, die in schweren Kämpfen des Gemüths erlebte Ueberzeugung, daß das Unbegreif­ lichste zugleich das Allergewisseste ist, daß Gott gerecht ist und sein Rath­

schluß weise."

Angesichts dieser Sätze behaupten Sie, ich verlange den

Glauben nur von den Massen, nicht von den Gebildeten, und der Vorsteher der Hamburger Stadtmission, Freiherr v. Oertzen, versicherte gar auf dem

letzten Eisenacher Congreß, ich bettachte die Religion als einen Schutzmann, der den Haufen in Zucht halte.

Da ich nicht voraussetzen kann, daß die

Religion des Rauhen Haufes ihre Bekenner von der Pflicht der Wahr­

haftigkeit entbindet, so nehme ich zur Ehre des Herrn v. Oertzen an, er

habe von meinen Aufsätzen nur einige abgeriffene Sätze in den Zeitungen

gelesen.

Sie gehen indeß noch einen Schritt weiter; Sie verhandeln

meinen „Glauben" in Kirchenglauben — ein Wort, das ich absichtlich vermieden habe — und fragen erzürnt, wie ich denn einen Kircheuglauben

fordern dürfe, den ich selbst nicht hege. Meine Antwort kann kurz sein;

in meiner weltlichen Natur steckt

keine Ader vom Theologen, ich mag nicht predigen waS erlebt sein will. Ich bin noch immer der Freidenker wie vor vierzehn Jahren, alS ich den

Aufsatz über die Freiheit schrieb; ich meine noch heute, über deS Menschen sittliche Würde entscheide nicht was er glaubt, sondern wie er glaubt. Nur

ist daS religiöse Gefühl in mir lebendiger geworden während dieser reichen Zeit;

ich habe

das Walten der Vorsehung

in den großen Geschicken

meines Volks wie in den kleinen Erlebnissen deS Hauses dankbar empfun­

den und fühle stärker als sonst das Bedürfniß mich demüthig vor Gott zu

Bettgen. Ich erkenne heute klarer als früher, daß eine unauSfüllbare Lücke in der Seele jedes Menschen klafft, der jenen Drang des Gemüths nicht

empfindet.

Darum vermesse ich mich doch nicht zu tadeln, wenn ich solche

Leere deS GemüthSlebenS an einem Anderen bemerke; denn auf diesem Gebiete des Höchstpersönlichen nnd Geheimnißvollen findet die SelbMu-schuug einen unendlichen Spielraum.

David Strauß verkündet zwar in

seinem letzten Buche die dem Herzen und dem Verstände gleich unbegreif­ liche Lehre, daß die Welt dereinst untergehen werde, ohne jemals einen

Zweck gehabt zu haben; dennoch hat unleugbar der tapfere Kämpfer selber

so gelebt, als ob die Welt einen Zweck hätte.

Ich halte das Gottes-

bewußtsein der Menschheit für völlig unzerstörbar nnd glaube, anders als Sie, daß die Arbeit der Wissenschaft dies Bewußtsein zuletzt nur

kräftigen und läutern wird.

Ich hoffe ein Christ zu sein und ein Pro­

testant, obgleich ich das Augsburger Bekenntniß nicht wörtlich zu unter­

schreiben vermag, und sehe in den Zweifeln und Kämpfen unserer Tage

nur einen schmerzvollen Uebergang, der zu neuen, menschlicheren Formen

des kirchlichen Lebens führen wird.

Schöner als ich es könnte hat Emanuel

Geibel diese Hoffnung ausgesprochen: Dieser Kirche Formen faffen Dein Geheimniß, Herr, nicht mehr.

Tausenden, die fromm Dich rasen, Weigert sie den Gnadenschooß.

Wandle denn waS Menschen schufen, Dem» nur Du bist wandelloS l

Wer also denkt und hofft, der hat wohl ein Recht zu fordern, daß über daS Heilige mit Ernst nnd Ehrfurcht gesprochen und die überlieferten Formen des Kirchenlebens mit Achtung und Schonung behandelt werden.

Nun gar jene Aufwiegelung aller thierischen Begierden, die von den Führern der Socialdemokratie ausgeht, berechtigt jeden rechtschaffnen Mapn, ohne

Unterschied des Glaubens, zu ernsten Warnungen.

Durch die geistigen

Kämpfe der Gegenwart ist ein unheilvoller Bruch innerhalb unseres Volkes

entstanden. Ungebildeten,

Er trennt nicht, wie Sie meinen, die Gebildeten von den

sondern er geht mitten durch die Gesellschaft,

er scheidet

Tausende gebildeter Männer von ihren Schwestern und Frauen.

Dieser

Zustand ist viel zu unnatürlich, als daß er in einem wahrhaftigen Volke auf die Dauer bestehen könnte.

Die sittlichen Gefahren einer solchen

UebergangSzeit. werden von Jedermann empfunden, doch am schwersten

treffen sie die Masse deS Volks.

Je freier eine Sittenlehre, um so ver­

derblicher wird sie dem unfreien Sinne, der nach zweifelloser Autorität

verlangt. Wenn ein roher Muselman durch einen übereifrigen Missionär

ohne die rechte Vorbereitung getauft wird, so trägt der neue Glaube ge­

meinhin schlimme Früchte: der Bekehrte wäscht sich Nicht mehr und ergiebt sich dem Trünke.

Dieser gebundenen Seele sind sittliche Pflichten nur

dann heilig, wenn sie durch einen Ausspruch der göttlichen Offenbarung

beglaubigt werden. Aehnlich stehen noch heute Millionen der freieren Sitten­ lehre de- Christenthums gegenüber. Jeder Mensch ohne Ausnahme verarmt

im Herzen, wenn er das religiöse Gefühl in sich ertödet.

Der selbstän­

dig Denkende kann darum doch ein wackerer Mensch bleiben, er lebt nach

einem selbstgefundenen Sittengesetze, daö er unbewußt großentheils dem

Christenthum entnommen hat.

Dem Ungebildeten gehen mit dem über­

lieferten Glauben nicht blos die Tröstungen der Religion verloren, sondern

auch fast immer daö feste Pflichtgefühl; er wird irr an der sittlichen Ord­ nung der Welt, die er sich durch die Kraft deS Gedankens nicht zu er­

klären vermag.

Sie kennen wohl den „BolkSgesang" der Lassalleaner: Ein' feste Burg ist unser Bund, Wie ihn Laffalle geschaffen. Er wurzelt fest auf Felsengrund,

Im Sturm ein sich rer Hafen!

Wo ist in dieser läppischen Selbstvergötterung nur die Spur eines tiefen

Gefühls, nur der Schimmer eines Gedankens, der den Menschen aus dem Staube erhöbe?

Und wie dies Zerrbild des lutherischen Liedes zu seinem

Urbilde, ebenso verhält sich der sittliche Inhalt der socialistischen Lehren

zu der sitttgenden Macht aller Glaubensbekenntnisse Deutschlands. Sie gar nicht unterscheiden zwischen der

Wenn

gewissenhaften Gedankenarbeit

unserer Philosophen und der gedankenlosen Frechheit der Religionsspötterei; wenn Sie einem Freidenker verbieten wollen, die muthwillige Zerstörung

des sittlichen Ernstes und des frommen Glaubens als ein Verbrechen zu bekämpfen — so kann ich nur den Vorwurf wiederholen:

Sie wissen

nicht, welchen Bestrebungen Sie eine willkommene Flankendeckung bieten! — Nun zurück zu Ihrer Gütervertheilung.

Ich wies oben nach, daß

der Plan, die Tugenden durch irgend welche Gesellschaftsformen zu be­ lohnen, ans einer sinnlichen LebenSanflcht entspringt. wie soll der Gedanke inS Leben treten?

Jetzt frage ich:

Wollen wir uns darüber ver­

ständigen, so müssen wir zunächst verzichten auf jene unklare Bildersprache,

die von Ihren Freunden angewendet wird sobald sie vom Staate reden. Da heißt eS: eine Vertheilung der Güter durch den Staat findet in jedem

Systeme der Volkswirthschaft statt; oder: die Stein-Hardenbergische Ge­

setzgebung hat eine völlig neue Bertheilung der Güter geschaffen, und der­ gleichen.

Das Alles sind unbestimmte, den Begriff verhüllende Bilder.

Seit die Welt dem CommuniSmuS ursprünglicher Menschheit entwachsen

ist, erfolgt die Bertheilung der Güter durch den Berkehr der Producenten; Und da der Staat wenig oder nichts selber producirt, so kann er in diese Vertheilung nur ordnend, fördernd, hemmend eingreifen.

Die» gilt von

Das fridericianische Preußen stand dem So­

alle» modernen Staaten.

cialismus unleugbar näher als das heutige Deutschland.

Eine mächtige

Staatsgewalt legte dem Volke eine systematische Organisation der Arbeiten auf und übte in der That eine „Diktatur der Einsicht", wie sie der So­ cialismus heute ersehnt.

Sie wies jedem Stande eine bestimmte Stellung

in dem Haushalte der Nation an und half durch Zwang und Belehrung,

durch Geschenke und Darlehen nach, so oft der Bauer, der Bürger, der Edelmann seiner vorgeschriebenen Rolle nicht zu genügen schien. Und trotzdem schuf die Arbeit der Gesellschaft unter dieser Alles meisternden

Staatsgewalt eine neue Bertheilung der Güter, welche den Plänen de» großen Königs zuwiderlief.

Er wollte den Adel als den ersten Stand

auftechthalten, doch die Mittelklassen erwarben sich aus eigener Kraft eine Macht der Bildung und des Wohlstandes, die den alten Bau der ständi­

schen Gliederung früher oder später zersprengen mußte.

(Beiläufig, Sie

besitzen ein seltenes Talent die Schriftsteller sagen zu lassen wa» Ihnen

bequem ist. Sie behaupten — S. 97 — Tocqueville bezeichne die fridericia­ nische Gesetzgebung als großartig und neu, „zugleich als socialistisch, aber Er sagt aber, das Allgemeine

nicht im schlimmen Sinne des Wortes."

Landrecht enthalte neben halbmittelalterlichen Gedanken auch Vorschriften,

döBt l’extreme «Sprit centraliaateur avoisine le socialisme!

Wenn

Sie den geistvollen Anwalt der Decentralisation näher kennten, so würden Sie wissen, daß die Worte esprit centralisateur und socialisme in diesem Munde immer rmr ein harter Tadel sind.)

Als der Staat jene von ihm

selber aufrechterhaltene ständische Gliederung durch die Gesetze von 1807 —

1812 beseitigte, da gewährte er nur den mittleren und niederey Volks­ klassen die rechtliche Möglichkeit,

durch ihre eigene Kraft eine veränderte

Bertheilung der Güter zu schaffen.

Daß diese neue Vertheilung wirklich

erfolgte, das danken wir dem Fleiße und der Sparsamkeit der preußischen

Bürger und Bauern; ein anderes Volk hätte dieselben Gesetze zu einer anderen Gütervertheilung benutzt.

So Höch ich die Weisheit jener Gesetz­

gebung schätze und so gewiß es ist, daß mindestens die Masse der Bauer«

des Nordostens ohne jenen Weckruf des StaateS noch lange in der alten Dumpfheit dahin gelebt hätte — da» größte Verdienst des StaateS lag doch darin, daß er den Zeitpunkt erkannte, da jene Schichten der Gesell­

schaft leidlich fähig waren eine heilsame Umwälzung des Güterlebens selber

zu vollenden.

Seitdem find die rechtlichen Schranken der Stände gänzlich

aufgehoben v»d damit die Fähigkeit des StaateS, auf die Gütervertheilung

einjvwirken, unleugbar gemindert.

Diese Einwirkung soll und wird nie­

mals aufhören, doch in der heutigen BolkSwirthschaft gilt bestimmter als

je zuvor die Regel, daß die Güter wesentlich durch die freie Arbeit der

Gesellschaft selbst vertheilt werden.

Halten wir diese Wahrheit fest, so erhellt sogleich: Ihre Gütervertheilung nach den Leist '.ngen findet ein unübersteiglicheS Hinderniß an der le­ gitimen Macht des Glückes.

Um dieses Ausdrucks willen hat mich der

„BolkSstaat" als einen Verehrer des Faro-Tisches geschildert,

und Sie

halten Sich nicht zu gut diese Scherze sanft anwinkend zu wiederholen.

Was ich meinte ist aber so einfach, so mit allen fünf Sinnen wahrnehm­

bar, daß mich's einige Ueberwindung kostet noch ein Wort darüber zu ver­

lieren.

Wenn Sie begeistert auSrufen: „jede Position, die wir dem Zufall

abgewinnen,

ist ein Sieg der menschlichen Cultur",

so stimme ich von

Herzen bei, doch unwillkürlich fällt mir jener Wurm ein, der am Kölner

Alle unsere Lebens-, Fener-, Hagel-, Vieh-Bersicherun-

Dome emporkroch.

gen, alle die technischen Verbesserungen, welche das Wagniß der Geschäfte

verringern — was bedeuten sie denn

neben

den tausend und tausend

Kräften, wodurch das Schicksal eingreist in unser redliches Schaffen?

Er­

ziehen Sie erst den Regen und Sonnenschein zur richtigen Erkenntniß der »ertheilenden Gerechtigkeit; dann wird die Bertheilung der Güter nach den Leistungen dem Reiche des Möglichen um einige Schritte näher rücken.

Und wie in aller Welt wollen Sie die zahllosen Leistungen der Ge­ sellschaft nach Grundsätzen des Rechts gegen einander abschätzen?

stehen

noch unter dem Einfluß jene- Aristotelischen

Irrthums;

Sie

Ihnen

schwebt die unbestimmte Ahnung vor, ob der unfindbare Maßstab für die

materielle Gerechtigkeit de- Güteraustausches nicht doch irgendwie sich finhen lasse. Vergebliche Hoffnung! Der Orientale verehrt das überlieferte Wissen

und verachtet die Neuerung, uns Europäern ist der Schöpf« neuer Ge­ danken bewundernngswerth, der Nachbeter deö Alten lächerlich; und steigen

Sie dann hinab lichen Arbeiten,

in das unendliche Getriebe der

so

läßt sich schlechterdings

Leistungen gerechterweise die höchste sei.

eigentlich wirthschaft-

nicht sagen,

welche dieser

Es giebt nur einen Maßstab um

die Leistungen der Gesellschaft unter sich zu vergleichen: daS wechselnde

Bedürfniß der Gesellschaft, das in dem Ringen von Angebot und Nachftage sich offenbart.

Die aus den Kämpfen des freien Wettbewerbs hervor­

gegangene Vertheilung der Güter erhebt nicht den stolzen Anspruch eine

Verwirklichung der vertheilenden Gerechtigkeit zu sein;

sie kann sich nur

auf den einen bescheidenen Grund für ihr Dasein berufen, daß sie in den

heutigen Zuständen der Gesellschaft die einzig mögliche ist.

Ihre Ver­

theidiger wissen, daß in dieser Güterordnung sehr viele treffliche Leistungen

einen gerechten Lohn nicht finden können.

Bei jedem Strike pflege« beide

Theile — beide gewöhnlich in gutem Glauben — sich auf ihr Recht zu berufen; zuletzt beruhigen sich die Parteien bei dem Lohnsätze, der auS der Lage des Marktes sich ergiebt und darum für den Augenblick der richtige

ist, auch wenn er eine materielle Ungerechtigkeit enthält.

Werfen Sie

dieser Verkeilung der Güter die Mißachtung des Rechtes vor, so läßt

sich nur antworten mit drei allbekannten Sätzen. Erstens, der freie Kampf

der Jntereffen führt ein fleißiges und denkendes Volk nach mannichfachem Irrthum zuletzt doch zu einer Schätzung der Güter, welche den Erfolg der tüchtigen Arbeit in der Regel sichert.

Zweitens, die Gunst und Ungunst des

Glückes gleicht sich einigermaßen aus nach dem Gesetze der großen Zahl. Drittens, die Regel der freien Concurrenz schließt ein milderndes und

anSgleichendeS Eingreifen des StaateS nicht auS, und diese VolkSwirthfchaftS»

Politik wird dann am fruchtbarsten fein, wenn sie sich nicht anmaßt, die

Tugenden zu belohnen. Die heutige Gesellschaft betrachtet als Regel, daß jeder Mensch den BildungSschatz und die wirthschaftlichen Güter, mit denen er feine sociale

Laufbahn antritt, ohne sein Verdienst durch die Eltern erhält; sie erkennt damit die Macht der in der Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit und

die Macht der häuslichen Sitte an.

Sie mildert die Härten dieses Zu­

standes durch den Volk-unterricht und zahllose Stiftungen, welche dem Armen b& ersten Schritte int Leben erleichtern. Was der mündige Mann erreicht mit diesen

überlieferten Gütern,

seinem Schicksal überlasten.

daS bleibt feiner Kraft und

Der unersetzliche Vorzug dieser Vertheilung

der Güter liegt in der Freiheit; gerade die scheinbare Starrheit des Erb­ rechts erleichtert die rasche Bewegung innerhalb

der Gesellschaft.

Die

Erbordnung führt Menschen jedes Schlages in die Reihe der Reichen ein: Kluge und Dumme, Sparsame und Verschwender, Besonnene und

„Temperamentvolle"; ebendeßhalb darf der in Armuth geborene tüchtige

Mann auf ein

Aufsteiger!

hoffen.

Will dagegen

die Gesellschaft die

Güter nach den Tugenden und Leistungen vertheilen,

so muß sie zum

Mindesten die Bildung der Jugend einem unerträglichen Zwange unter­

werfen.

Erlauben Sie mir dies zu erläutern, durch ein argumentum

ad hominem, womit der „Hamburger Socialdemokrat" mich tief gedemüthigt hat.

Er führte in längerer Betrachtung etwa Folgendes auS: dieser

Herr von Treitschke ist selber ein lebendiger Beweis für die Ungerechtigkeit der heutigen Gesellschaft; er ist der Sohn eines Generals, darum konnte

er studiren und heute ein Gelehrter heißen; lebten wir in einem gerechten

Staate, der die Güter nach den Leistungen vertheilte, so hätte ein solcher Schwachkopf niemals studiren dürfen. — Der Schluß ist bündig; eine

Die gerechte Verkeilung der Güter.

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socialdemokratische Unterrichtsbehörde hätte michZganz gewiß niemals die Universität besuchen taffen.

Ich will aber auch unter einer liberalen oder

conservativen Regierung den unverdienten Segen

einer guten Erziehung

lieber als das beste Vermächtniß geliebter Eltern ehren — denn da- ist

die

heilige Ordnung der Natur — als

ihn dem Ermessen irgend einer

Die deutsche Gesellschaft ist schon längst dahin

Staatsgewalt verdanken.

gelangt, daß die stiegel der Erbordnung alltäglich durchbrochen wird. Biele

meiner Freunde und Collegen stammen aus den ärmsten Klassen; sie haben

in ihrer Kindheit Entbehrungen ertragen müssen, die mir erlassen wurden, dafür blieben ihnen manche andere Hindernisse erspart, die ich überwinden mußte.

Und so setzt sich jedes Menschenleben zusammen au» dem Wirken

der persönlichen Kraft und dem Walten des Schicksals, unb eö bleibt in

alle Wege unmöglich, daß der Staat durch eine feste Regel der Güter-

vertheilung diese Welt des Besonderen und Persönlichen beherrsche.

Ich

weiß eS wohl, Sie lächeln selbst über Ihre unwillkommenen Hamburger

Bundesgenossen, aber diese Gelehrten ziehen doch nur Schlüsse auS Ihrer eigenen Lehre. So weit der Staat auf die Bertheilung der Güter einwirken kann, soll er den Grundsatz der Gerechtigkeit befolgen — das leugnet heute Nie­

mand mehr — doch nur als einen Grundsatz neben vielen anderen gleich­ berechtigten,

Er soll gerecht verfahren bei der Bestenerung.

Daraus folgt

die Bertheilung nach der Leistungsfähigkeit und eine mäßige Progression

der Einkommensteuer, da die Kraft der Capitalbildung auf einer gewissen Höhe des Einkommens unverhältnißmäßig zu wachsen beginnt. Doch eö folgt nicht,

wie Sie einmal andeuten, daß der Staat die Steuern benutze um „eine Art Gleichgewicht" zwischen den Reichen und den Armen herzustellen; dies hin­

geworfene Bonmot Friedrichs des Großen ist von seinem Urheber in der Praxis weislich nie befolgt worden.

Der Staat herrscht ut$t zu Gunsten

einer Klasse, auch nicht der Armen, sondern er denkt an das Ganze, an seine eigene Autarkie.

Darum sann ich nicht mit Ihnen sagen, es sei

besser Opfer aufzulegen zum Wohle der Armen als Reichen.

Wo

ein Opfer

zum Vortheil der

nöthig ist für die sittlichen Lebenszwecke der

Gesammtheit, da soll der Staat eö fordern.

Er erhebt Steuern für die

Armenpflege, aber er zwingt auch, ebenso gerecht, die Steuerzahler viel mehr auszugeben für den Unterricht jedes einzelnen Studenten als für

jeden Elementarschüler.

Wenn der Staat das Auskaufen der Bauergüter

verbietet, so will er damit nicht die »ertheilende Gerechtigkeit verwirklichen: die ausgekauften Bauern können ja auch im städtischen Gewerbefleiß eine genügende Belohnung ihrer Leistungen finden; sondern er sagt sich, daß

der Bestand eines freien aufrechten Bauernstandes heilsam ist für die sitt-

liche Kraft und die Mehrbarkeit der Nation, wie für die harmonische Ent­ wicklung der BolkSwirthschaft, und diese Gründe können unter Umständen daS Verbot rechtfertigen.

Der Staat soll überall die letzten Spuren alter

Vorrechte beseitigen; deßhalb glaube ich, daß die Agrargesetze der Zukunst

tiefer in die EigenthumSordnung einschneiden werden alS die Fabrikgesetze,

das Latifundienwesen des NordostenS krankt noch an den Nachwirkungen ungerechter Privilegien.

Der Staat soll die Schwächen des Systems der

freien Concurrenz zu heilen suchen durch die Beschützung der Schwachen

gegen die Willkür der Unternehmer und durch strenge Gesetze wider jede

Art betrügerischer Speculation, aber dabei nicht vergeffen, daß der Mensch am Wirksamsten sich selber beschützt.

Während der jüngsten Gründungs­

epoche schien es wirklich, als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit

in's Unermeßliche sich erweitert hätten; gegen solche Epidemien entfesselter Geldgier vermögen die strengsten Gesetze wenig. Betrogene Aktionäre treten

heute überall zu Schutzvereinm zusammen; die deutsche Gesellschaft besinnt sich wieder auf das einzige Heilmittel, das hier wirken kann. Es können Zeiten kommen, da die Macht des Großkapitals der Frei­ heit der anderen Klaffen bedrohlich wird und der Staat sich gezwungen sieht

die Erbordnung durch einen Gewaltstreich zu durchbrechen; dies letzte Noth­

recht des Staates habe ich nie bestritten, ich bestreite nur, daß ein solcher Nothstand heute vorhanden sei.

Der natürliche Gang der modernen Groß­

industrie füW zur Bildung großer Vermögen. Der Staat muß in solcher Zeit mit erhöhter Wachsamkeit sich der Armen und Schwachen annehmen,

d»M die

veränderte

hindern,

weil

Entwicklung

sie von

marktes abhängt.

den

der

Volkswirthschaft

internationalen

kann

Verhältnissen

er nicht

des

Welt­

Und er soll es nicht, weil er nicht zu bestimmen ver­

mag, ob und wann die Centralisation des Capitals aufhört heilsam zu

sein; jedes neue Hunderttausend, das die Krupp'sche Fabrik ihrem Capitale zugelegt hat, ist bisher der deutschen Volkswirthschaft zu gute kommen.

Er

soll eS auch darum nicht, weil das Nebeneinander von großen, mittleren und

kleinen Vermögen für die allseitige Ausbildung der Kräfte eines mächtigen Volkes, ist.

auch

für die Entwicklung

der bildenden

Künste,

nothwendig

Sie leugnen den Zusammenhang von Kunst und Reichthum, Sie

erinnern dawider an die Zeiten der Renaiffance und der Münchener

Kunstblüthe und liefern mir selber damit die schärfsten Waffen.

Ich habe

nie ein unbehagliches Gefühl, halb des AergerS, halb des Spottes über­ winden können so oft ich durch die Briennerstraße schritt.

Am Eingang

daS marmorne Prachtthor und mein alter Liebling, die Glyptothek; dann folgt der Obelisk mit den bekannten Schafköpfen und eröffnet symbolisch die ent-

setzkiche Reihe der dürftigen Wohnhäuser deS armen und ungebildeten bairi-

scheu AdelS; zum Schlüsse der Prachtbau der Arkaden.

So erscheint die

Kunst, wenn sie durch ein Herrscherwort auf den Boden einer unreifen Volkswirthschaft verpflanzt wird!

Die Baukunst der Renaissance dagegen

ist recht eigentlich eine Kunst der Signoren. Kennen Sie die Via neova

in Genua? Palast an Palast, und mit einer wunderbaren Sicherheit deS Kunstgefühles, wie nach einem gemeinsamen Plane, hat jeder Hausherr

daö Portal seines Schlosses genau in eine Linie gerückt mit dem gegen­

überliegenden Thorweg, also daß der Wanderer in der engen Gasse stetzweimal, nach links und rechts, den malerischen Durchblick genießt durch die Bogengänge der Höfe bis zu dem Brunnen in der hintersten Nische. In Vicenza gab eine Generation reicher Signoren die ganze Stadt wie

einen Klumpen weichen Thones in die Hände eines großen Künstlers, daß

er sie forme, und mit welcher souveränen Geringschätzung deS Geldes hat

Palladio seinen Auftrag vollzogen! In Florenz, zur Zeit da sechzig Banken

den Verkehr der reichen Stadt vermittelten, baute sich ein Bürger jene-

HauS, das heute als das gewaltigste Königsschloß der Erde gilt.

Nach

den Erfahrungen der modernen Geschichte scheint es mindestens zweifelhaft, ob ein Volk, daS nur aus Armen und behäbigen Mittelklassen bestände,

einen so reizbaren Schönheitssinn zu hegen vermag; ganz sicher aber, daß

nur ein sehr reicher Mann die Cyclopischen Massen deS Palazzo Pitti er­ bauen lassen konnte.

Ein wahrhaft lebendiges Kunstgefühl der Reichen

steht immer in Wechselwirkung mit der ästhetischen Bildung deS ganzen

Volkes; in denselben Tagen, da jene Paläste entstanden, rottete sich der große Haufe der Florentiner drohend zusammen, weil er ein neue- Ma­ donnenbild an einem Stadtthore unschön fand. — So bleibt von der Gütervertheilung nach den Leistungen und Tugenden

nicht- Haltbares übrig als einige längst bekannte dürftige Sätze, die sich

aus anderen, klareren Vordersätzen richtiger ableiten lassen.

Ihre Lehre

ermangelt des festen philosophischen Bodens, praktisch arbeitet sie nur

den Socialdemokraten in die Hände.

Sie wird unsere Socialisten von

Neuem veranlassen die Gesellschaft himmelschreiender Ungerechtigkeit zu be­ zichtigen und sich dabei auf Ihren guten Namen zu berufen. Sie nennen

Sich selbst einen radikalen Tory-; mich gemahnen Ihre Gedanken vielmehr an daS zweite Kaiserreich, den einzigen Staat unserer Tage, der in einer hochentwickelten Volkswirthschaft das System de» socialisme autoritaire

durchzuführen versuchte.

Vermuthlich denken Sie bei dem unklaren Namen

an jene englischen Arbeiterfreunde, die man einst

nannte.

Gut denn; aber dann erwägen

christliche Socialisten

Sie auch, daß keiner dieser

trefflichen Männer den Parteien deS Umsturzes jemals etwa- Anderes

entgegengebracht hat als offene Feindschaft.

Sie tadeln mich, weil meine

scharfen Worte den Socialismus nur noch mehr erbittern könnten. es denn unwahr was ich sagte?

War

Zeigew Sie mir ein einzige- einfluß­

reiches socialdemokratisches Blatt, das nicht die Gottlosigkeit, nicht die

Verachtung des Vaterlandes, nicht den wüsten Klaffenhaß predigte!

Ich

wußte zum voraus, daß die Masse jener Partei von meinen Worten nicht-

erfahren würde alö was die entstellenden Berichte ihrer Partelblätter ihr

mittheilten.

Ich schrieb für gebildete Leser und wollte diesen zeigen, e-

sei hohe Zeit, uns entschlossen lo-zusagen von jenen Lehren de- Unsinn-,

die den Arbeiter der Verwilderung in die Arme treiben. Auch unter Ihren F-reünden beginnt diese Ueberzeugung überhandzunehmen; Th. v. d. Goltz hat sie soeben mit schöner Offenheit ausgesprochen.

Ich würdige gleich

Ihnen die Verkettung der Thatsachen, welche die deutsche Socialdemokratie nochwendig hervorgerufen haben, wie ich auch die geschichtlichen Ursachen

der Mramontanen Bewegung anerkenne; die- historische Verständniß schließt doch die ehrliche Bekämpfung beider Parteien nicht aus.

sind immer schöpferisch und lebenskräftig,

Radikale Parteien

wenn sie einen gänzlich ver­

rotteten Zustand bekämpfen; unter dem alten Deutschen Bunde waren wir Alle radikal.

In einer Gesellschaft, die redlich an möglichen Reformen

arbeitet, verfällt der Radikalismus der Entsittlichung und Lüge. —

Doch — cela est bien dit, mais il saut cultiver notre jardin. Mit allgemeinen Gesellschaftstheorien ist den socialen Leiden der Gegenwart

wenig gedient, nur mit durchdachten, aus sorgfältiger statistischer Forschung hervorgegangenen Ref>ormen.

Die verlockenden socialen Programme, wo­

mit unS der" Büchermarkt an jedem Tage beschenkt, erinnern mich lebhaft an jene „Wünschzettel", die der Liberalismus vor Zeiten liebte; auf die DurchbildE und Ausführung kommt hier Alles an. Vielen Ihrer prak-

tischen Bdrschläge kann ich mit einigen Vorbehalten zustimmen, und ein

Mann, der Ihnen als

Ansicht.

ein arger Manchestermann gilt,

ist ■ derselben

Wollen Sie ohne Silbenstecherei ruhig lesen, so werden Sie

z. B. finden, daß mein Urtheil über den Arbeitsertrag, da- Ihnen so

widerspruchsvoll scheint, von dem Ihrigen nur um wenige Schritte ab­ weicht.

Ich setze aber meine Hoffnung nicht so auschließlich wie Sie auf

die Krone «nd das Beamtenthum.

Die Alleinherrschaft des „buchgelehrten,

besitzlosen, heimathlosen" BeamtenthumS — wie der Freiherr vom Stein

zu schelten pflegte — hat zwar Unvergeßliches geleistet für deu socialen Frieden, doch sie war nur möglich in einem verarmten, politisch unmün­ digen Volke.

Inzwischen haben unsere besitzenden Klaffen sich längst den

gebührenden Antheil an Gesetzgebung und Verwaltung erobert; nnd ich

sehe nicht ein, warum sie, unter der Leitung einer allezeit volk-freundlichen

Krone «ud unter Mitwirkung eines von wirthschaftlichen Klaffeninteressen

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 4.

30

wenig berührten Beamtenthums, nicht ebenso viel Gerechtigkeit gegen hie

niederen Klassen beweisen sollten, wie die besitzenden Klassen

Englands

nnd der Schweiz ohne jene Leitung schon bewiesen haben. Dazu ist nöthig, daß die besonnenen Freunde der Arbeiter einen häus­

lichen Streit beilegen,

der allmählich Sinn und Zweck verliert.

Das

Manchesterthum diesseits wie jenseits des Canals ist nach grausamen Erfah­

rungen von vielen Illusionen geheilt.

Um Ihnen eine kleine Freude zu be­

reiten, will ich hier — als schlechthin einziges Zugeständniß — einschalten,

daß ich meine Worte über die Manchesterschule heute ein wenig verändern

würde, freilich nicht in Ihrem Sinne. Gezwungen, den Stoff zusammenzndrängen, habe ich dort nicht angeben können, wie mannichfach das Verhältniß

der englischen Parteien zu den socialen Fragen gewechselt hat. Die schwersten

UnterlaffuvgSsünden des Staates gegenüber den arbeitenden Klaffen fallen in die langen Jahre der Herrschaft der Torys.

Mit dem neuen Armen­

gesetze, dem Werke der Whigs, versuchte der Staat endlich zum ersten male sich der Verwahrlosten anzunehmen.

Aber die erste nachhaltige Ber-

befferung ihres Looses kam den Arbeitern durch das Korngesetz, und darum ist der Manchestermann Cobden, der dies Geschenk den anfangs wider­ strebenden Maffen brachte, unbestreitbar der größte unter den Wohlthätern

der arbeitenden Klassen von England.

Seitdem beginnt die fürsorgende

Thätigkeit der parlamentarischen Gesetzgebung.

Die Mauchesterschule hat

dabei oft und schwer gefehlt durch ihr doktrinäres Mißtrauen gegen das

patemal government;

doch sie hat diese Haltung allmählich geändert,

Gladstone zählt heute zu den wärmsten Freunden der Arbeiter:.

Die deut­

schen Freihändler sind von Haus aus weniger einseitig und namentlich zu

jeder Zeit gute Patrioten

gewesen, ganz frei

Träumen der englischen Schule.

van

den

kosmopolitischen

Heute wird grade in ihrem Kreise sehr

eifrig jene Wiffenschast gepflegt, die für alle socialen Reformen den Weg bahnen

mnß:

die sociale

Statistik.

Ich

bekenme gern,

daß

ich

auö

den thatsächlichen Mittheilungen in Böhmerts „Arbeiterfreund" mehr gelernt habe als aus mancher anspruchsvollen Theorie der Sociallehre. Die Reichsregierung hat eine umfassende Enqußte der Arbeiterverhält-

niffe veranstaltet und bereitet ein Fabrikgesetz vor.

Die sociale Frage beginnt

endlich sich in eine lange Reihenfolge praktischer Einzelfragen zu zerlegen. Der Zeitpunkt ist günstig; der Niedergang der Geschäfte und das Sinken

der Löhne, das dem gewaltsamen Anschwellen nothwendig folgen mußte, hat die socialdemokratische Bewegung für einige Zeit ins Stocken gebracht; unberührt von Haß und Furcht kann der Reichstag an die Arbeit gehen.

Ist e» verständig, in solcher Lage das Banner einer neuen wirthschaftlichen „Partei" zu entfalten «nd über den „Bankrott" den Gegner zu jubeln —

einige Sonate, ncichdem diese Partei über die Bestrafung deS Contractbruchs zu Eisenach fast das Nämliche beschlossen hat wie vorher die Gegner zu Mainz? Niemand erwartet von Ihnen einen unfreiwilligen „Bruder­ kuß", wie Sie eS nennen; ich wünsche Ihnen nur den Takt des praktischen Politikers, der um der Sache willen doktrinären Eigensinn überwindet. Zum Schluß versichern Sie nochmals, daß Sie einseitig sein wollen wie alle Vertreter neuer Gedanken, und auf derselben Seite halten Sie sich berufen, mir das Urtheil zu verkünden, das die unparteiische Nachwelt über mich fällen wird: sie wird mir jene Aufsätze verzeihen, weil ich selber ganz einseitig, bald gegen rechts, bald gegen links gewendet, für die Ein­ heit Deutschlands gestritten habe! — Nun wohl, diese Einseitigkeit, die bald nach rechts, bald nach links blickt, hoffe ich mir auch bei der Beur­ theilung wirthfchastlicher Dinge zu bewahren. Zu der Höhe Ihres Selbst­ gefühls kann ich mich jedoch nicht aufschwingen ; ich wage heute noch nicht mit Sicherheit voranszusagen, ob die Nachwelt Ihnen Ihre Gütervertheilung verzeihen wirb.' Nur für die nächsten Jahre, die vor «nS liegen, will ich eine Weissagung wagen. Ihre VereinSgenoffen haben sich in Mehre­ ren Blättern häuslich eingerichtet — leider auch in dem Literarischen Centralblatt, das ich fouft wegen seiner Unbefangenheit schätze — und führen dort das kritische Richterschwert mit einer ungeschminkten Parteilich­ keit, die mir unter deutschen Gelehrten Neu ist. An Beifall wird es Ihnen also nicht fehlen; auch der wohlverdiente Dank der Socialdemo­ kratie ist JhneA sicher. Ich hoffe aber, Ihr nüchterner Sinn wird sich von solchem Lote nicht berauschen lassen. Sie werden fortfahren die sociale Bewegung aufmerksam zu verfolgen und früher oder später bemerken, daß der ÄWiter auf der Welt keinen ärgeren Feind hat als jene Demagogen,

die ihm den Frieden der Seele und das Ehrgefühl der Arbeit zerstören. Sobald Sie das erkannt, werden Sie Ihre Worte sorgsamer wägen und unzweideutig zeigen, daß Sie mit dieser Richtung Nichts gemein haben wollen. Sie werden erfahren, daß eine wesentlich theoretische Parteibrkdung in Zeiten praktischer Reformen sich nicht halten läßt; der Mißerfolg deS letzten Eisenacher CongreffeS redet laut genug. Beginnen dann die parlamentarischen Verhandlungen über Fabrikordnnngen und Arbeiterver­ hältnisse, so werden Sie mit Ihrem treuen Fleiße und Ihrer bewährten Fachkenntniß redlich milzuhelfen suchen und manchen Mann als einen Ge­ sinnungsgenossen schätzen lernen, den Sie heute als einen verblendeten Gegner tief verachten. Und vielleicht urtheilen Sie dann auch Lbed jene Anfsätze sogar noch milder als Ihre Nachwelt. 10.April. Heinrich von Treitschke.

Politische Correspondenz. Berlin, 12. April 1875.

So still und geschäftSlos, wie das Jahr 1874 nach dem Zeugniß des Fürsten BiSmarck war, scheint daS Jahr 1875 nicht verlaufen zu wollen.

Seit

einigen Wochen find Zeichen aufgetaucht, welche wenn nicht auf Sturm, doch

mindestens auf zweifelhaftes Wetter deuten.

Jene Zuversicht auf einen langen

Frieden, die wir aus der tiefen Zerrüttung Frankreichs schöpften, fängt an er­

schüttert z« werden.

Statt an daS Wort Gambetta'-, daß Frankreich 10 Jahre

Vorbereitung zur Revanche gebrauche, denken wir jetzt mehr an de« Ausspruch Moltke'S, daß Deutschland 50 Jahre lang den Erwerb des Frankfurter Friedens

mit dem Schwerte werde vertheidigen müffen.

Frankreich hat schneller gezahlt

und schneller sich erholt, als man früher annahm, und mit der Wiederkehr seiner

Kräfte steigert sich auch in den übrigen Staaten die Rührigkeit der unS feindlichen

Parteien. Sie haben in dem UltramontaniSmuS ihr vermittelndes Band. In den

Wiener Hofkreisen wie in der italienischen Consorterie, im Cabinet Mac Mahon's

wie im Ministerium d'Aspremont-Lynden sind die römischen Einflüsse mächtig, arbeiten nach einem Plan, suchen gegen unS daS Terrain zu erobern, neue

Allianzen zu flechten. Die Clericalen in Deutschland verwahren sich freilich gegen den Borwurf einer Verbindung mit dem Ausland; aber daS Ausland rechnet auf sie.

Bischof Kettler erllärt den von Europa garautirten Religions­

frieden für gebrochen, ja die baierfche Winkelpreffe predigt offen den Religions­

krieg und verlangt, daß das katholische Oestreich den Franzosen die Hand gegen die norddeutschen Ketzer reiche.

Wenn in Folge der Neuwahlen im nächsten

Herbst daS baierfche Ministerium stürzen nnd König Ludwig sich einschüchtern

lassen sollte, so wird die römische Kriegspartei ihr Hauptquartier in München

aufschlagen.

Sie wird, indem sie die Gemüther für den Verrath am Reich

wissenschaftlich vorbereitet, bei gewissen ausländischen Höfen den Eindruck her­ vorzurufen suchen, daß sie durch Unterstützung der französischen Waffen das

Signal zum Abfall des katholischen Südens geben könnten, daß eS jetzt noch

Zeit sei, den Bau deS Deutschen Reichs zu zertrümmern, die alte Herrschaft über Deuffchland wiederzugewinnen.

So verknüpft sich der Kampf zwischen

Kaiser »nd Pabst mit den in den letzten beiden Kriegen unterlegenen Interessen und Parteien.

Ob und wie weit durch Vorspiegelungen dieser Art die bis­

herige» intimen Verhältnisse zwischen einzelnen Mächten schon erkaltet sind, läßt sich für die, welche anßerhalb der diplomatischen Zunft stehen, nicht er­

kenne».

Wir beobachten nur seit einigen Wochen eine ungewöhnliche Be-

wegung in unserer Politik.

Zu Anfang des Monats erschienen die drei Bot­

schafter in Paris, London und Wien zur Conferenz mit ihrem Chef; vorher war Herr von Radowitz

von

seiner Petersburger Mission zurückgekehrt,

unser

Militärbevollmächtigter am russischen Hof, General von Werder weilte vor Kurzem hier.

Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung

seines Kanzlers beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in Vertretung feines Kaiserlichen Vaters nach

als einfacher Tourist im strenge» Incognito. diese Vorgänge aus politischen Motiven.

Italien,

Das Publicum

sondern

erklärt

sich

ES versteht nicht, wie die Reise

deS Kaisers vor Ostern trotz der Aerzte beschloffen und nach Ostern

bei

steigendem Wohlbefinden Sr. Majestät auf ihr Andriygen aufgegeben werden konnte.

Sollte eS hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem

Charakter der kronprinzlichen Reise.

Warum ist auf die officielle Begegnung

deS Deutschen Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalieni­ schen Stadt auf einmal Verzicht geleistet? ES müssen doch Zwischenfälle vorgekömmen sein, die eS für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den biS vor

kurzem beabsichtigten Plan fallen zu lasten.

Als im Sommer 1873 »ach dem

Sturze von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Be­

freiung des „Gefangenen im Batican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach dem deutsche» Bundesgenoffen den Kömg Victor Emanuel bis »ach Berlin.

Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt bereits

etwas moderirt z« haben. Eine so schwache Regiemng, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn

sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt.

Die

französische» Rtstunge» gelten zur Zeit nur «ns, und nach alter savoyischer Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend auSgebeutet ist, Taxiren wir die Stimmungen — nicht des Volks, aber der regierenden Kreise

Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Rüstungen sich entwickeln, ihre Stimmungen gegen u»S lauer werden; die Rückkehr der Wärme

haben wir dann nach den ersten siegreichen Schlachten zu erwarten.

Jene

Rüstungen aber sind in ein Stadium getreten, welches die allgemeinste Anfmerksamkeit erregt.

Eö ist ei« Unterschied zwischen militärischen Reformen

und zwischen KriegSvorbereituugen.

Jede Berbefferung des Heerwesens be­

zweckt freilich auch eine größere Schlagfertigkeit für den Krieg, aber wenn

sie ei» Maß mnehält,

welches dauernd von

dem Volke getragen

werden

kann, so ist die eifrigste Sorge für die Vervollkommnung der militärischen Ein­

richtungen kein Grund zur Beschwerde für die Nachbarstaaten.

Alle Mächte

Europa'« habe» nach den Erfahrungen der beiden letzten Feldzüge ihre Armee», und deren Bewaffnung reformirt.

Die allgemeine Dienstpflicht ist nicht nnr in

Frankreich, sondern auch in Rußland und Oestreich eingeführt; für die Infan­ terie sind weittragende Gewehre beschafft, die Geschütze und die Kampfweise der

Artillerie sind oder werden nach deutschem Muster allenthalben umgestaltet. Die Unglücksfälle von 1870 deckten den Franzosen schwere Mißstände auf, deren Be-

Politische Corresponbenz.

450

seitiguttg das selbstvetstäMiche Recht jeder unabhängigen Nation ist. Sie reorganisirten mit erstaunlicher Raschheit die zerrüttete, aus der Gefangenschaft

heimkehrende Armee.

Sie knüpften ihre Reformen an den Punkt an, wo Mar­

schall Niel 1868 hatte stehen bleiben müssen.

Die Feldarmee, über welche

Napoleon III. beim Ausbruch deS Krieges gebot, zählte in erster und zweiter Linie nur 336,000 Mann.

Dieses Stärkeverhältniß entsprach weder der poli­

tischen Stellung deS Landes noch der Wehrkraft der Nachbarstaaten. Auch eine Regierung, die keinen Angriffskrieg im Auge hatte, durfte daran denken, es zu

ändern, die jährliche Recrutirung und die Zahl der Reserve» zu erhöhen. Das Gesetz vom 27. Juli 1872 verfolgte dieses Ziel; es hob die Stellvertretung des Recruten durch den schon gedienten Soldaten, die Befreiung der besitzenden Klaffen auf, es führte die allgemeine Wehrpflicht ein. Das Gesetz vom 24. Juli

1873 schuf im Interesse der rascheren Mobilmachung eine der deutschen ähnliche

Organisation; eS stellte die höheren Verbände der Brigaden, Divisionen und ArmeecorpS bereits für den Friedensstand her, gliederte das französische Terri­

torium in CorpSbezirke, und theilte die beurlaubten Reservisten dem Regiment zu, welche- sich ihrem Wohnort jedesmal am nächsten befindet.

Indeß schon in

jenem ersten Gesetz, noch mehr aber in seiner praktischen Durchführung lag ein Moment, welches von Jahr zu Jahr mehr unsere ernste Beachtung forderte.

DaS Gesetz behielt neben der neueingeführte» allgemeinen Wehrpflicht den Sjährigen Dienst (5 Jahr activ, 4 in der Reserve) in der Feldarmee bei, und legte mit rückwirkender Kraft einem jeden Franzosen noch eine 11jährige Verpflichtung

für die Territorialarmee (Landwehr) auf.

Durch die letztere Schöpfung wollte

man den Bedarf an Mannschasten für die Festungen, Städte und die innere Landesbewachung gewinnen, um die 9 Jahrgänge der Feldarmee ungeschwächt

gegen den Feind werfen zu können.

Zu diesem Zweck legte sich ein Volk, daS

bisher nur eine Berufsarmee befaß, den spartanischen Zwang einer 20jährigen Wehrpflicht auf.

Da jedoch die Territorialarmee bis zum vorigen Jahre nur

auf dem Papier stand, da sie bis heute schwerlich eine solidere Existenz ge­

wonnen haben wird, so liegt auch hierin bis jetzt kein Grund der Bimmuhigung. Anders steht eS mit den 9 Jahrgängen, die zur Feldarmee gehören, und die von Jahr z« Jahr eine gewaltigere Maffe darstellen. Deutschland recrutirt bei

einer Bevölkerung von 41 Millionen jährlich 130,000 Mann, Frankreich hat seine Aushebung bei 36 Millionen Einwohnern seit 1872 auf 150,000 Man» erhöht.

Um diese anschwellende Armee zu ernähren, zu bekleiden und zu be-

wasfiien, hat es im Jahre 1874 im ordentlichen und außerordentlichen Budget 164 Millionen Thaler verausgabt, während unser Militäretat auch nach der jüngsten Vermehrung des Präsenzstandes immerhin nur auf 112 Millionen Thaler gestiegen ist.

Auch jene, auf die Dauer unmögliche Ausgabe, hat nicht hinge­

reicht, um die gesummte Recruteuzahl für längere Jahre unter die Fahnen zu

stellen.

Denn eine maffenhaste Aushebung und die lange Dienstzeit einer Be-

rufSarnlee sind finanziell und volkSwirthschaftlich mit einander nicht verträg­ lich.

Man hat also die Recruten in zwei Porsionen getheilt, und stellt etwa

90,000 Mann auf 5, thatsächlich wohl nur auf 4 Jahre ein, während man den Rest, die deuxidme portion, nach jedesmal 6 monatlicher Waffenübnng beurlaubt. Trotz dieser Beschränkung hält Frankreich durchschnittlich 471,000 Mann unter de» Waffen, während unsere Friedenspräsenz bis vor kurzem kaum 370,000, und erst jetzt 401,000 Mann beträgt. Indeß auch auf diesen Unterschied deS Frie­ densstandes legen wir wenig Gewicht, da er nichts für die Stärke im Krieg beweist; selbst die 9 Jahrgänge zu 150,000 Mann neben unseren 7 Jahrgänge» zu 130,000 sind nicht erschreckend, solange Deutschland seine Landwehr in die Wagschale wirft, während die Territorialarmee nicht organistrt ist. Man hat, um für die letztere gediente Soldaten zu gewinnen, die Jahrgänge von 1866 an abwärts ihr zugewiesen, während alle seit 1867 dienstpflichtig gewordenen Fran­ zosen der Feldarmee angehbren. A«S jener Zuweisung folgt, daß bis zum Sommer 1877, wo für die Klaffe von 1867 die neun Dienstjahre um sind, die Feldarmee keine Reserven verliert, also jährlich nm den gejammten Betrag der neu eintretende» Recruten wächst. AuS diesem Umstande schließt man, daß die Franzose» jene» Zeitpunkt der höchsten Stärke ihrer Armee abwarten werden, ehe sie loSschlagen. Allein an Mannschaften hat Frankreich schon heute keinen Mangel, da ihm außer den gewöhnlichen Recrutirungen die enormen Aushebungen der beiden KriegSjahre zu Gebote stehe». Enffcheidender ist, wie weit e- mit der Bildung der CadreS gediehen ist, in denen jene Maffen formirt und für den Krieg ver­ wendbar gemacht werden sollen. Und gerade hier sind die Fortschritte, quanti­ tativ wenigstens, erstaunlich. Die Zahl der Feldbatterien war bis zum vorigen Frühjahr von 164 auf 323 gestiegen, also verdoppelt, und sie sollte bis auf 380 gebracht werden. Die Cavallerie war um 56 Escadrons gewachsen. Die Feld­ bataillone, zur napoleonische« Zeit 372, waren bis auf 496 vermehrt. So schritt man auf dem Wege der Thatsachen vorwärts, ehe das schon lange in Aussicht genommene Cadregesetz zur Berathung kam. Die Formationen waren fertig, als man daran ging sie zu legalisiren. Und nun geschah während der Berathung jenes Gesetzes ein neuer Schritt, der an Tragweite alle bisherigen übertrifft. Man vermehrte die CadreS der Infanterie mit einem Schlage um abermals 149 Bataillone. Der Beschluß wurde dem Ausland einige Zeit verdeckt durch den Lärm des BerfaffungSkampfS; er wurde offieiell motivirt durch das Be­ dürfniß, die 1200 Capitains unterzubringen, welche durch die Zusammenziehung der bisherigen 6 Compagnien deS Bataillons in 4 überzählig würden. In Wahrheit muß die Maßregel parlamentarisch wie militärisch längst vorbereitet gewesen sei«. Am 13. März erschien das Gesetz 'und schon am 5. April war, wie der Moniteur triumphirend verkündete, die Maßregel „eine vollendete That­ sache". In drei Wochen organistrt man aber nicht 149 Bataillone; zu der Durch­ führung deS neuen Gesetzes waren also längst die Anordnungen gettoffett. ES handelte sich darum „den Jnfanteriemaffen anderer Großmächte die Spitze bieten zu können"; zu diesem Zweck wurden 175 Feldbataillone mehr geschaffen, als die deuffche Armee zählt.

Politische Corresponbenz.

452

Dieser neue Beschluß geht weit über die dauernde Leistungsfähigkeit Frank­ reichs hinaus, er erschwert noch die Last deS Budgets, wofür die ordentlichen Einnahmen schon längst nicht ausreichten; er würde unsinnig sein, wenn er den Krieg nicht in den nächsten Jahren zum Ziel hätte. So entsteht nun die Frage:

Sollen wir den Feind sich rüsten lassen, bis der für ihn günstigste Augenblick zum LoSschlagen gekommen ist?

Fürst Bismarck hat darauf schon im Januar

1873 offen geantwortet. Alle ehrlichen Leute in der Welt müssen unS bezeugen,

daß wir den Krieg mit Frankreich so wenig suchen, als 1870.

Wir würden

m Verlegenheit sein, welchen Preis wir nach einem zweiten glückliche» Feldzug ihm abverlangen sollten. Aber die Hände in den Schooß legen, bis der Gegner

marschirt, können wir unmöglich.

Will Frankreich in zwei Jahren schlagen, so

werden wir im Interesse der Selbsterhaltung vielleicht gezwungen sein, eS früher zum Schlagen zu bringen. Hat Frankreich Aussicht mit dem Anwachsen seiner Armee

größeres Vertrauen auf eine Wendung seines KriegSglückS zu finden und alte Sym­ pathien wieder zu beleben, so müffen wir diesen still sich vorbereitenden Allianzen

zuvorkommen. Das klingt ziemlich kriegerisch und ist doch nur der einfachste Aus­

druck deS gesunden Menschenverstandes. Aber da die Verantwortung für einen — wen« auch uns aufgedrungenen, von unS nur beschleunigte» Krieg ungeheuer ist,

so wird auch ein solcher Entschluß nur aus der sorgfältigsten, militärischen wie diplomatischen Prüfung der Lage hcrvorgehen können. Friedrich der Große sah den dritten schlesischen Krieg lange voraus, aber er brach in Sachsen erst ein, als

daS Netz der europäischen Verschwörung nicht mehr anders zu zerreißen war.

Wann für uns der Augenblick gekommen fein wird, wo wir Frankreich die Wahl zwischen Abrüstung oder Krieg stellen, kann nur der Reichskanzler mit Hülfe Moltke'S entscheiden.

Die Anleihe von 800 Millionen Francs soll man in

Paris wieder aufgegebe» habe».

Zur Zeit scheint eS also nicht, als ob «ns

eine nahe Gefahr drohe. —

In der gewaltigen Entwicklung deS letzten Jahrzehnts hat Preußen an dem Czaren Alexander den treuesten Freund gefunden.

Er war der Rückhalt, durch

den gedeckt, wir gegen den Gegner in der Front unsere volle Kraft entfalten

konnten.

DaS deutsche Volk hat es wohl im Gedächtniß, wie bedeutsam dieses

Verhalten für seine Geschicke war; es empfindet für bett Kaiser Alexander auf­ richtige Dankbarkeit und Verehrung.

AuS der persönlichen Freundschaft der

beiden Monarchen und den Handlungen, die daraus hervorginge«, ist ein allge­ meines Gefühl der Sympathie erwachsen; die Parteien in Deutschland, auch die

liberalen, haben in der Beurtheilung russischer Verhältnisse ihre frühere Schroff­ heit und Befangenheit abgelegt.

Ein Schritt z. B., wie die Convention von

1863, welche Bismarck beim Ausbruch des polnischen Aufstandes abschloß, würde heute ebenso emmüthige Billigung, wie damals Mißbilligung finden.

Ob die

gleiche Zunahme sympathischer Stimmungen auch bei dem Adel, dem Beamten­ thum und der Armee Rußlands stattgefunden hat, mag dahin gestellt bleiben, viel­

leicht haben die letzten Jahre wenig Gelegenheit gegeben, die Wahrheit zu ver­

anschaulichen, daß die Freundschaft Deutschlands den russischen Interessen ebenso

förderlich ist, als die Freundschaft Rußlands den deutschen.

Bei de» unver­

änderten Gefinnungen der beiden Monarchen wird auch daS russische Volk Zeit haben, diese Intereffengemeinschaft zu seinem Nutzen zu erproben.

Ein Conflict

zwischen beiden Nationen liegt glücklicher Weise in weiter Ferne.

Als in dem großen Bölkerkampf von 1870 die Würfel für Preußen gefallen waren, empfand auch Oestreich, daß die Weltgeschichte zwischen ihm und seinem alte«

Rivalen entschieden habe.

ES war noch daS Loos deS Grafen Beust, jene Depesche

zu schreiben, worin Oestreich daS Schwergewicht der Thatsachen anerkannte und die

Freundschaft deS neugestaltete» Deutschen Reichs suchte.

Diese Freundschaft ist

ihm ehrlich zu Theil geworden. Oestreich datirt von da ab die innere Beruhigung

seiner Völker, die gleichmäßige Fortbildung seiner BerfaffungSverhältniffe und eine gesicherte und machtvolle Stellung nach Außen.

Den» Deutschland »ahm

eS nun auf sich, die aus dem Krimkrieg herstammende Spannung zwischen Wien

und Petersburg zu lösen, eS vermittelte einen modus vivendi im Orient, der de» Kaiserstaat vor einem einseitigen russischen Vorgehen sicherte und der Agi­

tation der slavische» Stämme den Rückhalt entzog. Erst jetzt begann eine Consolidirung der vielgeprüften, in einigen Jahrzehnten durch ein Dutzend von Ber-

faffungsexperimenten hindurchgehetzten Monarchie auf der Grundlage der Vor­

herrschaft der Magyaren und Deutschen.

Wäre eS möglich, daß diese gesicherte

Bahn wieder veklaffen würde, um auf abenteuerlichen Wegen über Abgründe

hinweg nach den» Luftgebllde der alten Hegemonie in Deutschland zu jage»?

Sollte die Kunst der Beichtväter und der militärischen Heißsporne ein so verhäng­ nißvolles Wagestück plausibel mache» können?

Sollte die Broschüre des Erz­

herzogs Mpomuck Salvator, die gleichzeitig die gänzliche Unbrauchbarkeit der östreichischen Festungsartillerie und das dringende Bedürfniß nach einem Krieg

gegen Deutschland bewies, bei ernsthaften Männern einen Hintergrund haben? Hätte das Bestreben der deutsche» Politik nach einer Verständigung mit alle», ihrer Würde bewußten Staaten zu gemeinsamer Abwehr päbstlicher Uebergriffe

eine Abneigung gerade da geweckt, wo man den Schimpf einer Mchtigkeitser-

klärung deS StaatSgrundgesetzeS hatte erfahren müffen?

Die confefsionelle»

Gesetze werde« im Mai ei» Jahr alt; seit der Dreikaiserzusammenkunft sind im kommenden September erst drei Jahre verfloffen; wohin würde ein Staat ge­ rathen, der in so jähem Wechsel von einer den preußischen Maigesetze» ver­

wandten Kirchenpolitik zum Pabst, von der Allianz der beiden stärksten Mächte

zu Frankreich hinüberschwankte?

Und was würden die Ungarn zu der Ab­

schwenkung sage«, die von den ihnen feindlichen Anhängern deS militärischen

Absolutismus oder deS Föderalismus vollzogen werden müßte? — Für Oestreich

ist der Friede gleichbedeutend mit der fortschreitenden inneren Befestigung und Wohlfahrt; der Krieg — mit dem Zerfall in zwei oder drei Theile. Das Inter­ esse, welches der Kaiserstaat an der Auftechterhaltung deS Friedens und an einer

stetigen Fortführung des jetzigen Regierungssystems hat, liegt so klar vor Augen, daß der neulich von Wie» her ertönende Warnruf über die bedrohte Stellung

Andraffy'S von Vielen nicht recht gewürdigt wurde.

Und doch — woher kämen

Politische Correspondenz.

454

die weltgeschichtlichen Katastrophen, wenn die Illusionen und Leidenschaften nicht zuweilen Herr über die Vernunft würden? Kaiser Franz Joseph bewies viel Selbstüberwindung, als er zur Begrüßung Vietor Emanuels die Stadt Venedig wählte; stärker konnte er kaum auSdrücken, daß die Erinnerung an den herrlichen Besitz seines HauseS für ihn

versunken und vergessen sei.

Wiener Mittheilungen lassen den Kaiser sogar

eine Ansprache in diesem Sinn an den König von Italien halten. Zeit zu politischen Geschäften in dem Rausch der Festlichkeiten

wissen nur die Eingeweihten.

Wie viel

übrig blieb,

Officielle Berichte auS Wien heben hervor, daß

die begleitenden Minister und Räthe sich über einen Handelsvertrag und eine Eisenbahnlinie, also sehr nützliche und unschuldige Dinge, verständigt hätten. Sonst sei die Absicht der Begegnung gewesen, Italien enger an das Dreikaiserbündniß heranzuziehen. Im Gegensatz hierzu erzählen italienische Blätter von zwei Briefen, welche der Cardinal-Patriarch von Venedig den beiden Monarchen

im Auftrag des PabsteS überreicht habe.

Sicher ist die römische Frage in der

Conversation der Souveräne nicht unberührt geblieben, und eS ist durchaus glaubwürdig, daß sie gegenüber der energischen deutschen Politik sich in dem

Gedanken zusammengefunden haben, eS müße jeder Staat in jener Frage seine

besonderen Wege gehen.

In Oesterreich scheint mit den confessionellen Gesetzen

die Kraftanstrengung gegen die Curie erschöpft zu sein.

In Italien aber ist

man zwar bereit unseren Streit mit dem Pabstthum zu benutzen, aber sehr wenig geneigt daran Theil zu nehmen.

Je heftiger der Kampf zwischen Rom und Deutschland tobt, desto leichter

glauben die italienischen Minister eine „Versöhnung" mit dem Pabst erreichen zu können. Diese Seite unserer Anstrengungen gefällt ihnen sehr wohl.

Selbst

die diplomatische Besprechung deS GarantiegesetzeS, so lange sie nur nicht zu po­ sitiven Forderungen fortschreitet, hat für Italien den großen Vortheil, daß die

Bewohner deS Vatican in Angst gerathen und eine plötzliche Begeisterung für die Einheit, Größe und Unabhängigkeit Italiens empfinden.

Der Umschwung in

der Sprache der päbstlichen Blätter bei dem ersten Austauchen jener Frage war überraschend. All die feierlichen Proteste der Curie gegen daS Werk „der Lüge,

der Verschlagenheit und deS Hohns", welches unter dem Borwand, die Kirche zu

schützen, ihr einen „eilfhundertjährigen" Besitz rauben und den Pabst der Herr­ schaft eines anderen Fürsten unterwerfen wolle, waren mit einem Male ver­

gessen.

Die Frage des Kirchenstaats trat völlig in den Hintergrund.

Die

Jesuiten machten die merkwürdige Entdeckung, daß das Pabstthum zu allen Zeiten das mächtigste Bollwerk für die Unabhängigkeit Italiens gewesen sei. Um diesen kostbaren Schatz vor dem Eingreifen deS preußischen Despoten zu

schützen, öffnete die Curie dem bedrängten Italien ihre Arme.

Nur unter der

Führung deS PabstthumS, so hieß eS, als Glied jener furchtbaren sich erneuern­ den „Liga" der katholischen Mächte wird Italien den neuen Einbruch deS KaiserIhumS von sich abwehren können.

Die italienischen Minister sind zu nüchtern, um diesen jesuitischen Traum-

bildern zu folgen, aber sie sind auch zu schwach und durch die Phrase don der freie» Kirche im freien Staat, sowie durch die alten Sympathien der Consorterie für

Frankreich zu sehr beherrscht, um an der Seite deS deutschen Reichs entschiedene Stellung zu nehmen. Für unsern Kampf mit dem Pabstthum hat die Mehrzahl

der gebildeten Italiener kein Verständniß.

Gänzlich «nkirchlich wie sie sind, be­

greifen sie nicht, in wie hohem Maße bei einem religiös ernsten Volk die kirchliche Seite jener Institution zur Verwirrung der Gewiffen benutzt werden kann. Die Wirkungen der heillosen PreiSgebung aller Staatshoheitsrechte über den CleruS,

deren das Garantiegesetz sich schuldig macht, empfinde« sie noch nicht, die Bulle« und Bannflüche lassen sie gleichgültig, und sie meinen,' daß auch wir pedantische

Deutsche» dieselben nicht so tragisch nehmen sollten.

Hinter dieser Indiffermz

steckt aber daS Interesse an der Conservirung einer Institution, welche der

Stadt Rom ihren Glanz verleiht, Millionen Geldes als PeterSpfennig «. f. w. jährlich dahin strömen läßt und de« Italienern den Vorzug giebt, als hohe

Würdenträger der Kirche die katholische Welt zu regieren. Im Interesse seiner nationalen Einheit hat Italien sich den Kirchenstaat einverleibt.

ES hat dadmch

bewirkt, daß die andern Mächte keinen direkten Angriffspunkt gegen bett Pabst mehr finden, wenn derselbe seinen kirchlichen Einfluß zu politische» Uebergriffen

mißbraucht.

Gleichzeitig aber hat eS den Pabst, der jetzt innerhalb des König­

reichs lebt, mit der Ssuveränetät und der vollen Freiheit in der Ausübung seiner Funktionen bekleidet, und keinen Vorbehalt für den Fall gemacht, daß er

zu diesen Funktionen auch die Aufwiegelung fremder Unterthanen gegen die Ge­ setze ihres Staats und vie Anstiftung des Bürgerkriegs rechnet. DaS Garantie­ gesetz ist ein innerer Widerspruch, der entweder daS Pabs^hum zur Aus­

wanderung aus Rom zwinge» oder Italien mit seine» völkerrechtlichen Ver­

pflichtungen in Conflict bringen muß.

Die Regierungspartei in Italien setzt sich über den Widerspruch hinweg. Sie will den Nutzen «icht preisgeben, welchen die Domicilirung deS PabstthumS

in Rom für sie hat.

Sie lchnt also jede Pression auf de« Vatican ab.

Wir

Deutsche sollen in Geduld den Schade» tragen, der a»S der zügellosen Freiheit deS landlosen PabWnigS für «nS hervorgeht.

In seiner Schrift über die „vatikanischen Decrete"

wirft Gladstone die

Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Emir bei ihrem sichtbaren Stre­ be», Europa in eine» Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der Ansicht,

daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute davon zu tragen hoffe.

Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katholischen Liga

vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der Aussöhnung

zwischen Italien und dem Pabst die Rückgabe deS Kirchenstaates zu fordern.

Im Gegenthell; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu Belegen für eine

weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja 1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz daS Patrimonium Petri bis auf den leo-

niuifchen Theil der Hauptstadt angetragen haben.

Vielleicht weist man nach,

daß dieses Angebot der Curie nicht ftemd war, oder beruft sich darauf, daß

Politische Eorrespondenz.

456

schon im April 1871 der Pabst vor dem Botschafter Frankreichs

erklärte:

„AlleS was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo ich Herr sein kann' Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zurückzugeben, so würde

ich es nicht annehmen."

Freilich gehörte zu dem kleinen Stück Land auch Rom;

aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen Versprechungen begnügen wollen,

warum sollte'man ihnen nicht auch den Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? — Der Pabst hat die Gewalt, zu binden und zu lösen.

Ist Deutschland nur erst

niedergeworfen, so kommt man über Eide und Versprechungen schon hinweg.

Angesichts des allgemeinen Verlangens der katholischen Welt würde die Curie dann nicht umhin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden. An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Italiens.

Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavours geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Pabst.

Sie würden keinen Augen­

blick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten französischen Krieg sich weder

bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom Frühjahr 1870 noch einmal auf­ nehmen dürfe.

Man weiß übrigens in Deutschland, daß daS italienische Volk

patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung. Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen Frankreich den Unabhängigkeilsinn verloren.

Setzten wir auf dieses gesunde Volksgefühl, daS im entscheidenden

Momente zum Durchbruch kommen wird, nicht unsere Hoffnung, so würde die

Haltung, welche die italienische Regierung in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn nur solange Italien seine Interesien als

solidarisch mit den unsrigen anerkennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies einmal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage:

welches Interesse haben wir daran, daß Rom nnd Vivita Veechia von italie­

nischen statt von päbstlichen Behörden regiert werden? Die letztere Regierungs­ weise ist freilich schlechter als die erstere, aber wir haben nicht die Aufgabe, unter eigenen Opfern für die Wohlfahrt fremder Völker zu sorgen.

Können

wir durch Verzicht auf solche Sorge bei uns den Friede» und die Unterwerfung

unter das Gesetz herbeiführen, warum sollte uns die Heimath nicht näher an­ Sollte das deutsche Volk durch die Verkehrtheiten der

gehn als die'Fremde?

italienischen Politik jemals zu solchen Reflexionen gebracht werden — der Zeit­

punkt, sie in Thatsachen umzusetzen, würde bald genug gekommen sein.

Italien verdankt den deutschen Waffen Venedig und Rom; Belgien ver­ dankt ihnen, daß es überhaupt noch existirt.

Am 24. Juli 1870 veröffentlichte

die Times jenen berüchtigten Allianzentwurf, welcher Preußen den deutschen Süden überließ, wenn dasselbe die Erwerbung Luxenburgs und die Eroberung Belgiens zulassen wollte.

Die diplomatischen Enthüllungen, welche der franzö­

sische Krieg hervorrief, offenbarten der erstaunten Welt, wie ruhelos die französische

Politik an der Vernichtung des Grenzstaates gearbeitet hatte und wie wenig seine Neutralität ihn geschützt haben würde, wenn der hohe Sinn des preußischen

Staatsmannes eine Regelung der deutschen Angelegenheiten im Bunde mit Frankreich und «m solchen Preis zngelaffen hätte. Führte das Glück der Waf­

fen die französische Armee nach Berlin, statt die deutsche nach Paris, so sie Belgien trotz der papierne» Proteste Englands, dem Sieger zum Opfer. rechnm in

der Politik nicht auf Dankbarkeit,

Wir

aber wir fordern von der

Regierung eines Landes, welches so ohne sein Verdienst dem Untergang ent­ ronnen ist, daß sie wenigstens einige kluge Rücksicht denen gegenüber nehme,

die als willige Werkzeuge der Vorsehung es gerettet habe«.

Man kann doch

nicht wissen, ob diese Willigkeit nicht auch später noch von Nutzen sein wird.

Denn der Gedanke, für den Verlust von Elsaß-Lothringen eine Ent­ schädigung in Belgien zu suchen, liegt den französischen Politikern a«S begreiflichen Gründen sehr nahe. Es würde unS nicht wundern, wenn man von

Paris auS versuchte, vor dem Ausbruch eines zweiten Kriegs oder im Verlauf desselben in dieser Richtung unS Ausgleichungsvorschläge zu machen.

Oder

sollte« die belgischen Kleriealen trotz der Unglücksfälle, welche Frankreich heim­ gesucht haben, die Bereinigung mit der großen Nation der bisherigen Selbst­ ändigkeit vorziehen? — Belgien ist daS Land der konstitutionellen Schablone;

als solches hatte es einst einen Ruf bei den liberalen Parteien, bis die Welt dahinter kam, daß die formalen Grundrechte von den Jesuiten zur Vernichtung

wahrer Bildung und Vslksfreiheit benutzt worden feien. Auch in dieser Ent­ wicklung zum jesuitischen Musterstaat wolle» wir Belgien nicht stören; aber da die Kleriealen, deren ParteidiSciplin so streng ist, die Regierung deS Landes

in der Hand haben, so dürfen wir von dieser Regierung erwarten, daß sie ihre Priester von jeder aufhetzsnden Einmischung in unsere innern Kämpfe fernhält.

Sie kann eS sobald sie mur will.

Ultramontane Manifestationen sind nicht der

Ausdruck individueller Freiheit, sondern sie erfolgen auf Anstiften oder unter Zulassung der geistlichen Oberen, mit denen das Ministerium im besten Einver­

nehmen steht.

Die Berufung auf die „illustren Institutionen" Belgiens kann

diesen einfache» Sachverhalt nicht verhülle».

Der Zusammenhang zwischen dem vaticanischen Concil und den Einflüssen,

welche Napoleon III. in den Krieg trieben, ist geschichtlich ziemlich festgestellt. Ob

anch die Bulle quod nunquam und die gesteigerte Feindseligkeit der Ultramontanen aller Länder mit der Decretirung der 149 neuen französischen Feldbataillone im Zusammenhang steht, wird die Zukunft lehren.

Immer mehr enthüllt sich

der politische Hintergrund unseres kirchlichen Kampfes und je näher wir der weltgeschichtlichen Entscheidung rücken, desto mehr wird die Führung jenes Kampfs

von dem Leiter unserer Politik direkt in die Hand genommen. Von ihm stammt der Gedanke, bis an den Ausgangspunkt unserer verkehrten kirchenpolitischen Entwicklung zurückzugehen und jene Berfaffungsartikel aufzuheben, welche einst

von den Clericalen eingeschmuggelt wurden und seitdem die staatsrechtliche Grund­

lage ihrer ««gemessenen Ansprüche wareni

Gestützt auf den vieldentigen Satz

von der Selbstständigkeit der Kirche schleuderten sie den Vorwurf der Verfassungs-

Widrigkeit gegen jedes Specialgesetz, welches die hierarchische Willkühr beschränkte.

Politische Lorrespondenz.

458

Die Verfaffuiigsurkunde diente als Borwand, um selbst vom bürgerliche« Stand­ punkt aus die Verweigerung des Gehorsams gegen die Gesetze zu legitiiUi-ren.

Dieser Borwand wird jetzt beseitigt, an die Stelle einer sophistisch ausgebeateten Theorie treten die klaren und deutlichen Vorschriften der positiven GesetzgebuUg. Freilich das Rechtverhältniß, wie es vor 1850 zwischen Staat und Kirch« be­ stand, lebt dadurch nicht von selber wieder auf; ob der Verkehr zwischen dem

Pabst und den Bischöfen und die Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen

künftig beschränkt, ob das Ernennung-- und BestätigungSrecht des Staats bei Be­ setzung kirchlicher Stellen wieder in Anspruch genommen werden soll, unterliegt

der nunmehr ungehemmten Entscheidung der gesetzgebenden Faktoren.

Än der

Aenderung der Verfassung liegt also der Antrieb zu einer gesteigerten legislativen

Thätigkeit. DaS ist die Antwort auf den trotzigen Protest der Fuldaer Bischöfe.

Sie ist noch eindrucksvoller als die schneidige schriftliche Erwiderung deS StaatSministeriumS. Die Bildung von selbstständigen Gemeindeorganen zur Verwaltung des lokale» Kirchenvermögens, oder wen» die Bischöfe die Wahlen verhindern,

die commiffarische Verwaltung deS Vermögens durch den Staat; die Sistirung

der Zuschüsse an die gesetzwidrigen Geistlichen auch aus der Gemeindecaffe, die

Auflösung der Klöster und Congregationen — daS sind Maßregeln, die de»

CleruS zur Besinnung bringen, die ihm wenigstens den Ernst des gegen den Staat unternommenen Kriegs fühlbar mache» werden.

Wichtiger noch, als

diese Gesetze, ist die Beseitigung der ultramontanen Verwaltungsbeamte».

Ein

Dwtttheil der Landräthe am Rhein gilt für clerical; einer von ihnen ist so

znm Oberbürgermeister

eben

gewählt,

die Regierung

versagt

ihm

wegen

«ltramontauer Gesinnung die Bestätigung, aber Landrath durfte er bisher Zu dem bedeutenden Amt eines LandeSdirectorS wird von der 'clericalen

sein.

Partei ein Mann ihrer Farbe anSgesucht, und der Oberpräsident der Provinz gewährt ihm, wie eS heißt, seine Protection!

So lange die StaatSregierung

hier nicht Wandel schafft, werden alle Gesetze nur halben Eindruck machen. Man denke an die klassische Aeußerung jenes «ltramontanen LandratHS:

„Wie kann

ich vor einem Ministerium Respect haben, das einen Mann wie mich im Amte

läßt!" Seien wir gerecht auch gegen unsere Widersacher!

An dem Streit, der

heute die Gemüther trennt und verwirrt, tragen wir Alle Schuld, nicht blos die Jesuiten, die Bischöfe und der CleruS.

ES war der Staat Preußen selbst,

feine Regierung, sein Beamtenthum, seine Parteien, die jenen hierarchischen Hoch­ muth großzogen, den wir jetzt um unserer Existenz willen brechen müssen.

haben die Sünden einer ganzen Generation zn büßen.

Wir

Aber well daS Uebel

so tief gewurzelt ist, müssen auch die Heilmittel radicaler sein, als sie irgend

ein anderes Land, die Schweiz ausgenommen, bisher versucht hat.

DaS Pro­

blem, welches wir zu lösen haben, besteht nicht mehr darin, durch starke An­

wendung staatlicher Zwangsmittel einen leidlichen modus vivendi zu schaffen, sondern die katholische Kirchenverfaffung so weil umzugestalten, daß sie mit der

nationalen Einheit deS Reichs und mit den Formen bürgerlicher Selbstverwal-

Politische Torresponbenj.

459

lang verträglich wird. So lange wir einen absolutistisch-büreankratischen Staat hatten, ließ sich mit der Hierarchie leichter fertig werden; wenn sie nach unten unbedingten Gehorsam forderte, so gehorchte sie dafür nach oben. Mit einem parlamentarischen Staatswesen dagegen steht ein Priesterthum im grellsten Wider­ spruch, das nach unten die Maffen wie eine Heerde leitet, nach oben sich zu­ gleich vom Staatswillen emancipirt, und nun all die Freiheitsrechte, deren Uebung nationalen und bürgerlich-gesetzlichen Sinn voranSsetzt, agitatorisch ohne solche BorauSsetznng anSbeutet. Wer jenem Widerspruch scharf nachgeht, wird finden, daß wir jiim Schutz unserer bürgerlichen Freiheit noch tiefe Einschnitte in die sogenannte hierarchische Ordnung machen müssen. W.

Notizen. Die „Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Jahren 1814 bis 1831", welche Theodor v. Bernhardi für die in Hirzel's Verlag erscheinende Staatengeschichte der neuesten Zeit schreibt, ist für

heißhungrige Kritiker ein wahres Leckermahl.

Mit welchem Behagen sind sie

schon über den ersten Band mit seiner ausführlichen Darstellung deS Wiener

Kongreßes, der Schlacht von Belle Alliance und des zweiten Pariser Friedens

hergefallen, und nun bringt die kürzlich erschienene Fortsetzung einen „Rückblick"

von 190 Seiten auf den Entwickelungsgang der europäischen Kultur in Mittel­ alter und Neuzeit und eine Uebersicht der älteren Geschichte Rußlands, welche

mit ihrem Schlußkapitel die Regierung Peters deS Großen eben erst erreicht. Gestehen wir ehrlich, etwas locker ist der Zusammenhang dieser (theilweise übri­ gen- schon einmal veröffentlichten) Einleitungen mit dem Thema einer Geschichte

Rußland- im 19. Jahrhundert,, mag dasselbe auch durch den Zusatz „und der

europäischen Politik" eine vieldeutige Erweiterung erfahren haben; ja selbst dann wenn man die Berechtigung eines solchen Präludiums im Allgemeinen zugiebt, so erscheint doch einiges, wie die englische Verfassung und der Jansenismus,

mit übergroßer Ausführlichkeit behandelt.

Indeß sind wir gewohnt, uns aller

Kinder der Muse zu freuen, mögen sie heißen wie sie wollen, wenn sie nur schön und gut sind, und darüber kann hier kein Zweifel obwalten.

Den Verfasser von Toll's Denkwürdigkeiten, den Autor jener Broschüre,

welche zur Zeit des beginnenden Militärkonfliktes die konfusen Pläne eines

Willisen erbarmungslos geißelte, den Mann, welchen der Chef unsres General­ stabes im Jahre deS böhmischen Krieges würdigte der Ueberbringer des preußi­ schen FeldzugsplaneS in Florenz zu sein, kennen Historiker und Militärs als

einen klaren, kritischen Kopf mit einem nicht gewöhnlichen Talente der Gruppirung und Darstellung.

Jetzt rechtfertigt er nicht nur abermals diesen alten

Ruf, sondern fügt den neuen einer gründlichen und vielseitigen Gelehrsamkeit hinzu.

Er zeigt sich in den Streitfragen der Theologie ebenso bewandert wie

in den Problemen der Politik, in der Kriegskunst so wie in der allgemeinen

Litteratur, in der ältesten russischen Geschichte so wie in der neuesten englischen

und amerikanischen.

Was er sagt, ist ja keineswegs alles neu, aber selbst wo

er bekanntes berührt, bringt er es unter einen neuen Gesichtspunkt, in einen

andern Zusammenhang als den gewöhnlichen, so daß auch die kundigsten Forscher sich einen Genuß von der Lektüre versprechen dürfen.

Am schönsten entfaltet

sich sein Talenr auf dem Gebiete der Kritik, wenn eS gilt, den Widerspruch von

Wort und That zu constatiren; seine Rede entwickelt an diesen Stellen eine von sittlichem Ernst getragene sieghafte Kraft, welche auch den Widerstrebenden fort­

reißt.

So dünken uns die Abschnitte über die Magna Charta, über Lord Cha­

thams Berfaffungstheorie, über die Unabhängigkeitserklärung der Bereinigten Staaten von Amerika geradezu meisterhaft: man steht dem nüchternen, durch­

aus realistischen, mit einem unvergleichlichen Wahrheit-sinn begabten Berfaffer ordentlich daS Behagen an, mit welchem er bewußter und unbewußter Unwahr­

heit die Maske herunterreißt.

Seiner Charakteristik Boltaire's geben wir weit­

aus den Vorzug vor der Apologie von D. Strauß.

Seine Beurtheilung der

deutschen Liberalen alten Schlages erinnert mit ihrer unerbittlichen Schärfe an Baumgarten'S einst in diesen Blättern erschienene Selbstkritik des Liberalismus,

wie denn überhaupt der Leser einen guten Theil befielt wiederfinden wird, wofür die Jahrbücher seit ihrem Ursprung gestritten haben.

Gleiches Lob verdient der Abschnitt über daS alte Rußland.

Wir haben

der Historiker, welche die Kunst des AuSwählens, GruppirenS und DarstellenS

verstehen, wahrlich nicht so viele, daß wir gleichgültig bei einer Leistung vorüber­ gehen sollten, die diese Borzüge in so reichem Maße besitzt; wir dürften e- selbst

dann nicht, wenn sie uns, der russischen Litteratur so selten kundigen Deutschen weniger sachliche Aufschlüsse brächte.

Und jene unparteiische Wahrheitsliebe,

welche dem ersten Theile des Bandes zur Zier gereichte, wird auch in dem zweiten nirgends vermißt; eS war ganz ungerecht, wenn ein Kritiker den Autor

einer tadelnswerthen Voreingenommenheit beschuldigt hat.

Wahr ist, er stellt

die Russen über die Pslen; sollte aber im Jahre 1874, nach 66 und 70, fast hundert Jahre nach dem Untergänge Polens, hierzu der Deutsche nicht endlich

das Recht haben?

Dabei polemisirt fast jedes Kapitel gegen die Anmaßung

jener Slawänvphilen, welche das russische Alterthum verherrlichen, um daS Eindringen der deutschen Kultur als überflüssig und schädlich hinzustellen; na­ mentlich verwahrt sich Bernhardi gegen daS Bestreben, Anklänge parlamentarischer Institutionen da finden zu wollen, wo doch die absolute Gewalt deS Landes­ herr«, als Erben deS Mongolen-KhanS, naturwüchsig und selbstverständlich war;

nicht erst unter Peter dem Großen, nicht erst unter Anleitung der Deutschen

haben Rußlands Herrscher die unumschränkte Macht usurpirt.

Wie völlig un-

befamgen aber der Verfasser ist, geht daraus hervor, daß er in einer anderen

vielbestrittenen Frage sich der Ansicht der moskauischen Schule zuneigt; auch er

glauibt, daß die noch heute in dem größten Theile Rußlands bestehende, jedes Sondereigenthum der Bauern ausschließende Feldgemeinschaft altslawischen Ur­

sprungs sei. — Ueber manche Einzelheiten wird nian anderer Ansicht sein können als Bernhardi.

Wir halten das Bewußtsein nationaler Einheit bei den alte» Ger­

manen für nicht so stark wie er, glauben auch nicht, daß aus dem deutschen

Köuigchum der Urzeit etwas gewaltigeres geworden wäre, wenn es nicht erobernd nach außen aufgetreten wäre.

Die Würdigung des mittelalterlichen StaateS ist

insotfern nicht ganz billig, als der Fortschritt vom Stadtstaate deS Alterthums

Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft«.

31

462

Notiz««.

zum Flächenstaate, ohne welchen die modern« Geschichte doch nicht denkbar ist, zu gering angeschlagen wird.

Etwas spitzfindig kommt unS die Behauptung vor,

daß die niederländischen Provinzen sich nicht im Namen der Freiheit, sondern zum Schutz ihrer ständischen Freiheiten, die ihren Glauben und ihren Handel schützen sollten, erhoben hätten.

als

Hippolithus a Lapide braucht man nicht mehr

ein räthselhafteS Pseudonym anzusehen,

nachdem vor einiger Zeit erst

F. Weber sich wieder für die Autorschaft deS PH. BogiSlauS Chemnitz erklärt

hat; als Verfaffer der JvniuSbriefe konnte Sir PH. FranciS genannt werden; statt Lambert von Aschaffenburg muß eS heißen L. von Hersfeld. Karl IV. „elend" zu neunen ist ebenso hart, wie eS bei dem fünften Kaiser dieses Namens ungerecht ist, die mannigfache Förderung zu verschweigen, welche die Protestanten

aus seiner wechselvollen Politik gezogen haben.

Am meisten überrascht hat unS

die Behauptung, daß die von Ludwig XIV. aus Frankreich vertriebenen Reformirten „daS bis zu der Zeit in der modernen Welt nie ausgesprochene Prinzip

der VolkSsouveränetät" aufgestellt hätte».

Die Abhandlung Ranke's, in welcher

die Jesuiten Lainez, Bellarmin und Mariana dafür verantwortlich gemacht werden, ist zu bekannt, als daß wir annehmen sollten, sie sei dem Autor ent­

gangen; jedenfalls mußte er seine abweichende Ansicht einigermaßen begründen.

Wir bemerken aber, daß auch in der sonst so wohl gelungenen Charakteristik MonteSquieu'S die Resultate derselben glänzenden Untersuchung unsres ersten M. L.

Historikers nicht verwerthet sind.

Staat und Kirche, in ihrem Verhältniß geschichtlich entwickelt, von

F. H. Geffcken (Berlin bei W. Hertz), so lautet der Titel eines umfangreichen BucheS, welches den alten Kampf der beiden Mächte, von dem heidnischen Alter­

thum und der israelitische» Theokratie an bis auf die preußischen Maigesetze ver­

folgt.

In dem Buche ist ein reiches geschichtliches Material zusammengettMN

und die Verarbeitung deffelben ist ein Verdienst, das wir dem Verfaffer nicht schmälern wollen. Leider aber verliert sich die Objektivität in dem Maaße, als sich der Verfasser der Gegenwart nähert;

und sehr nach politischer Tendenz

schmeckt daS Schlußcapitel, welches die preußische Kirchenpolitik der letzten Jahre als einen „verhängnißvollen Mißgriff" darzustellen sucht.

Der Verfaffer wirft die Frage auf, ob eine solche Kritik mitten in dem jetzigen Kampf patriotisch sei und behauptet daS freie Recht der Opposition in

allen Fällen außer in dem deS auswärtige» Kriegs.

Wir sind sehr fern, dieses

Recht zu bestreiten, aber wir fügen die Pflicht hinzu, daß der Kritiker die „falschen Grundlagen", vor denen er warnt, genau nachweise, und daß er die rich­ tigen Wege einigermaßen bezeichne, die wir statt der unrichtigen einschlagen sollen.

Wer aber z. B. behauptet, daß dem preußischen Gerichtshof für kirchliche Ange­ legenheiten „thatsächlich die Entscheidung in rein dogmatischen Fragen" ge­

geben sei, oder daß der Staat eS unternommen habe, „das eigentliche theolo­ gische Studium durch Prüfungen zu regeln", hat unsre Maigesetze nicht ernst­

haft geprüft.

Wer ferner meint, daß die österreichische Gesetzgebung von 1874

das rechte Maß gefunden und daß bei Einhaltung desselben auch die Bischöfe

Preußens sich trotz päbstlicher Verdammung wie ihre österreichische« College« ge­ fügt haben würden, hat weder die Gesetze der beiden Länder scharf verglichen,

noch die politischen Ursachen deS verschiedenen Verhaltens von Curie und Episcopat Preußen gegenüber einer Untersuchung werth gefunden. Was die „richtige«

Wege" betrifft, so hätte der Berfaffer ein systematischeres, methodischeres Vorgehe«

gewünscht. Für die Gesetze zur Wahrung der Hoheitsrechte deS Staats „ergab sich naturgemäß eine Dreitheilung", erst ein interconfessionelleS Religionsgesetz zur Feststellung gleichmäßiger Grundsätze gegenüber alle» Religionsgesellschaften; dann zwei besondere Gesetze für die Rechtsverhältnisse der evangelischen und der katholi­

schen Kirche.

DaS sind Regeln, die für die Theorie wichtiger sind, als für die

praktische Politik.

Wie verkehrt sie im Leben fein können, zeigt die Ansicht

deS BerfafferS, daß eS richtiger gewesen wäre, die Schulaufsichtsfrage erst im Unterrichtsgesetz zu regeln. A«S sachlichen Gründen kann das ÜnterrichtSgesetz

erst nach Vollendung der begonnene« Verwaltungsreformen an die Reche kommen.

Also hätten wir einem doctrinären Schematismus zu Liebe die Schule noch Äahr und Tag unter clericalem Einfluß lassen solle«!

Eine solche formal« Kritelei ohne Andeutung neuer Gesichtspunkte gereicht

nur dem gemeinsamen Gegner zum Vortheil. Das Schlagwort, daß „alle festen Begriffe von Gerechtigkeit und Freiheit in dem sinnverwirrenden Lärm der

nationalliberalen Phrase unterginge»" würde sich in einer Rede deS Abg. von

Schorlemer-Alst besser ausnehmen als am Schluffe des Werkes eines Lehrers

an der Straßburger Hochschule.

Hermann von Beckerath, ein Lebensbild von Hugo Kopstadt (Braun­ schweig, Westermann) ist eine in angenehmster Form und mit klarem geschicht­

lichen Blick geschriebene Biographie.

Wir sind sicher, daß unsere Leser, auch

wenn sie der politischen Wirksamkeit deS einstmaligen Reichsministers und be­ deutenden Führers der liberalen Partei nicht mehr nahe standen, dieser Dar­ stellung mit vollern Genuß folge» werden. Der edle, charaktervolle Mann stand

seit dem Beginn deS vereinigten Landtags bis zur neuen Aera in der Mitte unserer politischen Kämpfe.

Sein Lebensbild isk zugleich ein Rückblick auf die

Ereignisse, die u»S vom Patent von 1847 durch Frankfurt und Erfurt hindurch

bis zur Begründung der Verfassung und bis zur Vorbereitung der neue» Zeit durch die Militärreform von 1860 führen.

Besonders interessant ist der per­

sönliche und briefliche Verkehr Beckerath's mit Friedrich Wilhelm IV.

Er war

es, gegen den der König im April 1849 nach der Frankfurter Kaiserwahl den

denkwürdigen Ausspruch that:

„Wenn Sie Ihre beredten Worte an Friedrich

de» Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein

großer Regent".

Beckerath erlebte noch die Gründung deS norddeutschen Bun­

de-; er schied wenige Wochen, bevor die vereinigte deutsche Armee den Rhein überschritt.

Verantwortlicher Redacteur: Dr. W. Wehrenpfcynig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791. (Vgl. Preuß. Jahrb. 1873, Heft 5 und 6, Art.: „Innere Zustände Polen'« vor der ersten Theilung".)

III. Als der Reichstag nach kurzen Ferien im Februar 1790 wieder zu-

sammenkam, begannen von Neuem die Bemühungen, die Besteuerung und daS Heerwesen in besseren Gang zu bringen.

Denn immer noch ging die

Grundsteuer sehr unvollkommen ein, und eine ans Rohhänte gelegte außer­ ordentliche Steuer hatte gänzlichen Mißerfolg. Wieder wurden neue Com­ missionen zur Ausgleichung der höchst ungenügend vertheilten Stenern ein­

gesetzt, wieder appellirte man an die private Opferwilligkeit, der König gab Juwelen

und Geräthe im Werthe von einer halben Million her, der

Marschall Malachowski machte der Republik ein Darlehn von einer Mil­

lion ohne Verzinsung.

Man begeisterte sich für solche patriotische Thaten,

aber die Unordmung konnte ans den Steuerbehörden nicht Oltferut werden.

Lucchesini kehrte ans Berlin mit der Antwort auf einen Allianzvorschlag und Handelsvertrag, der Preußen vorgelegt worden war, zurück. toutbe nur der Handelsvertrag in Erwägung

gezogen.

Vorläufig

Preußen erhob,

seit eö durch die erste Theilung in den Besitz der Weichsel gekommen war,

sehr hohe Zölle von den polnischen Waaren, welche den Fluß hinunter dem einzigen polnischen Hafen in Danzig zuströmten. polnische Handel

Dadurch wurde der

sehr schwer belastet, wahrend doch der Vortheil,

den

Polen auS seinem Hafenplatz zog, in gleichem Maaße herabgedrückt wurde, so daß Danzig als eingeengte Enclave und mit stark deutscher Bevölkerung

für Polen fast werthloS war.

Gegen die Handelsvortheile, welche Lucchesini

Polen in der Herabsetzung der Weichselzölle anbot, verlangte er nun die

Abtretung ThornS und Danzigs.

Allein die Abtretungen von 1772 waren

für die Polen noch eine frische Wunde, welche den alten Schmerz bei-der

leisesten Berührung wachrief,

und je öfter Preußen auf seinen Wunsch

nach dem Besitz der beiden für Polen so werthlosen Städte im Laufe der

Preußische Jahrbücher. Br. XXXV. Heft s.

32

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

466

folgenden Ereignisse zuriickkam, um so empfindlicher wurde das patriotische Gefühl der Polen.

Schon jetzt wagte man kaum die Frage an den Reichs­

tag zu bringen und Lucchesini mußte sie vor der Hand bei Seite stellen.

Sie sollte von der Handelssache getrennt behandelt werden.

Dafür drängte

man von allen Seiten den Reichstag zum Abschluß eines Defensivvertrages

mit Preußen, England und Schweden, und die Polen wiesen unter diesem

Eindruck daS Anerbieten einer Allianz, welches ihnen von Kaunitz damals gemacht ward, ab. — In dieser kritischen Zeit tauchten wieder die be­ kannten Schreckgespenster einer Empörung im Süden auf, verschwanden

jedoch bald wieder. Preußens.

Diese Gerüchte mehrten aber die Zahl der Freunde

Ignaz Potocki hielt eine flammende Rede für die Allianz, und

mit allgemeiner Begeisterung wurde das Prvject dazu am 15. März an­ genommen.

Am 29. März wurde der Vertrag abgeschlossen.

Darin ga-

rantirten sich Preußen und Polen gegenseitig ihr Gebiet/ versprachen im

Kriegsfälle mit einer dritten Macht bestimmte Kontingente an HülfStruppen, und Preußen verpflichtete sich, die etwaige Einmischung einer fremden Macht in die innern Verhältnisse der Republik für einen Kriegsfall an-

zusehen.

Um dieselbe Zeit schloß der preußische Gesandte Diez in Kon­

stantinopel einen Vertrag mit der Pforte ab, in dem er zwar seine Voll­

macht überschritt, welcher aber dennoch Preußen in eine Lage brachte, die eine Betheiligung am Kriege leicht nach sich ziehen konnte. Hertzberg hatte hier bisher die Rolle übernommen, welche Kaunitz im Jahre 1770 spielte:

Er wollte Oesterreich durch türkisches Gebiet für die Rückgabe Galiziens an Polen entschädigen, und dieses sollte dafür Preußen durch die beiden Städte und zwei Palatinate belohnen.

Die Türkei hoffte er durch gute

Dienste als Vermittler mit ihren Feinden zum Nachgeben zu bewegen, die

Gegner durch Waffengerasiel zu schrecken, auö dem fremden Blut aber im Ganzen seinen Gewinn zu ziehen.

Wie damals Kaunitz, so ward nun

Hertzberg doch durch den Lauf der Dinge widerwillig von der diploma­

tischen Feder zum mürrischen Hervorholen des Schwertes getrieben, nur fand er sich zuletzt beffer in die aufgenöthigte Situation, als Kaunitz. Hertzberg war nicht wie Oesterreich abgeneigt,

im äußersten Falle den

Kampf anzunehmen, und allerdings waren die Bedingungen jetzt für Preu­

ßen günstiger als damals für Oesterreich. Da starb am 20. Februar 1790 Josef II., und mit diesem folgen­

schweren Ereigniß begann eine Reihe der unglücklichsten Vorgänge in Preu­ ßen.

Hertzberg hatte an Friedrichs Satze festgehalten, daß mit Oesterreich

wie es damals war, kein Friede dauernd möglich fei.

Nun suchte Leopold II.

den schwachen Friedrich Wilhelm II. allmählich mit Hertzberg zu entzweien «nd von dessen Politik loszulösen.

ES begannen Unterhandlungen zwischen

den beiden Höfen, in denen Hertzberg zwar noch immer seinem System treu bleiben konnte, die aber doch die Stellung Preußen- zu Oesterreich änderten und namentlich einer Annäherung der beiden Fürsten, einer Wand­

lung der Anschauungen Friedrich Wilhelm- den Weg ebneten. —

Unterdessen schritten die Verhandlungen in Warschau langsam fort. Preußen drückte neuerdings die Weichselschifffahrt besonder- stark und suchte

dadurch auf die Gemüther im Reichstage zu wirken.

Aber diese ebenso

patriotisch fühlenden als politisch unverständig denkenden Gemüther bewegten

fich in einem engen Kreise politischer Thorheiten.

„Preußen, sagte man,

verlangt Danzig und Thorn weil ganz Westpreußen ihm gehört; seit wann

aber gehört eS ihm? ES ist die traurige Folge der Theilung, einer Epoche, deren alleinige Erwähnung niederdrückend und unerträglich

Republik."

ist für die

Und weil diese Erinnerung ihre Nerven unangenehm berührte,

widersetzten sich diese Politiker einem Handel, in dem sie eine werthlose Sache gegen große Vortheile eintauschen konnten, den jahrelang die preußffche Politik hauptsächlich im Auge hatte und deflen Nichtabschlnß vielleicht

einen großen Theil der Schuld an dem späteren Mißgeschick Polens trug. Denn Preußen- mußte die beiden Städte um jeden Preis haben, und konnte

es nicht mit Polen, so mußte es bei der ersten sich darbietenden GeleFreundschaft und Feindschaft

genheit gegen Polen das Ziel erreichen.

hingen von dieser Frage ab, Polen aber wollte die größten Beweise der

Freundschaft ohne etwa- dagegen zu bieten.

Auch England bemühte sich

die sogenannten Patrioten zur Nachgiebigkeit zn

HanddlSvortheile von seiner Seite an.

bewegen, eS bot große

Pitt interessirte sich lebhaft dafür,

machte Aussicht auf günstige Handelsverträge mit England und Holland,

durch welche die russischen Products durch die besseren polnischen auf den ausländischen Märkten ersetzt werden sollten*). Die wahren Patrioten hielten

den Gegnern vor, eS handle sich um die Rettung des Vaterlandes, wofür die beiden entfernten Städte geopfert werden sollten.

ES fruchtete jedoch

AlleS nichts gegenüber der kindischen Beschränktheit dieser politischen Phan­ tasten, vielmehr ward der Sinnlosigkeit die Krone aufgesetzt indem am 9. September 1790 der Reichstag zum Gesetz machte, daß in Zukunft e»

verboten sein solle, irgend welche Vorschläge zu Gebietsabtretungen oder

Gebiet-tausch zu machen.

Lange wurde der Abtretung der beiden Städte

nicht wieder erwähnt.

Inzwischen

waren zu

Reichenbach

jene unseligen Verhandlungen

zwischen Oesterreich und Preußen gepflogen worden, deren Ergebniß war, daß Friedrich Wilhelm plötzlich Alle- aufgab was da- Ziel der Hertzberg»

*) Bgl. OginSki, Denkwürdigkeiten, Th. I. Cap. IV.

Die erste Theilung Polens nnb die Constitution vom 3. Mai 1791.

468

schen Politik bisher gebildet hatte, daß die Seemächte von Preußen sich trennten und, dieses isolirt und von unfähigen Köpfen in eine falsche Mchtung gebracht, alle Vortheile, die cö seit langen Jahren gegen Oesterreich

errungen hatte, fortwarf und von Oesterreich in'S Schlepptau genommen

ward.

Nicht wenig trug zum Mißerfolg die Weigerung der Polen zur

Abtretung der Städte bei, indem sie Hertzberg's bei den Verhandlungen

vorgebrachte Pläne scharf kreuzte, die complicirtcn preußischen Forderungen Alle die kühnen Unternehmungen, die Hertzberg mühsam vorbe­

lähmte.

reitet hatte, fielen platt zu Boden, und so war auch der Vertrag bedeu­ tungslos, den Polen mit der Pforte gegen Ende des Jahres abschloß und

dessen wesentlicher Inhalt den Krieg Preußens, Polens und der Pforte gegen Rußland betraf. Rußland blieb die ganze'Zeit über passiver Beobachter der Vorgänge

in Polen, es wartete ruhig seinen Augenblick ab, in dem eS wieder znr Action werde schreiten können.

Als der Vertrag mit Preußen seinem Ab­

schluß entgegen ging, enthielt sich Stackelberg jeder Einmischung, ja selbst

dann gab

er diese Zurückhaltung nicht ans, als die hochgehcnden Wogen

patriotischer Begeisterung zur offenen Feindschaft, als einige erhitzte Köpfe zur Ausweisung des Gesandten drängten.

Im September 1790 ward

Stackelberg abberufen und durch Bulgakow ersetzt.

So feindlich dieser

die Stimmnng fand, so blieb doch auch er unthätig.

Er meinte, die

Landboten seien von Preußen mit 150,000 Dukaten erlauft worden und

wären künftig wohl auch von andrer Seite her durch Geld zu gewinnen. — Die Arbeiten der VerfassungSdepntation schritten nur langsam vor­ wärts.

Man beschäftigte sich mit den verschiedensten Dingen.

Bald war

eS die Erblichkeit des ThroneS, bald die confessionelle Frage, bald ging

man an die Rechte der Städte, bald an die Zusammenstellung der Grund­

rechte der Nation.

Schon damals bildete sich eine Partei, die die Nach­

folge auf dem Throne in erblicher Weise dem sächsischen Haufe zuzuwen­ den wünschte.

Die eifrigsten Preußenfreunde schwärmten sogar für die

Wahl Friedrich Wilhelms und die Bereinigung Polens mit Preußen.

Die

wichtige Frage über die Bestimmung eines Nachfolgers für den König führte zu dem Beschluß, neue Landtage auszuschreiben zur Wahl von Land­

boten, welche mit den bereits vorhandenen Landboten vereinigt, eine brei­ tere Grundlage für die der Nation in ihrer Gesammtheit zustehende Wahl des künftigen Herrschers bilden sollten.

So lag denn wieder einmal der

politische Schwerpunkt in den Landtagen,

es hing alles davon ab, wie

dieselben sich zur Thronfolge sowie zu deu Verfassungsänderungen auö-

sprechen würden. gen.

Nnn begann der russische Gesandte sich wieder zn re­

Katharina schickte ihm 50,000 Dukaten für die nöthigen Bestechungen

und er griff mit dieser Hilfe in die Wahlümtriebe thätig ein, indem er

hauptsächlich dagegen zu wirken bemüht war, daß ein preußischer Priüz zur Nachfolge erkorep würde.

Branicki, Felix Potocki ließen die Kraft

ihrer ungeheuren Reichthümer in conservativem Sinne wirken, Czartoryski

andererseits verausgabte 20,000 Ducaten zur Bearbeitung der Landtage für die Erblichkeit der Krone in den Händen des sächsischen Prinzen und für Abschaffung des liberum veto.' Auch die Geistlichkeit war thätig, an vielen Orten wurden «stimmen laut gegen die Neuerungen, gegen die

weltliche Erziehung,

die den Mönchen zurückgegeben werden

sollte, für

WaS in Warschau in letzter Zeit

Wiederherstellung des Jesuitenordens.

vorgegangen war, die Gedänken, welche dort in den Köpfen hin und her flogen, hatten die Masse des Landadels unberührt gelassen, auf den jetzt

wieder, das Schicksal Holens angewiesen war.

Die Wahlen fielen, min­

Der doppelt besetzte. Reichstag

destens zweifelhaft für die Patrioten aus.

kam zusammen und zählte int Ganzen über 500 Glieder.

Bald wurde

eine Aenderung des Geistes in ihm bemerkbar, die den Patrioten ungün­

stig war.

Die preußischen Forderungen in Bezug auf Danzig und Thorn

wirkten noch nach, die Nachgiebigkeit Rußlands in der letzten Zeit that

das Ihrige, nm die Stimmung für Preußen abzukühlen.

UeberdieS wurde

die Hand Leopolds in Polen immer fühlbarer, die einerseits Preußen sich zu nähern beflissen war,/: anderseits energisch daran arbeitete, Preußen aus seiner Stellung in Polen, zu verdrängen.

Ihm entgingen , die reichen Vor­

theile nicht, welche die Verleihung der polnischen Krolle an daS KurhaüS Sachsen seinem Staacke bringen mußten, und diesen Plan gegen Prxußen und Rußland zu fördern waren seine Minister und die seit längerer Zeit

sich verstärkende polnische Emigration in Wien eifrig bemüht. — Unter­ dessen murrten die Patrioten, viele Landboten seien mit russischem Golde

ersauft.

Kasimir Nestor Sapieha schlug auf dem Reichstag vor, die Glie­

der sollten einen Eid ablegen, daß sie keine Pensionen von ausländischen Höfen genommen hätten, noch nehmen würden. Der Vorschlag wurde als unwürdig der Versammlung zurückgewiesen.

Hinterher aber gelaugte doch

ein Gesetz zur Annahme, welches denjenigen, welcher in Zukunft Pensionen

von ausländischen Höfen annehmen werde,, mit dem Tode bedrohte.

Der

Hinterbringer sollte mit dem achten Theil deS Vermögens des Hingerich­

teten belohnt werden, verfiel aber seinerseits der Todesstrafe wenn feine Beschuldigung sich als falsch erwies.

Dieses Gesetz wurde gegeben gegell-

über einer Versammlung, in der ganze Schaaren früher und später in

dem Solde dieses und jenes Hofes.gestanden haben und aus der vom Könige bis auf den letzten Landboten herab, es schwer fällt, einige Per­

sönlichkeiten mit Sicherheit für in dieser Beziehung tadellos zu erklären.

470

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

Die liberal-patriotische Partei hatte bei Eröffnung

des

doppelten

Reichstages wo nicht eine Schwächung so doch keine allzusichere Stärkung

erfahren.

Freilich waren trotz der Bemühungen der russischen Partei und

der Conservativen die Instructionen der neuen Landboten meist der Ma­ jorität des Reichstages günstig ausgefallen: sie stimmten für die Wahl des

Kurfürsten von Sachsen zum Nachfolger des Königs, für die Durchfüh­ rung der Reformen, für Gleichheit der Abgaben, für Verstärkung der

Armee*).

Noch aber war die Menge nicht von den modernen Reform-

ideen durchdrungen worden, die die hervorragenden Geister der Patrioten

belebten.

Von wesentlicher Wirkung war nun eine Begebenheit, die da­

mals die warschauer Kreise electrisirte.

Der begabte Dichter Niemcewicz hatte ein Lustspiel verfaßt unter

dem Titel: „Die Heimkehr des Landboten."

Darin waren die politischen

Parteien des Tages in zwei Hauptpersonen dargestellt und die wichtigsten Fragen im Reichstage, die Erblichkeit der Krone, die Abschaffung des li­

berum veto, die Mehrung der staatlichen Mittel wurden dramatisch be­

handelt, dem Könige, dem Reichstage und seinen liberalen Neuerungen, endlich dem neuen Verbündeten wurde Weihrauch gestreut.

DaS Stück

hatte großen Erfolg und übte eine ungeheure Wirkung auf die öffentliche

Stimmung aus.

Es brachte einen bedeutenden Umschlag zu Gunsten der

Patrioten zn Wege, der Landbote Niemcewicz, der Verfasser deö Stückes,

ward der Held des Tages und auf dem Reichstage waren er und fein Werk Gegenstand lobender und tadelnder Reden**).

Ignaz Potocki und der Reichstagsmarschall, die Führer der Patrioten und

die feurigsten Parteigänger Preußens, bekamen die Leitung des Reichstages nun fast widerstandslos in die Hände, aber während sie den Augenblick benutzten, um neue innere Reformen vorzübereiten, begannen schon Schat­ ten an dem Himmel der preußischen Freundschaft aufzusteigen.

AuS Wien,

aus Konstantinopel langten Nachrichten an, die darauf hinwiesen,

daß

Preußen durch die Hülfe Oesterreichs das von Polen zu erlangen geneigt

war, was es von Polen selbst nicht erhalten konnte. Kaunitz machte sogar dem polnischen Gesandten in Wien, Wohna, eine Mittheilung, nach wel­ cher Preußen und Rußland sich über eine neue Theilung Polens in Ein­

vernehmen gesetzt hätten***), und diese Schreckgespenster verfehlten ihre

Wirkung nicht;

die Verhandlungen über den HandelStractat kamen

in

Warschau wieder ins Stocken. Unterdessen sah Preußen dem Frieden Ruß-

*) Vgl. Vom Entstehen und Untergange der polnischen Constitution vom 3. März 1791. S. 127. **) Niemcewicz, Denkwürdigkeiten meiner Zeit. S. 144 ff. (poln.) ***) Vgl. Sybcl, Geschichte der Revolutionszeit. 2. Ausl. Bd. I. Cap. 6.

landS mit der Pforte ruhiger als bisher entgegen, der alte Eifer war völlig erloschen.

Denn schon war Friedrich Wilhelm in die Netze Leopolds

gegangen, schon war der Grund zu einem engen Bündniß mit Oesterreich

gelegt worden zu derselben Zeit, als Leopold in Polen energisch gegen Preußen intriguirte und jene falschen Gerüchte durch seine Minister in

Umlauf setzen ließ.

Polen sollte von Preußen getrennt und zu Oesterreich

herüber gezogen werden.

Ganz im Stillen bearbeitete man mit Erfolg

die nicht unbedeutende Emigration in Wien.

Durch privates Entgegen»

kommen seitens des wiener HofeS keimte in diesen politischen Kreisen in Wien der Gedanke einer Anlehnung Polens an Oesterreich und fand in

Warschau Anklang.

die Patrioten

Denn zugleich befürwortete Leopold eifrig Alles waS

wünschten:

innere Reformen,

Erblichkeit der Krone im

Hause Kursachsen;, und er wurde hierin durch die augenblickliche Lage der Kriegsereignisse unterstützt, die auf einen baldigen Frieden im Östen und als Folge davon auf eine Entfesselung der russischen Kräfte Polen gegen­ über hinwiesen.

Rußland blieb zwar noch immer vorwiegend beobachtend,

aber im August 1790 war der Friede von Werelä mit Schweden geschlossen worden, in Galatz wurden Verhandlungen gepflogen,

die leicht einen

russisch-türkischen Frieden nach sich ziehen und Katharina zur Rache an Polen die Hände freimachen konnten.

Um so eifriger drängten die Progressisten in Warschau zur Vornahme von Reformen, die Polen innerlich und äußerlich stärken möchten.

DaS

Projekt der Derfassungödeputation, das Stimmrecht auf den Landtagen nur auf angesessene Edelleute einzuschränken war angenommen.

Die städti­

schen Rechte kamen wieder zur Verhandlung und durch eine List der

Patrioten wurde trotz lebhafter Widersprüche zuletzt ein Gesetz am 16. April

beschlossen, das nicht unwichtige Vortheile den Städten gewährte. Dieselben wurden von aller nicht städtischen judiciären und administrativen Gewalt

befreit und unter die Verwaltung und Gerichtsbarkeit selbst erwählter Magistrate und der königlichen Hofgerichte gestellt.

DaS Gesetz Neminem

captivabimus ward auf alle Stadtbürger ausgedehnt, sie wurden zum

Dienst in der Armee und in den Kanzleien der Gerichte und Tribunale zugelassen und verdienten sich durch einen unbedeutenden Dienstrang den

Erbadel.

Auch die kirchlichen Würden wurden ihnen geöffnet, das Recht

des Grundbesitzes gewährt.

Anderseits wurde dem Edelmann gestattet,

Bürger zu werden und bürgerliches Gewerbe zu treiben.

Diese uner­

hörten Neuerungen veranlaßten die lebhaftesten Freudenbezeugnngen seitens

der Städter und bereiteten die Stimmung der warschauer Bevölkerung für die größeren patriotischen Begebenheiten vor, welche die nächste Zukunft

im Schooße trug.

Biele der hervorragendsten Magnaten, wie der Reich-»

472

Die erste Theilung Polens und di Constitntion vom 3. Mm 1791.

tagSmarschall Malachowski, Ignaz Potocki u. Ä. traten sofort in die war­

schauer Bürgerschaft, andere, wie OginSki in die Wilnaer und andere

Bürgerschaften ein und fachten dadurch einen Enthusiasmus der Verbrüde­ rung an, der den in Aussicht genommenen weiteren Reformen zu Statten kommen mußte.

Noch immer aber vermochten die Hauptfragen, welche bei Einberufung

der neuen Landboteu ins Auge gefaßt worden waren, keinen sicheren Boden auf dem Reichstage zn^gewinnen. War es den Liberalen nur nach schweren Mühen gelungen, die Reform der Landtage und des Städtewesens den

Konservativen abzutrotzen,

so stießen

sie auf unüberwindliche

Schwie­

rigkeiten sobald sie die Erblichkeit des Thrones, die Abschaffung des li­

berum veto zu Sprache brachten.

Oftmals war der Versuch gemacht

worden, aber stets wnßten die Gegner eine Beschlußfassung zu hintertreiben. Die Conservativen stützten sich ganz ans den russischen Gesandten, der so weit der Augenblick gestattete, nichts unterließ, was diese Reformen ver­

hindern konnte.

Die Patrioten machten große Anstrengungen, die Ge­

müther für eine kühne, rücksichtslose Umwälzung zu gewinnen, ja sie ver­ breiteten nun ihrerseits geflissentlich das jene Behanptung Kaunitzens vom

vorigen Jahre schneidende Gerücht, es werde von den Nachbarmächten mit Ausnahme Preußens eine neue Theilung Polens geplant.

Aber immer noch

durften sie in jenen Fragen nicht auf eine Majorität im Reichstage rechnen.

Da faßten die energischsten Führer, Kollontay, Ignaz Potocki, dann auch

Stan. Malachowski u. A. den Gedanken, zu einem Staatsstreich, wie sie

es nannten, ihre Zuflucht zu nehmen.

Das Osterfest d. I. 1791 stand

vor der Thür, an welchem die Mehrzahl der Landboten die Stadt zu

verlassen und auf ihre Güter sich zu begeben pflegte. Der Entwurf eiWx Constitntion sollte im Stillen ausgearbeitet und dann noch ehe die Glieder deS Reichstages wieder vollzählig sich versammelt haben würden, deM Reichs­

tage vorgelegt und angenommen werden.

Im Geheimen gewann man

60 Stimmen für diesen Plan, der König wurde durch den Abt Piatoli,

einen Italiener, der seit einiger Zeit sein Pertrauen gewonnen hatte und großen Einfluß auf ihn übte, zur Zustimmung bewogen.

Stanislaus August, der jahrelang treue Anhänger Katharina's und Vor­

kämpfer für ein enges Bündniß mit Rußland, war nun.doch im Verlaufe des Reichstages von dem Strom der Dinge fortgerissen worden. Bald 30 Jahre

lang war er jetzt der dankbare Schützling seiner Jugendgeliebten, und es war unschwer für ihn einznsehen, daß seine Krone am sichersten von Der­ jenigen ihm gewahrt werden konnte, die sie ihm aufs Haupt gesetzt hatte.

Er hatte aber viel gelitten unter der russischen Vormundschaft, denn die Kaiserin hatte allmählich

seine Schwäche kennen gelernt, sie hatte die

Achtung für diesen unmännlichen Hofmann verloren, und scheute sich nie,

ihn diese Meinung fühlen zu lassen, ohne jedoch um deswillen ihre poli­ tische Ansicht von Stanislaus August zu ändern: sie brauchte eben einen

Schwächling auf Polens Thron. Stanislaus August war keineswegs un­ fähig, über dem Vaterlande wenigstens zeitweilig sich selbst zu vergessen.

Er wünschte von ganzem Herzen Polen stark und selbstständig zu sehen, die Schmach der ersten Theilung abzuwaschen.

Die letzten Jahre hatten

Polen Schritt vor Schritt von seiner alten Richtung entfernt, neue Aus­

sichten einer besseren Zukunft hatten unter der Gunst des

Augenblicks

sich aufgethan und die Besten im Lande arbeiteten mit opferfreudiger Hin­ gabe an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes.

Und diese Besten waren

ja die Zöglinge des Königs selbst, es wäre» die Früchte seiner jahrelangen

Zucht in Schule und Staatsdienst,

die Kinder seines Geistes, die sein

Bestes, seinen gebildeten Patriotismus, seine aufgeklärten Ideen eingesogen und damit groß geworden waren.

Wie sollte der Vater sich nun von dem

Stolz seines Alters, von der erblühten Hoffnung seiner Jugend, von dem Streben seines ganzen Lebens unnatürlich kalt abwenden!

Wie konnte die

weiche gefühlvolle Natur des Königs sich dem edlen Schwünge verschließen,

der ihm Bilder vormalte, in denen er sich als Retter, als gepriesener Vater seines Landes sah!

Zudem hielt seit einiger Zeit eine Frau ihn gefesselt,

die, ohne-schön zu sein, es verstand, länger alS die vielen früheren Ge­

liebten den «lternden Weiberfreund zu leiten.

Die Wittwe Grabowska

war mit Ignaz Potocki verbündet und flößte dem Könige, der stets von

seinen Gelieb>ten abhängig war, die Ideen der Patrioten ein. Die Verschworenen setzten die Verhandlung über die neue Verfassung auf den 5. Mai fest.

Aber der Mitwisser waren zu viele um daS Be-

kanntwerden deö Anschlages vermeiden zu können. Die fremden Gesandten waren bald in Kenntniß gesetzt und sowohl HaileS der englische, als Goltz, der preußische Gesandte, machten den Verschworenen lebhafte Vorwürfe

über die Unbesonnenheit ihres Planes, der die benachbarten Höfe gegen daS umgewandelte Polen aufbringen müsse.

Malachowski entgegnete Goltz,

die Patrioten wünschten durch die Wahl deö Kurfürsten von Sachsen zum

erblichen Könige und durch die Ehe seiner einzigen Erbtochter mit einem preußischen Prinzen Polen mit Preußen zu vereinigen.

Dieser Ausspruch

zeigt, wie wenig die Patrioten die politische Lage übersahen: sie waren in völliger Unkenntniß sowohl über die veränderte politische Lage der Nachbar­ mächte, als über die Tragweite der unternommenen Umwälzung und die

Mittel zu ihrer Aufrechterhaltung.

Die russischen Minister und die Conservativen sandten sofort nach

allen Seiten Boten aus, um ihre Parteigänger zum 5. Mai nach Warschau

474

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

zu berufen, und kreuzten dadurch die Pläne der Gegner.

diese zwei Tage früher vorzugehen.

Nun beschlossen

Am 1. Mai wurden die Landboten im

königlichen Schloß bewirthet, am 2. fand ein glänzendes Mahl im Palast Radziwill statt, auf welchem das inzwischen ausgearbeitete Project verlesen und von den Freunden unterschrieben ward.

Dasselbe schloß sich den Ge­

danken an, die Kollontay in seinen Briefen an Malachowski vor 3 Jahren entwickelt hatte.

Inzwischen wurde das niedere Volk in der Stadt frei­

gebig mit Trinken und Essen günstig gestimmt.

Am Morgen des 3. Mai

wälzten sich zahlreiche Haufen deS Volkes auf Antrieb der Verschworenen

zum Schlosse.

Die Bürger waren den Reformen aus Ueberzeugung zuge­

than, der niedere Mann ging dem Gelde nach, das man ihm gab und

war gern bereit für Alles zu demonstriren, wozu man ihn anwies.

Zahl­

reiche Truppen umgaben das Schloß.

Hier ward nun die Versammlung eröffnet, welche für Polen verhäng­ nißvoll werden sollte.

Der Reichstagsmarschall Malachowski eröffnete die Sitzung und die Verschworenen begannen damit, durch auswärtige Nachrichten, welche auf eine neue Theilung Polens hinwiesen, auf die Gemüther zu wirken.

Die

Deputation für auswärtige Angelegenheiten wollte Depeschen solchen In­

halts aus Wien, Berlin, Paris, Petersburg erhalten haben, die nun ver­

lesen wurden.

Die Gegner, Branicki und sein Anhang, versuchten ver­

geblich die Verlesung zu hindern,

ja einige sollen sogar ihren Führer

Branicki gebeten haben, ihnen den Gebrauch Branicki schrie ihnen aber zu: „fort".

der Waffen zu gestatten.

Auf Antrag der Patrioten war

Publicum hereingelassen worden, welches sich um die Patrioten Im Vor­ dergründe schaarte und die andere Partei zurückdrüngte.

Der Landbote

Suchorzewski stürmte mehrmals vor mit dem Verlange», sprechen

zu

dürfen, ward aber von den Stäben der Marschälle And dem Geschrei der Arbitri zurückgewiesen. Endlich griff er zu dem theatralischen Mittet, welches wix bereits früher beschrieben haben und erhielt dadurch das Wort.

Er beschwor die Versammlung sich durch gefälschte Depeschen nicht be­

thören zu lassen, Veränderungen nicht zu gestatten, welche die alte Freiheit Polens dem Despotismus überliefern würden. Eine ungeschickte Wendung seiner Rede brachte die Versammlten zum Lachen und seine Rede verlor

alle Wirkung.

Endlich wurden die Depeschen verlesen und ihr Inhalt

machte tiefen Eindruck.

Nach einigem Schweigen wandte sich Ignaz Potocki

an den König mit der Bitte um seine Meinung.

Stanislaus wies darauf

hin, wie die eben vernommenen Nachrichten ihn wünschen ließen, die nö­

thigen Reformen so rasch als möglich zum Abschluß zu bringen.

Der

Gecretair möge ein bereits fertiges Project dieser Reformen verlesen. —

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

475

Das „Gesetz über die Regierung", wie es betitelt war, wurde vorgetragen. Sein Inhalt war in Kürze folgender.

1.

Die katholische Confessio» wird zur herrschenden, ein Abfall von

ihr für strafwürdig erklärt.

Alle anderen Bekenntnisse aber genießen den

Schutz der Regierung. 2. Alle Rechte und Privilegien deS Adels werden von Neuem be­ stätigt.

Die Schlacht» ist unter einander gleich berechtigt; die persönliche

Sicherheit und Freiheit, das Eigenthum werden gewährleistet; jeder Ein­ griff in das Eigenthum der Schlacht» unter dem Titel eines jus regale

ist verboten, der Schlacht» als Wächterin

der Freiheit wird auch der

Schutz der gegenwärtigen Verfassung anvertraut. 3.

Das am 16. April angenommene Gesetz über die Städte wird

der Verfassung eingefügt.

4.

......................

Der Bauernstand wird unter den besonderen Schutz deS Gesetzes

und der Regierung gestellt.

Verträge zwischen Edelmann und Bauer sol­

len alS gegenseitig bindend gesetzlich beschützt werden.

Jeder Bauer, der

über die Grenze deS Reichs sich entfernt hat und wieder zurückkehrt, wird

für persönlich frei erklärt. — 5. Alle staatliche Gewalt geht vom Volke aus; sie zerfällt in die

gesetzgebende, bestehend auS den vereinigten 3 Ständen deS Reichs, in die ausführende, bestehend aus dem Könige und dem königlichell Rath, und in

die rechtsprechende Gelwalt. 6.

Der Reichstag zerfällt unter Vorsitz des Königs in die Land­

botenstube und die Senatorenstube.

Der Landbotenstube als Ausdruck der

VoMsouveränetät steht hauptsächlich die Gesetzgebung zu; daher gehen von ihr Me organischen Gesetze auS, desgleichen entscheidet sie über zeitweilige

Steuern, über Münze, AdelSertheilung, staatliche Schulden und Ausgaben, Krieg und Frieden, sie ratificirt auswärtige Verträge und Bündnisse. Die

Senatorenstube besteht unter Vorsitz des Königs aus den Bischöfen, Wojewoden, Kastellanen und Ministern, und hat die von der Landbotenstube

angenommenen Gesetzesvorlagen zu bestätigen oder zu verwerfen: das ver­ worfene Project muß dem nächsten Reichstage wieder vorgelegt und falls

die Landboten es zum zweiten mal billigen vom Senat bestätigt werden. Jede Verordnung wird von beiden vereinigten Stuben des Reichstages durch Stimmenmehrheit entschieden, nachdem sie vorher in jeder der bei­

den Stuben angenommen worden ist.

Alle zwei Jahre wird der Reichs­

tag neu erwählt, er ist ständig und wird nach Bedürfniß einberufen.

Ein

vom ordentlichen Reichstage erlassenes Gesetz kann nicht von demselben Reichstage aufgehoben werden.

Das am 30. December 1789 beschlossene

Gesetz über die neue Verfassung der Landtage wird bestätigt. Jeder Land-

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

476

böte ist Vertreter des gesammten Volkes. schafft,

DaS liberum veto ist abge­

jede Conföderation oder conföderirter Reichstag verboten.

Alle

25 Jahre erfolgt eine Revision der Verfassung durch einen besonderen

hierzu berufenen Reichstag. 7.

Zur Erfüllung der Gesetze bedarf eS einer kräftigen auSsühren-

deu Gewalt, welche dem Könige und seinem Rathe unter dem Namen

Die Executive steht unter dem Gesetz, hat

„Wächter der Gesetze" zusteht.

seine Beobachtung zu überwachen, für die allgemeine Ruhe und Ordnung zu sorgen die Verhandlungen mit den auswärtigen Mächten zu führen. Alle

Aemter sind ihr untergeordnet. Der königliche Rath besteht aus dem Primas, den Ministern und

2 Setretairen.

Ohne Stimme haben darin Sitz der volljährige Thron­

erbe und der Reichötagsmarschall, dieser aber nur wenn es sich um Be­

rufung des Reichstages handelt.

Wenn der ReichStagSmarschall die Be­

rufung des Reichstages für nothwendig hält, der König sich derselben aber widersetzt, so darf jener in gewissen Fällen von sich aus die Berufung

vornehmen.

Im Rath giebt die Meinung des Königs den Ausschlag.

Der König ernennt die Minister, wird aber dnrch */, der Stimmen des

Reichstages zur Entlassung und Entsetzung eines Ministers gezwungen.

Die Minister sind dem Reichstage verantwortlich. Unter dem Rath stehen als ausführende Behörden 4 Commissionen, für VolkSnnterricht, Polizei, Heerwesen und Finanzen, welche vom Reichstage besetzt werden.

8.

Der Thron wird für einen Wahlthron nach Familien erklärt,

zur nächsten Dynastie nach dem Tode deö regierenden kinderlosen Königs wird die des Kurfürsten von Sachsen erwählt, zur Infantin dessen Tochter. Jeder König hat ans die Verfassung und die zu vereinbarenden Pacta

conventa den Eid zu leisten.

son heilig.

Der König ist unverantwortlich, seilve Per­

Alle öffentlichen Acte, Gerichte, .Aemter,

Tribunale, Münze

und Stempel tragen den königlichen Namen; der König hat das Begna­

digungsrecht für nicht staatliche Verbrecher, er hat den Oberbefehl über die Armee und ernennt die Offiziere. 9. Die Justiz ist unabhängig vom König und Reichstag.

Die bis­

herigen Gerichte werden im Wesentlichen beibehalten; für Staatsverbrechen

wird alle 2 Jahre vom neuen Reichstage ein höchster Gerichtshof gewählt, Ein neuer Codex der Civil- und Criminalgefetze soll ausgearbeitet werden. 10. In gewissen Fällen führt der Rath unter Leitung der Königin

oder des Primas die Regentschaft. 11. Die Söhne des Herrschers und ihre Erziehung stehen unter der Oberaufsicht des Reichstages, in unmittelbarer Leitung des Königs und des Rathes.

12.

DaS Heer ist das zu seinem

Schutz bewaffnete Volk.

DaS

Heer hat dem Könige und dem Volk den Fahneneid zu leisten. Nachdem der BerfaffungSentwurf im Reichstage verlesen worden war,

dankte Stanislaus Malachowski in feuriger Rede dem Könige für das wie

er vorgab von ihm ausgehende ausgezeichnete Werk. tete und endete mit den Worten:

Der König antwor­

„Der König mit dem Volk und das

Volk mit dem König! so werde ich bis zum Tode anSrufen."

Diese Worte

zündeten und wurden lebhaft von der Versammlung wiederholt.

Da trat

wieder jener SuchorzewSki hervor, seinen Knaben an der Hand si'chrend: er wolle an diesem Orte sein eigenes Kind tödten, damit es nicht die

Sklaverei erlebe, welche der Entwurf vorbereite.

ihm den erschreckten Knaben. Seiten.

Seine Freunde entrissen

Nun erhob sich wüstes Geschrei auf beiden

Dir Conservativen schrien- die Pacta conventa seien verletzt

wordm, sie mögen verlesen werden.

Dieses geschah und man stritt über

daö Recht des Reichstages, durch die neue Erbfolgeordnung die vom Volk abgeschlossenen Pacta conventa zu ändern.

Der König selbst hatte schon

vdrher diese Frage vermeiden wollen, indem er bat, ihn m dieser Bezie­ hung von der Verpflichtung der Pacta conventa zu entlasten.

Nun

drängten sich die Redner zur Tribüne, die einen glühten für Vaterland, für polnische Freiheit, die Polen vor allen Völkern auSzeichne, die andern

deckten die Blößen deS Staates auf.

Am meisten wirkte KicinSki'S Schil­

derung dex Schmach, welche Rußlands gewaltthätigeö Benehmen Polen angethan hDe und noch anthne, und welcher nur ein kraftvoller Monarch en^egentreten könne. Die Gegner zeigten, wie der.Entwurf gesetzlich erst

drei Tage lang zur Einsicht ausliegen müsse, ehe man über ihn abstimmen

könne, wie in den ReichStagSnniversalen nur von der Wahl des Kurfürsten

zum Nachfolger StaniSlauS Augusts, nicht von der Erblichkeit der Krone die Rede gewesen sei. Ausrufe, Apostrophen, Thränen wurden verschwen­ derisch zur Verstärkung der Reden angewandt.

Stanislaus Potocki, ein

Mitarbeiter an dem Entwurf, fiel nach schwungvoller Ansprache vor den

„Gottheiten des Volkswohls", wie er die Glieder des Reichstages nannte-

auf die Kniee nieder und flehte sie an, den Entwurf zu genehmigen.

Der

König bot seine glänzende Beredsamkeit zu Gunsten des Entwurfs auf, er schilderte wie das Vaterland ihm allein am Herzen liege, wie der Ent­

wurf ihm persönlich Gefahr bringe, wie er aber nun bereit sei, unbeküm­

mert um diese Gefahr den Entwurf zu vertheidigen.

Der heutige Tag

werde der herrlichste sein oder aber er, der König, werde weinen müssen um daS Vaterland.

Die Patrioten nnd die Menge des PublicumS riefen

dem Könige und der Constitution Lebehochs zu wie sie jeden progressistifchen

478

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791,

Redner mit stürmischem Beifall begrüßten, die Stimmen der Gegner aber

überschrieen.

Diese traten indessen hartnäckig fort und fort auf die Tri­

büne, sie protestirten gegen die Gesetzwidrigkeit des bevorstehenden Schrittes, sie appellirten an das Volk, das eine Tyrannei des Reichstages zu er-

errichten im Begriff sei.

Hin und her wogte der Kampf, alle Künste der

Rhetorik mußten den Effect erhöhen, daS Publikum wurde immer lärmen­ der.

Da beschwor der Landbote von polnisch Livland Zabiello die Ver­

sammlung bei ihrer Liebe zum Baterlande,

den Entwurf anzunehmen.

„Ich bitte dich, durchlauchtigster König, sprach er, leiste alS Erster den Bürgereid auf die neue Verfaffung und wir alle werden dir folgen."

Von

allen Seiten erhoben sich Rufe der Beistimmung, die Senatoren umringten

den König.

Das Publikum drängte sich in den Sitzungssaal und schrie

Vivat der Constitution, bis von der Straße her vernahm man das bei­

In diesem

fällige Getobe der für diesen Zweck vorbereiteten Menge.

Augenblicke drang noch einmal Suchorzewski zum Thron vor, warf sich

zur Erde und schrie mit kreuzweise verschränkten Armen:

„Ueber meine

Leiche werdet Ihr zum Eide schreiten, der die altpolnische Freiheit tödtet!" Er ward von seinen Freunden weggeführt und der Lärm dauerte fort.

Endlich entschloß sich der König, der Sache ein Ende zu machen. Er er­

klärte. der Reichstag habe seinen offenbaren und festen Willen kundgegeben, und forderte den Bischof von Lkrakau auf, ihm den Eid abzunehmen.

Nachdem dieses geschehen, sprach er: „Juravi domino, non me poenitebit. Freunde des Vaterlandes, mir nach zur Kirche."

Er erhob

sich, der

Reichstag folgte und im Triumph unter erschütternden Zurufen deö Volkes und endlosem Jubel gelangte der Zug zur Kirche St. Johannis.

Hier

benutzte der eitle Kasimir Nestor Sapieha die Gelegenheit zu einer Ent­

faltung seiner rednerischen Gaben, dann erfolgte die Vereidigung der Glieder de- Reichstages auf die neue Verfaffung.

Inzwischen waren die Gegner in nicht unbetrÄchtlicher Menge im Sitzungssaal zurückgeblieben. Der vollendeten Thatsache gegenüber blieben sie passiv.

Branicki unterschrieb sogar die Verfassung.

AIS am folgen­

den Tage die VerwaltungScommissionen zur Unterschrift aufgefordert wur­ den, leisteten dieselben Folge, aber die Verfassungscommission, über deren

Kopf hinweg die neue Verfassung entworfen und angenommen worden war und deren Vorsitzender der Bischof Koffakowski, ein verschwenderischer und

schon damals im russischen Solde stehender Egoist war, machte Schwierig­

keiten. — Wieder drangen Schaaren niederen Volks in den Saal und nach jeder Rede forderten diese gewichtigen Zeugen die Glieder der Ver-

saffungSdeputation mit lautern Geschrei zur Unterschrift auf.

Sie unter-

schrieben.

Allmählich traten auch viele frühere Gegner der stets wachsen­

den und von der Volksstimmung unterstützten BerfassungSpartei bei und unterschrieben gleichfalls. Die Stadt war in Begeisterung. Kasimir Nestor Sapieha, ein früherer

Feind der Verfassung, der aber im letzten Augenblick derjenigen Partei sich anschloß, die muthmaßlich allein die Stütze des Ehrgeizigen werden

konnte, überbot nun alle an Verherrlichung des 3. Mai. Abzeichen an mit der Aufschrift: mit dem Könige".

Er legte ein

„Der König mit dem Volk, das Volk

Bald trug alle Welt dieses Abzeichen an einem ledernen

Schulterriemen. Die Damen ahmten dem Beispiel nach, das von der Nichte des Königs, der Pani Thszkiewicz gegeben worden war, und man sah sie stete

mit himmelblauem Gürtel, auf dem dieselbe Aufschrift wie oben zu lesen war.

Ein Schwindel ergriff die ganze Bevölkerung, die Gegner wagte»

sich nicht öffentlich zu zeigen, die meisten heuchelten ihren Uebertritt zu

den Patrioten.

Die ehemals wüthendsten Gegner ergossen sich in Lobreden

auf die Verfassung, thaten als ob nichts ihre Begeisterung für sie bändi­ gen könne.

DaS Reichstags-Gericht drohte mit Strafe demjenigen, der

sich-der Constitution widersetzen werde, wozu es durch einen am 3. Mai gefaßten Beschluß des Reichstages selbst befugt war.

Endlose Feste, Illu­

minationen und^ Vergnügungen erhöhten die Stimmung. Daö Land ward von der Revolution durch ein Universal in Kennt­ niß gesetzt welches die Rettung des Vaterlandes durch den Reichstag pries. An vielen Orten wurde die Nachricht mit Jubel ausgenommen, um so mehr als anfangs das Bewußtsein und

waren, waS geschehen war.

die Kenntniß deffen sehr gering

So war eS eine kurze Zeit der schönsten

Hoffnungen und patriotischer Begeisterung, welche der 3. Mai dem Volke und seinem Könige gebracht hatte.

Schauen wir noch flüchtig auf den Inhalt dieser ersten und letzten geschriebenen Verfassung Polens zurück, deren wesentliche Bestimmungen wir oben anführten.

In der Periode der VerfassungSstürme Europa'«

nimmt sie nicht blos der Zeit nach die erste Stelle ein, sondern verdient auch bemerkt zu werden durch den ihr eigenen Geist.

So unvollkommen

sie für unsere heutigen Ansprüche war, so wird man ihr weder eine ge­

wisse Originalität absprechen, noch die Mäßigung übersehen können, die sie den gegebenen Verhältnissen gegenüber bewahrt, eine Mäßigung, die gerade inmitten der wirren Zuständen eines von Natur leidenschaftlichen und po­

litisch unreifen Volke- auffällt. 'Man bemerkt darin leicht die Ideen der neuen Zeit, den Geist der fran­ zösischen Revolution in ihren maaßvolleren besseren Erscheinungsformen,

480

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

durchschnitten von den nothwendigen Rücksichten auf das polnische Wesen und seine bisherige Entwickelung.

Die nahe Verbindung, in welche Palen

besonders seit der Conföderation von Bar mit Frankreich und seinen hervor­

ragenden Geistern getreten war, vermittelte und verstärkte die Durchdringung deS polnischen Reformgeistes von Gedanken der französischen Aufklärungs­

philosophen.

So hatte man schon im Jahre 1772 sich durch den königli­

chen Küchenmeister WielhorSki, nach Andren durch den französischen Ge­ neral Viomenil, damals nach Dumouriez Abgang, Obercommandiren-

den der Truppen der Conföderirten von Bar*), ausdrücklich an Rousseau um seine Meinung über Polen und über eine Reform der Verfassung gewandt, und dieser hatte in seinen „Consid6rations sur le Gouverne­

ment de Pologne“ Ansichten ausgesprochen, die nun zur Verwerthung

gelangten. Die Behutsamkeit in der Befreiung deS Leibeigenen und in der Ber-

befferung seiner Lage, die Verordnung für die Bürger, welche eine all­ mähliche Verschmelzung des Adels mit dem Bürgerstande herbeiführen

sollte und manches Andere sind die Gedanken des Genfer Philosophen, die freilich scharf den Ideen widersprechen, mit denen sein Contrat social

die Welt entzündete.

Rousseau hatte auf solche Weise das merkwürdige

Schicksal, im Osten Europa'« eine Revolution wesentlich gefördert zu haben, welche grade den Gegensatz zu derjenigen bildete, die er inz Westen schürte. Polens StaatSgedanke war feit Jahrhunderten der Vertrag gewesen: der­

jenige^ Frankreichs seit Jahrhunderten daS monarchische Recht.

Als das

monarchische Recht in Frankreich von dem neuen Bertragsgedanken bedroht

ward, alS Frankreich vom Absolutismus zum Vertragsstaat hinübersprang,

da ließ der Sprung den Boden auch in Polen erbeben — und man sprang

auS dem Vertragsstaat in die Erbmonarchie!

In Frankreich führten die

Schriften Ryusieau'S zur Gleichheit Aller durch Herabdrückung aller ständi­ schen Unebenheiten, hier suchte man dje Gleichheit durch Emporheben deS

Bürgers zum Edelmann herzustellen und ließ sogar die Unfreiheit deS Bauern

im Ganzen unangetastet. Und das auf ausdrücklichen Rath Rouffeau'S**). In Frankreich schuf man Grundrechte deS Volks, hier gelang es der liberalen

Partei, die alten polnischen Volksrechte, die von den Conservativen eifrig in den Vordergrund geschoben wurden, in der neuen Verfassung fast ganz zu übergehen.

Dort tauchte der dritte Stand gegenüber den alten Ge-

*) Daß Viomenil eS war, der sich an Ronsseau wandte, erzählt Heyking a. a. O. Th. II. Cap. 2, WielhorSki wird in den Denkwürdigkeiten deS S. Bukar genannt, s. die Denkwürdigkeiten Ochocki'S Th. IV., S. 239. **) Vgl. (Ferrand) Histoire des trois demembremens de la Pologne T. III., pieces justificatives du livre X., No. 1.

walten auf und machte die Revolution, hier machten die beiden ersten

Staude im Bunde mit dem Könige eine Revolution gegen eine Gefellfchastsgruppe, die niedere Schlacht«, welche zum Theil den dritten Stand Frankreichs darstellte.

Dort kämpfte die Gesellschaft gegen die verrotteten

Formen des StaateS: hier stritt der Staat gegen die politisch unfähige

Gesellschaft.

Dort trug der Fortschritt die Fahne der Volköfreiheit: hier

stand der Rückschritt auf der Seite der altpolnischen nationale» Freiheit

Die Gegensätze sind, so scharf, als sie nur irgend gedacht werden können, und dennoch natürlich genug.

Fortschritt und Rückschritt sind eben sehr

schwanke Begriffe nnd wandeln sich je nach den Verhältnissen die sie berühren.

Frankreich rang sich

aus dem starren Absolutismus heraus

zur Demokratie hin: Polen drängte von der zügellosen Oligarchie zum Königthum:

Denn Polen war in Wahrheit eine Aristokratie,

wie wir

sie nur in den alten Staaten Griechenlands vorfinden, in denen jeder

Bürger den Staat vertrat und doch zugleich dem Nichtbürger, einer Masse von Sclaven gegenüberstand, die mit dem Staat nichts zu schaffen hatten.

Waö in Athen oder Sparta möglich war konnte in einem so ausgedehnten

Reiche wie Polen nicht Dauer haben und so erfolgte in Polen eine Re-

voluüon von oben wie in Frankreich eine Revolution von unten, so war eö in Polen liberal, die Tyrannei der aristokratischen Staatsgewalt des ein­ zelnen Bürgers gegenüber der StaatSeinheit zu beschränken, wie es in

Frankreich liberal war, die Tyrannei der monarchischen StaatSeinheit gegen dem Bürger zu bändigen. In der That kann man dieser neuen Verfassung im Ganzen die

Anerkennung nicht versagen, die Hauptschäden

des polnischen

Staats­

wesens mit geschickter Hand erfaßt und in ihren Wurzeln ausgebrannt zu haben.

ES spricht aus ihr unzweifelhaft ein Scharfblick, Reife, Besonnen­

heit und Unbefangenheit des Geistes die glänzend hervorleuchten in der

Menge politischer Unfähigkeit, die überall die polnische Geschichte und Ge­

sellschaft aufweisen.

DaS Werk enthält mancherlei Lücken, Zweideutig­

keiten, eS bleibt oft auf halbem Wege stehen; aber das sind nicht Mängel dieser Schöpfung, sondern solche der damaligen Verhältnisse, die hier zum

Ausdruck kommen und um so mehr den Scharfsinn desjenigen bekunden

der nicht ein Ideal von Verfassung, sondern eine seinem Volke anpassende Staatsform im Auge hatte, und der den Widerstand nicht übersah, welcher

im Reichstage zu überwinden war.

Es war ein besseres Werk als die

französischen Verfassungen, denn eS war relativ gut, nicht verpfuscht durch die moderne Krankheit deS politischen Doktrinarismus, dieses gravitätisch

blinzelnden StaatSeulenthumS.

Wäre z. B. der Schlacht« die zweideutige

Concession nicht gemacht worden, daß ibre sämmtlichen Rechte nnd Privi-

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft -.

33

482

Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.

legien bestätigt wurden, so mochte Wohl das ganze Werk in Stücke gehen. Das Verdienst dieses Werkes gebührt hauptsächlich Hugo Kollontay, der

von Ignaz Potocki in die Verfassungsdeputation war berufen worden.

ES

erndtete im Auslands vielfachen Beifall, Burke Si^yeS und viele Andere sprachen von ihm in den lobendsten Ausdrücken.

Ein Borwurf freilich,

den diese nicht erhoben, donnerte bald von allen Seiten gegen die Con­ stitution vom 3. Mai loS und schmetterte sie und den Staat zu Boden: der Vorwurf, über der Heilung des eigenen Leibes die Aerzte vergessen

zu haben, in deren Händen Polen sich befand.

Die Aerzte kurirten den

Kranken rasch in ihrer Weise. Ernst von der Brüggen.

Kritische Streifzüge. VI. Aus der Wertherzeit.

Am Schluß mente« vorigen Streifzugs versprach ich, ans Erich Schmidt'- »Richardson, Rousseau und Goethe" noch einmal zurück zu kommen.

Indeß ist eine neue, sehr interessante Mittheilung au- der

Wertherzeit erschienen: „Goethe'- Briefe an Johanna Fahlmer,

herausgegeben von Urlichs, Leipzig bei S. Hirzel", durch welche die sehr spärlichen urkundlichen Notizen aus jener Zeit eine willkommene Ergän­

zung finden.

Diese und andere Quellen veranlassen mich, über die Ge­

schichte de» Werther Einige- nachzuholen. Daß im „Werther" Biele- au- der „Neuen Heloise" durchklingt,

war allgemein bekannt; Erich Schmidt hat sich nun mit großer Gewissen­

haftigkeit und Sorgfalt der Aufgabe unterzogen, die Beziehung der beiden Romane zu einander, den Einfluß des einen auf den andern im Detail

zu untersuchen.

Biele Freunde und Verehrer der Dichtkunst sind einer

solchen Analyse abhold, und sie ist auch nicht für Jedermann; nicht Jeder, der sich an einem aufblühenden Baum erfreut, wird eS gern haben, wenn man ihn anschneidet, um den Zusammenhang des innern Organismus zu

entdecken.

Gleichwohl hat so etwas einen großen Nutzen.

Die Wissen­

schaft der Geschichte ist erst recht aufgeblüht, seitdem man der Filiation der Ideen ernsthafter nachgeht: die Filiation der Bilder und Vorstellungen

hat daS nämliche Interesse, und ebenso, waS damit enge zusammenhängt, die Einwirkung der Empfindungö- und Ausdrucksweise des einen Volks auf da- andere.

Je sorgfältiger man das Einzelne sammelt, prüft und

vergleicht, desto höher steigt der Werth der Arbeit.

Man glaube ja nicht, daß der unmittelbare Eindruck des Kunstwerks

darunter leide.

WaS Erich Schmidt von der Einwirkung der „Neuen

Heloise" ans den „Werther" sagt, ist Alles voNommen richtig, aber nun

lese man die beiden Bücher hintereinander, und man wird erstaunen, wie ungeheuer der Werther gewinnt.

Goethe hat von Rousseau sehr viel ge-

33*

Kritische Streifzüge.

484

lernt, aber als Künstler hat er ihn in einer Weise überboten, daß man

eigentlich aus dieser Vergleichung erst recht das volle Maaß seiner Größe gewinnt. Nach dieser Seite hin kann Schmidt'S Arbeit als fertig betrachtet werden, als etwas, was nicht zum zweiten Mal angefangeu zu werden

braucht, und ich darf den Leser auf das Buch verweisen; dagegen will ich

versuchen, ihn nach andern Seiten hin zu ergünzen. Wie Joung'S „Nachtgedanken" auf ihn gewirkt haben, hat Goethe in

„Wahrheit und Dichtung" selbst bekannt: nicht sowohl auf die Conception

deS Romans, als auf die. Gemüthsstimmung,

wurde.

von welcher er getragen

Eine andere ebenso wichtige Quelle für diese Stimmung war

Klopstock: die begeisterte Feier dieses Dichters im Roman bei Gelegenheit einer Frühlingsstimmung spricht den Dank dafür auS.

Die Liebe, wie sie im „Werther" geschildert wird, und wie sie die

damalige Jugend biS zu einem Wärmegrad elettrifirte, von dem wir heute

kaum einen Begriff haben, ist, so viel ich die Literatur übersehe, keine specifisch deutsche Erscheinung; ich meine diejenige Art Liebe, durch welche

von dem Besitz der geliebten Person die völlige Existenz abhängig gemacht wird, welche daS ganze Sein des Menschen ausfüllt.

Das Bild der Liebe

geht unS Deutschen mehr in der Art unseres Martin Luther auf: wir denken sie uns gern am Familientisch, unter Kindern, zum Weihnachts­ baum, alS Sonntagöstimmung, die wesentlich zum Gehalt der Werkeltage gehört, aber doch denselben nicht ersetzt.

An Geschichten unerlaubter Liebe

fehlt es in der deutschen Literatur gar nicht, aber sie wird in der Regel

leichtfertiger behandelt. So äußerst verschiedene Figuren wie Günther und Christian Weise legen Zeugniß dafür ab: jener durch die Art des Wechsels in feinen Leidenschaften, dieser durch den Spott gegen die schrankenlose Leidenschaft überhaupt. Bei den romanischen Völkern ist es anders.

Schlagen wir eine be­

liebige Novelle von Cervantes auf, denn das Motiv wiederholt sich: bei

dem Eintritt eines LiebeSunglückS hat der Liebende durchaus nicht nöthig, nach der Pistole zu greifen; er fällt hin und ist auf der Stelle todt, der

Schmerz hat ihn getödtet.

Das wird ganz einfach erzählt, es wird also

vorausgesetzt, das Publicum werde sich wohl dafür interessiren, aber nicht weiter besonders wundern.

Und es ist ein populairer Dichter, der so

schreibt: bei den spätern Hofdichtern wie Calderon ist die Couvenienz be­ reits so fest gestellt, daß die Liebe, so leidenschaftlich sie sich vorher ge­ bärden

mag, beim Eintritt der Katastrophe sich

sofort und unbedingt

subordiuirt. In der italienischen Poesie bieten sich zahllose Beispiele; von der

französischen erwähne ich nur „Manon LeScaut", ein Menschenalter vor dem Werther: in welcher die Allgewalt der Liebe mit einer solchen Para­

doxie auf die Spitze getrieben ist, daß Werther lange nicht hinanreicht. Shakespeare hat im Ausdruck dieser Leidenschaft wie im Ausdruck aller

Leidenschaften das Größte geleistet, aber nicht ohne Grund verlegt er jedes Mal die Scene nach Italien oder sonst in ein südliches Klima. In Deutschland nun war durch Klopstock ein großer Umschwung er­

folgt.

Seine Liebesgedichte an Fanny fanden gewaltigen Wiederhall unter

der Jugend, und er sorgte durch Briefe dafür, das Gefühl der schmerz­

haften Entbehrung als etwas höchst Merkwürdiges und Bedeutendes seinen Anhänger^ und Freunden einzuprägen; die Briefe an Fanny selbst sind

freilich erst neuerdings veröffentlicht.

Da- Neue bei Klopstock ist nicht die

Liebe an sich, sondern daß die Liebe überhaupt und namentlich die unglück­ liche Liebe als ein eminent sittliches Motiv aufgefaßt und mit Feierlichkeit behandelt wird, als etwas, was den Menschen verkläre, ihm einen Heili­

genschein gebe, ihn über die Gemeinheit des Lebens hoch hinaus führe. In diesem Sinn wirkte auch der „Werther" in der durch Klopstock vorbe­

reiteten Jugend.

Man betrachtete den Roman nicht als eine gut, wahr

und rührend erzählte Geschichte, als die treue Beobachtung eines singulären

Falls, sondern als ein Ideal: so müsse der hohe echte Mensch empfinden, und wer nicht so empfinde« könne, sei kein echter und hoher Mensch. Zeugniffe von dieser Wirkung haben wir zu Tausenden, und ich glaube,

däß Goethe selbst unter denn Wiederhall solcher Stimmungen allmählich sein Werk anders auffaßte, den Schlüssen Sir Henry Rawlinsons einverstanden erklären, so

mbient doch das Sachliche und Thatsächliche seine» Werke» allerdings volle und anerkennende Aufmerksamkeit.

Aus seiner Darstellung der in jenen

Gegenden obwaltenden Verhältnisse empfängt man den Eindruck unbe­

dingter Verläßlichkeit.

Er kennt die Dinge und Personen genau, hat selbst

sehen und beurtheilen können, und ist erkennbar bis in die neueste Zeit in dauernd beobachtendem Könne; mit ihnen geblieben.

Wenn nun auch nicht

die Eroberung Ost-Indien» durch Rußland, so können doch au» den ge­

genwärtig in Affghanistan obwaltenden Verhältnisten Konflikte entstehen, die in ihrer politischen Bedeutung nicht unterschätzt werden dürfen, nament­

lich in .einer Zeit,

wo Eisenbahnen schon nach Persien und Kabul hin-

züngeln, und auch für dort eine neue Zeit ankündigen.

Wir wollen also

versuchen, da» Thatsächliche aus den Mittheilungen Rawlinson's zusammen­ zustellen.

Ein Leitfaden für da» Verständniß und die Beurtheilung kvm-

mender Dinge! —

Ettglarib und Rußland im Orient.

564

Der alte Amir Shir Ali von Affghanistan ist seit einiger Zeit un­ zufrieden mit seinen englischen Alliirten.

Was diese Stimmung eigentlich

erzeugt, ist bei einem Asiaten nicht leicht zu ergründen. die Beobachtung Russischer Thätigkeit

im Vergleich

Zunächst wohl

mit der brittischen

Lässigkeit — Rawlinson loquitur — Für ihn mag eS unbegreiflich ge­

wesen sein, daß England sich unthätig in seinen alten Grenzen hält, wäh­ rend Rußland Jahr für Jahr eine Eroberung nach der anderen mache.

Er konnte also nur glauben, daß England der schwächere Staat sei.

An­

derseits lieben asiatische Herrscher es gleichzeitig mit beiden Parteien zu halten, und so mag Shir Ali, wie sein Sohn Jacub, seine Blicke ebenfalls nach zwei Seiten auSgeworfen haben.

Erwiesen hat Shir Ali mit dem

General von Kaufmann korrespondirt, und es ist nicht unmöglich, daß mit

der Zeit ein Russischer Agent seinen Sitz in Cabul, oder an irgend einem andern Punkte Affghanistan'S aufschlägt.

dete Beschwerden gegen England.

Shir Ali hat aber auch gegrün­

Lord Mayo hatte ihm seiner Zeit die

unbegrenzte Unterstützung Englands zngesagt, und der Amir verlangte eine solche zur Zeit, als die Annäherung der Russen durch das Land der Turk­

menen ihn gründlich beunruhigte.

So sah er sich denn gewaltig ent­

täuscht, als ihm geantwortet wurde, daß man sich die Beurtheilung des

Zeitpunktes müsse.

und des Umfanges

einer solchen Unterstützung Vorbehalten

„Hat er doch schon einen alten Groll gegen uns, — und zwar wie

viele meinen, nicht ohne Grund —, schon aus der Zeit der Kämpfe mit seinen Brüdern, welche unsere zögernde Politik verlängerte.

Schon damals

mußte er die Engländer für seine Erbfeinde halten, welche in sein Land

eingefallen, und seine Familie verbannt hatten. Hofes

Priester und Edle seines

sahen stets mit tiefer Feindlichkeit auf alle Engländer. — Motz

dieser gereizten Stimmung hat sich Shir Ali bis jetzt stets würdig, wenn auch

verschlossen gegen uns betragen,

und

hat weder Borwürfe noch

Drohungen laut ausgesprochen."

Daß er seinen jüngeren Sohn Abdullah Jan statt des älteren Ja­

cub Khan zu seinem Erben erklärt, mag nur Familien-Einflüssen zuzu­ schreiben sein, und daß er Jacub Khan verhaftet hat und eingekerkert hält, mag mehr eine Folge seines Gefühls persönlicher Unsicherheit, als die Absicht gewesen sein, England beleidigen zu wollen.

Jacub Khan war

entrüstet, daß sein Vater ihm sein Erbe nehmen wollte, und ihn auch mit Absetzung von seinem Posten als Gouverneur von Herat bedrohte.

So

erneuerte er denn seine Intriguen mit Persien, welche auch schon früher daS Mißfallen seines Vaters hervorgerufen. Vor allen Dingen muß man

bei diesem Streite in der Herrscherfamilie, — dessen Ausgang Niemand vpraussehen kann, — beachten, daß Affghanistan keine zusammengehörige

und zusammenhängende Monarchie ist und eS nie sein kann,

denn die

Nation besteht aus einer Menge von einzelnen Bolköstämme» von ganz

ungleicher Kraft und von einander abweichenden Gewohnheiten, die nur

von dem Charakter und der Fähigkeit ihres Herrschers zusammengehalten werden.

DaS Gefühl der Vaterlandsliebe, wie es Europa kennt, existirt

dort nicht, weil eben keine gleichgeartete Nation existirt.

ES ist dem Aff-

ghanen ganz gleichgültig, ob sie von Engländern, Russen, Persern oder Durani'S beherrscht werden und eS läßt sich auch in der That kein ir­

gend stichhaltiger Grund auffinden, weshalb Herat und Candahar gerade

zu Cabul gehören sollen.

Herat ist z. B. von Stämmen bewohnt, die

nicht das Geringste mit den eigentlichen Affghanen gemein haben, Jam-

schidiS, EhmakS und HazareHS. und Türkens

In Candahar dagegen Perser, TaShier'S

Die eigentlichen Affghanen sind durchgängig Widersacher

der Engländer und Gegner jeder Verbindung mit ihnen.

Es hat nie in

unserem Interesse gelegen, die Uebelstände affghanischer Mißverwaltung allgemein

bekannt werden zu lassen, ganz

im Gegensatze zu Rußland,

welches stets die Unordnungen in den Usbeghischen Khanaten und in den

Turkomannischen Steppen öffentlich bekannt macht. Beschwerden

genug gegen Affghanistan.

Und doch haben wir

Der BolLn

und

der Keiber-

Paß waren lange vollständig unserem Handel verschlossen; Raub, Ueberfälle, Verwüstungen an unseren Grenzen waren ebenso häufig, als an

der Grenze Rußlands gegen Chiwa.

Wir wollten aber eben keinen Grund

zur Einmischung haben und anerkennen, weil unsere Politik verlangt, daß

wir an unserer Grenze einen starken, unabhängigen und freundlich für uns gesonnenen Staat haben.

DaS hat aber auch sein Maaß.

Einen un­

ruhigen, in sich zerriffenen, uns feindlich gesinnten Staat dürfen wir an unseren Grenzen nicht leiden! —

Wenn

wir die Sicherheit hätten,

daß Rußland innerhalb seiner

jetzigen Grenzen bleibt, und nicht weiter als nöthig vordringt, um diese Grenzen zu schützen, so könnten wir in Frieden unsere Hände falten und uns weder um Kaschgar,

noch

um die Turkmenen,

das drohend unruhige Cabul bekümmern.

noch endlich um

Aber die schon gemachten Er­

fahrungen belehren uns, daß es eben Thorheit wäre, sich auf solche

Möglichkeiten zu verlaffen.

Rußland ist nun einmal die Macht, welche

unsere Ruhe verscheucht und unS zwingt, uns auf die unruhigen Waffer des politischen Kampfes zu begeben.

Mag es nun durch Absicht oder

zufällig fein, so ist doch das stetige Vordringen Rußlands gegen Indien unzweifelhaft; und wir müssen unS daher auf einen Zusammenstoß vor­

bereiten.

Eine neue Expedition gegen die Turkmenen bringt die Russen

unvermeidlich nach Merw.

Der gewöhnliche Weg in ähnlicher Lage wäre,

England und Rußland im Orient.

566

zunächst Erklärungen zu verlangen, und dann zu protestiren; da wir aber sehr wohl wissen, daß wir die Mittel nicht besitzen, den Vormarsch russi­ scher Truppen wirksam zu verhindern, so wäre es weder klug noch wür­

dig, auS einem Gewitter einen „brutum sühnen“ zu machen. Wir könnten vielleicht durch Persien daS russische Vordringen gegen Merw verhindern

oder anfhalten; aber das wäre sehr kostbar und die Wirkung doch unge­ wiß.

Bor allen Dingen würde eS uns aber zur Unterstützung Persiens

gegen irgend einen folgenden Angriff verpflichten. Wir haben uns daher, nach meiner Ansicht, vor allen Dingen über

die Prinzipien unserer Politik klar zu werden, die wir für die Zukunft in Central-Asien befolgen wollen; dann aber darüber zu wachen, daß diese

Politik unter unserer Controlle und soviel alS möglich in unseren eigenen Händen bleibt.

Früher gab eS Politiker — ich weiß nicht, ob sie jetzt noch so den­ ken, — welche eine in Indien eingedrungene russische Armee Indus bekämpfen wollten.

erst am

Ihr erstes Argument war, daß, je weiter die

Russen vordringen, je mehr entfernen sie sich von ihren HülfSquellen und je mehr würden sie von der dann erwachenden Feindlichkeit der Volks-Stämme

zu befürchten haben, über die sie zertretend hinwegschreiten müßten, um bis zu uns zu gelangen, während wir immer die See und unsere Flotten als

Operationsbasis, unsere Magazine, DepötS und Borräthe stets in der Nähe

haben würden.

Nur schade,

daß dieses Calcul den entmuthigenden ja

geradezu vernichtenden Umstand deS

moralischen Eindrucks außer

Acht

läßt, die unser Abwarten und unsere Unthätigkeit auf die Hindu-Bevölle-

rung hervorbringen würden, wenn diese sieht, daß wir unsere schönen und

blühendm Provinzen von

jenen barbarischen Horden

verwüsten lassen,

welche stch beutegierig unfehlbar an die Fersen einer europäischen Armee hängen würden, und daS würden dieselben wilden Reiter sein, die einst dem Nadir Shah nach Delhi folgten. Wir müssen eS also als abgemacht betrachten, daß wir nicht so lange warten, bis man uns angreift — denn in einem solchen Falle würde

die Gefahr in unserm Rücken noch viel größer sein, als die vor unserer Front — und eS fragt sich daher nur noch, welches ist

der Punkt, auf dem wir mit dem Feinde zusammentreffen, und von dem aus wir zu Rußland sagen: „So weit sollst Du gehen, aber nicht weiter!“ An unserer Nordgrenze hat sich Rußland selbst eine Grenze — die OxnSLinie — gesetzt, die allerdings nach den neuesten Abmachungen nicht über­

schritten werden darf. Aber von jener Seite droht Indien auch keine Gefahr. Die OperationSbasiS für ein europäisches Heer liegt nicht im Norden durch

den Hindu-Kuöh nach Cabul, sondern im Nordwesten durch Merw, Herat

und Candahar für diese Linie hat noch keine Uebereinkunft stattgefunden, denn jede Abmachung könnte England

und daS ist vielleicht recht

gut,

binden und Rußland doch

noch freie Hand lassen.

Also

keine Unter­

handlungen über ein weiteres Vorgehen Rußlands, sondern verhindern,

daß die Russen Merw besetzen und unS entschließen, daö MurghLl Thal,

alS den zugänglichsten Weg vvn Merw nach Affghanistan vertheidigen zu wollen!

Die Leichtigkeit, von Merw auS Herat zu nehmen, ist so flagrant

und die Folgen eines solchen Handstreichs würden so entscheidend für Indien seht, daß man es allerdings überlegen sollte, ob der russischen Besetzung

der einen, nicht sofort die englische Besetzung der andern Stadt folgen

müßte.

Sollte die

oder zwei Jahre

CrisiS noch ein

hinquSgeschobev

werden, so werden die Wolken, welche jetzt über Cabul hängen, sich wohl verzogen haben und Shir Ali dann wahrscheinlich.sehr zufrieden sein, wenn

der „Schlüssel Indiens" sich in den Händen einer britischen Garnison befindet.

Einigen unserer indischen Staatsmänner —- besonders solche, welche in

der modernen Schule eines politischen Puritanismus

erzogen worden

find, -7- wird freilich die Besetzung Herats durch brittische Truppen als ein wilder und ausschweifender Gedanke erscheinen.

Sie werden Visionen

von ermordeten Gesandten, eingekerkerteu Ladies, aufgeriebenen Regimentern,

die Ehre Englands in den Staub gitreten, Niederlage, Banquerutt und Ruin haben.

Absurditäten

Es



ist aber

der

wirklich Zeit,

abgestandene

Zeit der Schreckgespenster,

daß alle dergleichen kindische

Bodensatz einer

vorübergegangenen

Ich denke wahrlich nicht gleich­

aufhören!

gültig gegen die schwerwiegende Bedeutung des Schrittes, den ich Vor­ schläge,

uUd bin nicht taub für die mancherlei Bedenken,

die gegen die

Aussendung einer brittischen Armee in die Nord-Indischen Gebirgspässe,

gegen die ungeheueren Kosten und gegen daö Wiederaufleben von jetzt

ruhenden Feindseligkeiten mit Persien und Cabul erhoben werden können. Aber in militärischer Hinsicht würde eine Bewegung gegen Herat eine sehr

leichte Aufgabe sein.

Schließt sich der Amir von Cabul, im Interesse

seiner eigenen Vertheidigung, an uns an, so würde der Vormarsch von

Seindo aus über Quetta und Candahar nach Herat, nur eine „militärische Promenade" sein.

Die Entfernung von Scinde nach Herat ist wesentlich

geringer als die von Orenburg nach Chiwa, oder vom Kaspi See nach Merw, unser Weg reich an Lebens- und Beförderungsmitteln und die etwa

auf unserem Marsche zu überwältigenden Volksstämme nicht so gefährliche Gegner als Kirghisen und Turkmenen.

seiner jetzigen Verkehrtheit beharren,

und

Sollte der Amir Shir Ali in

unserm Marsche

nach Herat

Schwierigkeit oder Mißtrauen in unsere Absichten entgegensetzen wollen,

England und Rußland im Orient.

568

so werden unsere Vorbereitungen für den Marsch freilich umfänglicher getroffen, oder eine Expedition gleichzeitig nach dem Keiber Passe gemacht werden müssen.

Nach meiner Schätzung würden 10,000 Mann, — der

größte Theil natürlich Europäer, — dazu genügen; 5000 für die Garni­ son von Herat; 3000 in Candahar; 1000 müßten in Quetta und Piöhin

bleiben um die Verbindung mit dem Süden zu erhalten; 1000 müßten in Girishk und Farreh vertheilt werden, um Candahar bis Herat zu besetzen. Cabul selbst zu besetzen, würde ich nicht vorschlagen, ebensowenig,

daß wir uns in die inneren Angelegenheiten Affghanistan's mischen.

Im

Gegentheil müssen wir Alles Mögliche thun, um den Affghanen die Ueber­

zeugung beizubringen, daß eS sich für uns nicht um Eroberungen oder Vergrößerung, sondern um eine Vertheidigung unseres Besitzes handelt, die uns durch die aggressive Haltung Rußlands aufgezwungen worden ist. Will der Amir Shir Ali in dieser Politik mit uns gehen, unS die HülfSqnellen

West-Affghanistan'S zur Disposition stellen,

Herat zu fördern, — wie dies bei unserer

um unsere Expedition nach

früheren Operation gegen

Herat der Fall war, — so würde keine Nothwendigkeit für unS vorliegen,

aus in die gewöhnliche Civil-Verwaltung deö Landes zu mischen oder an­ ders zu verfahren, als bei zeitweisem Aufenthalte in Freundes Land.

Die Beamten des Amir würden dann wie gewöhnlich die Steuern einziehen und die Ruhe aufrecht erhalten, um unseren Requisitionen zu genügen, uns also wie eine HülfStruppe behandeln.

Sollte ein solches

Verhältniß aber Reibungen oder Unordnungen erzeugen, nun so könnten

wir daS Land für die nöthige Zeit selbst in Verwaltung nehmen, und dem

Amir eine liberal zugemessene Rente zahlen; die unS unentbehrlichen Distrikte aber durch englische Beamte verwalten lasten.

Ich kann wirklich keinen

Grund finden, daß wir bei einem solchen Abkommen und Verfahren nicht

gute Freunde mit dem Amir und seinen Affghanen bleiben sollten? Unsere Gerichtsbarkeit würde sich nur auf die Distrikte zu beiden Seiten unseres Marsches und unserer Verbindungslinie beschränken, also Shawl, PiShin,

die Ebene von Candahar, die untern Thäler des Turnuk und des Ar-

gandab, Girischk, Jamln-Dawer, Farreh, Sabzar und den fruchtbaren

Theil von Herat.

Dagegen würde der Amir die Herrschaft über daS

ganze übrige Affghanistan, von Mhmench bis Wakhan, von Ketel-i-Ghilzhe

bis an den Keiber behalten, und zum erstenmale feit er zur Herrschaft gelangte, einen ganz hübschen Ueberschuß über seine Einnahmen von Can­ dahar und Herat in seine Tasche stecken können.

Wohin eine solche Besetzung Herat'S führen kann, ist freilich nicht

abzusehen.

Rußland könnte möglicherweise vor einem Contakt

mit unS

zurückschrecken; oder wir könnten unS Beide in eine angemessene Entfernung

von einander zurückziehen, oder endlich die Russen in Merv» und wir in Herat uns dauernd festsetzen! Rußland könnte seine Mittel auf dem OxuS

oder auf dem KaSpi See an sich ziehen und wir durch eine Eisenbahn Candahar mit dem Indus verbinden, und so auf der ganzen Linie sich eine

gute Grenznachbarschaft herausbilden, die doch das Ende aller Vorgänge

in Central-Asien fein muß, wenn Rußland und England ihre Herrschaft gleichzeitig in Asien aufrecht erhalten wollen.

Wenn Rußland wirllich Absichten auf Merw hätte, so kann dies nur eine feindliche gegen uns fein! maßregeln

treten.

Für bloße Handelsvortheile oder Polizei­

wird kein Staat in eine so gefährliche Unternehmung

ein­

Nur Zwecke von höchster politischer Bedeutung könnten sie recht­

fertigen und ein solcher Zweck würde allerdings der Besitz von Herat sein. Jede Enropäische Macht aber, di« Merw hat, hat sehr bald auch. Herat,

und von Herat aus würde allerdings Indien ernstlich bedroht fein.

Herat

besitzt natürliche Vortheile von ganz auSnahmSweifer Bedeutung.

Es ist

die Grenzstadt zwischen Persien und Indien, ist durch Heerstraßen mit den

Hauptstädten aller seiner Nachbarländer verbunden, mit Cabul über die

Hazareh Höhen, mit Balkh und Bocchara über Mhmench, mit Chiwa über Merw, mit Mesched, mit Dezd, mit Iopahan, mit dem Seistan und mit Candahar.

ES hat ein herrliches Clima und liegt in der Mitte eines der

fruchtbarsten und bevölkertsten Thäler ganz Asiens. Die Stadt Herat selbst ist mit Erdwerken befestigt und zwar von riesenhafter Form und Ausdehnung, welche noch auS vorhistorischer Zeit

stammen und durch die Hinzufügung moderner Fortifikationen unnehmbar für jede asiatische Armee gemacht werden können.

Rußland im Besitz von

Herat würde stets die Hand an der Gnrgel Indiens haben, weil der Be­ sitzer von Herat sofort über alle militärischen HülfSquellen Persiens und AffghanistanS verfügen kann, uns also zwingen würde, unsere Armee im

Norden Indiens, um wenigstens 20,000 Mann zu verstärken.

Sieht man

die Lage der Dinge also auch nur aus finanziellem Standpunkte an, so

würde unser Ueberschreiten der Gebirgspässe und unsere Besetzung von Herat, jedenfalls die wohlfeilste Versicherung gegen Rußland sein, die nur unserem indischen Staatswesen zu Gute kommen würde.

Alle diese Verhält­

nisse sind übrigens schon einmal von unseren Staatsmännern reiflich erwogen

worden als die Lage sehr viel weniger bedeutend war; damals, als Persien Herat besetzen wollte.

Wir sandten 1838 eine ansehnliche Expedition in

den persischen Meerbusen, um das persische Heer zur Aufhebung seiner

Belagerung der Stadt Herat zu zwingen und als 1856 dessenungeachtet persische Truppen diese Stadt besetzten, führten wir einen wirklichen Krieg

mit dem Schah, nur um ihn zum Znrückziehen seiner Armee zu veran-

kaffen.

Wenn aber so nachdrückliche Maaßregeln schon damals gerecht­

fertigt erschienen, wo eS nur darauf ankam, die westliche Hauptstadt AffghanistanS davor zu schützen, daß sie nicht dauernd in die Hände Per­

siens fiel,

— und Persien ist doch immer nur der Mineur und Vor­

läufer von Rußland, — so sollte man sie doch viel umfänglicher anwen­

den, wenn diese Gefahr von Rußland selbst droht!

Ich will mir nicht

herausnehmen, die Kosten einer solchen Expedition nach Herat zu berech­ Jeder Kosten-Anschlag, der sich nur auf die ungewissen Daten

nen.

stützen wollte, die man bis jetzt übersehen kann, würde sehr trügerisch ausfallen.

Aber allerdings kann ich darauf Hinweisen, daß die Ausgaben,

die wir für unsere Defensiv-Stellung — mögen sie so groß sein, wie sie wollen, — machen müßten, nicht so bedeutend sein würden, als diejenigen, zu denen Rußland bereit sein muß, um sein wohlüberlegtes System des

Angriffs vorzubereiten und durchzuführen.

Denn hat sich Rußland erst

in Merw festgesetzt, und seine Verbindung dieses Platzes mit dem KaSpi-

See im Westen, und dem OxuS und Turkestan im Norden gesichert, so

hat eS 50,000 Mann an unserer Grenze, — und wenn auch die USbeghen-Länder wenig oder nichts zu ihrem Unterhalt beitragen, so wird

diese Armee jedenfalls eine Drohung für Indien sein. ES ist aber da noch ein anderer Punct, welcher der Verständigung bedarf.

Einige unserer besten Autoritäten in Central-Astatischen Dingen

behaupten, wir würden eine eben so ungeheure als nutzlose Verschwendung begehen, wenn wir Rußland schon jenseits der Gebirgspässe entgegen ge­ hen wollten, und die Schwierigkeiten unserer Posttion dadurch mindestens

verzehnfachen.

Sie glauben, daß wir überall auf Haß und Widerstand

stoßen, und die Affghanen selbst in die Arme Rußlands treiben würden, so daß die Russen nicht als Eindringlinge Widerstand finden, sondern als

Befreier begrüßt werden dürften.

"Meine eigene Erfahrung spricht aber dagegen und wird auch von den neuesten Reisenden in jenen Gegenden bestätigt z. B. in dem Buche

von Dr. Bellew:

„From the Indus to the

Tigris.“

Dr. Bellew von den Bewohnern CandaharS sagt:

S. 143, wo

„Die Unzufriedenheit

deS Volkes ist allgemein und manches stille Gebet wünscht die baldige

Rückkehr der Engländer, mancher Seufzer beklagt, daß sie das Land über­ haupt je wieder verlaffen haben. Die gerechte Behandlung und die Mensch­

lichkeit, die Sorge für verlaffene Kranke und Arme, welche die Engländer

bewiesen, der Reichthum, der sich während ihrer Anwesenheit über das ganze Land verbreitete, das Alles lebt in der Erinnerung und macht den

Wunsch nach unserer Wiederkehr um so lebhafter.

DaS ist keine über­

triebene Schilderung und spricht für den wohlwollenden Charakter unserer

kurzen Herrschaft in Candahar, die doch eigentlich nur eine vorübergehende

militärische Besetzung des Landes war.

Noch mehr tragen zu dieser

Stimmung in Candahar die Berichte bei, welche Kaufleute, die aus In­

dien znrückkehren, von unseren Zuständen dort machen.

Die neu entdeck­

ten Goldfelder zu deren Ausbeutung den Affghanen jedes Geschick und

alle Mittel fehlen, könnten übrigens in unseren Händen und von brittischen Ingenieuren bearbeitet, leicht unsere Expedition nach West-Affghanistan bezahlen."

So Dr. Bellen».

Als mögliche Feinde betrachtet, sind übri­

gens die Affghanen des Westen» geradezu verächtlich, und wenn wir un»

allenfalls eines Gefechtes im Bolan oder Khojer Paffe versehen, werden wir den ganzen Weg von Scinde bis Herat ungehindert zurücklegen kön­

nen.

Die ShndS von PiShin, die AtschikzieS am Khojer, welche selbst

1841—=42 während böser Zeit zu uns hielten» die Parfiwan-Bauern von Candahar, so

wie die Kaufleute und Ackerbauer

deS ganzen Landes,

würden Alle zu uns halten, Schutz und Unterstützung bei uns suchen.

Nur von den Priestern und einigen Durani Häuptlingen werden wir nicht» Gutes zu erwarten haben.

rigkeiten bei

Jedenfalls würden wir nicht größere Schwie­

unserer Okkupation von Candahar und Herat zu besiegen

haben, al» die Ruffen in Taschkend und Samarkand! —

Zum Schluß muß ich nur noch sagen, daß ich weder etwas Ueber-

eilteS, noch Unreifes Vorschläge.

Wenn Rußland am Kaöpi-See Halt

macht, so brauchen wir auch das Indus-Thal nicht zu verlaffen.

So

lange Rußland nicht nach Merw geht, so lange brauchen wir nicht nach

Herat zu gehen.

Wirft Rußland uns aber überlegt den Handschuh hin,

so müffe» wir ihn freilich aufnehmen. Als Wächter der Interessen In­ diens dürfen wir nicht leiden, daß Rußland unter dem Vorwande, die Turkmenen zu bändigen, oder sich eine Handelsstraße durch ganz Asien zu eröffnen, eine Stellung am Murghab einnehme, welche die Sicherheit Herat'» bedroht.

Herat ist strategisch wie politisch

ein unentbehrliches

Bollwerk für Indien, und wir können weder, noch dürfen wir zugeben, daß sein künftiges Schicksal in der Gewalt einer fremden Macht ist."

Wir haben den Autor in voller Unparteilichkeit selbst reden kaffen;

hat er doch gewiß in der Diagnose nach vielen Richtungen hin Recht, und es ist ja auch möglich, daß der Verlauf der Dinge ihm auch ferner Recht giebt; immer aber machen seine Argumente den Eindruck einer vorgefaßten

Meinung, für die er sich Alles zurechtlegt, gegen die er keinen Zweifel gestattet, und in welcher er vollständig aufgegangen, — wir wollen nicht

sagen — verrannt ist, und zu deren Unterstützung und Vertheidigung er

England und Rußland im Orient.

572

schon durch seine früheren Prophezeiungen gezwungen wird. In der That beruhen seine sämmtlichen Deduktionen fast durchgängig auf Trugschlüssen, deren Basis eine falsche ist. Wenn er sagt: „AlS Wächter der Interessen

Indiens dürfen wir nicht leiden, daß Rußland unter dem Vorwande, (pretext) die Turkmenen zu bändigen, oder sich eine Handelsstraße durch ganz Asien zu eröffnen, Herat bedroht."

Nun sind aber die Engländer

zunächst Wächter ihrer eigenen brittifchen Interessen, wie eS die Indier ihren indischen Interessen sind, und diese indischen Interessen gipfeln nur

in dem Einen Punkte, sich der englischen Oberherrschaft zu entledigen. Daß eine solche Tendenz, ein solches Streben dort vorhanden ist, darüber

sind alle, irgend Vertrauen verdienende Stimmen einig, und es ist ja auch das ganze Buch Rawlinsons weniger ein Angriff gegen Rußland als eine

Präventiv-Maaßregel gegen den Abfall Indiens!

ES ist kein bloßer Vor­

wand, wenn die Russen sich gezwungen sehen, die Turkmenen zu bändigen,

sondern eS ist eine sittliche, eine sociale, eine nationale und darum poli­

tische Nothwendigkeit!

ES ist kein Borwand, wenn Rußland sich eine sichere

Handelsstraße durch Asien bahnen will, sondern eS ist das Lebensbedürfniß

eines Staates mit 80 Millionen Unterthanen, dessen Handel, Industrie und Verkehr sich in einem allgemeinen, wenn auch von England mit einiger Scheel­

sucht anerkannten Aufschwünge befindet. Auf das Wort „Vorwand" hin läßt sich allerdings eine ganze Reihe von Trugschlüffen bauen, so wie ganze Ex­

peditionen organisiren, und jeden Wechselfall, dem sie begegnen möchten, im Voraus unschädlich machen.

Aber ganz dieselben „Vorwände" lassen

fich auf die Beziehungen Rußlands zu Japan, zu China und zu Persien, ja, gegen Klein-Asien anwenden, und theoretisch sind ja daS höchst inter­ essante Aufgaben für GeneralstabS-Probe-Arbeiten, oder für Leitartikel

größerer Organe der Tagespresse; aber in der Praxis sehen die Dinge denn doch wesentlich anders aus, und wir glauben, man rechnet unter

allen Umständen falsch, wenn man die russische StaatSkunst und Diplomatie für ungeschickt hält.

Eine solche Eroberung Indiens, gleichviel ob in teilt

militärischem Zuschnitt, oder als des Löwen Antheil bei Unterstützung eines

Aufstandes der Indier gegen die brittifche Herrschaft, wäre aber in der That etwas Ungeschicktes!

Dergleichen bei Russischen Staatsmännern vor-

auSzusetzen, dazu haben die merkwürdig stetigen Erfolge ihrer Politik im

ganzen XIX. Jahrhundert Niemandem ein Recht gegeben. Eine besonders verdienstliche Seite hat die Arbeit Rawlinson'S in der

großen Offenheit, mit welcher er — theils sogar aus eigener Erfahrung,



die von der englischen und englisch-indischen Regierung begangenen

Fehler in der Behandlung Persiens, der indischen Vasallenstaaten, u. s. w. bespricht; für ein Mitglied des Councils of India eine Bestätigung der Be-

Häuptling, daß er sich trotz seiner amtlichen Stellung vollkommen unabhän­

gig fühlt.

Ob ihm dies grade die Bewunderung seiner Collegen, — der

andern „MemberS, assembled in Council" — verschafft hat oder verschaffen wird,

ist eine Frage, die sich nach continentalen Begriffen von amtli­

cher Wirksamkeit und Verpflichtung doch nicht unbedingt bewundernd be­

antworten lassen dürfte, mit welcher die historische und politische Literatur

und ihre Kritik nicht abzurechnen hat, die im Gegentheil sehr dankbar dafür sein muß, daß ihr ein so reiches Material zur Disposition gestellt wird.

Rawlinson selbst sagt in der Vorrede (Preface VIII) von seinem Essay: „Der Zweck nicht allein seines letzten Kapitels sondern deS ganzen Buches ist die Feststellung des

Prinzips, daß,

wenn Rußland gewisse

Grenzen in seiner Annäherung an Indien überschreitet, ihm ein bewaffneter

Widerstand entgegengesetzt werden muß; selbst auf die Gefahr hin, einen Krieg zwischen beiden Ländern dadurch hervorzurufen."

Mit aller Achtung vor der schriftstellerischen und staatsmännischen

Bedeutung des Verfassers, können wir doch die Bemerkung nicht unter­ drücken, das solche Arbeiten wohl in den Carton für KriegS-Eventualitäten

des Councils of India oder des UnterstaatS-SekretairS für Indien, aber nicht, oder doch wenigstens noch nicht, in die Oeffentlichkeit gehören.

Ein

Buch, daß für englische Intereffen geschrieben auch in Rußland, in Persien, in der Türkei und vor allen Dingen in den indischen Vasallenstaaten ge­

lesen werden kann, tritt vollbewußt aus dem Kreise wiffenschaftlicher Auf­ gaben und Behandlung heraus,

und

beansprucht nur die Ehren einer

politischen Brochüre, setzt sich dann aber auch der naturgemäßen Contro-

verse aus.

Für Deutschland liegt das Interesse an dem eigentlichen Gegenstände der Rede und Gegenrede

räumlich allerdings sehr fern; politisch aber

nahe genug, wegen der Gruppirungen deS Für und Wider, welche

sich

sofort auch in Europa gestalten würden, wenn Merw und Herat wirklich

einmal aus dem Rebel der Conjektur', in die Klarheit der Aktualität tre­ ten sollten, denn Deutschland ist beiden Staaten, England wie Ruß­ land, aufrichtig befreundet, und hat keinen Grund dem Einen Sieg auf Kosten des Andern zu wünschen, um so mehr, als ein Sieg Englands

an der eigentlichen Lage der Dinge in Central-Asien gar nichts verändern

würde, ein Sieg Rußlands aber die Macht, das Prestige und die Bedeu­ tung Englands für die ganze civilisirte Welt so gründlich ändern würde,

daß damit der Fall Frankreichs von seiner früheren Höhe kaum zu ver­ gleichen sein dürste.

Wozu also dieses Herantragen

glühender Kohlen

an den schon vorhandenen fortschweelenden Brand unter der Central-

afiatischen Erde? In beiden Ländern gilt die deutsche TageSpresse in dieser

England und Rußland im Orient.

674

Frage hoffentlich für «npartheiisch.

Möge sie daher unablässig daS ihrige

thnn, um diese immer gehässiger und aufreizender werdende Polemik zwischen

Rußland und England abzuschwächen, und zum Ausgleich, zur Versöhnung

zu mahnen!

Für den Augenblick ist der Angriff leider ausschließlich und

eben so ausgesprochen auf Seiten der englischen Presie.

Nur selten und

wenn der, von den englischen Leaders angeschlagene Ton beleidigend und

zwar bewußt und anscheinend absichtlich beleidigend wird, antwortet die russische Presse.

DaS kann aber kaum noch von langer Dauer sein, denn jedes Ding hat eben sein Maaß, auch russiau Fobearance!

Vor einigen Tagen

nannte Daily Telegraph z. B. alle Serben „Schweinetreiber" und alle Montenegriner „Diebe," weil sie Slaven sind und weil sie zu Rußland

halten. Zu solchen Auswüchsen läßt sich allerdings Rawlinson nicht herab. Das macht aber sein Buch nicht weniger bedenklich.

Ein Schimpfwort

läßt sich verachtend ignoriren. Ein elaborirteö Argument fordert aber zur

Gegenrede heraus. Bis jetzt waren alle Fortschritte, alles Weitergreifen Englands in

Indien Calkül und Jntereffenberechnung; dagegen jeder räumliche Fort­ schritt Rußlands, ihm von seinen halbwilden Grenz-Nachbarn wenigstens

mit aufgezwungen worden.

Wir halten es für positiv unmöglich, daß Einer

dem Andern ein gebieterisches: Halt! bis hierher und nicht weiter! rnfen oder einen Erfolg davon erwarten könnte;

zu-

aber nicht allein für

möglich, sondern auch für wünschenöwerth, daß beide Staaten sich dort

friedlich erreichen und beide vereint an der großen Aufgabe der Civilisation

Asiens arbeiten. Potsdam, 26. April 1875.

L. Schneider.

Notizen. Dahlmanns Quellenkunde der deutschen Geschichte, welche die

historischen Studien so lange und so wirksam unterstützt hatte, war nach dem Tode ihres Verfassers nicht wieder aufgelegt worden und so veraltet. Bor sechs Jahren veranstaltete Professor Waitz eine neue Ausgabe, welche die verdiente

Anerkennung in so reichem Maße fand, daß er schon jetzt zu einer zweiten Be­

arbeitung schreiten konnte. Man spürt die sorgsame und unermüdete Hand des

Verfassers auf jeder Seite, und der Umfang des auch um ein Register ver­

mehrten Buches ist erheblich gewachsen; wenn trotzdem hier und da einige Wünsche unerfüllt geblieben sind, so ist dies kein Wunder: denn die Auswahl, welche, unter, einer stellenweise überreichen Litteratur , getroffen wird, kann bis zu

einem gewissen Grade nur subjektiv sein.

Wir erlauben uns ein paar Vor­

schläge zu machen, von denen wir annehmen, daß sie auch von andern Forschern

getheilt worden.

Bei den Wörterbüchern dürften Diefenbach und Kehrein, so

wie Lexer mit seinem Kärntener Idiotikon hinzuzufügen sein; bei der Numis­

matik Beierleins Werk über baierische Münzen; bei den Chronikensammlungen die Baseler von Bischer und Stern; bei den Urkundenbüchrrn das Breslauer

von Korn; bei den Rechtsquellen die preußischen Gesetzsammlungen, sowohl die

ältere von Mylius als auch die neuere, mit dem Jahre 1810 beginnende; bei den Liedern

die Sammlungen von Wolff, Körner und Uhland.

Die grund­

legenden Artikel von G. Schmöller über das preußische Städtewesen

waren

nicht nur hinten, wo sie sich nicht einmal der Typen bevorzugter Werke er­

freuen, sondern auch vorn, bei der allgemeinen Städtelitteratur zu erwähnen. Etivas schmal ist der Abschnitt über das Heerwesen ausgefallen; die preußische Armee ist ein so wesentliches Stück deutscher Geschichte, daß sie wohl darauf

Anspruch machen kann, auch hier reichlicher bedacht zu werden.

Man vermißt

Ciriacy und das zum Theil aus den Akten gearbeitete Werk von l'Homme de

Courbiere, ferner Scherbenings Reorganisation der preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden Gerwiens und Waldersees Organisation der Landwehr; Stamm­ listen und Regimentsgeschichten werden nicht einmal im Allgemeinen erwähnt.

Daß unter den statistischen Werken nicht ein einziges von L. Krug und C. F. W. Dieteriei genannt wird, beweist ebenfalls den nichtpreußischen Ursprung des

Werkes.

Ueberhaupt ist das Mittelalter ungleich reichlicher bedacht als die

Neuzeit: dort hätten wir nur noch die Erwähnung von Walter Alterthümer

der heidnischen Vorzeit in Heffen und Guibal Arnaud de Brescia gern gesehen. Unbescheidener sind wir bei den späteren Jahrhunderten.

Wir würden hinzu­

fügen: E. Fischers Abhandlung über Lundorp, bei Khevenhiller noch einen aus­ drücklichen Verweis auf die Kritik in Rankes Wallenstein, Schmettau über den

Feldzug von 1778, BenzenbergS und MinutoliS Schriften über Friedrich Wll-

helm III, die leider unvollendet gebliebene Biographie Gneifenaus von Fransecky, die Gallerte preußischer Charaktere, Dunckers Aufsatz über die von Preußen

Notizen.

576

gezahlte Milliarde, E. M. Arndt Erinnerungen aus dem äußeren Leben, die

offizielle Schrift: Darstellung des Benehmens der französischen Regierung seit dem Tilsiter Frieden, Ollechs Geschichte der Nordarmee, die offiziellen preußi­ schen Berichte über den dänischen Krieg von 1848 und 49.

Die französischen

Werke von Bignon, Thiers, Lefebvre u. s. w. durften wohl nicht nur summarisch

erwähnt werden; in der Epoche einer werdenden Universalmonarchie ist die Be­

schränkung auf eine nationale Litteratur am wenigsten angebracht.

Störend ist

die Eintheilung der Schriftsteller in gleichzeitige und spätere; methodisch von der

großen Wichtigkeit, zerreißt sie in einer bibliographischen Uebersicht eng Zu­

sammengehöriges und ist am Ende auch principiell nicht aufrecht zu erhalten: Sleidans Werk ist eben so gut eine Bearbeitung der Reformaüonszeit wie das

von Ranke.

Gerade bei dieser Periode vermiffen wir Uebersichtlichkeit am

meisten; hier kommt noch die nicht ganz glückliche Distinktion:

„Reformation"

und „die politischen Verhältnisse unter dem Einfluß der Reformation" hinzu, um

die Zersplitterung zu vermehren.

Retzows Charakteristik ist nicht 1804, sondern

schon 1802, Segurs Werk über Friedrich Wilhelm II., dessen Titel auch inkorrekt

angegeben ist, 1800 und nicht 1802 erschienen.

Die „Geschichte der Kriege seit

1792" ist von Schulz und Schütz gearbeitet, Mirabeaus Werk De la monarchie prussienne zum Theil von Mauvillon.

Die Notiz, daß die Werke von Damitz

auf Borträgen Grolmans beruhten, ist mißverständlich; wenigstens über den

Feldzug von 1814 schrieb Damitz das Schacksche Tagebuch ab und obenein recht

schlecht.

M. L.

Während sonst der militärischen Theorie nur ein kurze- Leben beschieden ist, haben sich an den Schriften von Karl v. Clausewitz schon mehrere Gene­ rationen unsrer Generalstabsoffiziere gebildet, und er trägt somit nicht den ge­ ringsten Antheil an den Siegen von 1866 und 70. Da außerdem seine Kritik das Urtheil der Nachwelt über ganze Persönlichkeiten und Feldzüge geleitet hat, so war es die Einlösung einer alten Schuld, daß Oberst F. v. Marheimb ihn zum Gegenstände eines Vortrags in der militärischen Gesellschaft machte, der nun auch im Drucke erschienen ist. So weit es in der kurzen Frist einiger Stunden möglich war, ist der Gegenstand erschöpft worden. Der beherrschende Gedanke in Clausewitz' Schriften ist der, daß der Krieg nicht, wie so viele seiner Zeitgenossen wähnten, angewandte Mathematik, sondern fortgesetzte Politik sei und daß man daher Feldzugspläne nicht nach den Bergen und Flüffen, sondern nach den Menschen, ihren Tugenden und Fehlern, ihren Neigungen und Be­ dürfnissen einzurichten habe. Dies hat der Verfasser sehr gut entwickelt. Die Skizze von Clausewitz' Leben ist etwas knapp gehalten; namentlich vermißt man eine Notiz über seinen Antheil an der Aufstellung der ostpreußischen Landwehr. Grolman ist irrig unter den preußischen Offizieren genannt, welche 1812 ihren Abschied nahmen; Wesel wird neben Cleve so erwähnt, als hätte es einer eigenen Provinz den Namen gegeben. Sehr erfreulich ist die hier eröffnete Aussicht auf Veröffentlichung des Clausewltzschen Manuscriptes über den Feldzug von 1806, dem Höpfner so viel verdankte. M. L. In der Reihe der von Schweizerischen Gelehrten herausgegebenen „Oeffentlichen Vorträge" ist kürzlich von Dr. Vietor Kayser ein „Psychologischer Essay" über „Macbeth und Lady Macbeth in Shakespeares Dichtung und in Kunst­ werken von Cornelius und Kaulbach" erschienen. Der Inhalt wird durch den Titel genügend angegeben. Kayser entwickelt die Charactere der beiden Gestalten

und untersucht, ob Kaulbachs bekannte Illustrationen zu der Tragödie dem geistigen Bilde entsprechen, welches der Dichter in unserer Seele wachruft, oder ob eS Cornelius besser gelungen sei, in seinem freilich nur einzigen Blatte, einer Zeichnung, auf der wir Lady Macbeth erblicken, wie sie im Schlafe wandelnd sich die Hände von Blut rein zu waschen sucht, den Geist Shakespeares zu er­ fassen und zu gestalten. Der Berf., der weder zu den Freunden noch den Feinden Kaulbachs oder Cornelius' gehört, sondern beide Männer als bereits historisch gewordene große Meister betrachtet, die eS unbefangen zu würdigen gilt, konnte sich natürlich nur für Cornelius entscheiden. Er weist nach, wie Kaulbachs Auf­ fassung in keiner Weise der tragischen Macht Shakespeares gerecht geworden sei. Er hätte einen Schritt weiter thun können, indem er von dem einzelnen Bei­ spiele auf die Totalität übergehend, Kaulbachs Illustration zu Shakespeare, wie die zu Goethe, einfach als verfehlte Versuche hinstellte, die auf ein oberflächliches Publicum berechnet sind und an denen kein wahrer Kunstfreund Freude haben kann. In zehn oder zwanzig Jahren wird dieses, Manchem heute vielleicht hart erscheinende Urtheil wahrscheinlich mit ganz anderer Schärfe noch ausgesprochen werden. Eine weitere Frage wäre, ob eS überhaupt möglich sei, großen Dichtern mit Illustrationen nahe zu kommen und dem Leser durch dergleichen, der Phan­ tasie zu Hülfe kommende Zuthaten Nutzen und Genuß zu bereiten. Antworten ließe sich, bei fortlaufendem Beweisverfahren an der Hand der Kunstgeschichte: daß bildliche Darstellungen von Scenen auS den Dichtungen Homers, Dantes und der übrigen Heroen gleichen Ranges erst dann Werth haben, wenn sie an diese Dichtungen als selbständige eigene Erweiterungen ihres Inhalts nur an­ knüpfen. Große Maler von starker eigner Individualität haben bisher nirgends etwas zu Stande gebracht, das sich im heutigen Sinne als Illustration der Dichter bezeichnen ließe. Cornelius' Lady Macbeth hat einen viel zu starkep Zusatz von Cornelius' Blute in ihren Adern, um als Shakespeare'- alleinige Creatur gelten zu dürfen. Kaulbach'S Darstellungen erfüllen, so betrachtet, m der That bester ihren Zweck. ES sind wirkliche Illustrationen zu Macbeth, ja, sie entsprechen so sehr deu Durchschnittsanforderungen der großen Mäste, daß man nicht ohne Bewunderung die Beobachtungsgabe deS Künstlers erkennt, die ihm so deutlich zeigte, was dem heutigen Publikum eigentli«^ gefalle, während uns nicht minder dre Erfindungskraft imponirt, mit der er in leicht verständ­ licher eleganter Waare diesen Anforderungen zu genügen verstand. Die ungc» meine, in ihrer Art einzige Gabe Kaulbachs, jedes geistige Thema sofort zu einer bildlichen Darstellung zu gestalten^ die Jedermann verständlich ist, wird künftig den größten Theil seines Ruhme- ausmachen. Seine Composttionen zu Macbeth stellen die Scenen der Tragödie gleich fix und fertig dar, wie sie von den Händen eines gut geschulten Regisseurs auf der Bühne eines idealen Theaternach Meininaischen Principien arrangirt erscheinen und den Beifall de- sich amüstrenden Publicum- ohne Zweifel nicht umsonst herau-fordern würden. H. G.

Druckfehler. S. 420. Z. 17 v. o. lies: Arbeit statt Bildung S. 433. Z. 8 v. u. lies: Bolksvermögen schufen, statt Volk-Vermögen,

Perantwortlichcr Redacteur: Dr. W. Wehren Pfennig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.

Preußische Jahrbücher. Vd. XXXV. Heft 5.

39

über welchen die Beobachtungen (seit 1786) sich erstrecken, so ist eine vollstän­ dige Neubearbeitung der Bahn des Encke'schen Cometen um so mehr wünschenswerth, als die bisher untersuchten Bewegungen anderer periodischen Cometen keinen analogen widerstehenden Einfluß verrathen haben. Die Gesellschaft wünscht eine solche vollständige Neubearbeitung herbeizuführen, und stellt des­ halb die Aufgabe: die Bewegung des Encke'schen Cometen mit Berücksichtigung aller störenden Kräfte, welche von Einfluß sein können, vorläufig wenigstens innerhalb deS seit dem Jahre 1848 verflossenen Zeitraums zu untersuchen. Die ergänzende Bearbeitung für die frühere Zeit behält sich die Gesell­ schaft vor, eventuell zum Gegenstand einer späteren Preisbewerbung zu machen. Preis 700 Mark. 4. Für das Jahr 1878. Die Entwickelung des reciproken Werthes der Entfernung r zweier Punkte spielt in astronomischen und physikalischen Problemen eine hervorragende Rolle. In der Theorie der Transformation der elliptischen Functionen wird die zuerst von Cauchy entdeckte Gleichung bewiesen Tia3

4 7a3

4tir3

77,3

= l + 2e”“r4-2e

16.7a3

9.7 a3

y(l+2e-7r+2e ~4-2e

+2e _ 9/r,3

J5"...) == _ 16/7r3

+2e ~4-2e ~...

in welcher mit Rücksicht auf die zu erzielende Genauigkeit die positive willkürliche 77 a3

Constante a so groß gewählt werden kann, daß die Exponentialgröße e vernachlässigt werden darf. Alsdann hat man *•

_ 77T3

_ 4/7,3'

= l + 2e ^+2e

r'

_ O.ir2

+2e

ct3

-----

eine Reihenentwickelung von ungemein rascher Convergenz. ES steht zu erwar­ ten, daß eine auf die vorstehende Formel gegründete Entwickelung der StörungSfunction in dem Problem der drei Körper sich für die numerische Rech­ nung als Vortheilhaft erweisen werde. Die Gesellschaft wünscht eine unter dem angedeuteten Gesichtspunkte ausgeführte Bearbeitung des Störungsproblems zu erhalten. Indem sie dem Bearbeiter die Wahl deS besonderen Falles überläßt, hi welchem die numerische Anwendbarkeit des Verfahrens gezeigt werden soll, setzt sie voraus, daß das gewählte Beispiel hinlänglichen Umfang und Wichtigkett besitze , um die Tragweite der vorgeschlagenen Methode und thr Verhältniß zu den bisher angewandten hervortreten zu lasten. Preis 700 Mark. Die Bewerbungsschriften sind, wo nicht die Gesellschaft im besondern Falle ausdrücklich den Gebrauch einer anderen Sprache gestattet, in deutscher, lateinischer oder französischer Sprache jux verfassen, müssen deutlich ge­ schrieben und paginirt, ferner mit,einem Motto versehen und von einem versiegelten Couvert begleitet sein, das auf der Außenseite daS Motto der Ar­ beit trägt, inwendig den Namen und Wohnort deS VerfasterS angiebt. Die Zeit der Einsendung endet mit dem 30. November des angegebenen Jahres und die Zusendung ist an den Seeretär der Gesellschaft (für daS Jahr 1875 Prof. Dr. Scheibner) zu richten. Die Resultate der Prüfung der eingeganS^enen Schriften werden durch die Leipziger Zeitung im März oder April deS olgenden Jahres bekannt gemacht. Die gekrönten Bewerbungsschriften werden Eigenthum der Gesellschaft.

Friedrich August, Freiherr von Hardenberg. Ein Lebensbild zugleich

ein Beitrag zur Geschichte der kleinen deutschen Staaten im 18. Jahrhundert. Von

einem Mitgliede der Familie.

Friedrich August, Freiherr von Hardenberg, ward am 30. Oktober 1700

zu Ober-Wiederstedt, in der Grafschaft Mansfeld geboren. Sein Vater, Georg Anton von Hardenberg war der zweite Sohn des churbraunfchweigfchen Statthalters Hildebrand Christoph von Hardenberg, und seit 1694 vermählt mit Anna Dorothea Tochter zu Eltz. Ein sehr glückliches Familienleben umschloß Friedrichs Kindheit.

Er

war der Vorjüngste von 5 Geschwistern. Der Vater, eine ruhige, feste Persönlichkeit von sehr strenger Ordnungsliebe, bewirthschaftete Wiederstedt

selbst. Ungefähr 1714 oder 1715 wurde Friedrich nach Halle geschickt, um auf dem 1712 von August Herrmann Franke gestifteten Pädagogium seine Ausbildung zu erhalten. Die Schule war schon in voller Blüthe und von nah und fern strömten Schüler hinzu. Hier blieb er bis zum Jahr 1719 und bezog dann die Universität Leipzig um Jura und Cameralia zu stu-

diren. Am HimmelfahrtStage 1721 starb der Vater Georg Anton von Harden­

berg nach kurzem Krankenlager. Der älteste Sohn und die älteste Tochter waren schon verheirathet. Der zweite Bruder übernahm die Verwaltung von Wiederstedt. Friedrich sollte, ehe er als Kammerjunker in brannschweigsche Dienste trat, auf Reisen gehen und die Welt sehen. Die rauheren deutschen Sitten sollten durch französische Feinheit und Sprache geglättet werden, sowie namentlich den jüngeren Söhnen durch Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft«.

4Q

diese Reisen Gelegenheit geboten wurde, sich auswärts einen Beruf, einen Wirkungskreis zu suchen. Ueber Friedrichs Reise existirt ein Tagebuch von seiner Hand.

Es

ist überraschend wie fein seine Bemerkungen sind, mit wie hellem klarem

Blick er die Welt anschaute; so gestalten sich seine Berichte von selbst zu einer treuen und durchsichtigen Sittenschilderung jener Zeit.

Ein Blatt

auS diesem Tagebuch mag hier folgen. „Da im Februar daS Wetter schon sehr schön war, so machten wir

„einige Male Parthien nach St. Cloud.

Bei einer derselben versuchte

„ich mein Glück bei der wunderschönen Tochter der Marquise v. B. Wir

„unternahmen, 4 Paare, eine Fahrt nach St. Cloud.

Die junge Dame

„war mir zugetheilt und während ich sie im Park und Schloß umherführte,

„fädelte ich meinen kleinen Roman ein.

Ohne ihre Frau Mutter, die uns

„mit den Augen verfolgte, würde mir der Tag recht günstig gewesen sein, „so aber mußte ich mich mit den Präliminarien begnügen.

„Promenade folgte das Diner.

„Hof zu machen.

Nach der

Nach Tisch fing ich an der Mutter den

Man muß aber nicht denken, daß sie eine Matrone

„war, im Gegentheil, sie war eine liebenswürdige Wittib.

Während die

„Andern scherzten und spielten, denn chacun avait sa chacune, machte

„ich die größten Fortschritte bei Madame la Marquise, während einer

„meiner Freunde die Tochter amüsirte.

Diese aber, die meine Unterhal-

„tung mit Mama hors de saison fand, wußte es zu machen, daß unsre „Unterhaltung abgebrochen wurde und nun machte sie mir Borwürfe über

„meine Unbeständigkeit.

Ich habe sie aber doch wieder mit mir auSge-

„söhnt." Nach der Rückkehr Friedrichs von seiner Reise trat er laut seines

Patents vom 5. Februar 1724 als Kammerjunker

in die Dienste des

Herzogs Ludwig Rudolph von Braunschweig-Lüneburg. hier war aber nicht von langer Dauer.

Seines Bleibens

Schon am 7. April 1725 for­

derte er unter lebhaften Ausdrücken des Bedauerns seinen Abschied, der

ihm am 9. April in sehr gnädigen Worten von dem Herzog ertheilt ward. Die Erklärung hiervon giebt ein Brief der jungen Frau deö Bruders

von Hardenberg, geb. von Heinitz.

„Der jüngste Herr Schwager hat das

„Fräulein von Drucksleben, mit der er sich versprochen, mit 3600 Thlr.

„baareS Geld abgefnnden, dagegen hat sie ihm ein Schreiben gegeben, „daß sie nicht mit ihm verlobt sei.

„dazu geschenkt."

Das Geld hat ihm der Onkel Eltz

Vermuthlich hatte das Fräulein schon einige ähnliche

Geschäfte gemacht, darum waren sowohl der Herzog wie auch der Oheim

so bereit den jungen Mann aus ihrem Netze zu befreien. Man knüpfte nun Verhandlungen

mit dem Hofe zu Stuttgart an

und in den letzten Tagen des Jahrs 1725 trat Hardenberg als Kammer, junker in Würtembergische Dienste.

Laut Patent vom 28. Juli 1727 er­

nannte ihn der Herzog zum RegierungS-Rath.

Am Hofe der Erbprinzessin, geborenen Prinzessin von BrandenburgSchwedt, lernte er die schöne Hofdame, deren er schon in dem Tagebuch

erwähnte, Elisabeth von Gemmingen näher kennen.

Im Februar 1728

warb er um ihre Hand, und am 28. März desselben Jahres wurde die >

Hochzeit am Hofe zu Ludwigsburg glänzend gefeiert.

1729 trat bei einer

geschäftlichen Angelegenheit Hardenbergs Verwaltungstalent

in

ein so

glänzendes Licht daß sich der Herzog bewogen fand ihn am 10. October 1729

zum Kammerpräsidenten zu ernennen.

Jetzt fand er sich in seinem ei­

gentlichen Element. Sein ganzes Streben ging dahin die Finanzen und den Handel WürtembergS zu heben und die Hilfsquellen desselben flüssig

zu machen. Am 23. Januar 1733 ernannte ihn der Herzog „wegen seiner bisherigen treufleißigen Dienste" zum Hofmarschall.

DaS Kammerpräsidium

führte er weiter. Erbprinz Friedrich, der einzige Sohn Ludwig Eberhards war 1730,

ohqx männliche Nachkommen, da fein kleiner Sohn ihm voranging, ge­

storben. Den 31. October 1733 folgte der Herzog dem Sohne in die Gruft. Ludwig Eberhard war ein prachtliebender, verschwenderischer Fürst, der, be­ sonders durch sein Verhältniß mit der berüchtigten Gräfin von Wrbna und

Freudenthal, geb. von Grävenitz aus Mecklenburg und deren Bruder dem Premier-Minister von Grävenitz, das Land entsetzlich drückte und auSsyg.

Als er aber älter wurde und erst den Enkel, dann den einzigen Sohn

vor sich sterben sah, ward er den ernsten Vorstellungen Friedrich Wilhelms des Ersten pon Preußen zugänglich. Der König bewog ihn, sich in den letzten Jahren seines Lebens von

dieser ihn tyrannisch beherrschenden Frau zu trennen, ja sich mit seiner

Gemahlin, einer edlen Persönlichkeit, wieder z« versöhnen.

„Der LandeS-

hofmeisterin, LandeSverderberin" wie der Volkshaß die Grävenitz nannte, verblieben jedoch ihre Güter, und wenngleich von Stuttgard entfernt (sie

lebte mehrere Jahre in Heidelberg) dauerte ihr Einfluß durch ihre Crea-

turen, wenn auch im verringerten Maaße, fort. Der Nachfolger des Herzogs war fein, zur römischen Kirche überge­

tretener Vetter Karl Alexander, vermählt mit Marie Auguste Prinzessin von Turn und TaxiS.

Der Hof zu Stuttgard nahm unter ihm eine un­

gleich bessere Haltung an, da seine Ehe eine zufriedene, einige war.

Hardenberg hatte seine Stellung als Kammerpräsident beibehalten.

Am 25. Januar 1734 ernannte ihn der Herzog zum wirklichen GeheimeRath und Ober-Marschall.

Als am 9. April 1734 die Franzosen ganz ohne alle Kriegserklärung

mit 40,000 Mann bei Kehl über den Rhein gegangen waren und Trar­ bach zur Uebergabe gezwungen hatten, wurde Hardenberg an den franzö­

sischen Marschall Duc de Berwick mit dem wörtlichen Auftrage abgesandt: »Zu fragen nnd zu erforschen weshalb so eigentlich die Fran-

„zosen

ins

Land

brächen?

und

Schutz

und

Schonung

für

„Baden und Würtemkerg zu erbitten!" Es war der polnische Erbfolgekrieg der jetzt begann.

Der Herzog

Karl Alexander ging am 26. April 1734 mit einem riesigen Troß und

Gefolge in das Lager des Prinzen Eugen ab, um nach 3 Wochen heim

zu kehren. Im Winter 1735 gestaltete sich plötzlich das Verhältniß Hardenbergs

zum Herzog sehr ungünstig.

Die Finanzlage deö Landes hatte sich verschlechtert, und Hardenberg

hatte als Remedur eine Reduktion der Ausgaben deö HofeS, sowie für mehrere Jahre eine Verringerung der

damals ungewöhnlich hohen Ge­

hälter der höheren Beamten in Vorschlag gebracht.

Der Herzog,

weit

entfernt hierauf einzugehen, hatte sich jetzt zuerst auf die Finanzpläne und Geldspekulationen des später so berüchtigten Juden Oppenheim, bekannter

unter dem Namen Süeß, eingelassen. ES ist nicht ersichtlich ob Süeß direct den Sturz Hardenbergs ver­ anlaßt hat, jedenfalls lag eine Intrigue der ganzen Partei zum Grunde, um den Mann zu beseitigen der ihnen bei ihren Finanzplänen ein unüber-

steiglicheS Hinderniß war.

Aus zwei Briefen Hardenbergs, in deren einem

er sich darauf beruft: „Der Herzog wisie wohl, daß er den beiden Fürsten „nicht um seines Vortheils sondern aus reinem point d’honneur gedient

„habe," erhellt, daß man ein Verbot zum Vorwand nahm: „Niemand solle

„ohne Erlaubniß des Herzogs nach Wildbad kommen," um Hardenberg, der geschäftlicher Sachen willen den Herzog sprechen mußte, des Unge­

horsams gegen die fürstlichen Befehle zu zeihen. Da man seine Rechtfertigung nicht annahm, forderte Hardenberg seinen Abschied, verlangte aber den Herzog noch einmal zu sprechen.

Statt

aller Antwort wurde ihm einfach der Abschied ungnädig zugeschickt. Hardenberg ging mit seiner Frau zu deren Mutter nach Guttenberg und siedelte dann nach seinem Gute Schlöben über. Hier lebte er mehrere

Jahre in ländlicher Ruhe. HauS daselbst.

Im April 1736 zerstörte ein Brand sein

Während er damit beschäftigt war,

ein neues Wohn­

haus sich zu bauen, waren in Würtemberg seltsame Zeiten vorüberge­ gangen.

^>er Jude, „Baron von Süeß Excellenz," wie man ihn spottweise

nannte, hatte sich nach und nach völlig des Herzogs bemächtigt*).

Die

verwittwete Herzogin deren klugen Einfluß er fürchtete, zwang er,

sich

nach Kirchheim unter Teck zurückzuziehen. Alle treuen Räthe wie Bilfinger,

Keller und Andre wußte er zu beseitigen, und ihre Stellen mit seinen

Creaturen zu besetzen.

Die katholische Geistlichkeit hoffte durch ihn ihre

Kirche wieder zur herrschenden in Würtemberg zu machen. Ihin als Ju­

den war es natürlich gleich welche Confession regierte.

Um des Zweckes

willen sparte die katholische Geistlichkeit das Geld nicht, für das Süeß allein zugänglich war.

Durch die Priester gewann er die Herzogin.

Pabst ernannte sie zur Chevaliöre de Malta.

Der

Ein Komthur ward eigens

von Rom gesandt um ihr feierlich „das Kreuz des Glaubens" zu über­ bringen.

Alle öffentlichen Gelder und Kaffen nahm Süeß unter seine

Direction, sogar die Pupillengelder, protestirte.

wogegen die. Landschaft vergeblich

Der Herzog war durch den Juden und den Kriegsminister

von Remding wirklich dahin gebracht im Einverständniß mit dem Bischof

von Würzburg, die würtembergische Verfaffung umstoßen zu wollen und

die katholische Kirche wieder in den Besitz des gesammten Kirchengutes zu setzen. Da trat plötzlich eine Aenderung ein.

In der Nacht vom 12. März

1737, als der Herzog von einem glänzenden Maskenfeste sehr erhitzt zurück­ kehrte, traf ihn ein Lungenschlag und machte binnen wenig Minuten seinem Leben ein Ende.

Süeß und Remding wurden noch in derselben Nacht

gefangen genommen, schuldigen eröffnet.

eine lange Untersuchung gegen sie und ihre Mit­ Das endliche Schicksal

des Inden schildert Prinz

L. Fürstenberg mit den Worten „Ce fameux chiffoneur des finanees dansera ä la corde, et puis il repr&entera le ballet dans la cäge avec laquelle il restera suspendu!“ Für den minorennen Sohn des Herzogs trat eine Vormundschaft

An deren Spitze trat Herzog Karl Friedrich von Würtemberg-Oels.

ein.

Er berief am 20. Juni 1741 Hardenberg zurück.

Dieser verweigerte eS,

„so lange die Landeshofmeisterin (die Grävenitz) ferner in Stuttgard bei

Hofe ihre Rolle spiele." Erst im September war sie völlig beseitigt. Vom 19. September 1741 ist sein Patent, das ihn in den Vormundschafts-Rath und das Geheime-RathS Collegium-berief, welches außer ihm ans den

Geheime-Räthen Bilfinger, von Wallbrunn und Zech bestand. Hardenbergs Verwaltungstalent gab ihm hier bald wieder die Füh­

rung.

Er beförderte Handel und Gewerbe.

Die Saline Sulz kam unter

*) Die Notizen über diese Zeit in Würtemberg find sämmtlich au« Originalbriefen an da« Hardenbergische Ehepaar genommen. Theil« sind e« Briefe von der verwittwcten Erbprinzesstn, theil« von dem Dr. Bilfinger, dem Bruder de« Minister«, theil« von dem Prinzen Loui« Fürstenberg einem Verwandten dk« herzoglichen Hause«.

Friedrich August, Freiherr von Hardenberg.

584

Er ließ eine neue Flötz- und Wege-Ordnung von so vor­

ihm in Flor.

trefflicher Beschaffenheit ausarbeiten, daß ihn im Jahr 1753 der Groß-

voigt von Münchhausen um die Mittheilung der Würtembergschen CameralEinrichtungen bittet, und ihm zugleich seinen Dank für die ihm bereits

überschickte vorzügliche Wege-Ordnung ausspricht.

Einen Punkt behielt die Vormundschaft, und besonders Hardenberg und Bilfinger, die eine treue Freundschaft mit einander verband, unver­

rückt im Auge.

Den Punkt nemlich die jungen Prinzen zur evangelischen

Kirche zurückzuführen.

Man beschloß sie in preußische Dienste treten zu

lassen und faßte den Plan sie womöglich mit protestantischen Prinzessinnen

zu vermählen.

Die vielen Schwierigkeiten die diesen Plänen entgegen­

standen, ließen sich nur langsam beseitigen.

ES gelang die Herzogin zu

bewegen die Söhne nach Berlin zu schicken, sie brachte sie im December 1741

selbst dahin.

Friedrich II. nahm sie sehr freundlich auf, und bestimmte

dem jungen Herzog Karl Eugen eine Prinzeß von Bahreuth zur Gemahlin. Der jüngste Prinz, der ganz in preußische Dienste trat, faßte später eine lebhafte Neigung

Schwedt.

für die Tochter des Markgrafen von

Brandenburg-

Hardenberg bewog die Würtemberger Landstände dem Prinzen,

weil die Gemahlin eiue Protestantin war, eine hohe Apanage zu zahlen; der Sohn dieser Ehe, der spätere erste König von Würtemberg, ist zugleich

wieder der erste evangelische Regent des Landes gewesen. Der Aufenthalt der jungen Prinzen in Berlin ist folglich für Würtemberg von großer

Bedeutung geworden. Eine andre Zusammenkunft der Herzogin mit Friedrich dem Großen

schildert dieser selbst im 3. Theile von Histoire de mon temps. Er giebt zugleich die Gründe an, weshalb er für den jungen Herzog eine kaiserliche

Mündigkeits-Erklärung auswirkte, obgleich der Prinz erst 16 Jahr alt war. Hardenberg und Bilfinger widersetzten fich dieser Maßregel nach allen

Kräften, da sie für das Land von einem so jungen Regenten wenig Gutes erwarteten.

Friedrich der Große aber legte ihr Widerstreben falsch aus,

und warnte in der berühmten Instruction in Form eines Briefs an

den Herzog Karl Engen, den jungen Fürsten ganz bired vor den beiden Räthen.

Hardenberg hat später

den protestantischen

und deutschen Berns

Preußens mit Klarheit erkannt, im Augenblick aber war ihm das Ver­ fahren des Königs unbegreiflich, wenn ihm gleich der hohe Begriff von

den Pflichten eines Fürsten von dem der Brief durchleuchtet ist, imponirte. Die Wirksamkeit beider Minister blieb jedoch unberührt, denn die

ersten Jahre seiner Regierung dachte der junge Fürst nur an seinen Zeit­ vertreib und ließ seine Minister regieren, wie eS ihnen gefiel.

Die Zeiten waren schwer, der Krieg dauerte fort und Würtemberg

wurde bald von Frankreich, bald von Oestreich hart bedrängt um Partei

zu nehmen.

Auö einer Correspondenz Hardenbergs mit dem Reichstags«

Gesandten Zech ersieht man, wie schwierig die Lage der kleinen deutschen Fürsten war, ungeachtet sie sich auf dem Reichstag von^1743 ihre Neu­

tralität erkämpft hatten.

Die Franzosen benutzten als kaiserliche HülfStruppen nicht nur das Recht deS Durchmarsches um vielerlei Exceffe zu verüben, sondern ließen

auch ungeachtet aller Protestationen im Spätherbst 1744 ihre Truppen in

Würtemberg Winterquartiere beziehen.

Der französische Gesandte forderte

unter Drohungen: der Herzog solle der Frankfurter Union beitreten, die Friedrich der Große vorgeschlagen um den Kaiser Karl VII. zu stützen.

Kaum war der französische Gesandte abgereist, so erschien ein Oestrrichischer hoher Offizier, um dringend eine Allianz mit seiner Regierung

zn fordern. Hardenberg trieb und drängte daß die vorder» Kreise, der Schwäbische,

der Ober- und Nkederrheinische nnd der Fränkische sich fest an einandsr schließen und eine bedeutende Truppenmacht aufstellen sollten, um. beide

kriegende Theile in Respect zu halten.

Allein im fränkischen Kreis ver­

uneinigten sich die katholischen und evangelischen Stände, das bewirkte in drN andern Kreisen Mißtrauen der beiden CoNfessionen, die Trnppenauf-

stellung kam nicht zu Stande. Gegen Preußen zeigte sich bei den Würtem-

bergischen Ministern Bitterkeit und Argwohn. Der Kaiser Karl VII. er­ freute sich nicht der geringsten Popularität. Hardenberg hoffte die Seemächte,

deren Gesandte im Winter 1745 erwartet wurden, sollten sich der kleinen

neutralen Fürsten annehmen. So hielt er die Sache hin, biS am 20. Ja­ nuar 1745 Kaiser Karl VII. starb. Frankreich machte neue Versuche Würtemberg zu sich herüber zu ziehen, fand aber nnn ernstlichen Wider­

stand, da ja Frankreichs Truppen keine kaiserlichen HülfSvölker Mehr

waren. Die Kaiserwahl kam heran und eS gelang der östreichischen Partei

ans dem Reichstag, da die Franzosen sich zurückzogen, am 13. Septem­ ber 1745 die Wahl Kaiser Franz I. durchzusetzen. Bald genug sollten die kleinen deutschen Fürsten inne werden, daß

Friedrich II. sich nicht ohne Grund gegen die Wahl deS neuen HabSburg-

Lothringischen Kaiserhauses gewehrt hatte, und daß eS Oesterreich verstand das Reich und dessen Wohl seinen eignen Intereffen unterzuordnen. Noch war das Jahr nicht verflossen, so hatten die neutralen Regierungen alle

Mühe sich

auf dem Reichstag, wie in den KreiS-VersammlUngen vor

dem Hinelnziehen in den Krieg mit Frankreich zu retten.

Im Frühjahr 1746 drängte das Wiener Cabinet Wiirtemberg von

Neuem.

In

einem Memorandum

das Hardenberg an

den Reichstag

richtete sagt er: „Durchlaucht sehen kein Mittel ihr Land vor unerschwinglichen Lasten

„zu bewahren, al- daß Sie mit allen Mitteln ihre Neutralität aufrecht „zu erhalten suchen............. Man könne ja bei der Neutralität festsetzen:

„daß im Fall daß die Kaiserin-Königin, oder sonstige Fürsten und Stände „in ihren deutschen Landen angegriffen würden, das ganze Reich

„zu Hülfe eilen solle." Im April 1747 wiederholen sich dieselben Verhandlungen.

Graf

Cobenzl, der östreichische Gesandte und der englische Mr. Burrish, tra­ ten mit Drohungen und Einschüchterungen aller Art in Stuttgard auf.

Trotzdem gelang eö ihnen nicht Würtemberg zum Nachgeben zu bringen.

Auf dem Reichstag wurden alle möglichen Intriguen in Scene ge­

setzt.

Ebenso auf dem schwäbischen Kreistage.

Die katholischen Stände

und Mainz (das Direktorium des Kreises) nahmen die östreichische Partei, und als Würtemberg, um eine den Neutralen

ungünstige Abstimmung,

die durch Ueberstimmen der Andern zu Stande gekommen war, nochmals

zu prüfen, daraus antrug auf den 21. December eine Plenarsitzung der Kreisversammlung anzuberaumen, mißlang dies, weil die Prälaten und

die kath. Stände erklärten:

„Sie hätten Gewissenöbedenken am St. Tho-

„maStage, dem 21. December Sitzung zu halten." Das zähe Festhalten Würtemberg'- an der Neutralität, zog jedoch

die Sache immer von Neuem hin, und hinderte jedes Zustandekommen

eines entscheidenden Beschlusses.

Den Schluß sämmtlicher Verhandlungen bildet ein Votum Harden­ berg'-, in dem seine nun erlangte Ueberzeugung sich klar ausspricht:

Daß

nur im Anschluß an Preußen für die evangelischen kleinen Fürsten ein Halt und eine Sicherung sei. Rath und Hülfe.

Er wendete sich an den Berliner Hof nm

Friedrich d. Gr. machte sein Vertrauen nicht zu Schanden

und erlangte mit Schweden und Dänemark gemeinschaftlich bei dem Frie­

densschluß von Aachen, die Restitution von bedeutendem Grundbesitz an

Würtemberg, welchen Frankreich lange Jahre seqnestrirt hatte und der zu der, dem Herzog durch Erbschaft zugefallenen Grafschaft Mömpelgard

gehörte. Ebenso wie in den äußern Verhältnissen der Politik, hatte Harden­ berg in den innern Zuständen deö Landes mit großen Schwierigkeiten zu

kämpfen.

Eigentlich fingen sie erst recht an, als der äußere Friede her­

gestellt war.

Denn die Noth der Kriegszeit hatte den jungen Herzog in

wohlthätigen Schranken gehalten.

Jetzt, als Hardenberg dem Lande, das

trotz der Neutralität schwer gelitten hatte, zu Hülfe kommen wollte, begann

die Verschwendung, die Vergnügungssucht deS jungen Fürsten alle Grenzen zu übersteigen.

Der Marstall, der Schloßbau von Ludwigsburg, die Sol­

datenspielerei des Herzogs verschlangen riesige Summen. Hardenberg sah sich genöthigt seinen persönlichen Credit, seine eignen Gelder anzuwenden

um den verarmten Gemeinden aufzuhelfen, industrielle Etablissements, die

Hunderte nährten, vor dem Zusammensturz zu bewahren.

Hierdurch, so

wie durch seine Energie mit der er dem Herzog oft schroff entgegen trat, und durch Bilfingers kluge nach beiden Seiten vermittelnde Persönlichkeit ist eS allein zu begreifen wie es zuging, daß Hardenberg so viele Aahre

hindurch das Steuerruder in der Hand behielt und vieles Unheil von

dem Lande abwehrte.

Ein noch hinzu kommendes Moment war, daß die

Landstände, deren Macht noch keineswegs ganz gebrochen war, in den

meisten Fällen hinter dem Minister standen und ihn stützten.

So gaben

sie bedeutende Summen zu einer Reise nach Italien im Jahre 1753 her,

um den Herzog aus den Netzen zn lösen, die sich um ihn gezogen, und

ihn womöglich mit seiner Gemahlin auSzusöhnen.

Eine ziemlich große

Hardenbergs Tagebuch über diese

Suite begleitete das HerzogS-Paar.

Reise daS noch ganz vorhanden ist, schildert den Empfang der hohen Rei­ senden durch die Repräsentanten der Republiken Venedig und Genua, den

Eindruck deS Landes, die Fährlichkeiten die ihnen durch algierische See­ räuber drohten, die ersten Ausgrabungen in Pompeji und Herculanum.

Der Glanzpunkt aber der Schilderung ist:

Rom, wo man den katho­

lischen Herzog mit offenen Armen aufnahm, dann aber, als er, als deut­ scher Fürst, sich weigerte den Pantoffel des Papstes zu küffen, ihn so

rücksichtslos behandelte, daß der Herzog Rom verließ und nach Neapel ging.

Bon dort zurückgekehrt sah er als Privatmann

die Österlichen

Festlichkeiten mit an nnd war durch nichts zu bewegen sich den Wünschen des heiligen Vaters zu fügen.

'

'

Bei der Rückkehr nach Stuttgard empfing das Land das herzogliche Paar und vor allem die Herzogin die nun wieder im Schloß zu Stutt­

gard heimisch blieb mit großer Freude.

von kurzer Dauer.

Freilich war die Besserung nur

Kaum 2 Jahr später verließ die Herzogin den un­

würdigen Gemahl für immer.

Im Frühjahr 1755 trat der Herzog unvermuthet in die Versamm­ lung des Geheimen Raths und überhäufte Hardenberg mit den heftigsten und unverdientesten Vorwürfen. dem Herrn Eindruck

Seine würdevolle Vertheidigung schien

gemacht zn haben, denn Wochen

vergingen ohne

daß er die Sache weiter berührte. Im Juni sandte er Hardenberg plötz­ lich seinen Abschied zu, der demselben völlig unvermuthet kam, so daß er

anfangs das Refcript nicht verstand.

Seine Schwester wünschte ihm

aus'S lebhasteste Glück, daß er aus einem Labyrinth gezogen sei, welches

ihn habe in den Abgrund führen müssen. Sein Schwager schrieb: „Du hast wohlgethan zu erwarten, daß Dir der Herzog den Abschied gab, „nun kann Dir Würtemberg keinen Vorwurf machen, daß Du das Land

„verlassen und eS seinem Unstern preis gegeben habest." Im Februar 1756 forderte der Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-

Er schwankte ob er

Cassel Hardenberg auf in seine Dienste zu treten.

diese Berufung annehmen sollte, da der Landgraf schon hoch bejahrt, und

der Nachfolger nicht der Art war, daß er ihm gern gedient hätte.

Er

machte sich die Bedingung dem alten Landgrafen persönlich zu dienen, und

im Fall er sich mit dem Nachfolger nicht einigte, schädigung für die Kosten des Umzugs. dingungen ein.

forderte er eine Ent­

Der Landgraf ging auf diese Be­

Das Patent als Wirklicher Geheime-Rath und Minister im

Steuer- und Finanzfach mit 5000 Thaler Gehalt ist vom 28. März 1756. Charakteristisch ist in Hardenbergs Leben ein fortwährender Kampf

gegen den Katholizismus.

Dies tritt besonders in seinem Verhältniß zu

CoNvertiten hervor, deren sich ja in jener Zeit in vielen kleinen deutschen

Fürstenhäusern fanden, außer in Sachsen und Würtemberg auch in HessenCassel, Hessen-Rothenburg, Zweibrücken und Ansbach.

Der' Erbprinz von Hessen war 1749 zu Neuhaus im Stift Pader­

born zur römischen Kirche übergetreten. klärt.

1754 hatte er es öffentlich er­

In Gemeinschaft mit den Landständen forderte der Landgraf von

dem Sohne die Ausstellung einer AssecurationSacte zur Beibehaltung des

Status ecclesiastici im Lande, sowie wegen Erziehung seiner beiden Söhne

in der reformirten Kirche. tirt.

Preußen und England hatten die Acte garan-

Mit seinem Vater war der Prinz stets in Differenzen, besonders

seit et durch seinen Beichtvater, einen Jesuiten, zu einem Fluchtversuch sich hatte verleiten lassen um in östreichische Dienste zu treten.

Man war auf den katholischen Priester aufmerksam geworden, hatte

ihn unvermuthet festgenommen, und fand bet ihm den ganzen Fluchtplan, entworfen von der Prinzessin von Heffen-Rothenburg und dem östreichischen

Gesandten.

Der Secretär des Prinzen und ein hessischer Lieutenant, die bei

diesem Plane eine Rolle übernommen, waren arretirt und nach einigen Wochen

Festungshaft, der Erste entlassen, der Zweite versetzt worden.

Den Prinzen

hatte man, eine Scene mit seinem Vater abgerechnet, unbehelligt gelassen.

Bon nun an suchte der Landgraf den Prinzen in preußische Dienste zu bringen.

Er schickte ihn nach Berlin und ließ bei dem Könige Schritte

thun, um seine Erlaubniß zu erhalten, der König verspürte jedoch wenig Lust, diesen Herrn in seine Armee zu bekommen.

Mit seiner Gemahlin*) lebte der Prinz in sehr unglücklicher Ehe.

Sie wurde getrennt und ein Vetter Hardenbergs, August Ulrich war als englischer Commissar bei dieser Scheidungsangelegenheit der Prinzessin als

Beistand gegeben.

Obgleich die Scheidung vorüber war, als Hardenberg

nach Hessen berufen wurde, so hatte der Erbprinz schon um des Namens willen von vornherein ein Vorurtheil und einen Widerwillen gegen ihn.

Hardenberg wurde durch seinen Eintritt in den hessischen Dienst, kurz

vor dem Ausbruch des siebenjährigen Kriegs, sogleich wieder mitten in die Spannung und Reibung zwischen katholischer und protestantischer Auf-

faffung geführt. ES kann nicht der Zweck dieser Blätter sein neue Ansichten über

jene Kriegszeit zu liefern, oder gar eine Aufweisüng der Fäden, die den Knoten geschürzt, um dies weltgeschichtliche Ereigniß herbeizuführen, zu ver­

suchen, sondern nur die Anschauung Hardenbergs und der Männer, mit denen er in Beziehung stand, darzustellen.

Diese Männer standen nicht

im Centrum der Bewegung, und daher mögen ihnen viele Fäden, die die Ereigniffr lenkten, verborgen geblieben sein.

Daß sie aber die Ueberzeu­

gung hatten, daß in diesem Kampfe Katholizismus-und Protestantismus

mit einander um die Herrschaft stritten, erhellt aus ihren Briefen.

Har­

denbergs Cörrespondenz mit dem hessischen RetchStagSgesandten, von Wülk­ nitz, General von Donop, Geh. Rath Waitz in Caffel, Kammer-Präsident von Münchhausen in Hannover, Geh.-Rath von Keller in Gotha, dreht

sich wesentlich um diesen Punkt. Auch die Thatsachen deS Kriegs kommen hier nur so weit in Bettacht,

als sie sich in den vorliegenden Schriftstücken wiederspiegeln. Den 11. April 1755 war zwischen England und Hessen ein Sub-

sidien-Bertrag abgeschlossen.

Ein Theil der hessischen Truppen war dem­

gemäß nach England eingeschifft als im Frühling 1756 Frankreich Miene machte in England zu landen. noch 4000 Mann stellen.

Falls es England forderte, mußte Hessen

Jedoch war der Landgraf durch diesen Ver-

ttag keineswegs Bundesgenosse England'S, sondern seine Truppen galten

nur alS englische Soldtruppen. Da Hardenberg erst im März dieses Jahres in hessische Dienste trat, so hat er diesen Subsidien-Vertrag nicht veran­

laßt, wohl aber war ihm von vorne herein die Wichtigkeit desselben klar.

Ansbach und Würzburg**) hatten sich auch mit England über Snb*) Maria, Tochter Georgs II. von England. Vormünderin und LandeSregentin der Grafschaft Hanau vom 1. Februar 1760—1764, für ihren Sohn, den spätern ersten Churfürsten von Hessen. Sie starb 14. Januar 1772 zu Hanau. **) Es muß hier bemerkt werden, daß alle diese Details, auch namentlich die auf die Reichstagsverhandlungen bezüglichen, den Briefen, Berichten und sonstigen Akten­ stücken des Nachlasses von Hardenberg entnommen find.

sidien-Berträge geeinigt, die englischen Minister hatten aber aus Spar­ samkeitsrücksichten nicht auf mehrere Jahre, sondern nur auf ein Jahr abgeschlosien. Die Nachtheile dieser Sparsamkeit traten im Sommer 1756

zu Tage, denn als das Jahr ablief, hatte Oesterreich durch den, in seinem Sold stehenden Minister

von

Seckendorf

Fürsten den Vertrag kündigten.

erlangt, daß die kleinen

es

Ueberhaupt hatte Kaunitz durch seine

Agenten ein förmliches Netz über die kleinen deutschen Fürsten gezogen, sogar einen Theil der evangelischen gewonnen.

Diejenigen, die wie Hessen

und Gotha von vorn herein fest auf der preußischen Seite standen, sahen

und meldeten alle Symptome hiervon voll Besorgniß den hannövrischen Ministern. Im Mai 1756

schon

hatte Friedrich II.

durch

ein vertrauliches

Schreiben Hessen, Gotha und Hannover aufgefordert, eine evangelische

Union zu bilden, aber noch war die Befürchtung zn lebhaft gewesen, durch

einen solchen Schritt die feindlichen Mächte aufzubringen.

Hardenberg

billigte das Vornehmen, allein erst wollte er sicher gehen und die Vor­ schläge der andern Fürsten erwarten.

Er hoffte noch, wie vor Jahren

in Würtemberg, die.kleinen Länder mit einer leidlichen Neutralität durch

den drohenden Sturm zu steuern. Bon östreichischer Seite wurde am Reichstag zu Regensburg eine so

scharfe Sprache geführt, daß Hessen-Darmstadt schon im Juli nicht mehr wagte, einen Subsidien-Vertrag mit England abzuschließen.

Am 12. August 1756 schrieb Hardenberg an den Kammer-Präsiden­ ten von Münchhausen in Hannover.

„Nach der mir bekannten Gesinnung des Landgrafen wird Hochder„selbe sich von des Königs von Großbrittanien und Preußen Majestät

„nimmermehr trennen.

Vielmehr nach Vermögen alles dasjenige unter«

„stützen was zur Aufrechterhaltung des protestantischen Wesens dienlich „sein kann."

„So lange Ihnen aber nicht bekannt:" „1.

WaS für mesures beide Majestäten im Fall einer französischen

„Invasion genommen?"

„2.

WaS für eine Armee den Franzosen entgegen zu stellen?"

„3.

Wo sich selbige zu versammeln beliebet werde?"

„4.

Ob noch Mehrere und Welche, protestantische Reichsstände

„mit ihren Truppen daznstoßen werden? So lange sehe ich meines Orts ,',nicht ein, wie vor näherer Erörterung der vorbemeldeten Fragen, der

„Herr Landgraf einen Entschluß wegen Zustoßnng eines Corps Truppen „fassen könne.

Außerdem werden sich Ser. vorzusehen haben, dem Gegen­

theil keine unzeitige ombrage zu geben,

sonst,

wenn der Uebergang

„am Ober-Rhein geschehen

sollte,

Hochderselbe

am Meisten

exponirt

„wäre".

„Und da der größte Theil der hiesigen Truppen außer Lande- ist, die „Bestung Rheinfels auch nicht unbesetzt bleiben kann, so kann Ew. tzxcel„lenz leicht ermessen, daß auf ein beträchtliches Corps hiesiger Truppen „zur Formirung einer Armee kein sonderlicher Staat zu machen ist, wenn „ich auch Ew. Excellenz im Vertrauen melden kann, daß die Infanterie „bedeutend verstärkt werden soll.

Sollte, wie es den Anschein hat, we-

„gen de» protestantischen WesenS etwas zu befürchten stehen, so dürfte „meines

ErmeffenS das ausgiebigste Mittel sein, auf Errichtung einer

„Union zwischen den evangelischen Ständen Bedacht zu nehmen.

Je eher

„dies geschieht, je mehr wird dem kaiserlichen Hofe die Gelegenheit be«

„nömmen, einige evangelische Höfe auf seine Seite zu ziehen."

Die Antwort Münchhausens vom 13. September sagt: „Mich dünkt, wir haben einander mißverstanden.

Die Meinung hie-

„sigen OrtS ist nicht die, öffentliche Veranstaltungen zu machen oder eine

„Liga mittelst Zusammenbringung verschiedener Truppen zu bilden, welche „beite Objecte unsre Absicht keineswegs ansmachen, und unser bei dem

„Herrn Landgrafen gemachtes Ersuchen besteht nur darin zu erfahren, „wie viel Truppen derselbe zu stellen glaube, wenn Frankreich entweder „durch die Casselschen Lande oder durch das Westphälische in hiesige ein«

„zubrechen intendirt.

Auf den ersten Fall hat Se. Majestät, unser Herr,

„sich bereit erklärt, mit der ganzen Macht zu Ihren Truppen zu stoßen „und Dero Land bestmöglichst zu beschützen". „Seit dem 30jährigen Krieg sind keine gefährlicheren Zeiten in specie „für die evangelischen Stände gewesen.

Es scheint aber, die Conjunc-

„turen machen noch nicht genügsamen Eindruck."

Hardenberg las auS diesem Briefe heraus, daß zuerst, bis die eng­

lische Armee da sei, Heffen sich allein zu schützen hätte.

Er machte also

dem Landgraf den Vorschlag, so schnell alö möglich Infanterie und Kaval­ lerie bedeutend zu vermehren.

In diesem Votum vom 5. September

sagt er: „Ist eS bei den Franzosen ein Ernst die Kaiserin zu secundiren, so

„ist Alles daran gelegen, sofort Truppen zusammen zu bringen, um sich

„zu opponiren.

Die Erfahrung zeigt, daß geringe Mittel und geringer

„Aufwand zu rechter Zeit von weit größerem Nutzen sind, als große „und mit vielen Kosten verknüpfte, aber zu spät gemachte Anstalten."

EtwaS später ist er außer sich über die geringen Truppen, die Han­ nover stellen wollte.

„Eine Armee von 31,400 Mann ist viel zu schwach, um Hannover,

„Hessen und Westphalen zu decken, sintemalen die Franzosen mit einer „viel größern Armee kommen werden."

^Die Minister der andern Staaten, so sehr sie Anfangs der preußische

Angriff gegen Sachsen erschreckt hatte, fingen an wegen der Saumseligkeit, die die Hannöverschen Minister blicken ließen, besorgt zu werden, auch daß Dänemark und Schweden so gar kein Interesse für die Gefahr der evan­ gelischen Stände zeigten, befremdete sie.

Geheimer Rath von Keller aus

Gotha schrieb am 14. October: „Wir hoffen von einem Tage zum andern auf Nachricht von Koppen„hagen und Hannover.

Herr von Münchhausen versichert:

„Sowie sie

„Befehle vom Könige erhielten, würden sie sich mit ihren Plänen äußern."

„Indeß ist zu fürchten, daß diese Lethargie und dieö Zaudern binnen „Kurzem ein unumstößliches Hinderniß werde, die protestantischen Länder

„zu einem einmüthigen Plane zu einen, wie es das allgemeine Interesse „in so gefährlichen Umständen fordert.

Man wird sehen, ob dann noch

„eine Möglichkeit sein wird, einen richtigen Plan zu entwerfen, für den

„Fall, daß eS Oesterreich gelingt, die katholischen Fürsten zu bewegen, ihre „Truppen mit den kaiserlichen zu vereinen, und das kann leicht geschehen, „wenn die Franzosen in'S Reich einrücken."

Im October brachte Preußen die pidces justificatifs, das heißt die sämmtlichen Verhandlungen und Verträge, die zwischen Oestereich und

Sachsen geschlossen waren, an den Reichstag und führte damit den Beweis,

daß das Einrücken in Sachsen nur Nothwehr von preußischer Seite war; Keller versicherte am 27. October: „Die Gegenpartei wird die Sache auf'S Aeußerste treiben, um von „dem blinden Eifer zu prositiren, der fast alle Katholiken befielt.

ES ist

„recht traurig, daß die protestantischen Höfe nichts desto weniger in ihrer „Gleichgültigkeit verharren.

Sie behandeln die Sache nur bruchstückweise

„mit einer Indolenz, die allen Glauben übersteigt .... Alles, was nicht

„den König von Preußen vernichtet, wird in Wien mißfallen."

Oesterreich brachte den Antrag auf dem Reichstag ein,Preußen des Landfriedensbruchs anzuklagen und Sachsen zu entschädigen.

Dagegen

erhoben sich Hessen-Kassel und Gotha mit einem energischen Votum, in

dem nachgewiesen wurde, daß ja die beiden Kläger dem Paragraphen, der die Conspirationen verbot, eben so wohl zu nahe getreten seien.

Sie

hofften die übrigen protestantischen Stände sollten sie unterstützen, aber

Hannover zögerte beizutreten und Braunschweig sprach

oberstrichterlichen Amte des Kaisers:

sogar von dem

„Sie wollen die Feuerbrunst erst allgemein werden lassen, ehe sie „löschen, schreibt Keller*) 27. November, sie wollen die kaiserliche Regie-

„rung zum Frieden ermahnen, und bedenken nicht, daß fremde Mächte „und Länder dabei hetheiligt sind, die nicht unter unsern Gesetzen stehen.

„Ich bin von Schmerz durchdrungen, so wenig festen Grund unter ynsern „Landsleuten und Glaubensgenossen zu finden.

Wir aber wollen an

„unserm Votum festhalten, und sollten wir allein damit stehen!" Jetzt wurde der

französisch - östereichische Vertrag bekannt, wonach

Frankreich die Niederlande erhalten sollte, wenn Oestereich Schlesien znrück erobert hätte.

Die noch Zweifelnden wurden von der Wahrheit der

Thatsache überzeugt, als die Oesterreicher aus den Niederlanden abzogen

und im December in Franken und in Thüringen in die Wintorqqartjere

einrücktev.

Die bittersten Klagen der betroffenen Gegenden wurden laut.

Den 30. December schrieb Hardenberg abermals an Münchhausen: „Die Adspecten deS bevorstehenden neuen Jahres versprechen freilich

„nicht viel Gutes und das ganze systema imperii wie auch die evange„lifche Religion scheinet um so mehr einer nicht geringen Gefahr unter-

„worfen zu sein, da mit vielem Grund zu vermuthen, daß sämmtliche „katholische Stände mit einander

einverstanden sind.

Ein auSgiebigeS

„Mittel dagegen würde sein, wenn auch die protestantischen Stände d’ac-

„cord wären.

Allein gleich wie hierzu wenig apparence ist, so kommt

„eS meines Erachtens auf die baldige Ergreifung von Maßregeln an,

„wodurch den Besorgnissen begegnet werden kann.

„England dependirt Solches.

Von Sr. Majestät in

Wann Dieselben, da eS Ihnen nicht an

„Macht und Autorität fehlet, sich vor den Riß zu stellen und Andere durch

„Ihren Vorgang zu ermuntern geruhen wollen, so werden viele protestan-

„tische Stände veranlaßt werden, sich an Höchstdieselben anzuschließen und „unitis consiliis et viribus zu Werke zu gehen.............. Andre Stände,

„die sich selbst zu schützen nicht im Stande sind, müssen billig erwarten, „was von denen an Macht überlegenen Ständen vor Mittel werden an

„Hand gegeben werden." Er wiederholt, daß der Landgraf zu jeder Maaßregel und Anstren­

gung seiner militärischen und finanziellen Kräfte bereit sei. Zugleich berichtet er, daß Frankreich überall erklären lasse:

„Daß der König keine Aenderung in den Religionssachen dulden, und

„nur als Garant des westphälischen Friedens zu Werke gehen werde." In

dem Fall hätten die Hessischen Lande nichts

zu fürchten.

Allein

trotzdem werde sich der Landgraf nicht von England trennen, nur bäte er, *) Geheime Rath Keller in Gotha, ist derselbe der früher in Würtembergischen Diensten war und oben erwähnt wurde.

Friedrich August, Freiherr vou Hardenberg.

594

man möge ihm ihre Pläne eröffnen, damit er beurtheilen könne, ob Heffen

wohl anf alle Fälle geschützt sei; und ob und wie bald die hessischen Truppen auS England zurückkehren könnten? Münchhausen antwortet auf diesen Brief den 3. Januar 1757:

„Man sieht leicht, welche bedenkliche Folgen eS sowohl für die Frei« „heit der Stände als auch der Religion haben kann, wenn die starken „evangelischen Mächte erst außer Stand gesetzt sind, sich beider anzunehmen.

„Die Gefahr ist um so größer, älS man Mittel gefunden, den Eifer, den

„die Nordischen Kronen für daS evangelische Wesen früher gezeigt, einzu-

„schläfern, und andererseits, wenn die Absicht zur Ausführung kommt, „fremde Truppen in'S Reich zu ziehen, dem Lande verschiedener Stände

„das Uebelste droht." „Ich brauche Ew. Excellenz nicht erst bemerklich zu machen wie die „Besorgniffe, insofern sie die Religion und Freiheit angehen, allen evan-

„gelischen Ständen gemein sind. . . . Der König, mein Herr, hat als „Churfürst an dem Gegenwärtigen nimmer Theil genommen, daher kann

„man ihn mit Recht vor Andern nicht anfallen.

Wird aber über das,

„was Recht erfordert, hinaus gegangen und blos der Wille zu schaden,

„ein unverdienter Haß und die Erreichung anderer Zwecke verfolgt, so „gebe ich Ew. Excellenz zu bedenken, ob die hessischen Lande weniger

„als wir zu befürchten haben?

Eine gemeinsame Zusammenziehung der

„Kräfte zur Beschützung der beiderseitigen Grenzen

ohne weitere Rück-

„sichten als welche Zeit und Umstände nicht zu lassen, scheint mir für

„Beide gleich rathsam, wenn man sich nicht der Gefahr, über den Haufen

„geworfen zu werden, aussetzen will.

Ich gebe zu, eS werde den Plan

„sehr erleichtern, wenn man gewiß wäre, ob und wie bald die hessischen

„Truppen auS England zurückkommen, indeß kann man sich auch ohne „diese Nachricht „handenen

oder

über die gegenseitige Beschützung mit den

zu

stellenden

Truppen

vereinigen

und

noch vor-

stelle

daher

„Ew. Excellenz anheim, ob die täglich näher kommende gemeinschaftliche

„Gefahr nicht erfordre, daß die Sache ohne Verzug angegriffen werde." Hessen hatte 6000 Mann in England, daS Höchste, was das Land

auf einmal an Mannschaften stellen konnte, waren 20— 25000 Mann, und da in Friedenszeiten ohne Zweifel kaum ein Drittel davon vorhanden

war, so erscheint das Verlangen von Hannover eigenthümlich; und, das

Aeußerste gerechnet, waren 12000 Mann ausreichend um Heffen zu decken? Den

10. und 17. Januar 1757

sollte

am Reichstag abgestimmt

werden:

1.

Ob

solle?

und

der Reichskrieg 2.

Ob

die

gegen

Krone

Preußen

Frankreich

erklärt werden als

Garant

des

westphälischen

Friedens

zur

Hülfe

gerufen

werden

solle?

Hessen-Caffel, Wolfenbüttel, Gotha, Weimar, Hannover und wunderbarer

Weise Würtemberg stimmten gegen jede Gewaltmaßregel und gegen die

Kriegserklärung.

Die katholischen Stände,

vornehmlich die geistlichen

Fürsten verwarfen laut eines Briefes von Wülknitz*) vom 24. Januar:

„alle friedfertigen Vorschläge, Ihre Gesandten nahmen nicht einmal die

„angebotene restitution der Chursächsischen Lande ad referendum, und

„setzten auf die bekannte tumultuarische Weise die Kriegserklärung gegen

„Se. Majestät in Preußen per majora durch.""

Ansbach, Bremen,

Darmstadt, Bernburg fielen von der protestantischen Partei ab und stimm­

ten für die Kriegserklärung und zwar hatte man das AnSbachsche Votum,

den 9. Januar, den Tag vor der Abstimmung dem Herrn von Wülknitz abgenommen und einem der andern Gesandten Baron von Seyfried über­ tragen, desgleichen war das Darmstädtische durch eine Intrigue von Chur-

mainz einem Baron von Teufel gegeben und zwar in andrer Form, wie eS sonst beim Reichstage gebräuchlich, blos per rescriptum des HofeS.

Der AnSbachsche Minister von Seckendorf, der in östereichischem Sold stand, hatte den Bremenschen und den Bernburger Gesandten Herrn von

Pfau seit Wochen bearbeitet, und Seyfried und Pfau gaben gefälschte Abstimmungen ab, die von ihren beiden Regierungen später verleugnet

wurden.

So kam die Majorität für den Reichskrieg gegen Preußen zu

Stande, ganz ähnlich wie hundert und zehn Jahre später am 14, Juni 1866

durch das Votum von Victor von Strauß.

Nun folgte eine böse Nachricht der andern, Wülknitz durchschaute nach und nach das ganze Gewebe von Intriguen, die beim Reichstag in Scene gesetzt waren.

Die Verträge zwischen Oestereich, Frankreich und Rußland

traten völlig an'S Licht.

Vom 23. Februar ist ein Votum von Harden­

berg vorhanden, in dem er sagt:

„Da schriftlich weder eine rechte Union der evangelischen Stände, „noch eine Neutralitätserklärung zu Stande gekommen, so halte ich dafür, „daß schleunig eine Zusammenkunft in Hannover zu veranlassen, um

„eineStheilS das hannöversche Ministerium zu rectifiöiren, anderntheilS

„dessen eigentliche Absicht zu ergründen;

überhaupt aber einen

„Plan wegen des ferneren Zusammenhandelns und souteniren der Neu­

tralität zu vereinbaren.

Eine solche Verbindung kann keinöm Andern

„anstößig sein als Denjenigen, die mit Unterdrückung der Stände und *) August Ludwig von Wülknitz geboren 1695 in Biendorf im Anhaltschen, von 1744 an, Reichstagsgesandter für Hessen-Cassel, Mecklenburg-Stralitz, Naffan-Dietz, Naffau-Dillenburg und Ansbach. Er starb 1768 unvermählt. (Nach handschrift­ lichen Notizen des Freiherrn von Meusebach, in einer Sammlung von Leichenpre­ digten zu Ober-Wiederstedt befindlich.) Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6

41

„der Religion umgehen. Es wiL aber die höchste Zeit fein, die Fran'„zosen können ihre Drohungen bald genug auSfiihren." Im März schrieb er nach Berlin an den Grafen PodewilS. Er stellte

vor, wie unumgänglich nothwendig es sei, daß die protestantischen Höfe

auf den Reichs- und Kreistagen einerlei Sprache führten und bat flehent­

lich, man möge von Berlin auS Hannover treiben: „Alle unsre Bemühungen bei den Andern sind umsonst, so lange „Hannover nicht vorgeht, hinter dem man doch das mächtige England

„weiß." Oestereich und Frankreich traten nun offen gegen die dissentirenden Stände auf.

Oestereich forderte von den Ständen die Stellung ihrer

(Kontingente und Beiträge zum Reichskrieg, die sogenannten Römermonate.

Hannover, Braunschweig, Hessen verweigerten sie, Weimar und Gotha

wurden mit Gewalt gezwungen, sie zu zahlen. Alles hoffte nur auf die Preußischen Siege.

rief daher lauten Jubel hervor.

Die Schlacht bei Prag

In derselben Zeit hatte Oestereich durch

den Grafen Colloredo in London für die dissentirenden Stände ein Neutralitätöproject übergeben lassen, von dem Keller 17. Mai 1757 schreibt:

„Dies Projekt wird immer ein scandaleuseS Denkmal des Hochmuths „und der Arroganz der beiden alliirten Höfe fein.

Hält man es gegen

„den Vertrag zwischen Preußen und England, so kann man nur empört „sein über die unwürdigen und demüthigenden Vorschläge dieses Neutra-

„litätöprojects.

Allein eben so wird eS für die Nachwelt ein Denkmal

„bleiben, daß zur selben Zeit als dies Hohnsprechen geschehen ist, eine

„solche Demüthigung und Züchtigung in Böhmen stattgefunden hat."

Alle bis dahin schwankenden Fürsten waren nach und nach zu Oest­ reich übergetreten, so der Herzog von Würtemberg, der jedoch Mühe hatte,

feine noch fehlenden 1000 Mann zu stellen, da die Würtemberger in hellen Haufen desertirten,

„zu müssen."

„um nicht gegen Se. Majestät in Preuße» fechten

Der Herzog reiste Anfangs Mai nach Wien, um den Ge­

burtstag der Kaiserin Königin mit zu feiern.

Wülknitz erwähnt dies in

einem Briefe vom 14. Mai an Hardenberg und setzt hinzu:

„Vielleicht

„daß indeß die Nachricht von der Schlacht von Prag daselbst angekommen „ist, et a rendu la fete plus parfaite!“

Im Juni verweigerte der Landgraf durch Hardenberg einen Neu­ tralitäts-Vertrag, den Frankreich anbot:

Mit der Bedingung sich von

England loszusagen, und mit der hochmütigen Erklärung des Grafen Fol­ lord im Namen des Königs:

„Den Staaten, die sich dem ReichLconclu-

„sum nicht fügten, könne Frankreich nur noch aus Gnaden, nicht von

„Rechtswegen eine Neutralität zugestehen."

Am 13. Juni wendete sich Hardenberg abermals an Münchhausen,

er berichtet, daß von Berlin daS Project zu einer näheren Bereinigung geschickt wäre, daß der Landgraf völlig damit d’accord sei und den Ge­ neral von Donop nach Berlin geschickt habe, um den Verhandlungen bei­

zuwohnen.

Münchhausen antwortete am 16., daß das Unionswerk von Berlin angekommen und allerdings loyal und zweckmäßig sei.

Freilich wäre

es zweifelhaft, da auf Kopenhagen

und Stockholm

nicht zu rechnen sei, wohl nur wenig evangelische Stände und gar keine

katholischen zu gewinnen wären, ob es überall von effect sein werde.

Indeß bei dergleichen wichtigen Angelegenheiten müsse freilich einer den Anfang machen.

Deswegen sei von Hannover an den König berichtet,

und hoffe er, der König werde zustimmen. „Giebt Gott, daß der König von Preußen bald Meister von Prag „werde, und daß der Herr Herzog von Cumberland die Absicht der Feinde

„in Westphalen vernichte, so werden sich ja hoffentlich in Deutschland noch „Leute finden, die nicht selbst an den Ketten schmieden wollen, die unver-

„meidlich sind, wenn die östereichischen und französischen Absichten gelingen.''

Dieser Brief brachte Hardenberg außer sich:

„Ew. Excellenz äußern in dem Schreiben vom 16., der Entwurf „solle erst nach London geschickt werden."

„Ich kann und darf Ew. Excellenz nicht bergen, daß diese Wendung

„hier um so mehr überrascht, als Se. Majestät von England schriftlich „und mündlich wiederholt die Idee einer Union goutiret und zugesagt

„die Jn'S Werksetzung nach dem Gutfinden Sr. Majestät in Preußen zu „billigen.

In diesem Betracht und in der festen Hoffnung, daß dieser

„Plan ferner keinem Zweifel unterworfen werde, hat der Landgraf Herrn

„von

Donop nach Berlin geschickt und frägt an, wen Se. Majestät

„von England zu diesem Negotium absenden werde?"

„Je mehr sich die Gefahr vergrößert, desto nöthiger hält man, daß „endlich die verlangte Bereinigung zu Stande komme, wenn wir nicht riS„kiren wollen, von allen Reichsständen isolirt zn sein."

„Wäre eS gefällig gewesen vor Jähr und Tag nach den hiesigen

„Vorschlägen auf eine solche Union Bedacht zu nehmen, und über daS

„entstehende Aufsehen sich hinweg zu setzen, so stehet zu glauben, daß die „jetzigen mißlichen Umstände gar nicht existiren würden."

„Wie aber geschehene Dinge nicht mehr zu ändern sind, so kommt „eS jetzt nur darauf an, daß man ohne weitern Zeitverlust zu„sammentrete und den schwachen Ständen zeige, daß man sich ihrer ernst-

„lich anzunehmen gedenke. ....

Friedlich Aügllst, Freiherr von Hardenberg.

598

„Durchlaucht ist um so mehr genöthigt hierauf zu appuhiren, alS der„selbe, da die Observatiönsarmee nun die Weser passirt, sich also noch

„weiter entfernen wird, sich von allen Seiten exponirt sieht, zu geschwei„gen, daß die Niederhessischen Lande völlig offen sind, so sind auch die

„Übrigen Landestheile durch die im Elsaß sich sammelnden Truppen schwer „bedroht . . . Wenn auch die französischen Drohungen den Landgrafen

„seinen Ansichten nicht untreu machen, so verlangt er nun doch endlich

„statt der Worte Thaten zu sehen."

Münchhausen antwortete ziemlich kleinlaut: „ Jetzt käme es freilich auf das Aufsehen nicht mehr an, dem König

„läge daS Interesse des Landgrafen, wie sein eignes am Herzen.

ES sei

„zweifelhaft ob früher schon eine Union zu Stande gekommen sein würde."

Am 27. April schreibt er: „Jetzt wären endlich die Instructionen für die Gesandten eingetroffen, der

„König approuvire den Unionsvorschlag.

Es sei auch nicht anzunehmen,

„so lange die ObservationSarmee im Stande sei, daß die Franzosen sowohl „gegen Hoffen wie gegen Hannover etwas unternähmen!"

Inzwischen aber hatte Hardenberg, da die Franzosen schon bei Ehren­ breitenstein waren, den Landgrafen beredet, Cassel zu verlassen nnd sich

nach Hamburg zu begeben.

Die Erbprinzessin ging nach Stade.

Harden­

berg erhielt eine sehr unbeschränkte Vollmacht, er wählte den Kammer­ director Waltz und den Erbmarschall von Riedesel als Assistenten, da

Beide eine sehr genaue Kenntniß des Landes besaßen. Minister von Donop war in Berlin, Eyben und der VormundschaftSrath Stein begleiteten den Landgrafen, der Caffel verließ, als Rinteln mit seiner schwachen Besatzung

capituliren mußte.

Die Franzosen zeigten sich schon bei Paderborn und

6000 Mann Pfälzische Truppen, die bei Düsseldorf gestanden, hatten Ordre

erhalten, sich in Arnsberg mit 10000 Maün Franzosen zu vereinigen.

Münchhausen gab am 4. Juli endlich die Erklärung, daß der Wech­ sel des Ministeriums in England alles anfgehalten und daß man hoffen müsse, das neue Ministerium werde bald zur völligen Consistenz gelangen.

Der König von England genehmigte den UnionStractat.

spät.

ES war zu

Hardenberg ließ die Archive und Gelder von Caffel in Sicherheit

bringen, er ließ bei dem Churfürsten von der Pfalz Vorstellungen machen

wegen der Pfälzischen Truppen, die Hessen bedroheten.

Man gab zur

Antwort: „ES seien die Truppen in französischem Sold, man habe keine Macht „darüber, übrigens würde es ja auch wohl gleichgültig sein, ob Pfälzer „oder Franzosen Hessen besetzen."

Am 18. Juli rückten die Franzosen in Caffel ein, nachdem man dem

Marschall d'Etröe und dem Marschall Contade den Einmarsch in die damals befestigte Stadt Cassel und in die übrigen festen Plätze freiwillig eingeräumt hatte unter der Bedingung, das Land zu schonen.

Darauf hatte d'Etröe mit der hessischen Regierung ein reglement

vereinbart, dessen erste Artikel lauteten: 1. ES werden keine Contributionen an Geld gefordert. 2. Nichts wird in

der Regierung

und der

Religion des Landes

geändert. 3. Das Land wird als Freundesland behandelt und sorgfältig geschont.

Nun begannen die kleinlichsten Bexationen,

Man forderte von Har­

denberg, er solle angeben, wohin der Iesuitenpattr gekommen, der den Erbprinzen zur Flucht beredet hätte? dann eine Requisition über ein Sub­

ject, einen Mr. Lafont, der sich über die Regierung zu Hanau beschwerte,

weil ihm seine Frau davo,n gegangen sei! Hardenberg wies bei Ersterem nach, daß er in sein Domicil in Oest­ reich zurückgeschickt sei; bei Letzterem, daß er halb verrückt wäre, und sei­

nerseits Frau und Kinder im Stich

gelassen habe.

Dann kamen im

August Forderungen von Fourage und Lebensmitteln, Eaffel mußte zwölf­

hunderttausend Rationen liefern, die nach und nach

auf 3 Millionen

gesteigert wurden, Hanau 121,000, Schaumburg 250,000, Schmalkalden 10,000 Rationen. Das nannten die Franzosen „das Land

als Freunde behandeln!"

Freilich auch den katholischen Fürsten spielten die Franzosen nun ebenfalls

nicht übel mit, z. B. wurde Bayern die Wahl gelassen, ob eS 6200 Mann

HvlfStruppen geben, oder für 30,000 Mann Franzosen Winterquartiere liefern wolle?

Hardenberg und Waitz mußten gemeinschaftlich die erste böse Zeit in Castel regieren, und zwar völlig auf eigne Hand, denn von dem Land­

grafen erhielten sie weder Befehle noch Briefe. Ende August stellte sich heraus, daß der alte Herr sich mit dem Minister von Eyben überworfen'

hatte, Eyben kam nach Cassel zurück und brachte Hardenberg den Befehl

zu dem Landgrafen nach Hamburg zu kommen,

Seine Vollmacht erhielten

Donop und Waiz. Anfang September reiste Hardenberg nach Hamburg ab.

Am 26. Juli war die Schlacht bei Hastenbeck geschlagen.

Der völ­

lig unfähige Herzog von Cumberland, (den man in England für einen

Feldherrn hielt, weil er eine Hand voll Rebellen zu Paaren getrieben), hatte den FeldzugSplan, den Friedrich der Große entworfen und in Eng­

land hatte übergeben lassen, nicht befolgt, sondern war nach seinem eignen Gutdünken verfahren.

Bei Hastenbeck verlor der Herzog den Kopf und

gab Befehl zum Rückzug, während auf der andern Seite die Schlacht be-

reitd so gut wie gewonnen war; so ging sie wirklich verloren und Cum­

berland krönte sein Werk durch den Abschluß der Convention von KlosterSeven.

Nach ihren Bestimmungen sollten die deutschen Hülfsvölker der

ObservationSarmee in ihre betreffenden Landschaften zurlickkehren.

Schon

hatten die Heffen ihren Rückmarsch angetreten, da erfuhr der Landgraf, daß der Marschall Richelieu Befehl gegeben, das hessische CorpS beim Ein­

tritt in das Land zu entwaffnen.

Richelieu hatte gegen Donop geäußert,

aus Rücksicht auf den Landgrafen sei dieser PassuS nicht in die Conven­ tion gesetzt, aber er sei fest ausgemacht. Sofort schickte der Landgraf Hardenberg an den Herzog von Cum­

berland ab, der nach seinem übereilten Rückzüge nach Stade, sich daselbst

friedlich bei seiner Schwester, der Erbprinzessin von Hessen, etablirt hatte. Nach Hardenbergs Bericht vom 23. September reiste er von Ham­ burg zu Wasser ab, traf um 2 Uhr in Stade ein, ließ sich sogleich bei

dem Herzog melden und fragte: „Ob bei der Convention etwa ein geheimer Artikel die Entwaffnung

„derer Truppen stipuliret?" Sr. Durchlaucht erklärten:

„Dies Verlangen des Duc de Richelieu

„laufe der bonne foi zuwider, es sei niemalen von der Entwaffliung der

„Truppen die Rede gewesen!

Er wolle dem Herzog Richelieu Vorstel-

„lungen machen, Ihro Schuldigkeit erfordere es und Ihrs eigne Ehre

„verstre dabei." Hardenberg bat den Herzog die Ordre zu geben, daß der Rückmarsch der Hessen sistirt werde, und sie in'S Lager zurück zu ziehen, suchte den

Erbprinzen von Braunschweig, der in dem Lager selbst war, auf, und meldete ihm, daß den braunschweigischen Truppen dasselbe Schicksal drohe.

Dann ging er zu dem Grafen Lynar, der als Gesandter de« König« von

Dänemark, welcher die Garantie der Convention übernommen, bei dem

Abschluß gegenwärtig gewesen war.

Hardenberg versicherte:

„Der Herr

„Graf Lynar erscheinet höchst seltsam, sintemalen er die Convention vom „heiligen Geiste eingegeben vermeinet; puncto der Entwaffnung erklärte „derselbe:

„Der Landgraf müffe sich fügen!"

Obgleich ich bemerkte,

„daß derselbe schon vor dem Abschluß der Convention von den hegenden

„Absichten de« Marschall« unterrichtet war, so war ich

doch genöthigt

„ihn zu flattiren, erklärte aber schließlich, daß der Landgraf nimmermehr

„in diese Entwaffnung willigen und lieber die äußersten Extremitäten er„warten wolle, als zu einer so deShonnorablen Sache die Hände zu bie-

„ten.

Der Herr Herzog will den Grafen Lynar sogleich an Richelieu

„nach Braunschweig schicken. „len effect.

Von dieser Demarche erwarte ich nicht Die»

Ehe den Herzog verlassen, habe ich mich selbst überzeugt, daß

„die Ordre an die Offiziere, die Truppen in's Lager zurück zu führen,

„wirklich abgegangen ist." In derselben Weise falsch und bundbrüchig verfuhren nun aber auch

die Franzosen in Hannover und Braunschweig. In welcher Weise Richelieu daselbst wirthschaftete, wurde von seinen eignen Landsleuten gebrandmarkt,

indem sie den Palast, den er sich von seinen erpreßten Geldern in Paris

baute, spottweise den pavillon d’Hannover nannten.

Die hannöverschen

Minister sahen zu spät mit Schrecken ein, wie thöricht sie gehandelt. Sie

suchten nun verzweifelt Hülfe und Rath.

Vom 18. October ist ein Privat-Gutachten von Hardenbergs Hand, betitelt:

Erforderte Gedanken eines Patrioten an seinen Freund über den

kläglichen Zustand der hannöverischen Lande und Armee.

»Ich sehe den Verderb der königlichen Länder und schließe, daß unser

„Zustand weit kläglicher als der von Sachsen sei.

Der erste und große

„Vorwurf meines Schreibens wird fein:

„1. Ob es rathfam fei die Convention von Kloster-Seven zu brechen?

oder

„2. Zu halten? oder was „3. Für ein Mittelweg ausfindig zu machen? „4. Was aus diesem für Mittel zur Selbsterhaltung gewählt werden

müssen." „Ich werde mich bei Allem der Kürze beschließen.

Wir können kei-

„nen Krieg in der Situation, in der wir uns befinden, mit Frankreich

„aushalten.

Wir müssen von dem Willen und den Kräften des Berliner

„Hofes besser unterrichtet sein". „Dem kaiserlichen Hofe dürfen wir weiter keine ombrage geben."

„Die Freundschaft Dänemarks müssen wir zu conserviren suchen." „Mit Braunschweig und Hessen gemeinschaftliche Sache machen."

„Rach diesen Sätzen glaube ich nicht, daß es rathfam sei die Con„vention z« brechen."

„1. Weil wir weder von dem Willen noch den Kräften deS Berliner „Hofes unterrichtet find; und also befahren könnten, daß der König mit

„Frankreich einen Separatfrieden schließen und uns dem Gutfinden des „französischen Hofes überlassen könnte."

„2. Weil, wenn wir solche brechen, wir den einzigen Freund, den

„König von Dänemark auch verlieren werden; da dessen gloire eineStheilö „erfordert über die ertheilte Garantie zu halten, andererseits die prädomi-

„nirende französische Partei an diesem Hofe uns nichts Gutes hoffen lasst." „3. Weil wir dadurch uns gänzlich mit dem Wiener Hofe brouilliren „und vielleicht den FiScal gegen uns excitiren werden,"

„4. Weil wir nicht sicher vor Schweden sein, dessen Absicht auf die

„Acquisition der Herzogtümer Bremen und Berden seit langer Zeit ge--

„richtet sein." «ns

die militärischen Operationen keinen sonderlichen

„AuSgang versprechen.

Die Franzosen auch in der Hinsicht im Vortheil

„5. Weilen

„find, daß sie sämmtliche größere Städte in Besitz haben." „Ich glaube also ad 1, daß es sehr gefährlich die Convention zu

„brechen: gestehe jedoch dabei gerne ad 2, daß solche auf die Art und Weise

„zu halten, wie selbige anjetzo ist, unmöglich und gar nicht rathsam sei."

„Moraliter unmöglich halte ich solches, weil in dem engen Be„zirk, den wir haben, 10 Batterien und 28 Escadrons auf die Länge

„nicht bleiben können, daß Soldat und Unterthan ruinirt wird.

Wie ist

„es möglich die Truppen in diesem Bezirk zu recrutiren, kleiden und remon-

„tiren?

Wie wird eS diesen Winter um die Lebensmittel, die jetzt schon

„fast um daS Doppelte gestiegen, stehen?

Rathsam halte ich eS nicht,

„weil mein Grundsatz ist, daß sich die Armee nicht theilen darf, da die

„CorpS so nach Holstein und Lauenburg gehen, so gut wie abgeschnitten „sind und unS im Nothfall nicht beistehen können."

„Wer die Beschaffen-

„heil der Elbe und unsre Schiffahrt kennt, wird eingestehen, daß zum

„Uebersetzen von 12000 Mann wenigstens 8—10 Tage nöthig sind. Ge„ setzt, Dänemark wolle selbige wieder herüber lassen, wird Frankreich dazu „stille sitzen?"

„Ebenso sind diejenigen Truppen, die nach Lauenburg gehen und auf „einzelne Fähren übergesetzt werden müssen.

Ehe dies möglich, können

„die Franzosen, die zu Harburg, Lüneburg und Celle liegen, daS Ufer

„besetzen, und wenn die Schweden sich regen, so können sie nach Umstän„den zwischen zwei Feuer kommen. „ES muß also

„3, bei dieser desperaten Lage der Sache auf einen Mittelweg gedacht „werden.

Diesen zu finden ist nicht ohnmöglich."

„Frankreich ist der Convention unstreitig in vielen Stücken zu nahe „getreten."

„1. Durch die Einnahme von Rheinfels." „2. Die unredliche Executicn in hiesigen Landen." „3. DaS verlangte ddsarmement der hessischen und braunschweigischen „Truppen."

„4. Die doppelt und dreifachen Sauvegarden; hartes Verfahren gegen „die königlichen Diener, Zurückhaltung der Kriegsgefangenen pp.

Dies

„Verfahren der Franzosen dem Reichstag und dem Publikum vorzulegen, „halte ich für höchst nöthig."

„ES leidet also keinen Zweifel, daß Sr. Königliche Majestät in

„totum und tantum davon abgehen können und wird nicht an einem schein-

„baren Grund fehlen, um die Truppen in die Winterquartiere rücken zu „lassen, zumalen die rauhe Jahreszeit nahe ist"

„Der Mittelweg, den ich also Vorschläge, ist dieser: daß man sämmt„liche CorpS zurückziehe und 3 Cordons bilde.

„Buxtehude nach Haffelfeld.

Einer gegen Harburg von

Der zweite gegen das Amt Seven, so daß

„Mutham (unleserlich) und Breiyerwöhrde die Limiten sein, und müßte „man zu diesem Ende die schwache französische Besatzung von Bremerwöhrde

„nöthigen Falls mit Gewalt delogiren.

Der dritte gegen Bremen.

Wir

„müssen zu unsern Winterquartieren den ganzen Winkel zwischen Weser, „Elbe und Ocker nehmen, und es koste, was es wolle sonteniren.

Zwar

„begreife ich ganz wohl, daß

„ad 4, dieses Bewegungen an den Höfen verursachen wird. ES fragt

„sich aber, ob eS besser, durch Theilung der Truppen ganz hvlfloö und „verächtlich zu werden, oder vor Hunger und Kummer selbige vielleicht

„utnkommen zu lassen, oder ob eS nicht vielmehr rathsam sei, diesen Mit„telweg, wozu Recht und Befugniß genug vorhanden, noch und zwar ohne

„Zeitverlust z« wählen.

Und dieserhalb stimme ich für das Letztere, jedoch

„mit Beibehaltung und Ergreifung aller der Wege, die die Klugheit er-

„fordert."

Er giebt nun diejenigen Personen an, die man nach Kopenhagen, Wien, Braunschweig schicken könne; sowie diejenigen auswärtigen Minister, „denen mit Geld beizukommen sei," wegen der Winterquartiere, der Anle­

gung von Magazinen u s. w. Der Schluß lautet:

„ES sind inzwischen alles dies Gedanken, die

„ich nichts weniger als untrüglich auSgebe, vielmehr zur Prüfung über-

„gebe,

mit dem herzlichen Wunsche:

Gott segne die Rathschläge des

„Königs und seiner Räthe zum Besten deS Landes und so vieler seufzen-

„den Unterthanen." AuS einem Briefe deS Ministers von Münchhausen, Stade den 20. No­

vember erhellt, daß alle diese Vorschläge Hardenbergs bis in'S Einzelne be­ folgt worden sind, daß sogar wie er angab, die Besatzung von Bremerwöhrde

zur Ausführung deS Cordons delogirt worden sei: „Ich spreche Ew. Excel-

„lenz

meinen gehorsamsten Dank für Dero gute Rathschläge aus und

„bitte doch nun inständigst Sr. Durchlaucht zu persuadiren fest zu halten

„und nicht nachzugeben." (Schluß folgt.)

Ein Freiwilliger von Gravelotte. (A. d. R.

Der junge Held, von dem nachstehende Aufzeichnung herrührt, ist todt; seine

Genesung war nur Schein; so mögen seine Worte als Zeugniß jenes schlichten preußischen

Geistes, der uns zum Siege verhalf, bewahrt bleiben.)

Am Morgen des 18. August, früh um 2 Uhr, wurde Generalmarsch geschlagen und von Pont-L-Mousson aufgebrochen.

ES war noch fast Nacht.

Ein kalter Herbstnebel benahm die Aussicht; ich ging halbschlafend, fast in­ stinktmäßig für mich hin. Allmählich machte mich die Frische des Morgens,

die immer mehr zunehmende Helligkeit und der Anblick der klarer hervor­ tretenden Landschaft erwachen. Wir gingen stundenlang zwischen Weinbergen und Gärten am rechten

Moselufer entlang.

Endlich ging die Sonne auf, der Nebel fiel, und der

herrlichste Herbsttag brach an.

An einer Landstraße machten wir kurzen Halt und konnten, daS Ohr

am Boden, fernen Kanonendonner hören.

Wir kamen auf den bevor­

stehenden Kampf zu sprechen.

Mein Nebenmann, der Füsilier Pollow, erzählte mir manche schauer­

liche Geschichte aus dem Feldzuge von 1866, den er mitgemacht, und wenn er dann sah, daß er meine kampflustige Stimmung dadurch eher erhöhte, als daß er mich kleinlaut machte, so rief er mir öfter zu:

passen sie mal auf,

„Na na, Stein,

sie werden bald ganz anders reden, wenn erst die

Kugeln uns um die Ohren pfeifen."

Er hielt meinen Enthusiasmus nicht für feuerfest. Gegen Mittag machten wir auf einer weit ausgedehnten Hochebene

Halt.

Die Gewehre wurden zusammengesetzt, Gepäck abgelegt und abge­

kocht.

In weiter Entfernung vor uns vernahmen wir deutliches Schießen,

wie zusammenhängende Kanonensalven, ein Heulen fast ohne Aufhören.

Sehen konnten wir nichts. Kaum war ich mit meiner Suppe, die aus Reis, Salz und Kartoffeln,

in Waffer aufgesetzt, bestand, fertig, so wurde von allen Seiten zum Auf­ bruch geblasen.

Die in der Nähe gelegenen Truppenthetle, besonders viel

Artillerie, gingen voran, so daß uns Zeit blieb, wenigstens etwas von un­

serm Mittag in der Eile noch zu verzehren. Der Major, in Besorgniß, daß überraschend schnell daS AufbruchSignal ertönen möchte, trieb unö zu äußerster Beschleunigung der Mahl­

zeit, unser Hauptmann aber, der jovialste und kaltblütigste Mensch von der

Welt, rief unS ganz gemüthlich zu:

„Na, Kinder, beeilt Euch man nicht

zu sehr, eßt ruhig Eure Suppe, so viel Zeit ist noch." wirklich noch reichlich soviel Zeit.

Und eS war

Biele bereuten eS später bitter, in der

ersten Hast alles verschüttet zu haben.

Ich war, wenn ich mir auch an

der heißen Suppe gehörig die Zunge verbrannt hatte, doch wenigstens

etwas gesättigt und zufrieden. Bon zwei dem Kampfplatz zuführenden Wegen schlugen wir den rechten ein, ans dem wir nach einigen Stunden Marsches an den Schlachtfeldern

des 16. August vorüberkamen.

Sie waren schon größtentheilS gesäubert.

Hie und da lag am Weg ein mit Staub und Blut bedeckter Leichnam.

Diese Anblicke machten einen unverkennbaren Eindruck auf die Vorüber­ gehenden.

Wir wurden stiller, die Scherze hörten auf und keiner mochte

singen oder sich unterhalten. Jeder dachte, aber wohl jeder in verschiedener

Weise, über seine Lage nach.

danken an den Tod.

Es waren wohl meist die ersten ernsten Ge­

Mir drängte sich beim Anblick dieser Todten zuerst

nur der eine Gedanke aus, daß die Unglücklichen schuldlos ihr theuerstes

Gut, ihr Leben hier opfern mußten für eine Sache, die nur durch den frevelhaften Uebermuth eines leichtsinnigen Volkes heraufbeschworen war.

Wo war da die ewige Gerechtigkeit, von der ich früher geträumt hatte. Dieser schreiende Contrast zeigte mir, daß es für den einzelnen Men­ schen wenigstens keine giebt.

Er ist eben nur ein Glied des Ganzen und

muß sich für dasselbe hingeben.

Aber hieraus folgt zugleich ein Schluß,

der meinen Muth aufrecht erhielt und mich sogar mit einer gewissen Freudig­ keit zu kämpfen erfüllte.

Ich sagte mir, da ich nun ein Glied dieses

Ganzen bin, da nun einmal die Sache soweit gekommen, daß sie nur mit

unserm Siege enden darf, wenn wir nicht unser Vaterland und unsere Angehörigen preiögeben wollen, da ich für die Erhaltung dieser beiden hier

im Felde stehe, so will ich wenigstens alles, was in meinen Kräften steht, dazu thun, um daö angestrebte Ziel zu erreichen.

Für mich, der ich «n-

verheirathet, unverlobt war, hatte dieser Entschluß zu seiner Entstehung

bei weitem nicht die Kraft nöthig, wie vielleicht bei manchem anderen Ca-

meraden; ich hatte ein kurzes Leben hinter mir, welches mir ebensowenig, wie eine bescheiden ausgemalte Zukunft Etwas geboten hätte, das mir eine allzu große Liebe zu ihm und infolgedessen Furcht hätte einflößen können.

Ich war fest entschlossen und gefaßt, und selbst der Gedanke an den Tod

(der mir allerdings auffallend fern lag) verlor das Schreckliche durch den Gedanken an die schöne und edle Sache, die wir vertheidigten. Ein wunderbarer, aber recht natürlicher Zug eines Cameraden fiel

mir während des Marsches auf. verloren.

Er hatte Tags zuvor feine Feldmütze

Ein anderer Camerad nahm eine in der Nähe eines Todten

liegende auf und bot sie ihm an.

Sie war recht gut erhalten.

sie eine Zeit lang, besann sich und warf sie wieder fort.

Er besah

Wenn man, wie

wir es waren, noch nicht verwildert ist durch den Krieg, dann kann man noch nicht auf dem vertrauten Fuße mit dem Tode stehen, wie Leute, die

viele Schlachten mitgemacht; und alles waö einem Todten angehört hat, hat etwas unheimliches und abstoßendes für uns, weil wir eben noch so

ganz im Leben sind und daran denken wollen.

Gegen 7 Uhr kamen wir in die Nähe des Kampfplatzes.

Es wurde

gehalten und zum ersten Male für mich ertönte das Commando: den" im Ernste.

„Gela­

Es ist ein unbeschreiblicher Unterschied zwischen dem

Laden aus dem Schießstande und dem vor der Schlacht.

Was ich bis

dahin so mechanisch und ruhig unzählige Male gethan, das regte mich jetzt

ungemein auf und obgleich ich alle Kraft zusammennahm, so konnte ich doch eine unsichere Hast bei diesen bekannten Griffen nicht unterdrücken.

Zum ersten Male trat der Gedanke klar vor meine Seele: du Menschen tödten."

„Jetzt wirst

Aber das war auch nur ein kurzer, schnell ver­

drängter Gedanke, der aber mich unbewußt ernster gemacht hatte. Mit großer Spannung verfolgten wir alle den vor uns tobenden Kampf, von dem wir allerdings mehr hören alö sehen konnten. Soldaten waren alle sehr ruhig und ernst gestimmt.

Die

Die Offiziere waren

heiterer oder versuchten es doch wenigstens zu sein. Endlich wurde das Signal zum Aufbrechen gegeben und nach einigen

kurzen Pausen während eines etwa viertelstündigen Marsches kamen wir in das feindliche Feuer; zuerst erreichten uns nur verlaufene Chaffepotkugeln

und Granaten, die mit einem dumpfen Knall hoch über unsern Köpfen

explodirten.

ES ging in rasendem Sturmschritt vorwärts, so daß eS mir

oft schwer fiel, mitzukommen.

Bor uns lag eine Schlucht mit zum Theil

steilen, felsigen Abhängen und Steinbrüchen.

Wir gingen hinunter, dann

eine Zeit lang auf der breiten Sohle in starkem Gedränge mit anderen Compagnien entlang, wobei wir eine Chaussöe passirten und zuletzt den steilen Abhang der anderen Seite wieder hinauf.

'kommen bin, weiß ich kaum;

Wie ich da hinaufgei-

nur das ist mir noch klar, es war sehr

schwierig, ich mußte mich zum Theil an Dorngestrüpp Heraufziehen; und eS ging doch recht schnell.

Wir wurden alle, so schien eS mir wenigstens,

wie von einer höheren Macht fast willenlos sortgerissen, die Kräfte wuchsen

«m jedes Hinderniß schnell zu überwinden und der Geist dachte nur an einS: „vorwärts!" Alle anderen Gedanken traten vollständig zurück.

diese „höhere Macht" war für mich etwas wirklich Vorhandenes.

Und

CS

war der in mir klar und fest dastehende Gedanke an die heilige Pflicht.

Der Muth, den ich der bevorstehenden Gefahr gegenüber in mir fühlte,

machte, daß ich dieselbe als eine ehrenvolle und ruhmreiche, nicht als eine

schreckliche und vernichtende ansah. von mir fern.

Er hielt jeden Gedanken an den Tod

Ich habe während des ganzen Angriffs, der jetzt erfolgte,

nicht einen Augenblick an Sterben gedacht.

Ich hatte ein Gefühl fast von

Gewißheit, daß mich keine Kugel treffen würde; das that nicht nur anf mich selbst, sondern auch auf meine zum Theil zaghaften Kameraden, die

ich öfters aufmunterte, eine gute Wirkung.

Mr hatten uns jenseit der Schlucht «uf einem, ebnen, ansteigenden Terrain gesammelt und gingen in Compagnie-Colonne vor.

Ein heftige-

Feuer entwickelte sich vor uns, als man unser gewahr wurde.

Aber zuerst

gingen, 'da wir noch ziemlich weit entfernt waren von der feuernden Schützenlinie, alle Kugeln über unsere Köpfe hinweg und nur aus dem zusammenhängenden Gepfeife und Geheule,»daS sie über unS anstimmten, konnten wir ihre Masse beurtheilen.

ich eS nie für möglich gehalten hätte.

Um unS entstand ein Getöse, wie

Es war eine Musik, bei der die

Baßbegleitung in einem beständig, bald stärker bald schwächer dahinrollenden Kanonendonner bestand nnd zu der die schaurige Melodie die heller nah

und fern, um und vor uns knatternden Gewehrsalven nnd Mitrailleusen-

schüsse bildeten. Kaurn verständlich wurde „schwärmen" kommandirt, aber nur zum Theil, weil nur halb gehört, auSgeführt.

Ich hielt mich mit meinem

Vordermann zusammen und eS gelang mir mit Mühe mich mit ihm ver­ ständlich zu machen.

Man konnte faktisch sein eigene- Wort nicht ver­

stehen.

Da- Schießen auf die nur in dunkeln Umriffen sichtbaren, hinter Rauch, Dämmerung und Gräben versteckten Feinde, hatte unsererseits auf­ gehört.

Wir gingen mit gefälltem Gewehr im Sturmschritt vorwärts.

Aber jetzt plötzlich empfing uns ein wahrer Hagel von Geschoffen.

Der

Gegner, der uns schnell und entschlossen herankommen sah, nahm noch

einmal alle Kraft zusammen. schwarz mit Leichen bedeckt.

raden lautlos zusammensinken. ZugeS.

Rechts

lag neben unS das

ganze Feld

Ganz in meiner Nähe sah ich mehrere Kame­

Ich stand am rechten Flügel des ersten

In diesen Augenblicken hatte ich ein sonderbares Gefühl.

Mir

war's wie oft im Traume, als ob eine unsichtbare Macht.sich meinem

raschen Schritt entgegenstellte und mich nicht vorwärts ließ, obwohl ich

wollte und mußte; als ob sie ein feines Netz um mich geworfen hätte und

mich zuriickzuziehen versuchte. schneller.

Aber mein Schritt wurde nur fester und

Ich glaube, es war das nnwillkiihrliche Auflodern der ganzen

Lebenskraft gegenüber der Gefahr, ein Gefühl das den Körper mit starrem Rieseln durchzieht, es war die unbewußte Empörung der Natur gegen den Tod, der mich wie eine unsichtbare Macht mit seinem bleiernen Athem

anhauchte.

Aber ich kannte ihn nicht, obgleich ich ihm scharf in'S Auge

sah, und ich wollte ihn auch nicht kennen.

Ein leises Zucken huschte plötzlich durch meinen Körper, wie eS mir

schien, in der Nähe der rechten Hüfte.

Ich kehrte mich nicht daran, ob­

gleich eS mir auffiel und ging einige Schritte weiter.

Da fing es an,

mir dunkel vor den Augen zu werden; ich fühlte etwas Schwäche.

Der

Gedanke, daß ich verwundet sei, machte mich so wüthend, daß ich sofort

mein Gewehr lud, einen schwarzen Gegenstand vor mir aufs Korn nahm und feuerte, mit der stillen Hoffnung, einen Franzosen getroffen zu haben.

Da konnte ich das Gewehr nicht mehr hoch halten, um noch einmal zu laden, ich schwankte heftig, ging zu meinem zugführenden Lieutenant mit

angefaßtem Gewehr, meldete Mich verwundet und trat dann auf dessen

Weisung hinter die Compagnie zurück.

Ich weiß, daß ich noch eine kleine

Strecke gegangen bin, während mir der Athem immer knapper wurde und viel Blut aus dem Munde strömte.

Ich legte mich hin, mit vollem Ge­

päck, ich konnte nicht mehr die Tornisterhaken loslösen, auch Mantel abnehmen.

nicht den

Die ganze rechte Seite wurde gelähmt und das Luft­ Da dachte ich eine kurze Zeit — eö war das erste

holen immer schwerer.

und einzige Mal — an den Tod.

Ich erwartete ihn mit Ruhe, nur der

Gedanke an den Schmerz der Angehörigen war mir schrecklich und nm

ihnen so viel Trauer zu ersparen, wäre ich gerne am Leben geblieben.

Diesem entstehenden Wunsch gesellte sich bald die Hoffnung zu.

Ich be­

hielt meine Besinnung, die Thätigkeit der Lunge war sehr schwach, aber sie nahm doch nicht noch mehr ab.

Mit dem Gedanken an einen immer

wahrscheinlicher werdenden glücklichen Ausgang kam mir ein anderer: an

da- Verbandzeug.

Ich holte es mir mühsam aus der vorn im Rock be­

findlichen Tasche mit der noch beweglich gebliebenen rechten Hand, öffnete mit Hülfe der Zähne das Täschchen aus Wachsleinewand und stopfte von der darin befindlichen Charpie in die Wunde, welche dadurch aufhörte zu

bluten.

Allmählig ließ

auch die Blutung aus dem Munde, die beim

Athemholen entstand, nach.

Aber jetzt kamen die grauenvollsten Augenblicke, die ich während jener

Nacht erlebt.

Nicht

heftigster Weise.

weit vor mir erneuerte sich daS Gewehrfeuer in

Unzählige Kugeln hörte ich Uber mir wegsausen, jede

«ach Schnelligkeit und Höhe mit einem verschiedenen, unheimlichen Singen.

So noch verwundet zu werden, in hiilfloser Lage, ohne sich vertheidigen zu können, das war ein aufreibender Gedanke.

Eine Kugel schlug ganz

nahe an meinem Kopf in die Erde, so daß mir der anfspritzende Sand in

das Gesicht flog. Nach einiger Zeit wurden von unserer sowie von feindlicher Seite Signale geblasen und das Feuern ließ nach, aber nur, um nach kurzer

Pause wieder ebenso heftig aufgenommen zu werden.

Diese- Schießen wiederholte sich vier oder fünf mal, bis vollständige Dunkelheit und vielleicht auch vollständige Ermattung auf beiden Seiten ihm ein Ende machten.

In meiner Nähe war es ziemlich still.

Obgleich

das ganze Feld bedeckt war, so hörte ich doch nur vereinzeltes Stöhnen

und Rufen,

sein.

Es müssen sehr viel Todte unter den Daliegenden gewesen

Ein Kamerad meiner Compagnie, Füsilier Miolff, lag ganz in meiner

Nähe, am Bein verwundet.

Wir hatten uns sviedererkannt und gaben

uns Mühe die Aufmerksamkeit der ab und zu auftauchenden Krankenwärter

auf uns zu lenken.

Ich versuchte zu rufen, aber das war so schwach und

leise, daß ich ihn bat für mich meinen Namen zu nennen und Jemand

heranzuziehen.

ES kam auch ein Krankenwärter, der einen älteren Offi­

zier*) heranrief.

Dieser ließ mir, als er meinen Namen erfahren, das

Gepäck abnehmen, den Tornister bequem unter den Kopf legen und zwei

Mäntel überdecken, da mich heftig fror.

Am nächsten Morgen versprach

er, mich mit einer Tragbahre abholen zu lasten.

So in eine bessere Lage

gebracht, beruhigt und voll Hoffnung für den nächsten Morgen erwartete ich den Anbruch des Tages.

Meine Schmerzen waren nicht bedeutend

und nur dann empfindlich, wenn ich mich bewegte. Am Morgen des 19. kamen

die versprochenen Krankenträger

und

trugen mich zu dem nahegelegenen Verbandplatz. Unterwegs begegneten wir

dem abmarschirenden 42. Regiment aus dem ich mir den Lieutenant Fritz Zenke herauSrufen ließ, um ihm Nachrichten für die Meinigen aufzutragen.

Der Verbandplatz bestand aus einem langen in der Mitte erhöhten

Strohlager, zu dessen beiden Seiten, mit dem Kopfe auf der Erhöhung

ruhend,

die Verwundeten hingelegt wurden.

Ein Arzt sah

sich

meine

Wunde an, ließ meinen Verband ungeändert, schüttelte bedenklich den Kopf und sagte auf meine Frage, ob die Wunde lebensgefährlich sei:

Sie können noch geheilt werden."

schon mit Verwundeten angefüllte Tretmühle gebracht. gelegen, weiß ich nicht mehr genau.

*) Oberstlieutenant v. Massow.

„O nein.

Bon dieser Streu wurde ich in eine

Wie lange ich hier

Ih habe nur noch wenige Eindrücke

Ein freiwilliger Krankenpfleger des Barmer HiilfscorpS

davon behalten.

nahm sich meiner an, gab mir zu trinken nnd schrieb für mich einen Brief nach Hanse.

In der Nacht regnete es durch das Dach.

war faul und plagte mich durch den schlechten Geruch.

der Raum geleert.

Auch an mich kam bald die Reihe.

Däs Stroh

Allmählig wurde

Man brachte mich

Dort erhielt ich ein Bett in einer ziemlich düstern, kleinen

nach Gravelotte.

Bauerstube, in der sich schon drei andere Verwundete befanden.

Mit meinen Wunden ging es gut.

Der Arzt glaubte, sie würden

ohne Eiterung heilen, da sich noch keine Spur derselben zeigte.

mich int Allgemeinen wohl.

Ich fühlte

Nur die Nächte waren fürchterlich.

Traum führte mich wieder vor die feindlichen Schützenlinien,

Jeder

unzählige

Male wurde ich wieder verwundet, stürzte nieder, raffte mich wieder auf und schleppte mich vorwärts.

Zuletzt wurde die Aufregung der Träume

so groß, daß ich davon erwachte; und das allmählich immer leichter und

öfter, bis der Schlaf ganz wich.

auf kurze Zeit.

rationen

Ich nahm Opium, aber es betäubte nur

Ich hörte doch Alles, was im Zimmer vorging, die Ope­

und sonstigen

Stubenkameraden

schmerzhaften Proceduren,

vornahm.

Wenn

ich die

die man mit meinen

Schmerzensschreie meines

Nachbarn, dem beide Beine zerschossen waren, hörte, dann bedauerte ich

ihn von Herzen und fühlte mich ordentlich zufrieden mit meiner Lage. Und dabei ahnte ich nicht, daß ich in lebensgefährlichem Wundfieber lag und einer Lungenentzündung entgegenging.

Nach einem Zeitraum den ich nicht

genauer anzngeben vermag, da mir alle Daten aus dieser Zeit dunkel sind, kam ich in ein besseres Haus und ein freundlicheres Zimmer.

lische Schwester Lieutenant Rnpe. erschöpft.

pflegte mich und einen

Eine katho­

neuen Stubenkameraden,

den

Durch einen achttägigen Ruhranfall waren meine Kräfte

Ich lag da auf. dem Rücken, ohne zu sprechen, was mir vom

Arzte verboten war und ließ mit mir machen,

was man wollte.

Zum

Glück übernahm das Lazareth, dem ich zugetheilt war, ein Stettiner Arzt, Herr Dr. Kugler, der meine Eltern kannte und es sich angelegen sein ließ, Alles nur mögliche zu

meiner Wiederherstellung zu thun.

Schon sein

bloßer Anblick, wenn er Morgens mit seinem frischen, blühenden Gesicht

in unsere Stube trat und mir Aussicht machte, in Kurzem evacuirt zu werden, wenn er uns die angekommenen Briefe brachte und das Neueste aus dem Kriege erzählte, das Alles stimmte mich froh und zufrieden, zumal

da ich außer beim Verbinden der Wunden, nicht über große Schmerzen

zu klagen hatte.

Der Schlaf besserte sich, aber leider trat Husten mit

starkem Auswurf ein.

Ich warf dann mehrere Tage viel Blut aus, ohne

einen rechten Begriff davon zu haben, woher es käme und in welcher Ge­ fahr ich schwebte.

Eines Morgens kam der Arzt herein, um mir mitzutheilen, daß mir

eine freudige Ueberrafchung bevorstände.

Ich mußte ihm fest versprechen,

daß ich mich ganz ruhig dabei verhalten wollte und in keiner Weise meiner Freude lauten Ausdruck geben werde.

Bald darauf trat mein Compagnie­

chef, der Premierlieutenant v. Treskow herein und überreichte mir im Namen des Regiments das eiserne Kreuz.

Erwartungen;

Das übertraf aber alle meine

auf eine solche Ueberraschung war ich

nicht vorbereitet.

Meine freudige Bewegung machte sich in krankhaftem Weinen Luft.

Bald

behielt aber doch der Wille und der Gedanke an daS dem Arzte gegebene Versprechen die Oberhand; ich wurde ruhig und drückte meinem Com­

pagniechef mit der Betheuerung des aufrichtigsten Dankes die dargebotene

Hand.

Als ich wieder allein war, legte ich das Kreuz vor mich- hin auf das

Bett und betrachtete es lange, ohne die stillen Freudenthränen zurückzu­

halten.

ES waren gerade vier Wochen feit der Schlacht vergangen.

Ein eisernes Kreuz gehörte noch zu den größten Seltenheiten und galt für die schönste und beneidenSwertheste Auszeichnung, die Einem von

uns zu Theil werden konnte.

Ich hatte wohl manchmal im Stillen mir diese herrliche Auszeich­ nung gewünscht, aber nie gewagt, darauf zu hoffen; denn, obgleich ich mir bewußt war in Denken und Handeln meine Stelle als Soldat dem Feinde

gegenüber ausgefüllt zu haben, so glaubte ich doch nur meine Schuldigkeit, vielleicht mit mehr Eifer und Vertrauen als Andere, gethan z« haben.

Roch drei Festtage habe ich aus dieser Trauerzeit aufzuzeichnen: die drei Tage, an denen mich mein Vater besuchte.

Schon gleich auf die erste Nachricht, die zu Hause von meiner Ver­ wundung eingetroffen war, hatte er sich aufgemacht um mich zu suchen.

Nach vielen Mühen und oft getäuschten Ewartungen kam er endlich auch nach Gravelotte und traf hier gleich beim ersten Nachfragen meinen Arzt,

der ihn, nachdem er mich am Abend seiner Ankunft vorbereitet hatte, am nächsten Morgen zu mir führte.

Ich kann nicht sagen,

ob in jenem

Augenblicke mich mehr übermäßige Freude oder tiefe Trauer erfaßte; es war ein Gemisch von Beidem.

Nur das weiß ich noch, daß mich seine

Ankunft sehr ergriff und, wie ich aus dem nur wenige' Augenblicke gestat­ teten Wiedersehen schloß, wohl zu sehr anfregte.

Er versprach in einigen

Wochen wiederzukommen, um mich dann möglichen Falls in die Heimath

zu tranSportiren.

Diese schöne und einzige Hoffnung trug viel dazu bei,

mich vor Muthlosigkeit zu schützen und mir meine Lage

erträglich zu

machen. Nach 14 Tagen traf mein Vater mit einer reichen Sendung von LiePreußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6

42

61S

Ein Freiwilliger von Gravelotte.

beSgaben ausgerüstet, wieder in Gravelotte ein.

Er sah sehr angegriffen

auS, und wenn er sich auch Mühe gab, jeden Anflug von Mattigkeit

vor mir zu verbergen, so schloß ich doch auS seinen Zügen, daß er eine

Reise voll Anstrengung und Entbehrung hinter sich hatte.

Um so mehr machte eS mich glücklich, daß auch ich ihm eine Freude machen konnte, indem ich ihm daS vor Kurzem erhaltene eiserne Kreuz

reichte.

ES war für mich, als wenn ich zum zweitenmale damit decorirt

würde, als er eS mir mit freudig-zufriedenem Blick und einem Kuß auf

die Stirne zurückgab.

Er schied wieder nach kurzem Aufenthalt.

Durch die reichlichen, unschätzbaren Vorräthe, die sich jetzt in unserer

Speisekammer ansammelten, war unsere Lage bedeutend gebessert.

ging eS meinem Stubenkameraden immer schlechter.

Leider

Er war durch die

damals im ganzen Dorfe grassirende Ruhr stark mitgenommen und wollte sich gar nicht wieder erholen.

Ich mußte alle Leckerbissen, die wir sonst

immer redlich getheilt, allein verzehren, und, während ich von Tag zu Tag an Kräften und Lebenslust zunahm, sah ich meinen Leidensgefährten immer kraftloser, mißmuthiger und hoffnungsloser werden.

Ich hatte auch etwas zu leiden, aber nicht an den Wunden, sondern nur an mehreren durchgelegenen Stellen.

Da mir jedoch der Arzt sagte,

daß daö nur die Folge körperlicher Schwäche wäre und mit zunehmen­ der Gesundheit heilen würde, so trug ich's mit Geduld und machte mir weiter keine Sorgen darüber.

Schwester Salesia, unsere Kankenwärterin, benahm sich ausgezeichnet

während der ganzen Zeit.

Mit Anspannung aller Kräfte, selbst mit Auf­

opferung ihrer Gesundheit gab sie sich unserer Pflege hin.

Sie begleitete

uns noch mit nach Wiesbaden, als mein Vater zum drittenmale nach Gra­ velotte kam und mich mit meinem Stubenkamerad, in einem mitgebrach­

ten, bequem eingerichteten Salonwagen der Stettiner Bahn dorthin trans-

portirte. Dieser dritte Festtag jener Zeit, der Tag der Uebersiedlung nach

Deutschland, war für mich einer der schönsten. Mir war'-, als ob ich aus einer langen, drückenden Haft befreit würde, als wenn ich aus einer trüben Einöde in ein Paradies versetzt würde.

Jeder Baum, jeder Berg, die unbedeutendsten Gegenstände, die

ich im Vorbeifahren sah, erregten mir Freude und Interesse.

Ich setzte

mich im Eisenbahnwagen eine kurze Zeit an'S Fenster, so lange eS meine Kräfte zulleßen, und betrachtete die schöne Landschaft, die wir durchfuhren.

Ein solcher Anblick ist von unbeschreiblichem Zauber für einen Menschen, der acht Wochen in einer Lage still auf dem Rücken gelegen und nichts

glS die rohe Holzdecke feines Zimmers und vier kahle Wände gesehen hat.

Ein Freiwilliger von Äraveloite.

ZlZ

Bei unserer Abfahrt in ArS-sur-Moselle wäre eS unS beinahe schlecht

Ganz in der Nähe des Bahnhofes war von unseren Truppen

gegangen.

eine Schanze aufgeworfen, die vom Fort St. Quentin bei Metz beschossen

wurde.

Am Tage vorher hatten Granaten von dort auf dem Bahnhöfe

arge Verwüstungen angerichtet.

diren an als wir einstiegen.

zu krepiren.

Man fing gerade wieder mit Bombar»

Eine Granate fiel in der Nähe nieder ohne

Sofort stürzte Alles hin, um sie sich anzusehen, unter ande­

ren auch unser Zugführer, der uns durch seine Nengier zwang, mehrere Minuten unnütz in dieser unbehaglichen Lage zu warten. Nach zweitägiger Fahrt kamen wir am Abend des 12. Oktobers in

Wiesbaden, unserm Bestimmungsorte, an

und wurden durch freiwillige

Krankenträger in das dortige Paulinenstift, ein zum Lazareth umgewan­

deltes, protestantisches Erziehungsinstitut für arme Kinder tranSpartirt, Hier, unter der trefflichsten Pflege erholte ich mich rasch, so daß ich schon

am 27. November 1870 eine Reise nach Meran antreten konnte, begleitet von meiner Schwester, um dort in einem milderen Klima den Winter

zuzubringen und meine vollständige Heilung abzuwarten. Mein Stubenkamerad und Leidensgefährte, Lieutenant Rupe, starb im

PaulinenstiftSlazareth, acht Tage nach unserer Ankunft.

DiphtheritiS hatte seine letzten Lebenskräfte waren vollständig geheilt.

erschöpft.

Eine bösartige Seine Wundey

Er hatte, ähnlich wie ich, einen Schuß durch

den rechten Lungenflügel erhalten.

Geschrieben im August 1872.

Fritz Stein.

Samuel Pusendorf. i.

Nahe dem Altar der alten Nicolaikirche, die inmitten des lauten Ge­ wühls der deutschen Hauptstadt noch von den

bescheidenen Tagen

der

ehrenfesten märkischen Landstadt Berlin erzählt, steht in dunkler Nische ein

halbvergessenes Grab.

Eine verblichene lateinische Inschrift unter einem

grell bemalten Freiherrnwappen meldet, daß hier die Gebeine Samuel

Pufendors'S ruhen: „seine Seele ist in den Himmel ausgenommen, sein Ruhm fliegt über den ganzen Erdkreis."

Unter den Hunderten, welche

im Oktober 1694 diese offene Gruft umstanden — und was Berlin an Glanz und Macht besaß, der kurfürstliche Hof voran, war dort versam­ melt — blickte vielleicht Mancher mit Groll und Neid auf die Bahre deS streitbaren Denkers; doch Niemand hätte jenes volltönende Lob der Prah­

lerei zu zeihen gewagt.

Die Nation empfand: eine Größe unseres Lan­

des und deS Welttheils war geschieden.

Im Laufe der Jahre ist der einst

ffochgepriesene und tödtlich gehaßte Name verschollen und vergessen.

Der

Masse der Ungelehrten erwacht bei seinem Klange wohl nur die unbe­ stimmte Vorstellung von einem gravitätischen Professor in Goldbrokatkleid

und Allongeperrücke, oder sie erinnern sich lächelnd der Verse Schillers: Drum laßt der wilden Wölfe Stand Und schließt des Staates dauernd Band!

So lehren vom Katheder Herr Pufendorf und Feder.

Selbst in der Wissenschaft war das stattliche Bild des größten Publicisten

der alten Reichszeit langehin dermaßen verdunkelt und

entstellt,

daß HSuffer in seiner Pfälzischen Geschichte den furchtbaren Störenfried der zünftigen Gelahrtheit geradezu als „einen charakteristischen Ausdruck dieser unermeßlich gelehrten, aber in ihrer patriotischen Gesinnung so ganz

leb- und farblosen Bücherzeit" schildern konnte.

Erst in der jüngsten

Zeit hat Drohsen dem Historiker, Bluntschli dem Politiker Pufendorf die gebührende Ehre gegeben; seitdem beginnt die gelehrte Welt dem Vergesse-

pen wieder ihre Augen zuzuwenden, und eS mehren sich die Stimmen,

welche den Seherblick des SeverinuS de Monzambano preisen.

Indem

ich zu schildern versuche, was die Zeitgenossen an ihm bewunderten und

fürchteten, fühle ich schmerzlich die Armuth meines Wissens.

Hat der

stolze Mann, der in Allem von dem Handwerksbrauche abwich, auch die

Briefseligkeit der Gelehrten seiner Tage verschmäht?

blieb ihm bei dem

Uebermaße der Arbeit und der Kämpfe keine Muße für vertraulichen Ge­

dankenaustausch? oder hat nur ein räthselhafter Unstern über seinem Nach­ laß gewaltet?

Genug, bis auf wenige dürftige Bruchstücke ist uns Alles

verloren, wa- von den HerzenSgeheimniffen dieses stürmischen Geistes er­ zählen könnte.

Mehr als von anderen Gelehrten gilt von ihm, daß des

Denkers Leben in seinen Werken liegt. —

Als Ernst Moritz Arndt im Frühjahr 1848 zu Frankfurt unter den Vertretern der Nation erschien und den Schwergeprüften , der

jubelnde

-Hochruf der Versammlung begrüßte, da ergoß sich sein überströmendes Ge­

fühl in die Worte:

„ich glaube an die Ewigkeit meines Volkes."

Wer

diesen rührenden Ausspruch des Alten verstehen und sich überzeugen will,

daß wir wirklich, menschlich zu reden, auf die unverwüstliche Dauer deut­ schen VolkSthumS bauen dürfen, der wird den festesten Anhalt für solche

frohe Zuversicht nicht in den Zeiten deutscher Macht und Herrlichkeit fin­ den, sondern in den jammervollen Tagen nach dem dreißigjährigen Kriege.

Durch die völlige Zerstörung seiner alten Gesittung, durch eine beispiel­ lose Verwüstung des Wohlstandes nnd deö sittlichen Lebens hatte das Va­

terland der Reformation dem Welttheil die Freiheit des Glaubens gerettet.

Mit dem stärksten Volke Europas spielten die Fremden.

Jene Sprache,

die zu Luthers und Huttens Zeiten zugleich im Glanze reiner Bildung und in der gedrungenen Kraft volkSthümlicher Derbheit geprangt, war

verwälfcht und verschnörkelt,

ein widriges Gemisch von Flachheit und

Schwulst, von Künstelei und Roheit, so knechtisch, so unfähig das Edle und Erhabene in einfacher Großheit auszusprechen, daß auf die Frage: welche deutschen Schriften jener Tage wir heute noch lesen können? — die ehrliche Antwort lauten muß: außer einigen Gedichten von Simon Dach, Logan, Paul Gerhard allein die schnurrigen Abenteuer des SimplicissimuS und die

gespaßigen Predigten Pater Abrahams

a St. Clara!

Die Angst und

Noth der Zeit, die Herrschaft der rohen Gewalt und das Eindringen frem­

der Sitten hatten da- Gemüthsleben der Nation bis in feine Tiefen ver­ wirrt nnd gestört.

Treu und Glauben war verschwunden, wie der stolze

Freimuth und die Helle Lebenslust der Väter. Häßliche Geldgier beherrschte Hoch und Niedrig; die prahlerische Hoffart üppiger Verschwendung währte

fort mitten in der allgemeinen Verarmung.

WaS Allen gemein war hatte

für ehrenwerth gegolten ;in besseren Tagen, jetzt war daS Gemeine ver-

ächtlich.

Schlecht und recht zu leben dünkte den Alten rühmlich, jetzt

ward daS Schlechte zum Schimpfwort. Und dennoch, in dieser entsetzlichen Verwüstung, die jedes schwächere VolkSthum vernichtet hätte, begann der große Werkeltag der neuen deutschen Geschichte.

Damals hat Churfürst

Friedrich Wilhelm den Grund gelegt für den neuen Staat unseres Vol­

kes; damals erhob sich der Kampf des weltlich freien Gedankens gegen

die theologische Verbildung und den blinden UeberlieferungSglauben einer verkommenen Wissenschaft, jener Kampf, der daS Werk der Reformation vollendete und, siegreich hinausgeführt, den Deutschen die Binde von den

Augen riß und die Zungen löste also daß sie fähig wurden der Welt die Ideale der Humanität zu verkündigen. Wenn der Ruhm jener politischen Neubildung allein den Märkern und den Preußen gebührt, so haben an den schweren ersten Anfängen die­ ses Ringens der Geister kurfächsifche Männer den reichsten Antheil.

Der

hochbegabte obersächsische Stamm, von jeher reich an Hellen Köpfen, hat

feit Luthers Tagen nie wieder so entscheidend eingegriffen in die Bildung unseres Volkes, wie damals, da er neben einer Fülle kleinerer Talente

rasch nach einander die drei reformatorischen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibnitz, ThomasiuS, in daö verödete deutsche Leben hinaussandte — drei Männer, die, allesammt verstoßen von der Heimath, doch in Art und

Unart immer echte Söhne ObersachsenS blieben.

Im Jahre der Schlacht von Lützen (8. Jan. 1632) wurde Samuel Pufendorf im Pfarrhause von Dorf-Chemnitz geboren, ein Altersgenosse

von Spinoza, Locke und Cumberland. Sein Geschlecht zählte zu den alten

Theologenfamilien; in langer Reihe erscheinen die bibelfesten EliaS, David, JeremiaS, Samuel, EfaiaS Pufendorf unter den Pastoren des MeißnerlandeS.

Zwei Jahre darauf wurde der Vater nach Flöhe versetzt.

Dort

in den Bergen, im inalerischen Thäte der Flöhe ist der Knabe aufgewachsen,

mitten unter den Trümmerstätten des großen Krieges; denn zweimal hatten droben im Erzgebirge die wildesten Söldner des wilden Jahrhunderts, die

Höllischen Jäger gehaust. Die Almosen eines Edelmannes ermöglichten dem armen Pfarrer, den kleinen Samuel auf die Fürstenschule nach Grimma

zu schicken.

Der Krieg hatte die Schüler verscheucht; nur zwei oder drei

Tische waren noch besetzt in den vormals überfüllten Sälen.

Dann und

wann streiften wohl brandschatzende Fouriere herüber auS der schwedischen

Garnison im nahen Leipzig.

des

Krieges

die

Unabänderlich ging inmitten der Schrecken

alte geistlose Methode des Unterrichts ihren Gang:

strenge Unterweisung in Grammatik, Logik, Rhetorik und den Dogmen des rechtgläubigen Lutherthums.

Aber dem stämmigen Jungen mit den

trotzigen Lippen und den großen braunen Augen wollte die „Bärenhäute-

rei“ nicht behagen.

„Gott gab mir zu Grimme ein, schreibt er in spä­

teren Jahren zufrieden, daß ich denselbigen Quark fahren ließ und las

sofort brave AutoreS."

Wie oft hat der gestrenge Conrector Brodkorb

den Schüler geohrfeigt, wenn er heimlich unter der Bank die historischen

Werke der Alten verschlang.

So stand der Jüngling früh auf eigenen

Füßen und trug von der Schule heim, was die philologische Pedanterei

der Lehrer ihm nicht bieten konnte, eine umfassende Kenntniß der Geschichte und der Gedanken des classischen Alterthums. Als er die Leipziger Universität bezog, wurde soeben das prunkende

Friedensfest gefeiert (1650); die Schweden zogen ab, und die akademische Herrlichkeit reckte sich wieder behaglich auS in der alten Musenstadt.

Die

Stadtsoldaten präsentirten wieder das Gewehr, wenn der Rector Mag-

nificuS in seiner.Pracht daherschritt; und derweil die diplomatische Welt über den Excellenztitel der kurfürstlichen Gesandten haderte — dem Leip­

ziger Professor der Theologie als

einer festen Säule von Staat und

Kirche wagte Niemand die Excellentia zu bestreiten.

Der Name Leipzigs

hat jederzeit mit vollem Rechte einen guten Klang gehabt unter den deut­

schen Universitäten.

Doch während fast jede unserer größeren Hochschulen

irgend einmal belebend und neuernd auf die Gesittung der Nation einge­ wirkt hat, und die Namen Wittenberg, Heidelberg, Halle, Göttingen, Königs­

berg, Jena, Berlin unzertrennlich verflochten sind mit der Geschichte der großen Umwälzungen unserer Bildung, ja selbst kleinere Universitäten als

Bahnbrecher deutscher Cultur im bedrohten Grenzlande oder auch durch

die Umgestaltung

einzelner Wissenschaften reformatorische Thatkraft be­

währt haben: — blieb das Athen an der Pleiße immer eine hochconser-

vative Macht, mehr eine Wahrerin überlieferten Wissens als eine Schöpfe­ rin neuer Gedanken.

Und niemals stand die Leipziger Gelehrsamkeit den lebendigen Kräf­ ten der Zeit so feindlich gegenüber wie in jenen Tagen, da sie mit hln-

eingerissen ward in den Niedergang des kursächsischen StaateS.

Unauf­

haltsam war der Staat der Albertiner hinabgesunken von seiner glänzen­ den Stellung an der Spitze der deutschen Protestanten.

Seit eine blu­

tige Verfolgung die milden Anhänger Melanchthons aus der Landeskirche

vertrieben, seit der Kanzler Nicolaus Crell den letzten kecken Versuch große protestantische Politik zu treiben mit dem Leben gebüßt hatte, erschien Kursachsen

als das klassische Land des altlutherischen EpiscopalsystemS,

das in dem Leipziger Benedikt Carpzov seinen theoretischen Verherrlicher

sand.

Unumschränkt schaltete in Staat und Kirche der geistliche Stand

verschwiegerter und verschwägerter Theologengeschlechter.

Mit thut fest

verbündet der politische Stand, daö Landjunkerthum, damals wie heute

der hochmüthigste Adel des deutschen Reichs: umsonst versuchte Graf RochuS

kynar seinen Standesgenossen zu beweisen, daß die Arbeit des Architekten einem Edelmanns nicht unziemlich sei; der Groll der Kaste blieb nnbelehrt, der geistvolle Baumeister mußte nach Brandenburg hinüberziehen um dort

Die Masse des Volkes fand

in Ehren seinem Künstlerberufe zu leben.

bei der schwachen Gewalt des Landesherrn keinen Schutz wider die Will­

kür dieser beiden herrschenden Stände; dem vielgeplagten status oeeono-

micus blieb auferlegt, in der Kirche die Heilswahrheit ans dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen, im Staate die Beschlüsse des adlichen Landtags gehorsam zu befolgen.

Wie die Verfassung der Landeskirche der römischen Hierarchie sich

näherte, so kam die Politik des sinkenden StaateS Schritt für Schritt

den Plänen der Habsburger entgegen.

Die Hofprediger jubelten, als in

der Schlacht am Weißen Berge der calvinistifche Pfalzgraf von der katho­ lischen Liga niedergeworfen wurde; denn mit dem abendländischen Antichrist

zu Rom können sich die wahren Christen zur Noth vertragen, nicht mit dem morgenländischen Antichrist, dem Islam, die reformirten SacramentS-

schänder aber stehen den Muhamedanern gleich! An jedem Sonntag flehte das Klrchengebet den Himmel an, daß er das rechtgläubige Volk bewahr«

vor den Tücken des Calvinismus, und noch heute erinnert das obersäch­

sische Schimpfwort „Du Sakermenter"

Protestanten.

an den alten Bruderzwist der

Während deS dreißigjährigen Kriegs focht die Vormacht des

deutschen Protestantismus nur vier Jahre hindurch für die evangelische Sache; sechsundzwanzig Jahre lang verblieb sie im Lager des Kaisers oder

in kläglicher Neutralität und erwarb endlich den Besitz der Lausitzen durch den Verrath an ihren schlesischen Glaubensgenossen.

AIS dann beim Be­

ginn der Frieden-verhandlungen der junge Kurfürst von Brandenburg dem zerriffenen Vaterlande den Weg der Rettung wie- und die unbedingte Amnestie, geicheS Recht für die drei großen Glaubensbekenntnisse Deutsch­

lands forderte, da widerstrebte das sächsische Lutherthum ebenso leiden­

schaftlich wie die Wiener Jesuiten; erst nachträglich, nach vergeblichen Pro­ testen, trat Kursachsen dem Westphälischen Frieden bei. Also hatten die Albertiner längst den abschüssigen Weg beschritten,

der sie schließlich zum Abfall vom evangelischen Glauben führen sollte. Die

Macht ihres StaateS war gesunken trotz des vergrößerten Gebietes; denn schon begann der deutsche Protestant in Berlin den Schutz zu suchen, den man in Dresden schwach versagte.

Voll Haß und Eifersucht verfolgte der

Dresdner Hof das Anfsteigen seines unruhigen nordischen Nebenbuhlers, der soeben in dem Wettkampfe um Cleve und Magdeburg die Albertiner geschlagen hatte; dort in den Marken erhob sich der StaatSgedanke einer

neuen Zeit, die absolute Monarchie, ein unheimlicher Nachbar für die

Libertär der sächsischen Stände.

An allen Sünden

dieser ständisch-lutherischen Oligarchie hatte die

Leipziger Universität ihren reichen Antheil.

Sie galt unbestritten als die

erste der deutschen Hochschulen, im Auslande als der Mittelpunst

deut­

scher Bildung; ihre Lehrer führten gern das Wort im Munde: extra

Lipsiam vivere est miserrime vivere.

Der kleinliche Begriff des deut­

schen Auslandes war den Gelehrten jener Zeit noch unbekannt; während

heutzutage Preußen allein unter allen deutschen Staaten seinen Studenten unbedingt gestattet, sich ihre Bildung außerhalb der Landesuniversitäten zu suchen, verband damals eine schrankenlose Freizügigkeit alle deutschen Hochschulen.

So strömten denn drei- biö viertausend Studenten aus allen

Gauen des Reichs an der Pleiße zusammen.

Dies bewegte akademische

Treiben und der schwunghafte Fremden-Berkehr der Messen gaben

der

Stadt, die noch kaum fünfzehntausend Einwohner zählte, ein großstädti­ sches Gepräge; die deutschen Buchhändler, die bisher in Frankfurt ihren

Markt gehabt, begannen bereits vor der gestrengen kaiserlichen Censur sich nach dem Osterlande zu flüchten.

Die wohlhabende Bürgerschaft, allezeit

empfänglich für geistige- Leben, bedachte ihre Hochschule mit reichen Stif­

tungen; weithin im Reiche pries man die alamodische Feinheit, die welt­ läufige Bildung des galanten Sachsens, die noch in Lessings Minna von

Barnhelm der rauhen Schroffheit der Märker überlegen gegenübertritt. Ein gewaltiger Wiffenöschatz lag in den Hallen des Paulinums

aufge-

thürmt; und eS war kein Zufall daß auf diesem Boden Polyhistoren wie

Pufendorf und Leibnitz erwuchsen. ligste der deutschen Geschichte,

Selbst dies Geschlecht, das schreibse­

wußte Wunder zu berichten von der rie­

sigen Arbeitskraft der Leipziger Gelehrten; man erzählte von Profefforen, die nm Zeit zu sparen sich niemals auskleideten. eine festgeschlossene Zunft und Betterschaft.

Die Ordinarien bildeten

Einige große Gelehrtendy-

nastien, die nach Fürstenweise allen ihren Söhnen denselben Bornamen

gaben, die Benedikt Carpzov, die Polycarp Lyser, beherrschten die Univer­ sität — zumeist wohlhäbige Herren, verschwägert mit den reichen Kaufleuten,

trefflich auögestattet mit Sporteln und Naturaüieferungen, und wer ein UebrigeS thun wollte, nahm Studenten in Kost oder verband auch wohl

mit seinem Collegium einen

einträglichen Wein- nnd Bierschank.

Ob­

wohl der sprichwörtliche Kindersegen der Leipziger Professoren späterhin

den gelehrten Magister Fiebiger veranlaßte eine tiefsinnige Abhandlung de polyteknia eruditorum zu schreiben — für den Genossen dieser mäch­

tigen Sippen blieb immer noch ein Lehrstuhl frei. Wohl gesichert wie das Einkommen der Ordinarien war auch ihre

politische Machtstellung.

An der Entscheidung der Theologen von Leipzig

und Wittenberg hing das Heil jeder Seele im Lande; die vier Leipziger

Decane übten die Censur über alle neuen Bücher.

Der Schöffenstuhl der

Iuristenfacultät fällte unermüdlich seine blutigen Sprüche, verfolgte mit

frommem Eifer die argen Friedensstörer der argen Zeit, die Hexen; und

der alte Carpzov rühmte sich gern, wie viele tausend Todesnrtheile er schon unterzeichnet habe.

Neben den Ordinarien lehrte die lange Schaar

der Magistri legentes, weit zahlreicher als unsre heutigen Privatdocenten,

aber auch weit abhängiger als sie von der Gunst der Facultäten; selten einmal gelang es einem barbarus Doctor, der in Orleans oder Padua seinen

Doctorhnt erworben, einzudringen in diese scharf umgrenzten Kreise, wenn er sehr stark im Glauben war oder den goldenen Schlüssel, der in dem

alten Kursachsen alle Thüren öffnete, zu haildhaben verstand. Unheimlich tritt hinter der anmaßlichen Herrlichkeit dieser respectabeln Zunftgelehrten und alamodischen Studenten die HerzenShärtigkeit und Ge­ dankenarmuth einer verkommenen Epoche hervor.

Auf die naturwüchsige

Centaurenplumpheit der alten Zeit war eine verfeinerte Roheit gefolgt,

prunkend mit allen Lastern der höher gesitteten Nachbarvölker.

Ein Penna-

lismuS, dessen abgefeimte Grausamkeit zuweilen sogar den Regensburger

Reichstag zum Einschreiten zwang, erzog ein Volk von Knechten, vernich­

tete jeden männlichen Stolz; und mitten in dem gefeierten Sitze der deut­ schen Musen blühte der blöde Aberglaube, um jene Zeit zog der ewige

Jude in Leipzig bettelnd von Thür zu Thür und erntete reiche Gaben.

Unter dem Wust überlieferten Wissens erstickte der letzte Funke des prome­ lheischen FenerS; die Erkenntniß, daß die Wissenschaft ein ewiges Werden ist, dieser Gedanke, der den Hochschulen der Gegenwart die Luft deS Lebens

bildet, blieb der theologischen Verstocktheit jener Tage unfaßbar. Verfassung und Lehrweise der Universitäten ließen noch überall er­ kennen, daß sie einst ausgegangen waren von der alten Königin der Wissen­

schaften; daö Volk in Niederdentschland nannte die Studenten noch Halfpapen.

Die Glaubenseinheit des akademischen Körpers bestand überall

als unverbrüchliche Regel, und für selbstverständlich gast, daß die Wiflen-

schaft dem wahren Glauben niemals widersprechen könne. Wie der Theolog verpflichtet war die Schrift und die symbolischen Bücher lauter und un­ verfälscht zu lehren, so wurde der Jurist auf das Corpus Juris vereidigt,

der Philosoph auf

den Aristoteles; vier Professoren der

aristotelischen

Philosophie hatten zu sorgen, daß dem sächsischen Studenten die Weisheit des alten Griechen Iren und ohne Zuthat überliefert werde.

Die alte Zanksucht dieser im Autoritätsglauben erstarrten Wiffenschaft

entbrannte eben jetzt in tobendem Zorne, seit der milde Georg CalixtuS und

feine Helmstädter Genossen die hadernden Konfessionen wieder an den ge­

meinsamen Boden des ältesten Christenthums zu erinnern wagten. Calovius in Wittenberg und Hülsemann in Leipzig donnerten wider die synkretisti­

schen Mameluken, verfluchten die gemischte Ehe zwischen Lutheranern und Reformirten als eine Todsünde.

Nachdrücklicher als je zuvor wmde dem

sächsischen Täufling der Tenfel auSgetrieben, unb wehe dem Leipziger Can­

didaten der als ein neuernder Theolog, ein theologus novaturiens er­ funden ward!

Das deutsche Reich hallte wieder von dem Schlachtgeschrei

der Protestanten und der lauten Schadenfreude der Jesuiten, und Friedrich

von Logan schrieb klagend: Ehr' mir Gott Religion, die zwar reinen Glauben giebt, Aber nichts als Haß und Neid wider ihrm Nächste» übt!

Da untersagte Friedrich Wilhelm von Brandenburg seinen Geistlichen daS Lästern wider die ^evangelischen Brüder. Calov aber schrieb zornig: schön gut, daß man den Calvinern das Maul verbietet, denn einen Grund-

irrthum können sie uns nicht nachweisen; nnr der getreue lutherische Wäch­ ter ans Zion muß frei reden dürfen, wenn der Geist ihn treibt!

Und so

zügellos ward fortan auf dem entweihten Lehrstuhl Martin Luthers gegen

den

brandenburgischen Ketzerfürsten gehetzt und gezetert,

daß Friedrich

Wilhelm endlich seinen Landeskindern den Besnch der Wittenberger Hoch­ schule verbieten mußte. Dem Lutherthum jener Tage war von dem ursprünglichen Geiste der

Reformation schlechthin nichts mehr geblieben.

Als hätte Luther niemals

mit seinen gewaltigen Fäusten unter die Scholastiker geschlagen, feiern die

Lutheraner den Doctor angelicus Thomas von Aquino wieder als den Fürsten der Moralisten.

Ehrfurchtsvoll wie in den Jesuitenschnlen wird

„der Papst der Metaphysiker" Suarez auf den sächsischen Kathedern geprie­ sen; EScobar und Mariana, alle die spanisch-italienischen Jesuiten, welche

den Habsburger» die Waffen wider die Ketzer geschliffen, gelten dem ver­

kommenen Lutherthum als Säulen der Kirche so gut wie „unser seliger

Stahl", der gestrenge GlaubenSwächter von Jena.

Lutherische Theologen

und Juristen gebrauchen wetteifernd daö verstaubte Rüstzeug der scholasti­ schen Formeln und Definitionen und trösten sich mit dem bequemen Bor­ wand: nur durch solche Waffen könne man daS Papstthum bekämpfen! Die lutherische Wiffenschaft ging an dem reichen Tische der Jesuiten zu

Gaste; waS Wunder, daß die alte Kirche noch immer mächtig um sich griff

im protestantischen Deutschland, einen Reichsfürsten nach dem andern zum römischen Glauben zurückführte! Dabei verstanden die sächsischen Theologen trefflich, ihre Herrschsucht hinter gleißnerischer Unterthänigkeit zu verstekken; während sie den Staat auSbenteten, rühmten sie ihre Kirche, weil sie

„die servilste von allen ist und mehr als jede andere die Obrigkeit favoristrt", und forderten für sich im irdischen Jammerthal« nichts weiter als obsequii gloriam — ohne den grimmigen Hohn zu ahnen, den TacituS in jene Worte gelegt hat. In diese verknöcherte Welt tritt jetzt der junge Pufendorf ein, ein feuriger Jüngling mit dem ganzen Ungestüm des obersächsischen BluteS — denn wohl kein anderer Stamm in diesem leidenschaftlichen Deutschland zählt so viel stürmisch aufbrausende Naturen — derb und rücksichtslos, schnellfertig im Urtheil, ungewillt die rasche Zunge zu bändigen. Seine gediegene classische Bildung läßt ihn schnell die Leere der akademischen Wissenschaft erkennen, sein scharfer Witz stößt sich an den pedantischen Formen des Zunftbrauchs, und bald liegt er in beständigem Kampfe mit feiner gesammten Umgebung. So wächst er früh zu streitbarem Freimuth heran, wie nachher unter verwandten Verhältnissen seine Landsleute Lessing und Fichte; den Warnungen weltkluger Behutsamkeit antwortet er mit seinem Luther: „ich kann nicht wider die Wahrheit." Er war sein Lebtag ein treuer Lutheraner und bewahrte neben freiem, heiterem Weltsinn immer das schöne Erbtheil seines frommen Vaterhauses, ein tiefes religiöses Ge­ fühl; die theologischen Studien aber verließ er angewidert schon nach wenigen Wochen. Ihn empörte dieser geistliche Hochmuth, der über der Rechthaberei des dogmatischen Parteigezänks den sittlichen Inhalt des Christenthums ganz vergessen hatte. Exegese wurde in Leipzig gar nicht gelesen, und der fromme Franke mußte einige Jahre später in den Buch­ handlungen der Meßstadt lange vergeblich nach einer Bibel suchen. Schönere Kränze, als die Erklärung der heiligen Schrift sie bot, winkten dem sächsi­ schen Theologen, wenn er aus den tausend Büchern über die Erbsünde das tausendunderste zusammenstellte oder durch eine Dissertation „über das Gewicht der Weintrauben im Lande Kanaan" einen im Weinberge des Herrn längst gehegten Zweifel beseitigte, oder wenn er gar die schwierige Frage beantwortete: „ob Pythagoras ein Jude war oder ein Karmelitermönch?" Die in den Kreisen dieser Gottesgelahrtheit empfangenen Eindrücke hat Pufendorf nie verwunden; bis an fein Ende blieb ihm der rechtschaffene Haß gegen „die Priester, die unter dem Namen des Gebets nur die gräu­ liche Wuth ihres erbitterten Gemüthes ausschnauben." Also schied er vou den Theologen und ist fortan allezeit als ein rechter Bönhase fern vou der geebneten Straße der Zünftler seine- eigenen Wegs geschritten. Er warf sich mit planlosem Eifer auf alle Zweige des Wissens, blieb dabei jugendfrisch und lebenslustig, ein frohmuthiger Genosse des Collegium anthologicum, wo das junge Volk „unter Liedern der Freundschaft die Wahrheit suchte." Außer der Theologie und der Medicin ward ihm jedes

Fach der Gelehrsamkeit vertraut; nur die Welt des Schönen blieb ihm verschloflen wie allen Söhnen jenes prosaischen Geschlechts.

Andere junge

Männer schwärmten wohl mit erzwungener Begeisterung für die leblosen Gebilde einer ohnmächtigen Dichtung, und ein Leibnitz konnte im Ueberschwang teutonischen Selbstgefühls jene unbegreiflichen Verse dichten: Was labt man viel die Griechen?

Sie müssen sich verkriechen,

Wenn sich die teutsche Muse regt. — Horaz in Flemming lebet, In Opitz Naso schwebet, In Greiff Senecen's Tranrigkeit.

PufendorfS derbe Wahrhaftigkeit hat sich nie bemüht Gefühle zu er­

künsteln, die ein gesunder Sinn nicht hegen konnte.

Als er in seinem fünfundzwanzigsten Jahre für kurze Zeit nach Jen» übersiedelte, fand er zum ersten male einen Lehrer, der ihn zu fesseln und

seinen unstet schweifenden Sinn auf ein festes Ziel zu richten verstand:

den geistreichen Mathematiker Erhard Weigel.

Nur von der überlegenen

Bildung deS Auslands konnte die verwilderte deutsche Wissenschaft den Anstoß zü neuem Schaffen empfangen.

So war auch Weigel erst in der

Schule deS Cartesius zum selbständigen Denker geworden;

er verstand

nach der vielseitigen Gelehrtenweise der Zeit, die mathematische Methode

deS Meisters auch auf das Naturrecht und die politischen Wissenschaften an­ zuwenden und ist vielen guten Köpfen, späterhin auch dem jungen Leibnitz, ein Erwecker gewesen.

In diesem Kreise zuerst ward mit der lutherischen

Scholastik entschieden gebrochen; hier lernte Pufendorf, obgleich er niemals

ein Cartesianer ward, wissenschaftlich zu denken und allen Autoritäten un­ abhängig gegenüberzutreten.

Er begann jetzt sich zu sammeln, wurde durch

seinen freundlichen Lehrer in die Werke des Grotiuö und HobbeS einge­

führt und sah beschämt, wie weit die heimische StaatSwissenschaft hinter dem vorauSsetzungSlosen Denken der Nachbarn zurückstand. Wie lächerlich erscheinen ihm nun die leeren Wortgefechte der deutschen

Professoren: Mars Germania» perpetuus! Höhnisch fragt er, durch welche

verhängnißvolle Vergünstigung (quo fatali favore) denn dieser Aristoteles dazu

gelangt sei für den Gipfel aller menschlichen Weisheit zu gelten.

Er spottet

der RechtSlehrer, die vor dem sanctissimum corpus Juris die Kniee beugen,

und ruft den Theologen zu: seit unsere Kirche in die Scholastik zurückfiel und die jesuitischen Sophisten verehrt, geht eö abwärts mit ihr und das

Papstthum steigt auf!

Aus der Vernunft allein will er die Welt verstehen

und eine christliche Philosophie so wenig anerkennen wie eine muhameda-

nische; trotzig pocht er.auf daS Recht der Lebendigen und hält sich an

jenen AltSspruch des HobbeS, der die innerste Ueberzeugung aller freien

Köpfe dieser ringenden Zeit verkündigt: „sollen wir daS Alter ehren, nun wohl, die Gegenwart ist älter alS die Vorzeit."

Er verschmäht den feilen

juristischen Doctorhut zu kaufen; mit Mühe beredet ihn Weigel, daß er sich mindestens den unentbehrlichen Magistertitel erwirbt.

So kehrt er alS

ein abgesagter Feind der zünftigen Gelehrsamkeit nach Leipzig zurück; zu

arm und zu stolz um die Gunst der akademischen Machthaber zu erbitten steht er bald rathloS in bitterer Noth.

Da nimmt sein Bruder EsaiaS sich des Verlassenen an.

Geschwister

zeigen häufig eine seltsame Verwandtschaft der Anlagen, die zugleich einen schroffen Gegensatz enthält; einzelne Charakterzüge ungewöhnlicher Männer

finden wir oft bei ihren Brüdern bis zum Zerrbild gesteigert wieder.

Wie

jener mephistophelische Zug, den Friedrich der Große mit der Kraft des Genius zu bändigen wußte, in dem Prinzen Heinrich als die Grundstim­

mung der Seele auftritt, so wird EsaiaS Pufendorf durchaus beherrscht von den verneinenden und zersetzenden Kräften, die in Samuels Geiste

gährten.

Ihm fehlt die Tiefe, die Vielseitigkeit und darum auch die

Mäßigung deS Bruders; Samuels kritische Schärfe erscheint bei ihm als

liebloser

Spott,

dessen

tapfere Kampflust

als

kecker

Abenteurermuth.

Vier Jahre älter als Samuel hatte EsaiaS gleich Jenem die Theologie bald verlassen und sich den politischen Wissenschaften zugewendet; auch er war ein eifriger Protestant, doch sein Haß wider Rom blieb nicht ohne einen Anflug weltmännischer Skepsis, vor allen anderen Denkern liebte

er den feinen Spötter Erasmus.

Um die Zeit da Samuel die Univer­

sität bezog, eröffnete der Aeltere bereits als Leipziger Magister staatswiffen-

fchaftliche

Vorlesungen,

ward

dem

jüngeren Bruder

ein

freundlicher

Mentor und machte ihn zuerst mit den politischen Fächern bekannt. Aber daS Katheder vermochte den rastlosen-Thatendrang EsaiaS PufendorfS nicht lange zu fesseln.

Er ging mit einem Grafen KönigSmarck auf Reisen,

wurde durch ihn in die Kreise deS schwedischen AdelS eingeführt und trat bald selbst in den

diplomatischen Dienst der

nordischen Macht;

daS

menschenarme Land bedurfte beständig deutscher Kräfte um seine künstliche Großmachtstellung zu sichern. Seitdem ist er in mannichfaltiger Wirksamkeit zu Paris und Stockholm, zu Königsberg und Wien als diplomatischer Agent der Krone Schweden thätig gewesen, ein echtes Kind seiner gewissen­ losen Zeit, mit unruhigem Ehrgeiz nach Macht und Einfluß strebend. Die Skandalsucht der Zeitgenossen wußte viel zu erzählen, wie oft er den

Schweden Spionendienste geleistet und als Bauer oder Handwerker ver­

kleidet das deutsche Reich durchwandert habe; der große Kurfürst ließ ihn einmal auö Ostpreußen ausweisen, denn warum mußte der Bielgewandte,

angeblich in postalischen Angelegenheiten, so lange in Danzig und Königs«

borg sich umhertreiben?

Seine Gesandtschaftsberichte zeigen den ganzen Mann: weiten, freien

Blick, die boshafte Ironie des überlegenen Kopfes, scharfe Beobachtung und eine seltene Kunst lebendiger Erzählung.

Wie meisterhaft hat er die

Jesuiten am Hofe Kaiser Leopolds geschildert, wie sicher durchschaut er

die Hohlheit jener habsburgischen Staatskunst, die über ihren europäischen Plänen die Wohlfahrt des eigenen Landes vergißt: „die Kaiserlichen Mi­ nister haben ihren Herrn schon von langer Hand her weis gemacht, daß

sie sich um die Kammersachen nicht bekümmern dürften, sondern selbige

Sorge«, als die mit ihrer Grandeur und Dignität nicht convenabel und dazu sehr verdrießlich und schwer wären, denen so darüber bestellet, aller­ dings und absolute überlassen, und also in diesem Stück nur mit fremde«

Bugen sehen müsien."

Er aber weiß, daß „die allerklügsten Consilia gute

Gedanken bleiben, wenn sie nicht zuvor mit dem Beutel in Rath gestellet sind." Der skrupellose Realist schätzt nur die Macht, verachtet die Schwäche

des zerrissenen deutschen Reiches nnd dient, gut schwedisch, unbefangen der ansgreifenden Herrschsucht seines MilitärstaateS; er lebt in den Ue­ berlieferungen der Politik Axel Oxenstiernas, will den deutschen Protestan­ ten an den verbündeten Kronen Frankreich und Schweden einen Rückhalt

geben und also den Habsburger» die Stange hallen.

An der Herrschaft

der Fremden auf deutschem Boden nimmt er keinen Anstoß: die Eitelkeit bet deutschen Fürsten soll sich nicht „flattiren, daß fremde Potentaten ihnen

nothwendig umsonst und gleichsam ihres gelben Haares wegen zu Hilfe kommen müßten."

Mit seiner reichen Welterfahrung, seiner gewiegten Kenntniß der

practischen Staatskunst

ist

EsaiaS dem

immer ein

jüngeren Bruder

unschätzbarer Lehrer gewesen; beherrscht hat er ihn niemals.

Samuel

war nicht der Mann in die Fußtapsen eines Anderen zu treten; doch bei

vielfacher Meinungsverschiedenheit blieb die herzliche Eintracht ungetrübt. Jeder Mensch verlangt nach

einer Heimath; eS war, als wollten die

Brüder durch treue Zuneigung einander die verlorene Heimath ersetzen,

die Beiden fortan nur Haß und Verfolgung gespendet hat.

Immer wie­

der hat Samuel in Büchern und Briefen den Vielverdächtigten dankbar gepriesen; er nennt ihn gern animae dividium meae.

Durch EsaiaS Vermittlung erhielt der junge Magister die Stelle eines Hauslehrers bei dem schwedischen Gesandten Ritter Cohet in Kopenhagen.

So trat er denn im Frühjahr 1658 seine Gelehrtenreise an, die peregrinatio academica, die damals noch von jedem angehenden Professor ver­ langt wurde; sie sollte ihm höchst nnakademische Erfahrungen bringen.

ES

war der Fluch der Zeit, daß Theorie und Praxis des StaatSlebenS noch

völlig

unvermittelt neben

einander hergingen.

Während die deutschen

Staatslehrer mit feierlichem Ernst die hohlen Formeln deS Reichsrechts

erläuterten, wurde das Schicksal der Staaten bestimmt durch die neue

StaatSraison*), eine Politik der Gewaltthat und der Lüge, die sich trotzig

zur Verachtung jedes Rechts und jeder Treue bekannte; im Volke sprach man entrüstet von dem Teufelskatechismus, den umgekehrten zehn Geboten

der Politiker. Eine

der

frechsten

Thaten

dieser

modischen

Pufendorf jetzt aus nächster Nähe beobachten.

lebte vom Kriege,

Staatsraison

sollte

Die schwedische Großmacht

sie konnte nur durch neue Beute die unerschwing­

lichen Kosten ihres Heeres bestreiten.

Gleich einem Seekönige der skan­

dinavischen Urzeit war jener nordische Alexander, König Karl Gustav, ur­ plötzlich in Polen eingebrochen, den Krieg entzündend, der sechs Jahre

lang die weiten Lande des Nordens und Ostens mit Blut und Brand

erfüllte; er hatte sodann in rascher Schwenkung sich gegen Dänemark ge­

wendet und durch den verwegenen Zug über den gefrorenen Belt den über­ raschten Feind zum RoeSkilder Frieden gezwungen.

Pufendorf traf grade

in Kopenhagen ein, als Schweden mit den zaudernden Dänen über die

Ausführung dieses Friedens unterhandelte, und bemerkte bald ein befremd­

liches verdecktes Spiel zwischen den beiden schwedischen Gesandten: Ritter Cohet hielt sich streng an seine Instructionen, sein vornehmerer Genosse

Steno Bjelke, ein zweifelhafter Charakter, vielleicht von den Dänen be­ stochen, suchte die Verhandlungen zu Dänemarks Gunsten zu wenden.

Da

kam plötzlich geheime Weisung aus Stockholm, man solle die Dinge zum Bruche treiben.

Karl Gustav glaubte zn bemerken, daß der geschwächte

Gegner noch härtere Friedensbedingungen ertragen könne, und entschloß

sich sofort, ohne Grund noch Vorwand einen neuen Krieg zu beginnen — eine frevelhafte Ruchlosigkeit, die selbst in jenen Tagen kaum ihres Gleichen

fand.

Mit allen Mitteln diplomatischer Grobheit sucht nun Cohet den

Abbruch der Verhandlungen herbeizuführen, schon im August erklärt Schwe­

den den Krieg.

Cohet selbst hatte sich zur rechten Zeit geflüchtet; sein

*) Beiläufig, es wäre lehrreich festzustellen, wann dieser Ausdruck zuerst aufkam. Er stammt unzweifelhaft aus Italien, wie der Name „Staat" und wie die Gedanken des Machiavellismus. Machiavelli selbst kennt ihn noch nicht; doch schou um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts scheint das Wort ragione di stato geläufig gewesen zu sein. In der berühmten Prachtrede, die Giovanni della Lasa (1547) im Austrage des Papstes Paul IIT. au die Signorie von Venedig richtete, schildert er, wie bedrohlich die Weltherrschaftspläne Karls V. für die Freiheit Italiens würden, und fährt fort: se egli usa adunque la sua ragione, non riprendiamo lui, xna doll' ufficio buo ei dolghiamo.

AmtSgenosse aber und das Gefolge mitsammt dem deutschen Hau-lehrer

wurden von den erbitterten Dänen in den Kerker geworfen. Unter solchen Erfahrnngen gelangte der junge Denker zu jener vor­ nehmen, echt wissenschaftlichen Mittelstellung, die er seitdem immer in der politischen Theorie behauptet hat: er wollte weder, wie die Zunftgelehrten

daheim, „auf die Rede des Meisters schwören und leere Worte machen,

noch unter dem Namen der ratio Status die sittlichen Grundsätze der Politik umstoßen", wie jene Praktiker in Kopenhagen.

Acht Monate lang

fitzt er nun im dänischen Kerker, ohne Verkehr, ohne Bücher.

Jeder an­

dere deutsche Gelehrte jener Zeit hätte in solcher Lage sich wie ein Fisch

auf dem Sande gefühlt; er aber faßt sich in der tiefen Einsamkeit das

Herz, alle Krücken wegzuwerfen und der Kraft des eigenen Gedankens zu vertrauen.

Er durchdenkt noch einmal Alles was er von den Meistern,

des Auslands, von Machiavelli und Bodin, von GrotiuS und HobheS über das Wesen des Staates und des Rechts gelernt, prüft und verwirft

selbständig und stellt endlich sein eigenes System der philosophischen Rechtslehre zusammen, die Elementa jurisprudentiae universalis.

DaS Be­

deutendste an dem kleinen Buche ist der Plan, der in Deutschland noch

niemals gewagte Versuch die Grundsätze der Rechtsphilosophie nach dem

Vorbilde des GrotiuS allein durch die Vernunft zu finden, ohne Rücksicht

auf die zehn Gebote und das positive Recht. Die Ausführung zeigt überall noch die unsicher tastenden Hände des Anfängers.

Er kommt noch nicht

ganz loS von den scholastischen Formeln; hatte doch selbst GrotiuS, um dem Verdachte dielettantischer Oberflächlichkeit zu entgehen, die hergebrachten

Definitionen der Scholastik nicht völlig aufgegeben.

Endlich auS der Haft befreit geht Pufendorf mit dem Ritter Cohet zu längerem Aufenthalt in die Niederlande, bewundert den Reichthum, die

Freiheit und vor Allem die Duldung des glücklichsten Staates der pro­ testantischen Welt und betheiligt sich eifrig an den historisch-philologischen

Studien der classischen Lateiner von Lehden.

Damals hat auch diesen

tapfern Geist für kurze Zeit jener mißtrauische Kleinmuth

angewandelt,

der um die Mitte der zwanziger Jahre, in der schweren Zeit des UebergangS vom Lernen zum Lehren, den gewissenhaften Gelehrten so leicht zu

ergreifen pflegt. Er wagt sich nicht ans den Markt hinaus mit den Früch­ ten seiner Kerker-Einsamkeit, bis ein frischer Brief des Bruders EfaiaS

ihn ermuthigt „auf die Gunst des Jahrhunderts zu hoffen." Die Elementa werden gedruckt und dem gefeierten Gönner der Wissenschaft, dem Kur­

fürsten Karl Ludwig von der Pfalz zugeeignet; ohne Fürstengnnst kann in jenen Tagen kein Deutscher sich durch'S Leben schlagen.

Der Pfalzgraf

antwortet mit einem freundlichen Briefe und beruft den jungen Gelehrtey

Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6.

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bald nachher auf eine Professur des römischen Rechts.

Pufendorf schlügt

aus, ihm graut vor der landesüblichen geistlosen Erklärung der Pandekten. Da erbietet sich sein Gönner, in der Heidelberger philosophischen Facultät ein neues Katheder für den Verfasser der Elemente zu gründen, und so

besteigt denn der neunundzwanzigjährige Magister, der noch immer den juristischen Doctortitel

hartnäckig verschmäht,

den

ersten Lehrstuhl

deS

Naturrechts in Deutschland, unter den Weherufen der gejammten Zunft der Rechtsgelehrten.

Die frohesten Tage seines Lebens brachen an.

Ueberall in dem Garten des rheinischen Oberlandes erzählten noch beredte Trümmer von den Schrecken des großen Krieges: die verödeten Höfe in den Dörfern der Bergstraße, die zerschossenen Manern des Dils-

bergS, die leeren Bücherschreine

in der Heidelberger Heiligengeistkirche;

die schönste Büchersammlung Deutschlands, die Palatina, war durch Titlh'S Soldaten geraubt und nach Rom entführt.

Aber die frische Thatkraft

der- leichtlebigen Pfälzer begann bereits wieder in tapferer Arbeit sich zu

tummeln, das kluge und sorgsame Regiment Karl Ludwigs brachte dem schwer heimgesuchten Lande, zum letzten male unter dem alten Fürsten­

hause, eine kurze Zeit der Blüthe.

Segen der Monarchie schätzen.

Hier zuerst lernte Pufendorf den

Unter grausamen Erfahrungen war Karl

Ludwig früh zum Manne gereift.

Er hatte den jammervollen Sturz der

pflälzischen Macht erlebt, war heimathlos mit seinen Eltern nmhergeirrt, hatte sodann unglücklich für die evangelische Sache gefochten und endlich

mit eigenen Augen angesehen, wie das Haupt seines königlichen OheimS Karl unter dem Henkerbeile der Puritaner fiel.

Nach solchen Erlebnissen

blieb ihm ein tiefer Widerwille gegen die gehässige Leidenschaft religiöser

Kämpfe.

Ein nüchterner Weltmann, auf der Leydener Hochschule viel­

seitig unterrichtet, schnell bei der Hand mit einer fertigen Formel für jede Frage deS Lebens, voll Verachtung wider „die Niaiferien und vulgären OpinioneS" deS ungebildeten Haufens, erscheint er als einer der ersten Ver­ treter jenes aufgeklärten Despotismus, dem das nächste Jahrhundert ge­

hörte.

Er schwelgte in dem Bewußtsein fürstlicher Machtvollkommenheit

so selbstgefällig wie nur irgend ein Zeitgenosse Ludwigs XIV.

In per­

sönlichen Angelegenheiten lennt seine Selbstsucht keine Schranken; als ihn seine Gemahlin nicht in Frieden frei giebt, da ertheilt er sich selber die

Erlaubniß zu der Doppelehe mit der schönen Raugräfin.

Pflichten des Landesherrn hat er immer groß gedacht.

Doch von den

Als er heimkehrt

in das Land seiner Väter, weiß er sich klug in das Unabänderliche zu

schicken, tritt zu dem alten Feinde seines Hauses, dem kaiserlichen Hofe, in ein leidliches Verhältniß, also daß ihn Kaiser Ferdinand III. „mein

politischer Kurfürst" nennt, und deckt sich zugleich, nach rheinischem Fürsten-

LraAche, den Rücken durch die Freundschaft Frankreichs. DaS Gold Ludwigs,

das an allen deutschen Höfen umlief, ward auch in Heidelberg nicht ver­

schmäht, und zuweilen spielte der Kurfürst sogar mit dem Traumgebilde einer austrasischen Königskrone, das ihm von Versailles her als lockender Preis gezeigt würd-.

Seine beste Kraft galt dem Wiederaufbau der ver­

wüsteten Heimath; er wollte als der Hersteller der Pfalz in dem Gedächt­

niß feines Volkes leben.

Bald füllten sich wieder die verlassenen Dörfer;

bis herab zu dem großen Fasse im Schloßkeller wurde mit treuer Sorg­ falt und umsichtigem Fleiße Alles wieder aufgerichtet was Kaiserliche und

Schweden zerstört hatten. Karl Ludwig schenkte dem Lande was dieser Brandstätte des Glau­ benshasses vor Allem Noth that, den kirchlichen Frieben.

Das älteste

rheinische Kürfürstenthum, der einzige größere weltliche Staat an der lan­

gen Pfaffengasse deö Reichs, war den geistlichen Herren ringsum allezeit

ein Dorn im Auge gewesen.

Welch' ein Entsetzen nun, da in der Pfalz

Katholiken, Lutheraner und Reformirte in buntem Gemenge friedlich neben einander leben durften und der calvinistische Kurfürst seinen Lutheranern

in Heidelberg die Providenzkirche erbaute.

Bald riefen auch die sächsischen

Theologen Wehe über den pfälzischen Freigeist, der sich unterfing in Mann­ heim eine Friedenskirche mit drei Kreuzen für alle drei Confessienen ge­

meinsam zu errichten. Die alte Rupertina, hundert Jahre zuvor der Hort

deS streitbaren Calvinismus, greift jetzt zum zweiten male als die Trä­ gerin

eines schöpferischen neuen Gedankens

in die Geschichte deutscher

Wissenschaft ein; sie zerbricht das Joch der Theologie, giebt die Glaubens-

einheit auf und erhebt, zuerst unter allen unseren Hochschulen, das Ban­

ner der modernen weltlich freien Wiffenschaft.

„Ja wohl, ruft Pufen-

dorf den lutherischen Eiferern spottend zu, dies ruchlose Heidelberg, wo Lutheraner und Calvinisten einträchtig zusammen hausen, einig in dem

Glauben, daß der Wein noch besser schmeckt als das Bier!"

Karl Lud­

wig läßt die Profefforen der drei weltlichen Facultäten nur noch auf das Wort GotteS und die ältesten ökumenischen Symbole verpflichten; er geht bald noch weiter und versucht Baruch Spinoza für Heidelberg zu gewin­

nen. Eine stattliche Schaar tüchtiger Lehrer, zumeist jüngere Männer, finden Die reformirte Theologenfacultät, geleitet von

sich am Neckar zusammen.

einigen freien Köpfen wie Ezechiel Spanheim und Mieg, läßt die Welt­ lichen gewähren; und in den Hallen, wo vor Kurzem noch, geschützt durch

die Hellebarden der bairischen Eroberer, katholische Priester ihre Kloster­

weisheit lehrten, wird jetzt mit herausfordernder Keckheit verkündet, hier stehe die feste Burg akademischer Freiheit inmitten der Lande des Krummstabs. AuS PufendorfS späteren Briefen tönt immer ein Klang der Sehn-

sucht so oft er der fröhlichen Pfalz gedenkt.

Wie lieblich ging ihm hier

das Leben ein, in den ersten Jahren einer glücklichen Ehe, in einer glän­

zenden akademischen Wirksamkeit.

Seine feurige Beredsamkeit fesselte bald

einen dichten ZuhörerkreiS; selbst die jungen Edelleute, die sonst der ge­

lehrten Pedanterei lachend den Rücken drehten, fühlteu, sich angezogen von der weltmännischen Feinheit

des jungen Professors

und dem gesunden

Realismus seiner Vorträge — was in diesem Zeitalter der Adelsherr­ schaft sehr wichtig war.

Pufendorf nahm Theil an der Erziehung deS

Kurprinzen, verkehrte viel bei Hofe und gewann im Gespräche mit Karl Ludwig manchen Einblick in daS geheime Getriebe der Reichspolitik. Auch

dem

feuchten Genius loci, der über dem heiteren Neckarthale schwebt,

wurde die gebührende Huldigung geleistet, manche frohe Nacht beim Becher­

klang unter übermüthigen Scherzen verbracht.

Die freie Heiterkeit des

Mannes hatte längst wieder die Oberhand gewonnen; sein Name war be­

rühmt noch bevor er irgend ein größeres Buch geschrieben.

Alle Welt

fürchtete seinen scharfen Sport, und noch heute leben in den Heidelberger

Juristenkreisen allerhand Geschichten von PufendorfS schneidigem Freimuth. Einmal besuchte Kaiser Leopold den Pfalzgrafen und empfing die Juristen

der Hochschule sehr ungnädig; die Urtheile des Spruchcolleginms in den zahlreichen Processen, womit der Wiener Hof seine getreuen Reichsfürsten

zu ängstigen liebte,

waren selten zu Gunsten

des Kaisers ausgefallen.

„Wie kommt es denn, Ihr Herren, fragte LeopolduS GloriofuS ärgerlich,

daß ich bei Euch immer Unrecht bekomme?" — „Weil Kaiserliche Majestät immer Unrecht haben," war die blitzschnelle Antwort deS Sachsen. Er hatte um jene Zeit eine kleine Schrift über Philipp von Make­

donien geschrieben; das wunderliche Buch sprach von seinem eigentlichen Gegenstände wenig, entwickelte vielmehr mit großer Zuversicht eine Reihe

völlig neuer Gedanken über den Begriff des unregelmäßigen Staates und erregte abermals.das Mißtrauen der Juristenzunft wider den Bönhasen,

zumal da die Nutzanwendung der ketzerischen Lehre auf das heilige römische

Reich sehr nahe lag.

Als nun eine Professur für Deutsches StaatSrecht

zu besetzen war, überging man Pufendorf und zog ihm den gelehrten Publicisten Bökelmann vor.

Im Unwillen darüber, so gesteht er selbst*),

faßte er den Plan zu jenem übermüthigen Werke, das der Welt zum ersten male die ganze Eigenart seines Geistes gezeigt hat.

Er wollte den Ju­

risten beweisen, wie gründlich er daS deutsche Reichörecht kenne, er wollte

der Nation die unheilbare Krankheit ihres StaateS enthüllen und endlich

*) Conscriptus hic (über) fuit impellente indignatione praereptae ab altero profesBionis quam sibi deberi crediderat autor. (PufendorfS Vorwort zur editio poBthuma des Severinas.)

einmal mit der Fackel wissenschaftlicher Kritik die gespenstische Fabelwelt der ReichSpublicistik beleuchten; die Zunftgelehrten sollten sich winden un­

ter dem Spotte des Severinus de Monzambano.

Lügen, nichts als Lügen: — das bleibt doch der erste und der letzte Eindruck, den der Anblick der verfallenden Reichsverfassung jedem ehrlichen

Betrachter hinterläßt.

Das Vaterland der Reformation in theokratischen

Formen regiert; der gekrönte Schirmvogt der römischen Kirche zugleich verpflichtet zum Schutze der Ketzerei; der ReligionSfriede

feierlich ver­

kündigt und dabei an allen Kirchthüren der Habsburgischen Erblande mit kaiserlicher Genehmigung jene päpstliche Bulle angeschlagen, die den Frie­

densschluß verdammt; prahlerische Titel und unbestimmte Ansprüche auf die Beherrschung der Christenheit, während alle Nachbarmächte herrisch auf deutschem Boden schalten; alle gesunden politischen Kräfte zu bestän­

diger Opposition gezwungen, alle verfaulten mit dem Kaiserhause treu ver­ bunden; die Reichstagsmehrheit in der Hand der schwächsten Reichsstände

— überall ein schreiender, unauSgleichbarer

Widerspruch zwischen den

Formen deS Rechts u,nb den lebendigen Mächten der Geschichte.

Ueber

diesem gespenstischen Mummenschanz hängt ein dickeS Gewölk von Phrasen, so unwahr wie das Reichsrecht selber: salbungsvolle reicheväterliche Ver­

mahnungen des Kaisers, der die Macht der Nation für die Zwecke feines

HaufeS

mißbraucht; inbrünstige Betheuerungen

altteutscher Treue und

fromme reichspatriotische Erbietungen aus dem Munde derselben Fürsten, die von Frankreich Pensionen beziehen. Nicht minder verlogen als die StaatSknnst«deö Reiches ist auch seine

politische Wissenschaft.

Mit freudiger Uebereinstimmung preisen alle deut­

schen Staatsrechtslehrer die elendeste Verfassung, welche je ein großes Volk dem Gespött der Nachbarn preiSgab, als das

ausbündiger Weisheit.

vollkommene Werk

Knechtischer Philistersinn und gedankenloser Buch­

stabenglaube hatten auS der Bibel, auS dem mißverstandenen Aristoteles und dem Corpus Juris ein System des Reichsrechts erklügelt, daS, irt jedem einzelnen Satze falsch, gleichwohl unangreifbar schien, weil seine Fabeln

einander gegenseitig trugen und stützten:' Die in Bildern denkende Me­ thode der Scholastik beherrschte noch immer die deutsche Staatswissenschaft.

Wie einst die Anhänger deS Thomas von Aquino schlossen:

Der Mond

erhält sein Licht von der Sonne, folglich empfängt der Kaiser seine Macht durch die Verleihung deS Papstes — so bewiesen jetzt Theodor Reinkingk

und die Caesarianer: Es steht geschrieben DanieliS am siebenten: „Diese vier großen Thiere sind vier große Reiche, so auf Erden kommen werden", darnach sind auf Erden gekommen die assyrische, die persische, die griechische und endlich die vierte, die römische Monarchie, daS römische Reich aber

ging ans die Deutschen über, folglich ist unser Reich eine Monarchie, seine Kurfürsten müssen

von der Wissenschaft

als

die praefecti praetorio,

die obersten Beamten der Sacra Caesarea Majestas betrachtet werden; mit dem Kaiserthum ist auch die geschriebene Vernunft, das römische Recht

zu den Deutschen gelangt, und durch ein Gesetz Kaiser Lothars des Sachsen im Reiche verkündigt worden.

Die cäsarianische Doctrin erweckte, zumal

seit Wallenstein sie zu verwirklichen versucht hatte, den Widerspruch deö

Partikularismus; die Schulen der Fürstenerianer und Kurfürstenerianer priesen daS heilige Reich als eine wundervolle Mischung von Monarchie

und Aristokratie, Einzelne fanden sogar noch einen Zusatz von der dritten

aristotelischen

StaatSform, der

Demokratie,

in

dieser unvergleichlichen

Reichsverfassung. ES war ein unfruchtbares Wortgezänk, ebenso

barbarisch wie ihre Namen.

die Lehren beider Parteien

Beide Theile wetteifern in unter«

thäniger Verherrlichung der bestehenden Unordnung, im geistlosen Wieder­ holen

der

überlieferten

Begriffe,

aristotelischen

beide

reden

mit

der

gleichen stumpfsinnigen Gelassenheit von der Ohnmacht des Vaterlandes,

und

während sie

mit

massenhaften

Citaten

aus

den Pandekten

und

dem langobardischen Lehenrechte prunken, verstehen sie von Politik und deutscher Geschichte

„so viel wie der Esel vom Lautenschlagen" — so Als das Orakel des StaatS-

lautet PufendorfS unehrerbietiges Urtheil.

rechtS galt der große LimnäuS; Pusendorf rühmt ihm nach, sein Werk

übertreffe an Dickleibigkeit alle anderen.

Auch dieser „Patriarch und Erz­

vater" deutscher Reichsrechtswissenschaft ließ sich'S wohl sein auf der Lehre vom gemischten Staate, dem alten Lotterbette publicistischer Gedankenar­

muth, und entdeckte scharfsinnig, das Licht der Aristokratie strahle im deut­ schen Reiche doch etwas Heller als das Gestirn der Monarchie.

Bereits einmal hatte ein Störenfried daS stille Behagen dieser ruheseligen Wissenschaft erschüttert.

Während der letzten Jahre deS großen

Krieges hatte Philipp BogiSlav v. Chemnitz, ein harter Kämpe, der schon oft mit dem Schwert und der Feder gegen daS Haus Habsburg gefoch­

ten, daS trotzige Buch veröffentlicht: HippolithuS a Lapids über die StaatS-

raifon in unserem römisch-deutschen Reiche.

Dies Programm der schwe­

dischen Partei verkündet ungescheut die letzten Hintergedanken der deutschen

Libertät, des reichsfeindlichen ParticulariSmuö. Mit der Weltkenntniß des praktischen Staatsmanns werden die Hirngespinnste der unterthänigen „Le-

gisten" zurückgewiesen, wird der schönfärbenden Wiffenschaft ein entsetzlich

treues Bild von Deutschlands wirklichen Zuständen, von „dem unheimlich

leichenhaften Angesicht Germaniens" entgegengehalten und die Nation aufgdfordert zum Kampfe auf Tod und Leben wider das Haus Oesterreich.

Imm?r wieder, in schwungvoll beredten Worten, kehrt HippoUthuS zurück

zu seinem caeterum censeo: exstirpandam esse domum Austriacam. Der ganze wilde Haß des Religionskrieges tobt in seinen Worten:

Der

Würfel ist geworfen, der Rubicon überschritten; sie können unS das Leben nehmen, doch nicht den Himmel, das Vaterland, doch nicht die Welt!

Die schneidige Schrift verfiel dem gewöhnlichen Schicksal der Parteiwerke. Sie erregte auf kurze Zeit ungeheures Aufsehen und schadete, wie Fer­

dinand III. gestand, der kaiserlichen Sache mehr als eine verlorene Schlacht;

sie ist auch in späteren Tagen stets von Neuem lebendig geworden so oft die Nation den Druck des österreichischen Joches unmuthig empfand — so unter Friedrich dem Großen und zur Zeit deö Rheinbundes; und noch

nach dem Tage von Olmütz habe ich manchen leidenschaftlichen Patrioten

gesehen, der an dem HippolithuS wie an einer politischen Bibel mit in­ grimmiger Hoffnung sich erbaute. Wissenschaftlicher Werth gebührt dem Buche nicht; die glänzende Kunst der Rede vermag nicht über die tenden­

ziöse Unwahrheit der Darstellung zu täuschen.

So richtig HippolithuS

die politischen Kräfte seiner Gegenwart ^würdigt, wenn er den Schwer­ punkt deutscher Macht in den größeren weltlichen Territorien sucht: ebenso

willkürlich stellt er die Thatsachen der Geschichte auf den Kopf, ind?m er das Reich als eine ursprüngliche Aristokratie, die kaiserliche Gewalt als

eine beständige Usurpation schildert.

Das Titelbild zeigt den kaiserlichen

Aar wie er auf der Weltkugel thront.

Der König von Frankreich mit

dem Lilienmantel und der schwedische Löwe rupfen ihm die Federn auS

den Schwingen, und ein geharnischter Mann, der deutsche ReichSfürst, erhebt das Schwert um den Kopf des Adlers zu zerschmettern.

Auf solche

Gedanken deS Landesverraths läuft die Staatsraison des feurigen Anwalts deutscher Libertär hinaus; Chemnitz schrieb wahrscheinlich auf Befehl der

Krone Schweden, schwerlich in gutem Glauben.

Nach dem weftphälischen

Frieden verlor das Buch viel von seinem Ansehen.

Zwar bestand noch

eine schwedische Partei im Reiche; EsaiaS Pufendorf hat an den Chemnitzischen Gedanken mit diplomatischer Behutsamkeit

immer festgehalten.

Doch der großen Mehrzahl der ReichSpublicisten galt HippolithuS als ein frecher MajestätSschänder, gleich den englischen KönigSmördern; die Facultäten frohlockten als das Libell von Reichswegen verboten wurde. Ungleich wichtiger war eine große wissenschaftliche Entdeckung, die

etwa gleichzeitig mit der Calixtinischen Bewegung von der rührigen kleinen HelmstSdter Hochschule auSging. unterstand sich,

Der gelehrte Arzt Herman Conring

in seinem Buche Origines Juris Germanici (1643) der

entsetzten juristischen Welt die Frage vorzulegen: ob eS denn wahr sei, daß

daö römische Recht schon seit sechshundert Jahren im Reiche herrsche? —

und fand mit der sicheren Intuition des Genies aus seinen dürftigen,

ungefichteten Quellen die überraschende Antwort: die Rechtsbücher Justinians sind niemals durch ein Reichsgesetz den Deutschen auferlegt worden, sie

haben erst seit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, feit die Schüler der Bologneser Juristenschule in unseren Gerichten die Oberhand

gewannen,

das alte nationale Recht verdrängt.

Mit dieser glänzenden

Entdeckung war der Grund gelegt für die neue Wissenschaft der deutschen

Rechtsgeschichte und zugleich der herrschenden Doctrin des ReichSrechtö der Boden unter den Füßen hinweggezogen; denn ganz von selbst ergaben sich

nun die Schlüsse, daß die Begriffe deS römischen Rechts mindestens auf das deutsche StaatSrecht nicht angewendet werden dürften, daß die alte deutsche Königswürde mit dem römischen Kaiserthum nur äußerlich ver­

bunden fei u. s. w.

Die juristische Zunft sträubte sich lebhaft wider die

unbequeme neue Wahrheit, und mit solchem Erfolge, daß Conrings Ge­

danken bekanntlich erst durch Savignh's Forschungen zu einem anerkannten Gemeingute deutscher Wiffenschaft geworden sind.

Dem großen Helm­

städter Polyhistor selber fehlte leider, wie ihm Pufendorf vorwarf, gänzlich jener Muth der Gesinnung, der dem Lehrer der StaatSwissenschaften fast

ebenso unentbehrlich ist wie das Talent.

Er nahm das Geld wo er es

fand, bezog Pensionen von Frankreich und Schweden, suchte die Gunst

deS großen Ludwig zu gewinnen, indem er ihm die Besiegung der Türken und die Herrschaft auf dem Mittelmeere verhieß.

Ein solcher Charakter

konnte wohl den deutschen Protestanten auswärtige Bündnisse zum Schutze

ihrer Libertät empfehlen, doch

die Ergebnisse

seiner

tiefen historischen

Forschung auf daö bestehende Staatsrecht anzuwenden, mit freimüthigem

Urtheil die Gebrechen der Reichsverfassung aufzudecken kam ihm nicht in den Sinn. Wie wenig productive Kritik von diesem Helmstädter Kreise zu er­ warten stand, das lehrt die immerhin beste reichsrechtliche Schrift der Con-

ring'schen Schule, die Abhandlung de statu regionum Germaniae (1661) von dem jungen Ludolph Hugo, der späterhin als welfischer Staatsmann eine Rolle spielte.

Von der Weissagung DanieliS und der vierten Mon­

archie ist hier freilich nicht mehr die Rede, aber welche unmaßgebliche Leise­

treterei, welcher Mangel an juristischer Schärfe, welches Spielen mit un­ klaren Bildern!

Mit glatten Worten gleitet Hugo über die ungeheuerlichen

Widersprüche der Reichsverfassung hinweg: das Reich ist ein Staat, die

Territorien desgleichen; der Oberstaat (summa res publica) besorgt die

allgemeinen, die Unterstaaten die besonderen Angelegenheiten; die Einzel-

staaten sind als analoga von Staaten aufzufassen, ihre Landeshoheit, die Nebenbuhlerin (aemula) der Reichsgewalt, muß nach der Analogie der

Souveränität erklärt werden.

Dieser Staatenstaat lebt

in glückseliger

Harmonie, wenn seine Glieder gleichsam ein Abbild (quasi effigiem) des Natürlich werden dann auch die Bündnisse der

ganzen Körpers darstellen.

rhetuischen Fürsten mit Frankreich als ein nützliches Beispiel für die Nach­ welt gepriesen.

Kurz, überall zeigt das Buch neben einzelnen guten Ge­

danken jene mattherzige Neigung, den Aberwitz eine- unwahren positiven Recht- theoretisch zu rechtfertigen, jene Kunst Feuer und Wasser zu ver­

schmelzen, worin die Literatur des deutschen Reichs- und Bundesrechts

stets so Wunderbares geleistet hat. Wie ein reinigendes Gewitter fuhr nun im Jahre 1667 in die Stick­ luft dieser wissenschaftlichen Fabelwelt daS kleine Buch: SeverinuS de Monzambano über den Zustand des deutschen Reichs.

Pufendorf fühlte, daß

gegen die gespreizte Feierlichkeit gelehrter Gedankenarmuth der Spott die

beste Waffe sei; er nimmt gewandt die Maske eines Ausländers vor »nd

betrachtet die den Deutschen geläufigen Ungeheuerlichkeiten des ReichSrechtS mit den verwunderten Augen eines vornehmen BeroneserS.

Der geistreich

frivole Weltmann SeverinuS erzählt seinem Bruder LaeliuS, in dem man

leicht den getreuen EfaiaS wieder erkennt: er habe versucht aus gelehrten Büchern die politischen Zustände dieses gewaltigen Volkes kennen zu lernen, daS dreißig Jahre lang mit Hilfe der Fremden sich zerfleischte und selbst

so entsetzliche Schläge lebenskräftig überdauern konnte.

Aber die lang­

weilige Breite der deutschen ICti widert den feinen Italiener an,

und

nun wird mit jenem überlegenen Hohne, der daS Vorrecht aller großen

Publicisten

bleibt,

die unersättliche

Schreibseligkeit

unserer

Wiffenschaft verspottet.

Mehrmals kommt SeverinuS

schweres

deutschen Lebens,

Gebrechen deö

das damals

zurück noch

erstarrten auf

ein

kein an­

derer Deutscher erkannt hatte, auf das unnatürliche Uebergewicht der ge­

lehrten Berufe: dies verwüstete Land bedarf derber wirthschaftlicher Arbeit, die Reihen seines Bauernstandes sind gelichtet durch den großen Krieg, sein Gewerbfleiß von den Nachbarn längst überflügelt, und doch widmen sich Tausende dem unfruchtbaren Schaffen einer geistlos sammelnden Ge­

lehrsamkeit; „unter so Vielen, die den Lorbeer tragen, wird nur selten ein

Phöbus gefunden."

Der Italiener versucht nunmehr, durch den Verkehr

mit Staatsmännern sich zu belehren; er bereist das deutsche Land, be­ trachtet in Regensburg das lächerliche Treiben des Reichstags, trinkt sich

durch an unzähligen geistlichen und weltlichen Höfen, was dem mäßigen Südländer hart genug ankommt, lernt auch Conring kennen, den einzigen deutschen Publicisten, der ihm Bewunderung einflößt, und berichtet dem

Bruder was er also erfahren.

Zunächst entwirft er,

oftmals den Spuren ConringS folgend,

in

großen Zügen einen Abriß der deutschen Geschichte, der noch heute, bi- auf

einige unwesentliche Irrthümer, der strengsten Prüfung Stand hält; erst seit wenigen Jahrzehnten ist unsere historische Wissenschaft von den Ver­

irrungen romantischer

Kaiserschwärmerei wieder zurückgekehrt

zu jener

nüchtern politischen Anschauung, die hier mit genialer Sicherheit vertreten wird.

Ein ungeheures Wissen verbirgt sich hinter dieser kurzen lebendigen

Erzählung; Pufendorf war der erste Deutsche, der die Ergebnisse schwer gelehrter Forschung in durchsichtiger, gemeinverständlicher Form wiederzu­

geben verstand.

Er schildert, wie erst nach den Zeiten Karls des Großen

ein selbständiges französisches Volksthum neben dem deutschen entstand, und widerlegt damit jene überrheinischen Geschichtsfälschungen, welche damals zuerst dem Reiche bedrohlich wurden.

Einige Jahre zuvor hatte König

Ludwig als legitimer Nachfolger Karls deö Großen seine Hand ausgestreckt nach der Kaiserkrone.

Aubery und andere Pariser Hofpublicisten bewiesen

in rechtsgeschichtlichen Abhandlungen „die gerechten Ansprüche des Aller­ christlichsten Königs auf das Reich."

Sodann bekennt sich Pufendorf zu

seinem Staatsideale, der absoluten Monarchie.

Nur diese härteste Form

der StaatSeinheit konnte die zuchtlose Selbstsucht der deutschen ständischen

Libertät einer gerechten Ordnung unterwerfen; darum sind die freien Geister

unter den Publicisten und Staatsmännern jener Generation, Leibnitz und Thomasius, Jena und MeinderS, allefammt überzeugte Absolutisten ge­ wesen.

Nur in

dem regnum rite compositum

findet SeverinuS die

dauernde Macht des Staates, gesicherten Rechtsschutz für Hoch und Niedrig

und die entschlossene Thatkraft eines von Einem Geiste geleiteten Volkes. Dieser vollkommensten Staatsform hat Deutschland in den Anfängen seiner Geschichte sehr nahe gestanden; doch die alte nationale Monarchie verfiel

durch die unselige Erblichkeit der Reich-ämter — einen schweren politischen

Fehler, den nur gelehrte Thorheit loben kann — und sie zerbröckelte völlig seit da- deutsche Königthum mit der römischen Kaiserwürde verbunden wurde.

Schon der Name: heilige- römische- Reich deutscher Nation ent­

hält einen inneren Widerspruch; die Pläne kaiserlicher Weltherrschaft haben nur Unheil über da- Vaterland gebracht, Ströme deutschen Blute- und

Gelde-

wurden

auf Italien-

undankbaren Boden verschüttet,

Macht der deutschen Krone ward zum Schatten.

und die

Grade in der einseitigen

Härte dieser Schilderung offenbart sich da- politische Talent de- Denker-;

wer wie er noch mitten inne stand in dem gräulichen Verfalle de- alten Reiche-, der konnte und durfte kein Verständniß haben für die unver­ gängliche Herrlichkeit, die einst in den entgeisteten Formen des Kaiserthum-

gelebt hatte. Dann wird mit einigen Meisterstrichen die Stellung Oesterreich- zum

R«che gezeichnet; das fromme Erzhaus hat durch allerhand Privilegien so trefflich für sich gesorgt, daß Oesterreich einem nicht-habSburgischen

Kaiser sofort den Gehorsam aufsagen kann.

Die Dynastie benutzt Deutsch­

lands Kräfte, ohne jemals selber eine Pflicht gegen das Reich zu erfüllen; in favorabilibus eßt membrum imperii, in odiosis non item.

Darum

hat sie auch ihre burgundischen Lande zum Schein in das Reich aufnehmen

lasten, „damit die Deutschen um so bereitwilliger sür

fremden Gutes ihr eigenes opfern sollen." schrecklichen Großtürken,

die Bewahrung

Auch die Angst vor dem er­

die noch immer unser Volk

beherrschte

und

Tausende in unterthäniger Treue an das Haus Oesterreich fesselte, findet vor dem weltkundigen Italiener keine Gnade.

Spottend ruft er: durch

solchen Schrecken wissen die Pfaffen dafür zu sorgen, „daß die harmlosen

Leute offenen Leib und offenen Beutel behalten"; die Macht der Türken ist längst gesunken und Oesterreich wohl im Stande sie aus Ungarn zu ver­ treiben — ein Seherwort, das nach einem Menschenalter durch die Siege

des Prinzen Eugen in Erfüllung ging.

In den Händen dieser fremden

Macht dienen die leeren Formen, die inania simulacra des KaiserthumS ttür noch dazu, Eifersucht zwischen den deutschen Staaten zu

erregen,

CabinetSjustiz zu üben und mit deutschen Heeren die Kriege der habsbur­ gischen HauSpolitik auSzufechten.

Die Gerechtigkeit ist auS dem Reiche ge­

flohen : das Reichskammergericht fällt feine Urtheile erst nach Jahrhunder­ ten, beim Reichshofrath entscheidet Gunst und Bestechung.

Der Reichstag

hat soeben die Berathung der ewigen Wahlcapitulation begonnen und da­ mit einen willkommenen Borwand für unendliches Zusammenbleiben ge­

funden itnb eine bequeme Antwort auf die Frage: „waS denn diese Masse

von Gesandten so viele Jahre lang treiben und warum sie Vormittags spanischen, Nachmittags Rhein- und Moselwein trinken müssen?"

Die wirkliche Macht deS Reichs liegt in den größeren weltlichen

Fürsten, nur daß auch sie durch beständigen Hader und durch Zettelungen mit dem Auslands das Vaterland schwächen.

Die Reichsstädte sind zum

Untergänge reif, auch die Reichsritter bestehen nur noch durch die gegen­ seitige Eifersucht der

mächtigeren Nachbarn.

Die volle Schale seines

Spottes ergießt der Italiener über die geistlichen Staaten.

Unter Einge­

weihten darf das tiefe Geheimniß wohl ausgesprochen werden, das so viele gelehrte und beredte Priester durch salbungsvolle Reden vor dem frommen

Haufen z« verbergen wissen: die römische Kirche ist keine Glaubensgenossen­

schaft, sondern eine politische Macht, mit der einzigen Aufgabe, die welt­

liche Herrschaft der Priester aufrechtzuhalten.

Diesem Zwecke dienen ihre

Dogmen — denn wer sollte sich nicht beugen vor einem Pfaffen, der Christi Leib und Blut hervorzuzaubern vermag?



diesem Zwecke die

Orden, die nach den Gütern der Weltlichen das Netz au-werfrn.

DaS

apostolische Gebot der Armuth hat vermuthlich nur, für die älteste Kirche

gelten sollen.

Kein anderer Stand hegt soviel Ehrgeiz, Habgier, Neid,

Zorn und Schmähsucht wie diese Priester; freilich ergießt sich auch der

heilige Geist über ihren geschorenen Scheitel weit reichlicher als über das volle Haar der Weltkinder.

Und in keinem anderen Lande sind die Priester

so mächtig wie im heiligen Reiche; sie haben das ganze Mittelalter hin­ durch gegen die Kaiser gemeutert und nach und nach daS reichste Drittel

Deutschlands, die schönen Rheinlande, sich erworben; dort hausen sie be­ haglich in ihren Domcapiteln — der lästige Coelibat wird ja durch ge­ fällige Mädchen um Vieles erträglicher — und der fromme Adel versorgt

nach

dem glorreichen Beispiele unseres geliebten heiligen Vaters seine

Söhne und Vettern mit fetten Pfründen.

„zweiköpfig",

rettungslos

der

DaS deutsche Reich aber bleibt

Anarchie preisgegeben,

so lange

dieser

hohe Clerus seine Macht behauptet; denn er dient einem auswärtigen Souverän, dem unfehlbaren Stellvertreter Christi, bildet einen Staat im

Staate. Mit scharfen Worten wird darauf die weltliche StaatSkunst der geist­

lichen Herren gezeichnet: die wüste Fehdelust deS Bischofs von Münster,

Bernhard von Galen, und vor Allem die Großmachtspolitik des Mainzer Hofes. sich

Ein großer Umschwung der europäischen Machtverhältnisse hatte

soeben

vollzogen:

die

spanische Krone sank seit

dem phrenäischen

Frieden zu einem Staate zweiten Ranges herab, und auf den Trümmern ihrer Macht erhob sich das französische Königthum.

Der großen Mehrzahl

der Zeitgenossen blieb diese verhängnißvolle Aenderung noch lange verborgen.

Die deutschen Protestanten lebten in den Anschauungen einer überwundenen

Epoche, sie zitterten noch vor dem Schreckbilde deS spanisch-österreichischen Weltreichs; erst ein oder zwei Jahrzehnte später, nach der Ueberrumpelung

Hollands,

nach dem Falle Straßburgs und der Verwüstung der Pfalz,

begann die Mehrheit der Nation zu ahnen, welche Gefahr ihr von dem

räuberischen Ehrgeiz deS Versailler HofeS drohte.

Zugleich mit dem Ueber-

gewichte Frankreichs und beständig genährt durch französische Ränke erwuchs

dem deutschen Reiche eine neue Macht des Unheils: die unruhige Groß­

mannssucht der Mittelstaaten.

Wenn die kleinen Höfe bisher in der Regel

thatloS dem Gange der großen Politik zugeschaut hatten, so versuchen sie jetzt voll rastloser Eitelkeit eine europäische Rolle zu spielen, sie drängen sich ein in die Händel der Großmächte mit ungebetenen Rathschlägen und

benutzen das neu gewonnene Recht der Bündnisse zn einem unredlichen diplomatischen Spiele, das schließlich nur den Plänen Frankreichs zu gute

kommt.

Als die Ahnherren dieser neuen Mittelstaatenpolitik erscheinen der

Mainzer Kurfürst Johann

Philipp von Schönborn und sein Minister

Freiherr von Boineburg, der Beust des siebzehnten Jahrhunderts. Nirgends

erklang

die reichspatriotische Phrase

so

inbrünstig,

so

schwungvoll wie in den wortreichen Depeschen des Erzkanzlers, der nach alter kurmainzischer Ueberlieferung

schen

Fürstenstandes

fühlte.

sich stolz als den Führer des deut­ Welt rühmte die Duld­

Die aufgeklärte

samkeit dieses geistlichen Hofes, die freilich zur römischen Kirche nicht ausschloß.

den Uebertritt BoineburgS

Die ersten Gelehrten der Zeit,

Conring und Leibnitz, wetteiferten um die Gunst des freisinnigen Kurfürsten

und seine- geistreichen Ministers.

Die irenische Politik des Mainzer HofeS

vermaß sich, mit der gesammelten Macht der rheinischen Kleinfürsten den Weltfrieden zu wahren,

Ruhe zu gebieten.

den Bourbonen und den Habsburger» zugleich

Meisterhaft verstanden die französischen Staatsmänner,

die Eitelkeit des kleinen Nachbarn zu benutzen.

ES war ja doch nur

Frankreichs Vortheil, wenn der Mainzer dnrch die Wahlcapitulation dem Kaiser jede Einmischung in die spanisch - französischen Händel untersagen

ließ; zum Lohne durfte dann Bolnebnrg theil nehmen an den Verhandlungen auf der Bidassoa-Jnsel, weilte monatelang als weiser Friedensstifter unter

den Diplomaten der Großmächte, strich selbstgefällig den Dank Europas ein, den ihm seine deutschen Bewunderer aussprachen, und nicht minder bereitwillig die wohlverdienten französischen Gelder.

Frankreichs Truppen

rückten mitten im Frieden bis in daS Herz von Deutschland um dem irenischen Kurfürsten seine aufsässige Stadt Erfurt zu unterwerfen; Frank­ reich «nd Schweden entschieden, deS Reiches ungefragt, die kleinen nachbar­

lichen

Streitigkeiten zwischen Mainz und Pfalz.

Brandenburg,

Als Oesterreich und

endlich einmal einig in einem großen nationalen Unter­

nehmen, ihren ersten Siegeszug gen Düppel und Alfen begannen und die Schweden vom Boden des Reichs zu verdrängen suchten, da erscholl auS

dem Kreise der Mainzer Patrioten, widerhallend an allen kleinen Höfen, der Weheruf über den Ehrgeiz Friedrich Wilhelms, über

tiefer

ins

Reich

dringenden

brandenburgischen

„den immer

Dominat";

und

die

rheinischen Fürsten, Mainz voran, schlossen den ersten Rheinbund, der

unter FrankrStchS Protectorat den Frieden deö Reiches sichern, den deut­ schen Reichsstand Schweden vor Vergewaltigung bewahren sollte. Fast die gesammte Nation pries die irenische Weisheit; Pufendorf allein

unter ihren Publicisten durchschaute die Nichtigkeit dieser Politik der edlen

Worte und der verrätherischen Thaten.

Er kannte die Mainzer Herren aus

seinen Heidelberger Erfahrungen, hatte soeben, in einem Gutachten über den bekannten pfälzischen WildfangSstreit, die Rechte seines Landesfürsten ver­ theidigt gegen die Ansprüche deS geistlichen Nachbarn.

Sein unbarmher-

ziger Realismus

verachtete die leere Vielgeschäftigkeit der prahlerischen

Ohnmacht; noch in seinem letzten Geschichtöwerke sagt er spottend: der Kurfürst von Mainz war der Ansicht, daß in der Politik Redensarten

mehr auSrichten als daS Schwert (plura consilio quam vi molienda).

So wird auch im SeverinuS der Politik Frankreichs und seiner Verbün­

deten mit fester Hand die MaSke abgerissen.

Der unförmliche Zustand

deS Reichs ist den Franzosen hochwillkommen, sie wollen nicht unsere Ver­

fassung vernichten, sondern durch Geschenke und Pensionen, durch Sonderbünde und freundnachbarliche Vermittelung die deutschen, vornehmlich die rheinischen Fürsten an sich fesseln: „ein Thor, wer nicht einsieht, daß durch solche Mittel der Weg geebnet wird zur gänzlichen Vernichtung der deut­ schen Freiheit."

Zugleich wird Boineburg, der soeben bei seinem Herrn in

Ungnade gefallen war, mit einer Fülle boshafter Lobsprüche überhäuft, die dem Gepriesenen kaum minder peinlich sein mußten als dem Mainzer Hofe.

Unter einer starken Krone, fährt der Italiener fort, würde dies Reich mit seinen Millionen wehrhafter Männer den Franzosen überlegen, ja dem

ganzen Welttheil furchtbar sein; überall in der Welt bringt der deutsche Adel sein tapferes Blut zu Markte.

Nur die elende Verfassung hält die

gewaltigen Kräfte der Nation darnieder; in einer solchen Vielheit von geist­

lichen und weltlichen, großen und kleinen, monarchischen und republikanischen

Staaten kann Einheit deS Entschlusses nicht bestehen.

Auch Handel und

Wandel leiden unter der Vielherrschaft; die zahllosen deutschen Münzen besitzen

nur die eine Tugend der Bescheidenheit, sie verrathen durch ihr Erröthen, wie

sehr sie sich ihres geringen Silbergehaltes schämen.

DaS Reich ist keine

Monarchie; lassen wir uns nur nicht täuschen durch den Genius der deut­ schen Sprache, die mit leeren Ehrentiteln zu prunken liebt.

Die kaiserliche

Majestät, die plenitudo potestatis, wovon die Hymnen der kaiserlichen Hofdecrete (decretorum carmina) zu singen wissen, besteht in Wahrheit längst nicht mehr — wenn man nicht etwa den straflosen Ungehorsam der

Unterthanen als das eigentliche Kennzeichen der Majestät betrachten will. DaS Reich ist aber auch kein Bund, da der Einfluß deS Kaisers noch sehr weit reicht; es vereinigt in sich alle Uebel eines lockeren Staatenbundes

und einer schlecht geordneten Monarchie, erscheint der MissÄlschaft als ein unregelmäßiger und ungeheuerlicher Körper (irreguläre aliquod Corpus

et monstro simile), der zwischen jenen beiden StaatSformen mitten inne­ steht und unter keine der üblichen Kategorien beff Staatsrechts fällt.

Und

wie man einen am Abhang niederrollenden Stein mit leichter Mühe in

die Tiefe, doch nur schwer wieder auf die Höhe empor wälzen kann, so kann auch die deutsche Verfassung nur durch die härtesten Erschütterungen wieder zurückgeführt werden zu ihrer ursprünglichen monarchischen Fornt,

Sie eilt vielmehr wie durch Naturgewalten getrieben der, extremen Ausbil­ dung ihrer heutigen foederalistischen Entartung entgegen; das Reich wird sich verwandeln in einen Bund unabhängiger Staaten.

Die Worte muthen uns an als wären sie gestern geschrieben.

Der

rollende Stein des deutschen Gemeinwesens „eilte" zwar noch durch andert­

halb Jahrhunderte bergab; doch die letzten Ziele dieses Niedergangs hat Seve-

rinnS mit wnnderbarer Sehergabe voraus verkündigt, und auch die Formen

der künftigen Bundesverfassung sind ihm schon klar:

der deutsche Bund

wird die republikanischen wie die theokratischen Kräfte deö heiligen Reichs

Mit einigen kecken

beseitigen und nur weltliche Fürstenthümer umfassen.

Streichen zerreißt der Italiener das Lügengewebe, das die lutherischen

Hoftheologen über die Geschichte des jüngstvergangenen Jahrhunderts ausgespannt hatten.

Er erklärt rundweg: die , evangelische, Lehre konnte, , sich

selber überlassen, sehr leicht in ganz Deutschland zur Herrschaft gelangen ; doch der geistliche Vorbehalt des Augsburger Religionsfriedens' verschloß

ihr die geistlichen Territorien, die Protestanten versäumten in Zwietracht

und Kleinmuth diese künstliche Fessel abzustreifen.

Dann verkündet er zu­

versichtlich den Gedanken der Säkularisation, jenen rettenden Gedanken,

der seit Luthers Tagen in allen großen Krisen unserer Geschichte wieder

auftauchte bis endlich die Gewalt der Fremden ihn verwirklichte: verständen die deutschen Fürsten ihren Vortheil, so würden die geistlichen Gebiete evangelisch oder in weltliche Staaten umgewandelt und damit die politische

Macht des Papstthums im Reiche vernichtet werden.

Veroneser mit schlauem Schmunzeln hinzu,

Aber,

fügt der

unsere heilige Kirche mag

ruhig sein, die Fürsten werden diesen Gedanken schwerllch fassen; denn Gottlob, der Zufall der Geburt verleiht die Herrschaft nur selten dem Klugen. Also offenbaren sich in dem geistvollen Buche

überall jene beiden

Gaben, deren Verbindung den großen Publicisten macht: der Sinn für das Lebendige, das Wesentliche, der hinter dem Scheine der Macht und

des Rechtes die Wirklichkeit der Dinge erkennt, und die Sicherheit einer

mächtigen Phantasie, die in den unfertigen Gebilden der Gegenwart schon das bleibende Ergebniß zn ahnen vermag.

Und doch wird kein Deutscher

heutzutage den Severinus ohne ein Gefühl des Befremdens, ja des Mit­ leids aus der Hand legen.

Wer so unbarmherzig die Blöße seines eig­

nen Landes vor der Welt aufdeckt, der speist uns nicht ab mit noch so geistreichen Schilderungen einer fernen Zukunft; will er uns nicht als

ein frevelhafter Spötter erscheinen, so muß er uns sagen, waS denn hier und heute geschehen solle gegen das Elend des Vaterlandes.

Und auf

diese Frage giebt Severinus nur eine resignirte, fast hoffnungslose Ant-

wort.

So lebhaft er die Einheit seines Landes ersehnt, in der Reichs­

politik des Augenblicks ist er conservativ — und er muß es sein, weil seine Nüchternheit nirgendwo in der deutschen Gegenwart eine lebensfähige

rovolutionäre Kraft zu entdecken vermag; er muß eS sein, wie ja alle be­

sonnenen Reformer dieser letzten Zeiten deS Reichs, auch Friedrich der Zweite und der große Kurfürst, die bestehende Reichsverfassung alS eine

vorläufig unzerstörbare Ordnung hingenommen haben.

Er redet nicht ohne

Theilnahme von den verwegenen Gedanken des HippolithuS a Lapide und

verspottet dessen unterthänige Gegner als Faseler und Schmeichler; doch den Rath, daS HauS Oesterreich zu vernichten, verwirft er durchaus. die Meinung eines Scharfrichters, nicht eines Arztes.

DaS fei

Nicht ohne fremde

Hilfe können die Deutschen ein solches Unternehmen wagen, unter den

gegenwärtigen Verhältnissen würde nur Frankreich Vortheil ziehen von

der Vernichtung deS KaiserthumS — eine Weissagung die in den napo­

leonischeu Tagen sich bewähren sollte.

Kennt Ihr nicht, fragt SeverinuS,

die Fabel von den Fröschen, die sich den Storch zum König wählten? und wer weiß denn, ob nicht nach dem Ausscheiden Oesterreichs auch an­ dere Glieder das zerrüttete Reich verlassen würden? Wie heute die Dinge

liegen, bleibt nur übrig, dem Kaiser einen permanenten Rath von Gesand­

ten der mächtigsten deutschen Staaten an die Seite zu stellen; so mögen dann

die Angelegenheiten

des Vaterlands in

ehrlichem

Einvernehmen

zwischen den lebendigen Gliedern des Reichs berathen, willkürliche Schritte des kaiserlichen HofeS verhindert, alle Sonderbündnisse mit dem Auslande

aufgehoben und dem Reiche ein leidlicher Zustand des Friedens vorläufig gesichert werden.

Sicherlich ein dürftiges positives Ergebniß nach so grausamer Kritik; eine nüchterne, maßvolle Realpolitik, aber die Politik eines hoffnungslos

darniederliegenden Staates!

Nur in einem Falle hält SeverinuS eine

Reform deS Reichs an Haupt und Gliedern für möglich: wenn der MannS-

stamm der Habsburger auSsterben sollte.

Dieser Fall schien bekanntlich

in jenen Jahren nahe bevorzustehen, da dem Kaiser Leopold auS seinen beiden ersten Ehen kein Sohn am Leben blieb; und auch hier wieder be­

währt sich der prophetische Blick deö Denkers, denn in der That erst nach

dem AuSsterben deö alten Erzhauses ist der erste ernstliche Versuch zur Umgestaltung des Reichs gewagt worden.

Aber eine deutsche Macht, die

dem Hause Oesterreich heute schon die Spitze bieten könnte, findet Seve­ rinuS nirgends; auch er ahnt noch nichts von der großen Zukunft der Hohenzollern.

Elf Jahre bevor das Buch erschien, hatten die blauen brandenburgischen Regimenter auf dem Felde von Warschau ihre graden Klingen gekreuzt

Mit den

polnischen Krummsäbeln und zum ersten male den stegeSfrohen

Schlachtruf:

Mit Gott! angestimmt.

Neun Jahre zuvor war Friedrich

Wilhelm gegen die Schweden ausgezogen und hatte der Nation die boden­ lose Tiefe ihrer Schande schildern lassen in „an den ehrlichen Deutschen."

es dort.

jener köstlichen Flugschrift

„Siehe an Dein edles Vaterland — hieß

Es ist leider im letzten Kriege unter dem Borwand der Religion

und Freiheit gar jämmerlich zugerichtet und an Mark und Bein dermaßen

auSgesogen, daß von dem einst so herrlichen Körper schon nicht- mehr

übrig ist alS das Skelett.

Gedenke daß Du ein Deutscher bist!

WaS

sind Rhein, Elbe, Oder, Weserstrom heute anders alS fremder Nationen Gefangene?

WaS ist unsere Freiheit und Religion mehr alö daß Fremde

damit spielen?" — Und solche Worte, die uns Nachlebenden wie mäch­

tiger Glockenklang am .Morgen einer neuen Besseren Zeit das Innerste erschüttern, konnten in dem wüsten Parteigezänke jener Tage so spurloverhalle», daß der erste Publicist der Nation sie nicht vernahm!

mehr.

Noch

Bor wenigen Jahren erst hatte Graf Georg Friedrich von Waldeck

mit dem Großen Kurfürsten den Plan einer Reichsreform erwogen, die

den Gedanken des SeverinuS sehr nahe kam: ein Bund der mächtigeren ReichSfürsten sollte daS Haus Oesterreich zwar nicht vom Reiche auSschließen, doch die Willkür der kaiserlichen Gewalt beschränken.

Bon dem

Allen scheint Pufendorf ebenso wenig gehört zu haben wie die große Mehr-^ zahl der Zeitgenossen; er erwähnt den Brandenburger nur einmal mit

kühler Achtung als einen mächtigen Herrn, der zweihundert Meilen weit

im Reiche reisen und dabei täglich auf seinem eigenen Gebiete übernachten könne.

So langsam reiften Gottes Saaten; auch Pufendorf sollte erst

nach langen Jahren, hart geschüttelt durch schwere Erfahrungen, das Wesen der jungen deutschen Großmacht verstehen lernen. Mit allen Mängeln, die er der unfertigen Bildung de- Zeitalters verdankt, bleibt der SeverinuS doch ein glänzendes Werk, das alle gleich­

zeitigen Schriften der Reichspublieistik einfach todt schlägt, meisterhaft auch in der Form.

Kein einziger deutscher Poet jener Zeit vermag einen

Charakter zu zeichnen; die dramatischen Helden fallen beständig aus der

Rolle, schreien mit polterndem Pathos die Empfindungen des Dichter­

in die Welt hinaus. Ton

Wie kunstvoll dagegen weiß SeverinuS den leichten

der eleganten Reisebeschreibung

zn treffen;

die Reisenden

dieser

nüchternen Epoche, noch unberührt von der gefühlsseligen Landschaft-be­

geisterung moderner Touristen, ergehen sich ja allesammt in der Schilde­ rung von Sitten, Volk-wirthschaft und Verfassung-verhältnissen.

So na­

türlich klingt die spöttelnde Rede de- weltkundigen Italiener-, der, selber

glaubenlo-, um der politischen Herrschaft willen an der römischen Kirche Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft«.

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festhält, daß noch heute die Erklärer des Buchs manchen ironischen Aus-

spruch

des SeverinuS für PufendorfS eigene Meinung halten.

Knapp

und klar, scharf und streng sachlich eilt die Darstellung dahin, .seltsam abstechend von der breitspurigen Förmlichkeit der Zeitgenossen, unwider­ stehlich siegreich, also daß der Leser hinter jedem Satze ruft: so ist eS!

SeverinuS redet mit der ganzen Zuversicht des eingeweihten Kenners, fer­ tigt alle Einreden rasch ab mit einem entschiedenen cordatioribus non difficulter subolet oder stupidus

sit qui non animadvertat.

Sein

Latein ist keineswegs elegant, doch überaus lebendig und ausdrucksvoll;

nur wer eine gebildete Sprache vollkommen beherrscht kann ironisch sprechen, in deutscher Sprache war ein Buch dieses Schlages damals noch unmöglich. Ergreifend bricht zuweilen ans der leichten Rede ein starker Naturlaut poli­

tischer Leidenschaft, vaterländischen Stolzes hervor: auch der Veroneser hat seine Freude an diesem ehrlichsten der Völker, an diesen treuen und tapfe­ ren Menschen, die sich so leicht regieren lassen — was in dem Munde

ein hohes Lob ist.

des Absolutisten

Immer liegt

ein

eigenthümlicher

Zauber über dem Erstlingswerke eines bedeutenden Mannes, der während der gährenden zwanziger Jahre enthaltsam geblieben und erst in der vol­

len Reife deö Geistes mit einer grösseren Arbeit auf den Markt hinaustritt; solche Bücher scheinen keinem Alter anzugehören.

im SeverinuS

der

jugendliche Uebermuth

eines

So verbindet sich

zweiunddreißigjährigen

Mannes mit reifer Welterfahrung und tiefer Gelehrsamkeit. Pufendorf hatte die Handschrift schon im Jahre 1664 vollendet und

legte sie seinem Kurfürsten vor.

Der freute sich des feinen Spottes, sah

mit weltmännischer Gelassenheit darüber hinweg, daß der herbe Tadel des SeverinuS wider die auswärtigen Verbindungen deutscher Kleinfürsten auch

den Pfälzer Hof traf,

und hat vielleicht sogar einige Pinselstriche hinzu-

gefügt zu der getreuen Schilderung der geliebten geistlichen Nachbarn. Von

selbst versteht sich, daß auch Bruder LaeliuS in Paris den Schatz seiner

diplomatischen Erfahrungen geöffnet und mit boshafter Geschäftigkeit aller­ hand kleine Züge aus dem Hofleben beigesteuert hatte. Doch das Impri­ matur für die gefährliche Schrift konnte der Pfalzgraf vor kaiserlicher Majestät nicht verantworten; er bestand darauf, das Buch solle im Aus­ lande und ohne den Namen des Heidelberger ProfefforS gedruckt werden.

So mußte wieder der gewandte Efaias aushelfen.

Er gab die Handschrift

einem Pariser Censor, dem Historiker Mezerai. Der aufgeklärte Franzose

vertheidigte jedoch,

wie sein Rabelais, die Freiheit des Gedankens nur

juequ’au feu — exclusivement, und erwiderte: „das Buch ist vortrefflich, aber die Pfaffen würden mich in dieser Welt verdammen, für daS Jen­ seits fürchte ich sie nicht".

Der SeverinuS erschien endlich nach jähre-

langem Umherwandern bei einem Haager Verleger, natürlich unter einer falschen Firma, wie fast alle die verwegenen Schriften der europStschen Opposition, die in Hollands freier Presie eine Zuflucht fanden.

Ein Aufschrei der Entrüstung empfing „das monströse Buch", da- sich

erdreistete die vollkommenste Verfassung des Welttheils für ein Monstrum zn erklären. Die nächsten Jahre brachten eine Fluth von Gegenschriften. Bald

wurde das anstößige Libell verboten, und sofort stieg der Absatz, wie Pufendorf vorausgesagt; Drucker und Nachdrucker überschwemmten den Markt mit vielen tausend Exemplaren.

Alle Welt suchte nach dem Berfaffer.

Dem

jungen Samuel Pufendorf wollte Niemand eine solche Fülle praktischer

und theoretischer Kenntnisse zutrauen; für den unverkennbar jugendlichen Ton deS SeverinuS hatten die Pedanten kein Ohr. Man rieth auf EsaiaS,

auf Conring, , auf den Kurfürsten von der Pfalz; die stumpfe Kritik der

Gelahrtheit bemerkte nicht, daß die ketzerische Schrift weder schwedisch, noch französisch, noch pfälzisch, sondern deutsch war. Dem Freiherrn von Boine­ burg, so schreibt er selbst, „standen alle Haare zu Berge", da man auch

ihn, wegen jener ironischen Lobsprüche deS SeverinuS, als den Verfasser deS Libelle bezeichnete.

Endlich geriethen die Spürer doch auf die rechte

Fährte, und jeder Zweifel mußte schwinden, seit Pufendorf öffentlich den

SeverinuS vertheidigte und kurzab aussprach: „die Schrift wird ihre Stelle in der Nation behaupten, so lange die Freiheit der Reichsstände und der evangelische Glaube bestehen!"

Und so geschah eS.

Als daö Buch herauskam, hat allein Conring

gewagt den Lästerer zu vertheidigen; angezogen von der Wahlverwandt­ schaft des genialen Kopfes,

gab er einmal feine natürliche Zaghaftigkeit

auf und erklärte, dies herrliche Werk stehe in der deutschen Literatur

ohne Gleichen da.

Nach und nach verstummte das Gebell der kleinen

Kläffer, und die Gedanken des SeverinuS fanden in der Stille ihren

Weg.

In den ersten Jahren deS achtzehnten Jahrhunderts ließ Gund­

ling den SeverinuS im Auftrage der neuen Berliner Akademie wieder drucken; auch Thomasius veranstaltete eine neue Ausgabe, die er seinen

staatsrechtlichen Vorlesungen an der Universität Halle zu Grunde legte.

Der Name des Geschichtschreibers des großen Kmfürsten war in Bran­

denburg längst zu hohem Ansehen gelangt.

In diesen preußischen Kreisen

blieb PufendorfS Ansicht von deutscher Geschichte und Reichspolitik noch lange lebendig; ihre Nachwirkung ist noch in den Schriften Friedrichs des

Zweiten erkennbar.

Der große König hat den SeverinuS sicherlich nie

gelesen und, nach hoher Herren Weise, Pufendorf wie so viele andere Hel­ den deS deutschen Geiste- kurzweg unter die langweiligen Pedanten ver­ wiesen.

Doch man kennt Friedrich- Vorliebe für Thomasius, der ganz in

PufendorfS politischen Ideen lebte; und schlagen wir jene geistreiche Ueber­ sicht der deutschen Geschichte auf, die in die mömoires de Brandebourg

verwebt ist, so begegnen unS fast in jedem Satze die Gedanken des tapfern

Sachsen wieder, ohne wissenschaftliche Vertiefung, aber mit staatsmännischer Berechnung auf ein praktisches Ziel hin gerichtet: dieselbe rationalistische

Gleichgiltigkeit gegen das alte Kaiserthum,

dieselbe Geringschätzung der

leeren Formen des Reichsrechts, derselbe Hohn wider die geistlichen Fürsten,

derselbe Haß gegen Oesterreich, neben der nüchternen Erkenntniß, daß nur eine ebenbürtige deutsche Macht den Waffengang wider daS Kaiserhaus

wagen dürfe, dieselbe stolze Abweisung aller auswärtigen Einflüsse, endlich dieselbe Ueberzeugung von der Lebenskraft der größeren weltlichen Staaten. Weil Pufendorf die Dinge sah wie sie waren, darum konnten seine

Gedanken fortwirken so lange daS Reich bestand; und weil es in dieser

schattenhaften ReichSverfaffung so schwer war die Wirklichkeit vom Scheine

zu unterscheiden, darum blieb das alte Deutschland so trostlos arm an großen Pnblicisten.

Ueberblicken wir daS gesammte achtzehnte Jahrhundert,

so finden wir treffliche Erforscher deS ReichSrechtS in stattlicher Anzahl, von dem alten Moser bis auf Pütter und die Göttinger Juristen;

auch

freimüthige Tadler einzelner Mißbräuche, wie Schlözer und Karl Friedrich Moser, und geistvolle Kenner deS Volkslebens wie Iustus Möser; doch

wo ist in dieser langen Reihe stattlicher Namen ein Publicist großen Stiles,

der, dem SeverinuS gleich, die Grundschäden deS heimischen StaatSlebenS aufgedeckt,

den Finger in die Wunden feines Volks gelegt hätte? Ich

kenne nur Einen:

Friedrich den Großen, dessen politische Schriften mit

ihrer grausamen Wahrhaftigkeit wie Eichen über niederem Gestrüpp auS der Publicistik deS Zeitalters emporragen — und allenfalls den geistreichen

Schüler des Königs, den Grafen Hertzberg.

Erst als die Stürme der

Revolution die alte deutsche Welt aus den Fugen hoben, da begann jener

Geist schöpferischer Kritik, der in unserer Kunst und Philosophie schon längst erwacht war, auch auf dem Gebiete der politischen Theorie Funken zn

schlagen, und in Friedrich Gentz erstand unS wieder ein mächtiger Pub­

licist, der das Wirkliche zu sehen vermochte.

Wer dem SeverinuS gerecht werden will,

der vergleiche was der

erste wissenschaftliche Kopf der Epoche, Leibnitz, über die Reichspolitik ge­ schrieben. Wie schwer hat sich doch die Gegenwart an diesem Denker ver­ sündigt!

Klingt eö nicht unglaublich, daß unsere gelehrte Nation noch keine

GesammtauSgabe seiner Werke besitzt?

Akademie

die

Ehrenpflicht

Denkmal zu setzen?

fühlen,

Sollte nicht endlich die Berliner

ihrem Stifter

das

einzig

würdige

Und ist eS nicht fast ebenso traurig, daß der uner­

freulichste Theil seine- Wirkens, seine politische Thätigkeit, bisher nur von

zwei so ganz unpolitischen Köpfen, wie Guhrauer und Edmund Psteiderer,

eingehend geschildert wurde?

Die unverständigen Lobsprüche dieser wohl­

meinenden historischen Dilettanten fordern geradezu den Spott heraus; Beide halten für Gewissenspflicht, so oft sie vor Leibnitz auf die Kniee fallen, zuerst an Pufendorf einen Fußtritt zu verabreichen.

Leibnitz stand

auf einer Höhe, wo sich das Wort erfüllt: „Alles verstehen heißt Alles

verzeihen."

Er wußte, wie kaum ein anderer schöpferischer Denker, die

revolutionäre Kraft des Genies mit überlegener Milde zu verbinden, und

suchte die prästabilirte Harmonie, die e.r in dem Weltganzen ahnte, auch in den endlichen Kämpfen des Menschenlebens wtederzufinden.

So mit

der Stimmung des Vermittlers und Versöhners trat A ein in die zer­

fahrene Welt der deutschen Politik, wo nur die radikale Härte einseitigen Entschlusse- frommte.

Sein großer Sinn strebte zum Ganzen, er wollte Er beneidet die Männer, denen Gott zum Ver­

leben für das Allgemeine.

stände auch die Macht gegeben,

als „die principalsten Instrumente der

Vorsehung", und strebt mit brennender Sehnsucht hinaus aus dem Schatten

der Forschung „in da- Licht der Staat-geschäfte."

Und doch, dort im

Schatten hat er Unsterbliches gethan, hier im Lichte ward er von kleineren

Geistern übertroffen. Der große

unterlag

Denker

einer wunderlichen

wenn er sich zu politischem Wirken berufen wähnte.

Selbsttäuschung,

Das ehrgeizige Ver­

langen nach einer Thätigkeit, die feiner Begabung widerstrebte, verwickelte

ihn in das gewissenlose Ränkespiel erbärmlicher kleiner Höfe. stete Treiben hat feinem Charakter manche Sünden Zeit,

manche Untugend des zweideutigen Abenteurers

Dieö un­

der verkommenen

ausgeprägt;

den

Menschen Leibnitz rückhaltlos zu lieben ist ebenso unmöglich wie seinen Genius nicht zu bewundern. bilden, war ihm befchieden.

Keine der Kräfte, die den großen Politiker Ihm fehlt der streitbare Muth.

Er hat alle

seine politischen Schriften namenlos oder unter falschem Namen erscheinen

lassen, um ihnen eine unbefangene Aufnahme zu sichern und „sich nicht so

viel Haß und Neid zuzuziehen"; dieser vornehme Widerwille gegen „den wenig

liebenswürdigen Namen der Eris" ehrt den gelehrten Forscher, doch der politische Mann will nur im Kampfe leben.

des politischen Denkens.

Ihm fehlt auch die Methode

Eine proteische Natur, ein Virtuos in der Kunst

des Anempfindenö, wunderbar befähigt den Standpunkt zu wechseln Und in grundverschiedene Anschauungen sich hineinzudenken; zudem vielleicht der größte Weltbürger, der je gelebt hat, beständig in regem Verkehre mit allen

neuen

Gedanken des Auslandes,

das

seinem rastlosen Geiste reichere

Nahrung bot als sein verödetes Vaterland:

so konnte er fast auf allen

Gebieten menschlichen Wissens eine Saat ausstreuen, deren Früchte noch

heute nicht alle eingeheimst sind, er mochte auch wohl in geistsprühendem höfischem Gespräche einem andächtig lauschenden Staatsmann eine Fülle

neuer politischer Gesichtspunkte eröffnen.

Solche geniale Vielseitigkeit ist

das genaue Gegentheil von der Gesinnung des Publicisten,

der auf den

Willen wirken, mit gesammelter Kraft alle Gedanken auf ein klar begrenztes, erreichbares Ziel richten soll.

Dem Philosophen fehlt sogar, wenn wir

schärfer prüfen, die tiefe, leidenschaftliche Theilnahme an dem Leben des StaateS;

er steht zu hoch für einen Publicisten, feine Gedanken fliegen

weit über den Staat hinaus. dieser Seele sich regten,

So lebhaft Ehrgeiz und Vaterlandsliebe in

und so bedeutsam LeibnitzenS reiche juristische

Bildung auf die Entwicklung seiner Ideen eingewirkt hat: der Mittelpunkt seiner Gedanken war doch nicht der wirkliche Staat in seiner endlichen

Bedürftigkeit, sondern, wie dem Philosophen geziemt, „das Reich Gottes", die ideale Einheit des Menschengeschlechts.

Nur als ein Bruchtheil dieser

allumfaffenden spiritualistischen Ordnung gewinnt ihm das staatliche Leben Werth und Bedeutung; Staat und Kirche, Recht nnd Sittlichkeit vermischen

und verschlingen sich unzertrennlich in seinem Geiste, während das praktische

Bedürfniß der Zeit darnach drängte, die weltliche Natur deö Staats von theologischer Verbildung zu erlösen.

Auch Leibnitz hatte, wie Pufendorf, in jungen Jahren den engherzigen Kleinsinn der Zunftgelehrten erfahren, als die Leipziger Juristen um seiner

Jugend willen ihm den Doctorhut versagten; er sah sein Lebelang mit der Ironie des Hofmanns auf die akademischen Pedanten herunter, wollte

die Universitäten gern in die Hanptstädte verlegen um Gelehrsamkeit und

Weltbildung zu versöhnen.

So leidenschaftliche Kämpfe mit der zünftigen

Wissenschaft, wie sie seinem streitlustigen Landsmanne bevorstauden, blieben er hat niemals gebrochen

mit den Anfängen seiner

ihm doch

erspart;

Bildung.

Er war ausgewachsen in den Anschauungen deS rechtgläubigen

LutherthumS und bewahrte sich auch, als feine Kritik die höchsten Flüge wagte, mitten im weltlichsten Leben eine innige Frömmigkeit; die Religion

allein vermochte feinem prosaischen Geiste zuweilen einen poetischen Klang zu entlocken, wie jene tief empfundenen Zeilen: Laß' die matte Seel' empfinden

Deiner Liebe süßen Säst.

Schon in früher Jugend war er mit den Werken der alten und neuen

Scholastik vertraut geworden, namentlich mit dem „Anker der Papisten", Suarez; und wie denn gemeinhin Jugendeindrücke in genialen Naturen

sehr fest zu haften pflegen, so blieb ihm fortan eine hohe Achtung für die alte Kirche.

Für den großen Zweck der Wiedervereinigung der Christen­

heit war er bereit, den conservativen Mächten der lutherischen und der

römischen Kirche sehr weit entgegenzukommen, obgleich er sich selber immer seinen evangelischen Glauben und die volle Freiheit der Forschung vorbe­

hielt.

Auch die politischen Gedanken, die ihn in Leipzig umfingen, hat er

niemals gänzlich aufgegeben, er verstand nur nach seiner vielbeweglichen Art ganz verschiedene Ideen damit zu verschmelzen.

Der Kurfürst von Sachsen

blieb ihm noch lange sein verehrter „natürlicher Herr", die alte kursäch­

sische Ehrfurcht vor dem löblichen Hause Oesterreich und dem Heiligthum der Reichsverfassung verließ ihn nie, so scharf er auch die Gebrechen des

Reichs durchschaute.

Sein Staatöideal war theokratisch;

er träumte von

einem heiligen römischen Reiche, das einmüthig geleitet vom Papst und

Kaiser die befriedete Christenheit umschließen sollte.

Welch ein Verhängniß nun, daß dieser vielseitige Geist noch in seinen be-

stim mbareu Jugendjahren an jenen ixenischen Mainzer Hof verschlagen wurde,

wo man die Knust verstand den VaterlandSverrath mit schwungvoller na­ tionaler Begeisterung zu betreiben. Hier unter den Helden der reichspatrioti­ schen Phrase ist Leibnitz in doktrinäre Phantasterei versunken; er blieb seit­

dem außer Stande Macht und Ohnmacht in der Politik zu unterscheiden.

Er

begeistert sich für den freisinnigsten aller Kirchenfürsten, der

bei

einst

den Friedensverhandlungen' zu Osnabrück so viel Duldsamkeit bewiesen und soeben

eine deutsche Bibelübersetzung im

goldenen Mainz

drucken

ließ; er will in unterthänlger Verehrung sogar die Aufsicht über das gesammte deutsche Bücherwesen dem Mainzer Kurfürsten übertragen, auf

daß fortan alle Angriffe gegen das Reich und die römische Kirche, gefähr­ liche Bücher wie der HippolithuS und SeverinuS „mehr und mehr ringe-

Alle die windigen Projekte, die der vielgeschäftige geist­

spamt" werden.

liche Herr den großen Mächten aufdrängt, nimmt sein gelehriger Schüler

für baare Münze;

er redet sich ein, der Erzkanzler sei als vornehmster

Reichsfürst auch der wichtigste und mächtigste. Er preist Johann Philipp, der.auf feinen

starken

Schultern daö Schicksal des Welttheils trägt,

feiert Boineburg als den Hercules dieses Atlas und singt dem Klein­ fürsten z«: „schirme den Frieden Europas und gieb ihm dauernde Ruhe!"

Der Rheinbund, den Pufendorf als eine gefährliche Spielerei verdammt, erweckt die brünstige Bewunderung seines jüngeren

Landsmanns;

für

jede Unart des Kleinfürstenthums findet der Vielgewandte eine bequeme Entschuldigung:

„Sonderbünde find Gist für einen gesunden Körper,

Arznei für den kranken Leib des deutschen Reichs!"

Dann hofft er selbst

durch einen Sonderbund deutscher Fürsten den Häusern Bourbon und

Habsburg Frieden zu gebieten und entwirft das bekannte Bedenken über

die securitas publica deS Reichs — eine Denkschrift, die mit allen ihren geistreichen Einfällen doch in der leeren Luft schwebt; nirgends verfällt

der Philosoph auf die entscheidende Frage: ob ein solcher Bund ohnmäch­ tiger, zwieträchtiger nnd zumeist von Frankreich bestochener Kleinfürsten nicht nothwendig ein Werkzeug des LandeSverratheS werden müsse?

Als nun die begehrlichen Pläne des Versailler HofeS gegen Holland und

die Rheinlands klarer und klarer hervortraten, da schreibt der Unermüd­ liche seinen „ägyptischen Plan", der für den weiten geschichtsphilosophi­

schen Horizont des Denkers ein ebenso beredtes Denkmal bleibt wie für

seine praktische Unfähigkeit.

Leibnitz hofft den allerchristlichsten König zu

gewinnen für die Eroberung Aegyptens, für einen Vernichtungskrieg gegen Frankreichs natürliche Bundesgenossen, die Türken, und ihn also abzu­

lenken von der lockenden Beute, die am Rheine dicht vor der Spitze seines Schwertes liegt.

Er verheißt ihm nach der Niederwerfung der OSmanen

die Herrschaft auf dem Mittelmeer, die Feldherrnschaft der Christenheit,

das Schiedsrichteramt der Welt und die erbliche Kirchenvogtei — immer mit dem stillen Hintergedanken, am letzten Ende werde der Kaiser diese

seine alten Rechte gegen den betrogenen Franzosen behaupten.

Dann eilt

er nach Paris seinen untrüglichen Plan der Krone Frankreich

zu em­

pfehlen, empfängt die kühle Antwort, seit Ludwig dem Heiligen seien die Kreuzfahrten aus der Mode gekommen, und singt dem unbelehrten Könige klagend zu:

„Gelten Dir statt des Nils wirklich die Jll und die Saar?"

Das Verderben rückt näher, Holland wird von Ludwigs Truppen über­

fallen, der Brandenburger allein unter den zaudernden und bestochenen Fürsten des Reichs

erkennt

den Ernst der Stunde, wirft sein kleines

Heer den Franzosen entgegen.

Und in solchem Augenblicke schickt Leibnitz

seinen Mainzer Gönnern die Denkschrift de castigando per Saxonem Brandenburgico, ein Meisterstück politischer Treulosigkeit, das Häßlichste, waS je aus seiner Feder floß.

Der irenische Politiker zürnt, weil die

groben Naturalisten in Berlin den Tiefsinn seines ägyptischen FriedenS-

planeS nicht verstehen wollen;

darum

sollen sie gezüchtigt werden,

an

Brandenburg nnd Holland soll die Welt erfahren, daß „man den König

von Frankreich nicht ungestraft beleidigt."

Der Brandenburger ist der

natürliche Feind von Frankreich, weil er die Schweden bekämpft — von Mainz, weil er die Führung der deutschen Protestanten an sich gerissen —

von allen größeren deutschen Staaten, mann bedroht.

weil seine Machtstellung Jeder­

Also muß Kursachsen ihm in die Flanke fallen, so lange

sein Heer noch am Rheine kämpft;

der christlichen Kirche entblödet sich

und der Schwärmer für die Einheit nicht, sogar den Glaubenshaß der

sächsischen Lutheraner gegen die reformirten Märker in die Waffen zu

rufen.

Vielleicht gelingt es dann, dem Brandenburger einige Provinzen

abzunehmen und ihm möglichst entlegene Gebiete, etwa in Holland, dafür

ut dispersior eit potentia.

zu geben,

Dabei regt sich immer wieder

die Thatenscheu der Mainzer Jreniker; diesen politischen Dilettanten ist es niemals ganzer, schwerer Ernst mit der Staatskunst.

Wie drohend

Leibnitz redet, er hofft doch, schon die Rüstung KnrsachsenS, solus armorum terror werde genügen, die Franzosen von dem dreisten Brandenburger

zu befreien.

DaS Alles mit tiefer, lauterer vaterländischer Begeisterung!

Man begreift, wie verletzend die schonungslose Schärfe des SeverinuS

diesen Mann der allbereiten Vermittlung berühren mußte.

In Leibnitz

und Pufendorf verkörpern sich zwei Seiten des obersächsischen Charakters: dort zu bezaubernd geistvoller Liebenswürdigkeit gesteigert die glatte, schmieg­

same Feinheit, die in dem Stamme überwiegt, hier jener schroffe WahrheitStrotz, der, in natürlichem Rückschläge, zuweilen einzelne Söhne des Landes beherrscht hat. Leibnitz verdammte den SeverinuS als ein freches Pasquill, schrieb bittere Noten dazu, die er sich vorsichtig hütete herauSzu» geben, kam in Briefen und Schriften häufig auf das verhaßte Buch zurück.

WaS er aber selber der Ketzerei seines Landsmannes zu entgegnen weiß,

ist überraschend schwach, Urtheil.

auch für daS leidenschaftslose wissenschaftliche

Um nur nicht aufgeschencht zu werden aus der holden Selbst­

täuschung, die Pufendorf mit grausamer Hand zerstörte, nimmt der tiefe Denker alle die hohlen Schlagwerte der politischen Scholastik wieder auf,

die Jener gröblich als Albernheiten verwarf.

Wer mag es ohne Beschä­

mung lesen, wenn ein Mann von solchem Geiste feierlich niederschreiht, die Weissagung DanieliS von der vierten Monarchie sei „das Fundament"

des deutschen Reichs?

Welch ein faunischeö Lächeln mag dabei um seine

feinen Lippen gespielt haben!

Dem scharfen klaren Souveränitätöbegriffe

PufendorfS hält er die Phrase entgegen:

„Die Souveränität besteht nicht

in der Macht, sondern in der Ehre, die Majestät ist dem Rufe ähnlich" (majestas est similis existimationi).

So geht es fort in unklaren bild­

lichen Redewendungen; die Sätze schillern in allen Farben, schielen nach jeder Seite.

DaS Reich ist ein wirklicher Staat, da dem Kaiser daS domi­

nium über die Fürsten zusteht, freilich ein unregelmäßiger Staat, der

eines Willens zwar bedarf, doch ihn nicht immer hat.

Die kaiserliche

Gewalt scheint aus der päpstlichen Gewalt zu entspringen, wie aus ihrer

Ursache (tanquam causa), nicht.

sie bedarf der absoluten Machtvollkommenheit

Vielmehr läßt sich Einheit und Freiheit wohl verbinden, wenn nur

Eintracht besteht zwischen Haupt und Gliedern und „die uralte heilsame

Mixtur" der Reichsverfassung getreulich bewahrt wird. Während er also die Staatsgewalt des Reichs in leere Redensarten

anflöst, träumt er zugleich überschwänglich von Deutschlands ungeheurer

Macht: die Schweizer und Niederländer werden zum Reiche zurückkehren,

auch die Italiener, unsere Vasallen, werden den Regensburger Reichstag

beschicken, sobald sie ihren Vortheil recht erkennen.

er sich vor dem Hause Oesterreich;

beugt

In tiefer Ehrfurcht

da- alte Anagramm pello

duos, das die Wiener Jesuiten so oft zur Verherrlichung verschiedener habsburgischer Leopolde

angewendet, kehrt bei Leibnitz wieder:

Kaiser

LeopolduS wird Türken und Franzosen, die beiden Todfeinde Deutschlands

zugleich verjagen; sein Oesterreich ist unsere Vormauer gegen die Bar­ baren des Ostens, und „der Oesterreicher Treue um so mehr zu loben,"

da sie durch ihre Privilegien der Reichspflichten entbunden sind.

Das

einzig Feste in diesem phantastischen Durcheinander ist die Ruheseligkeit,

die sich mit sanften Worten über die entsetzliche Fäulniß deö heimischen StaateS hinwegzureden weiß. Ueberall bewährt sich, daß der große Philosoph kein Politiker war;

ungleich wichtiger als der irdische Staat bleibt ihm die res publica una der Christenheit mit dem Papst als Primas und dem Kaiser als Schwert­ Bezeichnend

träger.

für

die wunderliche Allseitigkeit des Mannes ist

schon der Titel der Schrift, die er nachher im Dienste der Welfen heraus­

gab: Caesarinus Fürstenerius.

Hier versucht er dem Kaiser das Seine zu

geben, aber auch den Fürsten, geißelt die Sünden der deutschen Libertät und

vertheidigt zugleich das unselige Recht, worauf diese Libertät wesentlich ruhte, die selbständige auswärtige Politik der kleinen Höfe. sein politisches Schaffen in späterer Zeit,

Erfreulicher erscheint

als die deutschen Dinge sich

etwa« klärten und die Reichskriege gegen Frankreich begannen.

Damals

hat er in zahlreichen Flugschriften seine warme Vaterlandsliebe, seinen Haß gegen den übermüthigen Friedensstörer ausgesprochen. der Nation zu packen gelang ihm doch niemals.

DaS Gewisien

Er lernte nie die Kunst

deS Publicisten, ohne Umschweife auf daS Ziel loszugehen, und stets von Neuem überkamen ihn die alten phantastischen Liebling-gedanken.

Noch

immer hofft er die Macht Frankreich- vom Rheine ab gegen die Türken

zu lenken, noch immer preist er den Jammer der deutschen Verfassung: „da- Reich ist wohlgeordnet und in unserer Macht steht eS glückselig zu

sein".

So ist die publicistische Wirksamkeit de- großen Manne- für da-

nationale Leben leider völlig unfruchtbar geblieben, unschätzbar freilich für den Historiker, denn schlagender al- an den Irrfahrten diese- gewaltigen Geiste- läßt sich der rettungslose Zerfall deS alten deutschen Staates nicht

erweisen.

Von Pufendorf ist uns, so viel ich sehe, kein einzige- Wort über den rastlosen Gegner erhalten. Der streitbare Mann war völlig neidlos, eine

hochherzige Natnr, bereit jedes fremde Verdienst freudig anzuerkennen, ganz

frei von jener mäkelnden Grämlichkeit, welche damals mit dem einbrechen-

den Philisterthum den alten großen Sinn unseres Volke- zn entstellen be­

gann; er wußte auch in der Hitze des Streites zur rechten Zeit die Stimme

zu senken und zu heben, behandelte geistreiche Feinde ganz anders als pfäffische Eiferer.

Daher dürfen wir wohl vermuthen, daß er absichtlich

vermieden hat sich zu messen mit einem politischen Gegner, der auf anderen Gebieten so bewunderungswürdig war.

Leibnitz hingegen verfuhr kleinlich

und unwahr wider den verhaßten Neuerer.

Er hat nicht nur höchst un­

gerecht über Pufendorfö Werke abgeurtheilt, wollte ihm nicht- zugestehen

al- etwas Scharfsinn und eine gewandte Feder; er scheute sich auch nicht, alle die albernen Klatschgeschichten, welche die erbitterten Orthodoxen von

ihrem

tapferen Feinde berichteten,

geschäftig umherzutragen.

Schon in

jungen Jahren erzählt er schadenfroh, die Elemente, seien aus Weigel'S Heften abgeschrieben, der SeverinuS aus ConringS Werken.— abgeschmackte

Märchen, worüber Weigel und Conring selbst nur lächeln konnten.

Und

lange nach Pufendorfö Tode versichert er noch, der arge Mann sei durch

einen rechtzeitigen Tod dem Zorne seines Königs entrissen worden — was

sich wiederum als eine grobe Unwahrheit herausstellt.

Darum verdient

eS auch wenig Glauben, wenn Leibnitz ein andermal ohne Angabe der Thatsachen behauptet, Pufendorf habe sich treulos erwiesen bei einem Ge­

schäft, das ihm der Philosoph für den Stockholmer Hof aufgetragen. Bon Falschheit liegt gar nichts in Pufendorf'S herrisch schroffem Wesen, und

wir müssen bi- auf besseren Beweis annehmen, daß auch hier wieder ein Mißverständniß obgewaltet hat oder eine der zahllosen Zwischenträgereien, welche unter dem klatschsüchtigen Gelehrtengeschlechte jener Zeit umliefen.

AlS Publicist übertraf der Berfaffer deS SeverinuS den großen Denker

durch wüthigen Gradsinn, Bestimmtheit der Rede, Schärfe der Begriffe; er übertraf ihn, gerade well fein Geist minder reich, reizbar und umfassend

war als das Genie des Philosophen.

Da Leibnitz die politische Ueberle-

genhett deS Gegners im Stillen fühlen mochte, so hat sich sein Widerwille

gegen den Störer des Reichsfriedens bis zu krankhafter Gehässigkeit ver­ härtet.

Unterdessen wimmelten die kleinen Ameisen

der ReichSrechtSwiffen-

schaft, aufgestört durch den Fuß deS SeverinuS, geschäftig hin und her. ES

lohnt der Mühe nicht, die abschreckend langweiligen und geistlosen

Schriften aufzuzählen, die jetzt in rascher Folge gegen das monströse Buch in die Schranken traten.

Ergötzlich nur, wie vornehm diese kleinen Leute

,',ben wälschen Sophisten" von oben herunter abfertigen. Da giebt Andrea-

Oldenburger unter dem Namen PacificuS a Lapide den SeverinuS noch einmal heraus und kanzelt den Verfasser in schulmeisternden Anmerkungen

mit verächtlichem ohe! und mi homo! ab.

Da fragt der pseudonyme

Teuteburg, wie nur dieser profane Wälsche Uber den leeren Titelprunk VeS KaiserthumS spotten könne: deS Reiches Stände sind doch, wie mim-

niglich bekannt, sehr vornehme Herren, und der Kaiser unbestreitbar noch

viel vornehmer!

Da beweist der Leipziger Schaarschmidt, die Souverä­

nität sei ein Wahnbegriff (majestatem esse non-ens), und das heilige Reich mit seiner unfindbaren souveränen Gewalt erfreue sich blühender Gesund­

heit — eine bequeme Theorie, die sich nahe berührt mit dem Leibnitzischen Satze,

die Souveränität bestehe in der Ehre.

Da zetert ein frommer

Lutheraner: der frivole Heidelberger hat seinen evangelischen Glauben verra­ then, indem er unter der Maske eines Papisten schrieb!

Ein Regensburger

Jurist des Namens Prasch veröffentlicht gar geheime Briefe des Seve-

rinus, läßt darin den Italiener reuig feine Ketzereien zurücknehmen und demüthig bekennen: jetzt weiß ichs besser, das-heilige Reich ist wirklich ein

musterhafter „gemischter Staat." In zwei geharnischten Dissertationen hat Pufendorf solche Angriffe

zurückgewiesen*) und

seine Auffassung wissenschaftlich

tiefer begründet.

Diese beiden Abhandlungen „über die Staatenverbindungen" und „über

den unregelmäßigen Staat" zählen noch heute zu dem Besten, was auf dem phrasenreichen Gebiete der Lehre von den Foederationen geleistet worden

ist.

Unerbittlich

stellt er dem verschwommenen Gerede vom gemischten

Staate den schroffen Satz

entgegen: jeder geordnete Staat bedarf der

Einheit des politischen Willens (unitas voluntatis publicae), er bedarf einer höchsten Gewalt, die wie König Gustav Adolf Niemanden über sich anerkennt als allein Gott und das Schwert des Siegers (neminem nisi

Deum et ensem).

In der Gliederung der Staatsbehörden und Ber-

faffungSorgane kann wohl eine Mischung von monarchischen, aristokratischen

und demokratischen Grundsätzen sich zeigen; aber die Frage: wer der Sou­

verän sei, wem die höchste Gewalt zustehe, darf in einem gesunden Staate nicht zweifelhaft bleiben.

„Die Untheilbarkeit der Souveränität ist nicht

ein scholastisches Dogma, sondern der allerwichtigste Lehrsatz der StaatSwissenschaft.

Darum sind nur zwei regelmäßige Formen deS zusammen­

gesetzten StaateS möglich: das monarchische Reich und der Bund souve*) Wenn S. Brie (Geschichte der Lehre vom Bundesstaate S. 22) stch verwundert, daß Pnftndorf neben so vielen unbedeutenden Gegnern den geistreicheren Ludolph Hugo nicht erwähnt, so hätte er die Erklärung schon aus den Jahreszahlen ent­ nehmen können. Der Verfasser deS Severinus fertigt nur die Einwendungen ab, welche gegen sein Buch erhoben wurden; Hugo's Regiones aber waren schon sechs Jahre vor dem SeverinuS erschienen. Auch konnte Pufendorf trotz seiner Seher­ gabe doch unmöglich voraus wissen, daß der Versuch deS jungen Helmstädter Doctors, die verfallene Verfassung des alten Reichs theoretisch zu coustruiren und zu rechtfertigen, zweihundert Jahre später unter dem neuen Reiche von einem ge­ lehrten Kenner des deutschen StaatSrechtS als der glänzende Ausgangspunkt der allein wahren BundeSstaatS-Theorie gefeiert werden würde.

räner Staaten.

Entweder sind unterthänige Gemeinwesen, die im Innern

einige Selbständigkeit behaupten, dem Befehl« eines monarchischen Ober­ hauptes unterworfen: so im deutschen Reiche zur Zeit seiner Blüthe. Oder souveräne Staaten bilden für ihre gemeinsamen Zwecke eine Bundesgewalt, welche die einstimmigen Beschlüsse der verbündeten Souveräne auöführt,

also unter den Bundesgliedern steht: so in der Republik der Niederlande, die Pufendorf als ein Schüler des GrotiuS durchaus im ©Inne der particularistischkn Staatenpärtei benrtheilt.

Gleich allen seinen Zeitgenossen ahnt er noch nicht, daß noch eine dritte Form der Staatenverbindung möglich ist: der BnndeSstaat, die Unter­

werfung unterthäniger Territorien unter eine souveräne Bundesgewalt, die

unter Mitwirkung der Territorialgewalten gebildet wird; diese kunstreichste Form der Foederation ist ja erst seit dem Entstehen der amerikanischen

Union der StaatSwissenschaft bekannt geworden. Auch verrathen seine Gedanken überall die Härte des Absolutisten, der die unbedingte Bereini­

gung aller Staatsgewalten in Einer Hand erstrebt.

Er versäumt den dehn­

baren Begriff der Souveränität zu zergliedern und nachzuweisen, welche

Hoheitsrechte der Staat nicht aufgeben kaun ohne sich selber aufzugeben. Gleichwohl bleibt ihm der Ruhm, daß er durch seinen harten Souveräui-

tätSbegriff für alle Zukunft den Weg gewiesen hat, der allein znm wiffenschaftlichen Verständniß der Foederationen führt.

Auch die historischen Vor­

aussetzungen deS bündischen LebenS, wofür die formalistische StaatSwissen­ schaft jener Zeit noch gar kein Auge hat, werden von Pufendorf feinsinnig erörtert:

er verlangt für einen kräftigen

Staatenbund Gleichheit der

Sprache, der Sitten, der Jntereffen, und erkennt bereits, daß Republiken leichter als Monarchien einer Bundesgewalt sich fügen können.

Das deutsche Reich, das die Souveränität weder dem Ganzen noch den Theilen unzweifelhaft gewährt, ist und bleibt ihm ein Monstrum, muß über lang oder knrz in einen Staatenbund oder in eine wirkliche Monarchie

sich verwandeln, obwohl die Geschichte manche langlebige Monstra kennt. Während Leibnitz die kaiserliche Macht in Oesterreichs Händen wohl auf­

gehoben sieht und nur zugiebt, in den Tagen Wallensteins seien einige

Mißbräuche vorgekommen, erklärt Pnfendorf rnnd heraus, ein natürlicher Gegensatz der Jntereffen trenne den Kaiser von den Reichsständen, rück­ haltlose Eintracht fei unmöglich in diesem Reiche.

So, mit unbeirrtem

Freimuth, hält er seinem Lande den Spiegel vor und ruft: „eS wäre Feig­

heit, wenn ich mich schrecken ließe durch die Menge der Gegner!" — 30. Mai.

Heinrich von Treitschke.

Die Abtheilung Leges der Monumenta Germaniae historica. In dem letzten Heft dieser Zeitschrift hat Herr Professor Brunner

einige Bemerkungen über „die Umgestaltung der Monumenta Germaniae“

gemacht, die sich vorzugsweise auf die ihm zunächst und besonders am Herzen

liegende Abtheilung der Leges beziehen.

So sehr ich mit manchem über­

einstimmen kann, das da gesagt und gewünscht ist, so finden sich doch auch

Aeußerungen, die, wie ich meine, ans einem Mißverständniß beruhen, ckndere mit denen ich mich in Widerspruch befinde, den ich hier mit

einigen

Worten darlegen möchte.

Zunächst freut es mich mittheilen zu können, daß für die von Brunner in den Vordergrund gestellten Deflderien, eine Ausgabe der Leges Salica

und Bibuaria und eine neue Bearbeitung der Capitularia das erreicht ist, waS gewiß eine ihn und Alle befriedigende Lösung dieser wichtigen Auf­ gaben in Aussicht stellt.

Auch wegen der von Bluhme unvollendet hinter-

laffenen Lex Wisigothorum sind Unterhandlungen angeknüpft, die hoffent­ lich zu einem glücklichen Resultat führen.

Und daß diese Lex weniger

wichtig, kann ich nicht zngeben, wenn sie auch, wie Brunner sagt,

germanistischer Ausbeute sehr dürftig" ist.

„an

Dafür ist sie ein überaus inter­

essantes Denkmal der Verbindung römischer und germanischer Rechts- und Culturverhältnisse,

auf der doch der Fortgang der abendländischen Ge­

schichte beruht und die in ihren verschiedenen Gestalten kennen zu lernen

sicher von nicht geringer Bedeutung ist.

ES kommt dazu, daß die neueste

Ausgabe, wie Bluhme gezeigt, überaus mangelhaft ist, über die allmäh« lige Entstehung und authentische Beschaffenheit des Textes keinen Aufschluß gewährt, wie er aus den Handschriften zu gewinnen ist, während für die

Lex Salica in den Abdrücken von PardessuS und Hubs doch jedenfalls das Material zur Kenntniß auch der Geschichte des Textes vorliegt.

Ebenso wenig kann ich beistimmen, daß „nach einer neuen Ausgabe der Formeln zur Zeit kein dringendes wissenschaftliches Bedürfniß bestehe“.

So verdienstlich die Ausgabe von RoziLre in vieler Beziehung ist, so läßt

Die Abtheilung Leges der Monumenta Gertnaniae historicft.

657

doch die Zuverlässigkeit der Texte zu wünschen übrig, und die Auflösung aller besonderen Sammlungen und Zusammenreihung der einzelnen Stücke

in sichlicher Ordnung hat, bei einigen Vortheilen, doch auch so.entschiedene

Nachtheile, daß eine auf andern Grundsätzen beruhende Bearbeitung gewiß ein Bedürfniß genannt werden kann, dessen Abhülfe Sickel schon für die AuSzabe der Diplomata dringend wünschen muß und ohne Zweifel auch andere wünschen werden.

Brunner ist entweder sehr bescheiden in seinen Ansprüchen oder hat geringe- Vertrauen zu der neuen Direction.

Er meint, sie habe den Vor­

schlag von Dinding, auf Aufnahme der Stadtrechte nicht blos vertagen, lieber ganz abweisen sollen.

Ich habe schon lange, ehe jener mit seiner

Ansicht hervortrat, die Meinung gehegt, daß nichts Wünschenswerther, ja

nöthiger sei als eine Ausdehnung des Unternehmens auf diesen Theil der Rechtsquellen, und freue mich sagen zu können, daß einer der wohl firn»

digsten Arbeiter auf diesem Gebiet, Prof. Frensdorff, darin ganz mit mir übereinstimmt.

Brunner'S Grund, daß ein solcher Plan nur auf andere

abschreckend einwirken werde, kann ich auch nicht gelten taffen. Die deut­ schen Juristen haben in der That Zeit genug gehabt eine solche Arbeit zu

unternehmen, deren Bedürfniß oft hervorgehoben ist, nnd find nicht dazu gelangt.

Die Vorarbeiten sind auch der Art, daß eS in der That einem

Einzelnen sehr schwer werden wird sie zu machen, Zeit und Geld dafür zu gewinnen.

In der historischen Commission zu München ist schon vor

einer Reihe von Jahren der Plan angeregt, mußte aber wegen Mangel an Mitteln und einer geeigneten Leitung zurückgestellt werden.

Wenn jetzt

eine solche in Aussicht steht, was könnte die neue Centraldirection besseres thun, als diese Sache in Angriff nehmen, selbst auf die Gefahr hin, daß

irgend eine Einzelausgabe dadurch aufgehalten würde, wozu übrigens nach meiner Ansicht nicht einmal Grund fein kann.

Hat denn die Fortsetzung

der WeiSthümer durch die historische Commission andere Publicationen ge­ hemmt, nicht vielmehr die der Oesterreichischen durch die Wiener Akademie

und andere gerade veranlaßt?

Ich bin allerdings der Meinung, daß

die Monumenta nicht ausschließlich die Hand auf irgend welche Quellen der Geschichte legen dürfen, sich vielmehr jeder Ergänzung oder Concnrrenz nur freuen können, daß sie andererseits aber auch

ihren Bereich nicht

ängstlich begrenzen sollen, sondern sich für berufen halten müssen,

Arbeiten zur bessern

alle

Kenntniß der Denkmäler deutscher Geschichte zu

fördern, zu leiten, so weit es irgend ihre Mittel erlauben, und eS steht

ja gewiß zu hoffen, daß mit ihren Aufgaben auch die Mittel wachsen werden.

Die Abtheilung Leges der Monumenta Germania® historicä.

658

Brunner erwähnt gar nicht

(Leges II).

der neuen Ausgabe der ReichSgesetze

Und so wichtig dieser Band bei seinem Erscheinen war, doch

weiß jeder, wie dringend hier eine neue Bearbeitung erforderlich ist, die

das Gegebene ergänzen, vervollständigen, auch über die Zeit Heinrich VII.

hinaus bis zu Karl IV., d. h. bis zum Anfang der ReichStagSacten, hinab­ führen muß.

Der Plan dazu ist auch lange schon von dem frühern Leiter aber aus begreiflichen Gründen nicht

der Monumenta selbst entworfen; zur Ausführung gekommen.

Es freut mich sagen zu können, daß sich eine

erprobte Hand auch für diese Arbeit gefunden hat.

ES wird auch noch anderes zu thun, eS wird an eine neue Bear­ beitung eines Theils der erschienenen Leges zu denken sein.

Daß mehrere

unter ihnen das nicht gegeben was man erwarten konnte, ist lange kein Geheimniß; aber kann man Pertz daraus einen Vorwurf machen?

Er

konnte schwerlich mehr thun als Männer wie Bluhme, BoretiuS, Merkel, v. Richthofen für diese Arbeiten gewinnen.

Wenn zwei von ihnen Vorzüg­

liches geleistet, so war eS wohl ein Mißgeschick, wenn zwei andere von bestem Ansehn in der Wissenschaft doch hier kritisch in die Irre gingen.

WaS aber Brunner, mir nicht recht verständlich, „die nicht unwahrschein­ liche Marotte die einzelnen Leges in alphabetischer Ordnung erscheinen zu lassen" nennt, ist allein dadurch herbeigeführt, daß Merkel zuerst mit den

Leges Alamannorum und Bajuvariorum fertig war, und eS nun, um irgend

eine Reihenfolge zu haben,

alphabetischen Folge fortzufahren.

angemessen erschien zunächst in der

Wie wenig aber darauf Gewicht gelegt,

zeigt am besten der Umstand, daß in dem begonnenen 5. Band die Leges

Saxonum und Thuringorum so wie das Edictum Theodorici gedruckt sind, ohne auf die Ribuaria und Salica zu warten.

Dieser begonnene Band muß zuerst abgeschlossen und also hier auf alle Fälle das Folioformat beibehalten werden.

Fehlt dann vielleicht über­

haupt nur noch einer, — denn die Stadtrechte werden natürlich eine Ab­

theilung ganz für sich bilden — sollte man wegen der Bequemlichkeit ein­

zelner Personen

lassen?

eine

angefangene

Serie abbrechen

und

unvollständig

Ich will hier nicht auf die moderne Abneigung gegen das Folio­

format eingehen, die andere Nationen weniger haben als wir, indem die

Franzosen alle

großen Quellenwerke

fortführen wie sie begonnen, die

Italiener ihre Monumenta patriae, Theiner seine Urkundenpublicationen

so haben erscheinen lassen. Ich bemerke nur, daß derselben wohl hinlänglich Rechnung getragen ist, wenn für die neue Ausgabe der Capitularien und

der Reichsgesetze ausdrücklich dasselbe kleinere Format beschlossen ist wie für die neuen Abtheilungen, und dasselbe würde natürlich bei einer zweiten

£)ie Abtheilung Leges der ütonumenta Germaniae historiea.

659

Ausgabe der Volksrechte der Fall fein, so daß zu Brunner's Frage, „was

denn die armen Leges verschuldet", daß sie anders behandelt werden sollen „als die so gut situirten Urkunden", wohl kaum Grund war. Wie ich meine, auch nicht zu der Ansicht, daß diese und andere

Abtheilungen überhaupt besser gestellt seien.

Der Unterschied ist, wie e-

in den verschiedenen Aufgaben liegt, daß diese meist von Einem geleitet, d. h. doch auch zum guten Theil bearbeitet werden sollen, während auf dem Gebiet der Leges für Volksrechte, Capitularien, Formeln, Reichs­ gesetze, Stadtrechte, verschiedene Gelehrte — ich darf ja einige Namen

nennen: Behrend, BoretiuS, FrenSdorff, Loersch, Sohm — selbständig neben

einander arbeiten werden.

Dürfen wir nicht hoffen, daß auf diesem Wege

am sichersten daS erreicht wird was auch Brunner wünscht, und über daS dir neue Direktion nur glaubt noch etwas hinausgehen zu dürfen?

25. Mai 1875.

preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6.

G. Waitz.

45

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.

(Fortsetzung.)

Wright war, wie gesagt, ganz der Mann, der in diesem Sinne nicht allein seine eigene Regierung vorwärts trieb, sondern auch fordernd und

drängend gegen die preußischen Minister auftrat. „Da ich keine Antwort auf die von mir berichteten Fälle erhalten

habe — schrieb er am 21. und 28. September 1858 nach Washington — so muß ich annehmen, daß das auswärtige Amt sich bei den Ansichten der preußischen Behörden beruhigt.

Ich kann deßhalb nicht umhin, unsrer

Regierung vorzuschlagen, daß eS an der Zeit und geeignet sein dürfte, eine

radikale Aenderung zu erwirken, sowohl in Behandlung der Ansprüche der

preußischen Regierung gegen angeblich militärpflichtige amerikanische Bürger, als auch zur Erlangung einiger Hülfe zu ihrem Schutze, wenn sie ohne

vorherige Benachrichtigung, ausgewiesen werden.

geschweige denn Untersuchung aus Preußen

Es ist zur Zeit bekannt, daß Bereinigte Staaten-

Bürger gegen ihren Willen in der preußischen Armee dienen, daß andere in ihr Geburtsland zurückzukehren suchen, welches sie als Kinder verlassen haben, um ihr Vermögen einzuziehen, ihre bejahrten Eltern wiederzusehen oder Über dem Grabe ihres Vaters, weinen. stattet.

wie Einer von ihnen sagt — zu

All daö wird unter dem gegenwärtigen Ministerium nicht ge­

Wäre das unsrer

irischen Einwanderung unter der englischen

Regierung passirt, so würde man wohl ein Mittel dagegen gefunden haben. Warum sollen wir denn keinS gegen Preußen finden? menen Fälle sind zahlreich und müssen sich nach

vermehren.

Die vorgekom­

der Natur der Dinge

Können wir denn keinen Einspruch erheben, in welchem wir

wenigstens einige Ausnahmen von der Regel verlangen?

Kann nicht das

in Preußen geborene Kind, das unter unsrer Flagge zum Manne heran­

gereift ist, in sein Vaterland zurückkehren, seine Verwandten besuchen und seine Geschäfte erledigen, und kann nicht der amerikanische Bürger, der

unter gültigen Verträgen seine Geschäfte in Preußen treibt, das Recht in

Anspruch nehmen, von den preußischen Gerichten zur Untersuchung gezogen zu werden, ehe er ausgewiesen wird?

Kurz, will unsere Regierung nicht

anerkennen, wie wichtig eS ist, die Unverletzlichkeit des Bürgers der Ber­

einigten Staaten in Preußen zu sichern,

und sofortige und entscheidende

Schritte dafür thun, um diesen Gegenstand dem Prinzen von Preußen zu

unterbreiten?

Meine Meinung ist,

daß wenn wir fest und entschieden auftreten,

wir unter der gegenwärtigen,

besonders günstigen Lage der Dinge kn

Preußen gute Resultate erzielen werden.

Die wichtige Angelegenheit ist

aber jeden Falls eines Versuches werth, und meine Zeit und Energie soll

ganz der Förderung des Werkes gewidmet sein.

Da ich glaube, daß etwaS

erreicht werden kann, und daß mit der Uebernahme der RegierungSgeschäfte durch den Prinzen von Preußen der günstige Augenblick für vyS gekommen ist, zumal dieser Prinz schon manche schlagende Beweise für die

volle Anerkennung der Rechte deS Bürgers geliefert hat, so erwarte ich in dem festen Glauben die Ansichten

der Regierung, daß jetzt endlich

einiger Schutz und einige Hülfe für diese große Klasse unserer würdigen Adoptivbürger erlangt werden kann."

Wright läßt fortan keine Post abgehen, ohne auf den Gegenstand zurückzukommen und seinem Ingrimm mit gehörigen Uebertreibungen Lüft zu machen.

Einmal legt er, um die Allgemeinheit der Auswanderung zü

beweisen, eine Liste der ohne Erlaubniß auSgewanderten Militärpflichtigen bei, welche vom Kreisgericht zu Stralsund vorgeladen und im Falle des.

Nichterscheinens mit BermögenSstrafe bedroht werden.

Dann erzählt er

vost amerikanischen Bürgern, welche den mexikanischen Krieg mitgemacht

hätten und jetzt in der preußischen Armee dienen müßten.

Ein ander

Mal beklagt er sich, daß selbst bei Erlegung der Geldstrafe durch die

Mutter dem ohne Erlaubniß nach Amerika auSgewanderten Sohne die Rückkehr

nach Preußen

nicht gestattet sei.

„Obgleich nun ein solcheS

Berfahren höchst tadelnSwerth ist, — schließt er seinen

Bericht vom

4. Dezember 1858 — so ist eS doch lange nicht so schlimm, alS die ge­

genwärtig noch geltende Bestimmung, wonach ein Vater, der mit seinen minderjährigen Söhnen nach Amerika auSwandert, eine Erklärung unter­

schreiben muß, daß diese, sobald sie das erforderliche Alter erreicht haben

werden, ihre Militärpflicht erfüllen wollen.

Diese Lehre von dem Rechte

deS BaterS, für feine minderjährigen Kinder zukünftig eintretende Ver­ bindlichkeiten einzugehen, können wir nicht anerkennen.

Kein Vater hat

das Recht, feine Söhne zur Leistung derartiger Pflichten zu binden.

Die

Verpflichtung ist eine ungültige und sollte als solche von «nS betrachtet werden."

(Wright widerrief später diesen Unsinn, den ihm entweder 45*

Der beutsch-atnclikanische Vertrag tioin 22. Februar 1868.

662

Jemand aufgebunden oder den er selbst bei seiner Unkenntniß der deut­ schen und französischen Sprache

aus MißverstSndniß

zusammengebraut

hatte.)

Caß

antwortete am 10. Dezember 1858

zunächst mit abkiihlender

Ruhe, indem er seinen Gesandten auf die von der Regierung gebilligten Ansichten von Wheaton, Webster und Everett verwies, sowie eine strikte

Prüfung und Darstellung der einzelnen Fälle, nicht lose Analogien und Gerüchte verlangte.

„Wir können, sagt er,

nicht in Abrede stellen, daß

daS preußische Gesetz berechtigt ist, Verpflichtungen aufzuerlegen,

welche,

zur Zeit der Expatriation bereits existirend, durch unsre Naturalisation nicht

aufgehoben, sondern im Fall der Rückkehr der Betreffenden von ihm er­ zwungen werden können.

Mit dieser großen Frage sind ernste praktische

Schwierigkeiten verknüpft, welche wir gern aus dem Wege schaffen und, wenn daS nicht angeht, weniger beschwerlich und drückend machen möchten. Die preußischen Ansprüche sind unseren Ansichten von politischen Rechten so schnurstraks entgegengesetzt, daß sie hier zu Lande ein starkes Gefühl

der Mißbilligung erregen, und ebenso große Sympathieen für diejenigen

wecken, welche unter ihrer Erzwingung gelitten haben.

Wenn eS von uns

allein abhinge, so würde für den gleichen Schutz gegen alle diese harten

Maßregeln gesorgt werden.

Im Verkehr mit fremden Regierungen ist

eS aber unsere erste Pflicht, sich unserer Rechte zu versichern und, nach­

dem dieses geschehen, sie aufrecht zu halten und zu erzwingen, besonders

wenn sie die persönliche Sicherheit unserer geborenen oder adoptirten Bürger betreffen. Selbst wo wir nicht berechtigt sind, peremtorische For­

derungen

zu stellen, haben wir wenigstens das Recht, unS an das Ge­

rechtigkeitsgefühl und die freundschaftliche Gesinnung einer fremden Macht zu wenden, damit sie Maßregeln abstelle, welche mit ungebürlicher Strenge

auf unseren Bürgern lasten.

„In dem Falle deS Eugen DullyS (eines geborenen Preußen und naturalisirten

Amerikaners, der

über

einen bei einem Bankett auSge-

brachten Toast auf den König gezischt hatte und in Folge deffen polizeilich ausgewiesen ward) stimme ich nicht mit Ihnen überein.

Welche Gründe

Sie auch dagegen vorgebracht haben mögen, Preußen kann vom RechtSstandpunkte ans nicht gezwungen werden,

Verfahren umzustoßen.

daö gegen Dullhö beobachtete

Wäre ich zu einem andern Schlüße gelangt, so

würde ich Sie instruirt haben, der dortigen Regierung die stärksten Vor­

stellungen gegen ihr Verfahren zu machen und eine peremtorische For­ derung auf Genugthuung zu stellen.

Da wir aber auf diesen Fall als

eine Verletzung der Vertragsbestimmungen besonderes Gewicht zu legen nicht berechtigt sind, so waren wir auch nicht Willens, das Wohlwollen

der preußischen Behörden anzurufen, zumal sie sich nicht einmal bereit gezeigt hatten, in ihrer alten Politik die von uns gewünschten Aenderun­

gen eintreten zu taffen. trifft,

Was aber die Rechtsfrage in diesem Falle be­

so habe ich zu bemerken,

daß sie in Verbindung mit gewlsien all­

gemeinen BerwaltungSgrundsätzen steht, heischen.

die eine knrze Besprechung er­

Jeder unabhängige Staat hat das Recht, seine inneren Ange­

legenheiten in seiner eigenen Weise zu ordnen, und er braucht nur darauf

zu achten, daß er anderen Nationen keine gerechte Ursache zur Klage giebt. In fast allen europäischen Staaten werden die Polizei- und VerwaltungS-

befugnisse von den Regierungen ausgeübt, wodurch diese in den Stand

gefetzt find, eine sehr willkürliche Gewalt über die Einwohner,

eingeborene oder fremde, geltend zu machen.

feien sie

Wenn unsere Bürger jene

Länder besuchen, so unterwerfen sie sich natürlich der Wirkung ihrer Ge­

setze, so willkürlich diese auch sein mögen, und sind für jede GesetzeSUebertretnng verantwortlich.

Unser Vertrag mit Preußen (vom 1. Mai

1828) erkennt diese Verpflichtung an und bestimmt, .daß Einwohner jedes

der beiderseitigen Länder berechtigt sind, in dem Gebiete des andern zu wohnen, und daß sie unter der Bedingung des Gehorsams gegen die gel­

tenden Gesetze und Borschrifteri, dieselbe Sicherheit und denselben Schutz wie die Eingeborenen genießen sollen. „Baron Manteuffel hat Ihnen, wie Sie bemerken, erklärt, daß DullyS

kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen begangen hat, welches ihn nach preußische» Gesetzen der polizeilichen Bestrafung und eventuell der

polizeilichen Ausweisung unterwirft.

Ich theile Ihre Ansicht nicht, daß

nach diesem Zugeständniß Dullhe sich überhaupt nicht gegen das preußische Gesetz vergangen hat, sondern schließe daraus nur,

daß der Akt, wegen

dessen er verfolgt wurde, bloß eine Verletzung der öffentlichen Ordnung

war,

welcher ihn vor die polizeilichen, nicht aber die gerichtlichen Be­

hörden bringt, von welchen erstere die Oeffentlichkeü ausschließen.

sehe nicht,

Ich

daß Sie diese Prinzipien des prenßischen Rechts sowohl in

Beziehung auf seine Verbote als auf seine Verwaltung in Frage stellen. Da nun das preußische Recht autoritativ festfleht, da nach Mittheilung

deö Ministers

für die auswärtigen Angelegenheiten

die dortige Regie­

rung die Sache mit großer Sorgfalt untersucht hat, so haben wir kein

Recht, die Genauigkeit der Angabe des Ministers zu bezweifeln, vielmehr müssen wir diesen Punkt als erledigt anfehen.

„Auch in dem Falle von Henne konnte ich Ihre Ansichten, wie Sie

gewünscht hatten, nicht billigen. Sie haben den Minister des Auswär­ tigen gebeten, daß Henne, ein geborener Preuße und naturalisirter Ame­ rikaner, Erlaubniß zum Besuche feiner Freunde und Verwandten in bet'

Dit deutsch-amerikanische Vertrag vom 32. Februar 1868.

664

Heimath erhalte.

Darauf erwiderte der Minister,

daß er dies Gesuch

zweien seiner Kollegen, in deren Ressort es gehöre, mitgetheilt habe, daß

diese aber erklärt hätten, Henne sei ohne Erlaubniß

und

ohne seiner

auSgewandert, daß es aber feststehender

Militärpflicht geniigt zu haben,

Grundsatz in Preußen sei, keinen, der sich dieser Pflicht entzogen habe, zurückkehren zu lassen,

ohne ihn zur nachträglichen Leistung derselben zu

zwingen. Sie bemerken ganz richtig, daß diese Entscheidung im Einklang mit den früher ergangenen stehe und daß diese letzteren von den Vereinigten Staaten nicht bestritten seien.

Wenn also Henne zur Zeit, als er Preußen

verließ, schon dienstpflichtig (owed an existing Service) und wenn er nicht

vom Dienste befreit war, so ließ sich kaum erwarten, daß die Regierung einen Grundsatz annehmen sollte,

welcher ihn von den Folgen einer be­

reits eingetretenen Verbindlichkeit befreite. „Sie setzten mich jüngst davon in Kenntniß, daß die erwartete Ein­

setzung der Regentschaft in Preußen voraussichtlich eine günstige Gelegen­ heit bieten werde,

um die Frage der Behandlung unserer Bürger in

Preußen der Aufmerksamkeit der Regierung zu unterbreiten, und gingen

von der Hoffnung auS,

daß wir preußischer Seit- die Zustimmung zu

Aenderungen in dem gegenwärtigen Polizei- und Berwaltungsshsteme er­

langen könnten, welche einige der schlimmsten gegenwärtigen Unzuträglich­ keiten entfernten.

Da jenes Ereigniß inzwischen schon stattgefunden hat,

so empfiehlt es sich, der gegenwärtigen Regierung die Einführung einiger Berbefferungen in der preußischen Verwaltung vorzuschlagen, damit wir dadurch die Lage unserer Bürger wenigstens einiger Maßen verbessern»

In einer Ihrer Mittheilungen sagen Sie,

daß manche amerikanische

Bürger gegen ihren Willen in der preußischen Armer dienen, aber Sie erwähnen nicht die näheren Umstände,

unter denen dieser Zwangsdienst

stattfindet.

(Die ganze Geschichte war Wright aufgebunden, oder von ihm

erfunden.)

Ich kann mir also kein Urtheil darüber bilden, ob die preu­

ßische Regierung uns in dieser Beziehung gerechte Ursache zur Klage giebt. ES mögen Fälle vorkommen, in welchen solcher Dienst ohne irgend welche

Verletzung unserer Rechte verlangt und erzwungen wird, z. B. wenn der zwangsweise Eingestellte auf Grund von Verpflichtungen dienen muß, die

schon zur Zeit der ÄuSwanderung existirten und auferlegt waren.

Unter

diesen Umständen kann ein Auswanderer dadurch, daß er amerikanischer Bürger wird, sich im Falle der Rückkehr, nicht von den, vor seiner Aus­

wanderung existirenden Verbindlichkeiten befreien.

Ich wünsche in diesem

wie in allen Fällen den vollen Thatbestand sowie den Wortlaut der Ge­

setze über preußische Militärverfaffung, kurz alle Details,

damit ich mir

ein Urtheil darüber bilden kann, ob das Einschreiten unsrer Regierung

gegen etwaige Vertragsverletzung gerechtfertigt ist, urib damit ich die Lags

unserer zurückgekehrten Bürger besser würdigen kann."

Nachdem Caß dann näher anSgeführt, daß die paar nach Preußen zurückkehrenden amerikanischen Bürger doch der Ruhe und dem Frieden

deS Landes nicht schaden könnten, daß also die preußische Regierung keine Ursache zu strengen Maßregeln gegen sie habe, daß diese sich vielmehr in

ihren Beziehungen zu den Bereinigten Staaten von den Gefühlen der Freundschaft und Billigkeit leiten lassen solle,

fährt

er wörtlich

fort:

„Sie begleiten Ihre Ansicht über diesen Gegenstand mit der Bemerkung,

daß leicht, ein Auskunftsmittel gefunden werden würde, wenn unsere natu» rakisirten Bürger von irländischer Abkunft Ursache zur Klage gegen die eng­

lische Regierung hätten, ähnlich der, welche naturalisirte Preußen gegen die ihrige haben — und Sie fragen mich bezeichnend, warum wir denn nicht auch in letzterm Falle ein solches Auskunftsmittel finden sollten?

Ich bin

gezwungen zu glauben, daß diese, vom Präsidenten mit Bedauern gelesene

Bemerkung tvorden

von Ihnen

zu fein.

gemacht wurde,

ohne vorher gehörig erwogen

Eine Abhülfe gegen Härten zu finden, das ist es ja

gerade, waS Sie erstreben, und was die Regierung zu erreichen wünschte. Wo Verletzungen unserer internationlen ober vertragsmäßigen Rechte statt-

finden, da werden

die Vereinigten Staaten keinen Augenblick anstehen,

alle geeigneten Mittel zur Sicherung der Abhülfe anzuwenden. eS giebt viele Fälle von Unterdrückung,

Allein

in welchen solche Rechte nicht

verletzt werden, und bei ihrem Vorkommen müssen wir unfern Appell an

die Gerechtigkeit und freundschaftlichen Gefühle der betreffenden Regierung richten, an die preußische natürlich, wenn sie dort stattfinden.

Die dies­

seitige Regierung aber wird in der Behandlung oder in der Beschütznng Unserer naturalisirten Bürger durchaus nicht von Erwägungen beeinflußt,

welche in dem Lande ihrer Geburt wurzeln, und ich verstehe nicht, wie

Sie eS für nöthig erachten konnten, eine davon verschiedene Ansicht auS-

zusprechen. „Sobald

ich die zur Bildung eines richtigen Urtheils

unerläßliche

Information erhalten haben werde, will ich die ganze Frage gehörig be­ leuchten Und erst dann wird sich beurtheilen lassen, ob und welche gerechte Ursachen zur Klage vorhanden sind,

und welche Abänderungen wir von

der preußischen Regierung verlangen sollen." Wright antwortete am 18. Januar 1859, rechtfertigte sich, so gut er konnte, berichtete einige neue Fälle, die sich von dem früheren durchaus

nicht unterschieden,

sandte die hauptsächlichsten diese Frage betreffenden

preußischen Gesetze ein und formuürte, indem er die Zahl der jährlich

nach Deutschland zurückkehrenden naturalisirten Bürger aus nicht weniger

als 10,000 angab, seine Wünsche für die von der preußischen Regierung

zu erlangenden Zugeständnisse in folgenden vier Punkten: 1.

Die Aufgebung des Anspruches auf Dienst im stehenden Heere

für alle nach Preußen

zurückkehrenden amerikanischen Bürger,

welche ihr Vaterland vor dem Eintritt der Dienstverbindlichkeit verließen (before the liability accrued.)

2.

Kein Strafverfahren gegen abwesende, in den Bereinigten Staaten

wohnende Preußen,

welche ihr Land verließen, ehe sie ein be­

stimmtes Alter — sage 20 Jahre — erreicht hatten. 3.

Einige zusätzliche Bestimmungen, welche den in Preußen wohnen­ den amerikanischen Bürgern das Recht der Untersuchung vor einem preußischen Gerichte einräumen, ehe ihre zwangsweise Aus­

weisung erfolgt.

4.

DaS Recht auf Abschrift aller Papiere,

kanischen Bürger vor irgend einer

welche

einen ameri­

preußischen Behörde irgend

wie betreffen.

„Preußen, so fährt Wright fort, ist von kleinen Staaten und freien

Städten umgeben, große Leichtigkeit

und seine Eisenbahnverbindungen gewähren ihm eine int

Verkehr.

unternehmenden Preußen,

Deßhalb

finden

auch die jungen

und

welche unser glückliches Land aufsuchen, wenig

Schwierigkeiten auf ihrem Wege dahin.

Sie bilden die zahlreichste Klasse

derer, welche in reiferen Jahren nach ihrem Geburtölande zurückkehrey,

um, wie der Eine sagt, auf dem Grabe seines Vaters zu weinen, oder, wie ein Anderer, feine betagte Muttev noch einmal zu sehen, oder, wie ein Dritter, die mit dem Nachlaß seiner Eltern verbundenen Geschäfte zu

erledigen.

Die Bereinigten Staaten haben keinen Theil an den Anstalten,

durch welche die Souperaine Europa'- ihre Unterthanen in ewiger Knecht­ schaft halten,

und durch welche sie ihnen das Recht versagen,

eine freie Heimath und freie Institutionen zu wählen.

sich selbst

Wenn aber diese

Unterthanen in Erstrebung ihrer nnbezweifelten Rechte unser freies Land

zu ihrer Heimath machen, seinen Gesetzen gehorchen, unter unsrer Berfaffung genährt und erzogen werden und, zu amerikanischen Bürgern ge­ worden, die völlige Gleichheit mit den eingeborenen Bürgern erlangen, so

scheint mir unser Theil an diesem Vertrage der zu sein, daß wir sie

schützen, während sie in der Fremde sind, wenigstens diejenigen von ihnen, welchen keine Pflichten oblagen, als sie ihre Heimath verließen. traue fest darauf,

Ich ver­

daß unsre Regierung im Stande sein wird, friedliche,

aber energische Mittel vorzuschlagen, welche diesen ungerechten und un­

menschlichen Beschränkungen ein Ende machen werden." Caß antwortete am 12. Mai 1859 und stellte sich jetzt in der Haupt-

frstge auf die Seite seines Gesandten.

Er behauptete zwar,

die ihnt

übersandten preußischen Gesetze sorgfältig geprüft zu haben; aus seiner

Beweisführung

aber deutlich

geht

namentlich

die

er sie nur theilweise

hervor, daß

und

die

Natur der allgemeinen Dienstpflicht nicht richtig gewürdigt hatte.

So

verständen,

Heereseinrichtungen

preußischen

verfiel er in einige arge Mißverständnisse,

welche man preußischer SeitS

nicht beachtete, oder wohl gar selbst veranlaßte, wie z. B. durch die falsche

Uebersetzung deS der Mess),

wichtigen Gesetzes

vom 31. Dezember 1842

wo daS Wort Landwehr mit Militär

(S. 71

wiedergegeben ist,

ein folgenschwerer Irrthum, der bei dem Rückschluß auf die unbedeu­ tende amerikänifche Miliz ein ganz falsches Bild im Geiste deS Staats­

sekretärs erzeugen mußte.

Der eigentliche Grund aber,

welcher einen so

plötzlichen und radikalen Umschwung in den Ansichten deS amerikanischen

Ministers

herbeiführte, dürfte wohl in den Bedürfnissen der inneren Im Laufe der jämmerlichen Verwaltung Bucha-

Politik zu suchen sein.

nan'S wäre« immer mehr Deutsche von der demokratischen Partei abgefotfen,

während sich die Reihen der Republikaner durch die neu Einge­

wanderten mnd Einwandernder täglich mehr verstärkt hatten.

ES lag also

im letzten Jahre des Buchanan'schen AmtstermineS die Befürchtung nähe, daß die Deutschen bei der bevorstehenden Präsidentenwahl den AuSschlag

zu Gunsten deS republikanischen Kandidaten geben könnten

der That 1860 bei der Wahl Lincoln'- auch thaten).

(was sie in

Gelang eS aber,

sie in energischer Vertretung ihrer vermeintlichen Rechte der herrschenden

Pärtei wieder zuzuführen oder zu erhalten, so war ein d.irch seine Stim­ menzahl wichtiger Bundesgenosse gewonnen und der Sieg immerhin noch möglich.

Daher der plötzliche Eifer des Caß für die angeblichen und

wirklichen Rechte

der Adoptivbürger,

die

sich

übrigens als

denkende

Männer, soweit sie deutsche Republikaner waren, von ihm nicht einfangen ließen, sondern seinen Kalkül zu Schanden machten.

Zunächst erklärte der amerikanische Minister, die Ansicht der preußischen Regierung sei vertragswidrig, (eine solche lag gar nicht vor, sondern nur eine ganz

anders

lautende PrivatSußernng Manteuffels)

wonach

kein

früherer Unterthan des Königs das Recht hätte, feine Rückkehr in die

Heimath zu verlangen.

Er forderte also auf Grund deS von beiden

Mächten am 1. Mai 1828 abgeschlossenen Vertrags, obgleich dieser nichts mit der vorliegenden Frage zu thun hatte, daß die Bürger der Bereinigten Staaten zu jeder Zeit ungehindert das preußische Gebiet betreten und dort

so lange wohnen und ihr legitimes Geschäft betreiben könnten, als sie sich

den preußischen Gesetzen unterwürfen (was ihnen nie verwehrt worden war). ES könne sich also im einzelnen Falle nicht darum handeln, ob der den Ge-

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.

668

setzen sich nicht Fügende gegen das Völkerrecht, sondern nur darum, ob er ge­

gen eine der Bestimmungen deS angeführten Vertrages gefehlt habe. Natürlich räume er der preußischen Regierung das unbedingte Recht ein, die Unter­ suchung gegen amerikanische Bürger in derselben Weise wie gegen preußische zu führen.

Soweit habe Wright ganz Recht.

Er gehe aber zu weit, wenn

er auS den Grundsätzen der Gegenseitigkeit folgere, daß Preußen die Unter­ suchung in derselben Weise wie die Bereinigten Staaten führen, daß diese

unter allen Umständen öffentlich sein, daß dem Angeschuldigten die An­ klage mitgetheilt, sowie die Gelegenheit der Vertheidigung gewährt werden müsse, endlich aber, daß die amerikanische Regierung daS Recht zur Unter­

suchung der Frage habe, ob daS Verfahren richtig (reasonable) und das gefällte Urtheil gerecht gewesen sei.

So mangelhaft und zum Theil will­

kürlich auch daS preußische Polizeiverfahren in Ausweisungsfällen sei, so könnten die Vereinigten Staaten für ihre Bürger doch nicht mehr ver­

langen, alS die Handhabung der gegen die preußischen Unterthanen geltenden gesetzlichen Bestimmungen.

Doch sei dieser Punkt von untergeordneter

Bedeutung und liege außerhalb der Gränzen der vorliegenden Untersuchung, welche sich auf die Leistung der Militärpflicht beschränke.

Caß sucht nun

auch die Bestimmungen des genannten Vertrages gegen die Ansprüche der preußischen Regierung auf nachträgliche Leistung der Militärpflicht ihrer

ausgewanderten Unterthanen

zu verwerthen und seinen Standpunkt in

folgender Weise zu begründen: „Doch der Hauptgegenstand unsrer Klage wurzelt in der Gewalt,

welche die preußische Regierung sich anmaßt, um die Leistung der Militär-

pflicht in Fällen zu erzwingen, in welchen sie nach jenem Vertrage^ nicht gerechtfertigt ist.

Preußen bekennt sich nicht zu der Lehre von der ewigen

Unterthanenpflicht,

sondern erkennt bei seinen Bürgern daö Recht

der

Expatriation und der Anknüpfung neuer politischer Bande in einem ander« Lande an.

Welche immer auch in

früherer Zeit die einander wider-

streitenden Ansichten über diesen Gegenstand gewesen sein mögen,

wir

glauben, daß dieses Recht jetzt allgemein von allen Großmächten der Erde

anerkannt wird.

ES ist wenigstens nicht wahrscheinlich, daß man in Zu­

kunft auf der Lehre ewiger Unterthanenpflicht praktisch bestthen wird.

In

unserm aufgeklärten Zeitalter kann eine Regierung kaum den Gedanken hegen, den Bürger in der Wahl seiner Heimath zu überwachen und ihn

mittelst einer bloßen politischen Theorie für sein ganzes Leben an ein Land

zu binden, welches er beständig zu verlassen wünscht.

Alles, was man in

dieser Beziehung von auswanderungslustigen Bürgern oder Unterthanen

erwarten kann, besteht darin, daß sie vor ihrer Auswanderung treulich die

bereits vorhandenen oder entstehenden Pflichten erfüllen, welche sie dem

Lande ihrer Geburt schulden.

Wenn sie dies gethan haben, so haben sie

unzweifelhaft die Freiheit, sich in irgend einem Theile der Welt eine neue

Heimath zu gründen.

Indem Preußen diese Doktrin anerkennt, tritt es

in vollen Einklang mit dem Geiste deS Jahrhunderts und mit Allem, waS in Zukunft als das anerkannte Gesetz der Welt gelten wird.

Bereinigten Staaten?)

(Aber die

Auf Grund der Ihnen vom Baron v. Manteuffel

gegebenen Information muß aber derjenige, welcher in Preußen das Recht

der Expatriation auSüben will, die Erlaubniß der Regierung nachsucheo;

die Verletzung dieses Gesetzes wird aber mit Geldstrafe und Gefängniß geahndet.

(Nur beim Militärpflichtigen!)

ES ist hier nicht bekannt, ob

dieses Gesetz strikt erzwungen oder wie weit eS

bei seiner Anwendung

durch Rücksichten auf Alter oder Lebensstellung beschränkt wird; indessen

ist eS nicht leicht, feine Existenz mit der vollen Einräumung deS ExpatriationSrechteS in Einklang zu bringen.

Wenn ein in Preußen Geborener feine

Heimath selbst ohne Erlaubniß verläßt, kann da verständiger Weise be­ hauptet werden, daß er bei seiner Rückkehr, bloß weil er so auSgewaudert

ist, der Bestrafung unterliegt?

Eine solche Annahme würde heißen, daß

er für die Ausübung eines anerkannten Rechts bestraft wird.

Es ist

unerläßlich, daß er Preußen verläßt, ehe er anderswo eine neue Heimath

findet; ihn für seine Abreise strafen, heißt ihn etwa für deu Wechsel seiner Heimath strafen.

Wenn eine solche Lehre aufrecht erhalten wird, so müssen

dadurch unbedingt zwei große Nationen in häufige und peinliche Konflkkte

verwickelt werden, soweit die Rechte und Pflichten eines Unterthanen der

einen Macht in Betracht kommen, welcher im Gebiete der andern natu-

ralistrt ist.

Eine solche Person kehrt z. B. in das Land ihrer Geburt

zurück und verlangt hier keinen Schutz in ihrem ursprünglichen Charakter

als Eingeborener, sondern sie verläßt sich, während sie selbst nichts Un­

rechtes thut, auf die Regierung ihrer neuen Heimath, daß sie von ihr gegen jede Beeinträchtigung geschützt werde. dieser neuen Regierung gegen sie?

Welches ist nun die Pflicht

Soll sie erlauben, daß der von ihr

Naturalistrte in'S Gefängniß gesteckt oder anderweitig bestraft wird, ohne

daß sie irgend einen Versuch zu seinem Schutze macht? unterlassen,

Ja, soll sie dies

wenn zwischen beiden Ländern ein Vertrag in voller Kraft

besteht-, welcher vorschreibt, daß die Bürger eines jeden von ihnen das Recht haben sollen, das Gebiet des andern zu besuchen und zu bewohnen?

Diese Fragen b^eichnen sehr klar den Weg, auf welchem unter Völkern Kollisionen von Pflicht und Autorität entstehen, wenn der Akt der Ex­ patriation

akS schweres Verbrechen aufgefaßt und

mit Geldstrafen und

Gefängniß belegt wird.

„Hinsichtlich deS preußischen Anspruchs auf Leistung der Militärpflicht,

67Q

Der beutsch-anierlk-inijche Vertrag vom 22. Februar 1868.

Welcher von den deutschen Staaten als sehr wichtig betrachtet wird, muß

offenbar ein Unterschied gemacht werden zwischen wirklichen Deserteuren ans der Armee und dem Verlassen des Landes Seitens solcher Personen,

welche noch nicht zum Dienste herangezogen sind.

Die ersteren müssen

unzweifelhaft ihrer Militärpflicht genügen, wenn sie in ihre Heimath zurück­ kehren;

indessen kann den Bürger die bloße Möglichkeit (contingency),

daß er später dienstpflichtig wird, nicht derselben Verpflichtimg unterwerfen. Das Prinzip des Dienstzwanges existirt auch in den Bereinigten Staaten, und alle ihre waffenfähigen Bürger können, wenn es nöthig wird, zur Vertheidigung der Republik eingezogen werden.

Aber diese Verbindlichkeit,

welche so lange gefordert wird, bis sie in Folge physischer Unfähigkeit auf­ hört, und welche eine aktive Pflicht wird, wenn die Lage des Landes sie nothwendig macht, beeinträchtigt die Rechte eines Bürgers weder zu Haufe noch in der Fremde, noch verhindert sie ihn, Mitglied einer anderen po­

litischen Gemeinde zu werden.

Und ganz dieselben Erwägungen greifen

Platz bei allen denjenigen Pflichten, deren Erfüllung von allen Regierungen gefordert wird, wie bei dem Dienste als Geschworener, da, wo die Jury einen Theil des gerichtlichen Verfahrens bildet, bei der Bekleidung öffent­

licher Aemter, wo das Gesetz diese Pflicht vorschreibt, und allen anderen Arten obligatorischer Dienste, welche die Bedürfnisse der Gesellschaft er­ heischen und welche von Zeit zu Zeit gethan werden müssen.

Wenn die

erst in Zukunft zu leistende Erfüllung der Militärpflicht eine ewige Ver­

bindlichkeit schafft, Verbindlichkeiten

wo auch der Betreffende weilen und welche andere

er auch eingegangen haben mag,

Grundsatz eine Regierung

auch in den Stand,

so

setzt dieser selbe

ihre Unterthanen oder

Bürger an der Auswanderung oder an der Verlegung ihres Wohnsitzes zu hindern.

Es wäre das praktisch die Verneinung des Rechtes der Ex­

patriation und die volle Behauptung der Lehre von der ewigen Unter­

thanenpflicht. „Indem ich diese Ansichten aufstelle, wünsche ich nicht so verstanden

zu werden, als ob ich die Jurisdiktion Preußens innerhalb feines eigenen

Gebietes beschränken oder seine volle Kontrole über seine eigene Gesetz­ gebung im Innern im Mindesten bestreiten wollte.

Ich appelllre nur an

den ausdrücklichen Wortlaut unsers Vertrages und an die von Preußen selbst anerkannten Grundsätze und Politik.

Ich kann nicht glauben, daß

der Anspruch auf Erfüllung der Militärpflicht gegen einen amerikanischen

Bürger geltend gemacht werden wird, der Deutschland in einem Alter ver­ ließ, wo er noch nicht militärpflichtig war.

Da die Zahl derer nicht groß

sein kann, welche ihre Heimath in militärpflichtigem Alter verlassen, ehe

sie eingezogen sind, so steht zu hoffen, daß eine liberale Behandlung der

Der belttsch-ainenkauische Vertrag vom 22. Februar 1868.

67 t

in diese Klasse gehörigen und nach Preußen zurUckkehrenden amerikanischen

Bürger wirkliche Mißhelligkeiten verhüte» wird." In einem andern Falle, dem des HanoveranerS Christian Ernst, in

welchem die hanoversche Regierung sich in

ihrem vollen Rechte befand,

aber in Folge der Wright'schen Vorstellungen den in seine Heimath zurück« gekehrten und zwangsweise in die Armee gesteckten Ernst begnadigte, führt Eaß die in dem letzten Schreiben aufgestellten Gesichtspunkte sogar alabsolut gültig und von jedem Vertrage unabhängig noch näher aus, indem

er am 8. Juli 1859 an seinen Gesandten schreibt: „DaS Recht der Expatriation kann heut zu Tage in den Vereinigten

Staaten weder bezweifelt,

noch in Abrede gestellt werden (Sic!)

Seit

Gründung der Republik ist die Ansicht stets verworfen worden, daß ein Mensch verpflichtet sei, für immer im Lande seiner Geburt zu bleiben und daß er

da- Recht nicht habe,

seinem freien Willen zu folgen und sein

eigenes Wohlergehen bei der Wahl einer neuen Heimath zu befragen.

Di-

hervorragendsten Völkerrechtslehrer erkennen das Recht der Expatriation an.

ES kann auch nur von denen bestritten werden, welche in unserm

neunzehnten Jahrhundert immer noch dem alten Fendalrechte mit all'

seiner Unterdrückung huldigen.

Die Lehre der ewigen Unterthanenpfltcht

ist ein Ueberbleibsel der Barbarei, welches im letzten Jahrhundert allmälig aus der Christenheit verschwunden ist.

(Im Munde ihres ersten Ministers

ein schönes Kompliment für die Vereinigten Staaten, wo dieses barbarische

Ueberbleibsel zu jener Zeit noch nicht verschwunden war!) „Die Verfassung der Bereinigten Staaten erkennt die Expatriation al- ein natürliches Recht an, indem sie dem Kongreß die Gewalt einräumt,

ein gleichförmiges Gesetz für die Naturalisation zu erlaffen.

Sie würde

mit sich selbst in Widerspruch getreten, und eS würde deS Charakters der Verfasser jener Urkunde unwürdig gewesen sein, wenn sie die Fremden veranlaßt hätten, ihre Heimath zu verlaffen, ihre bisherige Staatsange­

hörigkeit aufzugeben und Bürger der Bereinigten Staaten zu werden, wenn sie nicht von dem absoluten und unbedingten Rechte der Expatriation über­

zeugt gewesen wären.

Der Kongreß hat seit dem Beginn der Bundes­

regierung stet- nach diesem Grundsatz gehandelt.

(Siehe oben S. 520!)

Im Augenblick, in welchem der Fremde naturalisirt wird, ist seine Unter«

thanenpflicht gegen seine Heimath für immer gelöst.

Er erfährt eine nene

politische Geburt; eine breite und unpassirbare Linie trennt ihn von seinem Geburtslande.

Diesem ist er, nachdem er seinen neuen Charakter ange­

nommen hat, für etwas, das er sagen oder thnn mag, so wenig verant­

wortlich, als ob er in den Bereinigten Staaten geboren wäre.

Im Falle

det Rückkehr in seine Heimath kehrt er als amerikanischer Bürger nnd in

Der deutsch-amerikanische Bertrag vom 22. Februar 1868;

672

keiner andern Eigenschaft zurück.

Wenn seine heimathliche Regierung da»

Recht beansprucht, ihn für ein Vergehen zu strafen, so muß er diese» be­ gangen haben, al» er noch ihr Unterthan war und ihr Gehorsam schuldete.

Da» Vergehen mußte vor seiner Expatriation begangen und derartig be­

schaffen sein, daß er dafür im Augenblick seiner Abreise zur Untersuchung gezogen und bestraft werden konnte.

Eine künftige Verpflichtung, in der

Armee zu dienen, rechtfertigt eine solche Strafe nicht, weil er vor dem Eintritt diese» Dienste» bereit» sein Unterthanenverhältniß geändert hat

und Bürger der Vereinigten Staaten

geworden ist.

Die Behauptung

würde geradezu abgeschmackt sein, daß ein fremder zwölfjähriger Knabe,

der mit seine» Vaters Familie hierher gekommen und dann naturalifirt ist, später, zum Mann herangewachsen, bei einem Besuche in der alten Heimath aufgegriffen und zum Militärdienst gezwungen werden dürfte, weil

er, wenn er zu Hause geblieben wäre und da» erforderliche Alter erreicht hätte, dienstpflichtig geworden sein würde.

(Allerdings wird er da», wenn

der Vater die gesetzlich vorgeschriebene Anzeige seiner Auswanderung ver­

Ein solches Prinzip zulassen würde heißen, einen gehässigen

säumt hat.)

Unterschied

zwischen

unseren naturalisirten

und

eingebornen

Bürgern

machen. „In meinem Briefe an Herrn Hofer vom 14. v. M. beschränke ich

die fremde Jurisdiktion über unsere naturalisirten Bürger auf diejenigen von ihnen,

welche zur Zeit ihrer Auswanderung entweder im stehenden

Heer dienten

oder bereits

zum Eintritt aufgefordert

waren, d. h. auf

wirkliche Desertion oder auf die Weigerung, nach regelmäßig

erfolgter

Losung und Einziehung in die Armee der Regierung einzutreten, welcher der Ausgewanderte zu jener Zeit noch Gehorsam schuldete.

Wenn ein

Soldat oder Matrose aus unserm Heere oder unsrer Flotte desertiren, also ein Verbrechen begehen sollte, welches mit schwerer Strafe belegt ist,

und wenn er nach seiner Naturalisation in einem fremden Lande in die

Vereinigten Staaten zurückkehren sollte, so würde es eine sonderbare Ver­ theidigung sein, wenn er geltend machen wollte, daß er für sein Verbrechen

straflos sei, weil er, nachdem er dasselbe begangen, der Unterthan einer

andern Regierung geworden sei, und noch befremdender würde eS sein, wenn unsre Regierung ihn auS diesem Grunde laufen laffen wollte." Gegenüber den Eingangs dargelegten thatsächlichen

und rechtlichen

Verhältnissen ist eS überflüssig, die Caßschen Gemeinplätze, Sophismen und absichtlichen oder unabsichtlichen Entstellungen des Thatbestandes einzeln zu widerlegen. Somit bleibt hier nur die eine einzige Frage zu erörtern, da ein

eigentlich prinzipieller Widerspruch zwischen der preußischen und amrrika-

nffchen Auffaffung über die Leistung der Militärpflicht nicht vorhanden ist

Beide Regierungen gehen nämlich von derselben richtigen Ansicht aus,

daß eS Pflichten giebt, denen sich der AuSwandernde durch seine Expatriation nicht entziehen kann und darf.

Nur in dem einen Punkte unterscheiden sie

sich von einander, daß Preußen die Militärpflicht unbedingt dahin rechnet,

einerlei ob der Betreffende schon bei der Fahne steht oder erst künftig ein­ gezogen wird, während die Bereinigten Staaten sie in der von jener Macht verlangten Ausdehnung nicht anerkennen und den Auswandernden wegen

der möglicher Weife einmal eintretenden Dienstpflicht in seinem ExpatriationSrecht nicht beschränken, sondern diesen nur bei wirklicher Desertion

strafbar machen wollen.

ES handelt sich also um Beantwortung der Frage,

ob die Dienstpflicht eine stets vorhandene, eine mit der Geburt entstehende, aber erst in einem gewiffen Alter fällig werdende Verbindlichkeit jedes

männlichen Preyßey ist, ober ob sie erst mit Erreichung dieses Alters ge­

fordert werden kann, und deßhalb von denen, welche früher ausgewandert sind, nicht gefordert werden darf?

Caß beruft sich zum Beweise der Richtigkeit seiner Ansicht auf die Miliz der Bereinigten Staaten.

„Der Militärdienst — sagt er in einem

diese Ansicht näher motivirenden Briefe vom 3. Oktober 1860 an den

Gesandten Faulkner in Paris — wird bei uns in der Miliz geleistet, wenn dieser Arm unsrer nationalen Bertheidigung in einem der von der Konsti­ tution vorgesehenen Fälle aufgerufen wird.

Da wir keinen andern ZwangS-

dienst haben, so machen wir auch keinen Anspruch auf solche, bei etwa künftig eintretenden Ereignissen mögliche Pflichten.

Wenn ein amerika­

nischer Bürger das Land verläßt, so hat er sich nicht gegen unsere Gesetze vergangen.

Er ist bei seiner Rückkehr frei von aller Verbindlichkeit und

kann nicht für Pflichten verantwortlich gemacht werden, welche von ihm,

wenn er zu Hause geblieben wäre, gefordert fein würden.

Diese Doktrin

findet allgemeine Anwendung, dehnt sich auf den Dienst des Geschworenen

und andere vom Gesetz auferlegte persönliche Pflichten aus, deren Leistung

von zukünftigen Möglichkeiten abhängt.^

Genau daffelbe Verhältniß findet in Preußen statt.

Waö hier der

Landsturm ist, das heißt in den Bereinigten Staaten die Miliz.

Sie

diente dort nach der Konstitution zur Ausführung der Gesetze, zur Unter­

drückung von Aufstand und zur Abwehr von Einfällen; sie bildet den

Gegensatz zur stehenden Armee und besteht aus allen körperlich tüchtigen Personen im Alter von 18 bis 45 Jahren, die auf Grund des Gesetzes

vom 8. Mai 1792 zu Regimentern formirt und orgauisirt, aber nur in

außerordentlichen Nothfällen vom Präsidenten der Bereinigten Staaten als nationale Truppe aufgeboten werden.

Es geschah das bis jetzt drei Mal,

zuerst bei dem sogenannten Whiskey-Aufstand in Pennsylvanien 1794, dann

674

Der dentsch-ailierikanische Vertrag bonf; 22. Kebruar 1868.

beim Krieg mit England 1'812 und zuletzt während des RebellionSkrieges von 1861—1865.

Der Dienst in dieser Miliz ist, wie Caß auch zrigiebt,

nicht obligatorisch.

Das Ganze ist in der That mehr eine harmlose Sol­

datenspielerei mit bunten Jacken, auffallenden Kopfbedeckungen, preußischen

oder bayrischen Helmen und sonstigem in die Augen stechendem Firlefanz. Diese tapferen Siebener, glorreichen Fünfer, Chathamstreet Husaren auf ab­

getriebenen Metzgergäulen oder Bowery ChevauxlegerS mit mageren Mieths-

kleppern, und wie sie alle heißen mögen, stehen militärisch höchstens auf der Stufe der seligen Kölner Funken und sind so wenig im Ernst zu nehmen, wie Zettel der Weber, als er den Löwen spielte. höchstens zur Bewältigung eines StraßcnauflaufS.

Sie taugen

Die Regierung hat sich

ihrer daher auch nur im äußersten Nothfalle ausnahmsweise bedient und sie meistens in der Reserve verwandt, oder half sich ans die Dauer, wie

z. B. im mexikanischen Kriege und letzten Bürgerkriege, lieber mit Freiwilli­ gen, die theils vom Patriotismus, theils von hohem Handgeld angetrieben,

bisher noch immer in ziemlich ausreichender Zahl herbeigeeilt sind.

Als

gegen Ende des letzten Krieges auch diese Quelle zu versiegen drohte, bot

der Präsident mittelst SpezialgesetzeS jeden waffenfähigen Mann, Bürger

und Bürger-Kandidaten, vom 20. bis 45. Lebensjahre zur Vertheidigung des Landes auf.

Doch auch dieses Aufgebot wurde bei der bald darauf

erfolgenden Uebergabe der Rebellenarmee nur theilweise und in geringem Grade ausgeführt.

Auch der vom großen Scharnhorst gegründetere preußische Landsturm, der übrigens, weil seine Mehrzahl noch aus altgedienten Leuten bestehend,

militärisch tüchtiger und brauchbarer ist, kann bei außerordentlichen Gele­

genheiten für einen bestimmten Zweck (Abwehr eines feindlichen Einfalls) mittelst SpezialgesetzeS, vom König aufgeboten werden.

Er besteht au-

allen Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 42. Lebens­ jahre, welche weder dem Heere noch der Marine angehören und soll, wie

in den Vereinigten Staaten, an Stelle des ungeregelten Massenaufgebot-

eintretenden Fall- mit seiner militärischen Organisation und Unterord­ nung unter die Militärgesetze treten.

Bi- jetzt wurde er nur ein mal

und zwar in den letzten Kriegen gegen den ersten Napoleon aufgeboten. Natürlich ist ein Landsturmpflichtiger, wenn er au-wandern will, keiner

Behörde Rechenschaft schuldig; er ist in allen seinen Schritten so unbe­ hindert und frei, wie ein amerikanischer Milizmann oder Geschworener. Um auch für die Union die allgemeine Wehrpflicht zu beweisen, hütet

Caß sich wohl, die einzige richtige Parallele zwischen den preußischen und amerikanischen Heereseinrichtungen zu ziehen, d. h. die stehende amerika­

nische Armee mit der preußischen auf dieselbe Stufe zu stellen.

Die Ber-

einigten Staaten haben zwar ein kleines stehendes Heer, allein es ist ein mit allen möglichen Werber-Kniffen und Künsten zusammengekiebeneS Ge­

sindel aller Nationen, namentlich deutscher Deserteure und irischer Bumm­ ler, welches von einem höchst aristokratischen Offizierkorps mit eiserner

Disziplin und barbarischen Strafen- zusammengehalten und meistens an

den Gränzen der Civilisation verwandt wird.

Geborene Amerikaner ge-

hörm ihm als Gemeine nur ausnahmsweise und dann nur in den verlump­

testen Exemplaren an.

Amerikanischer Liniensokdat zu sein, ist in den

Augen jedes anständigen Menschen dort eine ebenso große Schande und

Qual, alS es im vorigen Jahrhundert in Deutschland das Unglück war, „dem Kalbfell folgen zu müssen."

Die Vereinigten Staaten haben eben

keine gefährlichen Nachbarn, weßhalb sie sich auch den LnxuS einer großen Armee sparen und die Produktivkraft deS Landes gewinnreicher verwerthen

können als Preußen. Die äußere und zwar lächerliche Nachahmung des emopäifchm Militärwesens besorgt bei ihnen die Miliz. Preußen, resp. Deutsch­

land dagegen ist weniger bequem und Vortheilhaft situirt. spielt deßhalb auch nicht, sondern ist Soldat.

Der Deutsche

Auf allen Seiten von

Militärstaaten ersten Ranges umgeben, muß unser Vaterland bei seiner verhältnißmäßigen numerischen und räumlichen Schwäche diesen Nachtheil

durch Anspannung aller seiner Kräfte, durch Ausbildung der Intelligenz

des Volkes und Heranziehung aller seiner Bürger zur steten Kriegsbereit­ schaft, zur Vertheidignng des Landes auszugleichen suchen.

Daher die allge­

meine Wehrpflicht, ohne welche es nie den ersten Napoleon niedergeworfen

und in späteren Kriegen nie Oesterreich besiegt, noch den dritten Napoleon

ausgerottet hätte.

Nur vermöge seiner demokratischen Heeresverfassung,

hab sich Preußen resp. Deutschland um Europa so große Verdienste er­

werben können und ohne dieselbe nähme eS nicht seine gebietende Stellung

in der Welt ein, ja es würde sofort zu einer Macht dritten RangeS her­ absinken und den allgemeinen Kulturfortschritt gefährden, wenn eS jetzt den

Rückschritt zu den amerikanischen Heereseinrichtungen oder gar den dor­

tigen Milizen machen wollte.

Was

der eine oder andere

Doktrinär

vom Blutzoll faseln mag, Preußen resp. Deutschland fordert mit vollem

Rechte von jedem seiner Söhne den Dienst im Heere.

Diese Pflicht ist

deßhalb auch für jeden männlichen Preußen eine absolute, eine angeborene,

eine immer gegenwärtige, seit

dem Jahre 1813 auf Gesetz beruhende

und im Bewußtsein des Volkes lebendige.

Sie tritt also nicht erst in

einem gewissen Alter oder unter außerordentlichen Umständen ein, wie in

den Vereinigten Staaten, sondern entsteht mit dem Augenblick der Geburt jedes männlichen Preußen.

Der Dienst ist die gesetzlich feststehende Regel

und die Befreiung davon die Ausnahme. Preußische Jahrbücher. SBb. XXXV. Hef, °.

Jeder Preuße und jetzt jeder 46

Deutsche ist, um ein Bild auS dem Wechselverkehr zu gebrauchen, mit

seiner Geburt Soldat wenn auch nur auf Zeit, und wenn er auch erst

im besten Jünglingsalter als solcher fällig wird.

WaS Caß dagegen sagt,

beruht auf Unkenntniß der deutschen Gesetze, die ihm ja vorgelegen haben, beweist, daß er gar keine Ahnung hat von der Bedeutung eines VolkS-

HeereS, von dem tiefgewurzelten,

sittlich

begründeten Pflichtgefühl deS

deutschen Soldaten, das auch unter den schwierigsten Verhältnissen nicht wankt.

Die allgemeine Wehrpflicht hat sich seit mehr als zwei Menschen­

altern als eine mit der Geburt entstehende, stets gegenwärtige, unbedingt

zu leistende, und mit dem zwanzigsten Jahre fällig werdende Pflicht in Preußen eingelebt; sie greift so sehr in die wichtigsten Lebensbeziehungen

des Einzelnen ein, daß jeder Preuße ihre Bedeutung kennt, und daß der

beschränkteste Bauer im entlegensten Dorfe weiß, daß er ebenso gut dienen muß, wie sein Vater oder Großvater gedient haben.

Dieser Pflicht gegen­

über von entschuldbarer GesetzeS-Unkenntniß zu sprechen, wie eS Caß und seine Vorgänger thun, um eine mildere Behandlung der ohne Erlaubniß

ausgewanderten Preußen zu erlangen, lautet in den Ohren eines Preußen etwa grade so befremdend, als eS in denen eines Amerikaners lauten würde, wenn ein Fremder ihn nach dem Könige in Washington fragen

wollte. Den Bereinigten Staaten als souveräner Macht kann natürlich Nie­

mand wehren, wenn sie ihr System bei sich durchführen, wenn sie die

englisch amerikanischen,

aristokratischen Einrichtungen für besser halten.

Preußen andrerseits hat aber ebenfalls ganz Recht, wenn es feine Heeres­

einrichtungen als den Grundpfeiler seiner Sicherheit und Größe betrachtet und jeden seiner Söhne zum

Dienste zwingt.

Staate im völkerrechtlichen Verkehr Aufdrängung einer allein

Ueberhanpt steht keinem

eine schulmeisternde Rolle oder die

seligmachenden Theorie zu.

Wenn die Aus­

führung der in Preußen als zweckmäßig erachteten Einrichtungen den Ver­

einigten Staaten unter Umstände» schadet, so mag das von ihrem Stand­ punkt auS zu beklagen sein, allein Preußen zuzumuthen, daß es ihnen, zu

Liebe auf die Dienstpflicht einzelner waffenfähiger Preußen verzichte, heißt ungefähr ebenso viel als von den Engländern zu verlangen, daß sie den

Bestand

ihrer Flotte verringern oder von den Holländern zu erwarten,

daß sie einige ihrer Deiche durchstechen, weil vielleicht den Bereinigten Staaten mit einer solchen selbstmörderischen Politik gedient sein könnte.

Die preußischen Minister hatten also vollständig Recht, wenn sie die ameri­ kanischen Zumuthungen als völlig unberechtigt ablehnten und kurzer Hand auf die Landesgesetze verwiesen, welche jedem Preußen mit Ausnahme der

Militärpflichtigen das unbedingte Recht der Auswanderung zugestehen.

Es

kann deßhalb nur beklagt werden, daß der Norddeutsche Bund diesen den deutschen Interessen einzig entsprechenden Standpunkt verließ, ohne auch

nur das geringste Aeqnivalent für seine Nachgiebigkeit zu verlangen.

Caß' Note und Wright'S Vorstellungen machten

keinen Eindruck in Berlin. Korrespondenz enthält

-

übrigens zunächst

Die offizielle, in Washington veröffentlichte

überhaupt

unter Buchanan'S Administration.

keine besonders

wichtigen

Mtenstücke

Andererseits aber wurde die preußische

Praxis unter dem Prinzregenten und dem Könige Wilhelm eine bedeutend mildere, wie dies verschiedene auf das Gesuch deS amerikanischen Gesandten erfolgte Begnadigungen beweisen.

So beauftragt W. H. Seward, der

Staatssekretär Lincoln'S, im März 1862 seinen Gesandten N. B. Judd, der preußischen Regierung für die im Gnadenwege erfolgte Freilaffung zweier in Amerika naturalisirten militärpflichtigen Preußen zu danken, und weist ihn bei dieser Gelegenheit an, die ganze Streitfrage so lange aus stch

beruhen zu lassen, bis die Vereinigten Staaten und Preußen ihre gegen­

wärtigen Schwierigkeiten (südliche Rebellion drüben und Konflikt hüben)

überwunden haben würden.

Im Laufe deS amerikanischen Bürgerkrieges wurde eS Seward übri­ gens klar, daß diese Angelegenheit für die Vereinigten Staaten doch auch ihre Kehrseite hätte.

sandten*):

Er schrieb nämlich im März 1863 an seinen Ge­

„Eö sind verschiedene Fälle vorgekommen, daß hier naturalistrte

Europäer die Bereinigten Staaten verlassen haben, alö sie zum Dienste herangezogen werden sollten, und daß sie, um hier nicht dienen zu müffen, nach Europa zurückgekehrt sind, daß sie aber trotzdem drüben den Schutz der Vereinigten Staaten in Anspruch nahmen, um sich ihrer heimischen

Militärpflicht zu entziehen.

AuS diesem Grunde brauchen Sie, ohne vorher

ganz besonders instruirt zu sein, in Zukunft keine Vorstellungen mehr zu

Gunsten dort Militärpflichtiger zu machen." So ließ man die Frage bis zum Ende des Bürgerkrieges ganz auf

sich beruhen.

Judd eröffnete am 9. August 1865 die Kontroverse wieder,

*) Die folgende Darstellung stützt sich aus die offizielle amerikanische Denkschrift: „Opiuions of the Heads of the Executive Departments and other papers, relating to Expatriation, Naturalisation and Change of Allegiance,“ auf Seite 1177 —1438, im zweiten Theil der Foreign Relations of the United States. 1873. Die betreffende Stelle befindet fich S. 1296 und 1297. Ferner Executive Documents, No. 4, Senate. 40th Congress Ist Session, dem Senate vom Präsidenten auf Grund eines Beschlusses vom 28. Juli 1866 mitgetheilt am 11. März 1867. Diese 144 Seiten starke Sammlung enthält die offizielle Korrespondenz der Vereinigten Staaten mit Frankreich und Preußen über die Mili­ tärpflicht der naturalisirten Bürger vom 27. Juni 1859 bis zum 17. December 1866. Preußischer resp, deutscher ©eit« sind, soviel dem Verfasser bekannt, die diplomati­ schen Verhandlungen über diese Frage weder ganz, noch theilweise veröffentlicht werden. Die preußischen und deutschen Schriftstücke sind hier wie auch oben au« dtm Englischen in'« Deutsche zurückübersetzt.

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. KebruarI18ö8.

678

indem er Sewards Aufmerksamkeit auf die Lage derjenigen naturalisirten Deutsch-Amerikaner richtete, welche laut Gesetz vvm 17. Juli 1862 als Soldaten in der Verewigten Staaten Armee gedient, einen ehrenvollen

Abschied erhalten, wenigstens ein Jahr im Lande gewohnt und auf Grund dessen ausnahmsweise das Bürgerrecht erlangt hatten, bei ihrer Rück­ kehr nach Preußen indessen, weil sie hier militärpflichtig und ohne Erlaub­ niß anSgewandert waren, mit ZwavgSeinstellung in die Armee bedroht wurden.

Als Judd'S Depesche in Washington einlief, war der inzwischen

zu den Republikanern Lbergegangene Wright, der frühere Gesandte Buchanan's, von Johnson wieder zum Berliner Gesandten ernannt worden.

traf

im September 1865

Er

in Berlin ein und nahm sofort sowohl

in

Washington als in Berlin seine Agitation zu Gunsten der ohne Erlaubniß

ausgewanderten militärpflichtigen und in Amerika naturalisirten Preußen wieder auf.

Im November hatte Wright aus Anlaß des Falles eines

gewissen Brieger eine Audienz beim Grafen Bismarck und bat ihn bei

dieser Gelegenheit um Erleichterungen.

Der preußische Ministerpräsident

erwiderte, daß eS fast unmöglich sei, in dieser Frage daS preußische Recht

im Wege der Gesetzgebung zu ändern, zumal die deutschen Bauern das

Vorurtheil hegten, daß alle militärpflichtigen Preußen, die als naturalisirte Amerikaner zurückkehrten, vom Dienste befreit sein würden, daß folglich

die Frage nur durch einen Vertrag mit den Vereinigten Staaten geregelt werden könnte.

Dies sei seiner Ansicht nach der einzig richtige Weg, die

Sache zu ordnen, und er bezweifle nicht, daß im Falle eines Ueberein­ kommens die Grundsätze, über tfie man sich geeinigt, durch die gesetzgebenden

Faktoren beider Länder auSgeführt würden.

Als die Grundlage

eines

solchen Vertrages schlug Bismarck nach Wright vor: die Befreiung aller militärpflichtigen, in ihre Heimath zurückkehrenden Preußen, welche diese

vor ihrem 17. Lebensjahre

verlassen hätten, und ferner die Befreiung

aller derjenigen, welche zur Zeit ihrer Auswanderung nicht im Heere dien­ ten oder nicht zum Eintritt in dasselbe aufgefordert und welche zehn Jahre

lang außer Landes geblieben wären.

Es wurde dann auf die Schwierigkeit

hingewiesen, welche nach den bestehenden Auslieferungsgesetzen sich der Verhaftung und Verfolgung von Personen entgegenstellten, welche in einem

der beiden Länder eines Verbrechens angeklagt sind. Gegenstand bemerkte Bismarck:

In Bezug auf diesen

„Der Fortschritt in der Handelswelt seit

dem 1828 abgeschlossenen StaatSvertrage, lasse eS zweckmäßig erscheinen, zusätzliche Vorsichtsmaßregeln und Beschränkungen summarischer Natur auf« zustellen, durch welche eine schnellere Vollstreckung der Strafgesetze gesichert

würde, und er hoffe, daß die Auslieferungsverträge zwischen beiden Län­ dern in einigen Punkten modifizirt würden.

Ich verließ Graf Bismarck

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.

mit dem wechselseitigen Einverständniß, daß er sich mit Herm v. Gerolt (dem preußischen Gesandten in Washington) und mit den Militärbehör­

den Sr. Majestät Regierung ins Einvernehmen setzen wolle.

Stimmten

diese mit seinen Ansichten überein, so würde er durch die Gesandtschaft der Bereinigten Staaten seine Ansichten über die in den Auslieferungsverträ­

gen erforderlichen Abänderungen mittheilen, in der Erwartung, daß die Bundesregierung (wenn sie dieselben günstig aufnähme) mit einer Anspie­

lung auf die preußischen Militärgesetze antworte, indem sie Modifikativnen der bestehenden Gesetze beantrage, durch welche die Regulirung dieser Frage wenigstens in Angriff genommen werden möchte und durch welche «au, wie er fest vertraue, zu einem zufriedenstellenden Uebereinkommen gelan­

gen würde."

Auf diese Mittheilungen, hin versah. S.eward. seinen Gesandten am 2. Dezember 1865 mit folgenden Instruktionen: „Politische und Bequem­

lichkeitsrücksichten bestimmten uns, diesen Gegenstand während der Dauer des Krieges ruhen zu lassen.

Wir wurden selbst weniger eifrig, als wir

sahen, daß unwürdige naturalisirte Bürger vor den Forderungen der Dienst­

pflicht flohen, welche sie ihrem Adoptivlande schuldeten, und daß sie nicht allein Schutz vor der Erfüllung dieser Pflicht in ihrer Heimath suchten-

sondern unverschämter Weise noch verlangten, daß die Vereinigten Staaten ihnen helfen sollten, sie auch drüben von der Leistung ihrer Militärpflicht

zu befreien.

Diese Dinge gehören übrigens jetzt der Vergangenheit an.

Und die Frage tritt wieder in ihrer ursprünglichen Form an unö heran. Die Bereinigten Staaten haben eine Regierung gegründet, welche auf dem Rechte der ohne Verbrechen dastehenden Menschen fußt, sich den Staat zu

wählen, in welchem sie wohnen wollen, und sich als Mitglieder in jenetti

Staate einzubürgern, sowie fortan seine Wohlthaten und Vortheile zu ge­

nießen, worunter das Recht auf Schutz einbegriffen ist.

Dieser Grundsatz

empfiehlt sich sowohl durch die Gefühle der Menschlichkeit als vom Stand­

punkt der abstrakten Gerechtigkeit auö; eö ist ein Grundsatz, welchen wir nicht aufgeben können.

Wir glauben deßhalb auch nicht, daß der Militär­

dienst, welcher in Verleugnung dieses Prinzips von einem fremden Staate

gefordert werden mag, diesem wichtig oder nützlich sein kann. Der Präsident

wünscht, daß Sie diesen Gegenstand der ernsten Erwägung des Grafen

Bismarck unterbreiten.

Sie können ihn zugleich versichern, daß wir bereit

fein werden, irgend welche Vorschläge mit Offenheit zu empfangen, welche

die preußische Regierung uns in dieser Frage zu machen für geeignet er­ achten wird, und daß wir etwaige Aenderungen der zwischen beiden Ländern

bestehenden Auslieferungsverträge aufrichtig erwägen werden."

Am 16. Dezember 1865 übersandte Wright seiner Regierung ein ihm

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.

680

vom Unterstaatssekretär Thile übergebenes Memorandum, welches die preu­ ßischen Vorschläge zur Abänderung des AuSliefcrungSvertrageS enthielt,

und mit Aufzählung der Begünstigunge» schloß, welche eventuell den in Amerika naturalisirten oder zu natnralisirenden preußischen Unterthanen

ES lautet:

bewilligt werden können.

„Sr. Maj. Regierung hat Gründe eine Revision deS Auslieferungs­ vertrages zwischen Preußen und den Bereinigten Staaten vom 16. Juni

1852 und auch deS Vertrages von 1828 zu wünschen. Die hauptsächlichsten in'S Auge gefaßten Abänderungen betreffen die

nachstehenden Punkte:

1.

Die Kategorie der strafwürdigen Handlungen, welche, eine Aus­

lieferung von Verbrechern begründen, soll auch die bis jetzt im Vertrage nicht vorgesehenen Verbrechen deS Diebstahls und Betruges umfassen.

2.

Die Unterstützung der amerikanischen Behörden im Auslieferungs­

verfahren soll ex officio eintreten, Kosten zu verursachen.

und ohne den preußischen Gerichten

Bis jetzt traten die amerikanischen Behörden nicht

von selbst ein, und die für Preußen in Honorirung von Advokaten, Poli­ zisten u. s. w. auflaufenden Kosten sind nngeheuer; dazu kommen noch die

ebenfalls sehr bedeutenden Kosten für das gerichtliche Verfahren. 3.

einfacht

Das Verfahren, der amerikanischen Gerichtsbehörden müßte ver­

werden.

Die Amerikanische Republik

der betreffenden Gesetzgebung begonnen und

hat bereits eine Reform das Gesetz vom 22. Juni

1860 bietet zu dem Ende eine geeignete Basis.

Die zwischen Preußen

einer- und Frankreich, Belgien, Holland, Rußland und Spanien ander­

seits abgeschloffenen Verträge verlangen für die Auslieferung eines Ver­ brechers einfach einen

von dem Heimathögerichte

erlassenen Haftsbefehl,

gerichtliches Urtheil oder Anklage-Ordre (mandat d’arret on tout autre

acte ayant au meins la meme force qu’un mandat), und es ist kein weiteres Verfahren vor den Tribunalen des andern Landes erforderlich. Ein ähnliches Verfahren,

wenn von der amerikanischen Regierung adop-

tirt, würde für beide Länder höchst heilsam sein. Vortheile, welche von der Gesetzgebung über preußische Nationalität

solchen preußischen Unterthanen eventuell gewährt werden könnten, welche entweder amerikanische Bürger sind oder es zu werden wünschen: 1.

Es könnte zugestanden werden, daß, nach einer zehnjährigen Ab­

wesenheit, nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten und Verbind­ lichkeiten

eines preußischen Unterthans seinem GebnrtSlande gegenüber

erloschen

sein sollen.

Dieser Satz ist bislang bloß in einzelnen Fällen

von den preußischen Behörden befolgt, allein nicht im Allgemeinen aner? knnnt worden, noch ist er Landesgesetz.

Art. 110 des preußischen Strafgesetzbuches sagt:

2.

in der Absicht verläßt, sich

„Wer Preuße«

seiner Dienstpflicht zu entziehen,

wird mit

einer Geldbuße von 50 bis zu 1000 Thalern oder mit Gefängnißstrafe

von einem Monate bis zu einem Jahr bestraft." Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel könnte zu Gunsten solcher Personen gemacht werden, welche Preußen vor dem siebenzehnten

Lebensjahre verlaffen.

Wright erklärte zunächst selbst diese Begünstigungen für unzureichend

und hoffte mehr bei Bismarck direkt zu erreichen.

„Bei meinem letzten

Besuche sagte ich dem Grafen Bismarck — schreibt er am 21. März 1866

— daß sich die Bereinigte-Staaten-Regierung meiner Ansicht nach nicht dazu verstehen würde, BertragSstipulationen einzugehen, welche daS Recht

eines amerikanischen Bürgers auf seine Rationalität durch die Anerken­ nung fremder Regierungen qualifizirten, und ich fügte hinzu, daß unsre

Regierung nicht der Ansicht sei, daß eine Beranlaffung oder Dringlichkeit für eine Revision unserer Handel-- oder AuSlieferungSverträge vorliege. Der Graf bezeigte meiner Mittheilung mehr als gewöhnliches In­ teresse, und, indem er seiner Enttäuschung Ausdruck verlieh, bemerkte er, daß eS für Preußen unmöglich fei, feine Gesetze über die Militärpflicht

Es sei, so sagte er, unausführbar für ein Land, so gelegen

zu ändern.

wie Preußen,

diese Gesetze abzuschaffen, während deren bindende Kraft

zu Gunsten von Auswanderern über die Zugeständnisse (so nannte er seine Protokoll-Borschläge) hinaus zu mildern, nicht blos gleichbedeutend

sei

mit einer praktischen Abschaffung derselben Gesetze rücksichtlich Aller,

welche bereits nach den Vereinigten Staaten ausgewandert seien,

oder

in Zukunft so zu thun gedächten, sondern in der That gleichsam eine Art von

Auswanderungsprämie

allen

körperlich

gesunden

sobald sie daS dienstpflichtige Alter erreicht hätten.

Männern

Er legte,

biete,

wie ge­

wöhnlich, das ernste Verlangen an den Tag, diesen Gegenstand zu ordnen, und deutete an, daß eine siebenjährige Abwesenheit von Preußen

Person von

allem Militärdienste frei machen solle,

eine

soweit derselbe von

Allen erheischt werde, welche ihr Vaterland nach ihrem siebenzehnten Jahre

verlaffen.

Dies, so meinte er, sei ein billiges Kompromiß und, setzte er

hinzu: „da die Regierung der Vereinigten Staaten noch nicht unternom­ men habe,

werde,

und, wie er dringend hoffe, auch künftig nicht unternehmen

ihre eigenen Ansichten über den Gegenstand inS Werk zu setzen

(enforce), weßhalb,

wiederholte

er,

nicht jene Vorschläge annehmen?

Dies würde auch die preußische Regierung der vielen Vorstellungen ent­

heben,

welche kürzlich

in so vielen

einzelnen

Fällen an ihn gerichtet

worden, und über welche er, zu seinem Bedauern, nicht immer persönlich

Der deutsch-anierikamsche Vertrag vom 22. Februar 1868.

682

zu verhandeln im Stande sei.

Weßhalb nicht jene Vorschläge annehmen,

so fuhr der Graf fort, die es der großen Mehrzahl der ausgewanderten

Preußen möglich machen würden, unbelästigt (with impunity) herübexzukommen und ihr Geburtsland zu besuchen?"

Wright drang in den amerikanischen Staatssekretär, diese Vorschläge anzunehmen, erblickte er doch mit Recht darin ein so weitgehendes Zugeständniß,

wie er es bisher selbst kaum

für möglich

gehalten hatte.

„Der Präsident, antwortete aber Seward am 9. April 1866, ist erfreut über die vom Grafen Bismarck bei dieser Gelegenheit an den Tag ge­

legten guten Absichten.

Seine, mir von Ihnen berichteten Bemerkungen,

hatten jedoch nicht den Erfolg, die Ansichten zu ändern, welche über jene Fragen in der Ihnen ertheilten Instruktion ausgesprochen

sind.

Ich

würde gleichwohl mit Vergnügen im Interesse der Vereinigten Staaten die Argumente des Graftn Bismarck beantworten, und ich habe einigen, wenn auch nicht sehr zuverlässigen Grund anzunehmen, daß in einer solchen

Antwort, welche natürlich in einem durchaus freundlichen Sinne gemacht würde, wir zu einer definitiven Lösung der Schwierigkeit vorschreiten könnten. ES wird Ihnen gewiß nicht entgehen, daß es ein ungewöhnliches

Verfahren Seitens dieser Regierung sein würde, den Argumenten des

preußischen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten eine formelle Antwort folgen zu lassen, Argumente, die seinerseits nicht schriftlich, sondern münd­

lich vorgebracht, und uns blos durch unsern Vertreter in Berlin bericht­ weise bekannt gemacht worden sind.

Sie können dem Grafen eine der­

artige Andeutung machen, und ihm sagen, daß wenn er eS für zweck­

mäßig erachtet, seine Argumente in die übliche Form zu bringen, wir ihnen eine sorgfältige und

eine freundschaftliche Betrachtung angedeihen

lassen werden."

Der preußisch-österreichische wieder die Verhandlungen;

Krieg

des Jahres

1866

unterbrach

Preußen zeigte sich aber einer großen Anzahl

Militärpflichtiger gegenüber sehr mild und kam der amerikanischen Re­

gierung gern entgegen.

Am 24. September 1866 berichtet Wright, daß

einiger Zweifel darüber obwalte, ob die zu erlassende preußische Amnestie auch die Fälle der amerikanischen Adoptivbürger umfasse,

welche in ihrer

Abwesenheit wegen nicht geleisteter Militärpflicht zu Strafen verurtheilt feien.

Der Kriegsminister Roon sei gegen

diese Amnestie,

Bismarck die Amnestie auch auf solche Fälle ausdehnen wolle.

während

An dem­

selben Tage instrnirte Seward seinen Gesandten, beim Grafen Bismarck anzufragen, „ob es nicht unter den gegenwärtigen Umständen der Größe

und Würde Preußen'- entspreche, den Grundsatz der Naturalisation als das natürliche und angeborene Recht jedes Mannes anzuerkennen".?

Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.

ßgI

Er, Seward, sei außer Stande zu glauben, das Preußen sich auf die zwangsweise Erfüllung der Dienstpflicht derjenigen seiner Söhne verlassen könne, welche freiwillig in einen fremden Staatsverband eingetreten seien.

Dann aber vermöge keine Maßregel Preußen auf eine höhere Stufe unter

den neueren Völkern zu erheben als, die Annahme jenes Grundsatzes,

welcher eine der Grundlagen der amerikanischen Republik bilde. merke wohl,

(Man

Seward spricht hier auf einmal yyn Naturalisation, in

deren Bedingungen Preußen ebenso liberal ist als die Union, aber nicht von Expatriation, um welche es sich bisher doch ausschließüch gehandelt

hatte,

und über welche die Bereinigten Staaten damals noch feudalen

Anschauungen huldigten.

Leider scheint ihm

auf dieses Taschenspieler­

kunststückchen von Preußen nicht gedient worden zu sein.) Friedrich Kaj>p(

Politische Correspondenz. Berlin, 9. Juni 1875. Seit dem 12. April, dem Datum unsrer letzten Uebersicht hat sich die Welt

scheinbar verwandelt.

Damals hier erhebliche Besorgniß über daS franz'östsche

Cadresgesetz, die sich bis zu Kriegsgerüchten und im Ausland bis zu der An­

klage steigerte, daß wir das harmlose und wehrlose Frankreich überfallen wollten. Heute allgemeine Zuversicht auf den bewahrten oder geretteten Frieden; bei uns die Versicherung, er sei überhaupt nie bedroht gewesen, im Ausland, insbesondere

in England ein großsprecherischer Eifer, sich das Verdienst an seiner Rettung zuzuschreiben.

In der That der Contrast kann nicht greller sein; wenn die

wirklichen Hergänge sich deckten mit dem, was in den Zeitungen darüber ge­ schrieben steht, und wenn die Kunst der Diplomatie in der von ihr beeinflußten

Presie nicht häufig darin bestände, die Wahrheit zu verhüllen, so könnte daS Er­ gebniß gar nicht erfreulicher sein.

Wer, wie wir, in die Geheimnisse der Diplomatie nicht eingeweiht ist, son­ dern nur mit nüchternem Menschenverstand die Tagesbegebenheiten kritisch ver­

folgt, thut wohl, als Leitfaden für sein Urtheil eine einfache Frage aufzuwerfen: Welches war doch die wesentliche Ursache der Beunruhigung im April und was hat sich au dieser Ursache im Mai geändert? Ist diese Aenderung eine reelle,

so wird auch der scheinbare Wechsel der Situation, der auf der Oberfläche ein»

getreten ist,

Haltbarkeit und Vertrauenswürdigkeit haben.

Ist aber die Ur­

sache, welche die Bewegung im April hervorrief, unverändert geblieben, dann steht zu fürchten, daß wir es nur mit einem Dekorationswechsel zu thun haben,

der verschwinden kann, wie er gekommen ist. Wir schrieben im April an dieser Stelle: „Zur Zeit scheint es nicht, als ob uns eine nahe Gefahr drohe"; gestützt auf jenen Leitfaden müssen wir heute

leider sagen: „Zur Zeit scheint es nicht, als ob unS ein dauernder Frieden ver­ gönnt sei".

Damals stand unsere Ansicht im Einklang mit allerlei officiösen

oder für offieiös gehaltenen Aeußerungen, heute steht sie zu ihnen im Wider­

spruch.

Das Eine wie das Andere kann uns wenig kümmern.

Denn wir

gründen unser Urtheil ja nicht auf Erfindungen der Laune, sondern auf That­

sachen, die wir unseren Lesern zur eigenen Prüfung offen vorlegen. Thatsachen sind die militärischen Vorgänge in Frankreich.

vor diesen Vorgängen das Auge verschließen.

Diese

Man kann allerdings

Man kann sagen, dieselben hielten

sich in dem Rahmen einer Friedensorganisation, und wenn man dem Publicum

verschweigt, daß Frankreich heute schon in der Zahl der Formationen seiner

Infanterie und Artillerie über die entsprechenden Formationen deS volkreicheren

Deutschland hinausgegangen ist, so mag

finden.

eine

solche Behauptung Glauben

Man kann ferner sagen, jene Maßregeln seien zwar Kriegsrüstungen,

aber die Sieger von Wörth und Sedan dürften auf die Anstrengungen eines

so herabgekommenen Volkes, wenn auch seine Feldarmee heute schon doppelt so stark sei als im Juli 1870, mit stolzem Gleichmuth herabblicken.

Man kann

endlich in seiner Geringschätzung und seiner Blindheit gegen die deutlichsten An­ zeichen der Frankreich beherrschenden und zusammenhaltenden Leidenschaft, so weit gehen zu behaupten, daß daS charakterlose Volk die Revanche bereits vergeffen

habe, mindestens sich begnüge nur nach ihr zu schreien, ohne sie ernsthaft zu Wer so spricht, wird

wollen.

für den Augenblick einen großen Theil deS

PublicumS für sich gewinnen, denn ganz Deutschland wünscht und bedarf den Frieden, und Mele lasten sich ja gern die Verhältnisse so darstellen, wie sie wünschten, daß sie sein möchten. Aber die Zukunft wird lehren, daß man mit solcher Darstellung sich selbst oder Ändere leichtsinnig täuscht. Wir haben eine heffere Meinung von unsern Nachbarn.

Wir halten sie für ein sehr tapferes,

militärisch rasch organisirbareS und für den Ruhm seines Landes äußerst auf­ opferungsvolles Volk, welches Alles daran setzen wird, um die verlorene Supre­

matie in Europa wieder zu gewinnen.

Zu diesem Zweck ist die Ration der

Vostasre und Roustean sogar bereit ultramontan zu werden, und versteht sich ein Laboulaye dazu, den letzten Rest deS Staatseinflusses auf die Bildung der

höheren Kassen den Bischöfen zu opfern.

Roch mehr, wir sahen, daß dieses

Volk seit vier Jahren unter dem Zusammenwirken aller Parteien und mit eiserner Consequenz eine Reihe von Maßregeln zur Steigerung seiner Wehr­

kraft durchgeführt hat, welche eS weit über seine Leistungsfähigkeit im Jahre

1870 hinausheben, und welche unvernünftig sein würden, wenn sie nicht von der Absicht auSgingen, in höchstens zwei Jahren Krieg zu führen.

die Thatsachen, von denen unsre Auffassung der Lage auSgeht.

DaS sind

Man mag diese

Auffassung „pessimistisch", oder wenn man etwas recht Thörichtes sagen will, sogar „chauvinistisch" nennen, aber alle Friedensschalmeien, welche heute auf

Commando geblasen werden, können uns leider die Thatsachen nicht hinweg­

blasen.

DieS ist der Punkt, den wir anknüpfend an unsern Bericht im April,

unser» Lesern noch näher darlegen müssen.

Gleichzeitg mit der russischen Entreveue und mit der Versicherung der ftiedlichen Gesinnungen

durch

die

und zum

Presse,

die

Maßhalten

Deutschlands

aller

europäischen

Mächte

große» Regierungen in

beschwichtigt

den Rüstungen

werde.

Ob

lief auch

die

Nachricht

hätten in Paris zur Vorsicht

gemahnt,

solche

damit das Mißtrauen

Ermahnungen

erfolgt

sind,

wissen wir nicht, wohl aber ist eS heute notorisch, daß sie jedenfalls frucht­

los

geblieben

sind.

Sie

würden

durch

die

entschiedene Sympathie,

mit

welcher sich England in der jüngsten Krisis auf die französische Seite steyte, in ihrer Wirkung ja auch neutralisirt worden sein.

Am 26. Mai ließ der Herzog

von DecazeS in die „Agence Havas“ die Notiz einrücken:

Die Nachricht sei

irrig, daß die französische Regierung die Ausführung der Maßregeln, welche

von der Nationalversammlung zur Reorganisation der französischen Wehrkraft und zur Sicherstellung des französischen Gebiets beschlossen worden seien, einge­

stellt habe.

Eine Einstellung derselben sei niemals in Frage gekommen.

Unter

jenen Maßregeln ist vorzugsweise das Gesetz vom 13. März „über die CaderS und die Effectivbestände der activen und der Territorialarmee"

zu verstehen,

welches die beabsichtigten Reuformationen, insbesondere die vierten Bataillone

enthält, und in seinen Anlagen die Cadres bis auf den letzten Tambour gesetz­

lich feststem.

Am 28. März wurde das Gesetz durch den Präsidenten Mac

Mahon publicirt; durch das Ausführungsdecret vom 29. März und die Er­

läuterungen vom folgenden Tage wurde die Errichtung der JnfanteriecadreS wie der neuen Formationen in der Cavallerie und Artillerie angeordnet. in

unserm früheren Bericht

wiesen wir auf die

Schon

Erklärung des Moniteur

vom 5. April hin, der die Maßregel der vierten Bataillone, durch welche „Frank­

reich den Jnfanteriemassen andrer Großmächte nunmehr die Spitze bieten könne," eine

vollendete

Thatsache nannte.

Die Richtigkeit dieser Mittheilung

des

Moniteur hat sich inzwischen völlig bewährt, wenn auch vielleicht die praktische

Organisation erst einige Wochen nach jenem 5. April fertig geworden ist.

Der

Militäretat für 1876 ist bereits auf Grundlage des CadresgesetzeS entworfen,

alld neuen Truppentheile der verschiedenen Waffengattungen sind in dem Etat vorgesehen, nur der Artillerie fehlen im Vergleich zu dem Gesetze noch 38 Batterien.

Es hängt dies wohl damit zusammen, daß von der Versailler Versammlung

schließlich zwei Batterien pro ArmeecorpS mehr beschlossen wurden, als der Kriegs­ minister de Ciffey ursprünglich verlangt hatte; die Herstellung dieser nachträg­ lichen Formationen wird sich etwas verzögern. — Wer also hoffte, Frankreich

werde doch ein Einsehen haben und nicht seinen Kopf darauf setzen, zur „Sicher­

stellung seines Gebiets" 170 Feldbataillone mehr zu schaffen, als die Deutsche Armee zählt, muß sich jetzt einen anderen Trost suchen.

Auch die Mittheilung

deS „Gaulois," die zwar die Existenz der vierten Bataillone zugab, aber ihnen die winzige Stärke von 30 Köpfen — Officieren und Mannschaften —- andichtete, hat sich als Schwindel erwiesen.

Matt sieht aus der Tabrikation solcher irre­

leitenden Notizen, wie sehr die Regierungskreise in Paris das Bedürfniß fühlen, die Thatsachen zu verheimlichen, weil dieselben, offengelegt, die Absicht der Frie­

densstörung gar zu deutlich an der Stirn tragen.

In dem Etat für 1876

haben alle Cadres eines Linienregiments die durch

die Anlagen zum Gesetze

vom 13. März vorgesehene gleichmäßige Stärke, nur scheint es, daß man an Mannschaften sparen will.

Die vierten Bataillone haben heute schon, wie aus

den in den Zeitungen vielfach gemeldeten militärischen Ernennungen hervorgeht, ihre Stäbe, wenn auch hier und da noch ein Bataillonschef fehlen oder eine an­

dere Lücke auszufüllen sein mag.

Ja neben jenen vierten Bataillonen ist dem

Cadresgesetz gemäß noch ein Ersatzbataillon mit zwei Depotcompagnien errichtet,

während in Deutschland die Bildung von Ersatzformationen erst mit dem Aus­ bruch deS Krieges beginnt.

* ’ Was beider französischen Armee noch unvollendet scheint, ist die Bewaff­ nung.

Mit der Artillerie allerdings soll man nahezu fertig sein.

Im December

1874 kam durch die Indiscretion französischer Blätter ein Schreiben des KriegsMinisters an den Obersten Reffye, den Erfinder des neuen Geschützes, zu Tage,

worin der Minister demselben lebhaften Dank abstattete, weil eS durch ihn möglich^geworden sei, daS Artilleriematerial bis zum Frühjahr 1875 fertig zu stellen. Anders steht eS offenbar mit dem neuen Jnfanteriegewehr.

Im März d. I.

brachte ein süddeutsches Organ detaillirte Nachrichten über die Reise einer franzö-

fischen Militaireommission und ihre Absicht, einen Vertrag auf Lieferung vM 1 Million neuer Gewehre mit einer großen Waffenfabrik in Steiermark abMfchließen.

Die Nachricht wurde von der hiesigen officiösen Presse ausgenommen

und blieb unseres Wissens unwidersprochen.

Wie weit Frankreich mit seinen

aptirtett Chaffepots, wovon es selbst nach der obigen Notiz nur eine halbe Million jährlich habe Herstellen können, heute gedichen ist, haben wir mit deu Hülfsmitteln unsrer Militärliteratur nicht herausbringen können. Man scheint anzunehmen, daß mit dem nächsten Jahr die ganze Feldarmee im Besitz deS

neuen Gewehrs sein werde. Wer sich ein Urtheil über die Bedeutung des — nach der obigen DarleMNg — nunmehr durchgeführten CadresgesetzeS bilden will, dem empfehlen

wir dringend, doch selbst einen Blick in daS, durch den Buchhandel jetzt leicht zugängliche Gesetz sammt den angehängten Tableaux zu werfen. Er wird dann finden, daß bei den Linienregimentern der Bestand an Mannschaften mög^

lichst gering, der Bestand an Offieieren und Unterofficiren möglichst hoch ge­

halten ist.

Eine französische Compagnie zählt

an Soldaten

int

Friedens­

stande nur noch 66 Mann; die deutsche Compagnie zählt 119 Mann.

Kopfstärke

eines deutschen Bataillons

mit Ausschluß

die Kopfstärke eines

und Spielleute 491 Mann,

stande nur 264 Mann.

ist

Die

der Unteroffiziere

französischen im FiedenS-

In dieser Abschwächung kann das Bataillon seine

Aufgabe, eine Schule für die Ausbildung der neu eintretenden Recruten zu sein, nur sehr schwer erfüllen; manche Zweige des Dienstes, besonders die Feld­

übungen sind kaum noch auszuführen.

Die französischen Militärs sehen diese

Mängel so gut ein, wie die deutschen; warum haben sie gleichwohl die Mann­

schaft eines Regiments statt in drei in vier Theile zerlegt, und dadurch jene Schwächung herbeigeführt?

Weil ihnen weniger an der guten Ausbildung der

jetzt noch eintretenden Recruten, als an dem Besitz einer möglichst großen Zahl

Don CadreS — Offieieren und Unterofficieren — liegt, in welche sie die Maffen kxiegSgeübter Soldaten, die ihnen in Folge der colossalen Aushebungen von 1870 und 1871 zu Gebote stehen, einreihen können.

Denn es ist kein Zweifel,

daß sie die Kriegsstärke des Bataillons auf die höchste zulässige Zahl von 1000 Mann bringen wollen.

Darum ist im Friedensstand das französische

Regiment an Mannschaft viel kleiner als das deutsche; aber während dieses nur

57 Offieiere und 172 Unterofficiere zählt, steigt in jenem die Zahl der Ofßciere

auf 73, die der Unterofficiere auf 252. Eine solche Organisation mit sehr starken

Politische Eotttspöttdönz.

688

Cadres und sehr schwacher Mannschaft würde die französische Militärverwaltung

als dauernde Einrichtung niemals schaffen, als Maßregel ad hoc aber, deren Schaden man ein oder zwei Jahre erträgt, um sofort die festen Rahmen für die Einfügung aller waffengeübten Männer bereit zu haben, ist sie zweckmäßig

und wohl ersonnen. — Die Hauptursache unserer Beunruhigung ist also unverändert — zu diesem Ergebniß gelangen wir, wenn wir unsern Verstand und nicht unsere Wünsche fragen.

War nun die deutsche Regierung nicht im Recht, in diesem Frühjahr die Mächte auf die unverkennbare Absicht der Franzosen hinzuweisen?

Wäre sie

nicht im Recht gewesen, wenn sie vor den befreundeten Mächten hinzugefügt

hätte, wolle der Gegner einmal schlagen, so werde sie nicht warten bis ihm

Zeit und Umstände am gelegensten schienen; — wenn sie erklärt hätte, ohne

eine beträchtliche Reduction der französischen Armee werde der Friede nicht ge­ sichert sein?

Lord Derby hat im englischen Oberhaus — nach dem glaubwür­

digen telegraphischen Bericht — am 31. Mai versichert, daß der deutsche Bot­ schafter sich wiederholt in diesem Sinne ausgesprochen habe.

Der englische Mi­

nister mag die Situation zu schwarz gemalt haben, um seine mit höflichem Dank

zurückgewiesene FriedenSmediatiön zu illustriren. doch nicht fälschen.

Aber jene Thatsache konnte er

Und wenn sie richtig war, so folgte daraus noch keineswegs,

daß man in Berlin zum Krieg schon entschloffen war, daß man die Umstände hier schon so dringlich hielt, um in Paris die Entwaffnungsfrage zu stellen. Man konnte zunächst nur die Absicht haben, zur Rechtfertigung für die Zukunft

das Ausland auf den wirklichen Quell aller Unsicherheit hinzuweisen, indirect

auf Frankreich zu wirken, oder die Stellung zu prüfen, welche die verschiedenen Mächte den gerechtfertigten Sorgen Deutschlands gegenüber einnehmen würden.

Da scheint nun durch die Zwischenaction „von Persönlichkeiten vom höchsten An­ sehen," wie Lord Derby sich ausdrückte, die Vorstellung in London erzeugt zu sein, als ob der Krieg Beschlossene Sache sei; und man scheint jener Vorstellung von dort

auS auch nach Petersburg hin den Weg gebahnt zu haben.

In Folge davon

erhob sich Anfang Mai in der englisch-französischen Preffe daS tobende Geschrei, daß wir unter nichtigem Borwand, wie der Wolf das Lamm^ Frankreich über­ fallen, es zerstückeln, vernichten wollten.

Man spielte in Paris die Rolle des

unschuldigen Opfers recht gut, und in London that man so, als glaube man daran.

Jetzt wurde unsere sorgenvolle Achtsamkeit zur wilden Beutegier, unser

berechtigtes Mißtrauen zum frivolen Borwand.

Natürlich wußten diese unver­

schämten Schreier ganz genau, daß in Wahrheit Deutschland den Frieden und Frankreich die Rache will, aber das hinderte sie nicht von uns Stillhallen zu

verlangen, bis unser Gegner die Stunde der Rache für gekommen erachte.

Der

Choc der brutalsten Angriffe die nun folgten und deren reeller Hintergrund die

Eifersucht über die deutschen Erfolge und das Mißtrauen über das russische Bündniß ist, — machte einen solchen Eindruck auf unsere offici'öse Preffe, daß sie sich völlig auf den Kopf stellte.

Jetzt plötzlich sollte gar nichts vorgefallen

sein; den ganzen Lärm habe die Presse verschuldet, Ultramontane und Baissiers

von der Börse wurden als Uebelthäter zu Hülfe genommen; seit 1870, so hieß es am 12. Mai, sei der Berkehr mit der französischen Regierung amtlich nie freundlicher und zufriedenstellender gewesen, als in den letzten Wochen. Durch solche Erklärungen wurde auch unser deutsches Publicum gereizt. So viel Schrecken, so viel Unsicherheit für Industrie und Handel, so viel Verluste an der Börse und alles um bloßes ZeitungSgerede l Warum sei man dem nicht früher entgegengetreten, warum habe das Regierungsblatt am 10. April selbst den beunruhigenden Charakter des französischen Cadresgesetzes fignalisirt! Der schmähsüchtige Theil der Journalisten heuchelte sittliche Entrüstung gegen die Blätter, welche im April die Verhältniffe ernst aufgefaßt hatten*). Später kam dann durch die freilich auch gefärbten Enthüllungen im englischen Parlament heraus, daß ihr Auge doch wohl das schärfere gewesen war. Aber nun entstand der Eindruck, als ob man in Berlin eine durchkreuzte Absicht zu verhüllen ge­ habt habe, und die Gesammtwirkung war übler, als hätte man die Continuität mit der Aeußerung vom 10. April stets festgehalten, und nur die übertriebenen Folgerungen abgewehrt. Die schroffen Uebergänge von schwarz zu weiß haben daS Publicum nur verwirrt und erbittert. Es weiß zwar, daß eine Regierung ihm nicht Alles sagen kann, aber es verlangt, daß was officiös gesagt wird, ohne Widersprüche sei. „Alle ehrlichen Leute in der Welt, — so stand in unserm Bericht vom April — müssen uns bezeugen, daß wir den Krieg mit Frankreich heute so wenig suchen, als 1870. Wir würden in Verlegenheit sein, welchen Preis wir nach einem zweiten glücklichen Feldzug verlangen sollten. Aber die Hände in den Schooß legen, bis der Gegner marschirt, können wir unmöglich." Daß dieser selbstverständliche Satz im Ausland böswillig mißdeutet wurde, überraschte un- nicht, in Deutschland kam es uns unerwartet. Wir hatten zwei Bedin­ gungen für die Action hingestellt — nicht blos „das Anwachsen der französi*) In der Brest. Zt^. führte ein Berliner Leitartikelschreiber ein paar Wochen lang das heitere Thema auS: die Krists in Europa sei von den „Preußischen JahrHÜchern" angestiftet, waö um so „ruchloser" sei, als hinter dem ganzen ZeitungS-

lärm gar nichts stecke. Ausgangs Mai waren ihm endlich die Augen aufgegangen^ er sah ein, „daß wir uns in einer erheblichen Gefahr befanden";" aber, fügte er hinzu, dos haben wir immer gewußt und nur aus Furcht vor der Polizei nicht direct die Personen angegriffen', die wir eigentlich meinten und deren Empstndlichkeit gegen die Presse wir kennen. — Dies Signalement geht augenscheinlich auf den Reichskanzler; gleich wohl heißt es unmittelbar darauf, die „Preuß. Iahrb." hätten ausgesprochen, was eigentlich der Wunsch „eines Theils der Camarilla" war. Also Fürst Bismarck ein „Theil der Camarilla"! Selbstverständlich unter­ scheiden wir zwischen der Bresl. Ztg. und ihrem Mitarbeiter und glauben durchaus nicht, daß ein so geachtetes Blatt aus Furcht vor der Polizei die Unwahrheit gesagt habe. — DaS Erstaunlichste an Schmähungen leistete der freiconservative Herr Blankenburg in der „Schlesischen Zeitung." Als Stilproben mögen folgende Kraft­ wörter dienen: „niedere Dienste gegen die jedesmaligen momentanen Wünsche^ und Bedürfnisse der Diplomatie", „frevles Spiel mit der öffentlichen Meinung eines freien Landes", „Literaten der Antichambre" u. f. w. Herr Blankenburg erreicht in der Kunst, die Ansichten politischer Gegner zu entstellen und dieselben persönlich zu ver­ dächtigen, die begabtesten ultramontanen Blätter. UebrigenS diskutiren die „Preuß. Jahrbücher" nicht mit Leuten, welche schimpfen.

Politische Korrespondenz.

680

schm Armee", sondern auch „sich vorbereitende Allianzen".

Mr erläuterten

dies noch weiter durch das Beispiel Friedrichs des Großen, der zwar auch ^den Krieg lange vorausgesehen habe, aber doch nicht eher losgebrochen sei, „als bis das Netz der europäischen Verschwörung nicht mehr anders zu zerreißen wär."

Jeder klare Kopf wird uns die sittliche und patriotische Berechtigung dieses Ge­ dankens zugeben; denn nicht wer den Krieg beginnt, sondern wer ihn noth­

wendig macht, ist der wirkliche Angreifer.

Aber zu den trügerischen Vor­

stellungen, durch welche man die öffentliche Meinung zu verwirren sucht, gehören

auch die von einer preußischen Militär- oder Kulturkampfpartei, welche sich nach Krieg sehne.

In Preußen hat der avancementslustige Lieutenant auch , in

den schlimmsten Zeiten nicht über Krieg und Frieden entschieden, ebensowenig

der Major und selbst nicht der General.

Unsere Feldmarschälle und Heer­

führer, die durch Kriege ohne Gleichen mit Lorbeeren überhäuft find, — wie könnten sie bei einiger merrschlicher Demuth in einem neuen Feldzug ein ebenso wunderbares, kaum durch einen Mißfall getrübtes Waffenglück erwarten? Aber auch eine Militärpartei in dem Sinne, daß nicht ihr persönlicher Ehrgeiz, sondern ihre technischen Erwägungen die letzte Entscheidung geben, existirt bei

uns nicht, sonst hätten wir im August 1866 unsere Armeen nach dem Rhein

marschiren lassen und im Frühjahr 1867 den Kampf wegen Luxemburg ausge­ nommen.

Die militärischen Beweggründe sind stets der staatsmännischen Wür­

digung der gesummten politischen Situation untergeordnet gewesen, Wenigsteps so lange, als es sich nicht nachweisbar um die Existenz der Nation handelte.

Und die— Diversion im Kulturkampf, nach welcher der Reichskanzler sich an­ geblich sehnen soll, weil es mit der Unterwerfung der Schwarzen nicht rasch

genug gehe, oder die internationale Verständigung zwischen den europäischen

Mächten gegen das Papstthum nicht gelungen sei!

Wer hetzt und schürt denn

am meisten zum Krieg? — Doch wohl die Ultramontanen. Chancen des Erfolges für sie noch so zweifelhaft sind,

gensätze zum gewaltsamen Losbruch zu treiben. Standpunkt aus Recht.

Selbst wo die

suchen sie die

Und sie haben

von

Ge-^

ihrepb

Denn große und schwere Leiden der Völker steigern

mit dem religiösen Sinn zugleich den Wahnglauben und befestigen daher die Herrschaft des Priesterthums über die unverständige Maffe.

DaS Schwert

mag einige landsverrätherische Fäden zerschneiden, den inneren Kampf zwischen

dem souveränen Staat und der ultramontanen Kirche vermag eS nicht zu be­ enden.

Das kann nur in einem langsamen Prozeß durch die Wirkung unserer

Gesetze, unserer die Confessionen zusammenhaltenden bürgerlichen Einrichtun­

gen und durch die allmählich fortschreitende vernünftige Schulbildung geschehen. Wir haben obenausgeführt, daß die wesentliche Ursache der europäischen Beunruhigung — die Rüstungen Frankreichs —- sich keineswegs zu Gunsten des Friedens geändert habe.

Aber diese militärischen Verhältnisse sind nur

die eine Seite der Situation, die andere liegt in den politischen Beziehungen der Ätächte. Und in dieser Hinsicht ist aus der letzten Krisis ein sehr erfreuliches

Ergebniß hervorgegangen.

Lord Derby hatte auch an das Wiener Kabinet die

Aufforderung gerichtet, die sogenannte „Friedensmediation" in Berlirt zu «Ger­

Aber Graf Andraffy lehnte dieses Ansinnen ab und erwiderte dem

stützen.

englischen Kabinet, daß er keinen Anlaß sehe, Deutschland eine friedenSstLrende Tendenz z« insinuiren, zunial er von dem Fürsten BiSmarck officiell« Zusicherun­

gen über die gemäßigten Dispositionen der Deutschen Regierung habe.

Stuf die

spätere Mittheilung Lord Derby'S, er müsse nach den ihm von Berlin a«S zuge­

gangenen Aufklärungen den Frieden als gesichert betrachten, antwortete Andraffy: „daS

britische Kabinet habe nur

eine Ueberzeugung gewonnen,

in

deren

Besitz man sich in Wien schon vor dem Beginn der diplomatischen Thätigkeit

England- befunden habe".

Die Bemühungen Englands, Oesterreich von dem

Dreikaiserbund abzuziehen, scheiterten also; Andraffy wieS die Theilnahme an einer zwischen Deutschland und Frankreich sich in die Mitte stellende», sogenann­ ten FrikdenSligua ab und beharrte entschieden auf der Seite deS deutschen Alliirten.

Md daß der Leiter der österreichisch-ungarische» Monarchie mit diese» Gesin­

nungen auch bei seinem Monarchen festen Boden hat, dafür ist der Besuch, den Erzherzog Albrecht dem deutschen Kaiser in EmS abstatten wird, ein vielsagender Beweis. — Die völlig unverminderte Fortdauer der freundschaftlichen Gesinnun­

gen deS russischen Czaren zu Kaiser Wilhelm und zn Deutschland hat selbst die englische Presse nicht anzweifeln können.

Weder der Nachricht, daß Fürst Gort-

schakoff ein gemeinschaftliches FriedenScircular von dem Fürsten BiSmarck ver­ langt habe, noch dem beruhigenden Telegramm an die Gesandten, welches der russische Kanzler für zweckmäßig hielt, hat man eine solche Deutung z« geben gewagt.

Man weiß, daß der Czar unser bester Freund, für die Intriguen unserer

Gegner unzugänglich «nd über die Absichten Frankreichs schwerlich im Un­ klaren ist.

So im Rücken gedeckt durch eine in guten und üblen Tage» znverläsfige Allianz, und in der Wanke gesichert durch eine loyale Politik, die der entgegen­

gesetzten Strömungen offenbar jetzt mehr Herr ist, als wir vor zwei Mo­ naten annahmen, könne» wir allerdings den Fortgang der französischen Rüstungen mit größerer Ruhe beobachten.

Vielleicht, daß plötzliche Ereigniffe dem Gedanken­

kreis des französischen Volkes eine andere Richtung geben. Vielleicht, daß die allgemeine« Wahlen eine veränderte Lage schaffen, daß die bestehende Ordnung

einmal wieder umgestürzt wird, — kurz daß irgend etwa- geschieht, was die Energie, mit welcher die Revanche vorbereitet wird, lähmt «nd den Frieden

verlängert, dessen Erhaltung ganz Deutschland ersehnt. — Wir schließen unsere Uebersicht in dem Augenblick, wo die parlamentarische Thätigkeit deS preußischen Landtags zwar ihrem Abschluß entgegen geht, aber

daS Schicksal der wichtigsten Vorlagen noch in den Händen deS Herrenhauses

liegt.

Eben deshalb mag der Rückblick auf jene angestrengte Thätigkeit und die

Darstellung der Kämpfe und Gegensätze, welche die Berathung der Provinzial-

ordnung wachrief, dem nächsten Heft vorbehalten bleiben.

Preußische äahrbücher. Bt. XXXV. Hest S.

W.

47

Notizen. Ws Ranke in seiner englischen Geschichte gewisse auf Macaulay zurück-

gehende Lieblingsvorstellungen des Liberalismus bekämpfte, hatte ein deutscher

Kritiker die Dreistigkeit, ihn der royalistischen GeschichtSmacherei zu beschuldigen. Wenn der gesinnungstüchtige Parlamentarier noch unter den Lebenden wellt

und das neueste Werk seines Gegners liest, so wird er ihm wohl das damals angethane Unrecht hundertmal abbitten. ES giebt mehr als ein Werk von Ranke,

welches die Abhandlung

„Ursprung und Beginn der Revolutions­

kriege 1791 und 1792" an Tiefe der Auffaffung und Schönheit der Dar­ stellung übertrifft; vom ethischen Standpunkt aus betrachtet, steht sie vielleicht

am höchsten.

Wer die persönlichen Ansichten deS Verfassers kennt, wird hier

eine Selbstüberwindung geübt finden, welche glücklicherweise in unsrer ehrlichen

und gewiffenhaften Historiographie nicht zu den Seltenheiten gehört; wie oft

wird der Deutsche nur a«S Liebe zur Gerechtigkeit ungerecht.

Die Entwickelung deS historischen Urteils über de» Krieg gegen die franzöflfche Revolution ist bekannt.

Die französische Anschauung, »ach welcher die

Mächte deS feudalen Europa das konstitutionelle Frankreich ruchloS überfallen

hätten, beherrschte die gesammte Litteratur ein halbes Jahrhundert, lang, bis H. v. Sybel in seinem klassischen Werke über die RevolutionsM den Nachweis lieferte, daß der Krieg von langer Hand durch die Gironde zur Verwirklichung ihres radikalen Programms vorbereitet war; das auswärtige Unternehmen stellt« sich als Theil eines wohldurchdachten Systemes specifisch französischer Politik dar.

Wen überraschte eS nicht, daß Ranke der alten, französischen Auffassung wieder einen Schritt entgegen kommt, indem er vor allem der Königin Marie Antoinette

einen wesentlichen Antheil an dem Ausbruch deS Krieges zuschreibt.

Er.thut

dies auf Grund von Briefen, die ein vorsichtiger Forscher bis jetzt bei Seite lassen mußte, weil sie in den echtes und unechtes mischenden Sammlungen von Hunolstein und Feuillet de ConcheS enthalten waren; Ranke hat sie aber selbst

in der Zeit, wo die französischen Archive deutschen Forschern noch nicht ver­ schlossen waren, im Original gesehen und benutzt, wir habe» eS also so zu sagen

mit neuem Material zu thun. Hiernach darf man allerdings nicht mehr behaupten,

Marie Antoinette habe die Abneigung ihres Bruders gegen fremde Einmischung getheilt.

AuS den entscheidenden Sommermonaten 1791, wo eS sich um An-

nehmen oder Ablehnen der Konstitution handelte, liegt ein Brief vor, in dem die Königin letztere nicht nur „monströs" nennt und ihr eine lange Lebensdauer in der schärfsten Weise abspricht; sie erklärt auch mit dürren Worten: „nur die

fremden Mächte können uns retten", sie hofft auf ein Manifest derselben, das von einer starken Streitkraft unterstützt wäre (Feuillet de Conches 2, 223. 224).

Trotzdem ist sie dafür, daß ihr Gemahl die Verfassung annimmt, doch nur mit

dem Vorbehalt starker und wesentlicher nachträglicher Aenderungen.

Sehr bald

nachdem der Eid geleistet, kehren ihre Klagen und Bitten wieder: die europäischen Mächte sollten sich nicht nur durch friedliche Erklärungen der Sache deS Königs annehmen, welche die Sache aller Souveräne^sei, sondern durch eine thatkräftige

Dazwischenkunft. dieser Frau.

Ranke geht so weit zu sagen, es sei etwas Dämonische- in

„Sie will das Scepter in seiner vollen Autorität nicht bloS wieder­

herstellen, sondern nach allen Seiten erst wahrhaft fixiren.

So hoffte sie es

ihrem Sohne, in dem das Blut ihrer Ahnen rolle, der sich als ein wilrdigex Enkel Maria Theresias au-weisen werde, zu übertragen.

Zugleich fleht sie alle

persönlichen Gefahren, die fle dann wirklich betroffen haben, im Voraus kommen^ Schon in diesem Augenblicke fühlt sie die Bedrängnisse, in denen sie ist, die

Beleidigungen, die sie erfährt, wie einen moralischen Tod, mit dessen Quecken der physische nicht zu vergleichen sei.

ES entspricht ihrer persönlichen Stellung;

daß sie die Wiederaufrichtung der monarchischen Gewalt und selbst die Kon-

servation der Königlichen Familie zwar von der Anhänglichkeit eines Theile- der Franzosen, aber noch mehr von der Einwirkung der auswärtigen Mächte w?

wartet.

Sie macht sich jedoch keine Illusion darüber, daß sich gegen diese im

Schooße der Nation ein Widerstand von einer Energie und Ausdehnung vor­

bereite, von der man noch nie gehört habe.

Dieselbe Gewalt, die da- König­

thum uuterdMcke, werde den europäischm Mächten den Krieg erklären.

Ebert

um dieser Gefahr zuvorzukommen, fordert sie ihren Bruder auf, im Verein mit den übrigen europäischen Mächten König Ludwig XVI. durch einen Kongreß zu unterstützen und ihm die Freiheit der Action wiederzugeben, durch welche

allein auch die große europäische Gefahr abgewendet werden würde."

Ein ander Mal, wo von der Annahme der Verfassung die Rede ist, sagt

Ranke im Hinblicke auf die Berbesserungspläne des Königspaars: „Eine Con­ stitution halten ist schwer: sie halten und zugleich verbessern, fast unmöglich?" ES ist die alte, seitdem eS Charten giebt, immer wieder ventilirte Frage Äer

die Verpflichtung des BerfaffungseideS und die Unabänderlichkeit der Constitution selbst.

Die modernen Verfassungen enthalten alle einen Paragraph über die

Möglichkeit einer gesetzlichen Aenderung, er allein macht einem ehrlichen, nicht an menschliche Unfehlbarkeit glaubenden Manne den Eid auf das Grundgesetz

möglich; offenbar ist hiermit aber die Streitfrage nicht gelöst.

Denn zu einem

lusren Spiele würde der Eid, welcher mit dem stillen Vorbehalt geschworen

würde, Paragraph für Paragraph zu ändern.

So etwa hat die ältere franzö-

Notizen.

694

fische Geschichtschreibung ben Schwur Ludwig XVI. angesehen, in völliger Ber­

kennung aller Thatsachen, wie Sybel gezeigt hat und Ranke von neuem bestätigt. Höchst energisch äußert sich Marie Antoinette allerorten gegen die Emigranten und ihre Ideale, eine Erneuerung etwa der alten Autorität der Parlamente und

der alten Generalstände wäre ihr geradezu widerwärtig gewesen, denn sehr wohl empfand sie die darin liegende Einschränkung der königlichen Gewalt.

Deshalb

war sie früher für die Verdoppelung des dritten Standes gewesen; wesentliche Theile der neuen Verfaffung, und gerade solche, die den Emigranten am meisten

verhaßt waren, wollte sie und ihr Gemahl so ehrlich halten, wie nur irgend ein Musterkonstitutioneller.

Ebenso unbestritten bleibt ein andres Resultat deutscher Forschung.

Aller­

dings geht Ranke dem französischen KönigSpaar scharf zu Leibe, namentlich

Ludwig XVI., für den er sehr geringe Sympathien bekundet.

Er wirft ihm

einen Mangel an Voraussicht vor, der fast unbegreiflich sei; nicht ohne Gefühl für die Würde der Krone, habe er doch in den Mitteln geschwankt sie aufrecht zu erhalten; eS sei ein Grundzug seine- Charakters gewesen, daß er hartnäckig

an dem Einen festhielt und dann doch auf das rascheste sich zu dem Gegentheil entschloß.

Ranke betont weiter, daß erst nach dem mißglückten Fluchtversuch

deS König- die bis dahin noch immer niedergehaltenen republikanischen Elemente

emporgekommen seien; er stellt daS Rundschreiben von Padua und die Zusammen­

kunft in Pillnitz nicht ganz so unverfänglich dar, wie seine deutschen Vorgänger, er constatirt namentlich auS einem bisher unbekannten Dokument, daß denn doch schon in Pillnitz die Kriegsbereitschaft der beiden deutschen Mächte beschlossen gewesen ist, allerdings ohne daß die That dem Worte auf dem Fuße nachgefolgt wäre.

Er kann eS nicht harmlos finden, wenn die Emigranten auf deutschem

Boden zu feindlichen Demonstrationen schritten; er nennt den Erlaß deS Fürsten

Kaunitz vom 17. Februar 1792 heftig und geeignet, den Streit der französischen Parteien zu vollen Flammen anzufachen, er sagt sogar: „Ohne Zweifel lag in

der Depesche ein Versuch, in die inneren Angelegenheiten von Frankreich über­

haupt einzugreifen: ein Versuch der jede Nation, keine aber mehr als die fran­ zösische aufregen mußte."

Die Errichtung gleichsam eines obersten Tribunals

über die ftanzösischen Angelegenheiten dünkt ihm ein Widerspruch gegen den ganzen Lauf der europäischen Geschichte in den letzten Jahrhunderten.

Welchen Eindruck werden diese Erklärungen in Frankreich machen!

Er

wird um so größer sein, da man sicherlich andere Stellen deS BucheS übersehen

oddr todtschweigen wird.

Ranke hält, wie Sybel, daran fest, daß die Absicht

der Jakobiner darauf gerichtet war, den Krieg zum AuSbruch zu bringen; eS habe in ihnen der Impuls gelebt, „welcher nach der Macht strebt und ihren

Besitz vor Augen sieht."

Erst die bestimmte Kunde von dem bevorstehenden

Angriff der Franzosen und dann dieser Angriff selbst habe die beiden deutschen Mächte veranlaßt, zu den Waffen zu greifen.

„Mit Unrecht — heißt eS an

einer anderen Stelle — würde man die Excesse der Revolution von dem Angriff,

der ihr drohte, Herkerten: dieser selbst war in allen seinen Stadien eine Fnlge der revolutionären Handlungen." Manchem Leser wird eS bei diesen Stellen so ergangey .sein wie uns, er wird eine ausreichende Motivirung derselben in dem Ranke'schen Buche vermißt haben. Ein Mangel, der mit der Eigenthümlichkeit der späteren Werke unsres großen Historikers eng zusammenhängt. Sie verweilen längere Zeit nur bei den Ereignissen, über welche der Autor neues Material vorzulegen vermag; so ist eS gekommen, daß die einseitige Aufhebung der den deutschen Fürsten in Elsaß-Lothringen völkerrechtlich vorbehaltenen Rechte verhältnißmäßig kurz abge­ than wird, und doch wurde, wie Ranke selber zugiebt, durch diese Gewaltmaßregel der Rational-Bersammlung zuerst daS staatsrechtliche Verhältniß erschüttert, auf welchem der Friede mit Deutschland beruhte. Sodann aber, waS noch wich­ tiger, immer mehr hat sich Ranke's Darstellung auf einen engen KreiS hoher und höchster Persönlichkeiten beschränkt; jene wundervollen Schilderungen volkSthümkicher Bewegungen, welche noch einen Haüptschmuck der „deutschen Geschichte" bildeten, fehlen in 'seinen neueren Schriften so gut wie völlig. Nirgends offen* bar zu größerem Schaden des Ganzen als hier, wo eS sich um den gewaltigsten Erfolg handelt, den die populären Kräfte jemals errungen haben. Der Verfasser erkennt sie in ihrer Bedeutung an, indem er ihnen aber in seiner Erzählung einen geringen Raum gönnt, tritt nothwendig auch ihre Verschuldung an dem AuSbruch des Krieges weiter zurück als es den thatsächlichen Verhältnissen ent­ spricht. Einem Halbeingeweihten können sie hier beinahe unschuldig erscheinen, und daS waren sie doch wahrlich nicht. Sie hatten stärkere und bessere Vor­ wände, als man bisher anzunehmen geneigt war, sie hätten den Krieg aber auch begonnen ohne jeden Borwand. M. L.

AuS den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marien­ burg Theodor von Schön: so lautet der Titel eines der merkwürdigsten Bücher, welche die letzte Saison auf den Markt gebracht hat. Ob eS mehr Hoffnungen erweckt oder enttäuscht hat, bleibe dahingestellt. Der Herausgeber, ein Sohn deS Ministers, hat, wie er in der Vorrede andeutet, vergeblich ver­ sucht, einige namhafte Schriftsteller für die Bearbeitung zu gewinnen, und end­ lich selber die Arbeit übernommen — getrieben durch eine achtungSwerthe Pietät, aber leider ohne die gelehrte Ausrüstung, welche die Aufgabe verlangt. Jene Vorrede ist eigentlich daS einzige, waS er in dem vorliegenden Bande von 350 Seiten fein eigen nennen kann, alles übrige find Memoiren und Briese, die noch dazu mit sehr geringem Geschick aneinander gereiht find. Die Sammlung wird eröffnet durch die Selbstbiographie deS alten Schön, dann folgen, in besondrer, die Benutzung unnöthig erschwerender Paginirung „An­ lagen", welche angeblich die Biographie erläutern sollen, obwohl sie theilweise

Notizen.

696

üuS einer Zeit stammen, die dort gar nicht mehr behandelt ist.

Mitten in die

Memoiren wird ein langer Brief und in diesen wieder ein kürzerer eingescho­ ben (S. 84. 89).

Die Wiedergabe des Textes erfolgt im engsten Anschluß

an die Originale,

sogar auf Kosten des Verständnisses, wie z. B. S. 67,

wo

ein

völlig

unverständlicher

Satz

ohne

jede

Aenderung

und

Erläute­

rung wiedergegeben ist; S. 60 der Anlagen war durch ein Semikolon Sinn in den Unsinn zu bringen, man mußte aber wissen, daß eS zwei Offiziere des Namens Schöler in der preußischen Armee gab.

Die Erklärungen beschränken fich

auf einige werthlose Auszüge aus SchönS Stammbuch, auf ein Excerpt aus E. M. Arndt, auf die deutsche Uebersetzung eines frauzöfischen Briefes von FranciS Jver-

nois, auf einige Noten zu den Namen derer, mit welchen Schön korrespondirte. Doch

auch in diesem wenigen zeigt der Herausgeber seine Unkenntniß, so weiß er nicht, wer AlopeuS ist und daß Friedrich v. Raumer mit Schön in brieflichem Verkehr stand (Anlagen S. 88. 161).

Bei Gelegenheit des Durchzuges von 1812 heißt es in

den Memoiren: „Dem Davoust'schen Corps muß, als eö 70,000 Mann stark

in und um Gumbinnen stand, noch viel an der 14 tägigen Verpflegung gefehlt haben" u. s. w.; dem Herausgeber erscheint die Stelle wichtig und schwierig genug, um in einer Note zu den 70,000 folgenden Kommentar zu geben: „Clausewitz hinterlassene Werke 7. Band zweite Auflage S. 40. 2 giebt sogar

72,000 Mann an."

Ein ander Mal redet Schön von einem Aufsatze, den er

bei seiner Anwesenheit in Berlin 1810 dem StaatSkanzler gegeben habe: „wovon

Jeder

— fährt er fort — däS erste Gesetz der Gesetzsammlung die Folge ist."

Subalternbeamte würde wissen, daß die 1810 begonnene Sammlung der preu­

ßischem Gesetze gemeint ist; der Herausgeber macht die gelehrte Note: „Durch KabinetS-Ordre vom 30. October 1802 war Schön zum Mitglieds der Gesetz-

Commisston ernannt"! Ob eines seiner Dokumente, wie z. B. der sehr bekannte Brief an Schlosser

über

den

ostpreußischen

Landtag,

bereits

veröffentlicht

wenig; er sendet sie alle als Inedita in die Welt.

ist,

kümmert

ihn

Natürlich bleibt auch die

in den Jahrbüchern (Band 31) veröffentlichte Untersuchung von O. Mejer

unerwähnt und unbenutzt; ebenso das charakteristische Urtheil Friedrich Wil­ helm III. über Schön (F. v. Raumer Lebenserinnerungen 1, 133).

Dafür

hält der Herausgeber mit Schriftstücken, die zur Erläuterung der Memoiren beitragen würden,

zurück.

So fügt er zu

der Erzählung

des auch

von

E. M. Arndt erwähnten Barnekow'schen Falles die kühle Notiz hinzu: „Die ge­ naueren Angaben darüber, mit den Namen, sind in den Memoiren verzeichnet" ;

welche Memoiren dies sind, warum sie nicht herbeigezogen wurden, darüber ver­ liert er kein Wort.

Eine seiner Hauptaufgaben findet er darin, Personennamen,

deren Erwähnung ihm anstößig schien, zu verschleiern, er macht die- aber so ungeschickt, daß jeder nur halbwegs Kundige ungenirt über seine Hieroglyphen

fortliest.

Jnitialien dagegen, die er vorfand, überläßt er dem Leser zur geneigten

Auflösung. Wer wird nach diesen Proben erwarten, daß er auch nur die elementarsten

Notizen.

697,

Grundsätze der historischen Kritik in Anwendung zu bringen vermöchte? RathloS steht er der Aufgabe gegenüber, den Zeitpunkt der Abfassung der „Selbstbiographie" festzustellen, obwohl doch schon die Erwähnung der Schrift von Friccius „Zur Geschichte der Errichtung der Landwehr" einen sichern Anhalt gewährte. Vollends die nicht eben seltene» Irrthümer seines Vaters zu er­ kennen war er ganz außer Stande. Diese Bersänmniß nachzuholen bleibt einer besonderen Untersuchung Vorbehalten. M. L.

Veranlwortlichcr Rcdactcur: Dr. W. Wehrenpfennig.

Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.