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German Pages 701 [706] Year 1875
Preußische Jahrbücher Herausgegeben
von
H. v. Treitfchke und W. Wehrenpfennig.
Fünfunddreißigster Band.
Berlin, 1875. Druck und Verlag von Georg Reimer.
Inhalt. Erstes Heft.
Dries Goethe's an den Fürsten Radziwill.
(Herman Grimm.)...................... Seile
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
(Ernst von der Brüggen.).................................................................................... — L6on Gambetta und die Loirearmee. Norbalbingische Studien.
I.
III.
(Frh. v.
d. Goltz.)..........................—
(Nitzsch.)...................................................................—
Zaunkönig und Spielmannskönig.
1
I.
(W. Scherer.)..................................................—
6
26 62 85
(W.).................................................................................... —
91
Notizen............................................................................................................................. —
102
Politische Correspondenz.
Zweites Heft. Nordalbingische Studien.
II.
(Nitzsch.)................................................................... —
Die gegenwärtigen Reformfragen in unserem höheren Schulwesen.(H.Bonitz.)
—
Cornelius und dsie ersten fünfzig Jahre nach 1800.(Herman Grimm.)
113
143
—
165
Kritische Streifzüige. IV. Wahrheit und Dichtung in neuer Ausgabe. (Julian Schmidt.)
.............................................................................................................. —
Stiftungen für Studirende an hauptstädtischen Universttäten.
(E.Curtius.) .
—
Notizen............................................................................................................................... —
196
213
219
Drittes Heft. Norbalbingische Studien.
III.
(Schluß.)
(Nitzsch.)............................................ —
221
IV.
(Frh. v. d.Goltz.)............................. —
245
LSon Gambetta und die Loirearmee.
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
II.
(Ernst von der Brüggen.)..................................................................................... —
271
Shakespeare und die Dichter seiner Zeit. (Charles Grant.).................................... —
289
Schmidt.)........................................... —
313
Kritische Streifzüge.
V.
Essays.
(Julian
(W.).................................................................................... —
323
Nottzen................................................................................................................................. —
332
Politische Correspondenz.
IV
Inhalt.
Viertes Heft. V.(Frh. v. d. Goltz.).............................Seite 333
Löon Gambetta und die Loirearmee. Freiheitspflichten. Hamlet.
(Friedrich Thudichum.).............................................................. —
(Herman Grimm.)........................................................................................ —
Zum 22. März 1875.
(Theodor Mommsen.).......................................................... —
Die gerechte Bertheilung der Güter.
356 385 404
Offener Brief an Gustav Schmöller.
(Heinrich v. Treitschke.)......................................................................................
— 409
(W.).................................................................................... —
448
Notizen................................................................................................................................. —
460
Politische Eorrespondenz.
Fünftes Heft. Die erste Theilung Polens und die (Konstitution vom 3. Mai 1791.
III.
(Ernst von der Brüggen.)........................................................................... — Kritische Streifzüge.
VI.
(Julian Schmidt.) ...
(Au- der Wertherzeit.)
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868. I. (Friedrich Kapp.)
Die Umgestaltung der Monumenta Germaniae.
(H. Brunner.).................. —
Die Einweihung der Zoologischen Station in Neapel.
•
—
483
—
509
535 —
542
(L. Schneider.)................................................. —
557
.............................................................................................................................—
575
England und Rußland im Orient.
Notizen.
(Dr. H. E.)
465
•
•
Sechstes Heft. Friedrich August, Freiherr von Hardenberg.
Ein Lebensbild.
(Von einem
Mitgliede der Familie.)......................................................................................... —
Ein Freiwilliger von Gravelotte.
Samuel Pufendorf.
I.
604
(Heinrich v. Treitschke.)...................................................... —
614
Die Abtheilung der Leges der Monumenta Germaniae historica. (G. Waitz.) Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
—
656
(Fortsetzung.)
(Friedrich Kapp.).................................................................................................. — Politische Eorrespondenz.
581
(Fritz Stein.)...................................................... —
660
(W.).................................................................................... —
684
Notizen................................................................................................................................. —
692
Bries Goethe's an den Fürsten Radziwill. Den 2. April 1814 schreibt Goethe an Knebel:
„Gestern überraschte uns eine ganz besondere Erscheinung,
Fürst
Radziwill, der ein herrlich Violoncell spielt, selbst componirt und zu diesem
Bogeninstrumente singt.
ES ist der erste wahre Troubadour, der mir
vorgekommen; ein kräftiges Talent, ein Enthusiasmus, ja — wenn man
will — etwas Phantastisches zeichnen ihn aus, und Alles was er vor bringt, hat einen individuellen Charakter.
Wäre seine Stimme entschie
dener, so würde der Eindruck, den er machen könnte, unberechenbar sein."
Ueber das was damals zwischen Goethe und dem Fürsten besprochen
wurde giebt eine briefliche Sendung Auskunft, deren Abdruck S. Durch laucht der Fürst Anton Radziwill freundlichst gestattet hat. I. (Aus des Prinzen Schreibtisch in Berlin.)
Durchlauchtigster Fürst,
Gnädigster Herr,
Ew. Durchlaucht geruhen, gegenwärtige kleine Sendung gnädig auf zunehmen, in Erinnerung jeneö häuslichen CirkelS, dem Sie so unvergeß
liche Stunden schenken wollen.
Ich wünsche, daß die Scene des Garten-
HäuSchenS, in ihrer gegenwärtigen Form, der Musik mehr geeignet sein
mW, als sie eS bisher in ihrem LaconiömuS gewesen.
Noch eine andere
liegt bei, welche bestimmt ist der Garten-Scene vorauszugehen. Möge Ew. Durchlaucht hierdurch eine kleine Freude und in jeder
Hinsicht so viel GuteS gewährt sein, als Sie andern zu verschaffen wissen. Mich zu Gnaden empfehlend Weimar den 11. April 1814. (Bon der Hand des Fürsten:)
*
Die Unterschrift von Goethe ist herausgeschnitten
F. Radziwill. Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Hefti.
1
Brief Goethe'- an den Fürsten Radziwill.
2
II.
(Heft in 4”)
Zwei Teufelchen tauchen aus der rechten Versenkung.
A. Nun, sagt' ich's nicht, da sind wir ja:
B. DaS ging geschwind! wo ist denn der Papa? Wir kriegen'S ab für unsern Frevel.
(sie sind herausgetreten.) Er ist nicht weit, eS riecht schon stark nach Schwefel.--------
Ich fahre nicht fort mit dem Abdrucke, da die Scene bereits nach einer früheren Mittheilung im Berliner Conversationsblatte von 1827, von
Loeper im Anhänge zum zweiten Theile seiner ausgezeichneten Ausgabe des
Faust (bei Hempel) abgedruckt worden ist. Nur irrt Loeper (Dorr. LXXX.)
indem er glaubt, diese Scene habe ihre Stelle am Schlüsse der Garten scene, in der Bearbeitung des ersten Theiles des Faust als Oratorium, finden
sollen.
Der Irrthum hätte nicht
stattfinden können,
wäre im
Conversationsblatte auch die Schlußbemerkung wiedergegeben worden:
Amor fliegt gegen die Seite, wo sogleich Faust und Gretchen hervor treten.
Die Teufelchen hüpfen in die entgegengesetzte, wo später Mephi
stopheles und Martha heraus kommen. Auö dieser Bemerkung wird auch ersichtlich, daß diese Scene nicht
für das Oratorium bestimmt war, sondern daß Goethe die Bühne im
Sinne hatte, da er sonst die nur für ein Theater anwendbare Bestimmung des Auftretens der Personen von verschiedenen Seiten und ihrer Bewe gung nichtgetroffen haben würde. Er hat die Scene offenbar nur deshalb
abschriftlich dem Fürsten mitgetheilt, um ihm eine Artigkeit zu erweisen. Wir haben sie als Paralipomenon zum zweiten Theile zu betrachten.
Es folgt nun die Gartenscene selber.
Auch diese hat G. von Loeper, aber nur auö dem belangen Texte der Radziwillschen Faustcomposition abgedruckt, welcher jedoch zum Zwecke
der Musik auS Goethe'S Worten zu einer, dem Componisten bequemeren Form in manchen Kleinigkeiten umgeändert worden war.
Wir geben die
Scene mithin nun zum erstenmale in ihrer vom Dichter selbst für die
Musik vorgeschlagenen einfacheren Gestalt.
Brief Goethe'« an den Fürsten Rmdziwitl.
3
III. (Besonderer Bogen.)
Ein Gartenhäusche«. Margarete springt herein, steckt sich hinter die Thür, hält die Finger spitzen an die Lippen, und guckt durch die Ritze.
Margarete. Er kommt! Er kommt so schnell, Er wird mich fragen. Da draußen ist's so hell — Ich kann's nicht sagen.
Faust kommt.
Ach Schelm, so neckst du mich! Willst du'S nicht sagen?
Ich lieb' ich liebe dich! Sollt' ich nicht ftagen?
Margarete. Was soll denn aber das? Warum verfolgst du mich? Faust.
Ich will kein ander Was, Ich will nur dich!
Margarete. Verlangst du noch einmal
Was du genommen? —
Komm an mein Herz! du bist Du bist willkommen!
Faust.
O welchen süßen Schatz Hab' ich genommen! So sei denn Herz an Herz
Sich hoch willkommen! Marthe und Mephistopheles
außen.
Kluge Frau und kluger Freund Kennen solche Flammen,' Bis der Herr es redlich meint,
Laßt sie nicht beisammen.
4
Brief Goethe'- an den Fürsten Radziwill.
Faust.
Wer da? Mephistopheles.
Gut Freund!
Faust. Ein Thier!
Mephistopheles mit Diarthe hereintretend.
Nun endlich, so gefällst du mir! Mephistopheles und Marthe.
Wer Gelegenheit gegeben Der soll leben;
Wer Gelegenheit benommen, Schlecht willkommen! Margarete und Faust.
Sag' wer hat eö uns gegeben Dieses Leben? Niemals wird eS unS genommen Dies Willkommen.
Das Ganze von der Hand RiemerS lateinisch geschrieben, in einer
Schrift, welche der Goethe's so sehr ähnelt, daß ich bei oberflächlichem Anblicke zuerst denken konnte, Goethe selber habe die Feder geführt. Wenn man diese im kühlen Operncanzleisthl abgefaßte Umbildung der so lebendigen Scene mit dem Originale vergleicht, sollte man für unmöglich
halten, Goethe habe den reizenden Strom seiner eignen Dichtung in so hart geschnittene Eiöblöcke verwandeln können.
Indessen bedenken wir.
Goethe trug den Inhalt seiner Dichtungen so lebendig in der Seele,
daß ihr Ausdruck in Worten, selbst wenn er ihm am herrlichsten gelungen
war, dennoch für ihn eine über alle festen Formeln erhabene Berechtigung blieb.
Er glaubte sein Eigenthum jeden Tag anders gewandt und anders
accentuirt neu mittheilen zu dürfen.
Aus dieser souverainen Freiheit heraus
sehen wir ihn den Götz für die Bühne umgestalten, sehen wir ihn die
Iphigenie immer wieder frisch modelliren, als sei sein Werk weicher Thon, der jedesmal erneuter Umformung gehorchen müßte.
Goethe war der Herr
«nd seine Werke hatten sich jederzeit seinem Willen zu fügen.
Sobald er
die Composition deS Faust als Oratorium ins Auge faßt, stellt sich seinem Geiste eine Gestalt dar, für deren Gebrauch er ihn in die bequemsten ent
sprechenden Worte bringt. Goethe war 1814 ein anderer als 1774. ihm gleichgültig,
ES war
ob litterar-historische Betrachtung ihm später vorwerfen
könne, seine Dichtung in gewissem Sinne zerstört und willkürlich anders
aufgebaut zu haben.
Er that auch hier was ihm beliebte.
Goethe sagt,
indem er sich selbst im Alter critisirt, er habe Anfangs „gar keinen eige nen Styl"
Jugend
gehabt.
schreibt
er
Uns heute erscheint das freilich nicht so. einen Styl,
dessen Wesen unS in
In der
jedem kleinsten
Zettelchen seines Briefwechsels so klar ist, daß wir nichts was von Goethe herrührt einem andern Autor beimessen würden. einen andern Styl.
Im Alter schreibt er
Er hatte ihn sich im Laufe der Zeit gebildet und
bringt ihn zur Anwendung. Auch wurde die Herrschaft dieses SthleS seiner
letzten Periode anerkannt, so lange er selbst von Weimar auö bis in sein höchstes Alter die Deutsche Litteratur regierte.
überwunden.
Wir haben ihm gegenüber
Heute ist diese Herrschaft
unsere Unbefangenheit
gewonnen und lassen nur gelten was uns zusagt. Rechte,
wieder
Und so sind wir im
diese Veränderung seiner Faustscene nur noch alS ein seltsames
Symptom der Entwicklung des großen Dichters aufzufassen: alS ein Zei
chen seiner inneren Freiheit und deS höheren idealen Lebens, mit dem seine Dichtungen in ihm und mit ihm sich fortbildeten, alternd mit ihm selber gleichsam.
31. Dec. 1874.
Herman Grimm.
Die erste Theilung Polens und die Constituston vom 3. Mai 1791. (Vgl. Preuß. Jahrb. 1873, Heft 5 und 6, Art.: „Innere Zustände Polen'« vor der
ersten Theilung".)
I.
Einstmals hatte Polen in einem losen LehnSverhältniß zum deutschen Reich gestanden.
ES war damals, als die ersten Piasten nach der Eini
gung der polnischen Theilfürstenthümer in Einer Hand strebten und als die sächsischen Kaiser nach allen Seiten hin und vornehmlich nach Osten das Gewicht der deutschen Krone ausbreiteten.
Dann hatte sich diese
schwache Verbindung allmählich gelöst und Heinrich II. versuchte vergebens, den aufstrebenden Polenstaat beim Reich zu erhalten.
Nicht mehr das
deutsche Reich legte der Selbständigkeit Polens Hindernisse in den Weg,
sondern auf der anderen Seite erstand Großfürstenthum Moskau.
ein gefährlicherer Nachbar im
Fast ununterbrochen ziehen sich von nun an
die Kämpfe der beiden Nachbarn durch die Jahrhunderte hin, und Ruß
land wird der ganz eigentliche Erbfeind Polens.
Es ist ein Kampf ohne
feste Ausgangspunkte und ohne scharf begrenzte Ziele im Einzelnen, wie
er von Völkern, die zur staatlichen Consolidation hinstreben, häufig geführt wird,
ein Kampf um die Vorherrschaft in Osteuropa.
Die Ansprüche,
welche Rußland zum Vorwande der immer erneuten Angriffe auf das sinkende Polen nahm, waren ebenso schwach begründet wie der Anspruch, den Polen aus den Großfürstenstuhl von Moskau erhob.
Beide verlangten
nach der Oberhoheit über sämmtliche slavischen Stämme, und nur die
Macht konnte entscheiden.
Als Rußland die genügende innere Festigung
erreicht hatte und Zar Peter nun in die Reihe der europäischen Mächte
fein Reich einzuführen beschloß, da traten die alten Ansprüche auf ein zelne polnisch-lithauische Provinzen gegen das Bestreben zurück, das pol
nische Staatswesen im Ganzen dem russischen Einflüsse zu unterwerfen.
Wollte Peter in unmittelbare Verbindung mit westlicher Cultur und Po litik treten, so mußte er die weite Länderstrecke, die seine Grenzen vom
Westen trennte, überbrücken, und der Nordische Krieg gab ihm Gelegenheit, in Polen einen Einfluß zu begründen, der wenigstens eine mittelbare Ver
bindung mit Deutschland herstellte.
ES gelang ihm, an die Stelle des
schwedischen Schützlings Stanislaus LesczhnSki den Kurfürsten August von Sachsen wieder einzusetzen, und dieser konnte nun, den Angriffen der feind
lichen Partei
entbehren.
im eigenen Lande
gegenüber,
Rußlands Hülfe
nicht mehr
Als August wiederkehrte, versuchte er, gegen die Gesetze und
Gewohnheiten des Landes in absolutistischer Weise zu regieren.
Die Folge
davon war die Bildung einer Consöderation, welche Rußland zum Schutze der adligen
Freiheiten aufrief.
Peter zögerte natürlich
nicht da- Land
zu retten, indem er im Jahre 1717 eine Verfassung feststellte, welche vom
Reichstage sanctionirt ward. außerdem um
Die Freiheiten
wurden gewährleistet und
neuen Vergewaltigungen derselben durch den König vorzu-
beugen festgesetzt, daß Polen fernerhin nie mehr als 18,000 M. Truppen halten dürfe, deren Führer, der Hetman, vom Könige unabhängig sein
und nur unter dem Reichstage stehen sollte.
Der Reichstag aber hatte
inzwischen eine Entwickelung genommen, die eS dahin brachte, daß fast nie ein Beschluß desselben zu Stande kam, und daher wurde der Hetman der Armee durch diese Bestimmung fast unabhängig.
Seitdem blieb der russische
Einfluß in Polen maßgebend. Wenige Decennien waren seit PeterS Tode vergangen, als Katha
rina II. auf den russischen Thron sich setzte, eine Fürstin von ungewöhn lichem Verstände,
gewaltiger Energie und großem Ehrgeiz.
Sie nahm
alsbald Peters Politik auf und ging an die Ausführung weitblickender Pläne.
Die Türkei und Polen boten verlockende Angriffsobjecte dar, und sie be gann
gegen
diese Staaten
eine Eroberungspolitik,
welche an Festigkeit,
Gewandtheit, Rücksichtslosigkeit und Ausdauer ihres Gleichen sucht.
Der HubertSburger Friede war geschloffen und Friedrich der Große
hatte den ungleichen Kampf mit Aufbietung der letzten Kräfte überstanden. Ein günstiges Geschick hatte im letzten kritischen Moment ihn einen Freund
finden lassen, wo er bisher einem Feinde gegenübergestanden hatte.
Ruß
lands Austritt aus den Reihen der Feinde beschleunigte den Frieden, nach dem sich Friedrich sehnte, und als er geschlossen war,
neue Band fester.
knüpfte sich daS
Katharina bewahrte Friedrich einen Theil der Bewun
derung, welche ihr Gemahl für ihn gehegt hatte, die Stütze an Rußland von großem Werth.
und für Friedrich war
Gegenüber den zahlreichen
Feinden, die ihm noch immer unversöhnt entgegenstanden, besonders aber
gegen den Hauptfeind Oesterreich war Rußland ein vortrefflicher Genosse; so bemühte sich denn Friedrich, eine Allianz zur gemeinschaftlichen Verthei digung zu Stande zu bringen.
Dieselbe wurde am 11. April 1764 ge-
8
Dir erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
Friedrich hatte hiebei wohl nur die eigene Sicherung gegen neue
schloffen.
Angriffe seitens der alten Feinde im Auge.
Ruhe war es, wonach er
sich vor allem sehnte, eS lag ihm nichts ferner, al» der Gedanke an neue Eroberungen, an Uebergreifen in die staatlichen Verhältnisse der
Das aber war grade die Absicht Katharina'-, und so lag in
Nachbarn.
diesem Bündniß von vorne herein ein innerer Widerspruch, der daffelbe
sprengen oder aber dem schwächeren Genossen gefährlich werden mußte: Friedrich sah sich genöthigt, gegen die Sicherung seines Besitzes die Unter
stützung der Politik Katharinas in Polen und Schweden zu versprechen. In beiden Reichen, dort in Polen von langer Hand her, hier in Schwe
den seit 1720, war die königliche Gewalt und damit die Kraft nach außen durch eine octroyirte Verfassung gelähmt, und diese Verfassungen wollten
die Verbündeten erhalten.
Sie versprachen einander, in beiden Reichen
jede Stärkung der Krone, in Polen namentlich die Erbmonarchie zu hin
dern, und kamen überein, den vor kurzem, am 5. Oktober 1763, durch
den Tod Augusts III. erledigten polnischen Thron durch einen Einheimischen, wie man es nannte einen Piasten zu besetzen.
Schon früher hatte Katha
rina daran gedacht, Stanislaus August, ihren einstigen Günstling, den zweiten in der Reihe dieser Emporkömmlinge
durch die kaiserliche Liebe,
in Polen einzusetzen. — Jetzt wurde er zum Nachfolger Augusts in dem Vertrage
ausersehen.
Friedrich mochte auf die Person wenig Gewicht
legen, wenn eS nur nicht ein Mann war, der ihm seinen jungen Staat und seinen heiß ersehnten Frieden durch eigene kräftige Politik zu gefähr
den drohte. sonders
Daß StaniSlauS Poniatowski seiner früheren Geliebten be
ergeben bleiben würde, hoffte Katharina, und daher lag
Wahl vorzüglich in ihrem Interesse.
diese
Nicht minder war das mit einer
andern Stipulation des Vertrages der Fall.
Friedrichs Absichten waren
anfangs rein defensiver Natur, aber um diesen Schutz zu erreichen, mußte
er Zugeständnisse machen, die über die Defensive hinausgingen, die in die
inneren Verhältnisse Polens Übergriffen. So wurde stipulirt, daß die pol nischen Akatholiken, die Dissidenten, geschützt und womöglich in ihre früheren
Rechte wieder eingesetzt werden sollten.
DaS war aber ein Gegenstand,
dem Friedrich eigentlich ebenso abgeneigt war, als er Rußland nahe lag, und
der Katharina eine erwünschte Handhabe zu beständiger Einmischung in die
innern polnischen Angelegenheiten bot. Dieser Allianz standen Österreich und Frankreich in nicht sehr fester,
aber andauernder Verbindung gegenüber, mißtrauisch das große Rußland
wie auch den gefährlichen und tödtlich gehaßten Rivalen deS Kaiserhauses
beobachtend.
Sie wünschten keinen Piasten auf dem polnischen Thron,
der den feindlichen
Einflüssen nur schutzloser ausgesetzt sein mußte, sie
wünschten Polen zu stärken zum Bollwerlk gegen die nordischen Mächte.^
AIS schon damals Gerüchte von einer Theilung Polens auftanchten, stellte der große österreichische Staatsmann, der damals die Politik Maria The resias leitete, Kaunitz, den Grundsatz auf, Oesterreich dürfe gegen keine
Vortheile, die ihm etwa bei einer Theiluing durch Ländererwerb geboten
würden,
den Nachtheil einer Vernichtuug Polens
eintauschen. — Die
Anschauungen, welche hier und in dem preußisch-russischen Verttage her
vortreten, bleiben für lange Zeit maßgebend; die augenblicklichen Verhält nisse modifiziren wohl ihre Anwendung im einzelnen Fall, aber im Grunde
ändern sich die Prinzipien der drei Nachbarmächte in Rücksicht auf Polen Oesterreich stet« mißtrauisch, zurückhaltend gegen jede Verlockung,
nicht:
die polnische Selbstständigkeit nach Maßgabe der eigenen Kraft und Sicher heit schützend; Preußen vorwiegend die politische Ruhe, den Frieden im Auge behaltend und nur allmählich dem Drängen Rußlands ^u einer
aggressiven Politik nachgebend; endlich Rußland unausgesetzt bedacht, seine
Macht in Polen zu befestigen; dann, durch die Verhältnisse vorwärts ge trieben, fest entschlossen, das polnische Staatswesen aufzulösen und eine
Theilung herbeizuführen. — Nach Augusts Tode befehdeten sich, wie gewöhnlich in diesen Fällen,
die Parteien um die Besetzung des Thrones.
Vorzüglich standen sich die
sächsische Partei mit ihrem sächsischsn Candidaten und die „Familie", daN
große Haus Czartoryski gegenüber, welches durch die Krönung eines Glie des dieses Geschlechts die StaatSleitvng in die Hände zu bekommen hoffte.
Die CzartorhSki'S wünschten eine innere Kräftigung Polens, Reformen,
welche die königliche Gewalt stärken und der Anarchie ein Ende machen
sollten, aber um anS Ruder zu kommen waren sie genöthigt, sich an die jenige Macht anzuschließen, welche ganz entgegengesetzte Prinzipien ver
folgte.
Sie verbanden sich mit Rußland.
Gin
ConvocationSreichStag
wurde einberufen, derselbe wurde conföderirt und die Wahl des Neffen der beiden Brüder Czartoryski, PoniatowSki'S, wurde gegen den Protest einer großen Zahl von Reichstagsgliedern gesichert. Große Summen wa
ren auf Bestechung verwandt worden, russische Truppen unter Repnin
hatten Warschau besetzt und die nöthigen Anordnungen und Wahlen in ihrem Sinne unterstützt.
Ein einberufener Wahllandtag rief Poniatowski
am 7. September 1764 zum Könige aus. — Von nun ab beginnt das politische Spiel, welches 30 Jahre lang
Polen in stetem Athem hielt; es wechseln wohl die Personen, die Prin zipien aber, die Ziele und die Mittel bleiben dieselben. — Die Czartoryski gelangten ans Rnder und suchten ihren Einfluß auf den König zum Wohl des Vaterlandes auszubeuten, indem sie mm
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
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plötzlich ihre Verbindung mit Rußland abbrachen.
Kaum hatten sie mit
russischer Hilfe ihrer Partei auf dem ConvocationSreichStage die Wege geebnet, so traten sie mit wichtigen Reformprojecten hervor.
Die Justiz
und das Kriegswesen, die Finanzen und daS Innere wurden den betreffen
den vom Könige fast unabhängigen Würdenträgern genommen und Com missionen übergeben, die aus je 16 Gliedern bestanden, und vom Reichs tag, eventuell vom Könige, wenn kein Reichstag zu Stande kommen sollte,
ernannt wurden.
Wenn ein Reichstag zerrissen wurde, so sollten fürder
doch die schon gefaßten Einzelbeschlüffe Geltung behalten.
Angelegenheiten
der Finanzen und der Verwaltung, die Wohlfahrt der Republik sollten
künftig mit Stimmenmehrheit auf dem Reichstage entschieden
werden.
Erst als noch weiter gegen das liberum veto vorgegangen werden sollte,
Mehrere
schritten die Gesandten von Preußen und Rußland dagegen ein.
Magnaten, welche sich mit Waffengewalt der Wahl PoniatowSki'S wider setzten, wie der Kronfeldherr Branicki und der Fürst Radziwill, wurden
ihrer Aemter entsetzt.
Rußland widerstrebte damals den Reformen im Prinzip nicht.
Panin,
der eben die auswärtigen Angelegenheiten übernommen hatte, und auch
Katharina meinten, in dem Könige, welchen sie gemacht hatten, eine ge
nügende Sicherheit dafür zu haben, daß ihr Einfluß in Polen maßgebend bleibe.
Hatte Rußland durch den König die thatsächliche Gewalt in Polen
in Händen, so war eS besser, wenn dieselbe gestärkt wurde, als daß sie in ihrer bisherigen Ohnmacht Rußland nöthigte, seinen Vasallen immer
tvieder durch eine kostbare Unterstützung mit Truppen und Geld über den streitenden Parteien zu erhalten.
Nur eine Frage innerer Reform gab
eS, welche Katharina nicht aus dem Auge verlor und vor allem andern
entschieden haben wollte: die Dissidentenfrage.
Die „Familie" war zwar
nicht abgeneigt, den Dissidenten einige Vortheile einzuräumen, aber die
Masse der maßgebenden Persönlichkeiten war eifrig dagegen und die Czar toryski
waren
nur dann geneigt, hierin nachzugeben, wenn sie zugleich
in ihrem Bestreben, die königliche Gewalt zu stärken, unterstützt würden.
Bald kam eS zum Bruch zwischen Rußland und der Familie.
Ein neuer
Reichstag stand bevor, und Rußland setzte alles in Bewegung, um die
Dissidentenfrage hier zur Erledigung zu bringen.
Die Czartoryski, der
Bereitwilligkeit Rußlands, ihre weiteren Reformabsichten zu unterstützen, mißtrauend,
weigerten sich, mit dieser Macht gemeinschaftlich zu handeln
und hielten sich zurück, während ihre Gegner eine Verbindung mit Ruß
land suchten, um die dominirende Stellung der Famllie zu brechen. 6. Oktober 1766 wurde der Reichstag eröffnet.
Am
Der König entwickelte
hier eine Selbständigkeit, wie er sie später kaum wieder gezeigt hat, er
fcheutte weder eine Verfeindung mit den Oheime«, noch den Bruch mit
Rußltand, in der Aussicht durch eine Abwehr der Dissidentenfrage die gesammnte Nation für sich zu gewinnen.
Um die katholische Kirche gegen
die Angriffe der Gegner zu schützen verlangte er Stärkung der königlichen Machht, Vermehrung des Heeres.
Es gelang ihm, daS liberum veto für
die Wahlen auf den Provinziallandtagen abzuschaffen, aber alle weiteren Schrritte in dieser Richtung riefen den heftigsten Widerstand der fremden Gesarndten hervor, die nun mit allen Mitteln gegen den König agitirten.
Die Meformfrage erlitt eine Niederlage, aber die Gleichstellung der Diffidenteen mit den Katholiken wurde unter großer Aufregung ebenfalls zurückgewikesen.
Rußland war auf diese Eventualität vorbereitet und Repnin,
der 'russische Gesandte, traf Vorbereitungen zur Bildung einer Conföde-
ratioui der Dissidenten.
Die Haltung des Königs
auf dem Reichstage
hatt« gezeigt, daß Rußland nicht mit der gewünschten Sicherheit auf die
Willffährigkeit seiner Creatur rechnen könne und daß die beiden alten und klvg«n Brüder Czartoryski ebenfalls
ihre eigenen Wege gingen.
Nun
setzt« sich die Ueberzeugung fest, daß fede Stärkung Polens gefährlich und
schäwlich für Rußland wie für Preußen sei, und die Höfe gaben alle Zweifel über: die Politik auf, welche sie künftig in Polen zu vertreten hätten. Vor allem, sollte Rußland durch die Conföderation den Diffidenten zu
ihrem Rechte verhelfen, dann aber sollten auch die neuerdings geschaffenen Refwrmen umgestoßen werden, da sie, wie Panin sagte, die Freiheit des Adells gefährdeten.
Der Bildung einer Conföderatton war auch der Um
stand sehr günstig, daß der König auf dem letzten Reichstage eö mit fast
allem Parteien verdorben und endlich sich dem russischen Gesandten doch wieder in die Arme geworfen hatte.
Die zahlreichen Feinde hofften, ihn
nun durch die Hülfe Rußlands zu stürzen und traten in die Confhderation. Repnin vertheilte die Rollen, in die einzelnen Provinzen begaben sich an-
gefchene Magnaten und errichteten überall Conföderationen,
welche im
Inni 1767 zu Radom sich sammelten und den seinerzeit berühmten Schlem mer Fürsten Karl Radziwill zum Marschall erwählten.
Die Abfassung
der Conföderationsakte aber rief schon große Schwierigkeiten hervor, denn
Repnin verlangte die Bestimmung, daß für die sestzustellende neue Ver fassung Polens die russische Garantie erbeten werde.
Kostomarow,
mit andern Worten gesetzmäßig
Rußland treten."
„Das hieß, gesteht
in die Abhängigkeit von
Den Widerstand gegen diese Zumuthung zu brechen
ward die Versammlung von russischem Militär umstellt, die
Straßen
wurden von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonnett besetzt, und mit den
härtesten Drohungen zwang Repnin die Conföderation zur Unterschrift der Acte.
Wenn Repnin aber glaubte, nun die Hauptfchwierigkeit beseitigt
12
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
zu haben, so täuschte er sich. verschiedenen Gründen
Viele hervorragende Prälaten hatten auS
sich Rußland willfährig gezeigt und waren der
Conföderation beigetreten.
Unter ihnen PodoSki, die Seele der Conföde
ration, ein Mann von vieler Gewandtheit und Verstandesschärfe.
Zum
Lohn für seine Dienste bewog Repnin den König, ihm den eben erledigten erzbischöflichen Stuhl von ®nefen zu geben.
Kaum hatte PodoSki die
oberste Würde nach dem König erreicht, so verband er sich mit den Fein
den Rußlands, den Anhängern der Curie, die die Herrschaft des Katho licismus um jeden Preis zu halten gesonnen waren.
Der Bischof von
Krakau, Soltyk, hatte sich ebenfalls bisher ziemlich russenfreundlich gezeigt. Cs war das ein Mann von großen Gaben des Geistes, gewaltiger Rede,
unbeugsamem Willen.
Nun trat er mit unermüdlichem Eifer gegen die
Dissidenten auf und ließ sich durch keine Versuche RepninS hiervon ab bringen.
Der Landadel wurde überall fanatisirt für die Erhaltung der
Kirche, und als die Wahlen für den conföderirten Reichstag vorgenommen werden sollten, konnte Repnin nur durch Waffengewalt in den einzelnen Landtagen die Wahl seiner erbittertsten Feinde hindern. Ueberall auch war
die Curie durch ihren Nuntius in ihrem Sinne thätig.
Als die Landboten
in Warschau sich sammelten, glaubten die Conföderirten, nachdem sie mit Hilfe Rußlands die Conföderation zu Stande gebracht, nun das Werkzeug beseitigen zu können, da die Staatsgewalt in ihre Hände übergegangen war.
Sie verlangten die Entfernung der russischen Truppen, und als
der König und die ConföderationS-Marschälle den Ausweg versuchten, die Truppen
kraft eines ConföderationSdecretS für befreundete zu erklären,
verwarfen sie diesen Antrag*).
Repnin entschloß sich nun wieder zu Ge
waltmaßregeln und ließ einen Hauptagitator, KozuchowSki, verhaften und Allgemeine Aufregung war die Folge dieser Verletzung deS
fortschicken.
polnischen Ehrgefühls.
Am 3. October sollte der Reichstag eröffnet werden.
Die Landboten
hatten sich beim Marschall Radziwill versammelt und ergingen sich, von dem Nuntius angefeuert, in den heftigsten Ausdrücken gegen das gewalt
same Verfahren des russischen Gesandten.
Plötzlich trat Repnin in die
Versammlung und wurde von allen Seiten mit Borwürfen und den Betheuerungen, für die Kirche sterben zu wollen, überhäuft.
entgegen:
Er schrie ihnen
„Hören Sie auf zu lärmen, sonst werde ich einen Lärm er
heben, der stärker sein wird als der Ihrige!"
Diese Haltnng wirkte und
man Bequemte sich, durch Bitten von Repnin die LoSlassung KozuchowSki'S
zu erlangen.
*) Solowjew. Gesch. der Falles von Polen.
Kaum aber war der Reichstag eröffnet,
so ging der Sturm los.
Solthk erhob sich und die hinreißende Gewalt seiner Rede durchbrach alle
von Repnin sorglich getroffene Vorsorge, warf alle Versuche des Königs nieder, in maaßvoller Berathung die russischen Forderungen zu erörtern. Neben Soltyk ragten Rzewuski, der Palatin von Krakau, und ZaluSki,
Erzbischof von Lemberg und Bischof von Kiew, hervor, desgleichen der Sohn des
Palatins von Krakau,
der später so bedeutende Severin
Rzewuski. — Repnin bedachte sich nicht lange: e.r ließ alle vier verhaften und nach Rußland abführen.
Alle Proteste, alle Bitten fruchteten nicht,
Repnin erklärte, von seinen Handlungen Niemandem als seiner Kaiserin Rechenschaft schuldig zu sein. —
Man fügte sich der Uebermacht.
Eine Commission zur Erledigung
der Dissidentensache wurde ernannt, welche feststellte: daß nur ein Katholik König sein dürfe, daß die katholische Religion die herrschende sein, der Uebertritt zu einer andern strafrechtlich verfolgt werden solle; die adligen
Dissidenten genießen gleiche staatsbürgerliche Rechte mit den Katholiken; Streitigkeiten zwischen Dissidenten und Katholiken sollen durch gemischte Gerichte entschieden werden; die Dissidenten haben eigene Consistorien und
Synoden, dürfen Kirchen und Schulen bauen. Ferner hob der Reichstag alle neuen Reformen der letzten Jahre auf, welche die Stärkung des Reichstags und des Königs bezweckt hatten. —
Repnin hatte seine Forderung- daß die russischen Anträge bedingungslos an
genommen würden, durchgesetzt.
Dafür verwandte er sich bei der Kaiserin
für die vom Könige erbetenen Reformen in Bezug auf das liberum veto, und Katharina ließ sich herbei, die Bestimmung gut zu heißen, daß künftig
auf den Reichstagen, welche gesetzlich eine sechswöchige Dauer hatten,
in den ersten drei Wochen nur ökonomische Angelegenheiten, in den letzten drei Wochen die staatsrechtlichen Materien verhandelt, und zwar erstere
nach
Stimmenmehrheit, und nur letztere nach Siimmeneinheit erledigt
würden. — Außerdem kam auf diesem Reichstage die Garantie der ge
faßten Beschlüffe durch Rußland zur Annahme, die gesetzliche Unterwerfung Polens unter den russischen Einfluß. —
Katharina meinte wohl, ihre Herrschaft in, Polen nun auf genügender Grundlage hergerichtet und in der neuen Stellung der Dissidenten bedeu
tend verstärkt zu haben. Denn zu den Dissidenten gehörten auch die nicht
unirten Griechen, welche besonders im Süden, in Podolien, Wolhynien und der polnische Ukraine die Mehrheit der Bevölkerung bildeten und durch
die Gleichheit der Religion so wie nähere nationale Verwandtschaft stet- zu Rußland hinneigten.
Aber bald erfuhr Katharina, wie wenig sie auf ihr
gewonnenes Uebergewicht rechnen durfte. — Kaum war die Consöderation
14
Die erste Theilung Polens und die Konstitution vom 3. Mai 1791.
von Radom im Beginn des Jahres 1768 aufgelöst worben, so kamen
drohende Nachrichten von neuen Unruhen grade im Süden, in Podolien. Dort trat der Adel unter Anführung des Bischofs Krasinökt und Josef
PulawSki's zusammen zur Erhebung für Glauben und Freiheit und be mächtigte sich der Stadt Bar^
ES wurde eine Conföderation gebildet zur
Vernichtung der von der Conföderation von Radom herbeigeführten Neuerun
gen, der dissidentischen Rechte und der russischen Garantie.
Aber nur
zum Theil wurde die entstehende Verbindung von diesen großen prin zipiellen Gegensätze gegen die von Rußland her aufgenöthigten Neuerungen in Bewegung gesetzt.
Die Dissidentenfrage war das treibende Motiv für
die Curie, für einzelne fanatische Priester, für das fanatisirte Volk, wie
anderseits die russische Garantie die geringe Zahl der wahren Patrioten entflammte.
Vielleicht der größere Theil der Gewalten, welche sich in Bar
gegen den König erhoben, hatte zur eigentlichen innerlichen Triebfeder ein Moment der innern Politik, das in der ganzen Zeit der Regierung Stanis
laus Augusts nur wenig an die Oberfläche der politischen Erscheinungen
getreten ist, aber um so mehr im Verborgenen wirkte und am deutlichsten bewußt in der Conföderation von Bar die Geister an einander schloß.
Stanislaus Poniatowski war von jeher für einen König der Szlachta an gesehen worden.
Er entsprang einem Hause, auf welches die großen
Magnatenfamilien mit Stolz herabblickten, welches erst in neuer Zeit und zuletzt durch die Verbindung mit den Czartorhski, einem ebenfalls nicht eben sehr alten und glänzenden Magnatengeschlecht, emporgekommen war.
Leute, wie Karl Radziwill, Felix Potocki, der alte Branicki, von der letzten
KönigSwahl her verletzte Concurrenten Poniatowöki'S
um
die
höchste
StaatSehre, verschmerzten es nicht, daß der König „nicht aus ihrer Kaste hervorgegangen war", in Spottversen wurde die Herkunft eines Königs
geschmäht, dessen Geschlecht erst vor 2 Jahrhunderten in den polnischen Adel getreten, desien Großvater „Verwalter" gewesen war.
In natür
licher Folge, die genauer zu entwickeln hier nicht der Ort ist, suchte StaniSlauS August im Laufe seiner Herrschaft die königliche Macht fester auf die Szlachta, den niederen Adel, zu stützen, und in gleich natürlicher
Folge lehnten sich die Magnaten, die Anhänger der alten goldenen Zeit des allmächtigen Oligarchenthums unter den sächsischen Augusten, gegen
diese Untergrabung ihres Einflusses auf.
Diese Strebungen gegen den
demokratisirenden Poniatowski waren nun auch ein vorwiegender Impuls
zu den Magnatenverbindungen von Bar.
„Glaube und Freiheit" war die
äußere Devise dieser Conföderation, ihr eigentlicher Sinn war die altpol nische „Freiheit", wie sie immer von den Magnaten verstanden worden
ist, eö war die Gegenwehr deö PanthumS gegen den Versuch deS könig-
lichen Emporkömmlings, sich von der Uebermacht desselben zu befreien,
eng verbündet mit dem Fanatismus der vom Iesuitenthum geleiteten Kirche. StaniölauS August sollte gestürzt und die Krone dem Kurfürsten von Sachsen gegeben werden, in Kurland sollte Herzog Biron verjagt und Prinz Karl von Sachsen in
seine Rechte wieder eingesetzt
werden*).
Rasch
verbreitete sich die Verbindung und die Hülfe Oesterreichs, der Pforte, Frankreichs wurde angerufen.
Der König sah die Aussichtslosigkeit des Aufstandes ein, der über dies seine Absetzung offen auf seine Fahne schrieb, und stützte sich nur um so fester auf Rußland. Ein Senatsbeschluß ersuchte die Zarin, als Bürgin
der Verfassung ihre Truppen gegen die Aufständischen vorrücken zu lassen,
uyd Repnin beeilte sich diesem Wunsche nachzukommen.
Gleichzeitig aber
entbrannte ein Kampf anderer Art, der von wesentlichem Werth für die
Absichten Rußlands war.
Das russisch-orthodoxe Landvolk der südlichen
Provinzen war stets ein natürlicher Bundesgenosse Rußland« und stand
dern übermüthigen polnischen Landadel feindselig gegenüber.
Es war nicht
schwer, dort den armen Bauer gegen den adligen alleinbesitzenden Polen,
den Orthodoxen gegen den Katholiken oder Unirten, den Kleinrussen und Kosaken gegen den Liachen oder Polen aufzuwiegeln, und so darf man sich nicht wundern,
wenn die Polen die Hand Katharina'S jedesmal thätig
glaubten, wann in kritischen Momenten, da die Widersetzlichkeit der Polen gegen Rußland wuchs, da Rußland durch innere oder äußere Verhältnisse
anderweit in Anspruch genommen war, im Süden Polens wiederholt der
bäuerliche Aufstand sein Haupt erhob.
Zwar ward die Anstiftung von
russischer Seite geleugnet, ja Repnin äußerte seinen Unwillen über die Empörung der Saporoger Kosaken oder Haidamaken und nach Beendigung
des Aufstandes
wurden
die Häupter derselben von Rußland
scheußlichen Grausamkeiten bestraft.
Empörungen
stets
für ihre
Indessen war es auffällig, daß die
in Momente fielen, wo Rußland dadurch eine beson
ders nützliche Hülfe geleistet wurde.
Wie jetzt die Conföderation von Bar
durch den Ausstand SaliSnak's und Gonta'S in Schrecken gesetzt wurde,
so erstwnd 20 Jahre später, als Rußland durch den Krieg mit der Pforte zur Unthätigkeil in Polen gezwungen war und dem feindlichen Treiben des *) Interessante Schilderungen au» den Verhältnissen der Eonföderation so wie der späteren Geschichte de» polnischen Untergang» und de» polnischen Geschlecht» jener Zeit fiude» sich in de» bisher leider nngedruckten Denkwürdigkeiten des Freiherrn H. C. v. Heyking, welche mir von der Verwaltung der Freih. Heykingschen Familien stiftung, in deren Besitz sie sich gegenwärtig befinden, mit dankenSwerther Liberalität Mr Einsicht überlaffen worden sind. — Zu vergleichen find auch die ebenfalls un gedruckten Berichte HeykingS als Delegirten der kurländischen Ritterschaft in Warschau, nach Mitau aus jener Zeit, in der Bibliothek der livländischen Ritterschaft be findlich. —
Die erste Theilung Polens und die Konstitution votn 3. Mai 1791.
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Reichstages von 1788 ruhig zusehen mußte, dasselbe Gespenst in den Unruhen, die von der russischen Geistlichkeit und Emissären, so tote nach der allgemeinen
Annahme, von dem orthodoxen Erzpriester SadkofSki im Süden angefacht und von der Furcht weit über die Wahrheit hinaus vergrößert wurden. Jetzt wurde der Aufstand der Haidamaken nach fürchterlichen Gräueln
unterdrückt.
Zugleich wurden die Conföderirten überM von den russischen
Truppen in die Enge getrieben, die Hauptplätze erobert, Krakau erstürmt, und nach großen Verwüstungen schien die Conföderotion überwältigt zu
sein.
Da kam der Krieg Rußlands mit der Pforte zum Ausbruch.
Die ganze Lage ward dadurch plötzlich verändert, Alles hoffte in Polen auf eine Schwächung Rußlands, auf türkische Siege, und in Folge
dessen auf die Möglichkeit, das russische Joch abzuschütteln.
Die Con,
föderirten, die Czartoryski's, selbst der König schöpften neuen Muth und hielten in ihrer Nachgiebigkeit gegen Repnin inne.
Bald darauf wurde
Repnin abberufen. — Der Verlauf der polnischen Dinge blieb in den nächsten Jahren im Wesentlichen unter dem steten Einfluß der Kriegsereignisse und der damit zusammenhängenden Politik der benachbarten Höfe.
Die Conföderirten
suchten nach Hilfe von auswärts und erhielten von Oesterreich gute Worte und geringe Unterstützung,
von
Frankreich Geld und einige Offiziere.
Sie erklärten den König für einen Berräther und des Thrones verlustig, hatten aber nicht die Kraft dieser Erklärung Nachdruck zu geben.
Die
französischen Gelder und Offiziere mit dem General Dümouriez, später dem General Biomönil an der Spitze suchten vergeblich die Streitkräfte der Conföderation in festere Formen zu fügen:
Die polnische sogenannte
Freiheit vereitelte alles Bemühen, einen taktischen Truppenkörper zu schaffen. Das Auftreten der Conföderation gegen Stanislaus August aber drängte
diesen immer mehr in die Verbindung mit Rußland hinein.
Um ihr An
sehen zu stärken machten die Conföderirten einen Angriff auf die Freiheit
deS Königs.
Sie bemächtigten sich seiner in Warschau und wollten ihn
inS Lager bringen, aber ein Zufall befreite den König und er wandte sich nun vollends von der patriotischen und russenfeindlichen Partei ab.
Denkwürdig ist eS,
wie hier der UltramontaniSmuS wieder einmal in
seiner staatsfeindlichen, rücksichtslosen Gewaltthätigkeit eingreift.
Ein glaub
würdiger Gewährsmann, der bekannte englische Reisende Coxe, der damals sich eben in Polen aufhielt, erzählt uns*), daß der päpstliche Nuntius in
Polen nicht nur den Anschlag auf das Leben des Königs guthieß, sondern
sogar die Waffen der Verschworenen, als sie sich zu Czenstochow ver*) W. Coxe, Reise durch Polen, Rußland k. — Bd. I
sammelt hatten,
für das Unternehmen weihte.
Offener hat die Curie
kaum jemals den politischen Mord in Schutz genommen. — Der neue
russische Gesandte Saldern erklärte die Conföderirten im Juni 1771 für des Kriegrechts verlustig, nannte sie Räuber und ordnete die äußerste
Strenge gegen sie an.
Bald darauf erschien der junge General Suworow
auf dem Kampfplatz, und in mehreren kleinen Treffen gelang eS ihm, die
Conföderirten in Polen und dann auch in Lithauen zn schlagen.
Im
Frühjahr 1772 löste sich die Conföderation durch ein von der Schweiz
auS erlassenes Manifest auf. Inzwischen war die Diplomatie der benachbarten Höfe ununterbrochen in lebhafter Thätigkeit gewesen.
Als der türkische Krieg im Jahre 1768 ausbrach, war Katharina
trotz des unvorbereiteten Zustandes des Heeres sogleich entschloffen, mit aller Kraft gegen die Pforte vorzugehen und dauernden Gewinn aus dem
Kriege zu ziehen.
Je erfolgreicher ihre Waffen in den Feldzügen der
nächsten Jahre vordrangen, um so fester gestalteten sich ihre Pläne nicht nur in Bezug auf die Türkei, sondern auch auf Polen.
Aber so lange
sich das Kriegsglück noch wenden konnte, war sie bemüht, die Lösung der
polnischen Wirren hinzuhalten und später mit ruhiger Kraft ihren Willen gegenüber Polen und den beiden benachbarten Staaten durchzusetzen. —
Friedrich war dem mit Rußland abgeschlossenen Vertrage gemäß zur Un terstützung wenigstens durch Subsidien verpflichtet, und- ihm war der Aus
bruch des Krieges daher um so unwiNommener.
Er hatte sich an Ruß
land angeschlossen, um seine Ruhe zu sichern und sah sich nun in der
Gefahr, in einen Krieg verwickelt zu werden, deffen AuSgang ganz zwei felhaft war.
Denn die Siege Rußlands konnten Oesterreich leicht nöthigen,.
die Waffen zu ergreifen, und dann entbrannte ein Kampf, der Friedrich nothwendig mit fortriß. bewahren.
Friedrich setzte Alles dran, sich den- Frieden zu
Aber die Erfolge Katharina'S weckten das alte Mißtrauen in
ihm, welches er gegen den großen östlichen Rachbar nie zu verVannen
vermochte.
Das Anwachsen dieses Staates, der unruhig und erobernd
nach außen hindrängte, trug auch für Preußen eine Drohung in sich, die Friedrich wohl erkannte und der entgegenzuwirken er nur durch die un
vertilgbare Feindschaft gegen Oesterreich verhindert war.
Er konnte nicht
von der Allianz mit Rußland lassen, denn er war keines andern BundeSgenoffen sicher genug.
Mit Rußland schnitten sich die preußischen Jnter-
effen vorläufig noch nicht, sondern sie stimmten in manchen Punkten über
ein.
Die zukünftigen Möglichkeiten, welche ein übermächtiges Rußland
darbieten konnte, mußten den gegenwärtigen Gefahren gegenüber schweigen,
die in Oesterreich schlummerten.
Friedrich glaubte, nie mit Oesterreich
Preußische Jahrbücher. St. XXXV. Heft i.
2
18
Die erste Theilung Polen- und die Constitution vom 3. Mai 1791.
einen dauernden Frieden machen zu können.
Dennoch wurde der Versuch
einer Annäherung nicht zuriickgewiesen als Josef und Kaunitz solche Wünsche
anklingen ließen. —
Oesterreich allein hatte den türkischen Krieg mit Freuden begrüßt und Kaunitz hoffte vergnügt einem Kampfe zuzuschanen, in welchem die beiden Nachbarn sich gegenseitig schwächen würden ohne daß einer einen nam
haften Gewinn erzielte.
Als Rußland seine Uebermacht, die Türkei aber
ihre ungeahnte Schwäche bloSlegte, da wurde der alte Rechner unruhig. Wenn es sich wirklich um bedeutenden reellen Gewinn handelte, wenn
Rußland einen größeren Länderzuwachs inS Auge faßte, so konnte Oester reich unmöglich dazu stillhalten, eS mußte entweder diesen Zuwachs hindern,
oder einen gleichen für sich selbst in Anspruch nehmen.
Der große Kämpe
«nd Professor des europäischen Gleichgewichts durfte dieses höchste Princip
Wie aber das Eine thun und das
der StaatSweiSheit nicht aufgeben. Andere nicht lasten?
Wie für das Gleichgewicht gegen Rußland thätig
auftreten und Preußen in Ruhe halten?
Denn es war klar, daß sobald
Oesterreich daS Schwert erhob, Friedrich ihm in den Arm fiel.
Und der
Staatskanzler traute Friedrich auch ohne die Einmischung Oesterreichs den
Wunsch nach Frieden nicht zu, er witterte stets neue Eroberungöpläne des
großen Feldherrn.
Indessen war die Gefahr drängend und die Allianz
der nordischen Mächte lag wie ein Alp auf der Brust
Staatsmannes.
deS gequälten
Ein Versuch der Annäherung konnte gemacht, vielleicht
die Pläne Friedrichs errathen, oder er selbst zu der Politik Oesterreichs
bekehrt und gegen das Vordringen Rußlands aufzutreten bewogen werden. Zweimal trafen Friedrich und Josef zusammen zu friedlichen Be
sprechungen.
Friedrich kam im August 1769 nach Neiße in der aufrich
tigen Absicht, eine Verständigung mit Oesterreich zu suchen,
welche ihm
gestatten könnte, sich von der drückenden russischen Allianz loSzumacheu.
Aber daS Mißtrauen ließ Kaunitz zu keiner entschiedenen Darlegung seiner letzten Absichten und zu keinem offenen Entgegenkommen gelangen.
So
lag eS nahe, daß als Friedrich bei seiner Rückkehr die Verhandlungen mit
Rußland wegen Erneuerung des ablaufenden Allianzvertrages wieder anf-
nahm, er dem Abschluß desselben geneigter war als vorher. land war geschmeidiger geworden,
Auch Ruß
denn eine Annäherung Friedrichs an
Oesterreich hätte die übelsten Folgen für seine türkisch-polnischen Pläne
haben müssen, und so ward eine neue Defensivallianz am 12. October 1769 auf weitere acht Jahre abgeschlossen.
Allein bald drängte die Nachricht von neuen Siegen der russischen Waffen Kaunitz auS seiner unfruchtbaren Politik heraus.
Fortwährend
wurden der Türkei Hoffnungen auf thätige Unterstützung gemacht, die
Minister wurden angefeuert zu energischer Fortführung des Krieges und
Vorsorge getroffen, daß kein Friede ohne die Betheiligung Oesterreich- zu Stande käme.
Wenn man aber Rußland wirksam entgegentreten wollte,
sobald der Moment einttat, wo diplomatische- Verhandeln nicht mehr auS-
reichte, dann mußte doch Alles von dem Verhalten Preußen- abhängen
und e- war nothwendig, sich auf diese Eventualität vorzubereiten.
Noch
einmal mußte man eine Verständigung mit Preußen suchen. Im September 1770 standen die alten Feinde sich in Neustadt gegenüber, beide von dem
sehnlichen Wunsche nach engem Zusammengehen in der türkischen Sache,
nach gemeinschaftlichem Vorgehen gegen die Kriegslust und Eroberungslust Rußland- erfüllt, beide nach Frieden seufzend.
Aber da- gegenseitige Miß
trauen wurzelte zu tief um einem gedeihlichen Resultat Raum zu geben. Kaunitz hatte nicht den Muth, mehr als allgemeine,
unbestimmte Vor
schläge zu machen, und Friedrich konnte für solche lose Allianzanerbietungen die festen Stützen der russischen Freundschaft nicht opfern.
Oesterreich
gewann- wiederum wie vor einem Jahre in Neiße keinerlei Vortheile, wie
große Stücke auch der alte Staat-künstler auf seine politischen Vorle sungen und deren Wirkung auf Friedrich hielt; Friedrich aber kam eS zu Gute, daß die Neustädter Zusammenkunft Katharina nur um so eifriger
die Aufrechthaltung der Verbindung mit Preußen suchen ließ.
Nur in
einem Punkt begegneten sich die Bemühungen Oesterreichs und Preußen-, nämlich in dem Bestreben, der Pforte zur Nachsuchung der Mediation
jener beiden Staaten bei dem abzuschließenden Frieden zü veranlassen. —
Al- Katharina aber die angebotene Mediation zurückwies und dem Drängen Friedrichs nach Abschluß eines Friedens und nach Paclfication Polens nur di« Thatsache der Einleitung direkter Friedensverhandlungen
mit der
Pforte entgegensetzte, da stieg die Sehnsucht nach einer Allianz mit Friedrich in Wien immer höher.
ES wurden energische Schritte in Berlin gethan
um Preußen wenigstens das Versprechen der Neutralität im Falle eines
Krieges zwischen Oesterreich und Rußland zu entlocken. war durch den Vertrag an Rußland opfern.
Aber Friedrich
gebunden und wollte diesen nicht
Zugleich begann Oesterreich zu rüsten, um durch lautes Waffen
klirren Rußland einzuschüchtern.
Im Geheimen wurden mit der Türkei
die lange versprochenen Verhandlungen zu einem Defensivbündniß gepflogen
und als Friedrich sich einer Allianz unzugänglich erwies, ward der Ver trag mit der Pforte im Juli 1771 abgeschloffen. — Friedrichs ganze Sorge war während des Krieges stets auf Wieder herstellung des Friedens mit den Türken und Beruhigung Polens gerichtet.
Dieses Ziel hatte er im Auge als er gleich bei Ausbruch
des Krieges
einen Plan entwarf zu einer Allianz zwischen Rußland, Oesterreich und
2*
20
Die erste Theilung Polens nnd die Constitution vom 3. Mai 1791.
Preußen und zu einer Theilung Polens unter diesen Mächten.
Dieses
sogenannte Lhnar'sche Project war vorübergehend und wurde bald fallen gelassen.
Nun kam Friedrich auf den Gedanken zurück, alle drei Mächte,
ohne damit einen Ländererwerb zu verbinden,
zur Pacification Polens
Rußland wies die Hereinziehnng Oesterreichs in die polni
herbeizuziehen.
schen Händel kurzweg ab, aber bald darauf regte Katharina die Gedanken
von 1769 über eine Theilung wieder an.
Eben hatte Oesterreich unter
dem Vorwande alter Rechte und des Schutzes der eigenen Grenzen einen polnischen Landstrich, darunter die Zipfer Städte und die Salzwerke von Wieliczka und Bochnia militairisch besetzt. mit dem Prinzen Heinrich,
Katharina ließ
im Gespräch
der eben von Friedrich zur Förderung der
Friedensangelegenheiten nach Petersburg geschickt worden war, Andeutungen
fallen, welche ihre Bereitwilligkeit bekundeten, daß Preußen und Rußland dem Beispiele Oesterreichs folgten.
Die wiederholt den Polen feierlich ge
gebene Zusicherung der Unverletzlichkeit ihres Gebiets wog bei Katharina wenig wo es galt, das eigene Gebiet ohne Opfer zu vergrößern und den
wichtigen Bundesgenossen, der mehrmals den Anerbietungen Oesterreichs
sein Ohr geliehen hatte, sich zu erhalten.
Vorläufig wurde die Sache nicht
Friedrich war ausschließlich mit den Anstrengungen be
weiter verfolgt.
schäftigt, den Frieden herbeizuführen,
Neutralität herauSzntreten zu ersparen.
sich
die Nothwendigkeit aus der
Keine Erwerbungen konnten den
Nachtheil aufwiegen, den ein Krieg von großer Tragweite für ihn mit sich führen mußte.
Und selbst Erwerbungen auf Kosten Polen-, würden sie
wohl diejenigen auSgleichen die Rußland dagegen für sich voraussichtlich in Anspruch nahm?
Anderseits rüstete Oesterreich; die engere Verbindung
und die ersten Keime zu der späteren Convention mit der Pforte blieben auch nicht verborgen und der österreichische Gesandte ließ durchblicken, daß
sein Hof denn doch nicht gesonnen sei um jeden Preis, selbst um den einer bedeutenden Schwächung der Türken zu Gunsten Rußlands, den Kampf zu vermeiden.
Friedrichs Lage war sehr schwierig, seine Mühen um Er
haltung seiner Ruhe drohten nun dennoch zu scheitern.
Da langte sein
Bruder, Prinz Heinrich zu Anfang des JahreS 1771 aus Petersburg an. Er brachte mäßige Forderungen aus Petersburg für den Fall einer Thei
lung und volle Bereitwilligkeit dazu seitens Panins.
Run entschloß sich
Friedrich zur Annahme des Planes und legte auch sogleich Hand an die
Ausführung.
Und rasch mußte die Sache gefördert werden, ehe Rußland
durch den Abschluß eines Friedens mit der Pforte freie Hand bekam und
feine Forderungen erhöhen konnte.
UeberdieS begann kurz
vorher, im
Januar 1771, zwischen Petersburg und Wien, die seither gespannt eingnder gegenüber gestanden und nur durch Friedrichs Vermittelung mit
einander verkehrt hatten, eine Annäherung sich anzubahnen.
Der Peters
burger Hof suchte eine directe Verständigung mit Kaunitz über die Friedenö-
bedivgungen mit den Türken und die österreichischen Ansprüche einzuleiten, und so drohte Friedrich nun gar eine völlige Isolirung in
allen wich
tigsten Fragen der Politik, eine Auflösung- der russischen Allianz und eine
Verbindung seiner gefährlichen Nachbarn. Mit Eifer und Energie ging er anS Werk.
In Petersburg wurden
Vorschläge zu neuer Theilung gemacht und die weiteren Besetzungen polni
schen Gebiets durch Oesterreich hervorgehoben.
Rußland begann in der
polnischen Sache zu zögern, dagegen nahm es die Vermittelung Friedrichs in den Unterhandlungen mit Oesterreich an.
Lange schwankten die Dinge nun hin und her,
die Wagschals deS
Friedens stieg auf und ab, Friedrich war unermüdlich thätig, die Hinder
nisse zu beseitigen und neben den Friedensunterhandlungen gingen die Er örterungen über die ThellungSpläne vorwärts.
AIS Oesterreich sich der
Pforte wieder näherte und zum Abschluß der Convention vom 6. Juli 1771
schritt,
drängte Panin zur Lösung der TheilungSfrage,
wozu er um so
mehr Veranlassung hatte, als in Polen die russische Sache schlechter alS je stand und fast alle früheren Freunde in daS Lager der Conföderirten
übergegangen waren. Schwanken ein.
Um dieselbe Zeit trat in der wiener Politik ein
Hatte Kaunitz bisher eine schroffe abweisende Haltung
gegen die nordischen Alliirten und gegen die Bedrohungen der Türkei ge zeigt, so war die Verbindung mit den Türken doch für Maria Thexesia stet- eine drückende Bürde gewesen.
Run pfuschte sie ihrem großen Meister
inS Handwerk, indem sie dem preußischen Gesandten offen erklärte , wie wenig eS ihr mit den Krieg-rüstungen Ernst sei und wie dringend sie den
Frieden selbst um den Preis einer harten Demüthigung der Türkei wünschte. Auf Friedrich baue sie die Hoffnung einer glücklichen Lösung aller Wirren. Kaunitz sah sich durch die offenen Bekenntnisse seiner Herrin plötzlich de-
diplomatischen Dunkels, in das er sich gehüllt hatte, entblößt, er mußte
seine Politik ändern und den harten Friedensbedingungen Rußlands gegen über gefügiger werden. Diese Bedingungen waren durch die letzten Siege Rußlands wiederum unterstützt worden, und wollte man in Wien nun
einmal nicht zu den Waffen greifen, so mußte man bedeutende Gebiets abtretungen der Türkei sich schon gefallen lassen ohne auf Entschädigungen
auf türkischem Boden dabei rechnen zu können.
Kaunitz mußte sich ent
schließen, um nicht teer auszugehen, nicht nur den formell Verbündeten,
die Pforte, im Stich« zu lassen, sondern auch Polen, dessen Hoffnung auf Hülfe stets genährt worden war, zu täuschen, sich auf seine Kosten schadlos
zu halten. —
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791,
22
Noch einmal platzten die feindlichen Interessen Oesterreichs und Ruß lands auf einander, dann im Frühjahr 1772 reichte man sich über dem
polnischen Geschäft die Hände. ES war hohe Zeit.
Denn unterdessen waren die TheilungSpläne
zwischen Rußland und Preußen fast zum Abschluß gediehen und ein Ver
trag stand in nächster Aussicht, der die Theilung ohne Oesterreich auch Preußen hatte nach langer Weige
mit Waffengewalt durchsetzen sollte.
rung gegen Rußland sich entschloffen, Posen zu occupiren, und Suworow hatte siegreich die polnische Conföderation überall zu Boden geschlagen.
Der österreichische Gesandte erklärte nun Friedrich die Bereitwilligkeit sei ne- HofeS, eine Theilung Polens auf dem Prinzip der Gleichheit anzu
nehmen, und in Petersburg fügte sich Kaunitz den russischen Bedingungen für den Frieden mit der Pforte. Am 17. Februar 1772 war der preußisch
russische TheilungSverttag unterzeichnet worden, und alle Abneigung Ma ria Theresia'S gegen einen Erwerb auf Kosten der bisher von Oesterreich gehätschelten Polen konnte dieser Thatsache gegenüber den Beittitt Oester
reichs zur Theilung nicht zurückhalten.
Es handelte sich nur noch um die
Größe der abzutretenden Gebiete, und man bemühte sich gegenseitig, be
sonders von Wien aus, die Gehässigkeit des ganzen Handels von sich ab
zuwälzen.
Im August kam man über den Antheil der drei Mächte überein,
Panin entwarf die Grundzüge einer neuen Verfassung und Einrichtung
Polens.
Darnach sollte Stanislaus August auf dem Throne erhalten und
für seine materiellen Verluste bei der Theilung durch Einziehung von Starosteien, die den großen Magnaten verliehen waren, entschädigt wer den.
Die Magnaten sollten in ihrem Vermögen, welches sie häufig in
schädlicher Weise benutzten, geschmälert und dadurch eine größere Gleichheit unter dem Adel hergestellt werden.
Das Wahlkönigthum sollte wenigsten-
nur auf Piasten beschränkt werden und stets die Nachfolge de- Sohne-
ausgeschloffen sein.
Im Uebrigen sollte die auf dem letzten Reichstage
angenommene Constitutioü beibehalten werden. Im September 1772 erließen die drei
Mächte Declarationen, in
welchen Polen die Beschlüffe der Theilung bekannt gemacht wurden.
Im
November ersuchten sie den König, einen Reichstag zur Regelung dieser
Angelegenheit einzuberufen, und die 3 Gesandten waren bemüht, Stanis laus August in völlige Abhängigkeit von sich zu bringen.
Nach langem
Widerstreben, nach vielen Bitten und Ränken, Betheuerungen, lieber zu
sterben als in die Theilung zu willigen, nach salbungsvollen Reden und heißen Thränen willigte der König im Dezember in die Einberufung. Nun wurden alle Mittel in Bewegung gesetzt, einen gefügigen Reichstag
zusammenzubringen.
Drohungen und Maßregelungen, Schmeichelei, Ver-
sprechung und Bestechung bearbeiteten um die Wette die
Häupter für günstige Wahlen.
Grade damals
Krakau, Solthk, aus der Verbannung zurück.
einflußreichen
kehrte der Bischof von
Er zeigte sich gefügig, bot
den fremden Gesandten dienstbeflissen seine Hülfe an, stimmte allen ihren Anschauungen bei und arbeitete im Geheimen energisch gegen sie, wozu
ihm seine durch die Verbannung nur gesteigerte Popularität und die augen blickliche traurige Lage des Landes die besten Mittel lieferten.
Plötzlich
warf er die Maske ab und trat als erbitterter Gegner der drei Mächte auf.
Die Wahlen fielen ungünstig auö und nur nach heftigen Kämpfen
gelang es, den Reichstag zu conföderiren und den König zum Beitritt zu
bewegen.
Bei der Wahl des Marschalls wurde PoninSki, ein im russischen
Solde stehender Mann durchgesetzt, von dem der russische Gesandte Sal-
dern sagte, man könne ihm mit der einen Hand eine Ohrfeige, mit der andern einen Beutel geben.
Noch schwieriger wurde es, den Reichstag
zur Wahl einer Delegation zu bewegen, die mit genügenden Vollmachten
zum Abschluß der gewünschten Verträge versehen wäre.
Man sah sich
genöthigt trotz der 5000 Dncaten, die gemeinschaftlich anf Bestechungen
verwandt waren, zu Gewaltmaßregeln zu greifen und Truppen in War schau einrücken zu lassen.
Endlich wurde die Delegation ernannt, aber
die Verhandlungen boten neue Hindernisse dar.
Nicht nur, daß die De-
legirten stets Schwierigkeiten schufen, auch die verbündeten Mächte selbst
wnrden uneins.
Denn Oesterreich war mit dem Antheil, der ihm in der
Convention der drei Mächte zugefallen war, nicht mehr zufrieden, ver
langte weitere Abtretungen und besetzte die beanspruchten Gebiete; dann erweiterte es wiederum seine Forderungen. — Nun beeilte sich Friedrich, auch seinerseits mehr zu verlangen alursprünglich
festgesetzt war.
Natürlich erbitterte dieses Verfahren
die
Delegirten und immer neue Mittel mußten angewandt werden sie zu be
ruhigen.
ES wurden an die Delegation
im Ganzen 45000 Ducaten
verwandt, ob zwar die Sache der fremden Höfe in dem Umstände eine
Stütze hatte, daß in der Delegation eine Partei bestand, welche in der Theilung-fache sich fügte um später bei Feststellung der Verfassung-artikel
mit Hülfe der Gesandten die königliche Macht einznschränken, zu Gunsten
der alten Freiheit.
Die Verhandlungen rückten nicht von der Stelle,
Rußland schloß mit der Türkei zwar einen Waffenstillstand, war aber dort noch zu sehr in Anspruch genommen um den Forderungen der Verbün
deten ernstlich Widerstand zu leisten; diese aber suchten die Gleichheit, auf welche ihre Erwerbungen gegründet sein sollten, immer wieder durch neue Stücke Lande- herzustellen.
Kaunitz ging einige Meilen Uber den Bug
vor, und Friedrich besetzte ein paar Hundert Dörfer in Cnjavien.
Ruß-
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Die erste Theilung Polens und die Constitutton vom 3. Mai 1791.
land schloß den Frieden von Kutschuk-Kainardsche, Oesterreich ließ alle Großmuth fahren und riß schnell nun auch von seinem Verkündeten, der
machtlosen Pforte ein Landstück ab, aber noch immer waren die polni schen Grenzregulirungen nicht beendet, in unerquicklicher Weise feilschten die Nachbarn
um
die
Beute.
Erst
ein neuer
Reichstag schloß am
22. August 1776 die Grenzacte endlich ab. Polen verlor bei der ersten Theilung fast 4000 Quadratmeilen, da
von an Rußland etwa die Hafte mit ungefähr anderthalb Millionen Ein wohnern,
die durch den Lauf der Düna, des Dniepr und Drusch be
grenzt wurden.
Oesterreich erhielt 1300 Quadratmeilen, d. h. Ostgalizien
und Lodomerien mit den reichsten Landstrichen und den wichtigen Salz
werken von Bochnia und Wieliczka.
Preußen'S Antheil von 630 Qua
dratmeilen war durch seine geographische Lage von großer Bedeutung:
Die Verbindung Ostpreußens
mit der Mark und Hinterpommern wurde
durch die Erwerbung ErmelandS,
PomerellenS,
des PalatinatS Marien
burg mit Elbing, des CulmerlandeS und des Netzedistrikts,
die heute in
der Provinz Westpreußen zusammengefaßt werden, hergestellt.
Nur Thorn
und Danzig mit ihren Gebieten blieben polnische Enclaven. Raschere Erledigung fanden die Erörterungen der Verfassungsfrage. Im Wesentlichen wurde das Paninsche Projekt angenommen.
Um aber
dem übermächtigen Einfluß der Magnaten eine Schranke entgegenznstellen, sollte der niedere Adel unterstützt werden.
Ein dem Könige zur Seite
gestellter Rath, in welchem auch die Ritterschaft neben den Senatoren ihre Vertreter haben sollte,
wurde hiezu förderlich befunden.
Dieser
„permanente Rath" sollte die Beschlüsse des Reichstages ausführen und
die ganze Verwaltung controliren.
Man einigte sich dahin, daß dieser
aus 15 Senatoren und 15 Vertretern des niederen Adels bestehende Rath
vom Reichstage alle 2 Jahre erwählt werden sollte, der König muß die vom Rathe genehmigten Beschlüsse des Reichstages unterschreiben, er ver
zichtet auf das alte Recht die Würdenträger zu ernennen und muß dem dreimaligen Vorschläge des Raths in dieser Beziehung sich fügen.
in Betreff der Dissidenten wurden
schlossen.
Auch
einige wesentliche Neuerungen be
Polen wurde unter die Garantie der drei verbündeten Mächte
gestellt, aber während Oesterreich und Preußen nur die Bürgschaft für
die Integrität des polnischen Gebiets auf sich nahmen, wurde die neue Verfassung dem besonderen Schutz Rußlands übergeben.
Dieser Theil
der Verhandlungen erhielt seine Sanktion im März 1775. Damit war die erste Theilung vollbracht, die drei Nachbarn vergrö
ßerten und verbesserten ihre Gebiete um wesentliche Landstriche, besonders
Preußen hatte die wichtige Verbindung seiner getrennten Theile hergestellt.
ES war eine bedeutende Errungenschaft; aber dennoch hätte Friedrich wohl
nie freiwillig sich entschlossen, den Plan einer polnischen Theilung zu ver
folgen.
Er hatte für seinen Staat genug gethan,
um die weitere Ent
wickelung seinen Nachfolgern überlassen zu dürfen und er wollte wirklich keine Eroberungspolikik mehr treiben.
Auch Oesterreich wäre sicherlich
damals nicht zu dem Entschluß gekommen, den einmal von Kaunitz ausge sprochenen Gedanken einer polnischen Theilung auszuführen, wenn nicht
hier ebenso wie in Berlin die Nöthigung durch die Stellung deS dritten
Participienten eingetreten wäre.
Seit Decennien
wuchs der
russische
Einfluß in Warschau, seit 1764 war Polen thatsächlich abhängiger von Rußland als ein deutscher Vasallenstaat vom Reich. — Klar vor Jeder
manns Auge lag die völlige Unterwerfung Polens in naher Zukunft: das
war das zwingende Motiv.
Rußlands Eroberungspolitik war es im letzten
Grunde allein zuzufchreiben, wenn Friedrich sowohl als Kaunitz endlich
gegen dieselbe reagiren
mußten durch eine gleiche Politik.
Wer zuerst
das Wort sprach, das ist eine fast müßige Frage gegenüber der unbe
streitbaren Thatsache, daß die beiden deutschen Nachbarmächte
auf die
Dauer die Stellung nicht dulden konnten, die ein Repnin, ein Kehserlingl in Warschau einnahmen und die eines Tages die Heere der ehrgeizigen
Zarin in ein paar Tagemärschen vor Wien
konnte.
oder vor Berlin führen
Gallizien durfte Oesterreich ebensowenig russisch werden lasten,
alS Friedrich das heutige Westpreußen.
Wozu auf der einen Seite Ehr
geiz und eine allerdings in dem besonderen staatlichen Entwickelungsgänge
begründete Eroberungslust trieben, das war auf der anderen Seite die
Folge der Nothwehr. Der Vortheil, den Rußland bei der ersten Theilung davontrug, war
ohnehin groß genug, übergroß im Verhältniß zu den Errungenschaften der beiden andern Mächte.
Denn Rußland hatte seine Absichten in Betreff
der Verfaffuug erreicht, es hatte in dem permanenten Rath ein Organ
geschaffen, dessen Glieder stets in russischem Solde erhalten und wirksam
gegen alle Bestrebungen des Königs und des Reichstages nach Selbststän digkeit verwandt werden konnten. Der russische Einfluß war wiederum be
festigt, und die folgenden Jahre zeigten deutlich die Planmäßigkeit und Zweckdienlichkeit von Katharinens und Panins polnischer Politik.
Ernst von der Brüggen.
Leon Gambetta und die Loirearmee*). 5.
Die Tage unmittelbar nach der Schlacht bei Orleans zeigen die Contraste in Gambetta's Natur am deutlichsten.
Alle seine großartigen Eigenschaften- entfalten sich noch einmal auf daS glänzendste, aber daneben treten jetzt auch die Schattenseiten seine-
CharacterS schärfer al- früher hervor. Gambetta hatte am Nachmittage des 4. December Tours mit einem
Extrazuge verlassen, um sich nach Orleans zur Armee zu begeben, den patriotischen Eifer derselben zu entflammen und den General d'Aurelle in dem letzten energischen Entschlusie zu stärken.
Aber schon bei la Capelle
wurde der Train von preußischen Granaten begrüßt.
Die Bahnlinie war
durch daraufgeworfenes Holz und Strauchwerk gesperrt.
Der Zugführer
hielt und weil er gewahrte, daß die „Ulanen" schon die ganze Gegend
durchstreiften, so drehte er gegen BloiS hin um.
Der Dictator faßte dann
noch die Idee, zu Wagen zur Armee zu gelangen, gab aber auch einen solchen
Versuch auf und erfuhr Abends um 6 Uhr in BloiS durch de Freycinet, daß OrlöanS geräumt werden würde, es fei dem General d'Aurelle un
möglich gewesen, einen ernsten Widerstand zu organisiren. Um 3 Uhr Morgens traf Gambetta wieder in Tour- ein.
Dort lag
eine Reihe von Depeschen der einzÄnen CorpScomandeure der Loirearmee,
dann die Meldung des General des PalliöreS: „OrlöanS wird nach einer Convention mit dem Feinde heute (am 4.) Abends 11'/, Uhr geräumt
werden," sowie ein Telegramm des GeneralsecretairS der Präfectur von
OrlöanS aus La FertL St. Aubin.
Diese- Telegramm meldete, daß die
Stadt schon von den deutschen Truppen besetzt wäre. ES enthielt außerdem
den Zusatz „man sagt, daß die Preußen fast ohne Munition seien."
Diese
Notiz hatte natürlich keinen anderen Zweck, als die Verdächtigung der
eignen Heerführer, welche danach die verschanzte und mit schweren Batterien *) Vergleiche October- und Novemberheft 1874. Wir bitten unsre Leser im Jnhaltsverzeichniß de« letzteren Heft» da« Wort „Schluß" in „Fortsetzung" corrigiren zn wollen. A. d. R.
versehene Stadt einem Feinde überliefert hätten, dem e- selbst an Pulver ttttb Blei mangelte*).
So vermochte der Dictator nun klar zu übersehen, daß sein erster Plan, Pari» und Frankreich zu Befreien, gescheitert wäre, daß sein erste- große-
Werk, auf welche- er alle seine geistigen Kräfte, alle Mittel, die Frankreich ihm bewilligt, verwendet hatte — die Loirearmee — in Trümmern läge.
Er
glaubte den Kampf bei Pari- noch im Gange,
Trochu und Ducrot
siegreich und während er gehofft, durch seine Initiative die Hauptstadt
zu befreien, sah er sich anscheinend der Unmöglichkeit gegenüber
ihr
selbst nur zur Hülfe zu eilen — gewiß eine Reihe bittrer Enttäu
schungen. Doch statt muthlo- selbst seine gescheiterten Unternehmungen im Stiche zu fassen, faßte er den kühnen Gedanken, jetzt noch den Rückzug in eine Offensive, die Niederlage in einen Sieg zu verwandeln.
Und so „wider
sinnig", wie die französischen Generale später einstimmig diesen Entschluß
genannt haben, war er durchaus nicht.
Das
18. unb 20. französische
Corps hatten zwar durch die Kämpfe im November eine heftige Erschütte rung erlitten, während der letzten Tage dafür aber gar nicht gefochten.
Die
Betheiligung de- 16. und 17. Corpö während der Schlachttage vom 3. und
4. December konnte gleichfalls nicht ins Gewicht fallen.
Am Walde von
Marchenoir stand das neuformirte 21. Corps, andere frische Truppen bei Beaugench, wohin man sie vor» Tours aus während der Schlachttage von OrlöanS vorgeschoben. ES war dies die Division Camö, welche 9500 Mann
zählte.
Die Loirearmee konnte daher sofort eine erhebliche Verstärkung
erfahren und welche Bedeutung daö Erscheinen von noch
ganz intacten
Truppen auf dem Kampfplatz, in solchen Momenten, wo beide Theile bereits eine Reihe von Gefechtstagen hinter sich haben, bedeutet, das ist
Jedermann klar der den Krieg kennt. Wenn Gambetta schon am 5. December Nachmittags in einem Tele gramm an General Bourbaki einen neuen großartigen FeldzngSplan entwarf,
so darf man dies durchaus nicht als leere Prahlerei ansehen:
„Ebenso unglückliche, als unerklärliche Conjunctnren haben gestern die Räumung von Orleans und die Trennung unserer Armee in drei Gruppen
herbeigeführt.
Die eine ist die Loire abwärts nach Beaugench marschirt;
die andere geht auf der Linie de- Centrums zurück; die dritte, die au» dem 18. und 20. Corps gebildet wird und die den Befehl hat nach Gien
abzuziehen, ist die Ihre."
„Wohlan, General, die Regierung — weit entfernt, sich *) Beide Telegramme waren übrigens dem Dictator schon am 4. December Abends nach Beaugency entgegen gesendet worden.
Lsoil Gambetta und die Loirearmee.
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durch diesen „echec“ entmuthigen zu lassen, schöpft neue Kräfte daraus.
Sie ist entschlossen, ihre Operationsbasis zu ändern
und einen großen Schlag zu versuchen. nehmstes
Instrument sein,
Sie werden dessen vor
während die Corps
PalliLreS — unfern Orleans
von Chanzh und des
angehalten — sich vorbereiten, um diese
Stadt durch eine kräftige Offensive wieder zu nehmen." „Sie Ihrerseits werden
augenblicklich
ihre Bewegung auf Gien
suspendiren, das 18. und 20. Corps vereinigen und sobald Sie eö können,
ohne einen Augenblick zu verlieren, sich auf MontargiS dirigiren. Stadt ist wenig oder gar nicht besetzt.
Diese
Sie wird Sie nicht aufhalten."
„Dann werden Sie schleunig nach Fontainebleau vordringen und
von da — wenn nöthig — den Marsch nach Melun fortsetzen.
Sie
tönen sicher sein, im gegebenen Augenblicke Ducrot'S Armee zn begegnen,
die sich mit prächtigen Erfolgen an den Ufern der Marne schlägt und eben im Begriffe ist, gegen den Wald von Fontainebleau vorzudringeu.
Nachrichten aus Paris, welche eben eintreffen, berichten Dncrot'S Siege. Kommen wir denselben wenigstens in Etwas gleich.
An Ihnen ist es,
Paris gegenüber Frankreichs Ehre anfrecht zu erhalten!"
„Ihre Richtschnnr sei eS, daß der Osten vom Feinde fast entblößt
ist.
Jene Seite ist eS in Folge dessen, wohin Sie sich werfen müßten,
falls Sie zu lebhaft gedrängt würden.
Endlich, wenn gegen alle unsere
Erwartung der Rückzug nöthig werden sollte, würden Sie ihn ans der Linie SenS Ioigny, Auxerre ausführen."
„Wir senden Ihnen einen MunitionStrain nach MontargiS."
Der Dictator wollte also den Siegern Orleans numittelbar nach
der Schlacht wieder entreißen und zugleich seinen ersten Operationsplan, der einmal bei Beaune-la-Rolande gescheitert war, wieder aufnehmen. Gewiß ein verwegener Gedanke.
Zugleich sollte die öffentliche Meinung durch alle Mittel erregt und
der Rückschlag in der BolkSstimmung abgewendet werden.
Dieser Rück
schlag schien nach der Niederlage von Orleans,
welche unerwartet auf
pomphafte Siegesdepeschen folgte, unvermeidlich.
Anch dem Volke ver
kündeten der „Moniteur-universel“, das officielle Journal Gambetta'S, Maueranschläge und Proclamationen, daß die Regierung nicht entmuthigt sei, sondern daß sie sofort die Offensive wieder anfnehmen würde, um
Paris zu befreien.
Gewiß war eS in diesem Augenblicke nöthig, die Gemüther durch eine feste und energische Haltung zu entflammen.
Der Niedergeschlagenheit
durfte kein Raum gelassen werden, sollte überhanpt der Kampf feinen Fortgang nehmen.
Unnöthig aber war die Lüge, und doch griffen der Dictator und sei» Delegirter dazu.
Sie fürchteten das Land und dachten daran da- Meer
des allgemeinen Unwillens durch ein Opfer zu beschwichtigen. Und diese-
Opfer sollte General d'Aurelle de Paladine- sein, bessert Dienste man seit
der Theilung der Loirearmee entbehren konnte.
öffentlichen Mittheilungen den Verdacht. Ursachen der Niederlage,
Sie
die dreitägigen
Truppen, sondern stellten den Sachverhalt
Auf ihn
lenkten alle
sprachen nicht über
Kämpfe, so dar,
die
die Auflösung der als
ob allein die
Feigheit oder Verrätherei d'Aurelle'S den verhängnißvollen Act herbeige
führt' habe. Der Moniteur vom 5. December Abend- (mit dem Datum des 6.) veröffentlichte folgende offizielle Note: „Nach verschiedenen Kämpfen am 2. und 3., welche dem Feinde
viel Schaden zugefügt hatten, aber die auch den Marsch der Loire
armee aufhielten, erschien dem Oberbefehlshaber,
General d'Aurelle de
Paladines die allgemeine Lage dieser Armee plötzlich beunruhigend.
In
der Nacht vom 3. zum 4. sprach General d'Aurelle plötzlich von der Nothwendigkeit, Orleans zu räumen und den Rückzug der verschiedenen CorpS der Armee auf da- linke Loireufer vorzunehmen — eine Nothwen
digkeit,
welche sich „ihm zufolge" ihm aufdrängte.
„Dennoch blieb ihm
noch eine Armee von mehr al- 200,000 Mann und 500 Kanonen, in
einem befestigten Lager verschanzt, daS mit weittragenden schweren Marine geschützen armirt war."
ES scheint, daß diese ausnahmsweise gün
stigen Bedingungen einen Widerstand hätten erlauben müssen, welchen auf alle Fälle die einfachsten rnilitairischen Pflichten erforder
ten.
General d'Aurelle bestand nichts destoweniger auf sei
nem Rückzüge."
Dann folgte das Telegramm der Regierung, welche- den Rückzug
unter Vorbehalt genehmigte und dasjenige d'Aurelle'S, welche- seinen vor übergehend gefaßten Entschluß kund gab, die Armee bei Orleans zusam menzurufen, um Widerstand zu leisten. Im Hinblick auf diese- letzte Telegramm, welche- d'Aurelle'S selbst
ständiger Entschluß dictirt hatte, wurde die Mittheilung hinzugefügt:
„Dieser ConcentrationSplan war genau derjenige,
welcher seit 24
Stunden angerathen, ja durch den Krieg-Minister befohlen wurde." Weiter heißt es, nach Anführung der Meldung des GeneralsecretairS der Prefectur von Orleans „On dit Prussiens entrös presque sans
munitions; ils n'ont presque pas fait de prisonniers“:
„Zur gegenwärtigen Stunde melden die Depeschen der verschiedenen CorpSchefS, daß der Rückzug in guter Ordnung vor sich geht, aber nf«n
ist ohne jede Nachricht von d'Aurelle, der nichts an die Re gierung hat gelangen lassen."
„Wir hoffen bald, die Offensive wieder aufzunehmen.
Die Moral
der Truppen ist ausgezeichnet."
Dieses Circular ist durchaus verwerflich.
Die Anklagen sind nicht
direct gegen den General gerichtet, allein sie weisen in der gehässigsten
Art auf ihn, als den Schuldigen hin.
General d'Aurelle also hatte
allein die vom Minister befohlene Concentration verhindert, die einfachste
Pflicht nicht erfüllt, da er ein Heer von 200,000 Mann ungenützt ließ, da er Verschanzungen und schwere Batterien einem Gegner übergab,' dem
eS selbst an Munition fehlte, und zuletzt die braven Truppen von „aus gezeichneter Moral" im Stiche ließ, ohne von sich eine Nachricht zu geben.
Der Rückzug ging in guter Ordnung vor sich, damit sollte nun er wiesen werden, daß er eigentlich garnicht nöthig gewesen.
Dieses Schriftstück ist ein würdiges Pendant zu der bekannten Pro-
clamation vom 30. October: „Der Marschall Bazaine hat verrathen; er
hat sich zum Agenten des Mannes von Södan gemacht, zum Mitschuldigen
der fremden Eindringlinge."
Welch' einen Contrast enthält eö gegen den
wahren Hergang der Operationen der Loirearmee seit dem 23. November!
Es darf nicht Wunder nehmen, wenn angesichts solcher Publicationen
die Anhänger Gambetta's noch weiter gingen. Der Präfect der „Bouches-du-Rhdn“, Gambetta's treuer Anhänger Gent, veröffentlichte unter Anderem folgende Version:
„Mitbürger! sie ankommen.
Ihr sehet, daß wir Euch die Depeschen geben, sobald
Nach den guten die schlechten Nachrichten, nach den glor
reichen Erfolgen der Armee von Paris, denen sich neue anschließen und die sich vergrößern, um unS Erfahrung und Trost zu geben, dieser noch
unerklärte Rückzug der Armee von Orleans ohne Kampf, ohne eine Gegenwehr, ohne Niederlage!"
„Unser Enthusiasmus war ungeheuer, als wir von den ersten erfuh ren.
Unsere Energie,
unsere Entschlossenheit, unser Vertrauen werden
nicht geringer sein, da wir nun die Befteiung und den Triumph hinauSgeschoben sehen, welchen alle Anzeichen unS von Tag zu Tage hoffen
ließen."
„Wir erwarten, daß dieses System aufgeklärt, daß dieser Rückmarsch, dieses Preisgeben der ruhmvoll wiedereroberten
Stadt entweder gerechtfertigt, oder bestraft werde." „Frankreich bat S^dan und Metz überstanden, es ist groß genug, stark genug, entschlossen genug, um nicht nach einem dritten Echec, oder
ein-em dritten Verrath zu verzweifeln"....
„Die Pariser Armee dringt immer weiter vor, und wen» sich die der Loire vor dem Feinde zurückzogen hat, so geschah eS, ohne daß sie
angegriffen wurde.
Morgen schon werden wir sie — voll Scham auf
den Befehl eines Chef geflohen zu sein, den wir nun endlich zu durchschauen gelernt haben, ihre Bahn der Schwesterarmee entgegen
wieder aufnehmen sehen, welche ihr die Arme entgegenreckt und die ihr den Weg vorzeichnet."
So reiche Ernte hatte die von Tour- au- gestreute Saat de- Miß trauen- jetzt schon getragen.
Daß Gambetta und de Frehcinet in Wahrheit durchaus nicht im Unklaren darüber waren, wie es am 4. December bei der Armee stand,
und daß ein Mißlingen des Widerstandsversuches, welchen d'Aurelle so plötzlich gegen Mittag hin versprochen hatte, ihnen sehr erklärlich gewesen
sein muß, geht aus den an jenem Tage zwischen TourS und der Armee gewechselten Depeschen deutlich hervor.
Noch
um 7 Uhr 35 Minuten
AbendS am 4. December war in Tours die letzte verzweifelte Depefche d'Anrelle'S eingelaufen, daß der fernere Kampf unmöglich sei.
De Frey-
cinet antwortete auf diese ,,d6p6che imprSvue et bien enteile“, wie er sie bezeichnet, sofort.
Des Abends um 10 Uhr 20 Minuten ließ er ein
längeres Telegramm folgen, das schon ziemlich deutlich voraussagt, man
werde dem unglücklichen General alle Schuld zuschieben und Nicht- davon auf sich nehmen.
In diesem Telegramm heißt eS unter Anderem:
„Je
mehr ich über den von Ihnen gefaßten Entschluß, Orleans zu räumen,
nachdenke, desto mehr beklaze, und desto weniger verstehe ich ihn."
„Ich
kann ihn nur — erlauben Sie mir, die« zu sagen — einer veritabeln Panik
zuschreiben.
Bin ich auch nicht an Ort und Stelle, um die Umstände
genau würdigen zu können, so habe ich dennoch nicht- destoweniger die tiefe Ueberzeugung, daß Sie in Orleans hätten Widerstand leisten müssen.
Nach meiner Meinung haben Sie eine furchtbare Verantwortung auf sich genommen, über welche sich die Geschichte aussprechen wird." ....
Diese Depesche gelangte am 5. des Morgens um 9 Uhr 15 Minuten
zu La Ferts St. Aubin in General d'Anrelle'S Hände.
Daß sie ihr Ziel
nicht verfehlt habe, wird dem Kriegsministerium nicht unbekannt geblieben Jedenfalls wäre eS durch die Telegraphenbeamten zu erfahren ge
sein.
wesen.
Daß der General ferner am 5. La Motte-Beuvron erreicht habe,
erfuhr der Kriegsminister gleichfalls, denn er dirigirte am Abende deffelben Tageö seine telegraphischen Befehle dorthin.
Ein Recht für Gambetta in einer öffentlichen Kundgebung, wie er e« gethan, zu sagen: „man ist ohne eine jede Nachricht von d'Aurelle, der
Nichts an die Regierung hat gelangen lassen", bestand daher ebenso wenig,
86on Ganibetta und die Loirearmee.
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als es edelmüthig war, über die verdächtigenden Andeutungen noch die
besondere Ueberschrift zu setzen: „Le public apprSciera.“ DeS Generals Abberufung von seinem hohen Posten war schon am 5. December in TourS beschlossene Sache, und ein solcher Entschluß ebenso richtig, wie der,
zu bilden.
aus
der
geschlagenen
zwei neue
Loirearmee sofort
Die Animosität zwischen d'Aurelle de Paladine- und dem
Kriegsminister hatte sich schon so weit gesteigert, daß von einem ferneren
gemeinsamen Wirken kein Segen mehr erwartet werden konnte. mation
Die For
der I. und II. Loirearmee besaß überdieß thatsächlich erhebliche
Vortheile.
Da jetzt noch daS 21. Corps, welches an 50,0000 Mann
zählte, zu der Feldarmee trat und ebenso die Division Camö, so wäre daS Ganze zu einer riesigen unbehilfliche» Masse ohne Beweglichkeit und
Schlagfertigkeit geworden. Ernährung, Reorganisation und Aufrechterhal tung der Disciplin würden sich immer schwieriger gestaltet haben.
Die
Theilung erleichterte Alles und vergrößerte die Einwirkung des Oberbefehls haber- auf die einzelnen Truppentheile.
Der excentrische Rückzug entzog
die geschlagenen Corps ferner am ehesten der Verfolgung. mußten zweifelhaft werden,
Die Sieger
wohin sie sich jetzt zu wenden hätten,
sobald
sie auf allen Straßen, im Süden sowohl wie im Osten und Westen, französische Truppen im Abzüge begriffen fanden.
Concentrirte sich die
ganze Loirearmee an Einem Punkte, so war es keine Frage, daß auch
Prinz Friedrich Karl mit der ganzen Macht dorthin marschirte und sie
angriff. Gewiß war eö auch nicht zu gering zu veranschlagen, daß die Bil dung zweier gesonderter Armeen im Lande am ehesten die Wirkung deUmstandes paralhsirte, daß die große Loirearmee zertrümmert worden sei.
Daß die beiden französischen Heere sich zweckmäßig zu unterstützen ver mochten, lehrte die Folge.
Sie konnten sich, wenn eS nöthig wurde, auch
durch Eisenbahntransporte leicht wieder vereinigen.
Hat Gambetta daher, al- er diese Maßregel ergriff, auch nur auder Noth eine Tugend gemacht, so geschah eS doch mit viel Geschick und
Entschlossenheit. Nur die Art, wie man auch hierbei gegen
den General d'Amelle
persönlich verfuhr, war der hohen Stellung jene- Manne- und der Sache,
um die e- sich handelte, nicht würdig.
„DaS Obercommando der Loirearmee ist aufgehoben!" telegraphirte
der Kriegsminister ihm.
„Uebergeben Sie Ihre Functionen unverzüglich
an General des PalliöreS.
Sie sind zum Commandanten der strategischen
Linien von Cherbourg ernannt und werden sich auf der Stelle an den Ort Ihrer neuen Bestimmung begeben."
Alle Corpscommandanten erhielten von dieser Depesche eine Copie^ Allein das war nicht genug, eS geschahen noch weitere Schritte. Gambetta
befahl an demselben Tage die Zusammensetzung einer Commission, welche
die der Räumung von OrlöanS vorangegangenen Ereignisse untersuchen sollte.
AuS dieser Untersuchung ist freilich
nichts geworden — doch
wen hätte die Commission auch anklagen sollen, wenn nicht den Minister
selbst und seine Rathgeber. Gambetta war zu weit gegangen.
gegen ihn.
Ein Theil der Presse wendete sich
Die Affichen mit den gegen d'Aurelle gerichteten Denunciatio
nen wurden hier und dort von den Mauern gerissen.
Der in seinem
Stolz und seinem Ehrgefühl durch die gerade jetzt besonders empfindliche
Absetzung tief gekränkte General verweigerte die Annahme deS Commando'S in Cherbourg und gab von SalbriS aus, wohin er das 15. CorpS zurück geführt hatte, feine Demission.
Die Stimmung im Kriegsministerium änderte sich darum urplötzlich und wurde eine mildere.
De Frehcinet bat d'Aurelle „trös-instamment“,
mit seiner Erfahrung, seiner Kenntniß der Gegend von SalbriS und deS 15. Armeecorps den General des PalliöreS zu unterstützen, ebenso dem General Crouzat die nöthigen Weisungen zu geben.
Ueber sein Abschieds
gesuch sollte am nächsten Tage entschieden werden.
Diese Mittheilungen gingen
an ihn von TourS nach SalbriS
in
demselben Augenblicke ab, als er schon vor ganz Frankreich durch Zeitungen und Placate der Feigheit und deS BerrathS beschuldigt, als bereits über
seine Commandoführung eine kriegsrechtliche Untersuchung verhängt worden
war.
Bon diesem Vorgehen gegen ihn gab ihm der Dictator mit keinem
Worte Nachricht.
Obgleich er somit keine Ahnung hatte, was ihm bevor
stand, blieb er indessen dennoch fest und erwirkte sich die Erlaubniß, am 7. December SalbriS zu verlassen und in den Ruhestand zurückzutreten. Gebrochenen Herzens schied er von der Armee, eigenthümlicherweise
an derselben Stelle, wo er sie zuerst aus Lamotterouge'S Händen über
nommen, ausgebildet und für einen Sieg erzogen hatte. Gewiß hätte er sich diese Demüthigung ersparen können, wenn er mit derjenigen Energie aufgetreten wäre, welche für
Armeebefehlshaber unerläßlich ist.
eiuen so hochgestellten
Er durfte sich niemals in solcher Art,
wie eS geschehen, zum willenlosen Werkzeug der souverainen ministeriellen
Einfälle machen.
Das Unheil sah er schon im Monat November voraus.
Damals war eS Zeit, seine Demission zu geben,
um entweder
einem
anderen Dianne Platz zu machen, dem die Regierung Vertrauen schenkte,
oder, um eS durchzusetzen, daß man ihm freie Hand ließ.
Die Art, wie Gambetta ihn und die übrigen Generale der Armee Preußische Jahrbücher. St. XXXV. Heft I
3
behandelte, konnte zu keinem ersprießlichen Ende führen.
Freilich haben
diese Männer sich mit wenig Ausnahmen mehr'als vornehme patriotisch gesinnte Cavaliere, vom besten Willen beseelt, gezeigt, wie als gute Sdldaten,
die aus hartem Holz geschnitten sind. Allein Gambetta'S und Frehcinet'S Methode konnte diesen Mangel
wahrlich nicht ausgletchen.
Durch Chicanen und Intriguen wird man
schwankenden weichen Naturen niemals die Festigkeit geben, die einmal
zu dem rauhen Kriegshandwerk nothwendig ist.
Wie die beiden Allmächtigen
von Tours über ihre Truppenführer
dachten, geht auf unvergleichlich characteristifche Weife aus einem Telegramm Frehcinet'S an Gambetta hervor, in welchem der erstere seinem Gebieter gute Lehren giebt, wie er sich bei der Armee verhalten sollte.
Eö geschah
dies, als sich der Dictator am 4. December nach Orleans auf den Weg
gemacht hatte: „In dem Augenblicke, wo Sie in Orleans ankommen, erlauben Sie
mir eine Andeutung.
Die Generale, mit welchen Sie zu thun haben,
sind nur eines begrenzten Grades von Elan fähig.
Weil sie stets zum
Widerspruch geneigt sind, ist es vielleicht viel besser, sie ihren persönlichen
Eingebungen folgen zu lassen, als sie noch mehr anzufeuern (chauffier). Sie würden ihr „ressort naturel“ überschreiten und eine Reaction herbei führen." „ES sind ruhige Naturen, ein wenig schwerfällig, man muß es vermei
den, sie durch eine zu hochgespannte Energie aus der Fassung zubringen." „Vermeiden Sie eS, sie in Anspruch zu nehmen.
Sie haben materiell
viel zu thun. Befehle zu befördern, vielleicht verschiedene Positionen zu besichtigen.
Sie dürfen mit ihnen nur sehr wenig Beziehungen haben
und sagen Sie ihnen gleich von Hause aus, daß sie sich in keiner Weise
mit Ihrer Person zu beschäftigen hätten, daß sie vielmehr ihrem Beruf
nachgehen sollten, als ob Sie garnicht da wären."
.
„Wenn sie aber trotz Allem durch Ihre Gegenwart mehr oder weniger
zerstreut werden und wenn die Generale selbst vielleicht darnach trachten sollten, Sie zu sehen, während sie besser thäten, auf ihren Posten zu bleiben, so dehnen Sie Ihren Besuch so kurze Zeit wie möglich aus.
Nach meinem
Sinne müßten Sie schon heute Abend zurückkehren; denn wenn einmal der erste Eindruck Ihrer Anwesenheit erreicht ist, so fürchte ich, daß die Ver
längerung des Aufenthaltes mehr schlechte als gute Seiten habe.
In
Le Mans hatten Sie zu organisiren; hier nur einen moralischen Impuls
zu geben.
Nach meiner Meinung ist eine Entrevue von einer Stunde
und dann die Rückkehr das Richtige.
Glauben Sie mir, ich kenne diese
Leut? und die Situation, mit der Sie zu thun haben."
„Seien Sie sicher, daß ich daö Rechte treffe und daß mein Rath
gut ist.
Verzeihen Sie meine Freiheit."
Sehr
schmeichelhaft für deS
Dictators militairifche Capacität ist
diese so ausführliche Instruction keineswegs.
Bor Allem aber zeigt sie
wieder dieselbe Halbheit und Unaufrichtigkeit, welche schon in den Novem
bertagen den ganzen Verkehr deS Kriegsministeriums mit den Armeebe fehlshabern kennzeichnet.
Wie ein Theatercoup sollte Gambetta'S Erschei
nen bei der Armee verwerthet werden, während er kraft seiner Autorität
und seiner Vollmachten dort die Unfähigen und Schwankenden beseitigen, die Fähigen an die Spitze hätte stellen müssen, die Kampflust und die Hoffnungen beleben, die Verantwortung für alle Folgen aus freiem Ent-
schlusse aus sich nehmen. —
Schon am 5. December war General Chanzy zum Oberbefehlshaber der II. Loirearmee ernannt worden, die aus dem 16., 17. und 21. Corps
bestand; auch die Division Camö wurde ihm vorläufig zur tactischen Ver wendung,
später rückhaltlos
So erfuhr seine Armee eine
unterstellt.
Vermehrung von 50—60,000 Mann frischer Truppen.
Das 21. Armee-
corps war freilich noch nicht vereinigt, sondern stand über die ganze Aus
dehnung deö Waldes von Marchenoir vertheilt.
Allein an diesem Walde
auf seinem linken Flügel, so wie an der Loire bei Mer und Beaugency
aus seinem rechten fand er doch einen kräftigen Halt. Er führte seine zurückgehenden Truppen zwischen beide Stützpunkte hinein,
ließ sie dort Halt
machen und
stellte
sie
den von ihm
in
mit dem Namen „die Linien von IoSneS" bezeichneten Positionen auf. Nur zwei seiner Divisionen unter den Generalen Barry und Manrandy
setzten den Rückzug unaufhaltsam bis Mer, Blois und selbst bis Am boise fort.
General Chanzy griff jetzt z« dem für seine jungen Truppen richtigen
System.
Er verzichtete auf weitaussehende Offensivbewegungen und be
gann die zähe abschnittsweise geführte Defensive,
von welcher er nicht
ohne Grund voraussetzte, daß sie seine Gegner mit der Zeit ermüden
müsse.
Die große numerische Ueberlegenheit seines Heeres, das weit
tragende Gewehr seiner Infanterie, die zahlreiche zum Theil recht gute
Artillerie begünstigten ihn dabei.
Gegen ihn wandte sich der Großherzog von Mecklenburg, welchen Prinz Friedrich Karl
nach Tours zu
entsenden
dachte,
während er
selbst in südlicher Richtung die Früchte des Sieges von Orleans auSbeuten wollte.
DeS Großherzog'S Truppen hatten in letzter Zeit hintereinander viele starke-Märsche gemacht, seit dem 1. Dezember, zum Theil unter großem
3*
Verluste gefochten, sie hatten Gefangenen-Eskorten, kleinere Besatzungen
und Commando'S aller Art zurücklassen müssen, Kranke.
ferner Ermüdete und
So kam es, daß sie am 7. Dezember nicht mehr als 18—20,000
Gewehre in die Gefechtslinie stellen konnten. Die Artillerie zählte freilich
über 200 Geschütze, die Cavallerie war recht zahlreich, allein so wichtig auch diese Waffengattungen für die Durchführung der Kämpfe sind, so
liegt in ihnen doch nicht das entscheidende Element. Trat nun der Großherzog am 7., 8., 9. und 10. Dezember der bedeutenden Ueberzahl seiner Feinde zwischen Beaugench und dem Walde
von March6noir zwar mnthig entgegen, gelang eS ihm auch, 7 Kanonen zu erobern und einige Tausend Gefangene zu machen, so vermochte er
dennoch nicht, wiederum nicht,
Chanzy zu verdrängen.
Glückte es diesem seinerseits
wie er gehofft, den Großherzog auf OrlsanS zurückzu
werfen, so sah er doch schon den Umstand, daß er seine Truppen mit Mühe festhielt, wo sie standen, für einen Erfolg — für einen Sieg an. Im Vergleich zu den Erlebnissen der Loirearmee während der Tage
von OrlsanS konnte französischerseitS ein solcher AuSgang auch schon als
eine nicht unbedeutende Errungenschaft gelten. war groß.
Die Freude in Frankreich
Sofort wurde von Tours ans eine sehr geschickte Reklame
für Chanzh's Kämpfe ins Werk gesetzt; Gambetta reiste nach IosneS und
erklärte sehr bald im Moniteur, General Chanzy sei der „wahre Kriegs mann", dessen Frankreich in dieser Zeit bedürfe, um von Sieg zu Sieg
zu eilen.
Die Gemüther begannen sich aufzurichten, die Hoffnungen ge
wannen neues Leben. Zwischen General Chanzy und dem Dictator aber knüpfte sich hier ein
Einverständniß, das auch später nicht erschüttert wurde.
DeS Generals
energische zähe Natur fand Gambetta'S hohen Beifall und der Dictator
übersah eö völlig, daß Chanzh's Erfolge im Gebiete der Defensive lägen, welches auch d'Aurelle immer für sich gewollt und anS dem das Kriegs
ministerium selbst diesen General unter Anfbietung aller Mittel hinauSgedrängt hatte. — Anders gestalteten sich die Dinge hei Bourbaki, der zunächst das 15.
und 18. Corps unter seiner Leitung vereinigte, — während das 20. noch dem Kriegsminister direkt gehorchen sollte, — der aber später, als dieser
vorübergehend gefaßte Gedanke wieder fiel, Oberbefehlshaber der ganzen 1. Loirearmee wurde, die auö allen drei Corps bestand.
Bourbaki war, wie erwähnt, ursprünglich auserlesen worden, um bei der Durchführung der neuen kühnen Entwürfe des Kriegsministers die
Hauptrolle zu spielen.
Ihm fiel die Offensive den Loing abwärts gegen
Fontainebleau und Melun, also die aktive Theilnahme an der Befteiung von
Paris zu.
Er sollte das
Schwert
der Republik
sein,
Chanzy
das
Schild. General Bourbaki, der ehemalige Commandeur des Garde-Corps,
hatte in der französischen Armee einen ausgezeichneten Ruf. Auch Trochu hielt ihn, wie seine nach Tours gerichteten Depeschen beweisen, für eine Autorität.
Von ihm hoffte man vor allen Dingen die Belebung des
nationalen Widerstandes.
Bald sollte sich herausstellen, daß er trotz Allem für so ungewöhn liche
Verhältnisse,
wie
hier,
garnicht geschaffen
sei;
neue
historische
Situationen erfordern auch neue Männer. Ein Spiel begann nun, das den Verhandlungen zwischen Gambetta
und d'Aurelle zu Ende des Monats November erstaunlich ähnlich sieht.
Die nächste Meldung Bourbaki'S, welche nach Tours gelangte,
wär
die, daß eö ihm gelungen sei, das 18. und 20. Armeecorps bei Iargeau und Sully glücklich über die Loire zurückzuführen.
DaS war die erste
Enttäuschung, auf die dem General zugegangenen umfassenden Offensivpläne.
„Ich verstehe Ihre Bewegung auf daS linke Ufer nicht," telegraphirte ihm der Kriegsminister zurück. müssen.
„Sie
hätten
das rechte
Ufer halten
ES ist unerläßlich, die Offensive gegenJMontargiS wieder auf-
zunehmen."
Allein die Chancen sollten schnell noch mehr schwinden.
Der von
Paris am 4. Dezember abgelassene Ballon brachte eine mit dem Datum Nneil den 5. Dezember Nachm. 2 Uhr 45 Minut. versehene Depesche des
Gouverneurs von Paris vom 4. Dezember am 5. 5 Uhr 25 Minut. Nachm. in des Dictators Hände:
„General Trochu an Lson Gambetta für den Oberbefehlshaber der Loirearmee und General Bourbaki:" „Nach zwei großen Anstrengungen und nach zwei für die Truppen
ruhmvollen Schlachten, welche unö aber nicht erlaubt haben, die Ein schließungslinien zu durchbrechen, entscheiden wir unS, die Operation dahin
zu ändern, daß wir die große Rückzugslinie des Feindes durch die Ebene von St. Denis direkt bedrohen.
Wir glauben,^daß dies daS^ficherste und
einzige Mittel ist, welches wir besitzen, um die Loirearmee zu degagiren und die Action des General Bourbaki vorzubereiten"*). Der Nord feite sollte also der nächsteMuSfall der.Pariser gelten.
Soviel stand nach dieser Depesche fest, wenn dieselbe auch^die wahre Lage der Dinge und die erlittene Niederlage noch zu verhüllen suchte.^ Darüber,
daß Bourbaki, wenn er bis Fontainebleau und Melunz, vordrang, keine *) Trochu setzte danach wohl voraus, daß Bourbaki noch selbstständig im Norden commandirte.
Leon Gambetta und die Loirearmee.
38
ihm von Paris aus entgegenkommende Unterstützung vorfinden würde, war Gambetta völlig im Klaren.
Nichtsdestoweniger theilte er dem General
telegraphisch Folgendes mit:
„Neue Depeschen aus Paris, die man Ihnen mittheilen wird,
er
lauben eS nicht mehr genau die Richtung vorauszusehen, welche Ducrot verfolgen wird.
Wollen Sie daher die Ausführung meiner letzten
Depesche, die sich auf einen Marsch nach Fontainebleau bezog, ausschieben und sich nach Gien begeben, wo Sie neue Befehle erhalten werden."
Ob diese Pariser Nachrichten Bourbaki wirklich mitgetheilt worden sind, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen.
Ist es später ge
schehen, so bleibt eS noch unerklärlicher, warum der Dictator ihn zunächst
im Zweifel
ließ.
Nach
dem Inhalte der eben
mitgetheilten Depesche
mußte Bourbaki glauben, daß bei Paris noch gekämpft würde, daß nur in
General sei.
Ducrot'S
Operationsrichtung
eine Modification
eingetreten
Eine energische Natur an seinem Platze hätte darum auS eigener
Initiative noch sehr leicht den Entschluß fassen können, dennoch den Marsch über Montargiö anzutreten.
Gambetta ließ der Hoffnung noch Spiel
raum, daß die deutsche Einschließungsarmee durch die Angriffe der Pariser beschäftigt sei — während thatsächlich diese Hoffnung schon völlig grund
Dem Oberbefehlshaber einer großen Armee durfte aber die
los war.
volle Wahrheit niemals vorenthalten
werden.
Allein Gambetta wollte,
auch trotzdem die wichtigsten Voraussetzungen für das Unternehmen fetzt
fortfielen, feine Pläne dennoch nicht aufgeben. Um dem Widerspruch, den
er dabei von Bourbaki's Seite erwartete, nicht Waffen in die Hand zu
geben, ließ er ihn im Unklaren. DaS war immerhin ein bitteres Unrecht. General Bourbaki war nicht der Mann, der unter solchen Umständen
ein tollkühnes Unternehmen auf eigene Faust begann. Er trat entschieden gegen alle Offensivgedanken auf und athmete erst wieder frei, als er ver
nahm, daß auch die Regierung dieselben hätte fallen lassen. Die ihm nun fernerhin zugehenden Befehle beschieden ihn nach Gien. Dort sollte er mit seinen Truppen vom linken Loireufer wieder auf das rechte zurückkehrey, und sich auf diesem Ufer stromabwärts auSdehuen, so
daß er auch die Brücke von Sully noch sicherte und bereit stand, den nach
Orleans
vorgedrungenen
Truppen des Prinzen Friedrich Karl in die
Flanke zu fallen, sobald die Strategen von Tours dies für gut befanden.
Am
6. schon
wurde dieser Befehl aber
geändert.
Der Gedanke deö
Offensiv-FeldzugeS über MontargiS gegen Fontainebleau trat trotz der
ungünstigen Meldungen aus Paris abermals in den Vordergrund. entsprechend
Dem
wurde Bonrbaki nun angewiesen, sich nördlich Gien bis
Halbwegs nach MontargiS hin aufzustellen.
Der General feilst begehrte, seine Truppen nach BourgeS und NeverS
zurückführen und sie dort von Neuem ordnen und ausrüsten zu dürfen. Selbst BourgeS schien ihm zeitweise noch nicht sicher genug und er dachte
daran, die Retirade bis St. Amand fortzusetzen — Projekte, welche der Dictator und sein Delegirter natürlich mit Entrüstung zurückwiesen.
Mit dem Gedanken, vorerst nach Gien zu marschiren, machte sich Bourbaki indeffen leicht vertraut;
denn er hoffte,
tiren und mit Munition versehen zu können.
sich dort verprovian-
Er rückte mit dem 18.
CorpS schon am 6. Dezember dahin, ließ einen Theil desselben wieder auf daS rechte Stromufer hinüber gehen und dort zum Schutze von Gien
eine Aufstellung nehmen. commandiren.
General Billot sollte diese Truppen in Person
DaS 20. Armeecorps erreichte gleichzeitig Argent,
war
also ganz in der Nähe. ES ist nun nöthig, dem Rückzüge des 15. Armeecorps zu folgen, welche
immer noch das Centrum und zugleich machte.
den Kern der Loirearmee aus-
Dieses Corps hatte sich unter seinem Commandeur, General
des PalliereS, direkt über Orleans auf der großen Straße nach Bierzon zurückgezogen; nur 1000 Mann unter General Pehtavin
schloffen
sich
irrthümlich Chanzh an.
Am 5. December erreichten sie glücklich la Fertö St. Aubin, eben dahin hatte sich der große Armeetrain, nicht weniger als 6000 Fahrzeuge,
gewendet, den man mit anerkennenswerther Umsicht und Energie am 4. December größtencheilS durch Orleans hindurchgezogen.
Die Einbuße
war dabei eine ziemlich geringe gewesen, und de Frehcinet fand Ursache
genug, den Generalintendanten der Armee telegraphisch zu beglückwünschen. Dem 15. CorpS hatten sich zahlreiche Heertrümmer der änderen CorpS — zumal des 16. — angeschloffen, daS ans dieser Rückzugslinie
durch mehrere tausend Mann vertreten war.
General des PalliöreS or-
ganistrte zunächst in la Fertö eine Arrteregarde, dann marschirte er noch
am 5. December bis la Motte-Beuvron.
Hier traf er d'Aurelle, der ihm
befahl, am 6. nach SalbriS zurückzugehen, daselbst aber zu halten.
Die Unordnung und Auflösung unter den zahlreichen hier vereinigten
Truppen war groß. Nahrung.
Biel TraineurS bedeckten das Land und
suchten
Um sich von ihnen zu befreien, sprengten die Bauern noch
am Abend die Nachricht aus, die „PrussienS" seien im Anmarsche.
Die
Folge davon war eine Panique im Lager von la Mottö-Beuvron und die
noch in der Nacht aufbrechende Reserve-Artillerie wurde schon von einem Strom von Flüchtlingen begleitet.
nach SalbriS.
AlS der Tag anbrach, folgte Alles
Diejenigen Truppen, welche noch die sicherste Haltung
zeigten, blieben bei Nouan-le-Fuzelier als Nachhut stehen.
Leon Gambetta und die Loirearmee.
40
In SalbriS machten sich die anwesenden Generale und ihre Stäbe
daran, das Gewirr der Mannschaften wieder zu lösen.
Hinter der Saul-
dre wurden die Bivouaksplätze bezeichnet; auf der einen Seite der großen
Straße lagerte das 15. Armeecorpö, auf der andern Alles, was zum 16.
und 17. Corps
gehörte.
Diese letzten Mannschaften formirte man in
Detachement« und instradirte dieselben auf Blois.
Nach Vierzon, das
bereits von Flüchtlingen iiberfiillt war, eilte ein Commandant mit einer kleinen zuverlässigen Garnison voraus.
Wie bekannt war nun zunächst das 15. Armeecorps von dem Dic tator auöersehen worden, um sich bei Gien zu der beabsichtigten Offen
sive mit dem 18. Armeekorps zu vereinigen, während das 20. Corps an
Stelle des 15. sich bei SalbriS aufstellen, auch das wichtige Argent decken sollte.
Diese beiden Corpö hätten demnach im Angesichte des siegreichen
Feindes ein „chassez-croisö“ von mehreren Tagemärschen anSführen müssen — eine Bewegung, die jedenfalls unzweckmäßig war, und die ein geringes znilitairischeS Verständniß bei Herrn de Frehcinet verräth, der diese Ein
zelheiten ordnete.
General deS Palliereö empfing den abenteuerlichen Befehl bei Sal briS, als er soeben sein Corps mühsam zum Stehen gebracht hatte, wäh rend Train'S und zahllose Trainenr'S, mit Offizieren aller Chargen unter
mischt, die Flucht bi« Vierzon sortsetzten. Er gerieth hierüber außer sich.
„II y avait de quoi y perdre la tete“
berichtet er selbst über jene Vorgänge.
„Nach drei Tagen voll ununterbrochener Kämpfe und nach drei auf
einanderfolgenden
Nachtmärschen
sind die aller Verpflegung beraubten
Truppen in der größten Unordnung in SalbriS angekommen," meldete er
telegraphisch nach Tour« zurück.
„Eine große Menge Traineurs und fast der
ganze Train haben „par pauique" Vierzon erreicht. Der gesammte Train
der 2. Division ist in BloiS; die Leute sind „extdnu6s“ vor Müdigkeit und Kälte.
ES ist eine materielle Unmöglichkeit in diesem Augenblicke
irgend eine Bewegung zu machen."
Dann sprach er das Begehren aus, bei SalbriS stehen zu bleiben, später, nach Vierzon abzurücken.
Dort wollte er seine Versprengten her
anziehen und den wichtigen Eisenbahnknoten decken.
Um die AnSführung
dieses Entschlusse- einzuleiten, sandte er den Rest der Train'S und die
3. Division nach^Bierzon voraus.
Allein General d'Aurelle, der noch in
SalbriS weilte und auch nach seiner Absetzung durch de Freycinet'S zweite
Depesche eine Art von Autorität über deS PalliöreS erhalten hatte, bewog ihn wieber, dem Minister gehorsam zu sein. Er entschloß sich nun wenig stens mit den übrigen Truppen, die er noch beisammen hatte, zu der Con-
centration nach Gien aufzubrechen. So wurde dieses Corps auch noch völlig
in
zwei Theile
zerrissen.
Am
7. December marschirte des PalliüreS
von SalbriS zunächst nach Aubignh Bille.
Dort fand er drei Befehle
vor: Zwei davon waren von Gambetta unterzeichnet, der eine widerrief
den Marschbefehl nach Gien, der andere beauftragte ihn, Vierzon zu decken, der dritte, der von seinem neuen Ober-BefehlShaber Bourbaki herrührte, beorderte ihn nach Bourges.
UeberdieS hatte er bereits am 6. seine Entlassung eingereicht.
Um die Verwirrung voll zu machen, kamen auch noch in den nächsten Tagen daS 18. und 20. Corps auf dem Rückmärsche nach BourgeS durch
Aubignh und somit befand sich Bourbaki'S ganze Armee — wohl noch an 70,000 Mann — auf einer einzigen Straße.
Glatteis und harter Frost
erschwerten dabei jede Bewegung ungemein.
Völlig entkräftet arbeiteten
sich Menschen und Pferde nur mühsam vorwärts.
Bourbaki'S Rückzug von Gien hatte seinen Grund in Prinz Friedrich
Karl'S letzten Bewegungen. Sobald er Orlöanö genommen und den Großherzog gegen Tours entsendet hatte, faßte der Prinz die Fortsetzung des Feldzuges nach dem Süden hin ins Auge.
Höhere Befehle betonten die Nothwendigkeit ener
gischer Verfolgung des Feindes und entbanden ihn von der Deckung der Belagerung von Paris.
Nun war er frei, feine Bewegungen auszudehnen
uud er wählte sofort das wichtige BourgeS, sowie Bourbaki'S Armee zum
Object.
Allein die Ausführung eines solchen weitgreifenden Planes hatte ihre
Schwierigkeiten.
Der Prinz sah voraus, daß der Feind Alles aufbieten
werde, Tours zu sichern und den Großherzog' aufzuhalten.
Um diesen
wenigstens indirect zu unterstützen, ließ er eins feiner 3 Armeekorps, das 9., auf dem. linken Loireufer zunächst stromabwärts marschiren, um
so den auf diesem Ufer gelegenen Regierungssitz Tours zu bedrohen.
Ferner traf man
in Orleans in richtiger Diagnose die Absicht
Gambetta'S, welche daraus hinausging die Offensive über Montargis um
jeden Preis aufzunehmen.
In Folge dessen wandte sich das 3. preußische ArmeecorpS strom aufwärts nach Gien, um zunächst auf jener Seite Klarheit über des Fein
des Vorhaben zu schaffen.
Nur das 10. ArmeecorpS blieb in der direct
südlichen Richtung. Hier eilte außerdem General Schmidt mit der 6. Cavallerie-Division — 2000 Reitern — voraus und besetzte am
8. December schon Bierzon.
Diese Stadt war von den dort versammelten Bruchtheilen der geschla genen Armee am 7. December schleunig geräumt worden, als dort die
LSon Gambetta und die Loirearmee.
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Kunde anlangte, General de« Pallieres habe SalbriS verlaffen und sich ostwärts gewendet.
Die Mehrzahl der Flüchtlinge schlug sofort den Weg
nach Issoudun ein. .
So drangen die 3 ArmeecorpS des Prinzen Friedrich Karl unmittelbar nach
der Schlacht
nach drei ganz divergirenden Richtungen vor, allein
diese Trennung der Armee war nur eine scheinbare, weil für alle drei
CorpS das Ziel ein und dasselbe blieb.
Auch die beiden Flügel sollten
sich nämlich, sobald sie zu Vienne (gegenüber Blois auf dem linken Loire
ufer) und zu Gien angekommen waren, südwärts wenden, um mit dem 10. Corps gemeinsam vor Bourges, oder vor der Front Bourbaki'S zu
erscheinen. Prinz Friedrich Karl hoffte,
daß bis zu
dem Augenblicke, wo die
Flügelcorps das Loirethal verließen, auf der einen Seite dem Großherzoge
eine wirksame Hülfe gebracht, auf der anderen der Feind von Gien ver trieben und die Flanke der Armee frei gemacht sein würde.
Die Herstellung einer Brücke für das 3. ArmeecorpS über die Loire oberhalb von OrlöanS war an mehreren Punkten gleichzeitig in Angriff
genommen worden. Die Colonnen des Großherzogs und der Armee des Prinzen trafen nun in den ersten Tagen nach der Schlacht auf allen 3 Straßen gegen Tours, gegen Vierzon, und stromaufwärts gegen Gien hin, Nachzügler
der verschiedenen Corps.
Der Großherzog spürte neben einem neu for-
mirten Corps das 16. und 17. vor seiner Front.
Mannschaften von
beiden CorpS aber waren auch südlich OrlöanS zu Gefangenen gemacht, Trümmer vom 16. sogar oberhalb Orleans bei dem 18. und 20. entdeckt
worden*).
Wie die einzelnen zurückweichenden Colonnen der feindlichen
Armee in sich zusammengesetzt waren, ließ sich demnach im deutschen Haupt quartier nicht genau übersehen.
»
Am 7. December kam es auf allen drei Rückzugöstraßen deS Feindes zu den ersten Gefechten mit geschloffenen Arrieregarden.
Oberhalb Orleans stieß das 3. preußische Corps auf die zum Schutze von Gien
bei Nevoy aufgestellten Truppen Billot'S.
griff dieselben sogleich an, doch bald machte die schon
Dunkelheit dem Gefecht ein Ende.
Die Avantgarde
hereinbrechende
Bourbaki, der in Gien weilte, ritt
selbst auf den Kampfplatz hinaus und traf dort mit dem General Billot
zusammen.
Beide berathschlagten, ob es besser sei — den Befehlen deö
*) CS scheint nach mehreren Anzeichen, daß innerhalb der Loirearmee selbst die Di vision Martin deS PallisreS vielfach irrthümlich als 16. Torps bezeichnet worden ist. Bon dieser Division haben sich versprengte Trupps ohne Zweifel dem Rück züge Bourbakis angeschloffen.
Kriegsministers gehorchend — die Schlacht anzunehmen, oder auf eigene Verantwortung hin nach Bourges abzuziehen.
Für den ersten Fast wollte Billot sofort das ganze 18. Corpö auf das rechte Stromufer ziehen und auch das 20. Corps noch in der Nacht
von Argent herbeirufen.
Allein eine Schlacht vor dem Defilee mit einer
einzigen Brücke hinter sich, erschien dem General Bourbaki zu gefahrvoll.
Er mag auch die Verlegung seiner Rückzugslinien
nach Osten hin für
bedenklich gehalten haben und entschloß sich nach längerem Schwanken zum Rückzüge.
So hatte das an sich unbedeutende Gefecht von Nevoy dennoch einen wesentlichen Einfluß auf die Operationen der feindlichen Armee anSgeübt. General Billot führte noch in der Nacht seine Truppen über Gien
auf daS linke Stromufer zurück und sprengte hinter sich die Brücke in die
Im Laufe des 8. December setzte daS ganze Corps den Marsch in
Luft.
südlicher Richtung fort.
An demselben Tage passirte daö 20. CorpS von
Argent her kommend das durch PalliöreS Truppen angefüllte Aubigny; dann kam auch Bourbaki persönlich dorthin und kündigte für den 9. De
cember den Durchzug des 18. Armeecorps an.
General des PalliöreS
beschloß in Folge dessen, über Henrichemont, also noch weiter östlich aus holend, nach BourgeS zu marschiren, da er sonst auf der Straße AubignyBourgeS
eine heillose Verwirrung voraussah.
deckte bei Allogny den Marsch der Armee.
Seine Cavalleriedivision
Erst am 11. Abends trafen
die letzten Truppen bei BourgeS sehr ermüdet ein. sofort nach TourS:
Bourbaki meldete
Hommes et chevaux sont extenuös de fatigues,
par suite de la continuite et de la longueur des marches, qu’ils viennent de faire, de la neige et du verglas et de la raretd du bois.“
Auf allen Straßen waren zahlreiche TraineurS zurückgeblieben. mal die Mobilgarden begannen sich zu zerstreuen.
Zu
Dies Uebel ward so
groß, daß auch die Regierung mit scharfen Decreten und mit der An
drohung von Kriegsgerichten gegen die Pflichtvergeflenen einschreiten mußte. Sie sagt in ihren Erlassen, daß selbst Offiziere „aller Grade" sich von
der Armee entfernt hätten. Allein die Anstrengungen waren für so
Truppen in der That zu bedeutend.
junge, wenig ausgebildete
Märsche, wie die des PalliöreS'
mußten auflösend wirken, auch das 18. und 20. CorpS waren in letzter Zeit mehrfach Nachts in Bewegung gewesen.
gungen hatten keinen Zweck gehabt.
Und alle diese Anstren
Sie bildeten die Einleitung für hoch
fliegende Pläne der Strategen von Tours, mit denen die Unternehmungs lust der Generale durchaus nicht gleichen Schritt hielt, und die daher scholl
im Beginn wieder aufgegeben wurden, um mit dem Rückzüge zu enden,
den die Armeebefehlshaber von Haufe aus gewollt. Daß Bourbaki für Gambetta'S und Frehcinet'S Wünsche keineswegs der geeignete auöführende Arm fei, zeigte sich in diesen Tagen deutlich.
Des Palliares hatte gegen seinen Marsch nach Gien protestirt, Crou« zat sich in Argent bedroht gefühlt, weil er fürchtete, die Verfolger würden über Clömont und Aubignh vordringen, um ihn so von BourgeS abzu
Alle drei
schneiden.
CorpScommandenre erhielten
direkte Befehle auS
Tours, die sich theils widersprachen oder gegenseitig aufhoben, theils nicht
mit den Verhältnissen übereinstimmten, wie diese sich inzwischen verändert
gestaltet hatten. Am 7. Dezember gegen Mittag forderte de Frehcinet den Oberbe fehlshaber deshalb auf, er möge nach Argent und Salbris reisen, um
allen 3 Corps feine Weisungen zu ertheilen und selbst die militärische
Situation, so gut wie möglich, zu wahren. Am Abend desselben TageS, um 6 Uhr 15 Minuten erhielt der Ge neral in Gien folgendes Telegramm:
„Die Regierungsdelegation an General Bourbaki." Tours, den 7. Dezember.
„Meine Intention und meine Hoffnung waren es, Sie mit dem ver einigten 18. und 15. Corps eine kräftige Offensive wieder aufnehmen zu
sehen.
Aber das, was Sie von den Bedingungen eines morgen oder stattfindenden Kampfes sagen, sowie die gegenwärtige Ent
übermorgen
fernung des
15. Corps berechtigen den Rückmarsch
zur
Deckung
von
BourgeS und NeverS." „Die Position des 15. und 20. Corps wird es wahrscheinlich noth wendig machen, daß Sie in dem Moment und auf dem Punkte, welchen Sie für den günstigsten halten, auf das linke Loireufer zurückgehen. Wohl
verstanden bleibt das 20. Corps, alleinigen Oberleitung.
vereinigt,
wie das 15.
und
18. unter Ihrer
Haben Sie so erst einmal Alles in Ihrer Hand
so rechne ich, daß Sie „röellement“ für eine entscheidende
Action bereit sein werden." Leon Gambetta.
Was die Klarheit über die eigentlichen Absichten des Dictators anbclangt, ließ auch dieser Befehl viel zu wünschen übrig.
Jedenfalls konnte
Bourbaki übersehen, daß man ihm für alle Fälle die Verantwortung zu
schieben würde, wenn die Dinge sich ungünstig gestalteten, den kriegsmi nisteriellen Anordnungen aber das Verdienst, sobald Alles glücklich ging.
Bourbaki war aber immerhin zum Rückzüge ermächtigt.
Er entschied
sich also für denselben, zumal, weil er seine 3 Corps auf weite Ent-
fernung auseinandergezogen
glaubte.
Aubigny besaß er keine Kenntniß.
Von des PalliäreS Marsch nach
„Zersplittert zu bleiben, wie wir eS
sind, hieße einem CorpS nach dem andern eine vollständige Niederlage bereiten" fügte er seiner Meldung hinzu.
Schon hierüber zeigte sich
Gambetta sehr empfindlich, stimmte es auch mit seinen Befehlen überein: „Ich habe allen Grund zu glauben, antwortete er am 8. dem General, daß
diejenige Colonne, vor welcher Sie sich zurückziehen, weit von der Bedeu tung derjenigen entfernt ist, welche Chanzh seit zwei Tagen mit Truppen
zurückweist, die mindestens ebenso ermüdet sind, wie die Ihrigen." „Ich rechne sehr darauf „que vous allez faire töte“ und daß Sie diese entscheidende Action vorbereiten, von der ich Ihnen in meiner
letzten Depesche sprach, und welche auch die Theilung der feindlichen Armee nach der Schlacht von Orleans znehr und mehr vortheilhaft er scheinen läßt." Der Verkehr zwischen dem Kriegsminister und dem General Bourbaki
sollte sich aber sehr schnell noch mehr zuspitzen.
Chanzh'S UuSharren bei
Beaugency machte eine Einwirkung Bourbaki'S auf die Armee des Prinzen
Friedrich Karl sehr erwünscht. Zumal erschien daS Vorgehen des deutschen
9. Armeecorps auf dem linken Loireufer bedrohlich, aber zugleich so kühn, Die Re
daß ein dagegen geführter Schlag Erfolg zu versprechen schien.
gierung floh nach Bordeaux — Chanzh fürchtete, von dem anderen Fluß
ufer her plötzlich umgangen und im Rücken bedroht zu werden.
Nur Bourbaki konnte helfen.
Schon vom 9. Dezember ab beginnt
die Pression der Regierung auf seine Entschlüfle wieder.
Er sollte gegen
Blois vorstoßen und den kühnen Feind in den Strom werfen.
Allein der General sah sehr schwarz.
provisirten
Die Zustände in seiner im-
Armee beunruhigten ihn auf'S Aeußerste.
Schon in Sully
soll er unmuthig geäußert haben, er sei es müde, solche Horden zu commandiren.
Jetzt bezeichnete er seine Armee abermals mit dem Ausdruck
„troupeau d’hommes“. sein Gemüth.
Das Elend, das er um sich sah,
„Ich habe alle
erschütterte
nur mögliche Dispositionen
um zu kämpfen, wenn es nöthig wird.
getroffen,
Aber mit einer Heerde von
Menschen, die größtentheilS durch aufeinanderfolgende EchecS, welche sie
betroffen haben, durch die
Anstrengungen
der
fortwährenden
rapiden
Märsche und das abscheuliche Wetter und zumal durch die Debandade deS 15. CorpS demoralisirt sind, sehe ich das unheilvolle Resultat voraus, das
uns bevorsteht ....
Die Leute find in einem Zustande von Elend und
„marasme“ von welchem Sie sich keine Idee machen können."
So lau
teten seine Klagen. Er glaubte ferner, daß bei Orleans an 70,000 Deutsche über die
Loire gegangen seien.
Im Geiste sah er die ganze Sologne von Feinden
wimmeln und er verlangte, man sollte ihn bis St. Amand-Montrond zu
rückgehen lassen.
Wenn ich in diesem Augenblicke nach Blois marschiren
würde, so möchten Sie wahrscheinlich nicht eine einzige Kanone, nicht einen einzigen Mann von
den drei Corps Wiedersehen, deren Führung
Sie mir anvertraut haben,"
versichert er den
Kriegsminister in einer
anderen Depesche, mit der er wohl da- letzte Wort über den Zug nach
Blois zu sprechen dachte.
Er fügte nämlich schließlich hinzu:
„Wollen Sie die Armee retten, so müssen Sie sie zurückgehen lassen;
legen Sie ihr die Offensive ans, welche sie in den gegenwärtigen Ver hältnissen unfähig ist, durchzumachen, so setzen Sie sich dem aus, sie zu verlieren." „In dem Falle, in welchem Ihre Intention dahin geht, das zweite
zu wählen, bin ich so tief von den Folgen überzeugt, welche daraus hervor gehen können, daß ich Sie bitten würde, diesen Versuch einem Anderen anzuvertrauen."
Der Kriegsminister weilte zur Zeit bei Chanzy'S Armee, sein Delegirter de Frehcinet antwortete dem General jetzt schon im Tone der Be
leidigung und deö HohnS: „Ihre Depeschen, General, stehen in einem peinlichen Contrast zu denjenigen des General Chanzy,
der seit 5 Tagen heroische und sieg
reiche Kämpfe gegen die Armee des Prinzen Karl mit denselben CorpS unterhält, welche schon die ganze Last der Kämpfe vor OrlöanS zu tragen
hatten." .... —
ES muß Ihnen am Herzen liegen, mit Chanzh zu
rivalisiren und Theil zu nehmen an seinen ruhmreichen Anstrengungen. Wir kennen die Lage Ihrer Truppen und der Kräfte, welche Ihnen nahe
sind, nicht genau genug, um Ihnen in diesem Augenblick einen präcisen Befehl geben zu können.
Aber ich weiß wohl, — wäre ich an Ihrer
Stelle, so würde ich unverzüglich meine drei CorpS vereinigen; ich wollte
dann die Banden abstrafen, die sich nach Vierzon gewagt haben und die
viel mehr auf die Einbildungskraft Ihrer Truppen gerechnet haben, als auf die eigenen Kräfte, unsere Armee zurückzutreiben."
„Ich würde den Feind lebhaft über Salbriö hinausjagen, und eine starke Colonne auf Blois vortreiben.
Sie sagen selbst, daß der Feind
die Trümmer der Loirearmee umgehen will; ich möchte ihm doch beweisen,
daß diese Trümmer nicht so mit sich verfahren laffen und so lange ich einen
Soldaten auf den Beinen hätte, würde ich so wenig zahlreichen
Truppen nicht erlauben hen Schrecken in der Sologne zu verbreiten und dem
Prinzen
Karl
die
Chanzh'ö zu vernichten."
Hand zu reichen, um die braven Phalangen
So schrieb der Brücken- und Chaussee-Inspektor, den die Gunst eines befreundeten Advocaten und Deputirten an die Spitze des Kriegs departements gestellt hatte, an den ehemaligen Commandeur der Kaiser
garde, jetzt Oberbefehlshaber einer Armee, die man in nächster Zeit auf 100,000 Mann bringen wollte.
Zudem theilte das Kriegöministerium dem General eine Menge von
Meldungen der Territorialcommandanten
und
der
Civilbehörden
mit,
welche erwiesen, daß die Sologne und daö obere Loirethal von deutschen Truppen beinahe frei seien, und daß ihm keinerlei Gefahr drohe.
Thatsächlich war de Frehcinet bei diesem Falle im Recht. Bourbaki hatte nichts zu befürchten.
Südlich Orleans, sowie in Bierzon und in
Gien standen nur noch ganz schwache Abtheilungen von der Armee deS
Prinzen Friedrich Karl, hauptsächlich Cavallerie. Der Prinz selbst war schon genöchigt worden, sich mit der Masse seiner Armee nach Westen zu wenden, wo Chanzh dem Großherzoge bis zum 11. December Stand gehalten hatte
und wo eine endgültige Entscheidung der Kämpfe dringend nothwendig wurde, sollten nicht die jungen Truppen der Republik durch halbe Erfolge
ihre Moral heben und wirklich gefährliche Gegner werden. Doch, wenn dem auch so war, so mußte de Frehcinet alS ein Mann
von Bildung und Einsicht begreifen, daß aus einem derartigen Gezänk, aus solchen Chikanen gegen die Truppenführer nimmermehr Gutes ent stehen könne/
Bourbaki hatte fteilich schon genugsam erwiesen, daß er für diese ganz eigenthümlichen Verhältnisse, bei denen eS galt, mit rücksichtsloser Anwendung aller Mittel wenigstens etwas zu leisten, nicht der geeignete Mann sei.
Bon
einem General, der an das KriegSministerinm telegraphirte: daß es ihm
Eisnägel für den Hufbeschlag seiner Pferde besorgen solle, stand nicht zu erwarten, daß er die SisyphuS-Arbeit glücklich vollenden werde, aus den
zusammengetriebenen Menschenmaffen, die fortwährend schmolzen wie der frische Schnee an der Sonne, immer wieder Armeen zu bilden, sie auSzu rüsten, zu diScipliniren und gegen den Feind zu führen.
Da Gambetta bei Chanzh in IoSneS verweilte, de Frehcinet in Bor
deaux: so mußten sich beide telegraphisch darüber verständigen, was zn thun fei. De Frehcinet wollte das Richtige, die einzige Maßnahme, welche durch greifend wirken konnte, Bourbaki'S Abberufung.
Er ging dann augenschein
lich noch weiter und begehrte eine Art von Schreckensherrschaft über die Führer der Armee.
Das war das Prinzip der Republik von 1792.
deutlichsten spricht er sich in diesem Sinne am 10. December aus.
„Bon Bourbaki nur entmuthigende Nachrichten.... Er quäkt mich,
daß Sie zu ihm nach Bourges kommen sollen."
Am
„Ich glaube, dasjenige, was wir zu thun haben, wird die Uebergabe
deS Oberbefehls an Billot fein, während Borel Generalstabschef bleibt, da das fein richtiger Platz ist."
„Billot muß durch Feillet-Pilatrie, Divisionsgeneral im 18. CorpS ersetzt werden."
„Crouzat und Baraigne*) beseitigen!" „Ersetzen Sie den ersten durch Bonnet**), wenn derselbe noch im
20. CorpS ist, mit einem Generalstabschef, den er sich wählt.
Endlich ist
deö PalliöreS seines CommandoS zu entheben und selbst, je nachdem, was Sie mit eigenen Augen sehen werden, vor ein Kriegsgericht zu stellen, dann bleibt des PlaS***) fortzujagen,
der nichts als ein Baraigne mit
etwas mehr Intelligenz ist." Ein anderes Telegramm von demselben Tage besagt:
„Die Depeschen, die mir von Peytavin j'), Maurandy ff), und Michaud zugehen, sind herzzerreißend.
Ich fordere Sie auf, diese Generale
vor ein Kriegsgericht zu stellen.
Thun Sie dasselbe mit PalliöreS,
dessen CorpS sichtbar herunterkommt." Also Kriegsgerichte über Kriegsgerichte und eine Absetzung über die
andere. Rigourose Maßnahmen hätten jetzt freilich allein zum Ziele führen
können.
Dem KriegSdelegirten war es leicht gemacht, dieselben zu ver
langen, da er sie nicht mit seiner Verantwortung decken
daS blieb Gambetta'S Sache.
Der Dictator schwankte.
durfte —
Er konnte sich
nicht entschließen, znm Aeußersteu zu greifen und seinen Günstling Billot an die Spitze der Armee zu stellen.
Dieser war ohnehin in den 10 Tagen
vom 26. November bis znm 6. December vom Obersten zum DivisionLGeneral emporgestiegen, ein Avancement, welches wohl in der Geschichte aller Armeen seines Gleichen sucht.
Der Dictator machte sich selbst nach BourgeS auf den Weg.
Bour-
baki'S großes militairifcheS Ansehen schien ihm noch unantastbar, mochte er auch wohl ahnen, daß er mit diesem General nicht einig werden könne. Freycinet hörte zwar nicht auf, ihn zur Entscheidung zu treiben.
Als er
ihm die letzte Depesche Bourbaki'S mittheilte, setzte er noch am 11. hinzu:
„Im Hinblick auf diese Depesche, welche auf meine dringendsten Bitten antwortet, ist eS mir unmöglich, Bourbaki einen formellen Marschbefehl ♦) **) ***) t) ff)
Generalstabschef des 20. Corps (Genie-Major der kaiserlichen Armee). Brigade-Commandeur im 20. Corps. Brigade-Commandeur im 20. Corps (Oberst). Commandeur der 3. Division deS 15. Corps, der sich nach BloiS gewendet, Maurandp, Commandeur der 3. Division des 16. Corps in Blois, Michand, Territorialcommandant von BloiS.
zu gebe«.
Die persönliche militairische Stellung, welche man ihm geschaffen
hat, verbietet es mir, seine Demission über eine solche Frage zu provociren."
„Sie allein als Regierungsmitglied haben die Möglichkeit in der Hand,
die Sache weiter zu treiben, wenn Sie es für nützlich erachten".............. Gerade in diesem Augenblick änderte Bourbaki seine Entschlüffe.
Er
erhielt von Chanzh am 11. December ein Telegramm, daS ihn «mstimmte.
Die Art und Weise, in welcher diese Aufforderung gehalten war, wirkte
mehr, wie alle Beleidigungen de Freycinet'S. „Marschiren Sie entschloffen und ohne eine Minute zu verlieren vorwärts; meine Lage ist die aller
kritischste und nur Sie können mich retten!" nicht ohne Eindruck.
Ein solcher Appell blieb
Bourbaki zeigte sich nun bereit, wenigstens bis Bier-
zon vorzurücken, obschon, wie erwähnt, seine letzten Truppen erst am 11. Abend- bei Bourges eintrafen.
Nun schlug auch de Freycinet'S Stimmung
urplötzlich um:
„Die
Regierung ist glücklich über den Entschluß, den Sie gefaßt, Chanzh Hülfe
zu bringen."
So telegraphirte er dem General.
„Sie weiß', daß Nie
mand im Stande ist, wie Sie, eine Unternehmung zum guten Ende zu führen, welche von ihrem Chef zu gleicher Zeit eine große Energie und
ein seltenes Prestige erfordert."
Die Armee blieb also in der Bewegung. Als nun Gambetta in Bourges eintraf, zeigte er sich daher auch zu
frieden.
Bourbaki empfing ihn mit den Worten:
„Sie müssen meinen
Leuten einige Tage Ruhe in CantonnementS geben, um sie sich erholen zu lassen, sie mit Schuhwerk und Kleidern zu versorgen und um die Pferde ein wenig gegen das Unwetter zu schützen, bei welchem täglich eine gute Anzahl fällt."
Er stellte dem Minister vor, daß er auch Zeit brauche-
dip Mannschaften zu instruiren, sie mit ihren Chefs und ihren Pflichten bekannt zu machen.
Gambetta gab nach und es scheint zwischen ihm und dem General
eine momentane Verständigung erfolgt zu fein.
Durch ein besonderes
ministerielles Decret vom 12. December wurden alle selbstständig com-
mandirenden Generale autorisirt, ihre Truppen in CantonnementS zu ver legen.
Der Dictator genehmigte auch, daß Bourbaki mit seiner zu Gun
sten Chanzy'S unternommenen Diversion bei Vierzon halt machte, nachdem
feine Avantgarde am 13. December Nachmittags schwache preußische Cavallerie aus dieser Stadt verdrängt hatte.
Der General machte geltend,
daß BloiS, wohin er vorrVcken sollte, seine Wichtigkeit verloren habe, weil Chanzh mittlerweile schon int Rückzüge war und die Räumung des rechten
LoireuserS ohne Zweifel mähe bevorstand.
Das leuchtete dem Dictator
ein und außerdem wirkte a«ch auf ihn der jammervolle Anblick der Truppen, Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hefl 1.
4
86ott Gambetta und die Loirearmee.
50
»Ich lasse die Bewegung auf Vierzon vor sich gehe«, werde sie aber dort anhalten," theilt
er seinem alter ego de Freycinet mit, der seit
dem 10. December in Bordeaux war, „daS 15. 18. und 20. Corps sind in einer wahren Auflösung, eS ist daS traurigste, waS ich noch jemals
gesehen habe.
Ich werde die Dinge hier noch einmal von Grund aus
ansangen müssen und einige Zeit dazu brauchen, indessen ich werde nicht
wieder abreisen, ohne die Sachlage geregelt zu haben." ES ist charakteristisch, wahrzunehmen, wie das nähere Eingehen auf
die Dinge, der Anblick der Schwierigkeiten an Ort und Stelle auch bei
dem kühnen und rücksichtslosen Manne die Entschlußkraft lähmte. war zur Armee geeilt,
Er
um sie zu dem Zuge nach Blois zu zwingen,
und er selbst ließ sie nun halten.
Die Depesche, welche dies halb ent
schuldigend an seinen Genossen mittheilt, wird noch interessant durch fol-
gmden Zusatz:
„Die Nachrichten, welche ich erhalte, beweisen, daß die
Streitkräfte des Prinzen Friedrich Karl größtentheilS gegen Chanzy marschiren.
Er hat gerade im richtigen Augenblick seine OperationSbasiS ge
ändert. Ha, welch' ein braver General!"
Gambetta war also doch
für die Verdienste und Fähigkeiten seiner Gegner durchaus- nicht so blind,
als man eS ihm oft nachgesagt hat.
Er vermochte es wohl, dem Feinde
Anerkennung zu zollen. Daß Bourbaki'S militairifcher Name den Dictator in seinen Maß
nahmen beengte, zeigte sich deutlich in dem Tone der ersten Depesche, die
er dem General am 13. nach seinem neuen auf dem Wege nach Bierzon gelegenen Hauptquartier MLhun für Jävre nachsandte.
Bourbaki kam
nämlich urplötzlich auf seine RückzugSprojecte zurück und wollte nach St.
Amand abmarschiren.
Gambetta bat ihn, daran zu denken, daß Trochu
die Besetzung von Gien und die Behauptung von BourgeS stets für wichtig erklärt habe, er möge darum von seinen Ideen abstehen.
Auch alS diese
Bitte nichts gefruchtet hatte, theilte er Freycinet, dem er verschiedene Er
nennungen in der Armee auftrug, mit: er wolle Bourbaki momentan noch an der Spitze der Armee belassen.
„Ich kann," setzt er gleich darauf
hinzu, „trotz meiner dringenden Bitten, Bourbaki nicht bestimmen seine
Positionen zu halten und sich nicht auf St. Amand zurückzuziehen.
Ich
habe noch keinen entscheidenden Entschluß gefaßt — ich überlege noch." Der KriegSdelegirte war mit seines Gebieters Nachgiebigkeit und
Mangel an Härte sehr unzufrieden. Generals Absetzung.
Er drang immer wieder auf Zes
Er verlangte die Fortführung des Marsches über
Vierzon gegen Tours, um Chanzy zu degagiren und jene Stadt zu decken;
später schlug er eine Stellung bei Selles sur Cher, zwischen Cher und Sauldre vor.
„Es ist unerläßlich, daß Bourbaki seine Bewegung etwas
über Bierzon ausdehne, wenn auch nur sehr langsam,"
am 14. December an Gambetta.
wendete er sich
„Roch heute spricht sich Chanzh drin
gend in demselben Sinne aus. Ich würde an Ihrer Stelle nicht schwan
ken, Bourbaki durch Billot zu ersetzen.
Mit Bourbaki immobilisiren Sie
„clair et net“ die Hälfte der Loirearmee.
Wie können Sie nur noch
nach Allem, was in diesem Feldzuge und vordem im Norden vorgefallen
ist, auf Bourbaki bauen?
Der Fetischdienst gegen die alten militairischen
Größen ist eS, der unS in'S Verderben gestürzt hat.
Ich weiß wohl, daß
wenn ich Herr wäre, ich mit dem Vorurtheil längst gebrochen haben würde. —" „Ich bitte Sie um Alles in der Welt," telegraphirt er- an demsel
ben Tage noch, „verhindern Sie Bourbaki, seine Positionen bei Vierzon zu verlasien.
bedecken."....
Dieser Rückzug nach St. Amand würde uns mit Schande
„Warum denn ohne Unterlaß zurückgehen, eS ist vielmehr
ein Intereffe erster Ordnung, unsere beiden Armeen nicht von einander
zn entfernen.
Können Sie ihm denn nicht einen formellen Befehl geben
— oder bester noch, ihn absetzen?"
In demselben Stile gehalten, folgen noch bis zum 16. December mehrere dringende Aufforderungen.
nach
St. Amand durch nichts
Und thatsächlich
war der
Rückzug
Die I. Loirearmee hatte
gerechtfertigt.
am diese Zeit nur ganz schwache Cavallerie-Abtheilungen vor sich, irgend
eine Gefahr war ihr gar nicht nahe und das Verlangen,
sie abermals
drei Märsche zurück machen zu lasten, ohne jeden vernünftigen Grund.
Selbst Gambetta sah ein, daß die Truppen dabei nur körperlich und mo ralisch auf ein noch niedrigeres Niveau herabgedrückt werden
würde«.
Allein er konnte sich doch zu der einzig heilsamen Aenderung, z« einem
Wechsel in der Person des Oberbefehlshabers nicht entschließen.
Dem
großartigen Aufschwünge, den er nach der Niederlage von Orleans ge
nommen, folgte die Unentschlossenheit,
die
er
einem äußersten Falle, wie hier, gezeigt hatte. sich nicht an Bourbaki's Ruf.
in der Armee;
schon
einmal
in
solch
Augenscheinlich wagte er
Er fürchtete die Opposition im Lande und
denn, daß es nicht Rücksicht und Güte waren,
die ihn
verhinderten, das AbsetzungSdecret zu unterzeichnen, beweist die Behand lung, welche in denselben Tagen zwei Corpscommandeure, nämlich Crouzat
und des Palliöreö erfuhren*).
ES ist diese Epoche wohl die bewegteste und unruhigste in Gambetta'S gesammter Amtsführung.
Von allen Seiten her kamen an ihn Forde-
*) Crouzat wurde ohne Grund seines Commando« enthoben, de» PallisreS allerdings auf seinen Antrag abbcrufen, ihm aber, wie mitAetheilt, noch mit einem Kriegs gericht gedroht.
rangen, Warnungen, Rathschläge, Projecte.
Aus seinem eigenen General-
Secretariat ging ihm in IoSneS ein langes Schriftstück mit abenteuer
lichen KriegSplänen zu, die ihm zur Rettung Frankreichs vorgeschlagen
wurden.
Am 18. December forderte Graf Keratrh ihn auf, ihm das
LkriegS- und Marineministerium für einen Monat versuchsweise anzuver trauen — eine Zumuthung, welche er ganz passend mit Stillschweigen überging. Selbst zwischen Gambetta und de Frehcinet scheint hier ein Mißver
ständniß nicht ganz ausgeblieben zu sein, obwohl eS sich schnell auSglich und zu keiner nach außen hin wahrnehmbaren Differenz führte. Eine Depesche de Freycinet'S an den Dictator vom 16. December sagt: „Erlauben Sie mir, mein lieber Minister, Ihnen zu bemerken, daß
Sie es sind, der die Verwirrung in unsere Erlaffe bringt."....
In dieser Zeit ist auch der Grund für den Entwurf deS später unternommenen ZugeS gegen das obere Elsaß und Belfort gelegt worden,
der so verhängnißvoll für Frankreich enden sollte.
gen
Die ersten Andeutun
dazu finden sich in senem anonymen Operationsentwurf, welcher
Bourbaki nach LangreS marfchiren lasten wollte, von wo auS er dann, gestützt auf die Festung und ein schnell errichtetes verschanztes Lager die
rückwärtigen Verbindungen der deutschen Heere bedrohen sollte.
Am 12. December setzte sich Gambetta mit Frehcinet über die Idee
eine- Feldzuges in Ostfrankreich in Verbindung.
Allein Frehcinet rieth
jetzt noch ab, weil er glaubte, im Westen sei im Verein mit Chanzh'S Armee Größeres auSzurichten.
Er blieb dabei Bourbaki's Marsch gegen
die untere Loire zu verlangen.
So war eS gekommen, daß die I. Loirearmee während dieser Zeit
Nichts gethan und doch auch nicht geruht hatte.
Unnütze Hin- und Her-
märsche nahmen ihre Zeit und ihre Kräfte in Anspruch.
Doch den Ge
neral Bourbaki trifft, so wenig er sich auch für die ihm anvertraute Rolle
eignete, hierin nicht allein die Schuld.
Hätte ihm die Regierung freie
Hand gelassen, so würde er seine Armee unmittelbar nach der Schlacht von Orleans bis Bourges zurückgeführt und dort reorganisirt haben. Um
die Mitte des December wäre sie dann ohne Zweifel wieder operations fähig, Bourbaki aber in der Lage und auch genöthigt gewesen, an den
Kämpfen gegen Prinz Friedrich Karl Theil zu nehmen.
So aber war
er immer nur halb auf die von der Regierung gewollten Bahnen gezerrt worden, um dann entschlußlos das Angefangene wieder aufzugebea.
Wer
so kühne Pläne faßte, der mußte auch die Energie besitzen, positive Be
fehle zu ihrer Ausführung zu geben, ober noch härtere Maßnahmen zu
ergreifen — sonst blieb auch der Gedanke werth- und verdienstlos.
Klagen über den Zustand der Truppen, die Rauhheit der Jahreszeit, über Mangel und Schwierigkeiten aller Art auf der einen, — unmögliche
Anforderungen auf der anderen Seite, blieben auch weiterhin das Characteristifche für den Verkehr zwischen der Armee und der Regierung.
In welcher Ungeduld Gambetta diese Tage in Bourges zugebracht hat,
ist leicht zu
schlossenheit.
ermessen.
Um so unbegreiflicher bleibt seine Unent
Er durchschaute sehr wohl die Wichtigkeit, welche Bourbaki'-
Er war sich wohl bewußt, wie schwer
Eingreifen gerade jetzt haben könne.
auch den Siegern die Fortsetzung des Feldzuges fei.
Er sah die Mög
lichkeit vor Augen, diese dadurch, daß man sie immer wieder von Neuem
zu Kämpfen und anstrengenden Märschen zwang, zu ermüden, ihrer wohl gar am Ende doch noch Herr zu werden — und dennoch vermochte er
nicht, den Widerstand eine- Generals zu besiegen, der gegen diese großen, und vielleicht erreichbaren Ziele technische Bedenken hegte.
Prinz Friedrich Karl hatte sich mit allen seinen Kräften nach dem Westen gegen Chanzy gewendet und trachtete danach, erst mit diesem Ge
neral abzurechnen, bevor er sich dann seinen übrigen Feinden zuwendete. Noch ehe aber die aus de» verschiedenen Richtungen zurückgerufenen Ca-
lonnen sich auf dem Schlachtfelde von Beaugency geltend machen konnten,
wich General Chanzh, von den langen Kämpfen gegen den Großherzog erschöpft, bedroht durch daS Vordringen
des 9. Armeecorps am linken
Stromufer gegen Tours, und das Anwachsen der Streitkräfte vor seiner
Front gewahrend, gegen Westen aus.
Das tief eingefchntttene Bergthal
des LoirfluffeS und das dahinter beginnende,
dicht von Gehölz, Gärten,
aller Art
und von Wohnstätten bedeckte Gelände boten ihm
einen sicheren Hort.
Der Prinz folgte ihm, so schnell eS die Umstände
Culturen
und die vom plötzlich eingetretenen Regen- und Thauwetter grundlos ge machten Wege erlaubten, um es, — wennmöglich noch dieffeitS oder am Loirflusse — zur Schlacht zu bringen.
Er mußte sich dabei von Orleans entfernen, das unter dem Schutze des damals arg decimirten bayerischen Armeecorps v. d. Tann zurückblieb. Die berühmte Loirestadt lag also ziemlich fre,i vor Bonrbaki'S Armee — und nicht sie allein, sondern auch der von je her durch Gambetta erkorne
Weg über MontargiS nach Fontainebleau.
jetzt den Angreifern
nur eine ganz schwache
Auf diesem Wege stellte sich
bayerische Abtheilung ent
gegen, welche in Gien cantonnirte und von da aus das Gebiet der oberen Loire beobachtete. Französische
Auch dieses geringe Hemmnis sollte noch beseitigt werden.
Territorialtruppen
— vermuthlich
zu
den
von
dem
Obersten, später General Pallu de la Barriöre commandirten gehörig —
verdrängten
die Bayern
aus
Gien.
Gamibetta
erhielt
davon
sofort
Leon Gambetta und dir Loirearmee.
54
Nachricht.
Daß jene Gegenden auch
im
Uebrigen von den deutschen
Truppen geräumt seien, hatte er schon zuvor erfahren. Am 11. Dezember
meldete
ihm
Pallu:
Feinde geräumt.
OrlöanS hin.
„ Briare,
Ouzouer,
Gien sind
urplötzlich vom
Alle- deutet auf eine Concentration der Preußen gegen
Diese in der Puisahe gesammelten Nachrichten scheinen
sicher."
Schon am Loir war Prinz Friedrich Karl an 18 Meilen weit vom oberen Loinglaufe entfernt, seine Armee aber von außerordentlichen An
strengungen ermüdet.
Ließ er sich von Chanzy in das Labyrinth der Ge
gend von le MaNS nachziehen und in Kämpfe verwickeln, so konnte er
nimmermehr zur rechten Zeit an jenem Flusse erscheinen, wenn eS galt, Bourbaki auf seinem Zuge zur Befreiung der Hauptstadt aufzuhalten. Grund
lose Wege hätten gerade jetzt auch seinen Marsch erschwert.
Und eS schien,
als könne der Prinz nicht anders, wie den Gegner immer hitziger ver folgen, gegen welchen er, alle anderen Pläne aufgebend, fast feine ganze
Streitmacht
in Bewegung gesetzt hatte, ohne ihn bisher zur Schlacht
zwingen zu können.
Chanzh'S Armee war der Auflösung ebenso nahe,
wie die Bourbaki'S, ja nach den letzten Schlachten und Märschen theil weise gewiß noch in traurigerer Verfassung.
Gambetta mochte glauben,
daß die Erfolge, die sich hier dem Prinzen
scheinbar mühelos boten,
Anziehungskraft genug besitzen würden, um ihn höhere strategische Ziele
vergessen zu machen.
Noch einmal streckte er daher kühn und hoffnungsvoll
gerade zu der Zeit die Hand nach der Palme aus, wo neue Niederlagen und neues Mißgeschick große Hoffnungen für Frankreich zn Grabe getragen
hatten.
Darin, daß sich der Dictator unmittelbar nach so schweren Schlägen
hoffnungsvoll wieder erhob und er sich mit einem einzigen großen Wagniß an das Ziel feines Strebens zu versetzen trachtete, gleicht diese Epoche
derjenigen nach der Schlacht von OrlöanS. Eines berechtigte die Hoffnung auf den Erfolg.
Wenn die Armee
Bourbaki'S trotz ihres üblen Zustandes vordrang, und Prinz Friedrich
Karl, dessen Truppen ununterbrochen in Berührung mit dem Feinde ge
blieben waren, dann in überstürzter Hast, zn einem Feldzuge im Osten umkehrte, konnte auch er nur mit sehr erschöpften Streitkräften ans den
entscheidenden Feldern anlangen. Der Gedanke, Paris nahe kommen, die Einschließungsarmee bedrohen
und vielleicht sprengen zu können, Chanzy aber zu gleicher Zeit von seinen
Verfolgern zu befreien, entflammte Gambetta'S ganzen Eifer.
„General," schrieb er am 17. December an Bourbaki,
„die letzte
Depesche Chanzh'S zeigt diesen General fast mit den gesammten Streit kräften der CorpS von Friedrich Karl, YeS Herzogs von Mecklenburg und
einer Colonne im Kampfe, die aus dem Enrethale kommt und deren Stärke
man nicht kennt"*). „Mehr denn jemals ist eS nothwendig, daß die energische Diversion, zu der Sie
entschlossen sind,
so lebhaft als möglich ausgeführt werde,
um durch den Marsch allein einen großen Vortheil über den Feind zu gewinnen."
»Ich glaube, Sie werden in Folge dessen, wie ich, der Ansicht sein, daß keine Minute zu verlieren ist und daß Sie eher daran denken, die
Bewegung gegen MontargiS zu unterstützen, als sie zu verzögern. Stellen Sie sich vor, welch ein Ruhm es für Sie sein würde, fast ohne einen
Schuß zu thun, bis Fontainebleau vorzudringen." „Aus guter Quelle bin ich informirt, daß kein Preuße in „Seine und Marne" steht. Man muß daher so schnell als möglich aus dieser Situation
Rutzen ziehen.
In Fontainebleau ist man — berücksichtigt man die Forts
und die vorgeschobenen Werke der Hauptstadt — nur 2 Märsche von Paris.
Ihre Truppen müssen ausgeruht sein, sowohl durch die Zeit, als, weil
sie seit acht Tagen keinen Feind gesehen haben." „Sie
haben junge und thatkräftige Corpscommandanten, die nur '
verlangen, vorwärts zu gehen.
Ihre Truppen selbst — obgleich sie jung
sind — werden in dieser Offensive die besten Eigenschaften der fränkischen
Race wiederfinden.
Sie werden zu ihnen sprechen, Sie werden eS ver
stehen, ste fortzureißen"
. . .
„Ich kann nicht umhin, Sie zu drängen, fie zu quälen, so sehr fsthle
ich, wie kostbar die Minuten sind". ...
Am 14. Dezember, nach seinem kmzen Vormärsche bis Vierzon hin war Bourbaki aus seinem Hauptquartter Möhuu für Aävre nach Bourges
zum Kriegsminister gefahren.
Dort hatten
ohne Zweifel schon Bespr^
chungen über dieses Projekt stattgesunden und eS scheint hier aus Gam betta'» Worten hervorzugehen, daß Bourbaki mit dem ganzen Plane ein
verstanden gewesen sei.
Doch dem kann nicht so sein; nur deS Dictator»
reiche Einbildungskraft, die sich da am thätigsten erwies, wo eS dis Er
füllung seiner Wünsche galt, mag eS vorausgesetzt haben.
Bourbaki war auch jetzt nur halb entschloffen.
Er widersprach nicht
ganz, doch er hatte auch zu dem Unternehmen weder Lust noch Vertrauen
und suchte eS darum aufzuschieben.
Er sürchtete zumal, daß die in Chau
mont, Chätillon für Seine und — wie er meinte — auch in Auxerre schon
versammelten deutschen Truppen sich, wenn er gegen Fontainebleau mar-
schirte, schnell in Bewegumg setzen würden, um ihm den Rückzug abzuschneide».
*) Es waren dies Theile Ler durch Gardelandwehrbataillone verstärkten 5. Cavalleriedivifion.
ThatsLchlich hatte er dort noch wenig zu fürchten, nur schwache Etappen
garnisonen sowie das halbe 7. ArmeecorpS vermochten deutscherseits von
jener Seite her einzugreifen.
Er scheint diese Streitkräfte sehr hoch an
geschlagen zu haben und war zumal deßwegen dem Unternehmen abhold.
Allein er setzte diesmal nichts durch.
wendungen am Ende mit einem
Gambetta schnitt seine Ein
kurzen „il saut faire“ ab.
Es ward
vereinbart, daß er mit seinem Heere bei Nevers die Loire wieder über schreiten sollte, dann auf dem rechten Stromufer bis Gien marschiren und
von da nach MontargiS. Bourbaki, der über die Verhältnisse seiner Gegner auffallend schlecht orientirt war, nahm an, daß starke Theile der Armee
des Prinzen Friedrich Karl noch in Cosne ständen.
Er wollte diese Trup
pen nun während deS ersten Vormarsches umgehen, im Rücken fassen und in den Strom zu werfen suchen.
Weiterhin dachte er seinen Marsch zwischen Loing und Donne auSzuführen, wo daö bedeckte, coupirte Gelände, ohne Querstraßen für den herankommenden Feind seinem Vorhaben günstig zu sein schien.
Der
Lauf deS Loing sollte ihn gegen den Prinzen Friedrich Karl, die Donne
ihn gegen die von Osten kommenden deutschen Truppen schützen. So baute er durch die Hinzufügung dieses Gedankens noch Gam-
betta'ö Pläne aus.
Der Dictator war mit allem einverstanden, wenn
ihm nur die Offensive zugesagt wurde.
Die Armee begann auch wirklich den Marsch.
Am 19. Dezember
nahm Bourbaki sein Hauptquartier in Baugh, seine 3 CorpS waren im Verrücken auf Revers. Dennoch sollte das Unternehmen auch jetzt nicht wirklich zur Aus
führung kommen. ES schwebte über diesem Plane deS Dictators ein eigen thümliches Verhängniß. Bourbaki fürchtete, Prinz Friedrich Karl werde zwischen Chanzh'S und
seiner Armee hin und her marschiren, bald die eine, bald die andere schlagen und so Alles vereiteln.
Er wollte die Entfernung zwischen sich und dem
gefürchteten Gegner darum auch so groß wie möglich machen.
Er gab sich
nicht, wie Gambetta, der Hoffnung hin, daß der Prinz der II. Loirearmee in daS Unbegrenzte folgen werde. Damit behielt er Recht; hier, wo es sich nur um die einfache Be
urtheilung einzelner militärischer Grundsätze und Nothwendigkeiten han
delte, sah er weiter als der Dictator.
Prinz Friedrich Karl hatte während der letzten Tage sein Hauptquar tier im Schlosse von SuövreS gehabt, seine Armee war am 15. December auf der ganzen Linie von Moret bis vorwärts Vendöme mit Chanzh'S Truppen in Berührung gewesen.
Zahlreiche französische
Streitmaffen
standen jenseits des steilen und tiefen Flußthales in schnell verschanzten
Stellungen, überall auf große Batterien gestützt.
Auch vorwärts Bendöme
auf den Höhen von Sie. Anne und Bel-Essort hatte sie gut eingerichtete
feste Positionen inne. bevor.
Eine entscheidende Schlacht stand nach allen Anzeichen
Die im Lande
verbreiteten Nachrichten gaben für die einzelnen
französischen Colonnen, welche zum Loir gezogen waren,
ansehnliche Ziffern.
noch immerhin
der höheren
Aufgefangene Depeschen
französischen
Befehlshaber und Armeebeamten deuteten auf die Anwesenheit eines frischen feindlichen Corps, des 19., von dem man bei dem Bormarsche von Beaugench
her keine. Spuren entdeckt hatte, in den Stellungen hinter jenem Flusse. Schon einmal waren, kurze Zeit zuvor, dem feindlichen Heere unvermuthet
bedeutende HülfStruppen zugeflossen und hatten eS befähigt, nach eben er littener Niederlage, eine neue Waffenentscheidung anzunehmen. AehnlicheS konnte sich hier gleichfalls ereignen.
Prinz Friedrich Karl
traf deßhalb alle Anstalten zur Schlacht^ er befahl für den 16. December, daß seine Corpö sich mit allen
ihren Streitkräften versammeln und bis
zum Fuße der französischen Positionen heranrücken sollten.
Er ordnete
ferner an, daß die einleitenden Kämpfe gegen die vorgeschobenen franzö sischen Posten weiter durchgeführt würden, damit am 17. Dezember früh
der entscheidende Angriff
in den Morgenstunden
beginnen
könne.
Die
kurzen Wintertage gewährten für einen energischen Kampf nur wenig Helle Tagesstunden.
Dichter Nebel bedeckte in der Frühe dergestalt das Land,
daß sich Nichts mit Sicherheit unternehmen ließ.
Und mit den Kräften
der deutschen Armee mußte schon haushälterisch umgegangen werden.
Sie
hatte während der letzten Tage nahezu Unerträgliches durchgemacht.
Alle
CadreS waren ungemein zusammengeschmolzen, ganz neue militärische Be griffe bildeten sich heraus.
Die Armeecorps
waren
an Infanterie in
Reih und Glied nicht mehr so stark, wie Divisionen zu Beginn des Krieges. Die Divisionen glichen schwachen Brigaden.
Die Zahl der Offiziere hatte
sich noch über dies Verhältniß hinaus herabgemindert.
.Nach unaufhör
lichen Märschen und Gefechten war zumal bei den Truppen des GroßHerzogs die Erschöpfung eine hohe.
Nur mühsam rafften sich die braven
Soldaten auf, um immer noch alle Anforderungen zu erfüllen, die man
an sie stellte.
DaS Alles erheischte doppelte Vorsicht und Gründlichkeit. Gerade alS aber Alles für die entscheidende Schlacht bereit gemacht
wurde, traf in SuövreS die Nachricht ein, die Bayern feien aus Gien
verdrängt worden.
Ebenso, wie Gambetta eS verlangte, daß Bourbaki
vorwärts marschire, um Chanzy dadurch der Verfolgung zu entziehen, ebenso sicher erwartete man auch im deutschen Hauptquartier, daß eS geschehen werde.
Näher lag indessen noch die Gefahr für den Besitz von OrläanS, wo sich da-
schwache v. d. Tann'sche CorpS nimmermehr lange gegen die ganze fran zösische Armee behaupten konnte, zumal wenn der Angriff von Osten her auf dem rechten Loireufer ausgeführt wurde.
Die Wiedereroberung von
OrläanS aber würde noch davon begleitet gewesen sein, daß dem Feinde seine vor kurzem verlorenen schweren Geschütze und Tausende von deut
schen Soldaten, welche krank oder verwundet in den Lazarethen von Or leans lagen, in die Hände fielen.
Die Einnahme einer Stadt, um deren
Besitz aber Prinz Friedrich Karl wmige Wochen zuvor mit allen seinen
Streitkräften eine Schlacht geschlagen hatte, würde der französischen Na tion für einen großen Sieg gegolten haben.
alSdann gezwungen zurückkehren müssen.
Der deutsche Feldherr hätte
Er beschloß deshalb zwar, die
Schlacht am Loirflusse, wenn Chanzy Stand hielt, bis zur letzten Ent
scheidung durchzufechten, gleich darauf aber mit dem größeren Theile seiner Armee wieder an die mittlere Loire zu marschiren. General Chanzy hielt nicht Stand. Schon die Gefechte mit den Avant garden der II. deutschen Armee hatten auf seine Truppen einen großen
Eindruck gemacht.
Noch in der Nacht vom 15. zum 16. December hielt
er zwar an dem Gedanken fest, den entscheidenden Kampf zu wagen, als aber gegen Morgen immer düsterer gefärbte Berichte einliefen, als selbst der Commandeur des 16. Armeecorps, Admiral Iauröguiberry, auf den
er ganz besonderes Vertrauen setzte, ihm erklärte, daß der Kampf unmög
lich sei, da gab er nach. Am 16. December fand Prinz Friedrich Karl die französische Armee
im vollen Rückzüge vom Loir gegen die Sarthe hin.
Den nachsetzenden
Truppen vom 10. Armeecorps fielen noch 7 Geschütze und einige hundert Gefangene in
die Hände.
In Eile und Auflösung begannen fich die
feindlichen Colonnen in das unübersichtliche Hügelland zurückzuziehen.
Ge
neral Chanzy selbst berichtet, daß Le ManS der allgemeine Anziehungs punkt für feine Truppen geworden wäre.
Die Aussicht auf einen Entscheidungskampf war verschwunden und
ohne jedes Zögern überließ der Prinz nun dem Großherzoge, dem 10.
Armeecorps und der 1. Cavallerie-Division die Verfolgung und setzte
seine Armee wieder nach OrlsanS in Bewegung.
Noch
an demselben
Abend begann der so berühmt gewordene Eilmarsch des 9. Armeecorps, der dieses Corps schon am Nachmittag des 17. December das Ziel er
reichen ließ.
Am 19. December aber, als Bourbaki säumig seine Be
wegungen begann, stand der Prinz bereits mit zweien seiner ArmeecorpS bei OrläanS bereit.
Er hatte die Besetzung von Gien durch den Feind für die Einleitung
Leon Gambetta und die Loirearmee.
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zu dem Feldzuge der I. Loirearmee zwischen Donne und Loing gehalten.
War jenes Ereigniß thatsächlich auch nur aus einem isolirten Unternehme« hervorgegangen,
so
täuschte man sich
im deutschen Hauptquatier
über
Gambetta'S wahre Absichten, wie es hier dargelegt worden ist, dennoch nicht. Zu seinem Staunen mußte der kühne Dictator abermals erfahren,
daß seine Pläne von seinem Gegner erkannt und durchkreuzt seien, noch ehe ihre Ausführung ernstlich begonnen hatte.
Der Zug über Montar-
giS und Fontainebleau, auf den er so glänzende Hoffnungen gesetzt hatte,
sollte nichts bleiben, als ein Luftschloß, an dem sich sein thatendurstigeS
Herz wenig Tage erfreut hatte. Er sah die Nothwendigkeit ein, seine Pläne zu ändern, denn ganz aufgeben mochte er den Gedanken einer neuen Offensive auch jetzt noch
nicht.
AuS dem eben gescheiterten Entwurf wurde nun derjenige zu dem
Ostfeldzuge gegen General von Werder, welcher Frankreich'» letztes großes
Unglück in diesem Feldzuge herbeiführen und des Dictators Ansehen im Lande den ersten wirklich empfindlichen Stoß versetzen sollte. Der Loirefeldzug war hiermit zu Ende; Frankreich hatte wahrhaft
ungeheure Anstrengungen zu seiner Durchführung gemacht und dennoch erndtete eS jetzt nur eine Fluth von Trümmern.
„Ein großer Aufwand
war schmählich verthan."
Frh. v. d. Goltz.
Nordalbingische Studien. Die im vorigen Jahre erschienenen Vorlesungen Dahlmann- über
die Geschichte Ditmarschen- wurden im Winter 1826 gehalten, als er mit der Herausgabe der Chronik deS NevcoruS beschäftigt war.
Sie bie
ten wie der Herausgeber sagt „die Resultate der Forschungen, die in den Excursen zum NevcoruS gegeben, in leichter, Zusammenhänge der Begebenheiten eingereiht."
übersichtlicher Form
dem
Man erkennt auch hier,
wie bei Dahlmann seine Docenten- und Gelehrtenthätigkeit so eng und
productiv mit einander verbunden waren.
Der Herausgeber, der Director des Gymnasiums zu Meldorf, Dr. Kolster, einer der scharfsinnigsten und gelehrtesten Kenner deS alten Ditmarschen,
hat sich aber durch diese Arbeit ein doppeltes weiteres Verdienst erworben.
Die Dahlmannsche Darstellung, die nur bis 1559 reicht, ist bis zum Ende
deS dreißigjährigen Krieges fortgeführt worden, so daß man die Umbildung der alten republikanischen Verfassung zur Landesverfassung der folgenden drei Jahrhunderte übersieht, die erst jetzt durch die Preußische KreiSverfaffung verdrängt wurde.
Dann aber hat der Herausgeber mit seltener aber wohlbegründeter Pietät zu der originalen Darstellung die Resultate der neueren Forschun gen hinzuzufügen versucht,
seine eignen wie die Ergebnisse überhaupt,
welche die große Bewegung gerade ans dem Gebiet nordelbischer Geschichte seit Dahlmanns Arbeit herbeigeführt hat. Die Aufgabe war nicht leicht, aber man wird der hier vorliegenden
Lösung seine dankbare Zustimmung nicht versagen können.
DaS
Buch
vergegenwärtigt unö mit seltener Lebendigkeit diese ganze reiche wissenschaft liche Bewegung.
Im gewissen Sinne wird man sagen dürfen, daß die dänische Gesammtmonarchie im Anfang dieses Jahrhunderts die Voraussetzung der historischen
Arbeiten Dahlmanns war.
Sie umfaßte von Island bis Ditmarschen eine
merkwürdige Gruppe nord- und südgermanischer Bildungen.
Der Gegensatz der Isländisch-Norwegischen und der dänischen Ueber
lieferung, der nordischen und der sächsischen Rechtsinstitute machte dieses
Eonglomerat so verschiedener Nationalitäten und Stämme zu einem für
geschichtliche und namentlich rechtshistorische Studien
Boden.
überaus ergiebigen
Man braucht nur an P. E. Möllers und Dahlmanns Arbeiten
über Saxo, an Kolderup-Rosenvinges und Falcks rechtshistorische Arbeiten zu erinnern um klar zu machen, wie lebendig die Wechselwirkungen, wie reich die wissenschaftliche Anregung dieser Atmosphäre waren. war der volle und lebendige Repräsentant dieses Lebens.
Falck selbst Es sind die
Interessen und die Gegensätze der verschiedenen Erscheinungen selbst, die eS Hervorrufen.
Bon einer Schule und ihrer Methode kann hier nicht
gesprochen werden, der seltene Reichthum verschiedener Anschauungen reist in dem Einzelnen und in dem ganzen Kreis die wiffenschaftliche Kritik
und Combination. Wie sehr Dahlmann durch diese Einflüsse gebildet, wie er ganz ihnen
gerecht geworden war, daS beweist die größte historische Arbeit seines Lebens,
die Geschichte Dänemarks und die zum Theil widerwillige Anerkennung, welche sie selbst in Dänemark fand.
Die eigenthümliche Fassung der Aufgabe, in
die er Norwegen und JSland vollständig mit hineinzieht, das tiefe Eingehen
auf die Rechts- und BerfaffungSgeschichte, wie sie einen Grundzug jener dänischen Studien bildet, und endlich die Freiheit und Unbefangenheit der
ganzen Auffassnng waren allerdings durch seine wiffenschaftliche und sitt
liche Individualität bedingt, aber zugleich die Consequenzen jener früheren für ihn so einflußreichen Berhältniffe. AIS er das Buch schrieb, war er längst aus der Gesammtmonarchie
geschieden, aber gerade deßhalb ist diese wiffenschaftliche Leistung für daS Gesagte um so bezeichnender.
Der wissenschaftliche Boden, auS dem er
die Keime dazu mitgenommen, war hinter ihm untergegangen.
Natürlich,
würde man auf dem Wege der weiter fortschreitenden Forschung auf dem selben endlich auch an dem Resultat angelangt sein, daß die bestehenden
politischen Formen mit den hier vorliegenden inneren politischen und nqtio-
nalen Thatsachen unverträglich seien.
Aber bekanntlich ging die Entwick»
lung nicht diesen Weg: die Fehlgriffe einer sowohl unwiffenschastlichen wie
unpolitischen Nationaleitelkeit, einer weder ehrlichen noch geschickten StaatS» tunst störten wenn auch erst leise den Frieden dieses internationalen wiffen-
schaftlichen Verkehrs, noch bevor Dahlmann in denselben eingetreten war.
ES ist interessant zu sehen, wie die so wach gerufenen politischen Interessen in ihrer unabweiSlichen Berechtigung von Jahr zu Jahr der ruhigen wissen schaftlichen Debatte immer mehr Boden entziehen: wie dagegen daS Gefühl
jener alten wiffenschaftliche» Gemeinsamkeit immer wieder bei Männern wie Falck und Oerstedt retardirend und calmirend auf die Verhandlungen ein» wirkt, tote der ehrlichste und begabteste Vertreter der deutschen Jntereffen,
Jen- Uwe Lornsen die langen Jahre seines Exils daran setzt, um diesen Ge
gensatz der wissenschaftlichen und politischen Debatte durch eine Untersuchung und Darstellung zu bewältigen, der die sittliche und intellektuelle Energie
des Verfassers noch heute einen so unwiderstehlichen Ton verleiht. Wie man auch sonst über LornsenS „UnionSverfaffung Dänemarks
und Schleswig-Holsteins" urtheilen mag, unzweifelhaft bezeichnet daö Buch die Epoche, von der an sich die wiffenfchaftlichen und die politischen Käm
pfer auf beiden Seiten immer mehr zu einer festen Phalanx zusammenschließen und dadurch die Wucht deS Kampfes sich mächtiger als vorher
steigert, bis er, auf den großen „Kampfplatz der europäischen Politik" über
tragen durch die Einwirkung neuhinzutretender Mächte entschieden wird. ES war vollkommen erNärlich, wenn Männer wie Oerstedt auf dä
nischer, Falk auf Schleswig-Holsteinischer Seite, je hitziger der Streit
entbrannte, mit tiefer innerer Ueberzeugung nicht allein an der Berechti gung, sondern auch an dem Segen jener alten Gemeinsamkeit festhielten, die für sie und ihr ganzes -wissenschaftliches Leben von so großer Bedeu tung gewesen. Wir dürfen eS heute anerkennen, daß durch diese Bewegung in jener Gemeinsamkeit eben jener Fruchtboden eines reichen wiffenschaft-
lichen Lebens zerstört wurde. Der volle Eindruck dieser Zerstörung ist freilich für die heutige Ge neration durch den Umstand verwischt, daß gerade in jenen Jahren die Arbeiten der neuerstehenden deutschen GeschichtSwisienschaft dieses Gebiet
erreichten, auf dem sie jetzt seit Jahrzehnten nach allen Seiten hin ihre
neugeschaffene und so sicher vorschreitende Methode zur Geltung gebracht haben. In wie engen persönlichen Beziehungen auch Lappenberg und Waitz
zu Dahlmann und Falck standen, der Unterschied zweier verschiedenen wissenschaftlichen Atmosphären ist doch hier und dort unverkennbar.
Ein
Blick in die Reihe der Falckschen Zeitschriften und die von Waitz edirten
„Nordalbingischen Studien" genügt, um das zu erkennen.
Die kritische
Exactheit in der Feststellung der Ueberlieferung und der Berwerthnng der
Thatsachen, die unbedingte Forderung eines wirklich vollständigen und ganz gesichteten Material- ist doch wesentlich verschieden von jener unbefangenen genialen Sicherheit, mit der Dahlmann die großen Massen der Islän
dischen und der Dänischen Ueberlieferung kritisch gegeneinander stellte und so seine Resultate zog.
Es war eine überaus glückliche Fügung, daß auf dem Boden, den
Dahlmanns tiefer historischer und politischer Sinn zum ersten Mal gleich
sam wieder für nationales Leben aufgebrochen, durch Waitz' Berufung uach Kiel und feine unmittelbare Betheiligung an jener neuen Wissenschaft-
lichen Entwicklung die kritische Bearbeitung dieses ganzen Geschichtsfeldes
so wesentlich gefördert ward. Man braucht nur an daS zu erinnern, was Waitz'S und UsingerS Ar
beiten für die Kritik der älteren Dänischen Annaleu, waS Biernatzki's Forschun
gen für die ältere Holsteinische Ueberlieferung geleistet haben, um zu begreifen, daß von LappenbergS ersten Arbeiten
bis zu den großen Publicationen
dieser Jahre, dem Meklenburgischen und Lübschen Urkundenbuch und der
Herausgabe der Hansarecesse hier ein ganz neuer Grund für die historische Darstellung gelegt ist. In den Jahren, wo jene alte wissenschaftlich so bedeutsame Berbin-
bung mit Dänemark zerriß, breiteten sich die Arbeiten deutscher historischer Kritik neubelebend über die Ostseegebiete a«S. Die Thatsachen einer für unser nationales Leben so wichtigen Geschichte, wie die der westlichen Ostseelande ist, erhalten mit dem Fortschreiten die
ser Publicationen ein neues Licht: es wird möglich, auf diesen neueren und festeren Grundlagen Gesichtspuncte wiederzugewinnen, die zum Theil erst in der tiefen nationalen Bewegung der letzten Kämpfe verloren gegangen
waren. Bor Mem gewinnt man, wie uns scheint, durch den Reichthum der Lübscheu und Hansischen Publikationen für den Zusammenhang und das innere
Verhältniß
dieser Gebiete sehr
wesentliche neue Haltpuncte.
Die Ge
schichte Holsteins, für die jetzt erst eine sichere genealogische und chrono logische Grundlage geschaffen, tritt dann auch von dieser Seite her in ein
neues Licht, diese ganze Gruppe politischer Mächte und Verfassungen er
scheint immer deutlicher in ihrer singulären Gestaltung. Man wird zugeben müffen, daß eS hier kaum so möglich sein würde,
die großen und kleinen Züge der Dahlmann'schen Darstellung für die Ge
schichte dieser Verhältnisse so festzuhalten, wie Kolster eS bei der Ditmarsischen Geschichte konnte.
Schon als Waitz vor mehr alS 20 Jahren die
damals gewonnenen Resultate in der Geschichte SchleSwig-HolsteinS zu sammenstellte, Materials
und
war daS so nicht mehr möglich. neuer
Und welche Fülle neuen
Resultate ist seitdem hinMekommen!
In
dem
nachfolgenden Aufsatz ist der Versuch gemacht, im Großen daS Bild der
Nordelblschen Geschichte, der Holsteinischen wie der Lübischen und Dit-
marsischen so zu umreißen, wie es sich auf Grund dieser stets fortschrei
tenden Forschungen augenblicklich zu reichen*).
gestalten
scheint,
soweit sie
eben
DaS Lübsche und Schleswig-Holsteinische Urkundenbuch, die
*) Für einzelne ihm eigenthümliche Ansichten, die Mw Theil in der folgenden Dar stellung berührt sind, verweist der Verf. auf folgende von ihm früher publicirten Untersuchungen. „Der Holsteinische Adel im XU. Jahrh." Allg. Monatsschrift Mai 1854. „DaS Sächsische Heergewäte" Jährst, f. d. Landeskunde der Herzog-
Nordalbingische Studien.
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Hansarecesse, haben das Ende des 15. Jahrhunderts vollständig oder doch
fast erreicht, das Mecklenburgische noch nicht die Mitte deffelben. Es ist doch von Interesse in Mitten dieser Bewegung zu erkennen, wie die Umrisse jener Jahrhunderte sich zum Theil schärfer zum Theil
anders darstellen als früher, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, daß
auch so nicht noch manche unklare und nebelhafte Stelle bleibt.
Eins
aber darf unbedingt hier hervorgehoben werden, der Eindruck von unmit telbarem Leben und tiefer historischer Wahrheit, den auch bei einer solchen
Betrachtung Dahlmanns dänische Geschichte noch immer bietet.
I. Die Sachsen zwischen Elbe und Eider waren zur Zeit Karls des Großen die einzigen Germanen des rechten ElbuferS, die vor dem un
widerstehlichen Andrang der Slaven nicht ihre alten Sitze geräumt hatten. Karl selbst fand bei ihnen den letzten und zähesten Widerstand; nach dem er ihre Bundesgenossen im Süden Ringen
unterworfen,
der Elbe in jahrzehntelangem
richtete er zum Schutz dieser unsicheren Gebiete
vielleicht die Dänische, jedenfalls die Sächsische Mark im Norden und
Osten der drei jüngsterworbenen Gaue auf. Nach dem Tode des großen Kaisers begann die Bewegung der Dä
nischen Seezüge, die auch die Elbmündung traf:
gleichsam am Schluß
derselben, nicht mit den Waffen, sondern durch Vertrag erwarb der letzte
und größte König der Wikingerflotten die nördliche der beiden Marken,
die Gaue selbst blieben in ihrem alten Bestand.
Schon aus diesen Thatsachen wäre zu schließen, daß hier mitten in
den großen Metamorphosen unserer früheren Geschichte sich ein Rest jener älteren und ältesten Bildungen erhielt, welche fast überall sonst sich ent
weder verschoben oder vollständig verschwanden.
Und dieß war in der
That der Fall.
Ehe die Dänen vom Norden bis au die Schlei und die Slaven vom Osten bis an die Kieler Bucht und die Sventine vordrangen, saßen im Norden der Schlei die Angeln, im Süden der Elbe die Longobarden als
nächste Nachbarn dieser Nordelbischen Germanen.
Eben nur bei ihnen
und diesen ihren Nachbarn erscheinen eine Reihe von Instituten und Ge
walten, die zur Zeit deS TacituS bei allen, in der nachtaciteifchen Zeit bei den übrigen Germanen nicht nachzuweisen sind.
Nur hier in dieser
thlimer. Bd. I. „Geschichte der Ditmarsischen Geschlechterverfaffung" ebd. Bd. HI. „Schleswig, Soest und Lübeck" ebd. Bd. V. „Da» Taufbecken der Kieler Mcvlaikirche" Kiel 1858.
Völkergruppe steht der königlichen Gewalt und ihrem Unterbeamten dem
Grafen eine andere gegenüber, die des Herzogs oder des LandeSältesten.
„Wol empfängt" sagt Sohm „der Longobardische Herzog und der Angel
sächsische Ealdorman sein Amt aus der Hand des Königs, aber sein Amt ist nicht Dieneramt, sondern Herrrenamt, die herzogliche Gewalt ist bei
den Longobarden und Angelsachsen nicht durch das Königthum hervorge bracht, sondern älter als das Königthum."
Dem entspricht die Stellung,
welche bei den nordalbingischen Sachsen noch des 12. Jahrhunderts der
Ealdorman dem König und dem Grafen gegenüber einnimmt und wieder
dieser Stellung
der Gewalten gemäß kennt die Berfassung der Angel
der Nordelbinge ein
sachsen und
wirkliches „Staatsgut"
im Gegensatz
gegen das Königsgut, ein öffentliches Vermögen, daS nicht allein unter der Verfügung des Königs steht.
ES ist
ein vollberechtigter Schluß,
wenn wir
diese gerade
dieser
Völkergruppe eigenthümlichen Institute auf die Zeit zurückführen, wo sie noch vom Süde« der Elbe bis an den Belt hart nebeneinander saßen,
d. h. in die Zeit,
ehe die Longobarden ihre lange Wanderung gegen den
Süden, die Angelsachsen die Reihe ihrer siegreichen Seezüge gegen Brit-
tannien
Bei beiden setzte sich der Kampf und das Ringen
eröffneten.
dieser Gewalten sowol im Süden der Alpen wie auf den Brittischen In seln fort: eS nahm im Verlauf jener großen und glückhaften kriegerischen
Unternehmungen größere und neue Formen an, aber auch bei den Nord
albingen dauerte der Gegensatz fort und die Landesältesten und das Volkland der drei nordelbischen Gaue erscheinen im 12. und 13. Jahrhundert
nur als die Reste derselben alten Verfassung, die in Italien unter der Brittannien
unter der Normännischen Eroberung zu
Karolingischen,
in
Grunde ging.
Die Nordelbinge bildeten
ihre königliche Gewalt nicht
auf großen Wanderungen aus; als die Eroberung Karls sie der Frän kischen Reichsgewalt unterworfen hatte, erst in den letzten Jahren seiner
Regierung gestaltete sich der Zusammenhang mit diesem Königthum die Länge so
locker
und blieb die Stellung der Gaue auch später
auf so
eigenthümlich, daß hier die Gewalt des königlichen Grafen noch im 12.
Jahrhundert so schwach und die des LandeSältesten so stark war wie in den Zeiten, als die Angeln und Sachsen nach Brittannien segelten.
ES ist nicht die Aufgabe dieses Versuch» zu erörtern, wie diese Stä tigkeit der Nordellbischen Verfassung
möglich war.
Es genügt an dem
Gesagten um darauf hinzuweisen, wie alt wir uns die Zustände denken müssen, in welchen Holstein, Stormarn und Ditmarschen uns in der ersten
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft i
5
Schilderung eines einheimischen Geschichtsschreibers,
des Pfarrers Hel
mold zu Bosau, um 1170 erscheinen.
Bildete damals noch die Elbe von Böhmen bis zur Nordsee die lang gedehnte Grenzlinie gegen daS Slavische Gebiet, so lagen diese drei Gaue
eine
wie
vorgeschobene
Bastion
im Norden derselben,
im Westen und
Süden durch die Elb- und Seemarschen gedeckt, im Osten in beständiger
und
Kriegsverfassung
Kriegserwartung
gegen die feindlichen Nachbarn.
Noch die Aufzeichnungen aus dem Schluß des
12. Jahrhunderts zeigen,
daß dieser stehende Krieg mit einer Unmenschlichkeit und Grausamkeit geführt wurde wie der der Weißen gegen die Rothhäute des Amerikanischen Westen. Die äußersten Vorposten dieser Stellungen bildeten seit Jahrhunderten
die Holsteinischen Adelsgeschlechter in ihren Sitzen vom heutigen Neumünster bis Bordesholm,
an und auf den Haiden und Wiesen der oberen Eider.
Aber auch für den Bauern war der Krieg und der Raubzug sein halbes
Leben, der Wald und die Haide, in die er nur oberflächlich hineinrodete, voll von alten Göttern und Dämonen, das Feld nie abreißender Ueberfälle und Gewaltthaten.
Nehmen
die Stöße
und
Gegenstöße
dieses
Grenzerlebens
größere
Dimensionen an, so sehen wir die westlicheren Gaue, Stormarn und Dit marschen
in gleicher Bewegung zu
Holsteinern vereinigt,
größeren
Unternehmungen mit den
ja aus den alten Longobardensitzen, dem Barden
gau, die Zuzüge gegen die Slaven aufgeboten und geleistet. Aus
der Art und dem Gang eben dieser Fehden erklärt sich zum
Theil die lange Dauer jener Verfassung.
Der Sitz des Landesältesten ist unter dem Grenzadel, mit ihm trägt er die Last und erntet er die Erträge dieses stehenden Kriegs;
von der
alten Karolingischen Verfassung der Grenzmark ist jede Spur verschwun den, aber unzweifelhaft hatte eben diese Verfassung den alteinheimischen Ge
schlechtern und Gewalten den Boden gegeben, auf dem sie Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert so tiefe und feste Wurzeln trieben.
Nur wenn die Unternehmungen größerer Kräfte bedurften und die
ganze Macht der nordelbischen, ja auch südelbischer Gebiete beanspruchte, bedurfte es einer Vertretung der königlichen Heeresgewalt, und hier lag
die Thätigkeit,
in welcher die gräfliche Gewalt früher der Ludolfinger,
der Billunger den Landesältesten gegenüber sich
dann
ausgebildet
und
als Vertreterin des Königthums die herzogliche Würde behauptet hatte. Der unklare Begriff, die schwankende Haltung dieses Sächsischen HerzogthumS erklärt sich aus seiner unsichern Stellung im Norden der
Elbe,
wo
eS bis zu den Tagen Heinrichs des Löwen der Grafenämter
immer, pber der Landesältesten nur zeitweilig mächtig gewesen war.
Eben
deßhalb stand die Bevölkerung dieser Gaue fast unabhängig
zwischen jenen beiden Gewalten und erhielt sich hier so lange das Recht
jedes Freien, sich für Krieg und Fehde dem „hlaford“ oder „Herren" seiner Wahl als Gefolgsmann anzuschließen, was die Angelsachsen jenseits
des Meeres „hlafordt socn“ nannten.
Vollständig jedoch
wird
das
Bild dieser stillstehenden und Jahr
hunderte wild wachsenden Verfassung erst dann, wenn wir nicht übersehen, daß
ehe
Konrad II.
die dänische Mark zwischen Schlei und Eider den
Dänen überließ, der Schleihafen von Schleswig und seine Verfassung ein wesentliches Glied ihres wirthschaftlichen und politischen Lebens bildete.
Die städtische Gilde und das Stadtrecht dieser „nordelbischen Gemeinde", Städteverfassungen,
erinnert unS
daran, daß einst das Leben der Nordelbinge keineswegs
allein in den
vielleicht das
Urbild der Englischen
Interessen emeS wilden und halbbarbarischen Bauern- und Kriegerlebens aufging,
sondern
daß hier dem friedlichen Verkehr eine geschützte Frei
statt bereitet ward, ehe die Dänen von Norden her durch das verlaffeue
Gebiet der Angeln bis an die Schlei und diesen ihren Markt vorrückten. Diese Occupation und später jene Abtretung der Dänischen Mark
rissen Schleswig, wenn es auch Adam von Bremen noch einen Ort der überelbischen Sachsen nennt, mit den
aus dem alten nationalen Zusammenhang
südlicher liegenden Gauen, die Dänische Mark, die den Markt
von seinen alten Gründern trennte, erscheint im 12. Jahrhundert als ein
wüstes und unheimliches Grenzgebiet,
nördlich derselben ist eben dieser
Markt eine Dänische Stadt geworden, südlich sind Holsteiner und Stor-
marer in eine vollständig antistädtifche Cultur zurückgesunken. Allerdings lagen hier zwischen Ost- und Westfee
an
der'^ unteren
Elbe das Sächsische Bardewik, an der Schlei das neue Dänische Schles wig,
an
der Wagrischen Küste das Slavische Stargart,
oder wie die
Deutschen es nannten, Altenburg, aber zwischen diesen Plätzen, die gleich
sam berufen schienen, die Zwischenglieder zweier großer HandelSgebiete zu bilden, konnte auf dem wüsten Haide-, Wald- und Marschland der drei
Nordelbischen Gaue
unter einer halbwilden und fast unabhängigen Be
völkerung sich der Verkehr nur unsicher entwickeln.
Wir wollen die mannigfachen Versuche zur Ordnung dieser Verhält
nisse nicht betrachten, welche bald von Slavischer, bald von Deutscher, zuletzt von Dänischer Seite gemacht wurden.
Immer wieder fielen sie
in die alte Barbarei zurück, bis Heinrich des Löwen gewaltige Hand den Hebel seiner Macht mit kluger Berechnung endlich so ansetzte, daß eS ihm 5*
gelang, den Widerstand all der verschiedenen alten Kräfte zu brechen und
auf dem so geklärten Boden dann einer neuen Cultur Raum zu ES war eine Heroenarbeit;
die Art und Weise,
schaffen.
in der sie auöge-
führt wurde, das Maaß, bis zu welchem sie vollendet ward, das Stadium, iu dem dieser TheseuS NordalbingienS seine Hand von seinem Werke zurück
ziehen mußte, sind für die ganze folgende Geschichte des Gebiets bestim mend geblieben.
Als Heinrich in die Verwaltung Sachsens
eintrat standen sich in
Holstein und Stormarn jedenfalls Landesältester und Graf noch wie zwei feindliche Gewalten gegenüber,
dieser ein Vertreter der nicht
jener an der
Spitze
des
Landesadels,
einheimischen königlichen und herzoglichen
Gewalt, in Ditmarschen rang die Grafengewalt mit den Landesgewalten,
von denen wir nicht den Landesältesten, wol aber den Adel und die Gau gemeinde „das Heer" erkennen können.
In allen drei Gauen bestand
daS Recht des freien Gefolgs des „hlafordt socn“ ungebrochen, in allen gab eS ein „Bolkland" über das die Gaugemeinde verfügte. Heinrich hat die Gewalt der Landesältesten unter die des Grafen
herabgedrückt, er hat das Recht des fteien Gefolges gebrochen, aber er hat
die Stellung deS Adels sonst bestehen lasten.
Ebenso ist daö Recht der
Gaugemeinde über daö Bolkland, ja über eine Reihe andrer Gegenstände zu verfügen in seiner alten Bedeutung von ihm anerkannt worden.
Aber
indem auf diesem Volkland, an Stör, Elbe und Nordsee eine Reihe ein
zelner Neugründungen erfolgten, ließ der Herzog daS Wagrische Gebiet
an der Ostsee den Grafen und förderte durch seinen mächtigen Schütz die Colonisation, die in der Hand Adolfs II. die Slavischen Grenzlande über
raschend schnell mit deutschen „Markmannen" bevölkerte.
Indem durch
diese Ansiedelungen die Slaven hinter die Wagrische Seenkette an
die
Ostsee zusammengedrängt wurden, ein willenloses Werkzeug in der Hand
des Herzogs, ging dadurch jener uralte Grenzkrieg, jener Zustand bestän Fehde, das Lebenselement der alten Nordelbischen Gauverfassnng
diger
nicht so rasch, wie wir gewöhnlich denken, aber er ging seinem Ende ent
gegen.
Gerade dadurch sank die Bedeutung der bisher mächtigen Grenz
geschlechter. Die Colonieen der Friesen, Holländer und Westfalen lagerten sich ihren Grenzersitzen wie neue Bollwerke vor, an
denen sich in der
ersten Zeit wenigstens die Kraft der Slavischen Einfälle brach, die dann
aber mehr und mehr, je weiter ihr Pflug und sein tiefgebrochenes Acker land sich ausbreitete, dem
alten Grenzerleben dieser Gaue den Boden
und die Gelegenheit entzogen.
Es geht ein Zug tiefer Berechnung durch diese Neuordnungen:
der
hewußttp Hebung der gräflichen Gewalt entspricht die rücksichtslose Ent-
schiedenheit in der Behandlung der neugegründeten Kirchen und BiSthümer,
dieselbe Politik, die dem deutschen Colonisten Raum auf Slavischen Boden
schafft,
läßt
diese gehetzten
und
zurückgedrängten Slaven im gelegnen
Augenblick zu neuen Raubzügen gegen die Dänischen Inseln los.
Die
Begeisterung kirchlicher Mission, die arbeitsfrohe Unternehmungslust des niederdeutschen Bauern, der kriegerische Stolz deS alten LandeSadels und
alle diese ver
der Rachedurst der dem Untergang geweihten Slaven:
schiedenen Regungen sind für den großen Welfen nur dienstbare Kräfte, mit denen er,
eine durch die andere
seiner weit
in Schach haltend,
schauenden StaatSkunst ihre Wege bahnt.
Aber wie deutlich das auch
alles ist, nirgends tritt uns die Sicherheit der Ziele, die Klarheit der Aufgabe und die gerade auf ihre Durchführung gerichtete Kraft so schla
gend entgegen wie in der Gründung des neuen Markts, auf dem er die Er träge aller dieser neuen Gründungen nicht mittelbar, sondern unmittelbar
für sich einzuziehen entschlossen war.
Der Gedanke, an der westlichsten
Bucht der Ostsee den Verkehr derselben mit dem Binnenlands all Einem
Brennpunkt für sich auszubeuten, bewegt ihn Jahre lang: scheint eS ihm
zuerst genügend, sich mit den Holstein'schen Grafen in dem Zoll seines Marktes Lübeck zu theilen, so schreitet er dann zu dem Plan eines eignen herzoglichen Marktes vor, bis er endlich durch sein rücksichtsloses Drän
gen, immer dies Eine Ziel im Auge, Adolf II. zwingt,
Markt zwischen Trave und Wakenitz ganz abzutreten.
ihm
eben jenen
Sobald dies
er
reicht, erhält der eben erworbene Platz die Rechte und Ordnungen von Soest, unter welchen nach den Erfahrungen seiner Zeit die rascheste und kräftigte Entwicklung des Verkehrs zu erwarten war.
Damit trat zwischen Bardewik, Stargart und Schleswig ein vierter
Markt, der, nach dem ganzen Zug der Politik Heinrichs, von Anfang an berechnet war, auf dem von ihm neu geklärten Cultukboden die Einflüffe eines gesicherten und möglichst geförderten Verkehrs, zu entwiche!« und gleichzeitig auf die einzuwirken.
Ausbildung der gejammten Berhältniffe
segensreich '
Können wir auch mit dem ältesten Recht Lübek'S das von Bardewik und Stargart nicht vergleichen,
so steht die Verfassung Schleswigs so
deutlich vor uns, daß ein vergleichender Blick genügt, um zu erkennen, wie der Markt des Sächsischen Herzogs an der Trave nur darauf ange
legt ward, den des Dänischen Königs an der Schlei zu«überflügeln.
Dem
wesentlich königlichen Schleswig gegenüber erscheint der Traveplatz von Anfang an, wenn auch unter dem Vogt des H«rzogS, doch in auffallender
Selbständigkeit und Unabhängigkeit.
Bon jenen Diensten
und Rechten,
welche dort die königliche Hofhaltung sich vorbchielt, hier keine Spur, statt
des beschränkten Marktfriedens, den dort der einzelne Kaufmann,beim
König nachsuchen muß, hier der allgemeine Marktfrieden der Sächsischen Märkte, , am. Ufer der Schlei eine knapp zugemessene Freiheit der Ufer
nutzung, an der Trave Wald und Weide zu beiden Seiten des Flusses in freigebigster Weise den Bürgern deö neuen Markts gestattet.
ES ist hier nicht der Ort zu erörtern, iy welcher Weife Heinrich
sonst das Recht des Deutschen Kaufmanns auf der Ostsee gefördert, es genügt hervorzuheben, daß auf Grund seiner Ordnungen Lübeck, des Her
zogs neue Stadt, so überraschend schnell nicht zu einem, sondern zu dem Mittelpunkt des Sächsischen Ostseeverkehrs emporwuchs. Im Lauf weniger Jahrzehnte überholte die kaufmännische Colonie die alten Nachbarplätze,
die bäuerlichen Colonien des benachbarten Wagrier- und Polabenlandes und die neugeordnete Cultur der Nordelbtschen Gaue.
AuS dem einfachen kaufmännischen Marktort wird eine Stätte städti scher Cultur, der sich bis nach Cöln hin schon am Ende des 12. und
in den
ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts keine andere
chen läßt.
verglei
Neben Aufzeichnungen eines frisch und glücklich entwickelten
städtischen Rechts, ja Jahrzehnte vor ihnen bezeugen zwei historische Ar beiten auf dem Boden der Lübecker Diöcese, wie schnell unter dem Ein
druck dieser Welfischen Politik das Bewußtsein einer großen und neuen Zeit heranreifte, zugleich die Fähigkeit, Verhältnisse und Persönlichkeiten
aufzufaffen und historisch darzustellen. Helmolds und Arnolds „Slavische Chronik" sind so erfüllt von den
Eindrücken dessen, was Heinrich gewollt,
gekonnt und vollbracht, das
historische Urtheil über ihn und seine Gegner ist so merkwürdig reif und
unbefangen, daß wir unS in diesen Büchern wie mit einem Zauberschlag aus einer wüsten Urzeit, die Hulmold noch selbst gekannt, in ein Jahr
hundert überall wirksamer Cultur, in die großen Gegensätze der neuen
Bildung versetzt fühlen, die auf daS Geheiß des großen Welfen so plötzlich hier hereingebrochen waren.
„Und die Macht des Herzogs" schreibt eben
dieser Pfarrer von Bosau, „wuchs über alle, die vor ihm gewesen, er
ward der Fürst aller Landesfürsten.
spenstigen
und brach ihre Festen.
machte Frieden im Lande.
Er trat auf die Nacken der Wider Er vernichtete die Abtrünnigen und
Er baute die stärksten Festen und besaß ein
überreiches.Erbe."
Wir können jenen Geschichtschreibern aus Lübecks Gründungsjahrhun
dert hier nicht nacherzählen, wie Heinrichs des Löwen Schöpfungen die Reaction immer weitrer Kreise, immer mächtigerer Gewalten hervorrief.
Mr uns kommt es darauf an, in welchem Stadium der Entwicklung die
nordelbischen Gauen begriffen waren, als die immer erneuerten Angriff« de« deutschen Episcopats und der Staufer endlich seine Macht unwider ruflich gebrochen hatten.
Von all den Elementen, die er mit seiner Hand gebändigt und ge knickt hatte, war das eine, die Slavischen Stämme rettungslos dem Unter gang anheimgefallen, ein anderes, die nordelbischen BiSthümer eben durch ihn von Anfang an auf ein bescheidenes Maaß der Entwicklung reducirt,
ein drittes dagegen die nordelbische Grafengewalt, die er gleichsam neu
geschaffen, hatte überraschend schnell die früher versäumte Ausbildung nach geholt.
Auf den Grundlagen, die Adolf II. behutsam gelegt,
war Adolf
III., unternehmungsdurstiger und ehrgeiziger als sein besonnener Vater, in den glänzenden Grafenkreis Kaiser Heinrichs VI. als ein ebenbürtiger
eingetreten.
Er hat die Neustadt Hamburg gegründet,
Jahre lang die
Einkünfte Lübecks bezogen, seine Macht im Süden der Elbe auSgedchnt
und durch seine Verbindungen mit der Bremischen Ritterschaft die Erz bischöfe von Bremen in Schach gehalten.
Unter ihm gewinnt der Hof
der Holsteinischen Grafen die Gestalt und Verfassung südelbischer Fiirsten-
hvfe.
Der erste Truchseß desselben erscheint urkundlich 1197, auf seinen
Burgen Plön, Segeberg, Stade und Hamburg eine Burgmannschaft, seine
Dienstmannen
traten
den
alteinheimischen Geschlechtern
und schon deßhalb als ein feindliches Element entgegen.
als
ein neues
Nicht der As-
kanier, dem die Reste des HerzogthumS Sachsen durch kaiserliche Gnade zugefallen, sondern dieser Schauenburger erscheint an der unteren Elbe al
ber Erbe des großen Welfen, und für Nordalbingien eine keineswegs gün
stige Fügung.
Es bedurfte in dem letzten Iah^ehnt des 12. Jahrhun
derts einer ruhigeren und festeren Hand, um die so widerstreitenden Ele
mente deutscher Bildung fest zusammenzufassen, sollten sie an dieser Grenze nicht dem gewaltigen Andrang der dänischen Macht rettungslos erliegen.
Gleichzeitig mit der Herrschaft Heinrichs des Löwen hatte sich auf der
Grundlage der alten VolkSverfaffung das Dänische Königthum zu neuem Leben erhoben; aber wie nah sich diese beiden Neubildungen örtlich und
zeitlich berührten, so verschieden war doch zunächst die Grundrichtung ihrer inneren Bewegung. Heinrich hatte zwischen Elbe und Eider die Elemente einer uralten Verfassung zu regeln, ihren Widerstand zu brechen gesucht, er hatte vor
Allem einen alteinheimischen Adel durch eine Reihe ganz neuer Bildungen
unter seine Leitung gezwungen.
In Dänemark war die alte Aristokratie,
die sich jenen Holsteinischen und Ditmarsischen Etheliugen vergleichen ließ,
Nordalbingische Studie«.
72
in der Periode der großen SeezUge bis auf Knud den Großen vollstän
dig untergegangen; was übrig geblieben, war ein gleichmäßig gebildetes und politisch gleich berechtigtes bäuerliches Volk, ohne den alten kriege
rischen Geist jener gewaltigen Seekönige und ihrer Helden, aber in der
Rechts- und Kriegsverfassung,
wie sie sich nach dem Ausscheiden jenes
Adels gleichsam von selbst gebildet hatte.
Eben diese Berfassung, erlahmt
durch die natürliche Indolenz eines reinen Bauernvolks
steigende Noth der Slavischen Raubzüge
war durch die
und durch die Energie zweier
großer Männer, Waldemars des Königs und AbsalonS des Bischofs, gleich sam vom Todesschlaf erweckt worden.
Es ist ein historisches Schauspiel
von seltener Größe nnd Reinheit, zu sehen, wie unter der Führung jenes
Heldenpaarö die Bauernschaften des Dänischen Archipelagus ihre Wehr verfassung wieder aufnehmen, wie ihre Flotten sich neubilden, vereinigen und dann unwiderstehlich in eben der Zeit die Slavischen Piraten ver
nichten, in welcher die Kolonisten Heinrichs des Löwen den Slavischen
Pflug durch den dentschen verdrängen. Aber diese Dänische Bewegung geht nun gleichsam wie nach einem
Naturgesetz zu ihren weiteren Consequenzen fort: auf der hergestellten KriegS-
und Rechtsordnung bildet sich Königthum und Kirche vcu selbst aus; fehlt eS auch nicht, je weiter die Dinge wachsen, an einzelnen zum Theil hefti
gen Reibungen, im Großen und Ganzen steigt diese neu erweckte Macht wie ein vom Gipfel bis zur Wurzel einfacher und gesunder Baum aus
ihrem heimischen Boden auf.
Von jener Berechnung und Gewaltsamkeit,
mit der Heinrich der Löwe seinen Bau zusammenschob, ist hier keine Spur,
und alö der Sturz des Sächsischen Herzogs auf dem ganzen Gebiet seiner
Macht alle ihre verschiednen Bestandtheile gleichsam haltlos durcheinander warf,
stand diesem ChaoS
geschlossen
fortwachsende
im Norden der Eider
und auf der
die geschlossene und
Macht deS Dänischen Königthums Ostsee gegenüber.
Im Dänischen Reich
entwickelte sich daö Neue fast organisch auS
dem Alten, erwuchsen auS der festen inneren Bildung wie eine unvermeid liche Blüthe die Gedanken einer großen auswärtigen Machtpolitik, auf dem
deutschen Boden dagegen trat der Gegensatz zwischen den alten Einrich
tungen und Gewalten, die Heinrich nicht ganz zu zerstören für gut befun den und den neuen um so schroffer hervor, je weniger die habgierige und
unsichere Hand Adolfs DI. geeignet war, alle diese so widersprechenden Kräfte wirklich zusammenzufassen.
Einige Jahre tastet er unruhig nach
Erfolgen und Haltpuncten hin und her, dann aber lagert sich unwider stehlich die Macht Dänemarks über der ganzen westlichen Ostseeküste.
E»
scheint, als sollte das Haus Waldemars des Großen, an staatsmännischem
Geist dem großen Welfen vollkommen ebenbürtig, wirklich hier der Erbe seiner Schöpfungen werden, während seine eignen Söhne, voll von dem Ehrgeiz ihres Vaters aber seines Geistes baar, im Süden der Elbe den
Brand eines Thronstreits in das deutsche Reich schleuderten.
ES ist so oft und neuerdings mit so eingehender Kenntniß und Kritik dar gestellt worden, wie die Macht Waldemars des Siegers dennoch zusammen brach, daß diese Katastrophe, ihre Ursachen und Folgen jetzt mit seltener
Klarheit vor uns liegt.
Für die Geschichte Schleswig-Holsteins bietet diese
Periode aber nicht allein das Bild einer unerwarteten nationalen Erhe bung,
in ihr entschied sich zugleich die Gestaltung
BUdungen,
aller der politischen
zum 16. Jahrhundert für die Geschichte der
die dann bis
südlichen cimbrischen Halbinsel maaßgebend geblieben sind.
Die Gefangennahme des Dänischen Königs durch den Grafen von Schwerin und daS an der ganzen Ostsee erwachte deutsche Nationalgefühl gegenüber der.DKnischen Herrschaft, alle die anderen äußeren und inneren
Motive der Bewegung treten für unS zurück gegen die Thatsache, daß auf dem Felde von Bornhöveds sich diejenigen specifischen politischen Bildun
gen zu einem gemeinsamen Kampf für ihre Unabhängigkeit vereinigten, die
wir sofort von da an im schroffsten Gegensatz fich Jahrhunderte hindurch
gegenüberstehen sehen. Jene große EntscheiidungSschlacht, an deren Abend die Dänische Herr
schaft unter den deutschen Schwertern znsammenbrach, war,
darf man
sagen, zugleich die erste Schlacht, in der Lübek für seine städtische und Ditmarschen für seine bäuerliche Unabhängigkeit focht und durch die die
eigenthümliche Holsteinische Fürsten- und Landespolitik der Schauenburger Periode begründet ward.
Dieser Sieg war der erste und — wir müssest
hinzufügen — der letzte große Erfolg einer einmüthigen Combination aller
dieser selbständigen Factoren, die eben in den nächst vorhergehenden Mo naten ihre Neubildung vollzogen, sich dann zusammengethan und dieses glänzende Resultat erfochten hatten, um von da an sich nie wieder zu einem gleichen zu vereinigen:
Ebenso merkwürdig ist aber die andere Thatsache, daß trotz der Tren nung und des sofort eintretenden Sondertriebs dieser deutschen Gemein
wesen Dänemark von jener Niederlage an Jahrhunderte lang umsonst ge
rungen hat,
die damals verlorne Stellung
Umfang wiederzugewinnen.
Und gerade,
im größern
oder geringeren
weil dieser Druck von außen
fast nie fehlte, ist es um so wunderbarer, daß hier nie wieder sich eine Bereinigung vollzog, wie sie im Siidwesten Deutschlands im Rheinischen
Städtebund versucht,
in der Eidgenossenschaft und dem
Schwäbischen
Bund« mehr oder minder erfolgreich gewonnen ward, d. h. eine Verbin dung von Fürsten, Städten, Rittern und Bauern im größern oder gerin
geren Umfang. Leider ist das vorhandene Material keineswegs ausreichend, um die inneren Bewegungen klar zu legen, in welchen
vor und während der
Dänischen Herrschaft die Bildungen ansetzten und heranreiften, die nach dem sie bei Bornhöveds mit vereinigter Kraft die Dänischen Bande ge sprengt, sofort als durchaus verschieden an Inhalt und Form sich gegen
über stehen.
Und doch sind die Gegensätze, die sie trennen, so diametral,
daß es auch trotz dieser ungenügenden Ueberlieferung möglich ist, sie in
den
allgemeinen
Umrissen
zu
fixiren.
Heinrich der Löwe hatte den
Schwerpunkt seiner nordelbischen Politik an die OstseMste gelegt. Schon
daraus erklärt es sich, daß dieselbe trotz einzelner großer und energischer Maaßregeln an der Nordseeküste zwischen Elbe und Eider viel geringere
Spuren hinterließ als dort.
Unzweifelhaft war die Grafengewalt hier im
Gaue Ditmarschen in den Händen der Grafen von Stade früher ent
wickelt als in Holstein, denn eben deßhalb war es hier zwischen ihr und
den übrigen Landesgewalten zu gewaltsamem Zusammenstoß gekommen.
Der Herzog richtete sie nach der Ermordung des letzten Grafen von Stade
mit gewaffneter Hand wieder auf, aber trotzdem ist dieser sein Versuch und sind alle späteren, sie herzustellen, erfolglos geblieben.
Auf dieser
von allen Seiten von unwegsamen Niederungen und Marschen umgebenen
Halbinsel — denn das war damals Ditmarschen — gewinnen die Institute
jener uralten Verfassung, denen erst Heinrich der Löwe fest entgegenge treten, während seines Sturzes und in den nächstfolgenden Jahrzehnten
neue Bedeutung.
Es ist als ob die Stürme und Wetter der tieferregten
Zeit hier den alten Trieben neue Kraft gegeben, als ob die Bedrängniffe
der Dänischen Eroberung die Leistungsfähigkeit dieser altgermanischen Ge
schlechter und Gewalten gesteigert hätten. Schon vor der Grafengewalt war, so weit wir sehen, hier das Amt des Landesältesten verschwunden.
DaS Recht des freien Gefolges, hatte
Heinrichs des Löwen Verbot auch hier wie in Holstein vernichtet, dafür
aber und vielleicht eben deshalb ist die Gaugemeinde und ihr Bolkland, ist die Stellung der Ethelinge, auch hier an der Landesgrenze, und vor
Allem ist die Bedeutung der Geschlechter und ihrer Verfassung in voller Mächtigkeit lebendig geblieben.
Sowie erst der Landesälteste, dann der
Graf und endlich der Herzog aus der Gauverfassung verschwand, ward das Recht und die Verfassung der Geschlechter für Adel und Freie der
natürlichste Halt.
Nicht nur, daß das Recht der Blutrache
Pflicht der EideShülfe,
daß die Wehrverfassung
und
die
und der Erbgang
der
Rüstung mit Hengst und Harnisch darnach geordnet, gerade in dieser Zeit wird die Reihe neuer Dörfergründungen, durch welche der Gau erst halb ein Marschland wurde, mit den Kräften oder unter der Form alter oder
neuvereinter Geschlechter vollzogen.
Die Dörfer der jetzt allmälig ein
gedeichten Nordermarsch tragen den Namen von Geschlechtern, die längst bestanden oder geben ihren Namen neuen Geschlechtern: die Deiche dieser neuen Ackerfluren, die Kirchen der neuen Kirchspiele erscheinen als das
Werk der einzelnen Geschlechter.
In dieser uralten Ordnung rangen
diese Bauern dem Meer ein Meilen weites Fruchtland voll unerschöpflicher Erträge ab, während sie unzweifelhaft damals wie später gleichzeitig jen
seits ihrer Deiche mit den Kräften ihrer Geschlechter dem unsicheren aber lockenderen Gewinn des Seeraubs nachgingen. Eine solche ganz selbständige, so wilde und doch so productive innere
Bewegung erklärt es nun, daß die Gesammtheit dieser Kirchspiele, Bauern
schaften und Geschlechter „der Adel und die Landeögemeinde" nach außen hin mit einer wahrhaft erstaunlichen, sollen wir sagen, Haltlosigkeit oder Rücksichtslosigkeit Haltpunkte suchen und wieder aufgeben, Ansprüche an
erkennen oder zurückweisen, bis sie dann endlich zunächst auch ihrer SeitS
der Dänischen Herrschaft verfallen.
In den mehr oder weniger sicheren
Nachrichten über ihren Antheil an dem Sturz derselben tritt uuS zweifel los jene Mischung von egoistischer Berechnung und kühner Entscheidung
entgegen, die seitdem Jahrhunderte hindurch für ihre Politik maaßgebend
geblieben.
Eö steht fest, baß erst am Abend des Schlachttages der Ver
rath des Ditmarsischen Aufgebots den Sieg der Deutschen bei Bornhö-
vede entschied und es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie diesen Verrath
vorher
in
geheimen Verhandlungen
mit dem Erzbischof von
Bremen
pactirt hatten, indem sie sich dafür die Formen garantiren ließen, unter
welchen sie seit jenem Tage die Oberhoheit Bremens als Schutz gegen jede andere Landesherrschaft neben der fast vollständigen inneren Unab
hängigkeit festhielten.
Jener Vertrag und seine Ausführung auf dem Felde von Bornhö
veds haben es möglich gemacht, daß das Land Ditmarfchen sich von dem Einfluß der steigenden nordeuropäischen Cultur und
hunderte frei
machte,
daß auf
dieser Halbinsel
Politik für Jahr
germanische
Institute,
gegen die der CleruS des 5. und 6. Jahrhunderts schon bei Alemannen
und Baiern erfolgreich angekämpft, Blutrache und EideShülfe, sich hier
unter der Oberhoheit des ersten geistlichen Fürsten Norddeutschlands bis zur Reformation ungebrochen erhielten.
Eben die Zähigkeit, mit der sie
festgehalten, mit der die Geschlechterverfassung nicht allein erhalten, son
dern ausgebildet ward, wird die nächsten Jahrhunderte hindurch wieder-
helentlich als der Grund dafür bezeichnet, daß sich zwischen diesem Ge meinwesen und den benachbarten ein wirklich geordnetes und zuverlässiges Verhältniß nicht bilden könne.
Allerdings hat sich hier wie auch sonst im
Norden und Süden Deutschlands neben der bäuerlichen Landeögemeinde
ein Rath gebildet, allerdings ist etwa ein Bierteljahrhundert nach der Schlacht von Bornhövede, Meldorf, das älteste Kirchdorf deS Landes mit
Stadtrecht begabt worden, allerdings erscheint später der „Marktfriede" als der höchste Friede deS Landrechts, aber jeder Blick in die Geschichte zeigt, daß auf diesem Boden daS Landrecht das Stadtrecht eben so wenig zur Entwickelung, zu einem nachhaltigen Einfluß kommen ließ, wie das
Recht der Geschlechter die centralen Landesgewalten.
Eben wegen der
Allgewalt der Geschlechter konnten die „Rathgeber" daS ganze 13. und
14. Jahrhundert hindurch zu keiner festen Autorität und in Folge desien zu keinem festen Verhältniß zu den benachbarten Mächten gelangen. Man braucht das
trotzige
und
vollkommen
einflußlose Gemeinwesen
dieser
„stolten Ditmerschen“ und seine permanenten inneren Fehden nur mit der fast parallelen Geschichte deS
„Landes Uri" zusammenzuhalten,
um
das eigenthümlich Trostlose der Erscheinung zu erfassen. Freilich aber lebt dafür hier zwischen den Grenzfehden der Festland
enge und den Piratenzügen der Seeküste, in diesen zum Theil reich
und
wolbestellten Bauerschaften eine uralte ungebrochene Bolksitte, durch welche
das HauS in feiner altheimischen Organisation, die Gemeinde in Marsch und Geest, die Versammlungen und „Gelage" der BlutS-,
OrtS- und
RechtSgenoffenschaften für den Landesangehörigen auch deS kleinsten und schwächsten Geschlechts Etwas waren und blieben, dessen gleichen wirklich auch damals nirgend mehr zu finden war.
Wie die Ditmarscher seit mehr alS einem halben Jahrhundert vor
der Bornhöveder Schlacht sich den fremden Einflüffen widersetzt, wie sie dann in dem Vertrag mit dem Erzbischof von Bremen dieselben für
immer abschnitten, so war die Selbständigkeit Lübecks durch den Gang der großen Verhältnisse in denselben fünfzig oder sechözig Jahren gegrün det und herangewachsen: als Stadt deS Herzogs, dann des Kaisers außer
halb deS Einflusses der sie umgrenzenden Gewalten, dann auch unter den
dänischen Königen ausdrücklich im Genuß der bis dahin gewonnenen Rechte anerkannt, hatte sie vor der Schlacht von Bornhövede eine ausdrückliche Be
stätigung ihrer Reichsfreiheit vom Kaiser Friedrich II. zu erwerben gewußt. Der Gegensatz zwischen diesen Anfängen der Reichstadt Lübeck und
jenen deS unabhängigen Bauernstaats Ditmarschen siegt nicht nur in der
Differenz städtischen und bäuerlichen Lebens, er ist zugleich der einer von
Anfang rationellen Gründung mit möglichst einfachen und fest organisirten Mitteln für ganz klare und bestimmte Zwecke und einer unendlich alten Bildung,
die gleichsam unbewußt,
nur um
ihre tägliche
Existenz zu
sichern, bald dieses bald jenes ihoer verschiedenen Organe weiterentwickelt. Einmal ist, wie neuerdings hervivrgehoben ward, schon das
Gebiet der
Travestadt so knapp bemessen, daß zur Ausbildung einer grundbesttzenden Aristokratie gar kein Boden vorhanden
war.
Eine zweite mit Recht
hervorgehobene Eigenthümlichkeit isst, daß in dieser so rasch aufblühenden
Stadt gerade in dem Jahrhundert ihrer ersten Blüthe keine Spur exclusiv herrschender Geschlechter, ja überhaupt so gut wie Nichts von jenen reli
giösen oder bürgerlichen Genossensahaften begegnet, die im Innern Deutsch lands fast überall die deutlichen »der undeutlichen Ausgangspunkte städti
scher Verfaffung bilden. Der Markt an der TkÜVk linfc sein eingewanderter, meist Westfälischer Kaufmann erscheint von Anfang rnur auf das Geschäft seines so wunder bar günstig gelegenen Platzes und auf Nichts anders feine Aufmerksamkeit gerichtet zu haben.
In den Binnienlandstädten beginnt zumeist dann erst
die städtische Verwaltung und Ulnabhängigkeit, nachdem ein erheblicher
Theil der Bevölkerung „sich, wie
die Urkunden sagen, auf dem Markte
des WaarenumsatzeS befleißigt",
hier gab eS offenbar von Anfang an
kaum eine andere als eben eine
solche Bevölkerung.
Auf den Westfä
lischen Märkten hatte der „GotteSsfriede" von Soest den Verkehr mit den
anderen Jntereffen einer alten baiuerlichen und hofrechtlichen Bevölkerung
inS Gleichgewicht setzen müssen, hiier auf diesem rein kaufmännischen Boden hatte er kein altes Bauernrecht zm überwinden.
Bildete nur die grund-
angesessene Bürgerschaft oder die Wersammlung der Gemeinde, die dreimal
jährlich im Echteding zusammentrmt, und war die Zahl dieser Grundbesitzer im ersten Jahrhundert der Stadlt eine beschränkte, so waren eben diese verhältnißmäßig großen Grundbestitzer, deren Eigen innerhalb der Stadt mauern lag, zugleich wesentlich mn dem Handelsgeschäft betheiligt. Ehe
sie sich hier niederließen, müssen micht wenige von ihnen schon seit Jahren
auf den Märkten zu WiSbh und
Nowgorod heimisch gewesen und dort
unter dem Frieden deS deutschen /Kaufmanns ihre gewagten aber gewinn bringenden Geschäfte getrieben hcaben.
Herzog Heinrich, der gleichzeitig
von dem deutschen und einheimischen Kaufmann auf Gothland als Frie
densvermittler angerufen war, tonnte unzweifelhaft die geschäftliche Be deutung und den sicher rechnendem Tact dieser SchleSwig-Gothland- und
Rußlandfahrer, als er ihnen nicht allein ihr Recht zn WiSbh regelte,
sondern durch die Gründung seimeS TravemarktS den weiten Weg vom
7g
Nordalbingische Studien.
SSchfischen Binnenland für viele von Strecke bis an die Ostsee kürzte.
ihnen auf immer um die lange
Er wußte, daß der Deutsche Kaufmann
nirgend« eindringlicher als dort in der fernen Fremde gelernt hatte, daß
das Interesse des
Deutschen
Geschäfts auf der
eigenen und unabhängigen Rechts beruhe.
Voraussetzung
eines
Erst unter dieser unabweis-
lichen Annahme gewinnt der Umstand eine besondere Bedeutung, daß er
den Rath seiner neuen Stadt nur auS solchen erbgesesienen Bürgern zu
sammensetzte, die kein Handwerk trieben und fteigeboren waren, d. h. auS
der offenbar nicht großen Zahl von Freien, die sich, eben weil sie voll kommen unabhängig, an diesem Verkehr mit dem größten Nachdruck und Erfolg betheiligten.
Der gelehrteste und feinste Kenner dieses alten Ostseehandelö schil
dert ihn in folgenden Worten: ES gab damals nur Properhandel.
Den
CommissionS- und Speditionshandel, die jenem eigentlichen Handel dienen,
kannte man damals nicht.
und doch viel gehandelt.
ES ward daher unendlich wenig geschrieben
Der Umsatz konnte allerdings nicht so bedeutend
wie heute sein, dagegen war der Gewinn bei dem einzelnen Geschäft weit
bedeutender und bei den geringen Preisschwankungen sicherer.
Und der
Kaufmann verdiente eS auch zu verdienen, denn die Reisen der damaligen Kaufleute, die sie meistens zu bestimmten Zeiten nach den verschiedenen
Märkten in zahlreicher Gesellschaft unternahmen, waren gleichsam bewaff nete Kriegszüge.
Hier stählte sich der Mann in Ungemach und Gefahr,
hier bildeten sich in kleinem Krieg die Helden, die später als Bürger meister die OrlogSflotten zum Siege führten." ES ist in dieser Schilderung die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts
vor Allem ins Auge gefaßt.
Damals vollzog sich doch allmälig die Schei
dung zwischen Patricier und Kaufmann, die seit dem Ende des 14. Jahrh,
eine anerkannte Thatsache war.
Vor dem Tage von Bornhöved« und
ehe die erste Lübsche OrlogSflotte zum Sieg geführt wurde, haben wir uns
die Vertreter und Regenten der jungen Colonie wie jene Kauflente zu
denken, die in den Isländischen Sagas des 11. Jahrhunderts mit Schild
und Schwert vom Strande her auf den Markt reiten. Ostsee Jahrhunderte hindurch das
War auf der
Doppelgefchäft von Kaufmann und
Pirat ebenso einträglich und ebenso gesucht gewesen wie zur Zeit Homers in den Griechischen Gewässern, hatte erst da- Aussterben der Dänischen
Aristokratie und dann die Neuschöpfung einer Dänischen Bauernflotte den Seefrieden hergestellt, so ward der Deutsche Binnenlandskaufmann, der hisher diese Straßen befahren, in wenig Jahren a«S einem verwegenen
Abentheurer zu einem bewußten Träger und Vertreter großer und segens
reicher Interessen.
Das Soester Recht in seinen Bestimmungen gegen Bigamie und mit seiner Forderung, in der Fremde Händel unter Bürgern nur durch Bür
ger entscheiden zu lassen, zeigt deutlich, wo die sittlichen Gefahren dieser
fernen Handelsreisen lagen.
Es war ein großer nationaler Fortschritt,
als der deutsche Kaufmann für sich und sein Recht die deutsche Gemeinde
zu Wisbh schuf, ein noch größerer, als ein Rath freier Kaufleute an die
Spitze der Stadt Lübeck trat, ein dritter, als diese Stadt durch Friedrich I. nach dem Sturz Heinrichs des Löwen zum ersten Mal an das Reich kam.
Wir kennen keines der Rathsmitglieder jener Zeit und dürfen doch
behaupten, daß in ihnen die großen Interessen, die sie zu vertreten be rufen waren, mit seltener Umsicht und Energie festgehalten wurden.
Das
Verhältniß der Stadt zu Heinrich dem Löwen, die ehrende Anerkennung,
mit der Waldemar II. sie behandelt, der sichere Tact, mit der sie in die große Bewegung gegen Dänemark eiugreift und die mächtige Stellung, in
welcher sie nach derselben erscheint, sind nicht die einzigen Zeugnisse dafür. In derselben Zeit, wo die Reichsstadt Lübeck zu einer solchen Macht
emporwuchs, hatte das bischöfliche Cöln in dem Thronstreit zwischen Welfen
und Staufen mit der Kühnheit und Selbständigkeit einer dominirenden
Republik etngegriffen und dem Kampf gegen die gesammte Staufische Macht fast allein gekämpft. Mächtiger nach diesem gewaltigen Ringen als je zuvor nimmt eS auf dem alten Hauptplatz feines überseeischen Verkehrs, in England
für sich allein, jetzt mit immer größerem Nachdruck das Recht des deutschen Kaufmann« als die exclusiv führende Gemeinde in Anspruch, der deutsche
Kaufmann verschwindet hinter dem Cölnischen: im endschiedenen Gegensatz erscheint dagegm gerade hier und gerade jetzt Lübeck als Vertreter nicht
nur seiner, sondern der allgemeinen Jntereffen.
Wir erkennen, was für
den Rath von Lübeck seit seinem Ursprung dieser Begriff „des gemeinen Kaufmanns" bedeutete, wie er, hierin von seinem Ursprung an Wisbh
eng verwandt, von Anfang an die Gesammtvertretung des deutschen See verkehrs als feine Aufgabe betrachtete.
Gerade da Cöln diesen alten Titel seiner Macht fallen ließ,
nimmt
Lübeck ihn mit um so größerer Energie auf, als hätten seine Staatsmänner
vorausgesehn, daß sie in diesem Zeichen unüberwindlich sein würden.
Und in der That ist diese Handelspolitik auf der Grundlage einer
nationalen Vertretung, nicht in der Hand einer fürstlichen Landesgewalt
sondern in der einer kleinen, jedenfalls jungen Stadtgemeinde ebenso einzig, wie die Zähigkeit und der Erfolg, womit sie unzweifelhaft von Anfang an
Jahrhunderte hindurch festgehalten und ausgebildet wurde. Liegt der Ursprung der Hansa jetzt historisch gerade in dieser Rich tung immer deutlicher vor uns, so wird damit auch immer klarer, daß
der Rath von Lübeck in der Vertretung des gemeinen Kaufmanns das
Element fand, das die Politik und die innere Verwaltung dieser meist
Westfälischen
freien Kaufleute in
den Gefahren einer geschwinden Zeit
und eines reißend wachsenden BerkehrsgebietS mit der Umsicht und Ent
schlossenheit geborner Staatsmänner stählte. Als politische Bildung erscheint nach dem Gesagten die Stadt Lübeck ebenso eigenthümlich als das Land Ditmarschen, für beide würde es schwer sein, im ganzen Bereich der mittelalterlichen Geschichte eine Analogie zu
finden.
Aber beide Gemeinwesen selbst stehen vor allem unter sich in dem
denkbar schroffsten Gegensatz. In Ditmarschen die Reste einer uralten Verfassung, altgermanische
Sitten einer durch und durch ländlichen Bevölkerung auf der beständigen Defensive gegen das Andringen neuer Gewalten, zurückgedrängt in die engen
Grenzen eines kleinen Gebiets, eine Welt für sich, voll von dem stolzen Gefühl einer rein persönlichen Ungebundenheit, ohne jeden nachhaltigen Einfluß nach außen und ebenso ohne das Bedürfniß eines solchen. In Lübeck eine junge Germanische Gemeinde, die erste städtische auf
undeutschen Boden, eine Marktstadt fast ohne Gebiet, aber von Anfang an gegründet als ein Knotenpunct weitreichender Beziehungen und deshalb mit dem Bedürfniß einer festen und klaren Ordnung im Innern, allseitiger
Anerkennung nach außen. Dort die eigentlich unüberwindliche Gewalt das einzelne unabhängige
Geschlecht in seiner altgermanischen Verfassung und Ehre, hier der innerste LebenStrieb die allgemeine Vertretung derjenigen allgemeinen nationalen
Interessen, ohne deren Gedeihen diese Gemeinde eben nicht leben und gedeihen könnte.
Die Parallele erklärt sehr einfach, weßhalb in Ditmarschen der Rath
des Landes trotz aller urkundlichen Erwähnung Jahrhunderte hindurch wie unfaßbar hin und her schwankt, und weshalb in Lübeck der Rath eben
diese Jahrhunderte hindurch der unerschütterliche und einzige Träger der gesammten Regierungsgewalt bleibt. Sie erklärt aber auch weiter, warum in der Bauernrepublik der
Reichthum kommunaler Bildungen, ihr Ringen uud Drängen gegen einander nie stillsteht, warum dagegen gerade diese Stadtgemeinde sich vielleicht vor
allen ebenbürtigen durch die Gleichmäßigkeit, um nicht zu sagen durch den Mangel solcher Bildungen auözeichnet.
Wenn in den Bewegungen am Anfang des 15. Jahrhunderts von
Seiten des Lübeckfchen Raths mit dem größten Nachdruck urgirt ward,
daß auf seinem unbedingten Ansehn
und
seiner
ungebrochenen Gewalt
allein die einflußreiche Stellung der Stadt nach außen «nd dadurch ihre
Existenz beruhe, so darf man anderer Seits diese vollständig richtige Be
hauptung dahin umkehren, daß der Rath für Lübeck von Anfang an so viel bedeutete, weil er von seiner Geburtsstnnde an sich in so weiten und großen Verhältnissen bewegte, daß eine Concentration des Regiments in Einer allein maaßgebenden Behörde unumgänglich war.
Für die Geschichte Holsteins und seiner Verfassung ist es von dem größten Einfluß gewesen, daß es seit der Wiederaufrichtung der Grafen
gewalt der Schauenburger durch Adolf IV. die beiden Republiken, die wir
eben geschildert, unmittelbar sich zur Seite hatte. Der Kampf der Grafengewalt mit den übrigen Landesgewalten, wie
ihn Adolf III. geführt, war zunächst in den Dänisch'Deutschen Krieg mit aufgegangen.
Eine mächtige Partei des alten Landesadels war vor dem
Grafen an den dänischen Hof entwichen und im Dienste der dänischen
Eroberung ins Land zurückgekehrt.
Ein holsteinischer Etheling war vom
dänischen König als Graf über Ditmarschen gesetzt worden. Aber die Drangsale der dänischen Herrschaft hatten
darauf
die
Schauenburger mit ihrem Landesadel zunächst zu gemeinsamem Handeln vereinigt.
Die Stiftungsurkunde des Klosters Preetz, die Adolf IV. „auf
gemeiner Heerfahrt aller Holsten" am 29. September 1226 vor Rends
burg ausstellte, zeigt uns um ihn eine ganze Reihe edler Geschlechter, unter welchen die Tralows schon früher erwähnt werden, die Ranzau und Qua
len von den jetzt lebenden damals zuerst urkundlich in die Geschichte ein treten.
Der Gegensatz zwischen der alten und neuen Adelsverfassung,
zwischen dem Dienstrecht und seinen Aemtern einer, und dem Rechte der
Ethelinge und des Landesältesten auf der andern Seite scheint in eigen
thümlicher Weise ausgeglichen.
Wir finden wiederholentlich das Amt des
Truchseßen und des Landesältesten oder „Overboden" wechselnd in der Hand derselben Männer.
Man kann nicht sagen, daß die Stellung der
großen alten Geschlechter gebrochen ist, aber sie ist doch um ein Wesent
liches verschoben. Bis zum Anfang des nächsten Jahrhunderts erscheinen sie in ihren
alten Sitzen an der früheren Slavengrenze und eben so lange ist die stän dische Scheidung zwischen Adel und Bauern, oder nach der Sprache der
Lübschen Chroniken, zwischen „Hovemann" und „Husmann" noch nicht vollzogen, wie im übrigen Deutschland schon längst.
Beide Stände bilden
um so mehr zusammen und als eine fast gleiche Masse das Landesaufgebot,
weil und so lange die Rüstung des Bauern hier wie in Ditmarschen eine ritterliche ist, zu der das „beste Pferd" so gut wie der Harnisch, das Schwert Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hefti.
6
Norbalbingische Studie«.
82 und der Feldkessel gehört.
Sie suchen zusammen das KirchspielSgericht, ja
bei den ersten und frühsten Landestheilungen wird die „Mannschaft" so wie
die übrige Bevölkerung mit getheilt. Auf den colonisirten Gebieten wird der Bauer der Stör- und Elb
marschen ebenso wie der der alten Gaue zur Landwehr aufgeboten.
In
Wagrien erfolgt allerdings die Uebertragung der Lehengüter mit dem Recht,
Bauern an und abzusetzen, ja das Recht des „HofslagS" giebt hier dem Herrn das Recht, immer von Neuem die verliehenen Hufen zu messen und
darnach die Leistungen zu steigern, der Unterschied zwischen Hofland und
Bauernland gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung, aber dennoch-be stand
auch hier
noch ein Gleichgewicht der Stände.
Bis in das 14.
Jahrhundert geht nicht allein Bauernland in Hofland, sondern ebensowol Hofland in die Hände der angränzenden Bauern über.
Der alte Zu
sammenhang zwischen Adel und Bauern ist eben noch nicht gebrochen und trotz der Ausbildung der Grafengewalt sind die neuen Formen derselben
in Amt und Lehen mehr an die der alten Verfassung angewachsen, als daß sie dieselben gesprengt und mattgelegt hätten.
Noch bestand hier wie in Ditmarschen ein Volkland und eine Landes
versammlung, die nicht allein hierüber, sondern über die LandeSmünze und andere Landessachen beschloß.
Für die Politik der Grafen und man darf sagen, für die weitere LandeSgeschichte war eS bei dieser Sachlage von unzweifelhafter Bedeu
tung, daß gerade jetzt die innere Entwicklung Dänemarks dort zu ganz ähnlichen Zuständen führte.
Dahlmann hat in einigen ganz meisterhaften Abschnitten seiner dä
nischen Geschichte eingehend dargelegt, wie aus dem Boden der Waldemarischen durch und durch bäuerlichen Kriegsverfassung sich früh ein neuer
bevorzugter ritterlicher Kriegerstand ausbildete, der in derselben Periode
langsam über den Bauer und dessen Recht hinauswuchs, in welcher der
Holsteinische Etheling sich noch nicht, wie wir sahen, von der Banerngemeinde vollständig getrennt hatte.
Der Dänische „Heermann" saß ebenso
wie der Holsteinische „Hofmann" zum Theil mitten zwischen den bäuer
lichen Hufen deS Dorfs auf seiner bescheidnen Hofstelle, die in Holstein ein ebenso bescheidner „Bergfried" allein von der des Nachbars unterschied.
Ja wie im Süden der Eider noch immer einzelne große Geschlechter
wiederholt den Grafen mit den Waffen entgegentraten, so waren in Dä nemark schon seit den Zeiten WaldemarS I. einzelne Häuser durch ihre langjährige Verbindung mit dem königlichen Geschlecht zu
einer
neuen
Aristokratie herangewachsen. PSie verschieden also auch die AuSgangSpuncte, nach dieser Seite hin
befanden sich die Holsteinische und die Dänische Verfassung damals we
sentlich in demselben Entwicklungsstadium.
Die Lage der Schauenburgischen
Grafen und der Waldemarischen Könige war jener Aristokratie gegenüber auffallend gleich.
Der so alte Holsteinische und der so junge Dänische Adel waren deß halb für bie fürstliche Gewalt so schwer zu bewältigen, weil sie beide mit
der großen Masie der Freien noch in der unmittelbarsten Verbindung standen.
Zu dieser Gleichmäßigkeit der Verhältnisse hier und dort kam noch ein Andere- hinzu.
Wie nach einem politischen Naturgesetz regte sich bei
allen Fürstenhäusern des Occidents damals das Gefühl, daß es für die Erhaltung ihrer Gewalten neuer Mittel und Einkünfte bedürfte und daß
dieselben am sichersten durch die Gründung oder die Ausbeutung städtischer
Communen gewonnen würden.
War das Französische Königthum Philipp
Augusts und Louis IX. ganz auf einer solchen Grundlage gegründet und
suchte damals jeder Deutsche Landesherr voin Herzog bis zum freien Herrn
hinunter seiner Kammer durch Städtegründungen aufzuhelfen, ward dann diese Politik von den Slavischen Fürsten mit immer größerem Eifer all
gemein nachgeahmt, so war unzweifelhaft sowol für das Dänische König thum wie für Adolf IV. die Stunde gekommen, in größerer Ausdehnung als bisher sich derartige Mittel zu eröffnen, um ihrem Regiment den un
entbehrlichen größeren Nachdruck zu verleihen.
Nsrgend aber trat solchen fürstlichen Absichten ein so eigenthümlicheund gewaltiges Hemmniß entgegen, wie gerade hier dadurch, daß durch die
Gründung erst Wisbys, dann Lübecks der Gesammtverkehr dieser Lande, des Festlands wie der Inseln zwei vollkommen unabhängige Mittelpuncte
gewonnen hatte. ES war nur eine natürliche Folge jenes fürstlichen Erhaltungstriebes,
daß kein Jahrzehnt nach der Schlacht von Bornhöveds die beiden Gegner Waldemar II. und Adolf IV. sich zu einem Unternehmen gegen die Trave-
stadt vereinigten; daß eS vollständig mißlang, ist für die Geschichte NordEuropaS eine folgenschwere Entscheidung gewesen.
Wie eS gemeint war,
zeigt die Thatsache, daß Adolf IV. in den nächstfolgenden Jahren vier Städte mit Lübschem Recht gründete, deren einer er ausdrücklich für den
Fall eines Krieges mit Lübeck die Freiheit gab, in streitigen Rechtsachen
in Hamburg ihr Recht zu suchen.
Die Ueberzeugung von der Ueberlegenheit der Lübschen Rechts- und Gemeindeverfassung stellte ihn vor die Alternative, entweder dessen mer kantile Bedeutung mit Gewalt zu brechen, oder durch die Gründung gleich
begabter Plätze, diesem Alles an sich ziehenden Centrum, so viel an ihm
war, die Zuflüsse abzudämmen.
Notbalbingische Studien.
84
Die Lübecker Ueberlieferung hat jenen Dänisch-Holsteinischen Angriff
und sein Mißlingen ebenso sagenhaft verherrlicht wie die Erhebung gegen
Dänemark zehn Jahre früher.
Und in der That steht die siegreiche Ge
meinde seitdem gleichsam , stnrmfrei Jahrhunderte hindurch der Politik aller benachbarten
Fürsten
gegenüber.
Die Holsteinischen Städtegründungen
jener Jahre, Oldenburg, Plön und die „Holstenstadt tom Kyle" haben
durch ihre armselige Entwicklung den Beweis geliefert, daß mit dem Markt an Trave und Wakenitz die Holsteinischen Grafen eine städtische Pflanz
stätte weggegeben hatten, der sich für den damaligen Ostseeverkehr eben absolut keine andere vergleichen ließ.
Waldemar II. arbeitete in den Jahren, die jenem Angriff ans Lübeck folgten, bis zu seinem Tode rastlos an der Ordnung und Herstellung der
königlichen Einkünfte und der Vervollständigung und Fixirung der RechtSverfaflung.
Sein Erdbuch und
das Rechtsbuch für Jütland sind die
Resultate dieser Anstrengungen, die Macht Dänemarks mit den erreich
baren Mitteln von Neuem zusammenzufassen. Mit seinem Tode am 28. März 1241 begann für die Geschichte der Fürsten- und Adelsgewalt in dem weiten Umkreis deö Lübschen Verkehrs
diejenige Entwicklung, die durch den Gang der Ereignisse und namentlich durch jene letzten Entscheidungen unaufhaltsam vorbereitet war.
Berlin, Angnst 1874.
Nitzsch.
Zaunkönig und Spielmannskönig. Gustav Freytag, die Ahnen: II. Das Nest der Zaunkönige (1873). III. Die Brüder vom Deutschen Hause (1874). Leider ist es mir nicht möglich gjewesen meinen Borsatz auszuführen und
jeden Band von Freytags „Ahnen" beimr Erscheinen mit einem historisch-litterari
schen Commentar zu empfangen, wie iich's bei dem ersten versucht. dem zweiten und dritten nur flüchtige Bemerkungen widmen.
Ich kann
Und so entgeht
mir das große Vergnügen, an eine Diichtung der Gegenwart, deren Fortsetzun gen von Jedermann mit Spannung erwiartet und begierig gelesen werden, allerlei
wissenschaftliche Ansichten, Meinungen, vielleicht auch Träume, zu knüpfen, die mir am Herzen liegen, über die ich geirn discvtire, und denen durch Freytags
Verdienst jetzt ein höheres Interesse enttgegengebracht wird als sonst. Der erste Band der „Ahnen" umsschloß zwei Geschichten: in den Bewegungen der Bölkerwaudercung; Christenthum seine Wohnung ausschlug
„Jngraban"
„Ingo" spielte
zeigte uns wie daS
in den thüringischen Waldbergen.
Jin „Nest der Zaunkönige" tritt mns die Herrschaft der Kirche schon recht
ausgebreitet entgegen, aber noch ist deer Kaiser der Herr, dem es Vergnügen
macht Kloster und Bischof sich streiten .zu sehen, und beide um ihre Beute zu betrügen.
In der vierten Geschichte, die ebem erscheint, ist es leider offenbar, daß der
Papst mit seinen Bettelmönchen mehr iim deutschen Reiche vermag als der Kaiser, und nur „die Brüder vom deutschen
Hause", welche den Titel deS BucheS
liefern, erschließen den Blick auf eine meue Macht, die über den alten Vater in
Rom hinauswächst.
In der dritten Erzählung sehen uvir den Kaiser walten als starken Herrn
in seinem Hause, wir sehen ihn die Empörung dämpfen und als Richter den gebrochenen Frieden rächen. an die Landesherren ab.
In der wierten gibt der Kaiser sein Gerichtsrecht
Dort sind uvir mitten drin in der deutschen Kaiser
zeit, hier stehen wir an der Schwelle der territorialen Hoheit.
König Heinrich der Zweite, der wirkliche König, der über die Zaunkönige
Gericht hält, ist die Lieblingsgestalt des Dichters innerhalb jener Geschichte. Er ist der richtige Durchschnittsmensch, wie ihn der eulturhistorische Roman
braucht. den.
Er hat viel von der Klosterbildung eingesogen. Er weiß wohl zu re
Er ist kirchlich und weltlich in
seltsamer Mischung, und den AuSschlag
zwischen diesen beiden Mächten gibt der augenblickliche Vortheil.
Freytag hat
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Zaunkönig und SpielmannSköuig.
ihn reich mit kleinen charakterisirenden Zügen ausgestattet,
deren historische
Richtigkeit zum Theil bestreitbar ist: die Abneigung gegen die Spielleute scheint
von seinem Nachfolger, Heinrich dem Dritten, auf ihn übertragen.
Aber nur
um so reicher, um so lebendiger stellt er sich dar, ein ganz begreiflicher Mensch
und doch ganz der Sohn seiner Zeit. Als historische Begebenheit steht im Mittelpunct die Empörung Heinrichs von Babenberg, des Markgrafen im Nordgau, welche König Heinrich im Jahre 1003
bezwang, wovon der Geschichtsschreiber Thietmar (5, 21) erzählt.
Der Raub
des königlichen Schatzes, die Belagerung und Einnahme von Creußen, der
Ueberfall des Entsatzheers, die Gefangennahme des Grafen Ernst, das alles ist
historisch, und dem Helden der Geschichte, dem Thüring Immo, dem Abkömm ling Ingos und Jngrabans, wird ein wesentliches Verdienst an den Thaten des Königs zugemessen, dem er lieb ist.
In der belagerten Stadt befindet sich
seine Geliebte und sie ist die Tochter eines Feindes.
Dem erweist er sich ge
fällig und erregt den Zorn deö Königs, und der Raub dieser Braut macht ihn zum Friedensbrecher.
Die Mutter des Helden Immo aber, selbst eine Heldin aus sächsischem
Stamme, schützt die künftige Schwiegertochter und will aus der Burg ihres Hauses nicht weichen: den beiden geistlichen Herren, die sie zur Nachgiebigkeit
mahnen, erklärt sie, die Burg selbst gegen den König zu vertheidigen, in der Capelle wolle sie ausharren und den Tod erwarten. historisches Motiv benutzt.
Auch hier
scheint ein
Auch der geschichtliche König Heinrich sendet zwei
Geistliche ab, um die Burg eines Gegners zu zerstören, Schweinfurt, welches dem Markgrafen Heinrich gehört und von dessen Mutter geschützt wird:
sie
eilt voll Entsetzen in die Kirche und schwört, wenn dieselbe angezündet würde, lieber mit derselben in den Flammen umzukommen, als sie lebend zu verlassen. In beiden Fällen kommt die Zerstörung nicht ganz zum Vollzug.
Held Immo ist als ein Gegenbild des Königs gedacht.
Sein Gut trägt
er von der Sonne zu Lehen; er ist ein Freier in einer unfreien Zeit; auf seinem kleinen Gute selbst ein König, setzt er dem Umsichgreifen des Feudalis
mus für sich und sein Geschlecht den zähesten Widerstand entgegen.
Dieser
stolz bewahrten Freiheit dankt das Geschlecht den Spitznamen der Zaunkönige. Denn wir befinden uns in einer Epoche, in der humoristische Dichtung überhaupt
und speciell die Thierdichtung blüht, vielfältige Wendungen im Munde der re denden Personen erinnern uns daran.
Aber Immo, der streitbare Kämpfer, hat auch die Klosterbildung genossen wie der König. Er ist ein entlaufener Klosterschüler, das Motiv erinnert sofort
an ein bekanntes Gedicht des zehnten Jahrhunderts, die „Entweichung eines Gefangenen" (Ecbasis cuiusdam captivi).
Unter den frommen Vätern des
Klosters Hersfeld lernen wir ihn kennen. Zwei liebenswürdige Mönche, Bertram und Sintram, haben ihn ins Herz geschlossen und geben ihm drei Räthe mit
auf seinen Lebensweg: was er befolgt schlägt ihm zum Heil aus, waS er nicht
befolgt bringt ihm Gefahr und Leid.
Ganz wie dem Helden Rudlieb in einem
andern Gedichte der Zeit eine Anzahl Rathschläge zu Theil werden, die er zu befolgen oder zu verletzen im Verfolg seiner Geschichte Gelegenheit bekommt.
Wie das Kloster geschildert wird, wie uns die Kirchenfürsten der Zeit in
anschaulichen Typen entgegentreten, das möchte ich gern des näheren darlegen,
und Scheffels „Ekkehard" forderte zu lehrreicher Vergleichung auf. Aber betrachten wir nun den neuesten Band, mit welchem Freytag uns zu Weihnachten dieses Jahres beschenkte.
Aus dem elften Jahrhundert sind wir ins dreizehnte versetzt.
Der Held
ist Ivo von Ingersleben, auch er ist freier als die Standesgenossen, er hat sich
der Landeshoheit nicht unterworfen; auch er wird ein König genannt, aber ein
König der Spielleute, er ist Minnesänger, der einer hochadeligen Herrin dient, mit Mühe dem Dolche ihres eifersüchtigen Gemahls entgeht und schließlich eine
Bauerntochter heimführt.
Auch er ist wohlgelitten in der Nähe eines Kaisers,
Friedrichs des Zweiten, dessen Kreuzzug er mitmacht.
Herzog Ludwig von Baiern, der frühere Pfleger des kaiserlichen Sohnes, König Heinrichs des Siebenten, dann aber dem Kaiser abgewandt und untreu,
wurde am 16. September 1231 auf der Kehlheimer Brücke von einem Unbe kannten ermordet.
Man glaubte, daß die That auf Geheiß deS Kaisers ge
schehen sei, durch einen Sarraeenen, einen Abgesandten des Alten vom Berge, des Hauptes der Assassinen. Freylag nimmt an, daß es sich wirklich so verhalten habe.
Aber den
Herzog Ludwig, eine historisch zu helle Persönlichkeit, kann er nicht brauchen. Er verwandelt ihn in einen Humbert von Meran und macht diesen zum Ge nossen Heinrichs des Siebenten, der schon auf Empörung gegen den Vater
sinnt. Er macht ihn ferner zu dem Gemahl jener Herrin, Frau Hedwig, welcher Ivo sein Herz und seine Lieder weiht.
Humbert selbst hat im Orient auf dem
Kreuzzuge, in der Vermummung eines Kurden, den Nebenbuhler überfallen und
ihn scheinbar todt zurückgelaffen; so finden ihn die Affassinen die er sich durch ritterlichen Edelmuth verpflichtet hat; und erst spät gelingt es einem treuen Dienstmann, ihn aus ihrem Lande wegzuholen.
Für jene That wird Humbert
durch ben doppelt erzürnten Kaiser bestraft.
Die Grafen von Andechs und Meran sind nicht unbekannt in der Ge
schichte der altdeutschen Dichtung, deren Aufblühen sie begünstigten. Die Mutter der heiligen Elisaberh von Thüringen stammt aus dieser Familie, und so finden wir denn in der That jene Hedwig als Verwandte am thüringischen Hofe.
Und ganz eigenthümlich schalkhaft weiß Freytag auch die Heilige entfernt in
jene Liebesintrigue hineinzuziehen.
Einige Schwierigkeiten, welche sich Freylag bei seinem großen Plane ent gegenstellen, kann — dünkt mich — auch der Laie ermessen, der, wie ich, zu nächst nur dankbarer Leser sein will. Wie sich-Freytag die Geschichten unter einander verbunden denkt, daS tritt
nun nach und nach schon hervor.
Das Gedächtniß der Ahnen lebt als Sage
fort unter den späten Enkeln und der Leser fieht diese Sagen entstehen.
Die
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Zaunkönig und Spielmannsköuig.
Bauern von Frimar und die Herren von Ingersleben, die wir schon in der ersten Erzählung verbunden fanden und deren Verbindung im Volksliede fort
lebt, sind in dem Paare vereinigt, welchem das künftige Geschlecht entstammen wird.
Ivo zieht mit seiner Friderun (der Name als solcher, der eine berühmte
Dorfschönheit schmückt, ist aus Neidhart von Reuenthal wohlbekannt) nach Thorn
unter dem Schutze des Deutschen Ordens. Eine große Gefahr bei solchen an einander gereihten Erzählungen ist die
Wiederholung der Motive und Situationen, ja der Gestalten.
Für die Mehr
zahl der Leser verschwindet der Unterschied der Jahrhunderte, wenn's in fernere Vergangenheit zurückgeht.
Diese deutschen Kaiser des Mittelalters zum Beispiel!
Wie wenige von denen, die alljährlich im Römer zu Frankfurt ihre Bildnisse beschauen, wissen die einzelnen als Charaktere zu sondern! Essind nur Namen,
die einem verblaßten Ideal entsprechen, wozu ein paar besonders hervorragende die wenigen Grundzüge geliefert haben.
Da muß sich nun der Dichter die
schärfsten Contraste heraussuchen, sonst wird alle seine Kunst au der blassen
Allgemeinheit der gangbaren Vorstellungen zu Schanden.
Unter den Königen
um das Jahr 1000 fordert der phantastische Otto der Dritte eigentlich viel mehr den Roman heraus, als der prosaische Heinrich der Zweite. Aber man
versuche einmal, wie viel sich an Otto anknüpfen läßt von den realen Gegen
sätzen, welche das deutsche Leben bewegten und int Nest der Zaunkönige ge schildert werden.
Und man male sich das Bild des Kaisers aus ohne Nom
und Italien: diese gehören nothwendig dazu. Aber Italien braucht der Dichter bei Friedrich dem Zweiten wieder.
Und Otto und Friedrich könnten auch sonst
gar leicht in Eine Vorstellung zusammenrinnen. ist in beiden mächtig.
schauung kommen.
Die Idee der Weltherrschaft
Die auswärtige Kaiserpolitik muß in ihnen zur An
Was aber Freytag gewählt hat ist ein vortrefflicher in die
Augen fallender Gegensatz, den ich nicht näher ausführen will: dort der Haus
herr, das deutsche Königthum bei sich, in der prosaischen Arbeit des Tages; hier der weltbeherrschende Kaiser, glanzumflossen, fast bei Lebzeiten ein Mythus
für seine fernen Deutschen.
Jener ist mit der Zeit verweht, in der er eifrig
seine Pflicht that. Dieser lebt in der Sage fort, und die ganze Kaiseridee wird durch ihn getragen, wie durch keinen andern, er ist's bekanntlich der im Kiff
häuser sitzt, nicht der Rothbart: wieder sehen wir die Sage vor unseren Augen entstehen. Weil die „Ahnen" Sittenschilderungen geben müssen, damit wir das Fühlen
und Handeln der einzelnen Personen aus dem allgemeinen Zustand begreifen, so müssen gewisse Dinge nothwendig wiederkehren.. Wechselgespräch der Lieben
den z. B. wird sich jedesmal finden.
Es wird nichts anderes übrig bleiben,
als aus der Noth eine Tugend zu machen und gewisse unentbehrliche Theile
typisch werden zu lassen: um so schärfer hebt sich heraus, wie ein und daffelbe Motiv der Erfindung sich je nach dem Geist der Zeit verschieden gestaltet.
Der Styl der Liebesgespräche, um bei dem Beispiele zu bleiben, ist jedesmal sehr viel anders in den vier Erzählungen.
Auch liegt es in der Natur der Sache, daß die Exposition am meisten von Sittenschilderung enthält.
Später läßt der Fluß der Erzählung dazu wenig
Raum, die etwaige Retardation vor dem Schluß darf doch nicht durch cultur-
historische Orientirung bedingt sein.
So befinden wir uns zu Anfang der dritten
Geschichte im Kloster und werden gleich mit den Elementen der Bildung und
des Gefühles vertraut, aus denen die Charaktere die wir später kennen lernen zusammengesetzt sind.
In der vierten Erzählung wird uns zum Beginn das
ganze reiche litterarische und sittliche Leben der Zeit entrollt.
Höfischer Ge
sang, Volksgesang, Bagantenpoesie, Minnelyrik, Dorfpoesie, höfisch zierlicher
Ausdruck und dessen mit französischen Fremdwörtern gespickte Caricatur, Eti kette und wirkliche Verfeinerung der Gesinnung: es ist Alles da, und das
Feinste, Edelste, Liebenswürdigste findet sich in dem Helden zusammen.
So erhält jede Geschichte ihren eigenthümlichen Ton, ihre eigenthümliche Farbe. Und so fest und so bestimmt ist dieser Eindruck, daß ich kaum der Ver
suchung widerstehe, wirkliche Farben zu nennen, in die ich mir den besonderen Geist jeder Erzählung unwillkürlich übersetze.
DaS Nest der Zaunkönige mu-
thet mich an wie ein grauer kühler Herbstmorgen. In dem letzten Bande über
wiegt die Stimmung eines goldigen blüthenreichen Sommertages. Die Hauptschwierigkeit scheint mir die Wahl der richtigen Zeit, oft geradezu des richtigen Jahres, in welchem die Erzählung beginnt. Ich habe ben Eindruck,
daß die Wahl diesmal besonders glücklich war, daß sich daher auch die Ver kettung wie mit spielendem Leichtigkeit fügte.
Die Jahre 1226—1232 und in
Thüringen: was hängt nicht gleich daran! Die heilige Elisabeth, also einerseits
Landgraf Ludwig, Kreuzzug, Italien, Kaiser Friedrich, Hermann von Salza und der Deutsche Orden; andererseits der fanatische Mönch Konrad von Marburg,
der Ketzerrichter — es müssen also Ketzer vorkommen, die bedroht sind und mit
dem Helden zusammen hangen, durch deren Gefährdung sich seine Auswande rung motivirt.
In das Ganze hineingepflanzt, als Träger und Nättelpunet,
die rechte typische Figur der Zeit, ein litterarischer Ritter, ein Minnesänger,
für dessen friedliche Abenteuer die Memoiren Ulrichs von Lichtenstein das Muster hergaben, für dessen tragische Verwickelungen sich die Geschichte des Kastellans
von Couch und ähnliches darbot. Wenn ich mich im Nest der Zaunkönige von dem Geiste des Rudlieb und ähnlicher Gedichte angeweht fühle, so waltet hier die Stimmung des höfischen
Epos, in die es manchmal wie aus dem Meier Helmbrecht hinein klingt. Ganz wie in der gebildeten Erzählung des dreizehnten Jahrhunderts herrscht ein ge
wisses Ebenmaß der Gemüthskräfte, es wird alles in uns angeregt und doch nichts iudiscret zu stark hervorgedrängt, und eine leise Ironie glitzert hier
und da wie ein silberner Fluß in der Ferne. Unter den Gestalten des Dichters hat am meisten Kaiser Friedrich von diesem ironischen Elemente mitbekommen.
Aber auch an vielen rührenden Momenten fehlt es nicht, wir athmen die Luft einer Zeit, in welcher Gefühle stark gepflegt und fein ausgebildet wurden.
Und
die Schicksale der Menschen und die Situationen, in die sie kommen, sind mehr
Zaunkönig und Spielmannskönig.
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als man denkt von dem psychologischen Mittelmaße bestimmt.
Tiefen Eindruck
hat mir besonders die Scene S. 158 f. gemacht, wo Friderun zu Weihnachten
als Himmelskönigin durch das Dorf schreitet und die Kinder beschenkt und in einer gar niedrigen und elenden Hütte einkehrt und der Knecht Ruprecht, der sie begleitet, sich der Späße enthalten muß, denn die Mutter liegt krank, und
wie die Kinder auf sie zukommen, und — nein, ich will es nicht nacherzählen.
Wir fühlen, wie Liebe ausströmt aus dem Mädchen und die Kinder umfängt und sie ihr ans Herz trägt.
Und wir erleben das mit gleichsam aus der Seele
Jvo's, der dem Gange beiwohnt.
sein muß.
Wir begreifen, daß auch sein Herz bewegt
Und ästhetisch ist das Ganze vollkommen wie eins jener altdeutschen
Gedichte, in denen die feinste Phraseologie, die weichsten und süßesten poetischen
Klänge des Minneliedes zu Ehren der allerseligsten Jungfrau verwendet werden, so daß Himmlisches und Irdisches sich in der Sphäre der Schönheit unauflös
lich durchdringt. dem
Es ist die Stimmung, in der die Seele sich befreit fühlt von
starren Drucke bestimmter herrisch überlieferter Glaubenssatzung.
Das,
worin sie schwelgt, ist ihr eigenes Product, daS feine geistig-sinnliche Lied ist
ihr Werk.
Bon da aus begreift man die Unabhängigkeit dieser Menschen und
ihre freie schöne Humanität, wovon die Freytagsche Erzählung voll ist.
Der Schluß hat wieder etwas Typisches.
Alle vier bisher erschienenen
Theile der „Ahnen" schließen mit einer Art Belagerung, worin der Satz: „Mein Haus ist meine Burg" eine praktische Illustration zu erhalten scheint.
Freytag liebt es solchen Kampf um das eigene Besitzthum
und die Abwehr
eines feindlichen Angriffs zu schildern: man erinnert sich der polnischen Revo lutionsscenen aus „Soll und Haben," womit das fünfte Buch schließt.
Ivo von Ingersleben hat sich gegen die gräulichen Schergen des domini canischen Ketzerrichters zu wehren und seine Rettung ist, daß er um Bruder
schaft wirbt bei den Rittern des Deutschen Ordens.
In der Nachbarschaft der
Polen siedelt auch er dann sich an. Straßburg, 24. Dezember 1874.
W. Scherer.
Politische Correspondenz. Berlin, 10. Januar 1875. Wir thun wohl nicht unrecht, wenn wir uns trotz der Erhebung des
Prinzen AlphonS zum König von Spanien, trotz der Botschaft Mac Mahons und der Ministerkrisis in Paris heute vorzugsweise mit unseren inneren Dingen beschäftigen.
Seitdem Deutichland seinen Schwerpunkt in sich selbst
gefunden, sind seine Angelegenheiten die wichtigsten in Europa.
Weit weniger
wichtig ist eS, unsern Lesern zu erzählen, wie der Präsident von Frankreich ^an
dein Sisyphusstein der „eonstitutionellen Vorlagen" wälzt, wie er noch immer das Skptennat organisiren und eine Majorität aus den heutigen Parteien der Nationalversammlung bilden will.
Auch die plötzliche Rückverwandlung der
„Republik'" Spanien in eine Monarchie ist zwar ein Ereigniß, an welches der Menschenfreund die Hoffnung auf das Ende der Verwüstungen knüpfen mag,
die geistlicher und weltlicher Despotismus in dem schönen Lande angerichtet haben;
aber der 17 jährige Alphons ist ein Sproß aus dem Bourbonenstamm, und sollte das Unglück seine unreife Jugend belehrt haben, so wird der „glimmende
Docht" staatlicher Organisation, der dem Erlöschen nahe war, doch nicht sobald
mit gleichmäßiger Flamme brennen; erst nach manchem Jahr wird Spanien wieder ein bescheidenes Gewicht in die Wagschale Europas werfen können. Nur für die Carlisten und damit für die Hoffnungen des elericalen Legitimismus, der
erst Madrid, dann Paris zu erobern dachte, ist die Krönung des Sohns der
Isabella ein empfindlicher Schlag.
Aber für uns war der Kampf der Carlisten
und ihr Einverständniß mit den Ultramontanen in Frankreich nicht eigentlich an sich von Bedeutung; er gewann eine gewisse Bedeutung nur dadurch, daß er die klerikale Bewegung in Deutschland durch die unbestimmte Aussicht auf europäische Bundesgenossen ermuthigte.
In Frankreich hat der „kalte Wasser
strahl" die GemÄther ernüchtert; seitdem haben die Bischöfe dort keine Brand briefe inehr gegen die deutsche Kirchenpolitik geschleudert.
In Spanien wird die
nichtswürdige Beschießung und Plünderung der Brigg „Gustav" wohl die letzte
Großthat der Carlisten gegen die deutschen Ketzer gewesen sein.
Nehmen wir
die Stellung hinzu, welche Oesterreich durch seine kirchliche Gesetzgebung gegen Rom bekommen hat, die Erregung ferner, welche in England seit Gladstone's
Schrift gegen die vaticanischen Beschlüsse entstanden ist, so darf der römische Versuch, eine mächtige Strömung in Europa gegen uns hervorzurufen, gleichsam
einen lärmenden Chor, der unS die Gemüthsruhe im Kampfe erschüttern sollte,
als gescheitert betrachtet werden.
Aber die Entscheidung des Kampfes selbst liegt
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Politische Lorrespondenz.
doch nicht in jenen auswärtigen Verhältnissen, sondern in dem Geist und der
Kraft unsrer Nation.
Weil in der großen Mehrheit unsres Volks, weil selbst
in dem gebildeten Theil unsrer katholischen Bevölkerung die protestantischen
Ideen staatlicher Selbstständigkeit, bürgerlichen Pflichtgefühls und einer durch keine Priestercasuistik zu zerstörenden Gesetzlichkeit festgewurzelt sind, darum wird die "römische Herrschsucht uns nicht bewältigen.
Und durch unsern Sieg wird
auch den Nationen Europas das volle Gefühl ihrer staatlichen Würde zurück
gegeben werden.
Sie leiden heute mit durch unser Leiden, unser Triumph wird
auch ihnen den bürgerlichen Frieden und die Autorität des Gesetzes sichern.
Gladstone, der in seiner berühmten Broschüre anerkennt, daß „die Ansprüche (des Baticanums) und die Macht, welche sie erhoben, in erster Linie verantwort
lich seien für alle etwaigen Mühen und Gefahren des gegenwärtigen Conflikts zwischen deutschen und römischen Forderungen", fügt zugleich hinzu:
„Was
einst von Frankreich gesagt wurde, läßt sich jetzt nicht weniger richtig von
Deutschland sagen:
Wenn Deutschland beunruhigt ist, kann Europa nicht im
Frieden sein."
Diese allgemeine Betrachtung mag es rechtfertigen, wenn wir uns auf unsre innere Arbeit zur Befestigung der Institutionen des Reichs beschränken.
In
der diesmaligen Session des Reichstags lag kein einziger Gesetzentwurf vor, der
die römische Kirche betraf.
Gleichwohl hat die ultramontane Partei gerade
diesmal die verzweifeltsten Anstrengungen zur Opposition gemacht.
Die Aus
fälle gegen die Person des Kanzlers, die Verdächtigungen seiner Politik sind
niemals maßloser gewesen.
Der innere Grund dieser Leidenschaftlichkeit war
das Gefühl, daß die Partei ihre Mittel erschöpft habe.
Sie hat das Mögliche
gethan, um die katholischen Volksmassen durch den Wahn der Religions- und Kirchenverfolgung in Erregung zu bringen. Gleichwohl sind die unteren Stände
träg, die mittleren mehr als kühl und zurückhaltend geblieben.
Den Gesetzes
übertretungen der Bischöfe und des Clerus ist die Strafe auf dem Fuße ge folgt, ohne daß die Blindgläubigen über harmlose Sympathiebezeugungen hin auszubringen waren.
Bewußt oder unbewußt — die Politik der Partei lief auf
das bekannte Hülfsmittel des Nuntius Meglia hinaus, und dieses Mittel versagte.
Selbst in den höheren Regionen war durch die Drohung mit dem Aufruhr
und mit der Lockerung der Disciplin in der Armee, nichts auszurichten.
Der
Staat, der bisher immer schwach und ängstlich gewesen war, blieb stark und furchüos.
Noch ein Paar solcher Jahre, und die katholische Laienwelt wird
sich der Kirche entfremden, oder ihren Clerus zum Frieden zwingen. Diese miß liche Lage steigerte bei den ultramontanen Führern die Erbitterung.
Aber in
der Leidenschaft und Unruhe greift man fehl, und so hat die Partei gerade in
dieser Session eine Reihe der schwersten Niederlagen zu verzeichnen. Gleichwohl ist in der Regierungspreffe den Liberalen der Vorwurf gemacht, daß sie sich nicht einmüthig genug gegenüber den Clericalen zusammengeschlossen
hätten.
Gewiß sind Fehler begangen; es ist außerordentlich schwer, in einem
hitzigen, Monate währenden Kampf niemals ein taktisches Versehen zu machen,
zurttal wentt die Last der Arbeit so unmäßig auf die Abgeordneten drückt, wie
eS in dieser Session der Fall war.
Ueberblickt man aber den ganzen Verlauf,
so waren die Augenblicke, wo die Clericalen aus dem Zwiespalt der reichs freundlichen Parteien Nutzen zogen, doch außerordentlich selten, und die momen tane Verwirrung löste sich regelmäßig zu ihren Ungunsten.
Bei der ersten Le
sung des Bankgesetzes wünschten die Freunde der Reichsbank, den Regierungen
den Standpunkt des Hauses sofort durch eine Abstimmung klar zu machen. Es galt
Zeit zu sparen und den preußischen Finanzminister wie den Bundesrath rasch zu Ver handlungen über die Reichsbank zu veranlaffen. Aus diesem Grunde wurde statt de- einfachen ein motivirter Antrag auf Einsetzung einer Commission gestellt, und als Motiv für die letztere geltend gemacht, daß der Entwurf durch Be
stimmungen über die Reichsbank ergänzt werden müsse.
Da entstand nun die
Frage, ob dies nicht ein directer Abänderungsantrag zu der Vorlage sei, den die Geschäftsordnung vor Schluß der ersten Berathung verbietet.
Dieses
formalen Streitpunkts bemächtigten sich die Ultramontanen, und der ursprüng lich von den Parteien der Mehrheit fH allgemein gebilligte Antrag fiel, weil
bei einem Theil der Liberalen sich juristische Bedenken regten.
Hätte man nach
der Lage der Dinge nicht ans ein anderes Stimmenverhältniß rechnen dürfen, so wäre es allerdings praktischer gewesen, einige Tage später die zweite Lesung
anzuberaumen und erst dann das PrinzKp der Reichsbank zu votiren.
Im ersten
Augenblick war große Verwirrung; Präsident Forkenbeck, gereizt durch die starke Kritik des von ihm für zulässig erklärten Antrags, legte sein Amt nieder, und Herr Windthorst spielte am andern TaAe den Wortführer des Hauses, indem
er die Wiederwahl durch Acclamatiom vorschlug.
Aber in der Hauptsache
schadeten diese Vorgänge wenig. Die Rkegierung hatte die Strömung im HaUse
vollständig erkannt; der preußische Fiwanzminister verdeckte durch kluge Nach
giebigkeit die bis dahin im Bundesrath eingenommene Stellung und das worauf eS allein ankam —• die Institution der» Reichsbank — wurde im friedlichen Ein
vernehmen mit den Regierungen siegreich von der Mehrheit durchgesetzt. Noch in einer anderen hochwichtigen Frage glichen sich die Anschauungen
deS Reichskanzlers und der Majorität aus, während die Verdächtigungen des CentrumS wirkungslos zu Boden fielen. neugeschaffene Reichsjustizamt.
Es war bei der Berathung über das
Die nationalen Parteien konnten diese Ein
richtung nur mit gemischter Empfindung begrüßen.
Sie erkannten den Fort
schritt an, daß das Reich für die juristische Vorbereitung wichtiger Gesetze und für die Verwaltungsgeschäfte, die nach Durchführung der Justizorganisation ent
stehen, ein eigenes Organ erhalten sollte, aber sie mußten fordern, daß dieses Organ aus einer Unterabtheilung des Reichskanzleramis sich zu einer selbstän digen Reichsjustizbehörde entwickle. Bereitwilliger als je ging der Kanzler auf diesen Gedankengang ein.
Er
erklärte ausdrücklich, daß in der Stellung des Kanzlers kein Hinderniß liege,
die Selbständigkeit der Reichsministerien so weit auszudehnen, als die ver
fassungsmäßigen Berechtigungen des Bundesraths es irgend gestalteten.
Für
sich beanspruchte er nur entweder das Recht, die Entlaffung eines Ministers zu fordern, wenn er die Verantwortung für das Verfahren desselben nicht weiter
übernehmen könne, oder — da dies die Majestätsrechte deS Kaisers berühre — die Befugniß, in den Lauf eines solchen Kollegen verfügend einzugreifen und
dadurch die Richtung der verschiedenen Reichsministerien im Einklang zu erhal ten.
Das Eine wie das Andere kommt auf die Stellung eines englischen Ca-
binetSchefs hinaus; und diese ist, weil sie allein eine Einheit des Ministeriums
und die persönliche Verantwortlichkeit des leitenden Ministers für alle großen Maßregeln neben der mehr fachmäßigen Verantwortlichkeit seiner Collegen sichert,
mit dem constitutionellen Leben weit verträglicher als das Collegialsystem der preußischen Minister.
Fürst Bismarck stellte ferner in Aussicht, daß aus den
Abtheilungen des Reichskanzleramts sich ein Justiz-, ein Handels-, ein Finanz-,
ein Elsasser-Ministerium entwickeln müsse, wenn er auch den Zeitpunkt für die Erreichung des Ziels nicht in die nächste Zukunft rückte.
So war der vieljäh
rige Streit über die Organisation der obersten Reichsbehörde wenigstens im Prinzip nach den nationalen Wünschen erledigt.
Die heutigen Zustände, deren
große Bedenken noch jüngst bei dem Bankgesetzentwurf in dem Mangel eines verantwortlichen Leiters der Reichsfinanzpolitik heraustraten, waren ausdrücklich
als Uebergangszustände anerkannt.
Die Erörterungen schloffen unter größter
Befriedigung der reichstreuen Majorität; und wenn Herr Windthorst den außer preußischen Justizministern vorwarf, daß sie durch daS neue Reichsamt die Justiz hoheit der Einzelheiten aufheben ließen, daß es zweifelhaft sei, ob diese Staaten
überhaupt noch existirten, so waren diese gehässigen Versuche, den höchsten Be amten der Bundesstaaten bei ihren Souveränen eine schwarze Censur auszu
stellen, jedenfalls nicht geeignet, die Sympathien der mittelstaatlichen Regierungen
für die Centrumspartei zu erhöhen. Als Führer der Ultramontanen in Baiern gilt der Abgeordnete Jörg; im Reichstag hat er sich nur durch einige wohlpräparirte und mit ausgesuchter Malice vorgetragene Reden bemerkbar gemacht, von denen die letztere einen besonders unglücklichen Ausgang für seine Partei nahm.
Seit Jahren ist es die
Taktik der Ultramontanen, den Reichskanzler als den allgemeinen Friedensstörer vor der Welt darzustellen.
Aber während die Mallinckrodt und Windthorst sich wohl
hüteten, diese Verdächtigung anders als in hingeworfenen Andeutungen auszu sprechen, beging Jörg die Thorheit, sie durch eine Vorlesung über die auswärtige
Politik des Jahres beweisen zu wollen. Und da die Thatsachen fehlten, so kam er zu der Ungeheuerlichkeit, eine flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs darin zu finden, daß die Reichsregierung sich Beleidigungen des Kaisers in der inspirirten und unter dem Belagerungszustand stehenden Pariser
Presse verbat, oder daß sie Abhülfe, durch die Gesetze Frankreichs zulässige Ab hülfe forderte gegenüber den Bischöfen, die in ihren Hirtenbriefen die Gemüther
gegen Deutschland hetzten, und deren Diöeesen obenein zum Theil über deutsches Gebiet gingen.
So kam er ferner zu der Ungeheuerlichkeit, die Karlisten wegen
der Ermordung des Hauptmann Schmidt zu vertheidigen unb den Schritt, den
wir zur Revanche thaten und bei dem alle Mächte Europas außer Rußland
unS folgten, ein Fiasko zu nennen.
Er griff den Reichskanzler an der Stelle
an, wo dieser am unverwundbarsten ist, in seiner stolzen Vertretung der Ehre
der Nation, die ohne Unterschied der Confession schlechthin der Meinung ist. daß auch ein Deutscher nicht mehr ungestraft im Auslande ermordet werden dürfe.
Und auf solche Betrachtungen stützte er die wunderliche Forderung, daß der diplomatische Ausschuß des Bundesraths den blutdürstigen Kanzler unter Kon trolle nehmen und ihm die Milch der frommen Denkart und der Achtung
vor fremden Nationen beibringen solle.
Jeder Satz dieser schulmeisterlichen
Weisheit war eine Beleidigung des gesunden Selbstgefühls des Volks, auch des
Selbstgefühls jedes deutschgesinnten Katholiken.
Und in diesen Zusammenhang
verwebte nun der Redner das Kissinger Attentat, als die Frevelthat eines halb-
verrückten Menschen, die einen guten Theil der deutschen Denkernation in's Deliriren gebracht, und anfänglich auch die wahnsinnige Absicht einer förmlichen
Intervention in Spanien erzeugt habe!
Mehr als einen Monat lang hatten
die Ultramontanen sich gehütet, jenen dunklen Punkt zu berühren, der mit der
von ihnen hervorgerufenen Verwirrung der Maffen in so nachweisbarem Zu sammenhang stand.
Jetzt ward die That höhnend erwähnt, als die Handlung
eines Halbverrücktea gegen einen Mann, der dadurch in's Deliciren gericth! Die Züchtigung, die dem Redner und seinen Freunden für alle diese Sün den zu Theil ward, war hart, aber nach Verdienst.
Jetzt traf sie das Wort:
Er nannte Sie seine Fraction und mögen Sie sich lossagen von diesem Mör
der, wie Sie wollen, er hängt sich an Ihre Rockschöße! — Und wenn bei der
äußersten Erregung der Gemüther es Herr Windthorst nun gleichwohl wagte, die Schuld an dem wahnsinnigen Unternehmen des
„unglücklichen" Kullmann
denen zuzujchreiben, die den Kirchenstreit herbeigeführt, wenn er eS wagte die
Verläumdung zu wiederholen,
allmählich
„daß wir (durch des Kanzlers Interventionen)
einem Krieg unvermeidlich
entgegensteuern,"
so brach endlich die
Entrüstung des HauseS in dem Urtheil aus: Die Regierung Deutschlands der
Anreizung zum Kriege beschuldigen, das ganze Ausland auf diese Weise gegen
Deutschland hetzen, das ist ein Manöver, welches gebrandmarkt werden muß, unwürdig eines Vertreters, ein Verbrechen gegen das Vaterland! — Der 4. De
cember war ein schlimmer Tag für die CentrumSpartei.
Er offenbarte den
Abgrund, der zwischen ihrem vaterlandslosen Treiben und dem Gewiffen der
Nation liegt. An demselben Tage hatte ein Schreiben des Kanzlers dem Hause angezeigt, daß er die Etatsforderung für die Gesandtschaft bei dem römischen
Stuhl zurückziehe.
Zu dem Entschluffe mochten die Insinuationen beigetragen
haben, die zur Ermnthigung des clericalen Widerstandes ausgesprengt waren,
als habe das deutsche Reich geheime Schritte in Rom gethan, um vom Pabst den Frieden zu erkaufen. Bor einem Jahr hatte Dr. Jörg im bairischen Land
tag die Stteichung aller Gesandtschaften, auch der in Rom beantragt; England, Amerika, Rußland haben keine Vertretung bei dem römischen Stuhl; gleichwohl
Politische Corresponbenz.
96
behauptete Herr Windthorst, daß der Wegfall deS Gehalts eines seit Äahren
auf Urlaub befindlichen Geschäftsträgers für die Katholiken die Bedeutung habe,
daß man ihre höchsten Lebensinteressen nicht mehr berücksichtigen und den Pabst ferner nicht als Oberhaupt der katholischen Kirche anerkennen wolle.
Dafür
lohnte ihm der Kanzler durch den Vergleich mit dem armenischen Patriarchen,
der das geistliche Oberhaupt von Millionen russischer Unterthanen sei und bei
dem Rußland gleichwohl keinen diplomatischen Vertreter halte. kam noch schlimmer.
Aber die Sache
Es sei eine Anstandspflicht des Reichs, so erklärte der
Kanzler, auch nicht den Schein der Anerkennung einer Macht auf sich zu la
den, welche Ansprüche erhebe, deren Durchführung mit jedem geordneten Staats wesen unverträglich sei, und welche von den deutschen Katholiken die Auflehnung gegen die Gesetze ihres Vaterlandes als geschworne Dienstpflicht fordere.
Und
durch zwei schwerwiegende Thatsachen kennzeichnete er dann den schlechthin
deutschfeindlichen und revolutionären Charakter des römischen
Stuhls.
Er
wiffe aus den in Frankreich aufgefundenen Papieren so wie aus den Mitthei
lungen der betheiligten Kreise, daß im Juli 1870 jesuitische Einflüsse am fran
zösischen Hofe den eigentlichen Aus sch lag zum Krieg gaben; daß der von Napoleon III. bereits gefaßte Entschluß, den Frieden zu erhalten, durch jene
Einflüsse umgeworfen wurde.
Er wisse ferner, daß vor dem Ausbruch jenes
Krieges der päbstliche Nuntius Meglia in München vor einem deutschen Ge
schäftsträger die Aeußerung that: der katholischen Kirche kann nur die Revolution helfen.
Lautloser hat das Haus niemals einem Redner gelauscht, als jetzt den
Worten deS Abgeordneten v. Varnbühler, der aus der Zeit seiner amtlichen
Thätigkeit als
Würtembergischer Ministerpräsident
jene Thatsache
bestätigte
und durch Darstellung der näheren Umstände die Ausflucht abschnitt, daß der fromme Wunsch des Nuntius sich nur auf Italien bezogen habe.
Der unfehl
bare Stellvertreter Christi, der geweihte Träger des Friedens und aller conser-
vativen Ordnung, wie er sich sehnt nach dem Umsturz der deutschen Fürstenthrone und den blutigsten Krieg gegen die ketzerische Nation heraufbeschwört — mit der Darstellung dieses lebenden Bildes schloß die Verhandlung über die
römische Gesandtschaft. Die parlamentarischen Kämpfe haben ihre Zwischenfälle, die Niemand vor
aussieht.
Ein solcher Zwischenfall war die Verhaftung
des Abgeordneten
Majunke und die ungeahnte politische Bedeutung, welche den in Anlaß dieses
Falles gefaßten Beschlüssen des Reichstags beigelegt wurde.
Die Verhaftung
eines Abgeordneten zur Verbüßung gerichtlich zuerkannter Strafe ist während einer Sitzungsperiode bisher in Deutschland niemals vorgekommen.
Cs ist da
her auch niemals die Frage untersucht, ob das Privilegium des Art. 31 sich nur auf die Untersuchungshaft oder auch auf den Beginn einer Strafhaft
während der Dauer der Session beziehe.
Sobald der praktische Fall eintrat,
mußte auch die Frage auftauchen. Darüber ist wohl heute allgemeines Einver-
ständniß, daß es für das Reich höchst gleichgültig war, ob der Vernrtheilte seine
Strafe im December oder im Februar anirat, daß also die Justizverwaltung
daS Auftauchen jener Frage durch eine »«nöthige und unzweckmäßige Maß regel
provocirte.
Und
auch
das wird
Niemand mehr bestreiten,
daß das
HauS, indem es unter Zustimmung aller Parteien, die Zulässigkeit der Maßregel und die Schritte zur Verhinderung künftiger Wiederholungen erwog, dazu durch keine Sympathie mit dem Ultramontanismus sondern durch die Rücksicht auf
das objective Recht und die für Garantien veranlaßt
wurde.
schläge Becker beschlossen,
den Bestand des Parlaments Hätte der Reichstag
nothwendigen
später nach
dem Vor
die Frage bei Berathung der Strafprozeßordnung
zu erledigen, so würde der Zwischenfall ohne weitere Wirkung vorübergegangm sein.
Erst die Phrase von der Wahrung der Würde des Reichstags, mit der
die Hoverbeck'sche Resolution begann, weckte den Gedanke», daß der Reichstag sich ans die Seite des „verfolgten" Majunke gegen den „gewaltthätigen^ Reichs kanzler stelle, daß er zum mindesten einen Beschluß gefaßt habe, der, wenn auch anders gemeint, doch diesen Schein in ganz Europa wecken werde.
Die bedauerlichen Wirren, welche diese Auffassung für wenige Tage her Nachdem der Zwiespalt seine Lösung ge
vorrief, liegen jetzt weit hinter uns.
funden, erinnern wir «nS am liebsten nur dieser Lösung.
Soweit der Mangel
an Fühlung zwischen dem Reichskanzler und der Mehrheit deS HauseS durch die letzter: verschuldet war, hat sie ihren Antheil an der Schuld mit rascher Ent
schlossenheit abgetragen.
Die politische Unklugheit der Ultramontanen gaö dazu
den erwünschten Anlaß.
Es war thöricht den Reichskanzler der Krieg-- und
JnterventionSlust in dem Augenblick anzuklagen, wo die Arnim'schen Afteustücke seine großartige Friedenspolitik vor aller Welt klar gelegt hatten.
ES war
ebenso thöricht, gerade auS jene» Proceßverhandlungen, die von der erfolgreichsten journalistischen Betriebsamkeit einer Privatperson gegen den Kanzler Kunde ga
ben, den Vorwurf herzuleiten, daß die Presse deS letzter» die öffentliche Meinung
in Generalpacht nehme.
Aber der Gipfel der Thorheit war, gerade in jener
Zeit der KrisöS der Mchrheit die Gelegenheit zu einem glänzenden Vertrauens votum für deir Fürsten Bismarck zu geben. — „Eure Angriffe gegen den Kanzler gelten nicht der Person, sondern dem Träger der Institutionen deS Reichs «nd
je verzweifeltem diese Angriffe werden, desto mehr stärken sie daS Vertrauen der Nation zu dem Leiter unserer nationalen Politik!"
DaS war der Sinn des Bo-
tums, welches von fast drei Biertheilen deS Reichstags bis hin zum äußersten Fortschrittsmann abgegeben wurde.
Der 18. December konnte dem Kanzler be
weisen, daß eS doch nicht allzuschwierig ist, mit den nationale» Gesinnungen dieses Reichstags sich in Fühlung z« erhalten.
UnauSgemacht aber ist ge
blieben, ob Jörg oder Windthorst diesmal das größere Mißgeschick über ihre
Genossen gebracht habe». Wir haben von den eigentlichen Geschäften des Reichstags noch gar nicht
gesprochen, und doch waren sie eS gerade, wo die reichstreue Mehrheit ihren festen Zusammenhalt bewies. Weder bei dem Militärbudget, noch bei den ande
ren Zweigen des Reichshaushalts, weder bei dem Gesetzvorlagen deS KriegSministeriumS, noch bei den verwickelten Berhältniiffen Elsaß-Lothringens ist es
Preußische Jahrrücher. Bd. XXXV. Heft 1
7
Politische Korrespondenz.
98
der Opposition gelungen, die Majorität zu sprengen.
In einem Erlaß vom
December 1872 machte der Reichskanzler einmal darauf aufmerksam, „wie stark
und maffenhaft in Deutschland die Bekehrung gewesen sei und noch sei von rothen zu gemäßigt-liberalen, von gemäßigt-liberalen zu conservativen Gesin nungen, von doktrinärer Opposition zu dem Gefühl des Interesses am Staat
und der Verantwortlichkeit für denselben".
Die Richtung in dem politischen
Geist der Nation ist damit gewiß treffend bezeichnet.
Zwar die alte conser-
vative Partei in Preußen ging unter, weil sie sich in die Bedingungen der neuen nationalen Existenz nicht finden konnte.
Aber der große Gang der Bis-
marck'schen Politik, die die Träume von Jahrhunderten erfüllte, ihr realistischer
Zug, ihre geniale Erfindsamkeit in der Ueberwindung aller Schwierigkeiten hat die deutschen Liberalen innerlich politikern gemacht.
verwandelt und aus Doctrinären zu Real
Nur möge man nicht vergessen^ daß schon die Wahlen zu
dem jetzigen Reichstag unter der Macht dieser Strömung erfolgten; und daß vielleicht die Stimmung einzelner Provinzen aber nicht die Nation im Großen
und Ganzen weiter rechts steht als diese Versammlung.
Die Popularität des
Reichskanzlers ist heute beispiellos; die öffentliche Meinung fordert ganz ent schieden, daß der Reichstag die Bismarcksche Politik, vor Allem in dem Kampf
gegen Rom treu unterstütze.
So lange aber keine wichtige und verständliche
Frage vorliegt, wo jene Unterstützung versagt wurde, wäre es ein sehr gewag
tes Spiel, durch eine Auflösung ein HauS gewinnen zu wollen, dessen Schwer punkt mehr nach rechts läge.
Bon allen Vorlagen hat nur der Bankgesetzentwurf zu einem prinzi piellen Widerspruch deS Reichstags geführt, zu einem Widerspruch aber, der die nationale Idee gegen particularistische Gesichtspunkte vertrat, welche die Schöpfung
der Reichsbank noch auf Jahre hinaus verhindern wollten.
Wir zweifeln nicht,
daß auch der Kanzler diese oppositionelle That der Mehrheit des Hauses als Verdienst anrechnen wird, wie diese ihrerseits die rasche Bereitwilligkeit aner
kennen muß, mit der die Reichsregierung auf die Umgestaltung der Vorlage
einging.
Aber auch die Sorgen, welche die Feststellung des Militär et als
weckte, sind durch den Gang der Verhandlungen völlig zerstreut worden.
Es
war die erste Berathung seit der Schöpfung des Norddeutschen Bundes und des
Reichs, und dieser Etat überstieg die Ausgaben im letzten Jahr des Pauschquantums um 15 Millionen Thaler. Der größere Theil der Mehrausgaben war allerdings durch das Militärgesetz bedingt, welches im vorigen Frühjahr die Friedenspräsenz
stärke der Armee auf 401,000 Mann fixirt hatte. Aber Veränderungen aller Art in der Zahl der Officiere, der Pferde; Zulagen und-Lohnverbesserungen, ver mehrte Ausrüstung und außerordentliche Bauten u. s. w. wurden verlangt, wo
das Gesetz keinen Zwang auflegte, sondern die Erwägung des Bedürfnisses ent
schied.
Ohne jede vorgefaßte Tendenz, vielmehr mit entschiedenster Sympathie
für die Armee prüfte die Commission jene Bedürfnisse und das Haus folgte ihr nicht blos in seinen Beschlüssen, sondern lehnte auch die Anträge ab, durch
welche einige, finanziell ziemlich unerhebliche, aber dem Kaiser persönlich werth-
volle Besonderheiten bei einzelnen Gardetruppemtheiilen beseitigt werden sollten. Nur durch ein in der Regel geschlossenes Ausannnuenstimmen der nationallibe-
ralen mit den eonservativen Mitgliedern wurde jenes Resultat in der Com
mission erreicht.
Denn Anträge auf Abstreichmngen waren in Fülle gestellt,
und die Clericalen, denen es politisch klug schien, iim Plenum später nicht den
Mund aufzuthun, unterstützten mit ihrer starken Stimmenzahl in der Com
mission unbesehen jede Streichung, selbst wenn dringliche Kirchenbauten bezog.
dieselbe sich
cmf ein Paar
Im Ganzen verminderte der Reichstag den
Militäretat um 1V3 Mill. Mark, und verwies noch etwa 2l/2 Mill. Mark statt
auf die Matrikularbeiträge, auf einen Fonds, der Thierwelt die Analogien,
welche die beobachtbare menschliche Geschichte darbietet, so viel als möglich aus nützen muß.
Aber in dieser gegenseitigen Befruchtung von Natur- und Geistes-
Wissenschaft schärfen sich die Begriffe und verfeinern sich die Methoden.
Und es
ist kein Zweifel, daß die Sprachforschung wesentlichen Nutzen ziehen kann aus
dem Vorbilde von Darwins Theorie.
Das ist, so viel ich sehe, bis jetzt wenig
geschehen. Der einfache methodische Grundsatz, das Nahe, Erreichbare möglichst
genau zu beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang zu stndiren, um ihn in die Vergangenheit zu projiziren und so deren Ereigniffe zu begreifen,
ist noch lange nicht in seiner Wichtigkeit erkannt. Wie durch Darwin die verach teten Liebhabereien der Züchter plötzlich eine ungeahnte wiffenschaftliche Bedeu
tung erhielten, so mag noch manche jetzt zurückgestellte philologische Disciplin die merkwürdigsten Aufschlüsse in ihrem Schoße bergen.
Wer weiß, ob nicht
Synonymik, Rhetorik, Stylistik in geschichtlicher Anwendung und das intimste
Leben der Sprache zu enthüllen bestimmt sind. so kann ich daran nicht zweifeln.
Was die Synonymik anlangt,
Die synonymen Bildungen in der Sprache
gehen durch: sie schafft gleichbedeutende Wurzeln, gleichbedeutende Ableitungssil
ben, gleichbedeutende Flexionssilben, gleichbedeutende syntaktische Constructionen. Das stylistische Bedürfniß, den Ausdruck zu variiren und einen Begriff durch
mehrere parallelgeordnete Ausdrücke anschaulich zu machen, war allem Anschein nach schon in der Urzeit vorhanden.
Die Sprachverschiedenheit, die sich inner
halb eines Sprachstammes heraus bildet, hat ohne Zweifel die Ueberfülle syno
nymer Bildungen zur Voraussetzung.
In folgender Weise.
Auch zwischen den Wörtern herrscht ein Kampf ums Dasein.
Die einen
breiten ihr Gebiet aus, gewinnen an Macht, die andern weichen zurück und verkümmern.
Es ist eine ganz bestimmte Richtung, in welcher sich dieser Pro
ceß wenigstens in den indogermanischen Sprachen vollzieht.
Neben viele ein
fache Wörter können gleichbedeutende Composita gestellt werden; diese Composita haben in der Regel Aussicht, jene einfachen Wörter zu verdrängen und zu überleben.
Gewiffe Lieblingswörter empfangen eine übertragene Bedeutung, sie
werden dadurch zu allgemein, es ist nöthig, feinere Unterschiede zu bezeichnen; aber diese Unterschiede bezeichnet man an ihnen selbst, meist durch beigesügte
Elemente, welche ihre Bedeutung modificiren.
dadurch überflüssig.
Viele einfache Wörter werden
Der Proceß kann durch zwei Dinge befördert werden.
Erstens steigt die Fähigkeit zu generalisiren im Laufe der nationalen Entwicklung;
man zieht es vor, in dem Individuum nur die Modification seiner Gattung darzustellen, anstatt jedes mit einem Eigennamen zu bezeichnen.
die Sprache gedächtnißmäßig überliefert.
Zweitens wird
Es ist aber leichter mit wenigen ein
fachen Elementen zu operiren, die sich unter einander in mannigfaltigerer Weise
verbinden, als mit vielen einfachen Elementen, die nur geringe wechselseitige
Verbindungen eingehen. Mit einem Wort also: die Wurzeln vermindern sich, und die äußeren, mehr niechanischen Mittel überwiegen zusehends im Laufe der Sprachgeschichte.
Dies ist das Absteigen von leiblicher Vollkommenheit, das
Aufsteigen zu geistiger Vollkommenheit, daS Jacob Grimm so früh beobachtete.
Wenn nun aus einer Ueberfülle ursprünglicher Synonymen eine verhältnißmäßig geringe Zahl übrig bleibt, so ist es klar, daß ihre Präponderanz auf der Wahl der Sprechenden beruht, auf dem Borzug, welchen ihnen eine Nation
oder ein Stamm ertheilt.
Und da eben wegen der großen Zahl der Synonymen
die Möglichkeiten der Wahl sehr verschieden sind, so werden verschiedene geistige
Einheiten, verschiedene Menschengruppen und -Verbände, als da sind Stämme und Stammestheile, bei ihrer Wahl sehr verschiedene Wege wandeln.
sie sich infolge von Wanderungen
Je mehr
und Trennungen geistig abschließen, desto
sicherer werden die vernachlässigten Möglichkeiten des Ausdrucks verschwinden und untergehen. So werden aus den Mundarten Sprachen, aus den Stämmen Nationen.
Man sieht, in welcher Weise hier Anpaffnng und Vererbung wirksam sind.
Die Bedürfniffe der Geister, welche die Sprache gebrauchen, sind die
Bedingungen für die Existenz der Sprache.
Eine bestimmte Richtung der Phan
tasie, vorwaltende Stimmungen und Meinungen, Geschmack und Stylgefühl werden die Wahl unter den möglichen Ausdrücken beherrschen. Das nähere dieses
Vorganges werden wir nur verstehen, wenn es uns gelingt, die Motive zu er forschen, durch welche individueller Styl und individueller Sprachgebrauch be
dingt ist.
Hier berühren sich Litteraturgeschichte und Sprachwisienschaft.
Jede
Untersuchung über die Sprache Goethe's, welche nicht blos den Sprachgebrauch mechanisch verzeichnet, sondern desien Gründe zu erkennen sucht, ist ein Beitrag
zur Lösung des Problems von der Sprachverschiedenheit.
Daß die geistige Eigenthümlichkeit und ebenso die sprachliche Eigenthüm lichkeit sich durch Vererbung steigert, bedarf kaum der Bemerkung.
Die Ueber-
tragung der Sprache auf das Kind ist noch ein verstärkendes Moment; auf die Wirksamkeit des Gedächtniffes wurde schon hingewiesen: aber es kommt dazu,
daß die Lieblingswendungen der Erwachsenen von diesen häufiger wiederholt werden und sich daher dem lernenden Kinde leichter einprägen, während die
vernachlässigten Ausdrücke durch ihr selteneres Vorkommen wenig oder garnicht
haften....
Aber ich kehre zu Whitney zurück.
Er hat mit großer Klarheit sich über
das Verhältniß der jüngeren Sprachepochen zu den älteren geäußert (S. 269):
„Bei noch so großem Wechsel der äußeren Verhältniffe müssen sich doch in allen Phasen der Sprachgeschichte die Grundzüge und Hauptgesetze der Ent
wicklung sprachlicher Organismen gleich geblieben sein; und nur dadurch kann man daS Dunkel einer unbekannten vorgeschichtlichen Urzeit aufhellen, daß man die lebenden und die in Denkmälern überlieferten todten Sprachen durchforscht
und die auf diesem Wege abstrahirten Gesetze auf die frühesten Perioden des Sprachlebens anwendet.
„Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen" ist, wie wir
schon mehrfach bestätigt gefunden haben, ein Axiom der Sprachwissenschaft so
gut wie der Naturwissenschaften, und wer sich das Wesen und die Entstehung der Sprachen in der alten Zeit ganz anders vorstellen zu sollen glaubt als die der neueren Sprachtypen und Redeformen, der setzt sich der Vergleichung mit
Notizen.
110
einem Geologen aus, der für junge Formationen wie für Kalk und Kiesel die neptunistische Erklärung zulaffen, aber dagegen in Abrede stellen wollte, daß
das Wasser irgend etwas mit der Hervorbringung alter Sandsteine und Conglomerate zu thun habe." Whitney hat von diesen Sätzen mehrfach praktischen Gebrauch gemacht.
Es ist nur eine Anwendung davon, wenn er dem menschlichen Willen eine
größere Rotte in dem Geschäfte der Sprachschöpfung beimißt, als dies gemeinig
lich geschieht.
Er weist auf viele Wörter der Neuzeit hin, welche von einzelnen
bekannten Männern herrühren und jetzt allgemein angenommen sind.
Und er
läßt folgerichtig eine ähnliche Bethätigung des Individuums auch in den älteren Sprachepochen und in der Sprachschöpfnng selber zu.
Man erinnert sich dabei
vielfach an verwandte Ausführungen von Bagehot („Ursprung der Nationen"),
der den Einfluß des vorangehenden Ersten, dem die Uebrigen folgen, wieder
holt betont und sehr gut mit Beispielen illustrirt.
Ich möchte nur hervorheben,
daß diese Macht des Einzelnen darum noch nicht Willkür und Zufall in die Ge
schichte bringt, denn sie ist von festen Schranken umgeben, welche eben wieder die Beobachtung historisch Heller Zeiten kennen und abschätzen lehrt.
Man wird
sich vielleicht künftig weniger sträuben von Erfindung der Sprache zu reden, wenn man nur den psychologischen Vorgang des Erfindens, wie weit da Be
wußtes und Unbewußtes sich mischt, einer näheren Untersuchung unterzieht. Vor allem aber folgt aus jenen methodologischen Sätzen Whitneys, daß das Wesen der Sprache, die Art der in ihr statthabenden Veränderungen, ihr
Werden und Wachsen ebenso gut an den jüngeren Sprachepochen, ja darin mit größerer Klarheit studirt und dargestellt werden kann, wie an den älteren.
Er
geht demgemäß überall vom Englische» aus und entwickelt seine allgemeinen Sätze so viel als möglich an dem Sprachstoff, der jedem seiner Zuhörer aus
täglichem Gebrauche bekannt ist.
Nach dieser Seite hin lag der schwerste, aber
auch der ehrenvollste Theil der Aufgabe für den deutschen Bearbeiter. Er mußte an die Stelle des Englischen durchweg das Deutsche setzen.
Und man darf
sagen, daß er diese Aufgabe mit Glück gelöst hat.
Ob im übrigen der Verfasser sich stets im Einklang mit seinen eigenen Grundsätzen befindet, das bleibe dahin gestellt. Auf die strenge Beobachtung der Lautgesetze' bei etymologischen Forschungen scheint er nicht allzu ängstlich zu Hallen.
Und wenn er S. 221 die Entlehnung aus fremden Sprachen nur dort
eintreten läßt, wo eine Sprache aus eigenen Mitteln ihre Bedürfnisse nicht decken kann, so übersieht er völlig die Macht der Mode, welche in vergangenen
Zeiten ebenso stark ist, wie in der Gegmwart und welche sehr viel an sich unnöthiges, aber dem augenblicklichen Geschmacke willkommenes aus der Fremde
einschleppt.
Sehr ost waltet auch dabeä das Streben, über mehrere Möglich
keiten des Ausdruckes zu verfügen: wie auch wir wohl nach einem Fremdwort
greifen, um den Ausdruck zu variiren. Der Bearbeiter hat seinem Originrl eine gute und übersichtliche Geschichte der Sprachwissenschaft angehängt.
Ich verweile darcürf so wenig wie auf den
Abschnitten des ursprünglichen Werkes, die dem populärsten Theile der Sprach wissenschaft, den Resultaten der linguistischen Paläontologie, den Zuständen des indogermanischen Urvolkes und dergl. gewidmet sind.
Ich will nur zum Schluß
noch auf eine fernere Berührung zwischen Sprachwissenschaft und Naturwissen schaft Hinweisen, welche gleichfalls noch lange nicht hinlänglich ausgebeutet, ja in
ihrer mechodischm Berechtigung kaum genügend anerkannt ist.
Auch bei der
Sprache scheint eS möglich, den Verhältnissen niedriger stehender Idiome einige
Aufschlüsse abzugewinnen über die früheren Entwickelungsphasen höher stehender Sprachen.
Die Urgeschichte des Indogermanischen kann — so scheint es —
nur mit Rücksicht auf die sogenannten agglutinirenden Sprachen reconstruirt werden.
Man weiß, welche glänzenden Resultate z. B. Mr. Tylor durch dieses
Verfahren fnr die Culturgeschichte erzielt hat.
Aber man erinnert sich
wohl
selten, daß die erste einschlägige Beobachtung von Thukydides herrührt, der unter Anführung von Belegen hervorhebt, daß die verschwundenen älteren Sitten der
Hellenen viele Uebereinstimmung mit den noch dauernden Sitten der Barbaren W. Sch.
gezeigt hätten.
B ü ch e r s ch a u.
Mendelssohns Werke. Erste kritische durch gesehen e Gesammt-
ausgabe (Leipzig, Breitkopf und Härtel). —
Vollständig sind bis jetzt folgende Abtheilungen erschienen:
Pianoforte-Werke zu 2 Händen 72 Band, Sämmtliche Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung, Tenor für Pianoforte, Violine und Vio loncell.
Diesen werden in Kürze folgen:
Symphonim, Kammermusik für Streichinstrumente, Pianoforte-Quartette,
Pianoforte-Werke zu 4 Händen, Lieder für Sopran, Alt, Tenor und Baß, sowie 9 Ouvertüren.
Tagebücher von Friedr, von Gentz IV. Band.
Aus dem Nachlasse
Varnhagen's von Ense (Leipzig, Brockhaus).
Ausgewählte Schriften von K. A. Varnhagen von Ense XV. u.
XVI. Band (Leipzig, Brockhaus). Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten, von I. I. Honegger (Berlin, R. Oppenheim).
Leibnitz' Stellung zur katholischen Kirche von Dr. Fr. Kirchner
(Berlin, C. Duncker).
Mark Aurel's Meditationen. Schneider.
Gesammelte 4. Auflage.
Aus dem Griechischen von F. C.
3. verbesserte Aussage (Breslau, Trewendt). Werke
von Adolph Stahr.
Ein Jahr in Italien.
L—5. Band (Berlin, I. Guttentag).
Bismarck et Cavour. L’unitö de FAllemagne et Funitö de Fltalie, par H. N. Reyntiens, membre du sönat beige. (Brüssel, Maquardt.)
112
Notizen.
Rußland im neunzehnten Jahrhundert, von Theodor v. Lengen feld t (Berlin, Wedekind u. Schwieger). Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie, herausg. von Rudolf Birchow. Zweiundsechzigster Band, zweites Heft (Berlin, Georg
Reimer). Etudes politiques sur l’histoire ancienne et moderne et sur Finfluence de l’ötat de guerre et de Fötat de paix par Paul Devaux (Berlin, F. Schneider). Die Gewerbe-Gesetzgebung im Deutschen Reich, für den praktischen Gebrauch dargestellt und erläutert von L. Jacobi, Geh. Reg. Rath, Mitgl. des Reichstags und des Abgeordnetenhauses (Berlin, Fr. Kortkampf). Das Recht der deutschen Reichsbeamten, aus den Materialien und der Reichs- und Landes-Gesetzgebung erläutert von Herm. Kanngießer, K. Apellations-GerichtSrath, Mitglied des Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten und Abgeordneten zum ersten Deutschen Reichstage (Berlin, Fr. Kortkampf). Die Errichtung eines Reichseisenbahnamts, erläutert von W.Jun germann, Reg. Rath a. D. (Berlin, Fr. Kortkampf). Umzugskosten, Tagegelder sowie Wohnungsgeldzuschüsse der Preußischen Civil-Staatsbeamten, nach amtlichen Quellen und der neuesten Ge setzgebung von Dr. H. M. Kletke, 2. Aust. (Berlin, L. Pfeiffer). Das Reichs-Gesetz über den Unterstützungswohnsitz, erläutert von Dr. jur. H. Eger, K. KreiSrichter (Breslau, Kern). Die gesetzliche Regelung des Strafvollzug- im Deutschen Reich von Krohne, StrafanstaltS-Director in Vechta (Oldenburg, Schulze). Sachenrecht, mit besonderer Rücksicht auf das frühere Kurfürstenthum Hessen, von Dr. Platner, Professor der Rechte zu Marburg (Marburg, Elwert). Ueber Arbeiterwohnungen von Dr. O. Engelen, aus dem Hollän dischen von R. Wegener (Berlin, Wedekind u. Schwieger). La Questione Universitaria, per Carlo Cantoni (Milano,
Bortolotti). Marschenbuch, Land- und Volksbilder aus den Marschen der Weser
und Elbe von H. Allmers (2. Anst. Oldenburg, Schulze).
Verantwortlicher Redacteur: Dr. W. Wehrenpfennig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.
Nordalbingische Studien. ii. Wir haben uns vor Allem in den Zeiten der brennenden nationalen
Gegensätze nur zu sehr daran gewöhnt, bei der Betrachtung dieser Periode immer gerade in ihnen die bestimmenden Mächte zu sehen.
Bei einer ge
naueren Betrachtung wird man zugeben, daß eine Reihe anderer Inter
essen ebenso maßgebend sind, ja daß diese manche Jahrzehnte hindurch allein die bestimmenden sind, bis dann in dem Streit und Widerstreit
der ringenden Gewalten die Gefühle nationaler Pflicht und Ehre aus dem tiefsten Grunde der Verhältnisse unwiderstehlich auftauchen.
Für den Wechsel, die Zu- und Abnahme dieser verschiedenen Bewe gungen, ohne die die Geschichte NordalbingienS gar nicht zu verstehen ist, bietet die Lübsche Stadtchronik jedenfalls vom Anfang des
Schluß des
14. bis zum
15. Jahrhunderts einen fast untrüglichen Gradmesser, der
im Anfang in längeren Absätzen, später oft Jahr für Jahr den allge meinen Stand derselben angiebt.
Eine zweite ähnliche Angewöhnung — und sie datirt freilich
viel
weiter zurück — ist die, die Geschichte der Hansa nicht allein von einem bestimmten Anfang an zu datiren, sondern diese Geschichte als ein beson
ders glänzendes Stück Deutscher Geschichte aus dem Zusammenhang der Übrigen Entwickelungen möglichst selbständig herauszuheben. Es bedarf auch hier nur eines
Blickes in die wirklich Lübfchen
Theile der Lübfchen Chroniken um zu erkennen, daß der große Gedanke
der Vertretung „des gemeinen Deutschen Kaufmanns"
allerdings sehr
früh der Punkt war, in dem Lübeck mit Cöln und Wisby rivalisirte, daß er aber nur eins der Rüststücke feiner Politik bildete, die mit fast unglaub
licher Unbefangenheit und mit eben so großem Geschick bald mit Fürsten bald mit Städten Verbindungen anknüpfte oder abbrach.
Ebenso nur
erklärt eS sich, daß in den früheren Theilen jener Chronik von einem specifisch städtischen oder gor bündischen Interesse nach keiner Seite auch nur eine Spur zu entdecken ist.
Man verkennt dst eminente Bedeutung
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hest?,
tz
Lübecks und eben Lübecks allem für sich, wenn man unter seinen bald hier
bald dort erscheinenden Verbündeten nach einer oder mehreren Städten
sucht, um ihnen die Ehre der Mitgründung der Hansa zu übertragen. Die Ostsee war, seitdem Dänemarks Macht gebrochen, von einem
Kreis staatlicher Bildungen umgeben, deren Charakter im Süden Westen sich wesentlich gleichmäßig zu gestalten
schien.
und
ES gab an der
ganzen Ostseeküste mit Ausnahme des Herzogs von Sachsen keinen „LaienFürsten" deS Deutschen Reichs: die „Herren" von.Pommern, Rügen und
Mecklenburg stehen in dieser Beziehung den Grafen von kommen gleich.
Holstein voll'
Aber diese Thatsache bezeugte nur, daß das Reich, seit
den Tagen Friedrichs I. und Friedrichs II., nachdem es den Fürstenstand der Slavischen BiSthümer, das ASkanifche Herzogthum und die Reich städt
Lübeck
anerkannt,
sich
von
diesen Küsten vollkommen
zurückge
zogen hatte. Außerhalb der Reichsgeschäfte, nicht beeinflußt durch die Wahlkämpfe
der Staufer und ihrer Nachfolger bewegten sich diese Herrschaften eben so
frei wie daS Dänische Königthum.
Ja auf dem ursprünglich rein
slavischen Boden vereinten sie als die eigentlichen Leiter und Führer der deutschen Colonisation, so lange diese im ersten frischen Fluß war, alle
Interessen der neueingewanderten Elemente, des deutschen Bauernstandes wie des Bürgerstandes, des Clerus wie des Adels in ihren Händen. WaS die Premysliden in Böhmen, die ASkanier in den Marken im größern
Stile ausführten, wurde hier in einfacheren Verhältnissen fast noch inten
siver erreicht.
ES ist für diese Uebereinstimmung sehr bezeichnend, daß
ein Schauenburger, Bischof Bruno von Olmütz, damals in Böhmen der
eigentliche Leiter der deutschen Colonisation war.
Und so begreift eS sich, daß das Vorbild dieser Deutschen Grafenund Fürstenpolitik auch auf die Dänischen Verhältnisse einwirkte, nicht nur
die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Deutschen Fürstenhäusern, sondern vielmehr
noch
der Eindruck
ihrer
glänzenden
Erfolge verschaffte der
Deutschen Politik allmälig Einfluß auf daS Waldemarische Königshaus.
Erst als Herzog von Schleswig, dann als König ergriff Waldemars II.
zweiter Sohn Abel am ftühsten und energischsten diese Ideen: unter ihm erhielt Tondern LübscheS Recht nnd erschienen die kleinen Städte des Dänischen Reichs zuerst auf den Reichstagen.
Von hier an sehen wir nun den Einfluß deS Deutschen Elements von Jahr zu Jahr immer mehr in die inneren Conflikte der Dänischen Verfaffung eindringen. Während die Holsteinischen Grafen mit Hülfe ihrer Stadt Hamburg
|ie letzten übermächtigen Adelsgeschlechter niederbrechen, wächst jener Dä-
Nische Bauernadel im Kampf gegen das Dänische Königthum und
die
eindringenden Deutschen Elemente von Jahr zu Jahr an Bedeutung.
Lübeck konnte diesen Ereignissen nicht fern bleiben, die Streitigkeiten und Verhandlungen der norddeutschen Dynastien, die Pläne und Erfolge
ihrer Politik berührten es zu uumittelbar und so sehen wir die einzige Reichstadt der Ostsee wiederholentlich in diese wechselnden Fehden «nd
Tagfahrten eingreifen, während sie auf dem weiten Gebiet deS Norddeut schen Verkehrs in Flandern und England die Vertretung „des gemeinen Kaufmanns" mit steigendem Nachdruck durchführt.
Die alte Sage, daß der Bertrag lnit Hamburg im Jahre 1241 gleichsam den Anfang der Hansa bezeichne ist neuerdings endgültig besei
ES hat sich herausgestellt, daß diese Urkunde eine ganz
tigt worden.
momentane Bedeutung hatte, abeit entfernt, die Nothwendigkeit dieser Frage zu verkennen,
wozu berechtigst diese Schule den Schüler, der ihren Forderungen genügt. Diese Frage würde auch an die in Aussicht genommenen Bürgerschulen
gestellt werden.
Wer seinen Sohn
dem auf sechs Jahre beabsichtigten
Unterrichte der Mittelschule übergiebt, damit er den ganzen Cursuö absol-
vire, der stellt die Forderung, daß durch sechs Jahre eines fleißigen und erfolgreichen Arbeitens an dieser wohlorganisirten Schule sein Sohn dasselbe
Recht des einjährigen MilitairdiensteS erwerbe, welches durch sechsjährigen Besuch deS Gymnasiums oder der Realschule erworben werden kann; jenes
Recht, das nicht bloß als Ehren-AuSzeichnung eines gewissen Maßes der Bildung
hochgeschätzt wird,
sondern bereits für eine große Anzahl von
Lebensstellungen im öffentlichen und Privatdienste zur unerläßlichen Be
dingung geworden ist.
Jeder Vater würde also mit Recht sich ein Ge
wissen daraus machen, ohne ausdrückliche Noth seinen Sohn einem BildungSwege zuzuführen, welcher ihm die Erwerbung dieses Rechtes erschwerte
und unsicher machte.
Ferner, ein großer Theil der Väter, welche ihren
Söhnen bis in das 16. Lebensjahr die Wohlthat allgemeiner Schulbildung
zuznwenden fähig und entschlossen sind, möchte denselben den Weg in dir
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 2,
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Dir gegenwärtigen Reformfragen in unserem höheren Schulwese«.
mannigfachen Stellen der Verwaltung offen erhalten, zu welchen ein sechs jähriger Besuch des Gymnasiums oder der Realschule, zum Theil schon
eine kürzere Dauer desselben den Zutritt giebt, und es ist gewiß für die StaatS-Verwaltung selbst von Werth, daß diese Stellungen geschätzt und erstrebt werden.
Von
allen diesen Berechtigungen ist die beabsichtigte
Bürgerschule ausgeschlossen.
Diese Bürgerschule hält prinzipiell darauf
nur eine fremde lebende Sprache in ihren Unterrichtskreis zu ziehen, um in dieser wirklich dauerhafte Erfolge zu erreichen; die Militair-Verwaltung
aber erachtet bei der Entscheidung über das Recht zum einjährigen Dienste für die sonst geforderte Kenntniß deS Latein erst die Kenntniß von zwei
fremden lebenden Sprachen als ausreichenden Ersatz und glaubt Schulen,
welche sich auf eine beschränken, erst nach gemachter Erfahrung das erbe
tene Vertrauen schenken zu dürfen; aber diese Erfahrung kann nicht ge macht, denn die Schulen können nicht gegründet werden, ohne sichere Aus
sicht auf dieses Recht.
Und die verschiedenen Zweige der StaatS-Verwaltung
haben, auf Anlaß der beabsichtigten Mittelschulen neuerdings darum be fragt, fast ausnahmslos, selbst z. B. die Militair-Jntendantur, die ForstVerwaltung, die Post-Verwaltung, die Kenntniß deS Latein zur unerläß
lichen Bedingung der Aufnahme überhaupt oder der Aufnahme mit der Möglichkeit eines weiteren Aufsteigens
gemacht*).
Diese Ausschließung
von jeder Berechtigung, vor allem von der unerläßlichen in Betreff der Wehrpflicht, macht die Gründung von Bürgerschulen, möge sie noch so
sehr alS Nothwendigkeit anerkannt werden, zu einer Unmöglichkeit.
Ich wünsche, daß diese Bemerkungen nicht mißverstanden werden, als
sollten sie einen Vorwurf gegen die Behörden enthalten, welche die er wähnten Entscheidungen getroffen haben.
Die Militair-Verwaltung er
füllt eine wichtige Pflicht, indem sie die Auszeichnung des einjährigen
Dienstes an strenge Bedingungen eines bestimmten Maßes allgemeiner Bildung bindet, und sie erachtet eben daö Znrücklegen von zwei Drittel
des Gymnasial- oder Realschuli-CursuS für eine werthvollere Bildung, als
die gleiche Dauer der Lernzeit an einer geben könne**).
wohlorganistrten Bürgerschule
Ferner jedem BerwaltungSkörper steht unzweifelhaft das
Recht zu, die Bedingungen für die Aufnahme in feine Mitte festzusetzen. Man hat wohl neuerdings öfters den Vorschlag vernommen, die Erfüllung dieser Bedingungen solle durch besondere Prüfung ermittelt, nicht durch
die Zeugnisse bestimmter Arten von Schulen alö erwiesen betrachtet wer*) Centralblatt für die gesammte UnterrichtSverwaltung in Preußen. 1874. S. 329. **) Die etwaige Besorgniß, als werde durch die den beabsichtigten Mittelschulen ge währte Militärberechtigung die Erwerbung derselben erleichtert und erhalte dadurch eine zu weite Ausdehnung, dürfte durch die in den Protokollen @. 40 — 42. 172 ff. enthaltenen Bemerkungen beseitigt sein.
163
Die gegenwärtigen Resormftagen in unserem höheren Schulwesen.
den; aber selbst abgesehen von der zu solchen Prüfungen erforderlichen
nutzlosen Verschwendung geistiger Kräfte ist der Vorschlag an sich möglichst unzweckmäßig; denn in dem Zeugnisse einer wohlgeordneten Schule liegt
eine größere Garantie für den erreichten Bildungsgrad, als in dem Er»
gebniffe einer einzelnen, noch so gewissenhaft gehaltenen Prüfung; trotz der zufällig daraus entstandenen Uebel müssen wir es hochschätzen, daß
alle Verwaltungsgebiete für die Auswahl der Aufzunehmenden in erster Linie den Schulen ihr Vertrauen schenken.
Entscheidungen,
In Betreff der erwähnten
welche der dringend erforderlichen Gründung
wirklicher
Bürgerschulen für jetzt entgegenstehen, dürften indest zwei Momente noch Erstens, in der für fast alle Seiten des nie
der Beachtung werth sein.
deren Staatsdienstes aufrecht gehaltenen Forderung des Latein ist vielleicht
nicht bestimmt unterschieden worden, ob hierdurch nur eine gewisse Höhe
und Art der Bildung hat bezeichnet sein sollen, oder ein für den Dienst selbst unerläßliches Werkzeug.
Es ist denkbar, daß das Einhalten dieser
principiell gewiß anzuerkennenden Unterscheidung Entschlüffe führen kann.
zu Modificationen
der
Zweitens, jedes BerwaltungSgebiet stellt feine
Forderungen an die in seinem Bereich aufzunehmenden selbstäudig und
unabhängig; schwerlich wird dabei ausdrücklich in Rechnung gebracht, daß
durch die Summe dieser Forderungen ein großer Theil unseres höheren Schulwesens bestimmt wird, und die Entscheidungen daher mit dem Be wußtsein dieser ihrer Tragweite zu treffen sind.
Möge daher die Hoffnung
nicht anmaßend erscheinen, daß in den neuerdings erfolgten, für die Ge
staltung unseres Schulwesens hochwichtigen Entscheidungen hoher Verwal tungsbehörden uoch nicht deren letztes Wort in der Sache gesprochen sei. Hiermit breche ich meine Erörterungen an der Stelle ab, wo That sachen, die für jetzt feststehen, ihnen eine Grenze setzen.
Ich habe nicht
beabsichtigt, durch zuversichtliche Zeichnung eines in sich zusammenhängen den Planes der Reform einen erfreuenden Blick in die Zukunft zu eröffnen, sondern über die Reformfragen so zu handeln,
daß die thatsächlichen
Uebelstände der Gegenwart und die principiellsten Aufgaben aus der verwir renden Menge der Einzelheiten sich möglichst bestimmt herausheben möchten.
ES sei mir nur gestattet diese Hauptpunkte noch
kur; zusammenzufassen.
Die Gymnasien hatten ihren eigenthümlichen Charakter bereits zur Festig keit entwickelt, als die Staatsregierung einen entscheidenden Einfluß auf sie auSzuüben begann; die Staatsleitung hat an dem wesentlichen Charakter
der Gymnasien nichts geändert, sondern dazu beigetragen, ihn vor eigensin niger Erstarrung zu bewahren.
Das Vertrauen, welches der gymnasialen
Bildung schon nach znrückgelegter Hälfte oder zwei Drittel der Lehrzeit von
den Behörden des Staates und der Gemeinden und von den Privater;
164
Die gegenwärtigen Reform fragen in unserem höheren Schulwesen.
zugewendet wird, hat das Zuströmen zu den Gymnasien gesteigert; aber
durch daS Ueberwuchern fremdartiger Elemente ist das eigenartige Leben
der Gymnasien bereits in die äußerste Gefahr gesetzt, sie müssen, wenn
sie ihren Werth behaupten wollen, dringend wünschen, daß jenes Ver trauen anderen, dazu in Wahrheit geeigneteren Anstalten zugewendet werde.
Die Realschulen und höheren Bürgerschulen hatten sich eben auS einem
bloßen Conglomerat
niederer Fachschulen
einer allgemeinen Bildung,
zu
dem
belebenden Gedanken
einer edlen bürgerlichen Bildung neben
der
gelehrten, erhoben, alS die StaatSregierung sich genöthigt sah, in die frei erwachsende Mannigfaltigkeit von noch nicht consolidirtem Charakter regelnde
Ordnung zu bringen.
Verfügt ist diese Organisation allerdings von der
höchsten UnterrichtS-Leitung, aber erwägt man den schwer wiegenden Ein
fluß, welchen auf viele Bestimmungen die Forderungen der Verwaltungs behörden geübt haben, so wird man diesen in ihrer Gesammtheit einen
erheblichen Theil der geistigen Urheberschaft zuzuschreiben haben.
Man
mag in der Höhe des Zieles, welches allen Realschulen gestellt wurde, die
edle Absicht, in der Einhaltung möglichster Nähe an die Lehretnrichtung der Gymnasien die besonnene Vorsicht hochschätzen, so wurde doch durch
diese Organisation der Gedanke wahrhaft bürgerlicher Bildung getrübt und
in seiner Entwickelung gehemmt und daS BildungS-Bedürfniß eines wich tigen Theiles unserer Nation einer stiefmütterlichen Behandlung überlasten. Wohlwollende Absicht, aufrichtige Hochachtung vor den Schulen, ideales
Streben haben Folgen entgegengesetzter Art hervorgerufen.
Die Einsicht
in den untrennbaren Zusammenhang aller Fragen des höheren Schulwesens, welche das zweifellose Ergebniß der eindringend geführten DiScussion ist,
schützt davor, daß von kleinen Reparaturen einzelner Mängel eine wirkliche Besserung erwartet werde; dem preußischen Staate hat die Energie noch
nie gefehlt, in noch schwierigern Fragen des inneren Lebens das besonnen Erwogene mit Ausdauer durchzuführen.
Hoffen und vertrauen wir, daß
es auch gelingen wird, daö höhere Schulwesen, in dessen Gedeihen der
Staat einen gerechten, ihn selbst ehrenden Stolz setzt, aus den verdunkeln
den Nebeln der Gegenwart zu erneutem Glanze zu erheben. H. Bonitz.
Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800. Peter von Cornelius. Ein Gedenkbuch aus seinem Leben und Wirken, mit Be nutzung seines künstlerischen, wie handschriftlichen NachlaffeS, nach mündlichen und
schriftlichen Mittheilungen seiner Freunde und eigenen Erinnerungen und Auf zeichnungen von Ernst Förster. Zwei Theile. Mit Cornelius Bildniß. 1874. (Berlin, Georg Reimer.) Preis 14 Mark.
ES ist eine Lebenserfahrung, einen Mann historisch werden zu sehen: auS einer in Wachsthum begriffenen, energischen, mächtigen Persönlichkeit
mit bedeutenden Absichten für die Zukunft, Plänen für die Gegenwart und Geheimnissen was seine Vergangenheit anlangt, einen machtlosen Bewohner des Schattenreiches, dem auch nicht der leiseste Hauch von befehlendem Athem mehr auf den Lippen wohnt, dessen Weiterentwicklung für immer abgebrochen ist und sich voll erfüllte, dessen Gegenwart verschwand und
befielt verhüllte Vergangenheit schonungslos, wie alte Proceßakten die man ballenweise auf Karren sortschafft, entweder zerstört oder an'S Tageslicht gezerrt wird.
Mir fällt das Kindermärchen vom Treuen Iohannes ein,
dem gesagt worden war, er würde in Stein verwandelt werden wenn er sein Geheimniß ausspräche.
Bei jedem Wort mehr das er sagte, wurde
er mehr zu Stein und beim letzten war er eS ganz geworden.
Als vor
etwa fünfzehn Jahren Cornelius' Cartons in Berlin ausgestellt wurden
und ich eisten Catalog dazu schreiben sollte mit einleitenden LebenSnachrichten des Meisters, fand sich, daß ich, der ich ihn so gut kannte, sehr wenig
von ihm wußte. Cornelius lebte noch. Von wem denn, die unsere älteren oder jüngeren Ort,
mitlebenden Freunde
sind,
wissen wir Geburtsjahr und
Bildungsgang und Aufenthaltswechsel anders als zufällig?
Was
überhaupt liegt uns an exacten Nachrichten über ihre Vergangenheit wo
diese nicht unmittelbar auf ihr gegenwärtiges Wirken Bezug hat?
Wer,
der heute einen Mann mit weißen Haaren oder kahlem Kopfe als den energischen Vertreter wichtiger Gedanken sieht, stellt darüber Untersuchungen
an, wie diese Gedanken wohl auSsahen damals als seine Haare noch braun waren?
Die Schul- und Universitätsgeschichten unserer hervorragenden
Männer haben keinen Werth für die Beurtheilung ihrer heutigen Thätig«
leit und brauchen nicht gewußt zu werden. Mühsam mußte ich mir damals
meine Nachrichten zusammenlesen, in lauter Ecken danach gucken, ob da
oder dort nicht ein historisches Fädchen hängengeblieben sei, daS sich an'S andere anknoten ließe, und endlich kam etwas zusammen, das mehr Knoten
als Faden war.
Heute aber ist Cornelius schon Jahre lang todt und die
Zeit dieser Unwissenheit so ganz vorüber.
Nachrichten aus Büchern holen.
Jeder kann
sich ausgiebige
Bei jedem Worte mehr aber verschwindet
seine Gestalt mehr für mich aus der Reihe der Lebendigen. Doch der Vergleich mit dem zur Statue werden trifft nicht einmal
ganz zu.
Kein rundes, vollständiges Steinbild haben wir vor unö.
In
Rom sah ich einen Schuster auf der bepauzerteu Marmorschulter eines
Kaisers, die als Steinblock auf dem Boden lag, feine Sohlen hämmern;
wer weiß, in welche Maner das Uebrige miteingemauert oder in welchen
Kalkofen es gewandert war.
Wunderbar ist mir zu Muthe, Cornelius'
Daseinsfragmente in Försters zwei Bänden nun so ans zusammengeschüttet vor Angen zu haben.
einen Haufen
In so kleinem Raume die
Ueberbleibsel siebzigjähriger ruhmvoller Existenz.
In ein paar Stunden
durchfliegt man blätternd diese lange Entwicklung.
Alles
ist offenbar,
nirgends der Einblick mehr verboten, die geheimsten Briefe nun auf den Wirthshaustisch gelegt zu jedes Vorübergehenden Anblick und Betastung. Hoffnungen der Jugend, Thaten der vollen Kraft, abermals Hoffnungen,
und endlich die Täuschungen des Alters.
Ereignisse die
Menschen die er kennen lernte, die er mit sich fortzog.
in zufälligem Anblicke sichtbar.
er miterlebte, Alles aber nur
Hier breites geschwätziges Detail über
Nebensachen, nach denen man kaum fragt, hier Lücken tiefen Schweigens bei wichtigen Momenten.
Der Zufall hat so gewaltet.
Die Wirksamkeit deö Meisters aber ganz vorüber. hätte er nie gelebt.
Alles ist still als
Sein Leben ein gewaltiger Eisenbahnzug, der nur für
diese einzige Fahrt gebaut worden war, ans Geleisen, die gleichfalls nur für diese einzige Fahrt gelegt worden waren: hinterher alles in sich ver rostend und von Unkraut überwachsen.
Versuchen wir, alö einsame Fuß
gänger der verödeten Bahn dieses Lebens nachzugehn.
I. Jede schöpferische Kraft beginnt mit der Nachahmung dessen, was das
Jahrhundert ihr als zufälligerweise mustergültig entgegenbringt.
Cornelius
wuchs auf unter den Eindrücken der alten Düsseldorfer Gallerie, damals noch nicht nach München tranSportirt, an der fein Vater Jnfpector war. Er fand da Werke aus allen Zeiten und Schulen.
Diese Anfänge feiner
Thätigkeit, von denen noch viel erhalten blieb, sind uns heute gleichgültig.
Die ersten
und
Versuche, als arbeitender Künstler sich
den
Seinigen
den Unterhalt zu schaffen, stellte er in Düsseldorf und in Frankfurt a./M. an.
Hier sehen wir ihn in den verschiedensten Manieren sich mit Leichtig
keit
bewegen.
Ein
Transparent
wird
im Style
Davids
gezeichnet.
Biblische Compofitionen erinnern theils an Rubens, theils an Carstens'
Schule. gefaßt.
Mythologisches in Sepia wird noch mehr im Geiste des letzteren
Illustrationen aus dem bürgerlichen Leben laufen dazwischen, die
sogar elegant gezeichnet sind.
ES kam ihm darauf an, denen verständlich
und angenehm zu sein, von denen er Geld, um zu leben, «nb Mittel er
warten mußte,
vorwärts zu kommen.
Es fehlte noch an einem großen
Stoffe, an dem fein eigenstes Talent sich erproben könnte.
Ein Anfänger, den der Ehrgeiz treibt und der feine Kräfte sich regen fühlt, hat nur einen einzigen bewußten oder unbewußten Wunsch, der unter dem allgemeinen Begriffe „Unabhängigkeit" ein Vielfaches umfaßt: sich zu
erheben über das zufällige Wohl- oder Uebelwollen der zufälligen Freunde
und Förderer, die das Schicksal ihm als anfängliche, erste Repräsentanten deS unsichtbaren öffentlichen großen Publikums zuführte; sodann, sich in unmittelbarer Verbindung zu fühlen mit diesem selbst, der wogenden un
bekannten Masse die man ahnt, und die man zwingen will die Augen auf unS zu richten; weiter, bemerkt zu werden von denen besonders, die an der Spitze der geistigen Bewegung stehen,
«m sich
allmählich leise in ihre
Reihen selbst etnzuschleichen; endlich, zu diesem Zwecke auS eigener Fähig-
keit sich eine große Aufgabe zu stellen, von der zuerst Keiner wissen darf,
später aber Kenner sein soll, der nicht von ihr wüßte.
Cornelius konnte
der richtige Instinkt für die Richtung nicht versagt sein,
zuschlagen hätte.
welche er ein
Er fühlte, daß er auf Goethe loSsteuern müsse.
Cor
nelius' erste große Enthüllung seines Talentes waren seine Compofitionen zu
Goethe'S Faust, der im Jahre 1808, für die größere Welt damals als eine Neuigkeit ersten Ranges, in vollendeter Gestalt deS ersten Theiles erschien.
Und so muß vor allen Dingen von Goethe hier die Rede sein.
UnS heute ist, als litterarhistorisch gebildeten Leuten, der Unterschied geläufig zwischen dem Alten und dem Jungen Goethe.
Der Goethe deS
18. und der des 19. Jahrhunderts sind für unseren Blick zwei fast von
einander unabhängige mythische Personen nebeneinander, jeder in besonderer Uniform und beide mit ganz gesonderter Hofhaltung.
Der eine der frische,
vorwärtSstrebende, demokratische, republicanische, frankfurter Advocat; der
andere der leise erstarrende, sich zurückziehende, monarchische,
tische Weimarische Minister, Excellenz. zählend
im
Durchschnitt,
der
aristokra
Der eine 27 Jahr und weniger
andere 57
und mehr
im Durchschnitt.
Der eine mit feurigem, lebhaft leidenschaftlichem Blick, der andere mit
ruhigem, groß befehlendem Auge.
Der eine sich überstürzend, der andere
wohlüberlegt. Der eine seine Gedanken auf'S Papier hinwühlend, der andere
dictirend.
Zwischen den beiden Reichen der Jugend und des Alters aber,
in denen Goethe so oder so seine Herrschaft führte, liegt ein Terrain, wo weder von Alter noch von Jugend die Rede sein kann: die Jahre um die Vierzig und Fünfzig.
Was war Goethe in ihnen?
Die gleiche Frage könnte ausstoßen bei Friedrich dem Großen.
kennen
Wir
sein Kronprinzen- und jugendliches Königthum, wo er dichtete,
Musik machte und Voltaire kommen ließ, und sein Alter, wo er alle seine Siege schwer auf dem Rücken trug, Voltaire längst fortgeschickt hatte und
Europa so hart im Zügel hielt, daß man immer ungeduldiger seine hohen Jahre berechnete.
Wie war er in seiner besten ManneSzeit, als er weder
jung noch alt war?
Er verschwindet in gewissem Sinne für unsere Au
gen, er führte seine Kriege.
Dasselbe läßt sich von Goethe sagen.
Als
er 1788 aus Italien zurückgekehrt war und die Zeit der Jugend voll
hinter ihm lag, begannen für ihn die Tage der wistenfchaftlichen Arbeit: Wir brauchen ihn
er wurde Gelehrter.
nur daraufhin zu beobachten,
um zn gewahren, wie er von der Schule an nach dieser Seite neigte, wie das Leben ihn immer auf andere Wege lenkte, wie seine Natur ihn im mer dahin zurückführte.
In Italien durfte er zum erstenmale in völliger
Stille mit sich allein nur umgehen.
Er
war
entschlossen,
alles
zu
überwinden von nun an, was seinem eigentlichen Berufe hinderlich sei.
Neben Schiller hat er jetzt ganz das Ansehen eines Professors, der sich
in Weimar seine eigne Universität errichtet hat, wo er zu gleicher Zeit ein ziger Ordinarius, Privatdocent und Student in allen vier Facultäten ist,
und zugleich Rector und Pedell. schaft seines Alters.
Er bereitete den Boden für die Herr
Aller augenblickliche Einfluß und Eindruck auf das
Publicum, in poetischen Dingen, schien ihm gleichgültig geworden.
Er
überließ es der französischen Revolution und Schiller, in Deutschland primo loco von sich reden zu machen, er verfaßte und veröffentlichte Vieles, deffen momentanen Mißerfolg er beinahe berechnete.
Es schien ihm so
wenig daran gelegen, wie augenblicklich von ihm genrtheilt wurde, wie Friedrich an seinen gewonnenen oder verlorenen Schlachten, über die der König so oder so, aus gleicher Tonart an Voltaire schreibt: Friedrich hatte
immer nur den Abschluß im Auge, den Tag, wo er oder seine Feinde nicht mehr könnten, und er glaubte daran, daß er es sein würde an diesem
Tage, der die meisten Kräfte hätte.
Und so Goethe.
Er erwartete still den Tag, wo man mit ihm als einem Manne rech
nen müßte, der immer doch noch an seinem Platze stände.
durfte sich schließlich sagen, der stärkere gewesen zu sein.
Und auch er
Während dieser zwanzigjährigen, auf gelehrte Arbeit gerichteten Zurück
gezogenheit Goethe'S bereitete sich in Deutschland der völlige Umschwung deS litterarischen LebenS, den man die Herrschaft der älteren Romantischen (vom Beginn der französischen Revolution bis zur siegreichen
Schule,
Uebermacht Napoleon'S in Deutschland), und die der jüngeren Roman
tischen Schule, (von
dem Unterliegen Deutschlands bis zu seiner Be
freiung), zu nennen Pflegt. Für Cornelius sind beide Phänomene von Wichtigkeit.
Seine An
fänge hängen zusammen mit dem, was unter der Herrschaft der älteren Romantischen Schule von Goethe für die bildende Kunst gethan ward. Seine Fortentwicklung beruht auf dem, was die jüngeren Romantiker
persönlich für ihn thaten. Soll völlig begriffen werden, wo Goethe stand als Cornelius sich an
ihn wandte, und soll begriffen werden, wie beide innerhalb der eignen Zeitbewegung standen, so muß daS Emporkommen dieser beiden sogenannten
Romantischen Schulen in seine letzten Ursachen verfolgt werden. Beidemale handelt es sich um den Einfluß neuer und übermächtiger Gewalt von außen her.
ES war als die französische Revolution ausbrach, ein Moment einge treten im Leben der Völker, wo ein dämonisches Verlangen erwachte, po
litisch,
litterarisch und künstlerisch das Bisherige nicht mehr zu wollen.
Auch die exquisiteste, historisch als vorzüglich beglaubigte geistige Nahrung erschien schaal und abgestanden.
Ein langes Jahrhundert hindurch hatten
Engländer, Franzosen und Deutsche, um nur die Mächte ersten Ranges
zu nennen, mit ihren edelsten Kräften darauf loS gearbeitet, das beseli gende wahre Reich der Humanität langsam herbeizuführen.
Immer näher
schien eS zu rücken, immer häufiger traten die Vorzeichen ein: aus sorg
sam zubereitetem Materiale sollte in Mitwirkung der gesammten Mensch heit die Welt deS Friedens hervorgehen.
Revolution :
So beginnt die französische
gleichsam daS erste wirkliche Ausbrechen des neuen Bölker-
frühlingS auf dem Boden Frankreichs.
lution schon so viel geleistet,
Hatte die amerikanische Revo
wo einfache edle Menschen auf jungfräu
lichem neuen Erdtheile ein Reich der Tugend zu stiften schienen, was würde Frankreich erst hervorbringen!
Die stolzeste Aristokratie, die reichste
Geistlichkeit, die großartigsten, bestgeschulten litterarischen Legionen reichten sich brüderlich die Hände und der Erfolg war, daß nach einem Taumel
politischen
Wahnsinnes bald die executive Staatsgewalt in die Hände
energischer Canaillen gelangte, die es möglich machten, Alles so völlig durch ciuander zu buttern, daß eine neue Schöpfung der Dinge von Grund aus nothwendig war.
Diese unternahm der erste Napoleon.
Corneliu» und die ersten funfjig Jahre nach 1800.
170
Bei uns hatte man anfangs den äußeren Umsturz der Dinge nicht
miterlebt, wohl aber den
inneren.
Ein durchdringendes Gefühl hegte
Jedermann, daß auch in Deutschland das Alte abgethan fei.
Man ver
langte Neues und zeigte sich willig, jede dargebotene Neuigkeit zu acceptiren.
Und
da auf politischem
und gesellschaftlichem Gebiete die Dinge
beim Alten blieben, so kam der ganze innere Drang auf dem Gebiete der DaS war jene Begeisterung des PublicumS,
Litteratur zum Auöbruch.
von der Schiller getragen ward.
So standen die Dinge bei uns als Goethe aus Italien zurückkam. Goethe fühlte beim Anbruche dieser Bewegung sehr wohl, daß er
nicht auf sie vorbereitet sei. wohl zu statten.
Sein Talent, sich zurückzuziehen,
Er geht mit dem Herzoge auf Reisen,
kam ihm
er macht den
Feldzug in der Champagne mit, er begann endlich den Verkehr mit Schiller.
Was er dichtete scheint er so ganz nur für sich selber zu schreiben oder drucken zu lassen, daß das Publikum die Nichtachtung, mit der es behan
delt wurde, dem Dichter von der Stirne zu lesen glaubte. fand nur in ausgewählten Kreisen die richtige Schätzung.
Das Beste Die venetia-
nischen Epigramme, die römischen Elegien, Wilhelm Meister, Reineke Fuchs, die natürliche Tochter bedurften zu reiner, feiner Luft, um recht erkannt
und gefühlt zu werden.
Fehlte eine gewisse ästhetische Vorbereitung, so
war das Beste an ihnen vorweggenommen.
ES waren keine vollen Wein
fässer, vor denen, wie bei Götz und Werther, ganz Deutschland begeistert gelegen hatte.
Wem damals die feine Zunge fehlte, dem imponirte desto-
mehr die Quantität: jetzt dagegen ward nur auf die feine Zunge Rücksicht
genommen. Bot Goethe von dieser Seite einer sich empordrängenden jungen Kraft, wie Cornelius, nichts dar, was, gleich Schiller's Werken, im Sturm
wind sie hätte packen können, so that er es von einer anderen.
Bekannt ist, ein wie großer Theil von Goethe'S damaliger Arbeit auf die Geschichte der bildenden Kunst gerichtet war.
In Italien hatten sich
ihm Antike und Renaissance erst offenbart. Mit ächtgelehrtem Eifer suchte er sie völlig in sich aufzunehmen.
Aus erweiterter, befestigter Kenntniß
erwuchs dann der Wunsch, sich mitzutheilen und zu wirken, und so sehen wir ihn in immer größerem Maaße sich diesen Interessen zuwenden, bis eS
ihm gelungen war, Weimar zum ästhetischen Vorort für Kunstgeschichte zu machen.
Er redigirte die Propyläen, er schrieb sein Buch über Winckel
mann, übersetzte Cellini, vermehrte seine eigenen Sammlungen, bewirkte
öffentliche Ankäufe und gründete — Alles mit geringen Mitteln — in Weimar die einflußreichen Ausstellungen von Concurrenzarbeiten, für die
die Themata vorher ausgeschrieben wurden und die er selbst später dann
öffentlich recensirte.
Bei diesen Concurrenzen betheiligte sich Cornelius.
Es war seine früheste Zeit,
eine
wo er noch völlig in Nachahmung befangen
EinS der Hierhergehörigen Blätter besitzt das Berliner Museum:
war.
reinlich durchgeführte, große Sepiazeichnung ohne persönliche Eigen Auch hat eS Cornelius von Seiten Goethe'S damals zu nicht
thümlichkeit.
mehr als einer ehrenvollen Erwähnung bringen können, obgleich er den
Versuch mehr zu erlangen wiederholt hat.
Eine Natur wie Cornelius konnte bei dergleichen nicht an erster Stelle stehen; es brauchte eines anderen Anstoßes, um Goethe'S Blicke auf ihn zu lenken.
Abermals sehen wir nun ein neues politisch-litterarisches Phänomen auftauchen.
All diese wohlwollenden, friedlichen Bestrebungen, welchen die kriegerische Bewegung am Rheine keinen Eintrag gethan hatte, erlitten durch den Ein
bruch Napoleon- in Norddeutschland 1806 einen plötzlichen Umsturz und eS
ist bekannt,
welche Gedanken
es jetzt waren,
an
denen sich
unter
dem Drucke der fremden Herrschaft jetzt eine neue Generation emporrich
tete.
Beim Walten jener älteren Romantik hatte das verheerende Feuer,
welches Frankreich verzehrte, Deutschland im Ganzen nur eine wohlthätige
Wärme geschenkt. daß antike,
Was neu und reizend erschien, wurde hervorgeholt, so
spanische,
italienische,
französische, englische und altdeutsche
Litteratur umd Kunst gleichmäßige Pflege empfingen.
ES war ein heiteres
Spiel mit den Schätzen der Vergangenheit gewesen.
Jetzt, wo die Nation
mit furchtbarem Ernste in den Kampf um Leben und Tod hineingerissen
wurde, nahm das Deutsche Alterthum in Schrift und Kunst den ersten Rang ein. Von den Franzosen im eignen Vaterlande an der Gurgel gehalten, er stickend unter dem Verbote jeder freien Gedankenäußernng, flüchtete man in
die unschuldig erscheinenden alten Jahrhunderte der eigenen Geschichte. Goethe aber hatte seiner Anlage nach wenig damit zu thun.
Die
älteren Romantiker, deren Feldlager Jena war, hatten in einem zuletzt
doch natürlichem Verhältniffe zu ihm gestanden, so daß er ihre Bestrebungen
allmählich schätzen lernte, sogar an ihnen Theil nahm; die jüngeren Ro mantiker dagegen, deren Schwerpunkt in Süddeutschland lag, ließen ihn
kalt.
Auch er hatte einst für vaterländisches Wesen geschwärmt.
Die Be
geisterung der jetzt aufschießenden, jungen Leute aber war verschieden von
der, aus der heraus dreißig Jahre früher die ersten Gedanken des Faust und des Götz hervorströmten.
Damals allgemein menschliche Ideen, zu
denen man sich träumend erhob; jetzt politische Absichten, die man mit ge
spannten Blicken und Fäusten verfolgte. wieder empor.
Das getretene Deutschland sollte
Alle guten Geister vergangener Jahrhunderte sich an diesem
Kampfe betheiligen.
Ein neues nationales Leben voll alter Sitte und
Gottesfurcht sollte beginnen. zu alt dafür.
Goethe fühlte sich bei seinen sechözig Jahren
Und doch! — in diese Stimmung hinein kommt jetzt der
Faust in seiner neuen Gestaltung.
Als er 1792 als „Fragment" in der
Form eines unscheinbaren Bändchens erschienen war, hatten sich nur Wenige
darum gekümmert: jetzt, wie Werther ehedem so ganz im rechten Momente einschlug, wirkte er wunderbar.
Die älteren und die jüngeren Romantiker
hatten wieder einen Meister gefunden.
Goethe war ihnen längst nicht mehr
der unnahbare GLtterjüngling, sondern nur der litterarisch vornehme Mann,
an den die jüngeren Herren von der Feder sich immer brüderlicher heran
drängten.
Nun wurde Jedem wieder klar, wo der Unterschied läge.
Das
war, nach langen Mitteljahren, einmal wieder ein üppiger Herbst, der den
gestimmten europäischen Durst herausfordern durfte.
Der alternde, dick
werdende Geheirnerath von Goethe war wieder nur „Goethe", ohne jung
oder alt, ohne Von und Excellenz, der Mann, der jetzt die jungen Litteraten
und die alten schriftstellernden Autoritäten, weil er zu übermächtig war, lobpreisend sämmtlich auf seiner Seite hatte und dem gegenüber Opposition
inopportun war. Nun erinnerte man sich, daß Goethe ehedem ja der erste gewesen,
der den Dom von Straßburg gepriesen, daß fein Goetz das Deutsche Kaiserthum und die Thatkraft des Deutschen Mannes verherrlichte. Goethe hatte in den vergangenen 70er Jahren nichts politisches im Sinne gehabt,
aber er konnte nicht hindern, daß man sich nun an ihm begeisterte.
Faust wirkte als fei er eben aus feiner Phantasie entsprungen. freilich empfand andere.
Der
Goethe
Schon 1797 schrieb er „Ihr naht euch wieder
schwankende Gestalten," das Stück war ihm zu alt geworden, die hörten
es nicht mehr, die eö zuerst vernommen, und der Beifall selbst macht seinem Herzen bange.
Wie viel stärker mußte zehn Jahre später dies Gefühl
sein, als sein Werk eine Wirkung that, die er nach soviel Erfahrungen nicht mehr hoffen durfte.
Nichts natürlicher, alö daß dies Gedicht, deffen
Figuren lebendiger sind als die irgend einer anderen Dichtung aller Völker und aller Zeiten, Cornelius' jugendlichen Genius erfüllte.
In Anschlag müssen wir dabei bringen, daß Cornelius damals, wenn auch ein Anfänger in der Kunst, doch kein Anfänger im Leben war.
stand im 25. Jahre.
Er
Er war völlig in der Lage, die leidenschaftliche
Gluth, aus der heraus der Faust gedichtet worden war, zu empfinden.
Und ferner, fein Geist war durch feine zu große Belesenheit abgeschwächt. Er hatte kaum Schulbildung genossen: die Bibel war sein Lesebuch ge
wesen.
Der ihm zu Theil gewordene Unterricht so mittelmäßig, daß
er mcht orthographisch schreiben konnte.
Wa- wir an Briefen und Ge-
dichten aus dieser frühesten Periode besitzen, deutet auf den oberflächlichen Nun höchst seltsam aber,
Einfluß Schillerscher Gefühle und Ausdrucksweise.
wie,
während auf der einen Seite sein Geist durch die Aufnahme der
großen Dichtung Goethe'S zu solcher Höhe gehoben wird, auf der anderen jetzt ein den künstlerischen Ausdruck beengender Einfluß flch bei ihm geltend
macht,
wie sehr auch daS bedeutendste
welcher recht inne werden läßt,
Talent von
den Zufällen der Zeit abhängig ist,
lung fällt. Der Einbruch
in die seine Entwick
der französischen Republicaner
in
die Nieder- und
Rheinlande hatte ein völliges Ausschütten von Verhältnissen bewirkt, an die
seit undenklichen Zeiten von Niemanden gerührt worden war. Dieser Sturm, der Kirchen, Stifter und Paläste erschütterte oder vernichtete, hatte eine
Masse von Werken altdeutscher und niederländischer Kunst ganz zerstört, den erhaltenen Rest aber frei auf den Markt geworfen, so daß aus den gelegentlichen Ankäufen dieser Reliquien die Sammlung entstehen konnte, welche, obgleich längst in das Münchner Museum eingeflossen, immer noch
als „Sammlung der Gebrüder Boisseröe" berühmt ist.
In Cöln, wo diese
Sammlung entstand, brachte Friedrich Schlegel, eines der Häupter der jüngeren romantischen Schule, einen entscheidenden Winter zu. Man verstän
digte sich.
Auf diesen herrlichen Tafeln schien sich die Form zu offenbaren, Die Werke der Van Eyck, Ban
deren da- neue Deutsche Wesen bedurfte.
der Weyden und Memlings wirkten wie überirdische Offenbarungen, wie
direkter Wiederschein der
himmlischen
Dinge.
Nur
dem vorbereiteten,
würdigen Kunstfreunde wurden sie wie Heiligthümer gezeigt.
ächte Kunst, daS Natur, daS Gottesdienst im edelsten Sinne.
DaS war
Hier waren
gleichsam die Coulissen, Dekorationen und die Garderobe der wiederauf lebenden Deutschen Herrlichkeit gegeben.
Diese Werke sind eS gewesen, die
dem in unstäter Nachahmung dahin und dorthin sich wendenden Cornelius festen Ankergrund
Geschicklichkeit,
boten.
Er änderte
sich von Grundauö,
mit der er sich in den
tauschte die
antikisirenden Formen
der Da-
vidschen und der CarstenS'schen Schule flüssig bewegte, gegen daS eckige Wesen ein, daS die Stiche Dürers oder gar Martin Schön's boten, und
brachte so den Faust zu Stande, der ohne eine Erklärung der Umstände
heute weder begreiflich noch genießbar ist, der zu seiner Zeit aber für die, in deren Kreisen er lebte, der Inbegriff der ächten Kunst schien.
Romantikern
Boifferüe,
war
Cornelius jetzt
der,
der
die bei Goethe soviel galten,
Goethe sollte ihm
einen Zweig
Gedicht ihm selber eingetragen. sie am Erfolge nicht zweifelten.
von
da
kommen mußte.
Den
Die
traten bei diesem für ihn ein.
dem
Lorbeer
abgeben,
den
das
Sie waren ihrer Sache so sicher, daß Goethe würde gleichsam ein Manifest er-
EorneliuS und die ersten fünfzig Hahre nach 1800.
174
lassen und Cornelius, etwa zum Nationalkünstler des Deutschen VolkeanSgerufen — dergleichen mag man sich gedacht haben — würde als Fort setzer der alten Meister das Größte leisten.
Hatte Goethe den schönsten
dichterischen Ausdruck für Deutsches Leben gefunden, so sollte nun auch
die künstlerische Form dafür gegeben sein. Goethe jedoch durchschaute,
daß seine Anerkennung des Künstlers
diesem am wenigsten zu Gute kommen, sondern von einer Partei au-ge-
beutet werden würde, mit der er zwar nicht brechen, aber der er nur den Finger und nicht die ganze Hand reichen wollte.
Er hatte mehr von der
Welt gesehen als die junge Generation um ihn her ahnen konnte, welche
des guten Glaubens lebte, daß alle menschliche Entwicklung frisch mit ihr erst angefangen habe.
Seine Correspondenzen liegen ja nun vor
und man erkennt die Linie die er innehielt. cipien hier gehandelt haben.
Er muß nach festen Prin
AuS dem ungedruckten Briefwechsel Wilhelm
GrimmS mit Achim von Arnim ersehe ich, welche Mühe letzterer sich gab, aus Goethe'S Feder eine Vorrede zur Ueberfetzung der Dänischen Helden lieder GrimmS herauszulocken.
Arnim stand Goethe nahe, dieser wieder
hat Wilhelm Grimm persönlich auf das wohlwollendste empfangen, allein zur Vorrede, — mein Vater hat natürlich direct niemals Schritte ge than — war er nicht zu bewegen.
Daher auch der zurückhaltende Ton,
mit dem Goethe das ihm zugeeignete Wunderhorn besprach, seine Abnei gung gegen
die Dichtungen Arnim'S, Brentano'S, Uhland'S, Kleist'S.
Goethe sah in den Bestrebungen der jüngeren Romantiker, soweit sie Kunst
und Poesie betrafen, einen Rückschritt.
DaS politische Parteiwesen war ihm
verhaßt. Der jüngsterschienene Briefwechsel von GörreS mit seinen Freunden
läßt die jüngeren Romantiker, was die katholischen Mitglieder der Gemeinde anbetrifft, bei weitem geschlossener erscheinen als bis dahin bekannt war.
Boifferöe fungirte als Diplomat am Goethe'schen Hoflager.
im intimsten Verkehr mit ihm;
Goethe steht
manchmal glaubt Boisseröe ihn fest in
seinem Fahrwasser zu heben bis er plötzlich inne wird, Goethe habe nur
zufällig für eine kurze Strecke den gleichen CourS eingeschlagen.
Daher,
bei aller Verehrung, die manchmaligen wahren Wuthanfälle Boisserse'S
gegen ihn.
Heute erkennen wir, daß Goethe nicht anders konnte wenn er
sich so zurückhielt.
Ich lasse, um die Dinge völlig klar zu legen, einige Betrachtungen ganz allgemeiner Art einfließen.
ES giebt für unS neben dem engeren nationalen Bewußtsein inner
halb der übrigen Völker ein weiteres nationales Bewußtsein innerhalb der
großen Menschheit. Dort fühlen wir unS als Deutsche gegenüber Franzosen,
Engländern, Dänen, Russen;
hier mit allen übrigen zu einer einzigen
Masse vereinigt nur als Europäer für uns.
Bet Betrachtung unserer
europäischen Gesammtentwicklung erkennen wir bald die eine, bald die andere Form diese- Bewußtseins als die Ursache des allgemeinen Fort
Die griechische Cultur kam im Gegensatze zu der der an
schrittes.
derer Nationen empor, satzes.
die römische aus dem Vergessen dieses Gegen
dieses
Die höchste Blüthe
Vergessens
waren
Pabstthum
und
Deutsches Kaiserreich, bis hier der Gegensatz deS engeren nationalen Ge fühles einbrach.
Bon jetzt an wechseln beide Contraste schneller, fast von
Jahrhundert zu Jahrhundert.
Die Cultur deS Zeitalters, in welchem Goethe aufgewachsen war, be ruhte auf europäischem Gemeingefühle.
sollten zusammenfließen.
Richtung,
daS
Die geistigen Güter aller Nationen
Die ftanzösische Republik trieb noch in dieser
Kaiserreich
erst
unterbrach
die Strömung.
Auch die
älteren Romantiker hatten sich von ihr treiben lassen: die jüngeren ver achteten sie.
Ihr Patriotismus hatte etwas ausschließliches, feindliches:
Arndt wollte die Grenzen Deutschlands mit einer Wüste umziehen, in der wilde Thiere gezüchtet werden sollten.
Goethe konnte das nicht verstehen;
er konnte aber auch nicht begreifen, daß ein historisches Gesetz hier waltete.
Beschränkung auf Sprache, Wissenschaft, Poesie, Kunst, die nnr Dentsch
sein sollte, waren ihm Widersprüche in sich selbst.
Und ferner, auch die politische Seite dieses Umschwunges könnte er nicht verstehen.
Er war freilich ein freier Reichsstädter, der eine Kaiser
krönung miterlebt hatte, das Deutsche Kaiserthum aber, das man damals
schon für Norddeutschland begehrte, lag ihm so wenig im Blute als die
ganze, auf bürgerliche Freiheit gerichteten Deutsche Bewegung. er sie sollen kennen lernen?
geläufig.
Wo hätte
Ihm waren nur ganz kleine Verhältnisse
Die Forderung politischer Unabhängigkeit nach außen hat er
niemals gestellt, die Empörung, auS der Kleist'S Hermansschlacht hervorgmg,
niemals empfunden.
Das Appelliren an
das Volk, als die bewegende
und tragende Kraft der Ideen, war ihm etwas Fremdes.
Wir heute sehen
in den Romantikern die ersten ahnenden Apostel unserer jetzigen bürger lichen Freiheit, wir haben die Lehre von dem sich selbst reinigenden Geiste deS Germanischen Volkes inne wie etwas langgewohntes; Goethe aber —
vor den Freiheitskriegen — stand hier nichts vor Augen als das FiaSco der französischen Revolution, aus der härtere Tyrannei entstanden war
als jemals herrschte.
Nach den Freiheitskriegen mußte er in Deutschland
bald genug sehen, wie alles Politische zur Karrikatur ward.
Der demo-
cratische Zug im Wesen der jüngeren Romantiker war ihm unheimlich.
Obgleich er erkennen mußte, daß der Deutsche Adel weder die Macht noch die Erziehung besaß, die Leitung der Dinge an sich zu reißen, schau-
Dß
Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.
bette ihm doch vor dem Uebergang der entscheidenden Macht an die allge
meine Masse deS Volkes.
Es war ihm so unmöglich, hierin daS Wirken
eines historischen Gesetzes
zu erkennen,
Generationen,
als es den auf uns
folgenden
im Jahre 1970 etwa, vielleicht unmöglich sein wird, ein
Wiedereinstürzen des heutigen democratischen Aufbaues und ein Wiederein-
treten
von
Herrschaftsformen
welche
zu verstehen,
dann vielleicht mit
Theocratie und Adelsregiment abermals Aehnlichkeit haben werden. Leider hatte Boisseröe nun gerade Cornelius ausgesucht, um mit dessen
großem, aber ganz democratisch angelegtem Talente Trümpfe gegen Goethe
auSzuspielen.
Offenbar Imponirten dessen Blätter Goethe.
Hätte Cornelius
als unbefangener junger Mensch, ohne Protection und Verbindungen, mit
einer Rolle solcher Arbeiten in der Hand an Goethe'S Thür geklopft,
so
würde dieser vielleicht sein AeußersteS daran gesetzt haben, sich seines Talentes
anzunehmen.
Wie die Dinge lagen jedoch,
blieb ihm nichts übrig,
mit Vorsicht und Kühle eine bedingte Anerkennung auszusprechen.
als Man
wollte ja auch nicht guten Rath von ihm, sondern wußte ohne ihn, sogar ihm entgegen,
wie
man es anzufangen habe.
Goethe'S Lob befriedigte
deshalb wenig, man sah Kälte des alternden Mannes und undeutsche Be
fangenheit darin.
Goethe aber that gerade soviel als er durfte.
WaS
er an den Compofitionen rühmte, war das Lebendige, Aechte, die eigene
Bewegung der Gestalten.
In der That ist diese so stark,
daß sie daS
wunderlich eckige Wesen, in daS der Künstler sich hinein zwängte, durch
dringend, zuweilen in ganz reiner Wirkung zur Erscheinung kommt.
fühlte: der Mensch könne etwas machen.
Goethe
Wie hat Cornelius daS brutale
LoSstürmen Faust's auf Gretchen, in dem er zu Anfang mut das „Ding"
sieht, das Mephisto ihm, sei eS wie es sei, verschaffen sollt, zum Ausdrucke gebracht ! Wie, Faust gegenüber, die Unschuld deS Mädchens, das sich ihm hingiebt als wenn er ein Engel Gottes wäre, und wie hat er den Ab
glanz dieser Unschuld rückwärts auf Faust selbst wieder wirken lassen, der
durch
diesen Glauben deS armen KindeS an ihn
erscheint.
wieder hoch und edel
Wer, nach Cornelius, hat das darzustellen überhaupt nur ver
sucht? Cornelius hat sich in Goethe'S Welt hinein begeben, athmet in ihr
und
empfindet sie
leibhaftig wie Goethe selber.
Man fühlt eS seinen
Zeichnungen an: er ist überall selbst dabei gewesen, er wandelte in diesem
Lande der Phantasie, war zu Hause in Faust und Gretchen'S Stadt und ihrer Straße,
kennt jede Ecke da und würde sich im Dunkeln
Gretchen'S Thüre finden.
Er war im kleinen Gärtchen,
selber zu
wo Faust und
Gretchen sich suchten und fanden, und sah, unter dem Volk in der Kirche, Gretchen
da zusammensinken.
Jeden behauenen Stein im alten Dome
hat er so scharf gewissenhaft gezeichnet alö sei er als Küsterssohn da auf-
gewachsen und habe als Kind den Kalk zwischen ihren Ritzen herauSgepolkt. Cornelius' Nachfolger haben auf diesem Felde ihre Phantasie höchstens mit dem genährt, was sie aus dem Theater mit nach Hause brachten.
Cornelius offenbart in seinen Blättern eine erstaunliche Macht, uns
symbolisch in daS Gefühl hinein zu versetzen, das er darstellen will. Mit
einfachen, harten,
unbehülflichen Linien gelingt ihm das.
Da wo der
Sturm Mephistopheles an eine schroffe Felswand drückt, als sei er platt
angeklebt,
ist die Macht des WindeS im Gebirge überzeugend dargestellt.
Wo er Faust und
Mephisto
zu Pferde am Rabensteine
läßt, empfindet man den sausenden Galopp.
vorüberfliegen
Goethe rühmt einmal,^ als
ihm in den zwanziger Jahren eine Illustration Delacroix'S zur gleichen
Scene vorgelegt wurde (Eckermann erzählt es) die feine Unterscheidung, mit der der Künstler den unbewegt im Sattel sitzenden Mephisto dargestellt
hat, dem Sturm und irdischer PferdecarriLre ganz gleichgültige Elemente
sind, so daß er behaglich beguem sein Roß nur als zufälligen Sitzpunkt
behandelt, während Faust als voller luftgepeitschter Reiter wie zu einem Theile seines Pferdes geworden ist. Genau daffelbe hatte Cornelius soviel
früher bereits empfunden und dargestellt.
Der Gegensatz springt sofort
in die Augen und wirtt besonders scharf auf dem ersten Entwürfe,
weil
da Mephisto's Antlitz bei weitem weniger teufelsmäßig geschnitten erscheint, indem das carrikirt Gespenstermäßige der äußeren Erscheinung
so daß,
zurücktritt, das innerlich GespeNstische um so durchdringender wird.
Diese
erste Skizze des Blattes befindet sich im Privatbesitz in Frankfurt a./M.
Ein Blick wie der Goethe's mußte diese und soviel andere Züge ja sofort entdecken.
Allein er sah Cornelius in einer Befangenheit, genährt
durch den Einfluß bestimmter Persönlichkeiten, aus der ihn, wie ihm die
Erfahrun^ssagen mußte, nur eigene Kraft vielleicht befreien konnte. Goethe hatte eS sott, den Leuten zu predigen. Ihm standen illustre und näherlie gende, überzeugende Beweise vor Augen, wie sie Alle, die er hatte war
nen wollen, ja doch nur wieder nach den Garnen gelaufen waren.
Wie
bei jedem großen Talente schien ihm „der Erfolg auch hier abzuwarten." Dennoch, der Rath, welchen er Cornelius damals ertheilte, zeigt, wie klar
ihm
das
hier Nothwendige vor Augen stand.
Offenen Wider
spruch gegen dieses leidenschaftliche Hineinkriechen in die abgelebten alt
nationalen Formen erkannte er als vergeblich.
Es kam darauf an, den
Künstler eben innerhalb dieses Materiales selbst auf den rechten Weg zu bringen.
Deshalb, wollte er Dürer nachahmen, so mußte er ihn ganz
kennen, um ihn in sich aufzunehmen.
Goethe wies Cornelius auf diejenige
Production Dürer'S hin, welche als daS Höchste erscheinen mußte, was seiner
illustrtrenden,
phantastischen
Preußische JahMchcr. Bd. XXXV. Heft 2,
Manier
entspringen
12
konnte:
da-
Münchner Gebetbuch des Kaiser Max.
Cornelius konnte daraus vielleicht
erkennen, wieweit man bei bloßen Umrissen mit der Feder alS künstlerischem
Mittel überhaupt zu gelangen im Stande sei. wesen sein,
ihm
vorzurechnen,
ES würde vergeblich ge
wer Modellirung,
daß,
Verkürzungen
und Farbe absichtlich ignorire und die Figuren mehr auf den Schattenriß als auf Rundung durch Licht und Schatten hin anlege, auf das Höchste in der Kunst Verzicht geleistet habe.
Dürer's Arabesken predigten Cor
nelius möglicherweise in der Stille, daß mehr als Arabesken auf seinem jetzigen Wege nicht zu erreichen sei. Wir sehen in der Com-
Cornelius nahm diesen Wink dankend an.
position des Titelblattes zum Faust, wie wörtlich er Goethe's Hinweisung aufgefaßt, und wir gewahren in der Folge bei allem,
was Cornelius
arrangirt, den Einfluß dieses Dürer'schen ornamentalen Wesens.
Jeden
falls war Goethe's Interefle, soweit es durch Annahme der angetragenen Dedication zum Vorschein kam, Ursache, öffentlichung der Blätter übernahm.
daß ein Buchhändler die Ver
DaS dafür vorausempfangene Geld
die Abreise nach Italien möglich, wo die Stiche vergeben und
machte
ausgeführt, auch die letzten fehlenden Compositionen geschaffen werden sollten.
Förster giebt über alt dies die genauesten Mittheilungen. —
Ehe wir zu Cornelius' Aufenthalte in Rom übergehen, einige Bemer
kungen. Ich möchte die Frage stellen: .Wer kennt Cornelius' Faust?
Ich
meine damit nicht, daß man die Kupferstiche nach seinen Federzeichnungen,
oder
vielleicht
Federzeichnungen
die,
in
selber,
Besitz
des
Städelschen
einmal oder öfter,
Museums befindlichen
betrachtet habe;
sondern,
daß man, was von vorbereitenden Zeichnungen von Cornelius' Hand für
dieses Werk vorhanden ist, kenne und verglichen habe.
Nur aus solchem
Studium kann die volle Würdigung des Geleisteten hervorgehen.
Einen Theil seiner Skizzen, darunter Entwürfe zu Blättern welche
später gar nicht gestochen worden sind, fand ich im vergangenen Herbste beim Kunsthändler Prestel in Frankfurt käuflich. besitzt ein sainmelnder Privatmann ebenda.
Einen anderen Theil
Wiederum andere Skizzen
befinden sich, gleichfalls in Frankfurt a./M., in den Händen des InspectorS
des Städelschen Institutes Herrn Malz. Leider haben wir in Berlin kein öffentliches Institut, für welches ich
den Ankauf dieser Blätter, oder auch nur die Bestellung photographischer Copien derselben hätte übernehmen dürfen.
Um nur bei einer dieser Compositionen zu sagen, ankommt:
worauf eS hier
beim Ritte zum Rabenstein würden wir mit Hülfe der Frank
furter Skizzen — wenn etwa unser Königliches Museum dergleichen anSzu-
legen gesonnen wäre — Cornelius' Composition in ihren ersten Keimen be
AuS, die Figuren nur umhüllenden, nebelhaft umschrei
obachten können.
benden Strichen leuchtet uns auf dem ältesten Blatte die.erste Gestaltung der Scene entgegen. Immer mehr scheidet sich auf den folgenden das Zu
fällige von dem, was bleiben soll.
Immer härter aber auch legt sich um
die ursprünglich blühend lebendige Anschauung etwas, was
sich
einem
Panzer vergleichen ließe: die absichtlich gewählte harte Manier; bis endlich, unter den Händen des fremden Kupferstechers, Alles wie erstarrt scheint. Ein Stadium gab es für diesen Ritt der beiden Gestalten,
wo auS den
flüssigen, warmen Bleistiftstrichen ein farbiges Bild
weichen,
sich, wie
eS Rubens nur gemalt hätte, in colossalen Formen entwickeln konnte.
ES hätte nur bedurft, daß durch ein Wunder Cornelius damals in eine Werkstätte, wie die Rubens' war, hineinversetzt, auö den ihn umgebenden
Eindrücken heraus in dies großartige Element hineingezaubert worden wäre.
Denn wie farbig er anfangs zn malen wußte, zeigt feine ans dieser Zeit stammende Heilige Familie auf der Frankfurter Städtischen Gallerie.
Statt dessen sehen wir die kalte historische Wirklichkeit ihn festhalten. Daim Kupferstiche dem Publicum endlich zu Gesichte Kommende war weder ein Abbild dessen mehr, was Cornelius wollte, noch dessen was er ver
mochte. Die Pflicht unbefangener wissenschaftlicher Critik ist, dies hervor
Förster'« Buch zeigt unS in unwiderleglichen Actenstvcken, wie
zuheben.
Cornelius' freier Geist in ungünstigen, engen Berhältniffen emporküm
merte.
Die Frankfurter Skizzen bilden eine unentbehrliche Ergänzung
dieser Nachrichten.
Sie erst enthüllen ganz die innere Geschichte seiner
damaligen Thätigkeit.
II. Corneliu-
macht sich 1811 auf nach Italien.
Man sollte denken,
Mailand, Parma, Bologna, Floren; wären für den Ankömmling im Lande der künstlerischen Verheißung Stufen sich steigernder Glückseligkeit gewesen.
Me Briefe sagen wenig von solcher Stimmung.
Wie zwischen Zwangö-
schMedern geht er vorwärts, nur das erkennend was in den Kreis der in
Frarikfurt empfangenen Eindrücke hineinreicht, bis zuletzt- dann in Rom
eine feste Gesellschaft, wie ein extra dazu ausgestellter und avisiter Polizei posten, ihn in Empfang und Beaufsichtigung nimmt. Doch eS dürfte kein junger Künstler jemals nach Italien gegangen fein,
von den Zeiten Raphaels an, wo diese Wanderungen begannen, bis zur heutigen,
wo sie aufhören,
dem nicht in ähnlicher Weise vorgezeichnet
worden wäre, was zn sehen sei und was nicht, was anznerkennen und
was zu verurtheilen, was nachahmungSwerth fei und wovor man sich als
12*
gleichgültig oder verderblich zu hüten habe.
Den Wechsel dieser Anschau
ungen, nebst den Ursachen des Umschwunges jedesmal, darzustellen, würde eine schöne Aufgabe kunsthistorischer Forschung sein, wenn Material auS
erster Hand dafür gesucht wird.
Diese Untersuchung würde zeigen, daß
eS, selbst bei bedeutender Unabhängigkeit des Geistes, oft fast unmöglich
fällt, sich von der Macht der Parteiansicht unbefangen zu halten.
In
jenen Tagen war der Haß gegen den älteren Napoleon aller geistigen Be
wegung in Deutschland zugemischt.
Die Seelen der Menschen
wurden
gekeltert, damit junger Most entstände, der die alten Schläuche sprengte.
Mochte er trübe sein: er schien nützlicher und edler als der alte, ruhig
liegende, abgeklärte Wein der klassischen Bildung.
Diese goldnen Fluthen
mundeten denen damals nicht mehr, denen das Deutsche Vaterland näher
stand als die unpersönliche europäische Kunst.
Zwei Jahrhunderte hindurch
hatten Jtaliäner, Franzosen, Niederländer und Deutsche die gemeinsamen Erfahrungen erforscht, genutzt, vermehrt und in Privatateliers oder auf Academien sorgsam weitergegeben, welche sie der Kunst des 16. und 17. Jahr
hunderts verdankten.
Nun war dem nachwachsenden Geschlechte der Sinn
dafür abhanden gekommen.
Die alten Meister, welche das Publicum Lud
wigs des Fünfzehnten eben noch mit Werken entzückten (die heute, vielleicht in noch viel höherem Maaße, von neuem das Entzücken und den Stolz
der Sammler bilden:
Grenze,
Fragonard,
Chardin u. s. w., wie sie
durch die Brüder Goncourt in ihren zwei Bänden über die französische
Kunst im 18. Jahrhundert in einem höchst geziertem, aber äußerst leben digem pariser Französisch kürzlich biographirt worden sind) saßen mit ihrer
Kunst und ihren Künsten verlassen da, während der jüngere Revolutions franzose sich im Anblicke der ghpsernen, basreliefartig flachen und äußer
lichen Nachahmung der Antike patriotisch berauschte, welche von David und den Seinigen als officielle Kunst auftecht erhalten wurde. Welche Ansprüche durfte erlernte Kenntniß alter todter Atelierkniffe erheben gegenüber den
Inspirationen der neuesten lebendigen Begeisterung?
In ähnlicher Weise
wird nun, als die schweren Zeiten kamen, auch in Deutschland gerechnet. Was bei Carstens noch die stille Ueberzeugung eines eigenthümlichen, mit
persönlicher Berechtigung für diese Auffaffnng begabten Mannes gewesen
war, wurde jetzt als Grundlage allgemeiner.Kunstbildung verwerthet. Eine Art politisch-religiösen Gottesdienstes, dem die visionäre Anschauung der. darzustellenden Kunstwerke entspränge, sollte der AuSgang für jedes
große Talent fein. In Lübeck war dieser neue Geist in die Seele eines jungen Mannes eingedrungen,
der
ohne technisch künstlerische Anregung — welche die
Talente meist hervorzulocken pflegt — rein auS der Hingebung an die in
Deutschland waltende begeisternde Stimmung sich zum Künstler bestimmt,'
oder sagen wir: sich der Kunst geweiht hatte:
Friedrich Overbeck.
Er
ziehung und Umgebung hätten ihn in anderen Zeiten vielleicht anders ge
leitet; jetzt, als gölte es in einen heiligen Kampf zu ziehen, erwählt er die
Künstlerlaufbahn und, da in Lübeck nichts zu lernen war, auch Berlin Hier fiel er in die
nichts bot, wendet er sich an die Wiener Academie.
abgelebte Fortübung dessen, was man später abschließend und aburtheilend den „Zopf" nannte.
Die Zöpfe wurden damals in Europa, zum Theil
unter hartnäckigem Widerstande, abgeschnitten. ES muß Overbecks vor gewaltsamer Initiative zurückweichende, mäd
chenhafte Natur in Anschlag gebracht werden, um zu würdigen was jetzt
in Wien geschah.
Er und eine Anzahl gleichgesinnter Schüler erklären
daS auf der Academie gelehrte sei Götzendienst.
Nur Begeisterung und
unverfälschtes Naturstudium dürften maaßgebend sein.
DaS Ende war,
daß die kleine Gemeinde relegirt wurde und sich, 1810, auf eigne Faust nach Rom begab.
Wenn man hört,
wie die jungen Leute in einem verlassenen Kloster
sich dort einquartieren, (waS ihnen den Namen „Klosterbrüder von San
Isidoro" einbrachte), sich abschließen, in ununterbrochener lernender Thä tigkeit sich selbst genügend und alle geistige Nahrung nur sich selbst zube
reitend, so sollte man für unmöglich halten, daß zu gleicher Zeit in Rom Canova'S glänzendste
Zeiten
daß
walteten,
Thorwaldsen
als fertiger
Meister arbeitete, Rauch alS studirender Anfänger erschienen war.
Ihnen
galt die allen Nationen gemeinsam gleich ehrwürdige Antike als die höchste Blüthe der menschlichen Kunst. brüder von San Isidoro.
Wüste fühlen sie sich.
Ihre Kunstgeschichte geht von Giotto bis Fiesole,
höchsten- bis zu Raphael.
Der Rest Sünde und Verfall.
vollere römische Thätigkeit ist Renaissance von
All daö wie fortgeblasen für die Kloster
Wie einsame Ansiedler innerhalb einer großen
das Verderben.
schon
1500 an nicht vorhanden für sie.
die Nibelungen Quellen ihrer Begeisterung.
am besten formulirt,
indem er sagt:
schichte zum erstenmale ein,
Raphael's
Die Pracht der Die Bibel, Dante,
Goethe hat diese Richtung
„der Fall tritt in der Kunstge
daß bedeutende Talente Lust haben, sich
rückwärts zu bilden, in den Schooß der Mutter zurückzukehren und so eine neue Kunstepoche zu gründen.
Dies war den ehrlichen Deutschen
vorbehalten und freilich durch den Geist bewirkt, der nicht Einzelne, son dern die ganze gleichzeitige Masse ergriff".
An diese, mit Cornelius' frankfurter und rheinischen Freunden in Verbindung stehenden römischen Hauptvertreter der Deutschen Richtung
war Cornelius adressirt worden.
Seine ersten Briefe lassen
ihn al»
gänzlich befangen von ihnen erscheinen. Wäre das nicht der Fall gewesen, so begriffe sich nicht, wie jetzt in Rom seine neue große Arbeit zu den Nibelungen so entstehen konnte, wie sie entstand. Riegel will bei der Compositionsweise der ersten Nibelungenblätter
den Einfluß deS frühen Italieners erkennen.
Demnach wäre für Cornelius
Dürer selbst nun bereits zu modern gewesen und er hätte sich der ein halbes Jahrhundert älteren Auffassung Fiesole'S zugewandt.
Verhält eS sich
in der That so, dann wäre hier ein neues Zurückweichen zu constatiren, das zu den seltsamsten Phänomenen in der Entwicklung eines Meisters gehörte.
Cornelius hätte sich, wenn er die beiden Blätter: Siegfried, wel
cher in der Küche den Bären losläßt, und Siegfried'S Abschied von Chrim-
nachdem seine gesammte frankfurter Thätig
hilde erst in Rom zeichnete, keit bereits hinter ihm lag,
die mir unbegreiflich ist.
in einer Weise wieder verkindlichen müssen
Noch weniger verständlich aber werden
diese
Arbeiten, wenn, wie Riegel die römischen Verhältnisse darstellt, Cornelius sich nicht ausschließlich zu den Klosterbrüdern von San Isidoro gehalten
hätte, sondern früh bereits mit Thorwaldsen und Koch,
welche als Car
stens' Nachahmer und Fortsetzer die classische Richtung der älteren roman tischen Schule
in Rom vertraten,
in Verkehr
gekommen
wäre.
Und
schließlich: die in Rom hinzncomponirten letzten Faustcompositionen erhoben sich in gewissem Sinne bedeutend über die frankfurter Blätter; wie sollten
neben ihnen in Rom jetzt die ersten Nibelungenblätter entstanden sein?
Bei den späteren Nibelungencompositionen ist die Nachahmung römischer Werke offenbar.
Am auffallendsten beim Zusammensinken Chrimhilden'S
vor der Leiche Siegfried'S, wo wir die Gruppe der ohnmächtig werdenden,
von ihren Begleiterinnen aufgefangenen Maria der Grablegung Raphael'S im
Palazzo Borghese wörtlich
wiederfinden.
in'S Deutsche
übertragen
bei Cornelius
Die großartigste unter diesen Compositionen ist die letzte,
daö Titelblatt: eine Wiederholung deS gesammte» Gedichtes in den ein zelnen Scenen, welche in eine große romanische Architektur hineingepaßt
sind: eine bildliche Inhaltsangabe.
Das innerlich colossale der Auffaffung
macht sich in auffallendem Maaße geltend.
einem ungeheuren Wandgemälde zu sehen.
May glaubt die Skizze zu
Dem entsprechend haben die
Bewegungen der Figuren jedoch eine gewisse historische Geziertheit.
Sie
spielen Weltgeschichte und, da Manier immer Nachahmung erzeugt, ist eS
Cornelius hier besser gelungen, eine Reihe in einer Schule fortpflanzbarer Typen zu schaffen, als beim Faust, nur daß auch diese männlichen und weiblichen Nibelungenhelden heute schon keinen rechten Glauben mehr ein flößen.
ES ist
wenig darüber erhalten, wie Cornelius
aus dem engeren
Klosterverbande von San Isidoro loskam, so daß er später mehr als afft« Urte- freies Mitglied erscheint.
Fveund.
Overbeck war 1813/14 sein einflußreichster
Nicht- aber ist so verschieden alö der innerliche Figurenmaaß-
staSb beider.
Keine Figur, die mir von Overbeck bekannt ist, erhebt sich,
was ihre innere, angeborene Größe und Dimension anlangt, über halbe LetenSgröße.
Dasselbe war der Fall bei Fiesole.
Wo dieser lebensgroße-
oder überlebensgroße- Format wählt, erscheinen seine Gestalten sofort
al» nur mechanisch vergrößerte Darstellungen, welche von der Phantasie
in viel geringerer Dimension producirt worden waren.
Bei Corneliu-
dagegen kenne ich au- den Zeiten seiner vollen Kraft keine Figur, auch
wenn sie nur drei Zoll hoch auf ein Blättchen Papier gezeichnet wäre, die nicht alö eine au- der Ferne gesehene, oder sonst in daS geringe Format
nur äußerlich comprimirte, ihrer eigentlichen Größe nach jedoch colossale Ge
stalt wirkte.
Dieser kapitale Gegensatz der hervorbringenden Phantasie, der
gerade damal- zu Tage zu brechen begann, muß bald zur Sprache gekommen sein zwischen Freunden, die sich ihr innere- Leben in fortwährenden Beich
te« gegenseitig ausschütteten. Im August 1813 war Cornelius mit Leller,
einem seiner ältesten Freunde, nach Orvieto gegangen (I, 140).
Signo
relli'- jüngste- Gericht nimmt ihn da völlig ein und Teller'- fortwähren des Berweisen auf Fiesole wird ihm zuviel.
Ein folgender Bries au-
Florenz, vom 13. Dec. 1813, enthält einen Vergleich, den Cornelius zwi
schen seiner und Overbeck'S Natur anstellt.
Er spricht sich offen auS,
ohne einen Gedanken an Trennung, aber ihr Auseinandergehen war darin indicirt ohne feinen Willen. Das Leben, sagt Cornelius, habe hohe
und tiefe Abgründe in ihm gebildet, von denen ein Wesen wie Overbeck sich keinen Begriff machen könne.
Dennoch, wie fest die Klosterbrüder
mit Cornelius verkettet blieben, zeigt dessen Brief vom 3. Nov. 1814 an
Görres, worin die Anschauung der römisch-Deutschen jüngeren Künstlerfchule zu einem festen Programme formulirt wird. Corneliu- dankt Görreö zuvörderst, daß dieser sich zu seinen Gunsten
um eine preußische Pension bemüht habe. Nicht für sich, sondern für seine Sache im Großen, bittet er sodann um weitere Theilnahme.
Er spricht
in dem Tone eine- Manne-, der sich vollberechtigt fühlt, Ansprüche zu erheben.
Die jüngeren Romantiker betrachteten sich damals als diejenigen,
deren geistiges Ringen Deutschland zu seinen Siegen verholfen hatte. gebildeten Stände, welche allein da- Volk repräsentirten,
Die
hatten nichts
anderes, ihre Begeisterung auözusprechen, als die Sprache dieser Schule. Studenten, Professoren, Künstler, Beamte, Politiker, Ofsiciere, Adel und
höherer Bürgerstaud athmeten in
ihren Worten und Vorstellungen den
Geist de- neuerwachten Deutschthumeö.
Man vertraute, eö werde sich
durch einfachen Naturprozeß, los aufsprießen,
wie die Blüthen im Frühlingswinde mühe
aus dem Wehen und Walten des siegreichen nationalen
Geistes alles ergeben, was die idealen Wünsche jedes Einzelnen begehrten. Ein entzückendes ChaoS, aus dem die neue, beste, schönste Welt sich formen
müsse.
Ein kindlicher Glaube daran durchströmte das Volk.
und Erfüllung schienen
genau
aufeinanderzupassen.
Hoffnung
Was die bildende
Kunst anlangte, so erachtete man nur für erforderlich, daß der Künstler im
Allgemeinen Begeisterung und Kraft besitze, um dann, ohne viel Unterwei
sung, Werke großartigster Natur zu produciren.
All daS stand so fest, daß
von Zweifel gar keine Rede war.
Dies muß in Anschlag gebracht werden, um Cornelius' Manifest an Er redet prophetisch.
Görres zu verstehen.
der Erde sein.
Die Kunst soll daS Salz
AuS den Urquellen: Tugend, Religion, Vaterland wird
ihre Mission hergeleitet.
Göttliche Erleuchtung hat die in Rom versam
melten Deutschen Künstler über ihren Beruf aufgeklärt.
negativ:
Ihre Aufgabe,
„den Lügengeist der modernen Kunst" zu besiegen.
(Lügengeist
nannte man im Allgemeinen, was auf den damaligen Academien noch gelehrt wurde);
positiv: die alte FreScomalerei, als das der Idee der Malerei
am nieisten Entsprechende wiederzuerwecken. Künstler:
Der persönliche Anspruch der
eine würdige Veranlassung, zu zeigen, was man könne.
Wie
Columbus Schiffe verlangte, um die neue Welt zu finden. Das wunderbarste für den heutigen, rückwärts gewandten Blick ist nun, daß auf diesen prophetischen Zustand der Deutschen Künstlerschaft nicht etwa die unausbleiblich erscheinende allseitige Nüchternheit folgte.
Vielmehr verketten sich die Weltverhältnisse derart, daß während bald die andern Deutschen Phantasien in Nichts verfliegen, dieser eine künstlerische
Traum den Schein von Wirklichkeit empfängt und über vierzig Jahre lang darin erhalten wird.
Alles bricht bald zusammen.
Die Hoffnungen ziehen
sich entweder scheu zurück oder werden offen zu Boden geschlagen. sorgniß und Verzagtheit geben den Ton an.
Be
Litteratur und Politik hatten
so schön für die Deutsche Herrlichkeit vorgearbeitet: ihre Arbeit wird von der Polizei bei Seite geräumt.
Nur die Kunst wandelt in vollem Sonnen
schein als Liebling der Machthaber schuldlos weiter einher und gedeiht.
Damit aber auch ist Cornelius fernere Entwicklung besiegelt.
Ich
überfliege seine Zukunft, die damals sich vorbereitete.
Es ward ihm Alles gewährt.
den geforderten,
Sein ungemeines Talent empfängt
gewaltigen Spielraum,
sich zu
entfalten.
Allein nicht
die gesunde Freiheit eines in eigner Selbständigkeit bestehenden Volkes bietet ihn ihm dar.
Cornelius arbeitete für Fürsten
deren großartigen Launen
und Regierungen,
dort und deren politischen Zwecken hier er
Er
diente. er
that
that eS ohne darum
eS.
Die Arbeit eines
zu wissen
oder nur zu ahnen, aber
unter solchen
welcher
Mannes,
Um
ständen, sei eS das Größte, schuf, mußte trotzdem irgend woher einen Stempel
empfangen,
dieses Zeichen. Cornelius,
durch
sie
welchen
discreditirt
emporhoben
durch
eine
bildenden
der
zu Theil gewordene Fürsorge, hat endlich
Kunst
die Zeiten
hat
trug
er gelitten. , Allein er war groß genug, Seine
seit jenem Manifest
letzten Zubodensinken der Hoffnung,
in
hat er geschaffen in
in sich selbst Beruhenden:
Cartons zum berliner projectirten Camposanto. die seiner Thätigkeit
erlebt,
Unter diesen
nm sich über ihre Ungunst
letzten und erhabensten Werke
der Rückkehr zum Einfachen, Gemässen,
unnatürlich
noch
denen diese Unnatur gesunden Verhältnissen weichen mußte. zu erheben.
Sie
ward.
Um hier gleich das Aeußerste über Cornelius zu sagen:
seine
Cornelius' Geschichte ist
vom Jahre 1814 bis zu dem
es würden feine Compositionen
für
das Camposanto, Kohlenzeichnungeu auf einfaches Papier, jemals in FreSco
ausgeführt werden; zu der Gewißheit: daS erhabenste Werk feines Lebenin der armseligen Gestalt von überhaupt nur Kohlenzeichnungen auf Papier
geschaffen zu. haben, und zu der Resignation:
trotz allem, in dieser Ma
nier, nun al- freier Mann, dennoch weiter arbeiten zu wollen.
III. Bildliche Darstellungen aus wen Werken der Dichter haben niemals neben den Dichtungen selber auflounmen können.
Die italienische Kunst hat
keine bleibende Illustration Dant«'S zu Stande gebracht. keine Goethe'» oder Schillers.
Götz, Gretchen,
Iphigenie,
Die unsrige
Tasso
sind
schwankende Gestalten geblieben, bei denen der Leser sich alle Rechte vorbe
hält.
Eine Zeitlang schien eS gelungen zu sein, durch die Nachahmung
griechischer Basenbilder in den Abschlußjahrzehnten deS vorigen Jahrhun
dert- unsere Anschauung der homerischen Ereignisse auf eine Reihe fester
Typen zu beschränken, allein auch das hat nur seine Zeit gedauert.
Wir
sind auch hier wieder frei nach allen Richtungen. Kein Mensch denkt mehr
bei Götz an Tischbein- Gemälde oder bei Iphigenie an Angelika KauffmannAuffassung, von der Göthe befriedigt war.
Sämmtliche Leonoren sind zu
Grabe getragen, und ich hoffe Kaulbachs und seiner Schule neueste Faust-
compositionen werden kein langes Leben genießen.
Es sind papperne Ge
spenster, in deren noch so üppig scheinenden Körpern kein Tropfen war
me- Blut rieselt.
Mag Kaulbach- Gretchen in den nnverhüllten Formen
einer angehenden Amme vor der Madonna knien, Gretchen in verdächtiger abgehärmter Magerkeit
oder Arh Scheffer-
am Brunnen
von den
Nachbarmägden angestiert werden: beide- find Versuche, die Niemandem
über Goethe'S Versen in den Sinn zurückkehren werden.
Das Einzige
von allen Bildern und Bildchen zu Goethe'S Werken waS ich nicht wieder loswerden kann, sind Chodowieckh'S paar radierte Blättchen zu Werthers
Hier meint man wirklich, der Künstler sei dabei gewesen.
Leiden.
Doch
hat er nur einige gleichgültige Situationen dargestellt, die zum Romane
nichts hinzuthun. Kaulbachs Compositionen zum Werther sind unerträglich.
Als habe Jemand ein modernes Schauspiel aus dem Romane fabricirt, und er einige Scenen daraus für den Bühneneffect gezeichnet.
Ein
Die
großes bildendes Talent bedarf ganz allgemeiner Stoffe.
Werke unserer modernen großen Dichter, keinen immer nur
ein beschränktes Publikum gehabt.
ausgeschlossen, haben
Dante war in manchen
Jahrhunderten an manchen Orten in Italien vielleicht so populär wie Homer tausend Jahre lang in ganz Griechenland gewesen ist, dennoch lieferte auch er den italienischen Malern und Bildhauern nichts, was ihnen allge
mein genug gewesen wäre.
Cornelius brauchte Stoffe, die jedem Auge sofort
verständlich waren, und diese vermochte allein die Bibel zu liefern.
Ueber
das waö zwischen Joseph und seinen Brüdern vorging, kann jedes Kind in
der Welt,
jedes Mütterchen, jeder Bauer, jeder Droschkenkutscher
Auskunft geben.
Nun gar über die Ereignisse des Neuen Testaments.
Hier finden wir gemeingültige Gestalten und hier ein wirkliches Publi kum.
Von den thörigten Jungfrauen weiß die Welt mehr als von allen
Beatricen, Iphigenien, Julien, Chimenen zusammengenommen. von Maria
und der Heiligen
Familie.
Gar erst
Den Uebergang des Weges,
welchen Cornelius aus der mit hohen Mauern
nationalen mittelalterlichen Poesie zu den freien
umzogenen Stätte der
Gefilden der Antike
zurückzulegen hatte, schaffte ihm die über allen Nationen waltende Bibel:
Cornelius' „erstes, großes Werk", Nr. I seines CatalogeS als Meister ersten
Ranges, sind die
Freöcomalereien in der römischen Casa Bartholdy.
Bisher war nichts für die Deutschen Künstler in Rom gethan wor
den.
Weder GörreS konnte etwas durchsetzen, noch dachten die Fürsten
oder die Regierungen, daran, mit Aufträgen zu kommen.
Der erste,
welcher das Vertrauen und die Courage hatte, der CorneliuS-Overbeckschen
Deutschen Künstlerschule die Ausführung einer monumentalen FreScomalerei anzubieten, war der preußische Generalkonsul Bartholdy — ob getauft
oder ungetanst — jedenfalls ein Mann, der, wenn er kein Jude gewesen wäre, sich auf eine solche Unternehmung nicht eingelassen habe» würde.
Leider kann über daS Eingreifen jüdischer Elemente im modernen Leben noch nicht gesprochen werden.
treffen waS sie wollen,
Während heute alle Fragen, sie mögen be
mit wachsender Unbefangenheit erörtert werden,
läßt sich über die jüdische Nationalität nicht unbefangen diSkutiren.
ES
-«findendem
sich in unserer Zeit Inden
in
fast allen Stellungen,
welche
CßristeUsten innehaben, und eö offenbart sich ihr Charakter in ganz anderer
Weise Ich beschränke mich deshalb darauf, zu sagen, daß alS wichtigster spä terer r Zuzug ans Deutschland der Deutsch-römischen Kunstlerschaft
äußerhrft
scher r Abkunft und Overtrbeck
den
zwei
begabte junge Leute sich anschlossen, ganz ober zum Theil jüdi
Erstrebte
mit
der ausgezeichneten
hineinzuarbeiten,
begabt,
Energie,
sich
in
daS
von
die als
ein
Ausfluß
der
Juden verliehenen allgemeinen Energie auf bestimmte Ziele, deutlich
herawuStritt:
Veit
feinerer Mutter.
und
Diesen
Wilhelm beiden,
Schadow. nebst
Veit
unter
Overbeck und
Malelereien im Hause Bartholdy's zugetheilt.
dem
Cornelius
Einfluß
werden
Das alte Testament lieferte
den 1 beiden Parteien völlig genügenden Ausgangspunct.
BartHoldH hatte
Josephs Trübsale und
seine Herrlichkeit
dies! zur Bedingung gemacht.
sollteten als symbolische Glanzepisoden alttestamentarischer Historie
stelltet werben.
So kamen Cornelius' Fresken zu Staube:
bärge«
Joseph beu
Traaum bes Pharao beuteub, nnb Joseph ber sich beu Brübern zu er« kenunen giebt. Neunen
Carrriere
wir birse Arbeit Cornelius' Erstlingswerk was seine große
anlangt,
Jahhre alt.
so
kam sie nicht zu
frühe.
Er war über breißig
Dürer unb bie Deutschen Meister, aber auch, was die äußere
Forrm anlangt, Fiesole ftnb nun überwunden und abgethan.
Zeitt hatte er gebraucht, um sich frei zu machen.
So lange
Es ist als sei die von
vorfgesaßten Meinungen bis dahin eingeschnürte Phantasie endlich ihrer Ban-
Cornelius und die ersten fünfzig Zahre nach 1800.
188
den entledigt worden und athme freie Luft in natürlichen Athemzügen.
DaS
Gefühl, nach den Tagen der großen Italiener der Renaissance zum ersten
Male wieder die ächte heilige FreScomalerei aufzunehmen, leitete seine Die Compositionen gehörten dem Geiste nach ganz in die Reihe
Hand.
der Loggiencompositionen Raphaels. gends
sichtbar.
aber Nachahmung
Figuren.
Die Aehnlichkeit ist auffallend, nir
Cornelius beschränkt sich auf wenig
Er läßt das historische Gewandgefältel bei Seite.
Während
eS bei den Nibelnngen den Figuren um die Beine und um die Schultern
flattert, als sei jedem sein aparter unsichtbarer Windgott beigegeben, der
die wallenden Kleider mit künstlerisch wirkenden Lungenstößen dahin und
dorthin bläst, hält Cornelius sich von nun an frei davon. Er studirt daS Nackte und läßt eS gehörig sichtbar werden.
Niemals wieder in der Folge hat Cornelius eine rein menschliche Handlung so ergreifend dargestellt, wie in dem einen der beiden Werke,
Joseph und seine Brüder. das begreift Jeder. stehen.
Wie Benjamin Joseph
an den HalS fliegt:
Wie die Brüder verwirrt, beschämt, angstvoll umher
Was bei Raphael so groß und so schön erscheint: daß in seinen
Compositionen jede beliebige Figur für sich, dann aber mit der zunächst
stehenden zusammengenommen, dann ferner mit den abermals zunächst stehenden vereint,
stets eine plastische Einheit bildet, welche, ganz abge
trennt betrachtet, von der reinsten Wirkung ist, das gewahren wir hier
bei Cornelius.
Die beiden Brüder allein bilden den Kern des Ganzen,
die Gruppe der Brüder verbindet sich dann aber organisch natürlich mit
den Hauptfiguren. des Gemäldes.
Sodann, die Composition erstreckt sich in die Tiefe
Die Gruppen haben Luft um sich,
haben ihre gehörigen Licht- und Schattenmasien Figur für sich, wie Cornelius später arbeitete.
die einzelnen Theile nicht jede
im Ganzen,
Mit einem Worte: dies
Werk ist eine vollendete Schöpfung, etwas Fertiges, etwas Gutes, ein
Kunstwerk nach jeder Richtung, eine Arbeit, welche die Frische der Jugend und die Kraft deö Mannes zeigt.
Ich kenne nichts Späteres, das so nach
allen Seiten zeigte, was Cornelius zu leisten vermochte. Leider ist das Werk so gut wie unbekannt und unzugänglich.
Der
Carton, in Besitz der königlichen Academie der Künste in Berlin, hat seinen Platz
hinter den für die Gemälde der Nationalgallerie in den
Räumen deS oberen Stockwerkes aufgeschlagenen Gerüsten,
ihn
nicht sehen kann.
so
daß man
Gezeichnet mit einer Sorgfalt wie kein späterer
Carton deS Meisters, darf man ihn als
eine der edelsten
barsten Arbeiten Deutscher Kunst bezeichnen.
Die
jetzige
und
Stelle,
kost an
der das Werk sich schon geraume Zeit befindet und wo eS jedenfalls un bestimmte Zeit noch wird verharren mässen, ist wohl schon deshalb nicht
die rechte, weil es im Falle einer Gefahr nicht zu retten wäre.
Man
sollte den Carton aus dem Verschlage hervorthun, ihn (was früher oder
später doch geschehen wird) mit einem schützenden Glase versehen, und bis auf weiteres in einem der Säle der Academie aufstellen. Glücklicherweise hat der verstorbene A. Hoffmann einen vortrefflichen Stich danach auS-
geführt. War Cornelius in Rom durch den Anblick dessen,
waS sich vor
seinen Blicken doch nicht wegläugnen ließ, auf Raphael hingelenkt worden,
Dahin drängten
so blieb noch ein weiterer Schritt z« thun: zur Antike.
ihn nicht allein die Werke der antiken Meister.
Er mußte gewahren, wie
hoch die Bildhauerei, an äußerem Ansehen wie an innerem Bewußtsein deS innegehaltenen Weges, in Rom über der gleichzeitigen Malerei stand, und
Auch hatten die römischen Modelle Cornelius doch wohl ahnen lassen, daß die Kunst ein
mit welcher Sicherheit sie von der Antike ausging.
höheres Ziel habe, als das in feinem Manifest an Görres ausgesprochene.
Religion, Tugend und Vaterland sind große Gedanken und wohl würdig die Seele eines Menschen auszufüllen, allein sie würden kalte, kahle Be griffe werden, wenn die Menschheit neben ihnen sich nicht erinnern dürfte,
daß eS eine zweite Gedankenreihe gebe: Gefühl der eignen Kraft, Genuß des Daseins, Cultus der Schönheit, und so weiter in dieser Richtung. In Cornelius, der eine Römerin geheirathet hatte, der von Jahr zu Jahr
selber mehr ein Römer geworden war, mußte sich allmählich ein histo rische« Bewußtsein bilden, das von dem verschieden war, waS man ihm
bei der Abreise in Frankfurt in sein Bündel mit eingeschnürt hatte.
Sein
gutes Glück ließ ihn jetzt dem Manne begegnen, der wie vom Schicksal prä-
parirt erscheint für die Mission, welche ihm bei Cornelius zufiel: Niebuhr
traf als preußischer Gesandter in Rom ein.
Er verschaffte Cornelius
durch seinen Umgang zum erstenmale den Einblick in die geistigen Reich thümer, welche einem Manne, der zugleich Staatsmann und Deutscher
Philologe im höchsten Sinne war, zu Gebote standen.
dafür, daß in Deutschland jetzt in den ihrer im rechten Tone von Cornelius
Cornelius,
höchster Art.
Endlich, er sorgte
rechten Kreisen und innerhalb
die Rede war.
Niebuhr schuf
wenn auch nur für kaum vier Jahre, jetzt
eine Existenz
So oft Cornelius in späteren Jahren auf diese Zeit kam,
erzählt Förster, so ging ihm das Herz in Freudigkeit auf.
Tage der höchsten Lust und Begeiisterung.
Es waxen die
Im October 1816 trat Niebuhr
ein und vom 30. November schom ist der Bericht ans Ministerium datirt,
worin eine umfassende Charactewkstik der Deutsch-römischen Künstler ge
geben und Cornelius die erste Sitelle eingeräumt wird.
Riegel ist in der
Zusammenstellung der hierher Aehörigen Auszüge aus Niebuhrs Corrr«
spondenz sorgsamer und anschaulicher als Förster, der zu actenmäßig zu
Werke geht. Riegel beginnt mit der Erzählung, wie Niebuhr den 18. Ok tober,
als
die Leipziger Schlacht durch
zwischen Thorwaldsen und Cornelius saß.
ein Festmahl
gefeiert wurde,
Das Wachsthum ihrer Freund
schaft läßt sich von da weiter genau verfolgen. In einem Briefe vom 30. October 1816 wird Schadow noch der „be
deutendste" unter den Künstlern genannt. Den 20. November hat Cornelius
bereits dieses Prädicat in Besitz.
Den 17. Dezember: Cornelius liebe
ihn, das Verhältniß werde aber doch in den Schranken einer Bekanntschaft bleiben, die sich entbehren lasse.
Weihnachtsabend: wir kommen uns im
mer näher und können uns schon Freunde nennen.
1817:
Den 16. Februar
Cornelius und Platner, die eigentlichen vertrauten Hausfreunde.
Den 20. Juni 1818 ist von Cornelius'
„lichtem, reichen Genius"
die
Rede, den 20. Mai nennt Niebuhr ihn den „Goethe unter den Malern,
in jeder Hinsicht einen frischen und mächtigen Geist; frei von aller Be schränktheit." Dieses langsam ansteigende Lob ist bei Niebuhr, dem peinlichen Beobachter seiner selbst und Anderer, durchaus zuverlässig. Wir heute dürfen
hinzusetzen, daß Niebuhr derjenige war, dem Cornelius diese „Befreiung
von aller Beschränktheit" zu verdanken hatte.
Den höchsten Glanz aber
empfängt er durch daS Erscheinen des jugendlichen Kronprinzen von Bayern.
Dieser und Niebuhr vereint begannen jetzt das Feld zu bereiten, auf dem Cornelius aus einem armen Schlucker, den elende kleine Schulden pei
nigten, zu einem Meister sich aufarbeitete, welcher in Deutschland Academien befehligte, Aufträge bis zu 100,000 Gulden empfing, mit Orden be
deckt, in den Adel erhoben und mit all' den übrigen Ehrenbezeugungen der Menschheit reichlich überschüttet wurde.
IV. Förster druckt eine ziemliche Masse officieller und unofsicieller Correspondenz ab, welche Cornelius' Berufung nach Preußen behandelt: die
eigentlichen Erwägungen aber, welche den Ausschlag gaben, konnte er nicht
mittheilen:
darüber belehren
uns später vielleicht einmal noch versteckt
liegende Memoiren oder Briefwechsel. Freiheitskriegen große Dinge vor.
Man hatte in Berlin nach den
Niebuhr, der von Natur ängstlich genug
und durch Erfahrung über den Geist der Sparsamkeit nicht uuunterrichtet
war, der in Berlin maaßgebend zu sein pflegte, hätte sonst nicht von so großartigen monumentalen Malereien gesprochen als er Cornelius dem
Ministerium
dringend empfahl.
Niebuhr wußte, daß Außerordentliches
geplant wurde für den Schmuck der Hauptstadt.
Rauch war der indi-
cirte Bildhauer für die Helden des Freiheitskrieges, Schinkel der uatür-
liche Architekt für die Ruhmeshallen, Dankeskirchen, Säulen, Thürme, Thore, Brunnen die man aufrichten wollte — der Maler fehlte, der an alle die auf steigen sollenden neuen Wände die Thaten des Deutschen Volkes malte. Nebenbei aber lief der heimliche Gedanke: die technische Thätigkeit der Nation, recht angefeuert und auf die nöthige ideale Höhe erhoben, werde
die politische Ader vielleicht verwachsen lassen.
Anfang-, als alle Welt
noch an die Möglichkeit einer Erfüllung der allgemeinen Erwartungen in
politischen Dingen glaubte, war von Kunst wenig die Rede.
Allmählig
erst wurde den Fürsten klar, sie hätten mehr versprochen al- sich halten lasse, die Freiheit fei gefährlicher al- man gedacht, und es müsse dafür
irgendwie,Ersatz geboten werden.. Darin lag da- Bedenkliche.
In früheren Zeiten wenn die Künste
blühten war ihre Beförderung und ihr Genuß Sache natürlicher froher Lust am Schönen gewesen — in diesem Sinne sehen wir Päbste, Prinzen und
Publicum de- 16. und 17. Jahrhunderts, ja noch des achtzehnten, die
Kunst protegiren —; jetzt dagegen spielt sie eine Rolle, die mit ihr selbst gar nicht- zu thun hat. Wir sehen die Kunst zu einem der edelsten völker polizeilichen Mittel gemacht.
Man hoffte, daß wenn nur „die Künstler
beschäftigt würden", viele Stimmen in Deutschland schweigen müßten, die auf andere Weise still zu machen vielleicht weit mehr gekostet haben würde
al» Akademien, Statuen und AehnlicheS.
Was Friedrich Wilhelm III., der
offenbar eine natürliche Vorliebe für Werke der ächten Kunst hegte, wie
die Gemälde an den Wänden der Zimmer, die er bewohnte, beweisen, an Kunstwerken bedurfte, konnte ihm trotzdem Berlin reichlich liefern.
treibende Kraft für größere Pläne war der Kronprinz.
Die
Aber auch bei
diesem war weniger der Genuß am Schönen, al- da- Bedürfniß geistiger Neuigkeiten und Überraschungen der Ausgangspunkt de- Interesse- für die
großen Talente, welche er beschützte.
Und trotzdem: warum, da Niebuhr
Anfang- doch immer nur von Berlin gesprochen hatte, ist plötzlich von
Berlin gar keine Rede mehr und Corneliu- soll Direktor der Akademie in Düffeldorf werden?
WaS München dagegen anlangt, so giebt Förster- Buch genügend
Auskunft über die persönlichen Täuschungen des Kronprinzen, bald Königs, Ludwig, der das wa» seine Künstler anSführten, bona fide, weil er eS
bezahlte, für Werke ansah, die er selber eigentlich aus dem Brunnen
geholt hätte.
DaS war es, was Cornelius in Deutschland erwartete. Der Kronprinz von Bayern und der Minister Altenstein, vertreten
durch den das Feuer eifrig schürenden Niebuhr, fingen gleichzeitig mit ihm
zu unterhandeln an.
Speciell diese Tage sind wohl seine schönsten in
Cornelius und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.
192 Rom gewesen.
Das Wiederaufblühen der Künste erstreckte sich, ziemlich
auS den gleichen Ursachen, damals über ganz Europa.
Es sollte durch
Hingabe an die Werke des Friedens die der Welt endlich wiedergeschenkte
Ruhe als nunmehrige LebenSnorm der Völker besiegelt werde. Ein Biertel jahrhundert lang war geraubt, gemordet und gehaßt worden: endlich brachen
sonnige Tage an, wo für alle Ewigkeit einer Wiederkehr dieser Verwilde Selbst in Rom schienen uralte Samen
rung vorgebaut werden mußte.
körner wieder zu keimen. Nach Bartholdy wandte sich der Marchese Massimi an die Deutschen Künstler, die ihm seinen Palast auSmalen sollten. Hatte
Bartholdy, indem er jüdische Geschichte begehrte, nichts den Klosterbrüdern
Fremdes verlangt, so fühlten sie sich nicht weniger im gegebenen Stoffe zu Hause, wenn Massimi für sein Theil Gemälde zu Dante bestellte. Auch zu dem waö Cornelius hierbei zufiel, besitzen wir die Cartons in Deutsch land: auSgeführt hat er sie nicht, weil er fortging.
Auch hier sehen wir
ihn unter dem Einflüsse Raphaels. ES giebt Verehrer des Meistere, welche diese Leistung für seine größte und für diejenige halten, welche mit dem meisten Rechte als die seiner „Blü thezeit" betrachtet werden müsse.
Ich kann diese Meinung nicht theilen. „nachgeahmt" worden.
Raphael ist hier zu offenbar
Joseph und seine Brüder haben nicht eine einzige
raphaelische Form, nur die Auffassung des Ganzen ist raphaelisch.
Auf
den Dantecompositionen jedoch entspringen die nebeneinander thronenden
Heiligen zu deutlich den Heiligen der DiSputa.
Die Arbeit bekundek
größere Freiheit der Hand als die für die Casa Bartholdy, aber geringere Orginalität der Erfindung.
Völlig in Schatten aber werden sie gestellt
durch das Werk, das ich, für meine Person, jetzt als die Blüthe der Thä tigkeit des Meisters bezeichne:
die Cartons für die Decke und für das
erste Wandgemälde des ersten Raumes der Münchner Glyptothek, welche
Cornelius in Rom noch zeichnete.
Der Kronprinz von Bayern hatte eS
durchgesetzt, ihm den ersten Auftrag für Deutschland ertheilen zu dürfen. Hier war nun endlich dem heidnischen Alterthume nicht mehr aus dem
Wege zu gehen.
Cornelius mußte zeigen, was die Antike ihn gelehrt hatte.
Wie unbeschreiblich schön ist das jetzt Entstehende.
Hier zuerst und
nie wieder bietet sich der Gebrauch des Wortes „schön" bei Cornelius ohne Einschränkung dar.
Hier gab er sich hin.
Hier wollte er nichts als
rühren und es gelang ihm.
Man fühlt, wie das griechische Alterthum ihn ergreift.
Kein Schul
unterricht, keine Universitätszeit hatten da etwas vorweggencmmen.
Als
roher Anfänger war Cornelius bei Niebuhr eingetreten, nach kurzer Lehre
alö vollendeter Meister aus seinem Verkehr hervorgegangen.
Auch diese
EoriicliuS und die ersten fünfzig Jahre nach 1800.
itzZ
Cattons, die als eigene, mit der größten Zartheit durchgeführte Zeichnungen
Lei weitem schöner als die zum Theil von fremden Händen hergestellten Ge
mälde sind, lagern eingepackt in Berlin. Hoffentlich zu baldiger befreiender Auferstehung im Nationalmuseum bernfen, dessen Bau doch nicht ewig währen kann.
Sind sie dort erst aufgestellt, dann wird sich zeigen, auf
welchem Wege Cornelius war als er Rom verlassen mußte. Cs zog ihn wieder dem Farbigen entgegen, er mäßigte das in ihm waltende Streben nach
dem Coloffalen, ein sanftes, mildes Element durchdrang feine Phantasie,
und
die Freude, jede einzelne Figur durch Naturstudien zur
lebendigen
Wahrheit
zu
fördern,
leitete
Hand.
seine
Eine
höchsten Zartheit
poetischer Empfindung hauchen diese Compositionen aus, die nicht nur an
die Antike selbst, sondern an deren frühe naive Auffassung bei den vorraphaellschen florentiner Meistern erinnert.
Welch ein Abstich gegen daS,
was im directen Anschluß daran in Deutschland später zu Stande kam!
1820 ging Cornelius fort von Rom.
Förster druckt einen unter seinen
Papieren von damals gefundenen Zettel ab, auf dem er, wie einen Seufzer von dem Niemand außer ihm wissen sollte, das Lob Italiens niederfchreibt,
dessen Sonne ihm so wie damals niemals wieder im Leben geleuchtet hat. Ich suche noch einmal zu formuliren was Cornelius verlor und was
er gewann als er von Rom nach Deutschland ging. Es ist fast zu viel bei uns letzter Zeit von Rom und Italien in Bezug auf" Kunst und Cultur die Rede gewesen.
Die Arbeit aber, die
am interessantesten wäre, hat noch Niemand übernommen: eine historische Darstellung deS Wechsels, der in Betreff des öffentlichen geistigen Verkehrs
dort stattfand.
Drei bis viermal in jedem Jahrhundert hat dieser dort
ganz andere Gestalt angenommen.
Für unS heute würde am wichtigsten
sein, diese Successionen zumeist bei der Deutschen Gesellschaft kennen zn lernen.
DaS Rom Winckelmann's, daS Justi so gut schildert, war ein
anderes als das Goethe'S.
Das Rom Goethe'« schien wieder fast ver
wandelt als Carstens dort eintraf.
Nun die Zeiten Zoega'S und Hum
boldts. Dann die Niebuhrs, dann die BunfenS, und von diesem die Deutsche
Heimath auf dem Capitol gestiftet, ohne die für eine ganze Schichte der
heutigen Generation Rom nicht denkbar wäre. Rom hat daS Eigene: unaufhörlich in einem gewissen Procentsatze
immer den jeweiligen Extract dessen zu beherbergen, was in Europa an
geistig bedeutenden Menschen vorhanden ist.
Masse
die auS allen Nationen
und gründlich zu
ES hat die Macht, die große
sich alljährlich so zusammenfindet,
einem homogenen Teige zu
Publikum der Saison bildet.
verkneten,
der
rasch
nun daS
In Rom packt Jeden daS Leben von einer
andern Seite, Jeden aber so, daß eS ihn im Innersten aufrührt.
Preussische Jahrbücher. Bd. XXXV. Hest r
13
Dep
Eine sieht die Spuren der Männer von denen Livius und Tacitus schrie ben, der Andere die Wege die die Märtyrer und Kirchenväter wandelten, der Dritte die Schritte der Künstler von denen Basari berichtet, der Vierte
die verschleierte Weltregierung des Vatikans, und so weiter ins Unend Jeder ordnet sich irgend einem geistigen Interesse unter, Jedem
liche.
geht der Begriff der Historie i» ftische geistige Düngung.
eine
Jüngere kräftigere Naturen schlagen zu unge
ahntem originalen Wachsthum aus,
wenigstens
auf und er erleidet
neuem Lichte
eine frische Rasendecke
ältere, selbst ganz dürre,
hervor.
Mögen
mager sein, sie wirken Grün im Ganzen betrachtet.
bringen
die Gräser noch so
Niemand aber, der, sein
Hauptinteresse liege wo eS will, nicht auf irgend einem Wege zum höchsten Respecte vor den Werken der großen bildenden Künstler in Rom gelangte.
Für ein so geartetes, sich immer aus den vornehmsten Elementen recrutirendeS Publicum zu arbeiten, ist ein Reiz wie er dem productiven
Geiste eines Künstlers sonst nirgends geboten werden kann. Critik,
sondern
auch Enthusiasmus
findet er hier.
Nicht nur
Wenn Kaiser
und
Könige für Geld und Ehre auf ein paar Jahrzehnte um sich versammeln
waS sich an Sommltäten des Geistes gerade disponibel findet und zu haben
ist, so würde dieser Gesellschaft, verglichen mit dem römischen Publicum, daS Beste fehlen: der unabhängige Character.
Der persönliche Geschmack
deS hohen Herrn wird schließlich doch den Ausschlag geben bei der Werth schätzung der Kunstwerke.
In Paris scheint während des ersten Kaiser
reiches etwas von ferne mit Rom vergleichbares existirt zn haben, als die
geraubten Schätze der Welt in die dortigen Museen und Bibliotheken zu-
sammenfloffen und durch das unendliche Gewühl bedeutender Kräfte, welche Jntereffen jeder Art nach Paris führten, eine selbständige, supröme Ge
selligkeit dort
geschaffen ward.
Indeß
dauerte daS kaum zehn Jahre,
während in Rom das freiwillige Zusammenkommen der höchsten Potenzen Jahr auf Jahr sich gleich bleibt.
In dieses römische Leben sahen wir Cornelius nicht plötzlich geschleu dert werde, sondern langsam hinein wachsen. Zuerst ganz außen stehend, fühlt er sich nur als ein bedrängter armer Künstler mit engem Gesichtskreise; ehrgeizig, ohne zu wiffen wie er seine
Leidenschaft Genüge schaffen könnte.
Dann aus der Dämmerung dieses Da
seins sichl herauswindend, wächst ihm als dem Führer seiner Partei immer größeres Ansehen zu.
Endlich, als ebenbürtig von den Ersten anerkannt^
darf er die höchsten Ansprüche erheben und sieht sie befriedigt.
Die Bil
dung der verschiedenen Jahrhunderte dringt in großen Massen auf ihn zn, er überwältigt sie und macht sie sich zu eigen.
Wie jeder selbständige
Geist, dem die Geschichte lebendig zu reden anfängt, mauert sich Cornelius
aiiS den Fragmenten aller Epochen einen immer höher steigenden eigenen
Palast zusammen,
auf dessen gothischen Unterbauten lichter und lichter
werdende, griechische Stockwerke sich übereinander thürmen.
Und durch
diesen Bau zieht die heitere römische Luft, und er, in seinen besten Jahren,
weitumherblickend, sieht wie man auS der Ferne seines Vaterlandes ihn dort aufsucht, wie immer höherer Preis auf den Gewinn seiner Thätigkeit wird.
Und dieses Rom verläßt er.
Die Hälfte des Jahres wird er von
nun an als Direktor der Akademie in Düsieldorf, die andere Hälfte als Hofmaler in München zubringen.
Düffeldorf freilich seine Vaterstadt.
Die Academie mit Cornelius an der Spitze nahm über allem sonst dort den höchsten Rang ein und eS sollte geschehen was ihm irgend recht und
wünschenSwerth wäre.
München dagegen eine Residenz zweiten Ranges,
ohne eignes geistiges Leben, künstlich nur bewegt durch die Unruhe des Kronprinzen, dann des Königs, dessen unbestimmter Ehrgeiz nach allem
griff was historisch wie Gold glänzte, und der mit ungemeinen Mitteln die Stadt zu einem Sammelplätze von Monumenten der Architektur zu machen begann, die heute, so sehr sie «nS imponiren, dennoch kaum ohne den Hinter gedanken betrachtet werden können, es hätten diese Schöpfungen nur bei
einer gewissen Dosis von Narrheit nebst ungeheurer Eitelkeit ihres Ur
hebers zu Stande kommen können.
Als einer von denen, die München
in so gewaltiger Weise umgestalten sollten, ward Cornelius berufen und griff seine Arbeit in einer Stimmung an, als würden seiner Person
jetzt Aufgaben geboten wie niemals vorher einem Künstler so lange die
Welt stand.
Wir werden sehen, welch fundamentaler Irrthum Cornelius
hier verleitete, und welch' ein Ende die dortige Begeisterung genommen hat.
Cornelius war siebenunddreißig Jahre alt als er aus Rom fortging. Raphael, gerade 300 Jahre vor ihm (1483) geboren, hatte überhaupt nur
soviel Jahre vom Schicksal empfangen, innerhalb deren seine ganze ungeheure Cornelius standen noch die Umschwünge eint»
Arbeit zu Stande kam.
Menschenlebens bevor.
Heute wo dieses in all seinen Ereignissen vor uns
liegt, dürfen wir aussprechen: es wurde als er Rom jetzt verließ eine Entwicklung plötzlich in ihm unterbrochen, welche zu den höchsten Er
wartungen berechtigte.
Es war als trage die Deutsche Luft ganz andere
Gesetze des Wachsthums
jetzt
in ihn hinein, so
daß es eines unge
heuren Umweges erst bedurfte, ehe die innerste Natur des Mannes dieser
Uebermacht gegenüber sich erholte, um im höchsten Alter erst den 1820
abgerissenen Faden wiederanzuknüpfen. (Fotsetzung folgt.)
Berlin, Februar 1875.
Herman Grimm.
Kritische Streifzüge. IV. Wahrheit und Dichtung in neuer Ausgabe.
Wenn zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Dichter und Philosophen
in Klagen über die stumpfe Unempfindlichkeit des PublicumS wetteiferten,
so war das zum Theil die Hypochondrie eines übermäßig angeregten Ide alismus: heute haben ähnliche Klagen eine ungleich größere Berechtigung. Namentlich feit den letzten Jahren sind die Pflichten und Sorgen des bürgerlichen Lebens in's Unermeßliche gewachsen und haben sich auf Kreise
ausgedehnt, die früher garnicht davon berührt wurden. Das Geschäft eines Rentiers war früher eine Sinecur, heute ist es
eine Last; der Rentier hat sich täglich mühsam durch Gründer und Striker
durchzuschlagen,
und außerdem
nehmen
ihn die Interessen
lichen Wohles in Staat und Gemeinde in Anspruch.
des öffent«
Der Rentierstand
aber im besseren Sinn, das heißt der Stand derer, die Zeit- und Lebens
kraft genug übrig haben um sich mit Behagen dem gebildeten Genuß des Schönen hinzugeben,
muß dem Publicum, welches wirkliche Wechselbezie
hungen zu seinen Dichtern haben soll, zu Grunde liegen, nnd nur, wo solche Wechselbeziehungen statt finden, kommt die schöne Literatur zur Blüthe.
Das Publicum, welches der Dichter zu wünschen hat, an dem er sich bilden kann, und dessen Beifall ihn fördert, muß eine gewiffe Consistenz haben: eö darf nicht zerstreut, zufällig, bald hie, bald da zugreifen,
eS muß von einer festen Ueberlieferung getragen sein; eS muß wenigstens ahnen, was eS bei dem Kunstwerk zu erwarten und zu fordern hat.
Je
gebildeter seine Ansprüche sind, desto nachsichtiger wird es bei der Beur
theilung unwesentlicher Schwächen sein, entgegentritt. Dies Publicum wird für
wo ihm echte Gestaltungskraft
die sogenannten idealen Richtungen der
Poesie immer kleiner; der Roman, namentlich wenn er die Tagesfragen
berührt, bricht sich schon eher Bahn, und ebendarum weiß der Roman-
dichter von vornherein bestimmter, worauf er sein Augenmerk zu richten hat.
Der
dramatische
Dichter
dagegen
ist
aufs Tasten
angewiesen:
wenn man eine Reihe von derartigen Versuchen durchgeht, so findet man
oft die feinsten poetischen Motive, auch Sinn fiirS Große und Characteristische, aber nicht leicht wird man sich die Frage beantworten: welches
Publicum sich der Dichter eigentlich gedacht hat?
DaS GroS der Theater
besucher bilden keineswegs diejenigen, welche sich für geistige Dinge
teressiren:
in-
jenen wird Offenbach und Seinesgleichen weit mehr gerecht,
und für die Lectüre schreibt man doch am Ende keine Theaterstücke. ES ist ein gutes Wort, das Publicum solle seine Dichter erziehen;
auf der andern Seite bedarf das Publicum aber in noch weit höheren Grade der Erziehung.
Im vorigen Heft der „Preußischen Jahrbücher" ist von einem Andern nachgewiesen, wie wenig das frühere Erziehungsmittel, die Kritik, heute noch
fruchten will; man liest die Tagesrecensionen noch viel unaufmerksamer als
die Tagesnovesten.
Um das Publicum wirklich zu bilden, muß man an
das Vorhandene anknüpfen, und vorhanden ist glücklicherweise noch die Pietät für die frühere große Zeit unserer Literatur; diese zu pflegen, zu
erweitern und aufzullären, ist das dringendste Geschäft derer, die nicht den
Beruf haben, selbst einzugreifen. Sehr günstig
ist für diese. Aufgabe die Erleichterung, mit welcher
seit einigen Jahren der Besitz unserer classischen Schriftsteller dem Publi
cum zugänAlich gemacht
wird;
Ausgaben der Werke Goethe'S.
ich meine vor allen Dingen
die neuen
Auf eine derselben habe ich vor Jahren
aufmerksam gemacht, ich kehre heute, wo sie ein ganz verändertes Ansehen gewonnen hat, noch einmal zu ihr zurück.
Ein Vergleich mit andern Aus
gaben ist nicht beabsichtigt, mir fehlt dazu daS Material. Ich meine die von dem Buchhändler Hempel in Berlin veranstaltete
Ausgabe.
In den ersten Bänden
hatte sie ausschließlich zweierlei zum
Zweck, Vollständigkeit und Correctheit: in beiden Beziehungen hat sie nach dem
einstimmigen Urtheil aller Kenner Außerordentliches geleistet,
und
wenn viele Freunde des Dichters durch das lange Druckfehlerverzeichniß
aus den ftüheren Ausgaben gestört werden, so ist doch nicht abzusehn, wie der Nachweis der absoluten Gewissenhaftigkeit in den Correcturen anders hätte geführt werden sollen.
In einem Theil der späteren Bände nun ist
eine neue Redaction
eingetreten, die neben jenen Zwecken noch einen dritten verfolgt, einen fort
laufenden Commentar.
Bei vielen Werken des Dichters, deren Beziehungen
zum Theil schon verdunkelt sind, ist dieser durchaus nothwendig; bei andern,
die sehr verständlich auSsehn, dennoch wünschenSwerth, weil oft grade das
Kritische Streifzüge.
198
Feinste erst durch Combination entdeckt wird.
Wir haben allen Grund,
und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wird sich dieser Grund vermehren, Goethe
in dieser Beziehung so zu behandeln wie die Italiener ihren Dante. Zur Uebernahme solcher Aufgabe ist nur derjenige geeignet, für den das Studium Goethe'S ein Lebenswerk war, und der in der ungeheuren
Breite des geistigen Raums, den Goethes Dichten und Denken umfaßt, we
nigstens einigermaßen gleichmäßig zu Hause ist. Herausgeber der
Hempel'schen
Sammlung,
Ein solcher ist der neue
Geheimerath
von Loeper.
Seine tiefe Pietät für den Dichter hat ihn schon in der frühesten Jugend
veranlaßt, für ihn zu sammeln, und in einer sehr auSgebreiteten Lectüre
aller möglichen Fächer auf alles zu merken, was in irgend einer Beziehung zu Goethe stehen könnte.
Ich bin keineswegs mit allem einverstanden,
waS er giebt, und behalte mir vor, meine Bedenken bei einer andern Ge legenheit vorzutragen: da es aber sehr schwer, fast unmöglich ist, Verdienste,
die hauptsächlich im einsichtsvollen Sammeln und immer neuen Durchdenken des Stoffs bestehn, zu machen,
durch eine kurze Anzeige dem Nichtkundigen deutlich
so fordere ich wenigstens den Kenner auf, diejenigen Stücke,
die mir besonders meisterhaft ausgeführt scheinen, darauf hin anzusehn. ES sind in erster Linie die „Sprüche in Prosa", wo durch seltene Belesen heit und einen sicher treffenden Jnstinct die Parallelstellen gefunden sind; sodann der „West-Oestliche Divan"; wie sehr möchte man wünschen, daß
in derselben Art die sämmtlichen Gedichte Goethe'S behandelt wären!
ES
ist durchaus nicht bloß historische Neugier, wenn man zu missen wünscht, wann oder bei welcher Deranlaffung dies oder jenes Gedicht entstanden
ist, welches Vorbild vorgeschwebt hat: erst auf solche gründlich und ge
wissenhaft durchgeführte Vorarbeiten muß daS größere Unternehmen sich stützen,
die Entwicklung deS Goetheschen Stil'S zu
hängt dann
construiren.
Davon
auch vieles andere ab: wo uns äußere Anhaltspunkte fehlen,
wird durch den Stil mit annähernder Sicherheit die Zeit des Entstehens festgestellt werden können.
Um hier vorzugreifen: im zweiten Theil des
Faust, besten Commentar übrigens viel höchst Ausgezeichnetes enthält, würde Herr von Loeper in manchen Punkten zu andern Schlüffen gekommen sein,
wenn er die Entwicklung des Stil'S aufmerksamer geprüft hätte. Ich hoffe nun, daß der Commentar zu „Wahrheit und Dichtung", von dem soeben die beiden ersten Bände erschienen find, sich würdig dem
Commentar zu den Sprüchen und zum Divan anschließen wird.
Die Ein
leitung fehlt noch; die Anmerkungen geben ziemlich über alle Fragen Aus
kunft,
die
dem Leser in
erster Jugend aufstoßen.
den Erinnerungen
aus Götheö Kindheit
und
Herr von Loeper hat hierin zwar sehr tüchtige
Vorarbeiter gehabt, er hat sie aber nicht blos mit Umsicht benutzt, sondern
sehr Vieles Neue und Eigene hinzugefügt.
Auszusetzen wüßte ich wenig
oder nichts, ich will versuchen, meinen Dank für die mannigfaltige Belehrung indirect dadurch
abzutragen, daß ich ihm Gelegenheit gebe, das Nach
folgende zum Behuf seiner Einleitung einer näheren Prüfung zu unter
ziehen. — Nicht der kleinste Gewinn dieser neuen Ausgaben liegt nämlich darin,
daß sie den Leser, der sonst gern in
den bekannten Schriften nur her
umnascht, veranlassen, die einzelnen Werke wieder einmal ganz durchzu
nehmen.
So oft man auch „Wahrheit und Dichtung" durchgelesen hat, etritt einem immer wieder mit neuer wunderbarer Kraft entgegen. vollendet schön
ist
eö in
seiner künstlerischen
Compositiov!
Wie
die Nove-
letten von Margarethe, Lucinde, Friederike, Lotte und Lili, wie vortheichast stechen sie durch Farbe und Sttmmung gegen die eigentlichen Noveletten ab, die Goethe später und gleichzeitig geschrieben hat! wie weit bleiben die
Hersilien, Hilarim u. s. w. dagegen zurück! die leicht hingeworfenen Cha-
racter-Köpfe aus der Leipziger und Frankfurter Zeit, wie spricht das alles ! Wie schön greift die eine Geschichte in die andere ein! Viel wichtiger aber ist die andere Seite des Buchs: es ist für die
Zeit von 1768 — 75 die beste Literaturgeschichte,
die wir haben und je
haben werden; sie bedarf nur noch eines Commentar'S.
Wer in der Welt
wäre auch im Stande gewesen, eine solche zu schreiben, als der Mann, der recipirend allurch den Mangel an Einfachheit gestört, aber man kann eS als Erklärung einer sonst unbegreiflichen Erscheinung nehmen. Ebenso
ist eS viel leichter, die Scene zwischen Iulia und der Amme (Romeo und
Iulia, Akt III. Scene II.) zu verdammen, als zu sage«, wie sie zu ver meiden gewesen wäre.
Die tragischen Motive häufen sich hier so, daß
wenn sie ihren vollen, klaren, einfachen Ausdruck gefunden hätten, sie den
ganzen Schluß der Tragödie lahm gelegt haben würden; und doch mußte man aus handgreiflichen Gründen die Zuschauer wieder daran erinnern.
Bei diesen Schwierigkeiten half sich Shakespeare dann mit einer künst lichen Diction, die — das müssen wir immer bedenken — seinen Zeit genossen viel weniger unnatürlich schien, als unS. Doch bleibt die Scene immer ein großer Fehler in seinen Werken. In Hamlet dagegen sind die
Wortspiele dem Charakter des Polonius und dem Geiste deS ganzen Stücks
so gut angepaßt, daß sie eher eine Schönheit als ein Fehler sind. Wenden wir uns nun wieder zu den Sonnetten, die weitaus die schönsten von Shakespeare'- nichtdramatischen Gedichten sind, mit Ausnahme
vielleicht der herrlichen Lieder, die in seinen Stücken verstreut find, so tritt
uns in ihnen derselbe Reichthum der Phantasie, dieselbe Leichtigkeit des
Ausdrucks, die auch „Lukrezia" charakterisiren, entgegen, und hier wie dort wird unser Geschmack manchmal durch eine für uns übertriebene Redeweise und Sentimentalität beleidigt.
Aber hier hat die Schönheit ihren Platz
gefunden, und die Fehler sind mehr als halb entschuldigt durch die Form, die sich der Dichter gewählt hat.
Es kann nicht unsere Absicht sein, auf
eine der verwickelten und schwierigen Fragen, die diese Sonnette schon
veranlaßt haben, einzugehen, oder bei einem der biographischen Romane
zu verweilen, zu denen sie Anlaß geboten haben.
Jeder Kritiker aber,
der diesen dornigen Gegenstand berührt, wird gut thun, daran zu denken,
daß man sie nur verstehen kann, wenn man sie in Zusammenhang mit ähnlichen gleichzeitigen Gedichten bringt.
Vieles, was dem modernen Leser
an ihnen auf's höchste auffällt, ist durchaus nicht individuell; wir können
Shakespeare darauf hin kein träumerisches, empfindsames Temperament
zuschreiben, wie Tasso in Goethe'S großer Tragödie, wenn wir nicht das selbe von Earl von Surrey, Sir Philipp Sydney und überhaupt jedem
Sonnettendichter von irgend welchem Talent, der in England vor Elisa
beths Tode schrieb, behaupten wollen.
Wollte man diese Gedichte als
Shakespeare'- poetische Selbstbiographie betrachten, so häufen sich die Schwierigkeiten ihrer Erklärung dermaßen, daß es hoffnungslos scheint,
sie zu lösen, ehe man nicht von andern Seiten über des Dichters Leben und Charakter mehr Aufklärung erhält, als wohl jemals an'S Licht kom
men durfte.
Doch ist das auch kein großes Unglück für uns.
Ein echtes
Gedicht braucht keine Erklärung, ebenso wenig kann die genaue Kennt niß von Zeit und Umständen, unter denen es entstanden ist, seinen Werth
vermindern oder erhöhen.
Oder gewinnt Byron'S „Traum" dadurch eine
neue poetische Bedeutung für unS, daß wir erfahren,
wie er durch
Thatsachen aus des Dichters eignem Leben veranlaßt wurde, oder verliert er auch nur einen Zug seiner hohen Schönheit, weil wir überzeugt sind,
daß er kein glücklicher Mensch geworden wäre, wenn Mary Chaworth
seine Knabenliebe getheilt hätte?
Der, der seine innersten Gedanken und
Gefühle in die allgemeine Sprache übersetzen kann, die Alle verstehen, ist
ein Dichter, aber zu was eine Rückübersetzung dienen soll, ist schwer be greiflich.
Wahrhaftig, die Neugierde, auö der solche Fragen entstehen, ist
nicht viel bester, als der Wunsch zu wissen, was der Nachbar zu Mittag ißt, oder warum er sich mit seiner Frau zankt, — Fragen, die auch ein
gewisses psychologisches Interesse habe».
Aus dem Obigen ergiebt sich wohl, daß Shakespeare in seiner nicht-
dramatischen Poesie wenig Anderes bezweckte, als was schon mit mehr
oder weniger Erfolg von worden war.
seinen Vorgängern
und Zeitgenoffen versucht
Er erkannte die Autorität ihrer Vorbilder an,
und ihm
scheint, wie den übrigen, Reichthum der Phantasie und eine gewisse An
muth in Gefühl nnd Ausdruck der Endzweck aller lyrischen und erzählen den Poesie gewesen zu sein.
Hier und da findet sich wohl eine Zeile,
auch ein ganzer Vers, von unvergleichlicher Wärme und Schönheit, aber
wir können doch nicht unbedingt zugeben, daß seine Lukrezia bedeutender ist, als das Marlowe'sche Gedicht „Hero und Leander", oder seine Son-
nette im Ganzen schöner als die von Spenser. Das giebt uns jedoch kein Recht, zu glauben, daß er sich immer mit
diesen „engen Banden" begnügt hätte, wenn ihn die Umstände nicht ge sein Hauptangenmerk auf das Drama zu richten.
nöthigt hätten,
Eben
weil er auf der Bühne einen so vollen Ausdruck der einen Seite seines Genius fand, mag er in seinen Gedichten der andern so ungezügelt ihren Lauf gelassen haben.
In TituS AndronicuS haben wir eine Tragödie, schlimmsten von Marlowe'S Vorgängern erinnert.
die nnS an die
Hier folgt Gräuel auf
Gräuel, so dicht, daß für ästhetische Eindrücke gar kein Platz mehr bleibt.
Die furchtbarsten Schandthaten werden fast wie etwas ganz Natürliches behandelt.
Eine gewisse instinktive Geschicklichkeit kann man in der Art
wie einige derselben auf der Bühne dargestellt werden, entdecken, aber im
ganzen Stücke ist keine Stelle, kaum eine Zeile, die man wirklich poetisch
nennen
könnte.
Und der Dichter bleibt bei diesen Entsetzlichkeiten so
ruhig, er wird selbst nie warm dabei, grade als ob ihn sein schauerlicher
Traum keinen Augenblick erschreckt hätte. Autors sein,
Kann das ein Werk desselben
dessen Gedichte man tadelte, weil in ihnen Gedanken und
Ausdruck von allzu mädchenhafter Zartheit und Feinheit wären? Trotzdem wurde „TituS AndronicuS" populär, er wird von Shakes peares Zeitgenossen rühmend der Bühne lange Zeit.
erwähnt, und behauptete feinen Platz auf
Und das ist kein Wunder.
Die nicht eben wähle
rische Menge, die sich alle Abende zu den BolkStheatern drängte, suchte da
Unterhaltung, Erregung, machte sich aber wenig aus der ihr fast unbe kannten Kunst.
Wie alle Menschen konnten sie sich am Schönen freuen,
wenn eS in ihren geistigen Bereich gebracht war, aber so wenig wie ein Publikum heutzutage, verlangten sie eS als Hauptelement und Endzweck
jedes Drama'S.
Sie sahen Makbeth, fühlten auch wohl undeutlich die po
etische Größe deS Stücks, wußten aber keinen großen Unterschied zwischen
diesem Gefühl und dem, daS ihnen eine Reihe Schreckensthaten auf der Bühne erregt hätte.
Vor allem verlangten sie nicht, daß die ihnen vor
geführten Charaktere und Ereignisse besonders sorgfältig motivirt waren,
sie nahmen sie für wahr,
und darum für wahrscheinlich hin.
DaS ist
einer der charakteristischen Züge, der die Volksbühne gegenüber der Litera
Der Balladendichter sucht sich ein
tur höherer Bildung kennzeichnet.
merkwürdiges Ereigniß aus, manchmal sogar eine ganze Menge, die er
dann mit großer Genauigkeit schildert; häufig läßt er sich auf Details ein,
manchmal verleiht er auch ihrer tragischen oder heroischen Bedeutung den
vollsten Ausdruck.
Weiter geht er aber nicht.
Er will keine innere Noth
wendigkeit, keinen organischen Zusammenhang bei seinem Gegenstände be noch weniger sucht er sie mit den gewöhnlichen Erfahrungen
weisen,
seiner Hörer zu vergleichen, das thut er nur nebenbei, gewissermaßen zu
fällig.
Ihm genügt die einfache Thatsache, wie seinem Publikum auch.
Man muß bedenken, daß der Eindruck des Unwahrscheinlichen, den TituS AndronicuS auf jeden Leser macht, verschwand, sobald man das Stück in Fleisch und Blut kleidete, und den Sinnen sichtbar und fühlbar
darstellte.
Freilich wäre das wohl kein Vorzug in den Augen des gebil
deten Lesers,
im Gegentheil, es würde seinen Abscheu erhöhen, aber der
Ungebildete scheint eine gewisse Freude zu empfinden bei dem kalten Schau
der und dem nervösen Zucken das der Anblick einer gewiffen Art von
Grausamkeit und Schmerz erregt.
Während wir vom tragischen Dichter
fast als Hauptsache verlangen, daß er die Furcht und das Mitleiden, da« das Schicksal seines Helden einflößt, von dieser fast körperlichen Empfin dung trenne, Weinen Jene kaum den Unterschied zwischen beiden zu fühlen.
So ergiebt sich, daß, was unsern Widerwillen in TituS AndronicuS errttzt, denen für die es geschrieben war, wohl schwerlich auffiel, daß fer
ner, was unS zu fehlen scheint von ihnen nicht vermißt ward, während
das Stück übrigen« vollkommen den Anforderungen entsprach, die sie an jede dramatische Vorstellung zu machen gewohnt waren.
Es enthielt Leben,
Bewegung, ungewöhnliche Ereignisse und schreckliche Situationen.
ES war
sogar weniger Erzählung und mehr Handlung darin, alS in den allermei sten gleichzeitigen Stücken.
Kein dramatischer Kritiker wird läugnen, daß
daS ein Vorzug ist, wennschon er sagen wird, er sei hier übertrieben und falsch angewandt, mache daher keinen ästhetischen Eindruck, weßhalb man
TituS kein Kunstwerk, und folglich genau genommen auch keine Tragödie
nennen könne.
DaS ist alles wahr, nichtsdestoweniger war es seiner Zeit
ein gnteS Zugstück, ebenso wie es tausend andre mit ähnlichen Fehlern in unsern Tagen sind, die auch mit Erfolg aufgeführt werden. großen Drama stehn zwei Elemente nebeneinander.
In jedem
DaS eine macht eS
zum Gedicht, zum Kunstwerke, das andre zur Darstellung auf der Bühne geeignet.
In den größten dramatischen Werken, die die Welt kennt, in
dm Tragödien des Sophokles, den Lustspielen des AristophaneS und dm Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft».
21
reiferen Werken von Shakespeare- Genin- erscheinen diese beiden Elemente so
nah
Wort.
mit einander verbunden, wie Geist und Körper, Gedanke und In andern Dramen die jenen an poetischem Werth vielleicht gleich
stehn, überwiegt die poetische Richtung, das Wort versagt dem Gedanken,
das Organ gehorcht nicht mehr vollkommen dem Willen.
Zu dieser Klasse
gehören jene großen dramatischen Gedichte, gegen deren Einfluß die Kri
tiker von jeher vergebens protestirt haben, weil ihre innere Wahrheit und Schönheit das
„große Herz der Menschheit" gerührt haben.
Unterneh
mende Direktoren bringen sie zwar immer wieder auf die Bühne,
aber
nur mit jenem getheilten Erfolg, der fast einem Fiasko gleich kommt, weil ihnen der dramatische Takt fehlt.
Dann wieder giebt eö Stücke, bei denen eö vor Allem auf Bühnen wirkung abgesehen ist, die eine kleine Weile lustig auf .den Brettern leben und dann sterben und vergessen werden, weil sie eben von Anfang an
seelenlos und leer waren; arme, leblose Dinger, die nur vom unstäten Winde der Bolksgunst und öffentlichen Meinung gehoben und bewegt wur
den.
TituS AndronicuS ist nun zwar durchaus kein günstiges Beispiel
für diese letzte Classe. Jedoch beweist die Thatsache, daß eS mit warmem Beifall ausgenommen wurde, und sich eine gute Zeit auf der Bühne be
hauptete, daß eS manche dieser letzterwähnten Tugenden besaß, da niemand
seinen Erfolg von seiner poetischen Bortrefflichkeit herleiten kann.
Wenn
man das bedenkt, so wird eS weniger schwierig zu begreifen, wie Shake
speare jemals solch ein Stück schreiben konnte.
Seine eigne Phantasie
blickte ohne Freude auf die Gräuel, die er schilderte.
In diesem Werke,
wie in all seiner nichtdramatischen Poesie folgte er dem Vorbildern, die
seine Zeitgenossen anerkannten, und die Thatsache, daß das Stück eben
von den Fehlern frei ist, zu denen sein Genie sonst am meisten neigte, rechtfertigt den Glauben, daß er, als er es schrieb, das BolkSdrama für nichts besseres, als ein Mittel, sich fein Brod zu verdienen, ansah. Wir haben so lange bei Shakespeare'S Gedichten und seinem wenigst werthvollen Drama verweilt, weil ihre Fehler gerade zur Erklärung zweier
Seiten seines inneren Wesens dienen, wie sie zugleich die beiden Rich tungen charakterisiren, die der poetische Geschmack England'- im Anfang seiner literarischen Laufbahn hauptsächlich einschlug.
Wir können hier nicht
Schritt vor Schritt den Anstrengungen nachforschen, die er machte, um die Anmuth, Zartheit, Schönheit und Musik der höfischen Poesie seiner Zeit mit der wilden Leidenschaft, dem schroffen aber gesunden Humor der Volks bühne, die Ueberfeinerung der Hochgebildeten mit der rauhen Kraft und
Wahrheit derer, die nur von der Natur gelernt hatten, zu vereinen. Auch kann man das nicht einmal mit annähernder kritischer Treue, ehe nicht
die Reihenfolge, in der er seine Stücke schrieb, endgültig festgesteüt ist. Auch dann wird eS noch eine wichtige und schwierige Frage bleiben, in wiefern sie
ihre ursprüngliche Form bewahrt haben, und waS der Meister selber an ihnen veränderte, als er sie in einer späteren Periode wieder umarbeitete. Daß dies aber, bewußt oder unbewußt, Shakespeare'- Lebensaufgabe war, beweist der ganze Charakter seiner Stücke, wenn man sie mit den Werken
seiner Borgänger oder früherer Zeitgenossen vergleicht.
Das größte poe
tische Genie konnte dabei den Dichter nicht vor Fehlern bewahren, daher seine übergroße Vorliebe für zarte Bildersprache und die übrigen Verzie rungen, die da- Entzücken der Sonnet-Dichter seiner Zeit waren — daher auch ein gelegentlicher Sprung in Barbarisches, wie im Lear.
Die nachfolgenden Betrachtungen mögen zur näheren Erklärung des
Gesagten dienen.
Die Vielseitigkeit und Geschmeidigkeit von Shakespeare'S
GeniuS ist so groß, daß, wenn uns nur zwei seiner Stücke, etwa König Lear und „Was ihr wollt" erhalten geblieben wären, kein Kritiker nach dem
innern Wesen beider behaupten würde, daß sie vom selben Dichter ge
schrieben wären.
Nur, weil wir noch die Werke besitzen, die zwischen
diesen beiden Extremen liegen, ist eS uns möglich zu glauben, daß sie aus
demselben Geiste entsprungen sind.
Doch ward der Grundstein zu diesen
beiden Stücken in England lange vor ShakeSpeare'S Zeit gelegt. hatten gearbeitet und er baute darauf weiter.
Andre
ES ist unnöthig zu betonen,
daß das in nichts die Größe feines Thun- herabsetzt.
Witz und Wissen,
tiefer Einblick toi bedeutet nicht:
an Zahl, sondern: geringer an Macht.
gering
Wird jener Rath nicht befolgt,
gelingt eS der Masse, die Herrschaft unmittelbar an sich zu reißen, dann bricht die verkehrte Welt herein, Staat und Gesellschaft lösen sich auf und eS beginnt das Regiment des Knüttels, darin Griechenlands tausendjährige
Gesittung unterging.
Ich wiederhole diese Worte, weil Sie auch an ihnen
zu mäkeln haben und unter Berufung auf Aristoteles, Dropsen, Oncken nyd andere mir nicht ganz unbekannte Schriftsteller mich belehren, der
attische Demos sei besser gewesen als sein Ruf.
Sie konnten Sich dies«
Mühe sparen, wenn Sie Sich ruhig gefragt hätten: an welche Epoche bet
griechischen Geschichte ich denn bei meinen Worten gedacht habe?
Natürlich
nicht an die Tage deS Kleon^ sondern an eine Zeit, die Aristoteles nicht mehr erlebt hat, an die Zeit der römischen Eroberung.
wirklich
Damals ging
die hellenische Gesittung in frecher Pöbelherrschaft unter.
In
Boeotien gab IdaS souveräne Volk Keinem ein Amt, wenn er sich nicht im voraus verpfliichtete jeden klagenden Gläubiger abzuweisen, und der ge-
sittnungStüchtize Socialist pflegte sein Vermögen seiner Zechbrüderschaft zu vermachen; iw Sparta plünderte Nabis mit einer verworfenen Rotte die Besitzenden aus — eine naturivüchsige Socialpolitik, deren Leistungen Sie doch gewiß nicht als „durch und durch kathederfocialistifche Maßregeln"
preisen werden — und das Erste was der römische Sieger that um die
letzten Trümmer der alten Bildung aus dieser gräßlichen Verwüstung zu reiten, war die Verkündigung von neuen Stadtverfassungen, welche das
Regiment wieder in die Hände der Besitzenden legten.
Ich halte für die Pflicht jedes Lehrers der StaatSwiffenschaften, statt in vieldeutigen Worten , über die tragische Schuld der Gesellschaft und die enterbten Klassen zn reden, vielmehr zunächst mit unbarmherziger Sicher heit die nothwendige Gliederung der Gesellschaft darzustellen.
Populär
sind solche Lehren freilich nicht, sie verletzen den unbestimmten GleichheitS-
drang der Gegenwart.
Ich mache seit vielen Jahren, so oft ich über Po
litik lese, regelmäßig die Erfahrung, daß die Zuhörer bei den Elementen
der Wissenschaft sich befremdet fühlen; der ungeschulte Verstand erschrickt,
wenn man ihm zeigt, daß der Staat Macht ist, daß ein Staat ohne Frei
heit immerhin ein klägliches Dasein fristen kann, während ein Staat ohne Gehorsam unfehlbar untergeht «. s. w.
Seichte Schönredner klagen dann
wohl, das heiße den Idealismus der Jugend zerstören.
Aber der gesimde
Sinn der Jugend erkennt rasch, daß eine klare Vorstellung von dem Wesen
politischer und socialer Freiheit sich erst bilden läßt, wenn man begriffen hat, was den Staat und die Gesellschaft trägt und zusammenhält.
Der
sicherste Weg um schließlich an der Menschheit zu verzweifeln ist — sie zu
überschätzen.
Hören Sie Jemand versichern, eS gebe kein Völkerrecht, die
rohe Gewalt allein gebiete in der Staatengesellschaft, so verlassen Sie Sich
darauf: der Mann ist ein enttäuschter Schwärmer, er hat früher vom ewigen Frieden geträumt.
Ebenso kann man nur dann an die Wirklich
keit des socialen Fortschritts glauben, wenn man sich erfüllt hat mit dem Gefühle neidloser Resignation, das für den socialen Frieden ebenso wichtig ist wie die gesetzliche Gesinnung für den politischen.
Der Arme soll eS
wisien, die Klage: warum bin ich nicht reich? ist um kein Haarbreit ver
nünftiger als die Klage: warum bin ich nicht deutscher Kronprinz?
Er
soll wissen: die Weltgeschichte beginnt nicht mit Dir, sondern Du trittst
durch die Geburt ein in eine durch die Arbeit vieler Geschlechter geschaffene
Rechtsordnung; Du hast die Stelle, welche Dir diese Ordnung anweist, ohne Murren einzunehmen; bleibst Du träge, so wirst Du nie hinaus kommen über das Maß der Bildung und des Wohlstandes, das Dir Ge
burt und Erziehung ohne Dein Verdienst schenkten, oder vielleicht noch tiefer sinken; spannst Du alle Deine Kräfte an, so darfst Du hoffen höher zu steigen.
So erweckt die unwillkommene Erkenntniß der nothwendigen Klassen ordnung in jedem starken Menschen da» Pflichtgefühl, den Thatendrang, da» frohe Bewußtsein der persönlichen Kraft, und in diesem Bewußtsein wurzelt
alle politische Freiheit.
Ich schreibe nicht, wie Sie freundlich vorauSsetzen,
jedem Menschen dasselbe Gewissen zu; sondern ich weiß, daß jeder Mensch ein
Gewissen hat, und ich halte für sündlich, die» Gewissen einzuschläfern durch unklare Theorien, die den Halbgebildeten verleiten, die Verantwortung für
sein eigne» Thun der Gesellschaft aufzubürden. — Don diesen natürlichen Grundlagen der Gesellschaft soll, so scheint mir, jede sociale Theorie auSgehen und sodann zeigen, daß die Menschheit, wie sie im Stande ist ab
solute wissenschaftliche Wahrheiten zu entdecken, auch absolute sittliche Ideen
zu verwirklichen vermag und für einzelne sociale Institutionen im Verlauf der Geschichte eine Form findet, welche einmal gefunden unabänderlich bleibt
und nur mit der menschlichen Gesittung selbst verschwinden kann: — so vor Allem die Monogamie, ein überzeugende» Beispiel, da» Sie Sich wohl
gehütet haben zn bestreiten. —
Erst von diesem festen Boden ans läßt sich eine klare Ansicht gewinnen
von dem möglichen Fortschritt des socialen Lebens.
Da tritt mir leider das
ärgste und unbegreiflichste Ihrer Mißverständnisse entgegen, und wenn ich
nicht so ganz sicher wüßte,
daß Sie stets in gutem Glauben sprechen,
so könnte ich hier in der That versucht sein, ein beabsichtigtes Mißver
stehen anzunehmen. nur
Sie schieben mir die Behauptung unter, daß immer
dieselbe Minderheit sich der
könne.
höchsten
Güter der Cultur
erfreuen
Meine wirkliche Meinung aber — und ich glaube sie sehr deutlich
ausgesprochen zu haben — geht dahin, freien Volke nicht dieselbe bleiben soll.
daß diese Minderheit in einem
Ich sehe den größten Gewinn der
gereiften Volkswirthschaft in dem ungehemmten Auf- und Absteigen der
socialen Kräfte und ich denke ebendeßhalb weit höher als Sie von dem bleibenden Verdienst der Schule Adam Smith'S, weil sie wirksamer als irgend eine andere volkSwirthsHaftliche Theorie diesen allerwichtigstm Fort
schritt der Gesellschaft gefördert hat. Die allmähliche Milderung der Klassengegensätze erfolgt, im Großen gesehen, auf zweifachem Wege.
Der Wohlstand der niedere» Klaffm steigt
nach und nach, mit ihm ihre Bildung und ihr Ansehen in der Gesellschaft;
die Menschenwürde wird verstanden, auf die unfreie Arbeit folgt die freie; Staat und Gesellschaft sorgen durch Gesetz und Sitte für die Gesundheit,
die Erziehung, da- Behagen der kleinen Leute; und während im Alterthum
nur. der Nicht-Arbeiter ein freier Mann war, zwingt die reifere Entwickelung der Volkswirthschaft allmählich Jeden zum Arbeiten, also daß heutzutage nur
noch die Sophistik erbitterter Parteien, nicht «her das ruhige Urtheil der
Wisienschaft einen schroffen Gegensatz von Arbeitern und Nicht-Arbeitern
zu entdecken vermag, und damit gelangt die Ehre der Arbeit zur allge
meinen Anerkennung.
Jedoch diese unmittelbare Erhebung der
niederen
Klaffen, so unerläßlich und segensreich sie ist, bleibt nothwendig innerhalb
enger Grenzen.
Kein Gesetz und keine Wohlthätigkeit kann eS dahin brin
gen, daß die gemeine Handarbeit ebenso reich belohnt wird wie das geistige
Schaffen; ja eine solche Ausgleichung der Ahne, wie sie von manchem wohlmeinenden Nationalökonomen, unter Anderen von Thünen, verlangt
wird, wäre ein Rückfall in die Barbarei.
Die große Ueberlegenheit der
englischen VolkSwirthschast gegenüber der unseren zeigt sich auch darin,
daß dort die geistige Arbeit richtiger geschätzt, weit höher gelohnt wird al
bet «nS.
Mag die Ehre der Arbeit noch so allgemein anerkannt werden,
der Unternehmer und der Gelehrte stehen doch höher in der Achtung der Menschen al.S der Handarbeiter, weil sie mehr für die Gesellschaft leisten.
Mag der Staat die niederen Klassen noch so reichlich auSstatten mit po litischen Rechten, eS bleibt doch dabei, daß sie nicht selbst regieren können.
Das Wahlrecht kann man ihnen geben, die Wählbarkeit erhalten sie ithatsächlich nur in seltenen Ausnahmefällen; «nd daran ist nichts zu beklmgen,
denn daS Parlament soll nicht die Klasseninteressen als solche vertneten,
sondern die durch die Gemeinschaft der Pflichterfüllung verbundenen Selbstverwaltungskörper, welche alle Klassen umschließen.
Mag die Gesellsichaft
noch so menschenfreundlich für die Wohlfahrt der unteren Klaffen winken,
der Handarbeiter wohnt doch besten Falls im bescheidenen Häuschen,
der
Dmch diese Hebung der niederen Schichten der
Grundherr im Schlosse.
Gesellschaft erreicht man also niemals das Ziel der Ausgleichung der Be gierden, die nach Aristoteles schönem Worte wichtiger ist als die AuSAlei-
chung des Besitzes. Ungleich sicherer ist der andere Weg, der zur Milderung der Klasisen
gegensätze führt: die Beseitigung der Schranken, welche den in Armuth
Geborenen hindern emporzusteigen in den Kreis der Besitzenden und Ge
bildeten.
Nach dieser Richtung können' Staat und Gesellschaft nie genug
thun, wenn sie den unendlichen Werth deS Talents zu würdigen ver stehen; hier eröffnet sich ihrer Thätigkeit ein großes, fast unabfehba-reö Bleibt
Feld.
es
unmöglich,
die
große Mehrzahl der Menschen
an
allen Genüssen der Cultur theilnehmen zu lassen, so muß doch jede rüstige Kraft hoffen können hinauszutreten auS den Reihen dieser Mehrheit. Der
Staat soll nicht bloS die Arbeitskraft entfesseln und dem Armen daö Recht geben, auS seiner Klasse sich zu erheben; er soll auch durch gute BollkS-
schulen und durch einen leicht zugänglichen höheren Unterricht dafür sor
gen, daß das echte Talent dies Recht wirklich gebrauchen könne.
Nur so
kommt beständig frisches Blut in die höheren Klassen, nur so kann jene
Ausgleichung der Begierden annähernd erreicht werden.
Wir sind wohl
Beide darüber einverstanden, daß der Staat daS Eine thun und das An
dere nicht lassen soll, und der Moderne Staat erkennt wirklich diese zwei fache Aufgabe; zwei kurze Jahrzehnte haben uns die Aufhebung der un
freien Arbeit in Rußland und Amerika, die deutsche Gewerbefreiheit und die englischen Fabrikgesetze gebracht.
Nur bleibt zwischen unS der Unter
schied, daß Sie von der unmittelbaren Hebung der niederen Klassen daS Größte erwarten, ich von dem ungehemmten Auf- und Niedersteigen zwischen
den Schichten der Gesellschaft.
Der freie Wettbewerb Aller um die Güter
der Gesittung, deren volles Maaß immer nur von einer Minderheit er reicht werden kann — das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe.
-
Sie sind mit diesem Gleichheitsbegriffe sehr unzufrieden und vermissen ein beherrschendes Princip darin; Sie fragen, warum ich nicht lieber den
großen Satz herangezogen habe: „kein Mensch darf blos als Mittel benutzt
werden" — und beweisen dadurch auf- Neue, wie wenig Sie fähig sind, die Begriffe fest und sicher auseinander zu halten.
Sie schreiben diesen Satz
Schleiermacher zu; er stammt aber bekanntlich aus Kants „Grundlegung zü einer Metaphysik der Sitten" und ist von da in die politische Literatur hin
über gekommen. Ich habe in einer früheren Schrift (in dem Aufsatze über
die Freiheit) diesen Ausspruch als das fruchtbarste Ergebniß der metaphysischen
Freiheitökämpfe des achtzehnten Jahrhunderts bezeichnet und ihn dort an
den Platz gestellt, welcher ihm in dem Systeme der Staatswissenschast ge bührt, in die Lehre von der Freiheit. ein Postulat der Freiheit.
Offenbar enthalten die Worte Kant'»
AuS dem Grundsätze: „der Mensch darf im
Menschen niemals blos ein Mittel sehen" ergiebt sich, sobald man ihn auf den Staat anwendet, der Schluß, den ich in jenem Auffatze gezogen habe:
die Wirksamkeit der Regierung ist vernünstig, wenn sie die Selbstthätigkeit der Bürger hervorruft, fördert, läutert; unvernünftig, wenn sie diese Selbstthätigkeit unterdrückt.
Hingegen die Frage: inwiefern sind die thatsächlich
ungleichen Menschen dennoch von dem gesitteten Staate als Gleiche zu be handeln? — diese zwischen uns Beiden streitige Frage der Gleichheit wird
von dem Kantischen Satze gar nicht berührt oder doch nur negativ beant wortet.
Ich versuchte eine positive Antwort und fand: die Menschen sind
gleich insofern sie Alle gleichen Anspruch haben auf die höchsten und allge
meinen Güter, welche den Menschen zum Menschen machen; nur wo diese
allgemeinen Güter Allen zustehen ist freier Wettbewerb vorhanden. DarauS
folgt: die gleiche Rechtsfähigkeit, die gleiche Befugniß frei zu denken und zu glauben, das gleiche Recht Aller auf freie Benutzung ihrer persönlichen
Gaben;
ferner, damit dies Recht nicht zum leeren Scheine werde, der
gleiche Anspruch Aller auf das nach dem Stande der Gesittung unentbehr
liche Maß der Bildung; endlich das gleiche Recht Aller auf das Leben, dergestalt, daß die Gemeinschaft aushelfend eintritt, wo der Einzelne völlig außer Stände ist sich dies Gut zu erhalten. Es folgt aber nicht die so cialistische Gleichheit des Rechtserwerbs: aus dem einfachen Grunde weil der Staat diese Gleichheit gar nicht anbefehlen kann; denn welche Rechte
die an Besitz, Bildung, Begabung ungleichen Menschen durch ihre gleiche
Rechtsfähigkeit wirklich erwerben, darüber entscheidet nicht der Staat, son dern die Kraft und das Glück der Einzelnen.
Ich denke, dem also be
schränkten Gleichheitsbegriffe liegt ein klares Princip zu Grunde, ein klareres sicherlich als der unbestimmte Satz von der Theilnahme Aller an allen Segnungen der Cultur. —
Sie versuchen nun eine rechtliche Ordnung einzuführen in die Kämpfe
de» Wettbewerbs, die Ihnen chaotisch erscheinen.
Sie entlehnen dem
Aristoteles den Begriff der »ertheilenden Gerechtigkeit und fordern: ,,da» Prmßische Jahrbücher. Bb. XXXV. Hest«.
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Einkommen und Vermögen soll den Tugenden und Leistlingen entsprechen"
oder auch: „die äußere Bertheilung der Güter und Ehren hat den inneren sittlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen zu entsprechen."
Sie
erneuern damit in mildernder Umschreibung die Lehre der St. Simonisten:
Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Leistungen!
Ich
sehe in dieser Lehre eine ungeheuerliche Vermengung und Verwirrung von grundverschiedenen sittlichen, politischen, rechtlichen und wirthschaftlichen
Begriffen und stelle Ihnen gradezu diese Wahl: Entweder Sie haben den Muth, auch nur einen einzigen bündigen Schluß aus Ihrer Forderung zu
ziehen, dann vernichten Sie jede Ordnung, jeden historischen Zusammen hang in der Gesellschaft.
Oder Sie gießen Wasser in Ihren Feuertrank,
und verwischen den eigentlichen Sinn Ihres Satzes durch gewundene Aus
legungen so vollständig, daß nichts davon übrig bleibt als die Tugendlehre: Jeder bestrebe sich seiner socialen Stellung durch ernste Pflichterfüllung
Ehre zu machen. Dann begreife ich nicht, warum Sie so viel Gelehrsam keit verschwendet haben; diese Weisheit konnten Sie auch aus dem kleinen
Katechismus und aus Gellerts Fabeln lernen.
Um Ihnen dies zu erklären, erlaube ich mir zunächst die Autorität des Aristoteles zurückzuweisen.
Wenn irgend eine Aristotelische Lehre ver
altet und wiffenschaftlich überwunden ist, so doch sicherlich seine Lehre von
der Gerechtigkeit.
Der Staat der Griechen umfaßte das gesammte Volks
leben; darum vermag kein Hellene die Begriffe des Rechts, der Sittlich keit, der Zweckmäßigkeit scharf zu scheiden, die griechische Sprache besitzt nicht
einmal ein unzweideutiges Wort für das Recht.
Auch Aristoteles kommt
aus den Fesseln des nationalen Denkens nicht los.
Wenn er von der
vertheilenden Gerechtigkeit spricht, so setzt er eine Allmacht des Gesetzgebers voraus, die in dem modernen Staate ganz undenkbar ist; und bei der Be
trachtung der ausgleichenden Gerechtigkeit verfällt er gar in leere Gedanken
spiele.
Er unternimmt nämlich einen absoluten Maßstab aufzufinden für
die materielle Gerechtigkeit der Verträge des Privatverkehrs und durch einen allgemeinen Lehrsatz festzustellen, welche Gütermassen gerechterweise
gegen einander ausgetauscht werden dürfen; seine Commentatoren haben dann versucht durch Gleichungen und geometrische Figuren diesen unfrucht baren Gedanken zu verdeutlichen. klarheit überwunden.
Erst das römische Recht hat solche Un
Der scharfe juristische Verstand der Römer erkannte,
daß eS einen absoluten Maßstab für den Werth der Güter nicht giebt, wie ich schon oben nachwieS; desgleichen, daß bei unzähligen Verträgen die
Gleichheit von Leistung und Gegenleistung gar nicht beabsichtigt wird.
Der römische Richter begnügt sich also die formelle Gerechtigkeit zu wahren,
pr sorgt dafür, daß die im Vertrage ausbedungenen Leistungen wirklich er-
fiifit werden; nach der materieLen Gerechtigkeit des Vertrags fragt er nur in seltenen Ausnahmefüllen, wenn ein grober Betrug zu vermuthen steht,
darn werden die Grundsätze der aequitas angewendet, daß Niemand zum Schaden eines Anderen sich bereichern dürfe «. f. w.
Da ich auf diese Begriffe zurückkommen muß, so gestatten Sie mir, sie an einem Beispiel aus dem Leben der Gegenwart zu erläutern. Nehmen Sie an, ein deuffcher Gelehrter schreibt ein treffliches Buch über die Satzbildung des Sanskrit oder einen anderen dem großen Publicum unverständlichen Stoff
und läßt es von einem Buchhändler drucken und verlegen.
Dann stellt
sich das wirthschaftliche Ergebniß des Unternehmens (nach jenem Buch
druckertarife vom Juli 1873, der Ihnen wohl zu gefallen scheint, in mir
aber nur gemischte Gefühle erweckt) folgendermaßen.
Der Gelehrte hat
unbestritten den größten Antheil an der gemeinsamen Leistung und erWt kein Honorar oder eine Summe, die nicht einmal seine baaren Auslagen Der Verleger, der nächst dem Verfaffer das Beste gethan, erreicht
deckt.
im allergünstigsten Falle eine ungenügende Verzinsung seines Capitals; die Setzer und Laufburschen endlich empfangen ihren reichlichen Lohn.
materielle Ungerechtigkeit des Vertrages ist unverkennbar.
Die
Aristoteles würde
nunmehr durch den Richler entscheiden lasten, wie viel jedem der Betheiligten nach seiner Leistung gebühre.
Der moderne Staat aber, der durch
die Schule des römischen Recht» gegangen, fragt einfach: sind die Bedin
gungen des Vertrages erfüllt worden? und zeigt dadurch seine Ueberlegeyheit gegenüber dem griechischen Denker.
Er weiß, daß er nicht im Stande
ist die Kaufkraft und Kauflust des PublicumS zu verstärken, und er sagt sich: wenn verständige Männer mit freiem Willen einen unvortheilhaften Vertrag schließen, so werden sie wohl gute Gründe dazu haben; die
sehr achtungSwerthen Beweggründe, welche^ in diesem Falle den Verfaffer
und den Verleger geleitet, liegen denn auch auf flacher Hand.
Ich branche
kaum anzudeuten, wie eng diese schärferen RechtSbegriffe der Römer mit
dem hohen Stande ihrer BolkSwirthschast zusammenhängen und wie nahe sie sich berühre» mit der modernen Freihandelslehre.
Lassen wir also den Aristoteles aus dem Spiele und prüfen wir die
Sache.
Wenn Sie die Vertheilung der Güter und Ehren nach dem Maß
stabe der Tugenden und Leistungen verlangen, so frage ich zunächst:
wen stellen Sie diese Forderung?
an
Die Ehren vertheilt der Stagt; die
Güter vertheilt die Arbeit der Gesellschaft, allerdings unter fühlbarer Ein
wirkung der StaatSgesetze.
Sie vermischen also zwei grundverschiedene
Verhältnisse, ich versuche zwischen ihnen z« unterscheiden.
So lange Sie
von der Vertheilung der politischen Rechte und Ehren sprechen, kann ich
Ihre Forderung nicht geradezu falsch nennen; ich finde sie nur allzu w 29*
43tz
Die gerechte Bcrtheiluirg der Güter.
turalistisch, allzu einfach für die verwickelten Bedürfnisse deS StaatSlebens und darum ziemlich unfruchtbar.
Das Gleichgewicht der
Rechte
»ud
Pflichten bildet, wie heute wohl Jedermann zugiebt, den Grundgedancken
des modernen Rechtsstaats.
Jede höhere Machtstellung im Staate soll
erhalten und gerechtfertigt werden durch die Erfüllung schwerer Pflichten;
verliert eine regierende Klasse durch den Fortschritt der Volkswirthschaft die Vorzüge deS Besitzes und der Bildung, so soll sie auch ihre politische Macht verlieren; der Staat soll die Lasten vertheilen nach dem Maßstabe
der Leistungsfähigkeit, die politischen Rechte je nach der Fähigkeit sie zum Heile deS Ganzen auSzuüben.
Diese allgemeinen Grundsätze wird nicht
leicht Jemand anfechten; die Schwierigkeit liegt in ihrer Anwendung. Ich
ziehe auS ihnen mehrere Schlüsse, welche den Ihrigen schnurstracks zuwider laufen.
Sie nennen die allgemeine Wehrpflicht noch viel demokratischer
als das allgemeine Stimmrecht und billigen Beides; ich meine, das Princip
der vertheilenden Gerechtigkeit wird durch jene Pflicht anerkannt, durch dieses Recht verletzt.
Eine gerechter vertheilte Staatslast, als die allge
meine Wehrpflicht, läßt sich in dieser gebrechlichen Welt kaum erdenken.
Die Pflicht das Vaterland zu vertheidigen ergiebt sich unwiderfprechlich
aus dem richtig verstandenen Begriffe des StaatSbürgerthumS. Mit seinem Leben opfert Jeder das Höchste waS er opfern kann, der Tod deS Hoch
begabten ist ein schwerer, der des Unfähigen ein geringerer Verlust für die Nation; doch da das Leben dem Einen genau so lieb ist wie dem An deren, so glaubt Jeder das gleiche Opfer zu bringen, und Niemand kann sich beschweren.
Dagegen daS Recht mitzuwirken bei der Bildung der gs-
setzgebenden Gewalt gebührt nicht dem Staatsbürger als solchen, sondern
nur denen, welche durch Besitz und Bildung fähig sind ihr Wahlrecht zum Wohle deS StaateS zu gebrauchen; verleiht der Staat dieses Recht allen
Erwachsenen ohne Unterschied, so begünstigt er die Masse der Ungebildeten
zum Nachtheil der gebildeten Minderheit, er giebt die vertheilende Gerech tigkeit auf.
Und gleichwohl würde ich als Schweizerbürger unbedenklich
daS allgemeine Stimmrecht vertheidigen, weil ich diese Verletzung der ver theilenden Gerechtigkeit für eine Lebensbedingung der demokratischen Re
publik halte. Sie sehen, Ihr Grundsatz stößt überall auf andere politische Rück
sichten,
die
ihn beschränken oder aufheben.
Man
kommt nicht weit
mit ihm; er kann nicht einmal alö unbedingte Vorschrift gelten für die
Beförderung der Beamten. Niemand bezweifelt, daß die Aemter den Tüch
tigsten gegeben werden sollen.
Aber diese kahle Regel wird in aristokra
tischen Staaten beschränkt durch die berechtigten Ansprüche der regierenden
Geschlechter, in Demokratien durch das wechselnde Verhältniß der Parteien.
Utib in allen Staaten muß die alte Klugheitsregel gelten, daß der Ehrgeiz nicht blos gespornt, sondern auch um deS Friedens willen zur rechten Zeit
gezügelt werden soll.
Erinnern Sie Sich noch aus den
Patriotischen
Phantasien des Aufsatzes: „Keine Beförderung nach Verdiensten"?
Mir
ist JustuS Mösers grunddeutsche Natur selten so achtungSwerth erschienen. DeS Zöpfchen, daS dem advocatus patriae dabei unter dem Dreispitz
hervorfchaut, haben wir freilich längst abgeschnitten, und doch liegt ein
In
underlierbarer Kern in den Warnungen deS alten Menschenkenners.
de» französischen Heere wird weit rücksichtsloser „nach den Leistungen"
befördert alS in dem deutschen — wahrlich nicht zu unserem Schaden; die
Entfesselung der Ehrsucht und der Ränkesucht untergräbt den Geist treuer
Kameradschaft, und dieser ist für ein Heer wichtiger alS die schnelle Beföcherung jedes Talents.
Und welche Unklarheit versteckt sich doch hinter
der friedlichen Zusammenstellung der Tugenden und Leistungen!
Al» ob
da- Talent immer tugendhaft, die Tugend immer leistungsfähig wäre! Also können selbst die Ehren, welche der Staat unmittelbar verleiht,
nicht unbedingt nach den Tugenden und Leistungen vertheilt werden. noch weit weniger die Güter.
Und
Ist eS Ihnen irgend Ernst mit Ihrer
Forderung, so müssen Sie das Erbrecht aufheben und nur da» persönliche
Eigenthum bestehen lassen.
St. Simon, folgerichtiger als Sie, hat diesen
unabweisbaren Schluß in der That gezogen.
Jedes erdenkliche System
des Erbrechts, gleichviel wie es durch die Gesetzgebung des Staates ge staltet wird, bestimm» unzweideutig: die Vertheilung der Güter syll großentheils nicht den Tugenden und Leistungen entsprechen.
Und durch diesen
weisen Grnndsatz wird nicht blos der historische Zusammenhang deS BolkS-
thums gewahrt, das Gefühl der Pietät und die Innigkeit des Familienlebens erhalten, alle Ruhe und Sättigung der Cultur erst ermöglicht, sondern auch -7—.MUe Forderung der Gerechtigkeit erfüllt.
heutiger VolkSverüiögenS
Der größte Theil des
ist nicht durch die Arbeit deS gegenwärtigen
Geschlechts erworben, folglich darf er auch nicht nach den Tugenden und Leistungen der heute Lebenden vertheilt werden.
Der in der Erbordnung
fovtwirkende Wille der vergangenen Geschlechter, welche dies BolkSvermögen, hat von Re^tSwegen über die Gütervertheilung mitzuentscheiden.
Wer kurzweg die Bertheilung der Güter nach den Leistungen verlangt, der
mag, berauscht von dem Klange seiner eigenen Worte, sich selber sehr ge recht und tugendhaft dünken;
in Wahrheit tritt er die Gerechtigkeit mit
Füßen.
Sie wagen selbst nicht diesen nothwendigen Schluß zu ziehen; Sie fühlen lebhaft die gefährliche Vieldeutigkeit Ihres Satzes und suchen ihm
den Stachel zu nehmen durch ein wiederholtes „nur so ganz ungefähr"
und ähnliche abschwächende Zusätze.
Alle solche Künste ersparen Ihnen
nicht einen anderen Schluß, der sich als ein Allermindestes aus Ihrer Forderung ergiebt, wenn sie nicht jeden Sinn verlieren soll.
Er lautet:
Wenn die Gerechtigkeit fordert, daß die Vertheilung der Güter „nur so ganz ungefähr" den Tugenden und Leistungen entspreche,
so müssen in
einer gerechten Gesellschaftsordnung die Reichen „nur so ganz ungefähr"
tugendhafter sein als die Armen!
Das bestreite ich rundweg als Unsinn,
als den Ausfluß einer ganz junkerhaften Weltanschauung.
Und hier kommt
eS an den Tag, daß wir Aristokraten über die einfachsten sittlichen Fragen weit demokratischer denken als Sie.
Die aristokratische HerzenShärtigkeit
der hellenischen Philosophie leitete die Tugend aus dem Erkennen ab; solcher Gesinnung voll gelangt Aristoteles zu der entsetzlichen Behauptung:
eS ist unmöglich, daß Werke der Tugend übe wer das Leben eines Hand arbeiters führt. Die Verlogenheit unserer socialdemokratischen Wühler hat
diese heidnischen Irrthümer auS dem Schutt der Jahrhunderte wieder hervorgegraben; um den Klassenhaß zu schüren redet sie den Massen vor,
die Tugend entspringe der Aufllärung, und die Reichen suchten durch das
bösliche Versagen höherer Bildung auch
verkümmern.
die Sittlichkeit der Armen zu
Ich aber halte mich an die demokratische Sittenlehre des
Christenthums; ich weiß und erlebe es an jedem neuen Tage, daß die
höchste Tugend in jeder Schicht der Gesellschaft möglich und wirklich ist; mich ergreift das volle Gefühl demüthiger Beschämung, so oft ich an einer
armen Mutter eine Kraft der Liebe und der Hingebung beobachte, die ich nie zu erreichen vermöchte. Fühlen Sie denn nicht, daß Sie mit Ihren menschenfteundlichen Plänen
dem Armen gradezu den einzigen Trost rauben, der ein edles Herz Hinwegtragen kann über die unvermeidlichen Härten der wirthschaftlichen Ordnung? Gingen Ihre Träume jemals in Erfüllung, dann würde die Erde in der
That ein Jammerthal, wie die Theologen fabeln. Nur deshalb darf der Arme stolz und froh sein Haupt erheben, weil er weiß, daß die irdischen Güter
nicht nach der Tugend vertheilt sind. Soll er zu dem Vielen, was er heute
ertragen muß, noch das vernichtende Bewußtsein erhalten: „ist mir schon recht; dafür bin ich der Lump und die Reichen sind die Tugendhaften"? — Auch dem Reichen rauben Sie in aller Unschuld die einzigen wirksamen Be
weggründe, die ihn vor Härte und Uekerhebung bewahren können. Eindring
licher, ergreifender hat Niemand den Vornehmen und Reichen ihre Pflichten vorgehalten, als Pascal in dem discours sur la condition des grands. Da wird mit unnachahmlicher Anmuth geschildert, wie ein Schiffbrüchiger, an
den Strand einer Insel verschlagen,
belnden Volkshaufen umringt findet.
beim Erwachen sich von einem ju
Der König der Insel ist vor Kurzem
spurlos verschwunden; der Fremdling sieht dem Verschollenen ähnlich und wird vom Volke als König begrüßt.
Er fügt sich in die ihm aufgedrun«
geue Rolle und lebt fortan ein doppeltes Leben; vor den Leuten spielt er de« Herrscher, in der Stille sagt er sich: daS ist nicht mein wahrer Stand,
ich bin um nichts besser als die Anderen. Ebenso, Monseigneur — fährt Pascal fort, zu seinem jungen vornehmen Zuhörer gewendet — ebenso
sollt auch Ihr in einer double pensSe leben.
Ihr dankt Euren Rang
und Reichthum zwar nicht einer Lüge, sondern einer Erbordnung, die von der Weisheit unserer Väter eingesetzt wurde; aber Euer Rang und Glanz
ist nicht Euer wahrer Stand, er hat mit Eurem Selbst nichts gemein. Empfanget darum vor der Welt die Ehren Eures Ranges, doch saget Euch
in Eurem Herzen: ich bin nicht besser als die Andren, auch wenn da»
thörichte Volk mich dafür. hält. — Ich meine, diese einfältigen Worte werden wahr bleiben so lange die Gesellschaft besieht.
Danke« wir der
Natur, daß sie minder systematisch verfährt alS unsere Prosefsoren, daß
sie die wirthschaftlichen Güter nach anderen Gesetzen vertheilt als die
Tugenden.
Entspräche jemals die Gütervertheilung auch nur annähernd
den Tugenden der Manschen, dann verschwände die Zufriedenheit der Armen wie die Bescheidenheit der Reichen, der sociale Friede wäre unrettbar zerstört. Unmerklich sinken Sie mit Ihren ethischen Forderungen auf den Boden deS platten Epikuräerthums herab.
Jede Wiffenfchaft unterliegt
eigenthümliche« Versuchungen, Ihr Nationalökonomen fallt immer wieder
Eurem geliebten Eudämonismus in die Arme.
soll schon auf Erden ihren Lohn finden.
Sie fordern, die Tugend
Ganz gewiß, und sie hat ihn zu
allen Zeiten gefunden, doch wahrlich nicht in Thalern und Doppelkronen, sondern in dem Gewissen. „WaS einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch
etwa- Anderes als Aequivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis
erhaben ist, mithin kein Aequivalent verstattet, das hat eine Würde. Würde hat allein die Sittlichkeit und, sofern sie derselben fähig ist, die Menschheit." Dieser Ausspruch Kants und die ganze erhabene Gedankenwelt, die mit
dem kategorischen Imperativ zusammenhängt, find allen edlen Deutschen in Fleisch und Blut gedrungen; wir müßten unser BolkSthum verleugnen,
wenn wir von den reifsten und reinsten Früchten der Gedankenarbeit des
deutschen Protestantismus uns trennen wollten.
Auch Sie selbst sind im
Grunde der Seele von dieser deutschen Auffassung der Sittlichkeit erfüllt; dafür bürgen mir Ihre deutsche Natur und alle Ihre Schriften. Doch
Sie halten Ihre Gedanken nicht in fester Zucht;
Sie kaffen Sich be
thören von der saint-simonistischen Phrase und bemerken nicht, daß diese französische Theorie halb aus katholischer halb aus materialistischer Quelle
stammt.
Sie fordern, gut katholisch, daß das Innerliche einer äußeren
Ordnung sich einfügen solle; und Sie verlangen, gut materialistisch, daß
was über allen Preis erhaben ist gleichwohl einen Preis habe.
Nein, die
Welt der Sittlichkeit wird von der Vertheilung der wirthfchaftlichen Güter
nur ganz an der Oberfläche berührt; das wahre Glück des Lebens — der Friede des Gewissens, die Kraft der Liebe und des Glaubens — ist jedem
Menschen erreichbar. Da Sie auch wegen der Macht des Glaubens, nicht
gerade mit
großem Aufwande von Zartgefühl, mich zur Rede stellen, so muß ich hier
eine unwillkommene Abschweifung einschalten.
Ich tadelte den Hochmuth
deS Wissens, der auf den schlichten Glauben des Ungebildeten hoffärtig
niederblickt nnd sagte wörtlich: „Niemals kann auch die durchdachte wissen
schaftliche Erkenntniß irgend einem Menschen den Segen deS Glaubens ersetzen.
Bor den schweren Schicksalsfragen des Lebens, vor den Fragen,
welche das Gemüth im Innersten quälen und erschüttern, steht der Gelehrte ebenso rathloS wie der Einfältige. Ueber solche Fragen führt nur eine dumpfe
unfruchtbare Resignation hinweg oder — die Kraft des Glaubens, die in schweren Kämpfen des Gemüths erlebte Ueberzeugung, daß das Unbegreif lichste zugleich das Allergewisseste ist, daß Gott gerecht ist und sein Rath
schluß weise."
Angesichts dieser Sätze behaupten Sie, ich verlange den
Glauben nur von den Massen, nicht von den Gebildeten, und der Vorsteher der Hamburger Stadtmission, Freiherr v. Oertzen, versicherte gar auf dem
letzten Eisenacher Congreß, ich bettachte die Religion als einen Schutzmann, der den Haufen in Zucht halte.
Da ich nicht voraussetzen kann, daß die
Religion des Rauhen Haufes ihre Bekenner von der Pflicht der Wahr
haftigkeit entbindet, so nehme ich zur Ehre des Herrn v. Oertzen an, er
habe von meinen Aufsätzen nur einige abgeriffene Sätze in den Zeitungen
gelesen.
Sie gehen indeß noch einen Schritt weiter; Sie verhandeln
meinen „Glauben" in Kirchenglauben — ein Wort, das ich absichtlich vermieden habe — und fragen erzürnt, wie ich denn einen Kircheuglauben
fordern dürfe, den ich selbst nicht hege. Meine Antwort kann kurz sein;
in meiner weltlichen Natur steckt
keine Ader vom Theologen, ich mag nicht predigen waS erlebt sein will. Ich bin noch immer der Freidenker wie vor vierzehn Jahren, alS ich den
Aufsatz über die Freiheit schrieb; ich meine noch heute, über deS Menschen sittliche Würde entscheide nicht was er glaubt, sondern wie er glaubt. Nur
ist daS religiöse Gefühl in mir lebendiger geworden während dieser reichen Zeit;
ich habe
das Walten der Vorsehung
in den großen Geschicken
meines Volks wie in den kleinen Erlebnissen deS Hauses dankbar empfun
den und fühle stärker als sonst das Bedürfniß mich demüthig vor Gott zu
Bettgen. Ich erkenne heute klarer als früher, daß eine unauSfüllbare Lücke in der Seele jedes Menschen klafft, der jenen Drang des Gemüths nicht
empfindet.
Darum vermesse ich mich doch nicht zu tadeln, wenn ich solche
Leere deS GemüthSlebenS an einem Anderen bemerke; denn auf diesem Gebiete des Höchstpersönlichen nnd Geheimnißvollen findet die SelbMu-schuug einen unendlichen Spielraum.
David Strauß verkündet zwar in
seinem letzten Buche die dem Herzen und dem Verstände gleich unbegreif liche Lehre, daß die Welt dereinst untergehen werde, ohne jemals einen
Zweck gehabt zu haben; dennoch hat unleugbar der tapfere Kämpfer selber
so gelebt, als ob die Welt einen Zweck hätte.
Ich halte das Gottes-
bewußtsein der Menschheit für völlig unzerstörbar nnd glaube, anders als Sie, daß die Arbeit der Wissenschaft dies Bewußtsein zuletzt nur
kräftigen und läutern wird.
Ich hoffe ein Christ zu sein und ein Pro
testant, obgleich ich das Augsburger Bekenntniß nicht wörtlich zu unter
schreiben vermag, und sehe in den Zweifeln und Kämpfen unserer Tage
nur einen schmerzvollen Uebergang, der zu neuen, menschlicheren Formen
des kirchlichen Lebens führen wird.
Schöner als ich es könnte hat Emanuel
Geibel diese Hoffnung ausgesprochen: Dieser Kirche Formen faffen Dein Geheimniß, Herr, nicht mehr.
Tausenden, die fromm Dich rasen, Weigert sie den Gnadenschooß.
Wandle denn waS Menschen schufen, Dem» nur Du bist wandelloS l
Wer also denkt und hofft, der hat wohl ein Recht zu fordern, daß über daS Heilige mit Ernst nnd Ehrfurcht gesprochen und die überlieferten Formen des Kirchenlebens mit Achtung und Schonung behandelt werden.
Nun gar jene Aufwiegelung aller thierischen Begierden, die von den Führern der Socialdemokratie ausgeht, berechtigt jeden rechtschaffnen Mapn, ohne
Unterschied des Glaubens, zu ernsten Warnungen.
Durch die geistigen
Kämpfe der Gegenwart ist ein unheilvoller Bruch innerhalb unseres Volkes
entstanden. Ungebildeten,
Er trennt nicht, wie Sie meinen, die Gebildeten von den
sondern er geht mitten durch die Gesellschaft,
er scheidet
Tausende gebildeter Männer von ihren Schwestern und Frauen.
Dieser
Zustand ist viel zu unnatürlich, als daß er in einem wahrhaftigen Volke auf die Dauer bestehen könnte.
Die sittlichen Gefahren einer solchen
UebergangSzeit. werden von Jedermann empfunden, doch am schwersten
treffen sie die Masse deS Volks.
Je freier eine Sittenlehre, um so ver
derblicher wird sie dem unfreien Sinne, der nach zweifelloser Autorität
verlangt. Wenn ein roher Muselman durch einen übereifrigen Missionär
ohne die rechte Vorbereitung getauft wird, so trägt der neue Glaube ge
meinhin schlimme Früchte: der Bekehrte wäscht sich Nicht mehr und ergiebt sich dem Trünke.
Dieser gebundenen Seele sind sittliche Pflichten nur
dann heilig, wenn sie durch einen Ausspruch der göttlichen Offenbarung
beglaubigt werden. Aehnlich stehen noch heute Millionen der freieren Sitten lehre de- Christenthums gegenüber. Jeder Mensch ohne Ausnahme verarmt
im Herzen, wenn er das religiöse Gefühl in sich ertödet.
Der selbstän
dig Denkende kann darum doch ein wackerer Mensch bleiben, er lebt nach
einem selbstgefundenen Sittengesetze, daö er unbewußt großentheils dem
Christenthum entnommen hat.
Dem Ungebildeten gehen mit dem über
lieferten Glauben nicht blos die Tröstungen der Religion verloren, sondern
auch fast immer daö feste Pflichtgefühl; er wird irr an der sittlichen Ord nung der Welt, die er sich durch die Kraft deS Gedankens nicht zu er
klären vermag.
Sie kennen wohl den „BolkSgesang" der Lassalleaner: Ein' feste Burg ist unser Bund, Wie ihn Laffalle geschaffen. Er wurzelt fest auf Felsengrund,
Im Sturm ein sich rer Hafen!
Wo ist in dieser läppischen Selbstvergötterung nur die Spur eines tiefen
Gefühls, nur der Schimmer eines Gedankens, der den Menschen aus dem Staube erhöbe?
Und wie dies Zerrbild des lutherischen Liedes zu seinem
Urbilde, ebenso verhält sich der sittliche Inhalt der socialistischen Lehren
zu der sitttgenden Macht aller Glaubensbekenntnisse Deutschlands. Sie gar nicht unterscheiden zwischen der
Wenn
gewissenhaften Gedankenarbeit
unserer Philosophen und der gedankenlosen Frechheit der Religionsspötterei; wenn Sie einem Freidenker verbieten wollen, die muthwillige Zerstörung
des sittlichen Ernstes und des frommen Glaubens als ein Verbrechen zu bekämpfen — so kann ich nur den Vorwurf wiederholen:
Sie wissen
nicht, welchen Bestrebungen Sie eine willkommene Flankendeckung bieten! — Nun zurück zu Ihrer Gütervertheilung.
Ich wies oben nach, daß
der Plan, die Tugenden durch irgend welche Gesellschaftsformen zu be lohnen, ans einer sinnlichen LebenSanflcht entspringt. wie soll der Gedanke inS Leben treten?
Jetzt frage ich:
Wollen wir uns darüber ver
ständigen, so müssen wir zunächst verzichten auf jene unklare Bildersprache,
die von Ihren Freunden angewendet wird sobald sie vom Staate reden. Da heißt eS: eine Vertheilung der Güter durch den Staat findet in jedem
Systeme der Volkswirthschaft statt; oder: die Stein-Hardenbergische Ge
setzgebung hat eine völlig neue Bertheilung der Güter geschaffen, und der gleichen.
Das Alles sind unbestimmte, den Begriff verhüllende Bilder.
Seit die Welt dem CommuniSmuS ursprünglicher Menschheit entwachsen
ist, erfolgt die Bertheilung der Güter durch den Berkehr der Producenten; Und da der Staat wenig oder nichts selber producirt, so kann er in diese Vertheilung nur ordnend, fördernd, hemmend eingreifen.
Die» gilt von
Das fridericianische Preußen stand dem So
alle» modernen Staaten.
cialismus unleugbar näher als das heutige Deutschland.
Eine mächtige
Staatsgewalt legte dem Volke eine systematische Organisation der Arbeiten auf und übte in der That eine „Diktatur der Einsicht", wie sie der So cialismus heute ersehnt.
Sie wies jedem Stande eine bestimmte Stellung
in dem Haushalte der Nation an und half durch Zwang und Belehrung,
durch Geschenke und Darlehen nach, so oft der Bauer, der Bürger, der Edelmann seiner vorgeschriebenen Rolle nicht zu genügen schien. Und trotzdem schuf die Arbeit der Gesellschaft unter dieser Alles meisternden
Staatsgewalt eine neue Bertheilung der Güter, welche den Plänen de» großen Königs zuwiderlief.
Er wollte den Adel als den ersten Stand
auftechthalten, doch die Mittelklassen erwarben sich aus eigener Kraft eine Macht der Bildung und des Wohlstandes, die den alten Bau der ständi
schen Gliederung früher oder später zersprengen mußte.
(Beiläufig, Sie
besitzen ein seltenes Talent die Schriftsteller sagen zu lassen wa» Ihnen
bequem ist. Sie behaupten — S. 97 — Tocqueville bezeichne die fridericia nische Gesetzgebung als großartig und neu, „zugleich als socialistisch, aber Er sagt aber, das Allgemeine
nicht im schlimmen Sinne des Wortes."
Landrecht enthalte neben halbmittelalterlichen Gedanken auch Vorschriften,
döBt l’extreme «Sprit centraliaateur avoisine le socialisme!
Wenn
Sie den geistvollen Anwalt der Decentralisation näher kennten, so würden Sie wissen, daß die Worte esprit centralisateur und socialisme in diesem Munde immer rmr ein harter Tadel sind.)
Als der Staat jene von ihm
selber aufrechterhaltene ständische Gliederung durch die Gesetze von 1807 —
1812 beseitigte, da gewährte er nur den mittleren und niederey Volks klassen die rechtliche Möglichkeit,
durch ihre eigene Kraft eine veränderte
Bertheilung der Güter zu schaffen.
Daß diese neue Vertheilung wirklich
erfolgte, das danken wir dem Fleiße und der Sparsamkeit der preußischen
Bürger und Bauern; ein anderes Volk hätte dieselben Gesetze zu einer anderen Gütervertheilung benutzt.
So Höch ich die Weisheit jener Gesetz
gebung schätze und so gewiß es ist, daß mindestens die Masse der Bauer«
des Nordostens ohne jenen Weckruf des StaateS noch lange in der alten Dumpfheit dahin gelebt hätte — da» größte Verdienst des StaateS lag doch darin, daß er den Zeitpunkt erkannte, da jene Schichten der Gesell
schaft leidlich fähig waren eine heilsame Umwälzung des Güterlebens selber
zu vollenden.
Seitdem find die rechtlichen Schranken der Stände gänzlich
aufgehoben v»d damit die Fähigkeit des StaateS, auf die Gütervertheilung
einjvwirken, unleugbar gemindert.
Diese Einwirkung soll und wird nie
mals aufhören, doch in der heutigen BolkSwirthschaft gilt bestimmter als
je zuvor die Regel, daß die Güter wesentlich durch die freie Arbeit der
Gesellschaft selbst vertheilt werden.
Halten wir diese Wahrheit fest, so erhellt sogleich: Ihre Gütervertheilung nach den Leist '.ngen findet ein unübersteiglicheS Hinderniß an der le gitimen Macht des Glückes.
Um dieses Ausdrucks willen hat mich der
„BolkSstaat" als einen Verehrer des Faro-Tisches geschildert,
und Sie
halten Sich nicht zu gut diese Scherze sanft anwinkend zu wiederholen.
Was ich meinte ist aber so einfach, so mit allen fünf Sinnen wahrnehm
bar, daß mich's einige Ueberwindung kostet noch ein Wort darüber zu ver
lieren.
Wenn Sie begeistert auSrufen: „jede Position, die wir dem Zufall
abgewinnen,
ist ein Sieg der menschlichen Cultur",
so stimme ich von
Herzen bei, doch unwillkürlich fällt mir jener Wurm ein, der am Kölner
Alle unsere Lebens-, Fener-, Hagel-, Vieh-Bersicherun-
Dome emporkroch.
gen, alle die technischen Verbesserungen, welche das Wagniß der Geschäfte
verringern — was bedeuten sie denn
neben
den tausend und tausend
Kräften, wodurch das Schicksal eingreist in unser redliches Schaffen?
Er
ziehen Sie erst den Regen und Sonnenschein zur richtigen Erkenntniß der »ertheilenden Gerechtigkeit; dann wird die Bertheilung der Güter nach den Leistungen dem Reiche des Möglichen um einige Schritte näher rücken.
Und wie in aller Welt wollen Sie die zahllosen Leistungen der Ge sellschaft nach Grundsätzen des Rechts gegen einander abschätzen?
stehen
noch unter dem Einfluß jene- Aristotelischen
Irrthums;
Sie
Ihnen
schwebt die unbestimmte Ahnung vor, ob der unfindbare Maßstab für die
materielle Gerechtigkeit de- Güteraustausches nicht doch irgendwie sich finhen lasse. Vergebliche Hoffnung! Der Orientale verehrt das überlieferte Wissen
und verachtet die Neuerung, uns Europäern ist der Schöpf« neuer Ge danken bewundernngswerth, der Nachbeter deö Alten lächerlich; und steigen
Sie dann hinab lichen Arbeiten,
in das unendliche Getriebe der
so
läßt sich schlechterdings
Leistungen gerechterweise die höchste sei.
eigentlich wirthschaft-
nicht sagen,
welche dieser
Es giebt nur einen Maßstab um
die Leistungen der Gesellschaft unter sich zu vergleichen: daS wechselnde
Bedürfniß der Gesellschaft, das in dem Ringen von Angebot und Nachftage sich offenbart.
Die aus den Kämpfen des freien Wettbewerbs hervor
gegangene Vertheilung der Güter erhebt nicht den stolzen Anspruch eine
Verwirklichung der vertheilenden Gerechtigkeit zu sein;
sie kann sich nur
auf den einen bescheidenen Grund für ihr Dasein berufen, daß sie in den
heutigen Zuständen der Gesellschaft die einzig mögliche ist.
Ihre Ver
theidiger wissen, daß in dieser Güterordnung sehr viele treffliche Leistungen
einen gerechten Lohn nicht finden können.
Bei jedem Strike pflege« beide
Theile — beide gewöhnlich in gutem Glauben — sich auf ihr Recht zu berufen; zuletzt beruhigen sich die Parteien bei dem Lohnsätze, der auS der Lage des Marktes sich ergiebt und darum für den Augenblick der richtige
ist, auch wenn er eine materielle Ungerechtigkeit enthält.
Werfen Sie
dieser Verkeilung der Güter die Mißachtung des Rechtes vor, so läßt
sich nur antworten mit drei allbekannten Sätzen. Erstens, der freie Kampf
der Jntereffen führt ein fleißiges und denkendes Volk nach mannichfachem Irrthum zuletzt doch zu einer Schätzung der Güter, welche den Erfolg der tüchtigen Arbeit in der Regel sichert.
Zweitens, die Gunst und Ungunst des
Glückes gleicht sich einigermaßen aus nach dem Gesetze der großen Zahl. Drittens, die Regel der freien Concurrenz schließt ein milderndes und
anSgleichendeS Eingreifen des StaateS nicht auS, und diese VolkSwirthfchaftS»
Politik wird dann am fruchtbarsten fein, wenn sie sich nicht anmaßt, die
Tugenden zu belohnen. Die heutige Gesellschaft betrachtet als Regel, daß jeder Mensch den BildungSschatz und die wirthschaftlichen Güter, mit denen er feine sociale
Laufbahn antritt, ohne sein Verdienst durch die Eltern erhält; sie erkennt damit die Macht der in der Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit und
die Macht der häuslichen Sitte an.
Sie mildert die Härten dieses Zu
standes durch den Volk-unterricht und zahllose Stiftungen, welche dem Armen b& ersten Schritte int Leben erleichtern. Was der mündige Mann erreicht mit diesen
überlieferten Gütern,
seinem Schicksal überlasten.
daS bleibt feiner Kraft und
Der unersetzliche Vorzug dieser Vertheilung
der Güter liegt in der Freiheit; gerade die scheinbare Starrheit des Erb rechts erleichtert die rasche Bewegung innerhalb
der Gesellschaft.
Die
Erbordnung führt Menschen jedes Schlages in die Reihe der Reichen ein: Kluge und Dumme, Sparsame und Verschwender, Besonnene und
„Temperamentvolle"; ebendeßhalb darf der in Armuth geborene tüchtige
Mann auf ein
Aufsteiger!
hoffen.
Will dagegen
die Gesellschaft die
Güter nach den Tugenden und Leistungen vertheilen,
so muß sie zum
Mindesten die Bildung der Jugend einem unerträglichen Zwange unter
werfen.
Erlauben Sie mir dies zu erläutern, durch ein argumentum
ad hominem, womit der „Hamburger Socialdemokrat" mich tief gedemüthigt hat.
Er führte in längerer Betrachtung etwa Folgendes auS: dieser
Herr von Treitschke ist selber ein lebendiger Beweis für die Ungerechtigkeit der heutigen Gesellschaft; er ist der Sohn eines Generals, darum konnte
er studiren und heute ein Gelehrter heißen; lebten wir in einem gerechten
Staate, der die Güter nach den Leistungen vertheilte, so hätte ein solcher Schwachkopf niemals studiren dürfen. — Der Schluß ist bündig; eine
Die gerechte Verkeilung der Güter.
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socialdemokratische Unterrichtsbehörde hätte michZganz gewiß niemals die Universität besuchen taffen.
Ich will aber auch unter einer liberalen oder
conservativen Regierung den unverdienten Segen
einer guten Erziehung
lieber als das beste Vermächtniß geliebter Eltern ehren — denn da- ist
die
heilige Ordnung der Natur — als
ihn dem Ermessen irgend einer
Die deutsche Gesellschaft ist schon längst dahin
Staatsgewalt verdanken.
gelangt, daß die stiegel der Erbordnung alltäglich durchbrochen wird. Biele
meiner Freunde und Collegen stammen aus den ärmsten Klassen; sie haben
in ihrer Kindheit Entbehrungen ertragen müssen, die mir erlassen wurden, dafür blieben ihnen manche andere Hindernisse erspart, die ich überwinden mußte.
Und so setzt sich jedes Menschenleben zusammen au» dem Wirken
der persönlichen Kraft und dem Walten des Schicksals, unb eö bleibt in
alle Wege unmöglich, daß der Staat durch eine feste Regel der Güter-
vertheilung diese Welt des Besonderen und Persönlichen beherrsche.
Ich
weiß eS wohl, Sie lächeln selbst über Ihre unwillkommenen Hamburger
Bundesgenossen, aber diese Gelehrten ziehen doch nur Schlüsse auS Ihrer eigenen Lehre. So weit der Staat auf die Bertheilung der Güter einwirken kann, soll er den Grundsatz der Gerechtigkeit befolgen — das leugnet heute Nie
mand mehr — doch nur als einen Grundsatz neben vielen anderen gleich berechtigten,
Er soll gerecht verfahren bei der Bestenerung.
Daraus folgt
die Bertheilung nach der Leistungsfähigkeit und eine mäßige Progression
der Einkommensteuer, da die Kraft der Capitalbildung auf einer gewissen Höhe des Einkommens unverhältnißmäßig zu wachsen beginnt. Doch eö folgt nicht,
wie Sie einmal andeuten, daß der Staat die Steuern benutze um „eine Art Gleichgewicht" zwischen den Reichen und den Armen herzustellen; dies hin
geworfene Bonmot Friedrichs des Großen ist von seinem Urheber in der Praxis weislich nie befolgt worden.
Der Staat herrscht ut$t zu Gunsten
einer Klasse, auch nicht der Armen, sondern er denkt an das Ganze, an seine eigene Autarkie.
Darum sann ich nicht mit Ihnen sagen, es sei
besser Opfer aufzulegen zum Wohle der Armen als Reichen.
Wo
ein Opfer
zum Vortheil der
nöthig ist für die sittlichen Lebenszwecke der
Gesammtheit, da soll der Staat eö fordern.
Er erhebt Steuern für die
Armenpflege, aber er zwingt auch, ebenso gerecht, die Steuerzahler viel mehr auszugeben für den Unterricht jedes einzelnen Studenten als für
jeden Elementarschüler.
Wenn der Staat das Auskaufen der Bauergüter
verbietet, so will er damit nicht die »ertheilende Gerechtigkeit verwirklichen: die ausgekauften Bauern können ja auch im städtischen Gewerbefleiß eine genügende Belohnung ihrer Leistungen finden; sondern er sagt sich, daß
der Bestand eines freien aufrechten Bauernstandes heilsam ist für die sitt-
liche Kraft und die Mehrbarkeit der Nation, wie für die harmonische Ent wicklung der BolkSwirthschaft, und diese Gründe können unter Umständen daS Verbot rechtfertigen.
Der Staat soll überall die letzten Spuren alter
Vorrechte beseitigen; deßhalb glaube ich, daß die Agrargesetze der Zukunst
tiefer in die EigenthumSordnung einschneiden werden alS die Fabrikgesetze,
das Latifundienwesen des NordostenS krankt noch an den Nachwirkungen ungerechter Privilegien.
Der Staat soll die Schwächen des Systems der
freien Concurrenz zu heilen suchen durch die Beschützung der Schwachen
gegen die Willkür der Unternehmer und durch strenge Gesetze wider jede
Art betrügerischer Speculation, aber dabei nicht vergeffen, daß der Mensch am Wirksamsten sich selber beschützt.
Während der jüngsten Gründungs
epoche schien es wirklich, als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit
in's Unermeßliche sich erweitert hätten; gegen solche Epidemien entfesselter Geldgier vermögen die strengsten Gesetze wenig. Betrogene Aktionäre treten
heute überall zu Schutzvereinm zusammen; die deutsche Gesellschaft besinnt sich wieder auf das einzige Heilmittel, das hier wirken kann. Es können Zeiten kommen, da die Macht des Großkapitals der Frei heit der anderen Klaffen bedrohlich wird und der Staat sich gezwungen sieht
die Erbordnung durch einen Gewaltstreich zu durchbrechen; dies letzte Noth
recht des Staates habe ich nie bestritten, ich bestreite nur, daß ein solcher Nothstand heute vorhanden sei.
Der natürliche Gang der modernen Groß
industrie füW zur Bildung großer Vermögen. Der Staat muß in solcher Zeit mit erhöhter Wachsamkeit sich der Armen und Schwachen annehmen,
d»M die
veränderte
hindern,
weil
Entwicklung
sie von
marktes abhängt.
den
der
Volkswirthschaft
internationalen
kann
Verhältnissen
er nicht
des
Welt
Und er soll es nicht, weil er nicht zu bestimmen ver
mag, ob und wann die Centralisation des Capitals aufhört heilsam zu
sein; jedes neue Hunderttausend, das die Krupp'sche Fabrik ihrem Capitale zugelegt hat, ist bisher der deutschen Volkswirthschaft zu gute kommen.
Er
soll eS auch darum nicht, weil das Nebeneinander von großen, mittleren und
kleinen Vermögen für die allseitige Ausbildung der Kräfte eines mächtigen Volkes, ist.
auch
für die Entwicklung
der bildenden
Künste,
nothwendig
Sie leugnen den Zusammenhang von Kunst und Reichthum, Sie
erinnern dawider an die Zeiten der Renaiffance und der Münchener
Kunstblüthe und liefern mir selber damit die schärfsten Waffen.
Ich habe
nie ein unbehagliches Gefühl, halb des AergerS, halb des Spottes über winden können so oft ich durch die Briennerstraße schritt.
Am Eingang
daS marmorne Prachtthor und mein alter Liebling, die Glyptothek; dann folgt der Obelisk mit den bekannten Schafköpfen und eröffnet symbolisch die ent-
setzkiche Reihe der dürftigen Wohnhäuser deS armen und ungebildeten bairi-
scheu AdelS; zum Schlüsse der Prachtbau der Arkaden.
So erscheint die
Kunst, wenn sie durch ein Herrscherwort auf den Boden einer unreifen Volkswirthschaft verpflanzt wird!
Die Baukunst der Renaissance dagegen
ist recht eigentlich eine Kunst der Signoren. Kennen Sie die Via neova
in Genua? Palast an Palast, und mit einer wunderbaren Sicherheit deS Kunstgefühles, wie nach einem gemeinsamen Plane, hat jeder Hausherr
daö Portal seines Schlosses genau in eine Linie gerückt mit dem gegen
überliegenden Thorweg, also daß der Wanderer in der engen Gasse stetzweimal, nach links und rechts, den malerischen Durchblick genießt durch die Bogengänge der Höfe bis zu dem Brunnen in der hintersten Nische. In Vicenza gab eine Generation reicher Signoren die ganze Stadt wie
einen Klumpen weichen Thones in die Hände eines großen Künstlers, daß
er sie forme, und mit welcher souveränen Geringschätzung deS Geldes hat
Palladio seinen Auftrag vollzogen! In Florenz, zur Zeit da sechzig Banken
den Verkehr der reichen Stadt vermittelten, baute sich ein Bürger jene-
HauS, das heute als das gewaltigste Königsschloß der Erde gilt.
Nach
den Erfahrungen der modernen Geschichte scheint es mindestens zweifelhaft, ob ein Volk, daS nur aus Armen und behäbigen Mittelklassen bestände,
einen so reizbaren Schönheitssinn zu hegen vermag; ganz sicher aber, daß
nur ein sehr reicher Mann die Cyclopischen Massen deS Palazzo Pitti er bauen lassen konnte.
Ein wahrhaft lebendiges Kunstgefühl der Reichen
steht immer in Wechselwirkung mit der ästhetischen Bildung deS ganzen
Volkes; in denselben Tagen, da jene Paläste entstanden, rottete sich der große Haufe der Florentiner drohend zusammen, weil er ein neue- Ma donnenbild an einem Stadtthore unschön fand. — So bleibt von der Gütervertheilung nach den Leistungen und Tugenden
nicht- Haltbares übrig als einige längst bekannte dürftige Sätze, die sich
aus anderen, klareren Vordersätzen richtiger ableiten lassen.
Ihre Lehre
ermangelt des festen philosophischen Bodens, praktisch arbeitet sie nur
den Socialdemokraten in die Hände.
Sie wird unsere Socialisten von
Neuem veranlassen die Gesellschaft himmelschreiender Ungerechtigkeit zu be zichtigen und sich dabei auf Ihren guten Namen zu berufen. Sie nennen
Sich selbst einen radikalen Tory-; mich gemahnen Ihre Gedanken vielmehr an daS zweite Kaiserreich, den einzigen Staat unserer Tage, der in einer hochentwickelten Volkswirthschaft das System de» socialisme autoritaire
durchzuführen versuchte.
Vermuthlich denken Sie bei dem unklaren Namen
an jene englischen Arbeiterfreunde, die man einst
nannte.
Gut denn; aber dann erwägen
christliche Socialisten
Sie auch, daß keiner dieser
trefflichen Männer den Parteien deS Umsturzes jemals etwa- Anderes
entgegengebracht hat als offene Feindschaft.
Sie tadeln mich, weil meine
scharfen Worte den Socialismus nur noch mehr erbittern könnten. es denn unwahr was ich sagte?
War
Zeigew Sie mir ein einzige- einfluß
reiches socialdemokratisches Blatt, das nicht die Gottlosigkeit, nicht die
Verachtung des Vaterlandes, nicht den wüsten Klaffenhaß predigte!
Ich
wußte zum voraus, daß die Masse jener Partei von meinen Worten nicht-
erfahren würde alö was die entstellenden Berichte ihrer Partelblätter ihr
mittheilten.
Ich schrieb für gebildete Leser und wollte diesen zeigen, e-
sei hohe Zeit, uns entschlossen lo-zusagen von jenen Lehren de- Unsinn-,
die den Arbeiter der Verwilderung in die Arme treiben. Auch unter Ihren F-reünden beginnt diese Ueberzeugung überhandzunehmen; Th. v. d. Goltz hat sie soeben mit schöner Offenheit ausgesprochen.
Ich würdige gleich
Ihnen die Verkettung der Thatsachen, welche die deutsche Socialdemokratie nochwendig hervorgerufen haben, wie ich auch die geschichtlichen Ursachen
der Mramontanen Bewegung anerkenne; die- historische Verständniß schließt doch die ehrliche Bekämpfung beider Parteien nicht aus.
sind immer schöpferisch und lebenskräftig,
Radikale Parteien
wenn sie einen gänzlich ver
rotteten Zustand bekämpfen; unter dem alten Deutschen Bunde waren wir Alle radikal.
In einer Gesellschaft, die redlich an möglichen Reformen
arbeitet, verfällt der Radikalismus der Entsittlichung und Lüge. —
Doch — cela est bien dit, mais il saut cultiver notre jardin. Mit allgemeinen Gesellschaftstheorien ist den socialen Leiden der Gegenwart
wenig gedient, nur mit durchdachten, aus sorgfältiger statistischer Forschung hervorgegangenen Ref>ormen.
Die verlockenden socialen Programme, wo
mit unS der" Büchermarkt an jedem Tage beschenkt, erinnern mich lebhaft an jene „Wünschzettel", die der Liberalismus vor Zeiten liebte; auf die DurchbildE und Ausführung kommt hier Alles an. Vielen Ihrer prak-
tischen Bdrschläge kann ich mit einigen Vorbehalten zustimmen, und ein
Mann, der Ihnen als
Ansicht.
ein arger Manchestermann gilt,
ist ■ derselben
Wollen Sie ohne Silbenstecherei ruhig lesen, so werden Sie
z. B. finden, daß mein Urtheil über den Arbeitsertrag, da- Ihnen so
widerspruchsvoll scheint, von dem Ihrigen nur um wenige Schritte ab weicht.
Ich setze aber meine Hoffnung nicht so auschließlich wie Sie auf
die Krone «nd das Beamtenthum.
Die Alleinherrschaft des „buchgelehrten,
besitzlosen, heimathlosen" BeamtenthumS — wie der Freiherr vom Stein
zu schelten pflegte — hat zwar Unvergeßliches geleistet für deu socialen Frieden, doch sie war nur möglich in einem verarmten, politisch unmün digen Volke.
Inzwischen haben unsere besitzenden Klaffen sich längst den
gebührenden Antheil an Gesetzgebung und Verwaltung erobert; nnd ich
sehe nicht ein, warum sie, unter der Leitung einer allezeit volk-freundlichen
Krone «ud unter Mitwirkung eines von wirthschaftlichen Klaffeninteressen
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 4.
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wenig berührten Beamtenthums, nicht ebenso viel Gerechtigkeit gegen hie
niederen Klassen beweisen sollten, wie die besitzenden Klassen
Englands
nnd der Schweiz ohne jene Leitung schon bewiesen haben. Dazu ist nöthig, daß die besonnenen Freunde der Arbeiter einen häus
lichen Streit beilegen,
der allmählich Sinn und Zweck verliert.
Das
Manchesterthum diesseits wie jenseits des Canals ist nach grausamen Erfah
rungen von vielen Illusionen geheilt.
Um Ihnen eine kleine Freude zu be
reiten, will ich hier — als schlechthin einziges Zugeständniß — einschalten,
daß ich meine Worte über die Manchesterschule heute ein wenig verändern
würde, freilich nicht in Ihrem Sinne. Gezwungen, den Stoff zusammenzndrängen, habe ich dort nicht angeben können, wie mannichfach das Verhältniß
der englischen Parteien zu den socialen Fragen gewechselt hat. Die schwersten
UnterlaffuvgSsünden des Staates gegenüber den arbeitenden Klaffen fallen in die langen Jahre der Herrschaft der Torys.
Mit dem neuen Armen
gesetze, dem Werke der Whigs, versuchte der Staat endlich zum ersten male sich der Verwahrlosten anzunehmen.
Aber die erste nachhaltige Ber-
befferung ihres Looses kam den Arbeitern durch das Korngesetz, und darum ist der Manchestermann Cobden, der dies Geschenk den anfangs wider strebenden Maffen brachte, unbestreitbar der größte unter den Wohlthätern
der arbeitenden Klassen von England.
Seitdem beginnt die fürsorgende
Thätigkeit der parlamentarischen Gesetzgebung.
Die Mauchesterschule hat
dabei oft und schwer gefehlt durch ihr doktrinäres Mißtrauen gegen das
patemal government;
doch sie hat diese Haltung allmählich geändert,
Gladstone zählt heute zu den wärmsten Freunden der Arbeiter:.
Die deut
schen Freihändler sind von Haus aus weniger einseitig und namentlich zu
jeder Zeit gute Patrioten
gewesen, ganz frei
Träumen der englischen Schule.
van
den
kosmopolitischen
Heute wird grade in ihrem Kreise sehr
eifrig jene Wiffenschast gepflegt, die für alle socialen Reformen den Weg bahnen
mnß:
die sociale
Statistik.
Ich
bekenme gern,
daß
ich
auö
den thatsächlichen Mittheilungen in Böhmerts „Arbeiterfreund" mehr gelernt habe als aus mancher anspruchsvollen Theorie der Sociallehre. Die Reichsregierung hat eine umfassende Enqußte der Arbeiterverhält-
niffe veranstaltet und bereitet ein Fabrikgesetz vor.
Die sociale Frage beginnt
endlich sich in eine lange Reihenfolge praktischer Einzelfragen zu zerlegen. Der Zeitpunkt ist günstig; der Niedergang der Geschäfte und das Sinken
der Löhne, das dem gewaltsamen Anschwellen nothwendig folgen mußte, hat die socialdemokratische Bewegung für einige Zeit ins Stocken gebracht; unberührt von Haß und Furcht kann der Reichstag an die Arbeit gehen.
Ist e» verständig, in solcher Lage das Banner einer neuen wirthschaftlichen „Partei" zu entfalten «nd über den „Bankrott" den Gegner zu jubeln —
einige Sonate, ncichdem diese Partei über die Bestrafung deS Contractbruchs zu Eisenach fast das Nämliche beschlossen hat wie vorher die Gegner zu Mainz? Niemand erwartet von Ihnen einen unfreiwilligen „Bruder kuß", wie Sie eS nennen; ich wünsche Ihnen nur den Takt des praktischen Politikers, der um der Sache willen doktrinären Eigensinn überwindet. Zum Schluß versichern Sie nochmals, daß Sie einseitig sein wollen wie alle Vertreter neuer Gedanken, und auf derselben Seite halten Sie sich berufen, mir das Urtheil zu verkünden, das die unparteiische Nachwelt über mich fällen wird: sie wird mir jene Aufsätze verzeihen, weil ich selber ganz einseitig, bald gegen rechts, bald gegen links gewendet, für die Ein heit Deutschlands gestritten habe! — Nun wohl, diese Einseitigkeit, die bald nach rechts, bald nach links blickt, hoffe ich mir auch bei der Beur theilung wirthfchastlicher Dinge zu bewahren. Zu der Höhe Ihres Selbst gefühls kann ich mich jedoch nicht aufschwingen ; ich wage heute noch nicht mit Sicherheit voranszusagen, ob die Nachwelt Ihnen Ihre Gütervertheilung verzeihen wirb.' Nur für die nächsten Jahre, die vor «nS liegen, will ich eine Weissagung wagen. Ihre VereinSgenoffen haben sich in Mehre ren Blättern häuslich eingerichtet — leider auch in dem Literarischen Centralblatt, das ich fouft wegen seiner Unbefangenheit schätze — und führen dort das kritische Richterschwert mit einer ungeschminkten Parteilich keit, die mir unter deutschen Gelehrten Neu ist. An Beifall wird es Ihnen also nicht fehlen; auch der wohlverdiente Dank der Socialdemo kratie ist JhneA sicher. Ich hoffe aber, Ihr nüchterner Sinn wird sich von solchem Lote nicht berauschen lassen. Sie werden fortfahren die sociale Bewegung aufmerksam zu verfolgen und früher oder später bemerken, daß der ÄWiter auf der Welt keinen ärgeren Feind hat als jene Demagogen,
die ihm den Frieden der Seele und das Ehrgefühl der Arbeit zerstören. Sobald Sie das erkannt, werden Sie Ihre Worte sorgsamer wägen und unzweideutig zeigen, daß Sie mit dieser Richtung Nichts gemein haben wollen. Sie werden erfahren, daß eine wesentlich theoretische Parteibrkdung in Zeiten praktischer Reformen sich nicht halten läßt; der Mißerfolg deS letzten Eisenacher CongreffeS redet laut genug. Beginnen dann die parlamentarischen Verhandlungen über Fabrikordnnngen und Arbeiterver hältnisse, so werden Sie mit Ihrem treuen Fleiße und Ihrer bewährten Fachkenntniß redlich milzuhelfen suchen und manchen Mann als einen Ge sinnungsgenossen schätzen lernen, den Sie heute als einen verblendeten Gegner tief verachten. Und vielleicht urtheilen Sie dann auch Lbed jene Anfsätze sogar noch milder als Ihre Nachwelt. 10.April. Heinrich von Treitschke.
Politische Correspondenz. Berlin, 12. April 1875.
So still und geschäftSlos, wie das Jahr 1874 nach dem Zeugniß des Fürsten BiSmarck war, scheint daS Jahr 1875 nicht verlaufen zu wollen.
Seit
einigen Wochen find Zeichen aufgetaucht, welche wenn nicht auf Sturm, doch
mindestens auf zweifelhaftes Wetter deuten.
Jene Zuversicht auf einen langen
Frieden, die wir aus der tiefen Zerrüttung Frankreichs schöpften, fängt an er
schüttert z« werden.
Statt an daS Wort Gambetta'-, daß Frankreich 10 Jahre
Vorbereitung zur Revanche gebrauche, denken wir jetzt mehr an de« Ausspruch Moltke'S, daß Deutschland 50 Jahre lang den Erwerb des Frankfurter Friedens
mit dem Schwerte werde vertheidigen müffen.
Frankreich hat schneller gezahlt
und schneller sich erholt, als man früher annahm, und mit der Wiederkehr seiner
Kräfte steigert sich auch in den übrigen Staaten die Rührigkeit der unS feindlichen
Parteien. Sie haben in dem UltramontaniSmuS ihr vermittelndes Band. In den
Wiener Hofkreisen wie in der italienischen Consorterie, im Cabinet Mac Mahon's
wie im Ministerium d'Aspremont-Lynden sind die römischen Einflüsse mächtig, arbeiten nach einem Plan, suchen gegen unS daS Terrain zu erobern, neue
Allianzen zu flechten. Die Clericalen in Deutschland verwahren sich freilich gegen den Borwurf einer Verbindung mit dem Ausland; aber daS Ausland rechnet auf sie.
Bischof Kettler erllärt den von Europa garautirten Religions
frieden für gebrochen, ja die baierfche Winkelpreffe predigt offen den Religions
krieg und verlangt, daß das katholische Oestreich den Franzosen die Hand gegen die norddeutschen Ketzer reiche.
Wenn in Folge der Neuwahlen im nächsten
Herbst daS baierfche Ministerium stürzen nnd König Ludwig sich einschüchtern
lassen sollte, so wird die römische Kriegspartei ihr Hauptquartier in München
aufschlagen.
Sie wird, indem sie die Gemüther für den Verrath am Reich
wissenschaftlich vorbereitet, bei gewissen ausländischen Höfen den Eindruck her vorzurufen suchen, daß sie durch Unterstützung der französischen Waffen das
Signal zum Abfall des katholischen Südens geben könnten, daß eS jetzt noch
Zeit sei, den Bau deS Deutschen Reichs zu zertrümmern, die alte Herrschaft über Deuffchland wiederzugewinnen.
So verknüpft sich der Kampf zwischen
Kaiser »nd Pabst mit den in den letzten beiden Kriegen unterlegenen Interessen und Parteien.
Ob und wie weit durch Vorspiegelungen dieser Art die bis
herige» intimen Verhältnisse zwischen einzelnen Mächten schon erkaltet sind, läßt sich für die, welche anßerhalb der diplomatischen Zunft stehen, nicht er
kenne».
Wir beobachten nur seit einigen Wochen eine ungewöhnliche Be-
wegung in unserer Politik.
Zu Anfang des Monats erschienen die drei Bot
schafter in Paris, London und Wien zur Conferenz mit ihrem Chef; vorher war Herr von Radowitz
von
seiner Petersburger Mission zurückgekehrt,
unser
Militärbevollmächtigter am russischen Hof, General von Werder weilte vor Kurzem hier.
Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung
seines Kanzlers beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in Vertretung feines Kaiserlichen Vaters nach
als einfacher Tourist im strenge» Incognito. diese Vorgänge aus politischen Motiven.
Italien,
Das Publicum
sondern
erklärt
sich
ES versteht nicht, wie die Reise
deS Kaisers vor Ostern trotz der Aerzte beschloffen und nach Ostern
bei
steigendem Wohlbefinden Sr. Majestät auf ihr Andriygen aufgegeben werden konnte.
Sollte eS hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem
Charakter der kronprinzlichen Reise.
Warum ist auf die officielle Begegnung
deS Deutschen Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalieni schen Stadt auf einmal Verzicht geleistet? ES müssen doch Zwischenfälle vorgekömmen sein, die eS für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den biS vor
kurzem beabsichtigten Plan fallen zu lasten.
Als im Sommer 1873 »ach dem
Sturze von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Be
freiung des „Gefangenen im Batican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach dem deutsche» Bundesgenoffen den Kömg Victor Emanuel bis »ach Berlin.
Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt bereits
etwas moderirt z« haben. Eine so schwache Regiemng, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn
sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt.
Die
französische» Rtstunge» gelten zur Zeit nur «ns, und nach alter savoyischer Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend auSgebeutet ist, Taxiren wir die Stimmungen — nicht des Volks, aber der regierenden Kreise
Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Rüstungen sich entwickeln, ihre Stimmungen gegen u»S lauer werden; die Rückkehr der Wärme
haben wir dann nach den ersten siegreichen Schlachten zu erwarten.
Jene
Rüstungen aber sind in ein Stadium getreten, welches die allgemeinste Anfmerksamkeit erregt.
Eö ist ei« Unterschied zwischen militärischen Reformen
und zwischen KriegSvorbereituugen.
Jede Berbefferung des Heerwesens be
zweckt freilich auch eine größere Schlagfertigkeit für den Krieg, aber wenn
sie ei» Maß mnehält,
welches dauernd von
dem Volke getragen
werden
kann, so ist die eifrigste Sorge für die Vervollkommnung der militärischen Ein
richtungen kein Grund zur Beschwerde für die Nachbarstaaten.
Alle Mächte
Europa'« habe» nach den Erfahrungen der beiden letzten Feldzüge ihre Armee», und deren Bewaffnung reformirt.
Die allgemeine Dienstpflicht ist nicht nnr in
Frankreich, sondern auch in Rußland und Oestreich eingeführt; für die Infan terie sind weittragende Gewehre beschafft, die Geschütze und die Kampfweise der
Artillerie sind oder werden nach deutschem Muster allenthalben umgestaltet. Die Unglücksfälle von 1870 deckten den Franzosen schwere Mißstände auf, deren Be-
Politische Corresponbenz.
450
seitiguttg das selbstvetstäMiche Recht jeder unabhängigen Nation ist. Sie reorganisirten mit erstaunlicher Raschheit die zerrüttete, aus der Gefangenschaft
heimkehrende Armee.
Sie knüpften ihre Reformen an den Punkt an, wo Mar
schall Niel 1868 hatte stehen bleiben müssen.
Die Feldarmee, über welche
Napoleon III. beim Ausbruch deS Krieges gebot, zählte in erster und zweiter Linie nur 336,000 Mann.
Dieses Stärkeverhältniß entsprach weder der poli
tischen Stellung deS Landes noch der Wehrkraft der Nachbarstaaten. Auch eine Regierung, die keinen Angriffskrieg im Auge hatte, durfte daran denken, es zu
ändern, die jährliche Recrutirung und die Zahl der Reserve» zu erhöhen. Das Gesetz vom 27. Juli 1872 verfolgte dieses Ziel; es hob die Stellvertretung des Recruten durch den schon gedienten Soldaten, die Befreiung der besitzenden Klaffen auf, es führte die allgemeine Wehrpflicht ein. Das Gesetz vom 24. Juli
1873 schuf im Interesse der rascheren Mobilmachung eine der deutschen ähnliche
Organisation; eS stellte die höheren Verbände der Brigaden, Divisionen und ArmeecorpS bereits für den Friedensstand her, gliederte das französische Terri
torium in CorpSbezirke, und theilte die beurlaubten Reservisten dem Regiment zu, welche- sich ihrem Wohnort jedesmal am nächsten befindet.
Indeß schon in
jenem ersten Gesetz, noch mehr aber in seiner praktischen Durchführung lag ein Moment, welches von Jahr zu Jahr mehr unsere ernste Beachtung forderte.
DaS Gesetz behielt neben der neueingeführte» allgemeinen Wehrpflicht den Sjährigen Dienst (5 Jahr activ, 4 in der Reserve) in der Feldarmee bei, und legte mit rückwirkender Kraft einem jeden Franzosen noch eine 11jährige Verpflichtung
für die Territorialarmee (Landwehr) auf.
Durch die letztere Schöpfung wollte
man den Bedarf an Mannschasten für die Festungen, Städte und die innere Landesbewachung gewinnen, um die 9 Jahrgänge der Feldarmee ungeschwächt
gegen den Feind werfen zu können.
Zu diesem Zweck legte sich ein Volk, daS
bisher nur eine Berufsarmee befaß, den spartanischen Zwang einer 20jährigen Wehrpflicht auf.
Da jedoch die Territorialarmee bis zum vorigen Jahre nur
auf dem Papier stand, da sie bis heute schwerlich eine solidere Existenz ge
wonnen haben wird, so liegt auch hierin bis jetzt kein Grund der Bimmuhigung. Anders steht eS mit den 9 Jahrgängen, die zur Feldarmee gehören, und die von Jahr z« Jahr eine gewaltigere Maffe darstellen. Deutschland recrutirt bei
einer Bevölkerung von 41 Millionen jährlich 130,000 Mann, Frankreich hat seine Aushebung bei 36 Millionen Einwohnern seit 1872 auf 150,000 Man» erhöht.
Um diese anschwellende Armee zu ernähren, zu bekleiden und zu be-
wasfiien, hat es im Jahre 1874 im ordentlichen und außerordentlichen Budget 164 Millionen Thaler verausgabt, während unser Militäretat auch nach der jüngsten Vermehrung des Präsenzstandes immerhin nur auf 112 Millionen Thaler gestiegen ist.
Auch jene, auf die Dauer unmögliche Ausgabe, hat nicht hinge
reicht, um die gesummte Recruteuzahl für längere Jahre unter die Fahnen zu
stellen.
Denn eine maffenhaste Aushebung und die lange Dienstzeit einer Be-
rufSarnlee sind finanziell und volkSwirthschaftlich mit einander nicht verträg lich.
Man hat also die Recruten in zwei Porsionen getheilt, und stellt etwa
90,000 Mann auf 5, thatsächlich wohl nur auf 4 Jahre ein, während man den Rest, die deuxidme portion, nach jedesmal 6 monatlicher Waffenübnng beurlaubt. Trotz dieser Beschränkung hält Frankreich durchschnittlich 471,000 Mann unter de» Waffen, während unsere Friedenspräsenz bis vor kurzem kaum 370,000, und erst jetzt 401,000 Mann beträgt. Indeß auch auf diesen Unterschied deS Frie densstandes legen wir wenig Gewicht, da er nichts für die Stärke im Krieg beweist; selbst die 9 Jahrgänge zu 150,000 Mann neben unseren 7 Jahrgänge» zu 130,000 sind nicht erschreckend, solange Deutschland seine Landwehr in die Wagschale wirft, während die Territorialarmee nicht organistrt ist. Man hat, um für die letztere gediente Soldaten zu gewinnen, die Jahrgänge von 1866 an abwärts ihr zugewiesen, während alle seit 1867 dienstpflichtig gewordenen Fran zosen der Feldarmee angehbren. A«S jener Zuweisung folgt, daß bis zum Sommer 1877, wo für die Klaffe von 1867 die neun Dienstjahre um sind, die Feldarmee keine Reserven verliert, also jährlich nm den gejammten Betrag der neu eintretende» Recruten wächst. AuS diesem Umstande schließt man, daß die Franzose» jene» Zeitpunkt der höchsten Stärke ihrer Armee abwarten werden, ehe sie loSschlagen. Allein an Mannschaften hat Frankreich schon heute keinen Mangel, da ihm außer den gewöhnlichen Recrutirungen die enormen Aushebungen der beiden KriegSjahre zu Gebote stehe». Enffcheidender ist, wie weit e- mit der Bildung der CadreS gediehen ist, in denen jene Maffen formirt und für den Krieg ver wendbar gemacht werden sollen. Und gerade hier sind die Fortschritte, quanti tativ wenigstens, erstaunlich. Die Zahl der Feldbatterien war bis zum vorigen Frühjahr von 164 auf 323 gestiegen, also verdoppelt, und sie sollte bis auf 380 gebracht werden. Die Cavallerie war um 56 Escadrons gewachsen. Die Feld bataillone, zur napoleonische« Zeit 372, waren bis auf 496 vermehrt. So schritt man auf dem Wege der Thatsachen vorwärts, ehe das schon lange in Aussicht genommene Cadregesetz zur Berathung kam. Die Formationen waren fertig, als man daran ging sie zu legalisiren. Und nun geschah während der Berathung jenes Gesetzes ein neuer Schritt, der an Tragweite alle bisherigen übertrifft. Man vermehrte die CadreS der Infanterie mit einem Schlage um abermals 149 Bataillone. Der Beschluß wurde dem Ausland einige Zeit verdeckt durch den Lärm des BerfaffungSkampfS; er wurde offieiell motivirt durch das Be dürfniß, die 1200 Capitains unterzubringen, welche durch die Zusammenziehung der bisherigen 6 Compagnien deS Bataillons in 4 überzählig würden. In Wahrheit muß die Maßregel parlamentarisch wie militärisch längst vorbereitet gewesen sei«. Am 13. März erschien das Gesetz 'und schon am 5. April war, wie der Moniteur triumphirend verkündete, die Maßregel „eine vollendete That sache". In drei Wochen organistrt man aber nicht 149 Bataillone; zu der Durch führung deS neuen Gesetzes waren also längst die Anordnungen gettoffett. ES handelte sich darum „den Jnfanteriemaffen anderer Großmächte die Spitze bieten zu können"; zu diesem Zweck wurden 175 Feldbataillone mehr geschaffen, als die deuffche Armee zählt.
Politische Corresponbenz.
452
Dieser neue Beschluß geht weit über die dauernde Leistungsfähigkeit Frank reichs hinaus, er erschwert noch die Last deS Budgets, wofür die ordentlichen Einnahmen schon längst nicht ausreichten; er würde unsinnig sein, wenn er den Krieg nicht in den nächsten Jahren zum Ziel hätte. So entsteht nun die Frage:
Sollen wir den Feind sich rüsten lassen, bis der für ihn günstigste Augenblick zum LoSschlagen gekommen ist?
Fürst Bismarck hat darauf schon im Januar
1873 offen geantwortet. Alle ehrlichen Leute in der Welt müssen unS bezeugen,
daß wir den Krieg mit Frankreich so wenig suchen, als 1870.
Wir würden
m Verlegenheit sein, welchen Preis wir nach einem zweiten glückliche» Feldzug ihm abverlangen sollten. Aber die Hände in den Schooß legen, bis der Gegner
marschirt, können wir unmöglich.
Will Frankreich in zwei Jahren schlagen, so
werden wir im Interesse der Selbsterhaltung vielleicht gezwungen sein, eS früher zum Schlagen zu bringen. Hat Frankreich Aussicht mit dem Anwachsen seiner Armee
größeres Vertrauen auf eine Wendung seines KriegSglückS zu finden und alte Sym pathien wieder zu beleben, so müffen wir diesen still sich vorbereitenden Allianzen
zuvorkommen. Das klingt ziemlich kriegerisch und ist doch nur der einfachste Aus
druck deS gesunden Menschenverstandes. Aber da die Verantwortung für einen — wen« auch uns aufgedrungenen, von unS nur beschleunigte» Krieg ungeheuer ist,
so wird auch ein solcher Entschluß nur aus der sorgfältigsten, militärischen wie diplomatischen Prüfung der Lage hcrvorgehen können. Friedrich der Große sah den dritten schlesischen Krieg lange voraus, aber er brach in Sachsen erst ein, als
daS Netz der europäischen Verschwörung nicht mehr anders zu zerreißen war.
Wann für uns der Augenblick gekommen fein wird, wo wir Frankreich die Wahl zwischen Abrüstung oder Krieg stellen, kann nur der Reichskanzler mit Hülfe Moltke'S entscheiden.
Die Anleihe von 800 Millionen Francs soll man in
Paris wieder aufgegebe» habe».
Zur Zeit scheint eS also nicht, als ob «ns
eine nahe Gefahr drohe. —
In der gewaltigen Entwicklung deS letzten Jahrzehnts hat Preußen an dem Czaren Alexander den treuesten Freund gefunden.
Er war der Rückhalt, durch
den gedeckt, wir gegen den Gegner in der Front unsere volle Kraft entfalten
konnten.
DaS deutsche Volk hat es wohl im Gedächtniß, wie bedeutsam dieses
Verhalten für seine Geschicke war; es empfindet für bett Kaiser Alexander auf richtige Dankbarkeit und Verehrung.
AuS der persönlichen Freundschaft der
beiden Monarchen und den Handlungen, die daraus hervorginge«, ist ein allge meines Gefühl der Sympathie erwachsen; die Parteien in Deutschland, auch die
liberalen, haben in der Beurtheilung russischer Verhältnisse ihre frühere Schroff heit und Befangenheit abgelegt.
Ein Schritt z. B., wie die Convention von
1863, welche Bismarck beim Ausbruch des polnischen Aufstandes abschloß, würde heute ebenso emmüthige Billigung, wie damals Mißbilligung finden.
Ob die
gleiche Zunahme sympathischer Stimmungen auch bei dem Adel, dem Beamten thum und der Armee Rußlands stattgefunden hat, mag dahin gestellt bleiben, viel
leicht haben die letzten Jahre wenig Gelegenheit gegeben, die Wahrheit zu ver
anschaulichen, daß die Freundschaft Deutschlands den russischen Interessen ebenso
förderlich ist, als die Freundschaft Rußlands den deutschen.
Bei de» unver
änderten Gefinnungen der beiden Monarchen wird auch daS russische Volk Zeit haben, diese Intereffengemeinschaft zu seinem Nutzen zu erproben.
Ein Conflict
zwischen beiden Nationen liegt glücklicher Weise in weiter Ferne.
Als in dem großen Bölkerkampf von 1870 die Würfel für Preußen gefallen waren, empfand auch Oestreich, daß die Weltgeschichte zwischen ihm und seinem alte«
Rivalen entschieden habe.
ES war noch daS Loos deS Grafen Beust, jene Depesche
zu schreiben, worin Oestreich daS Schwergewicht der Thatsachen anerkannte und die
Freundschaft deS neugestaltete» Deutschen Reichs suchte.
Diese Freundschaft ist
ihm ehrlich zu Theil geworden. Oestreich datirt von da ab die innere Beruhigung
seiner Völker, die gleichmäßige Fortbildung seiner BerfaffungSverhältniffe und eine gesicherte und machtvolle Stellung nach Außen.
Den» Deutschland »ahm
eS nun auf sich, die aus dem Krimkrieg herstammende Spannung zwischen Wien
und Petersburg zu lösen, eS vermittelte einen modus vivendi im Orient, der de» Kaiserstaat vor einem einseitigen russischen Vorgehen sicherte und der Agi
tation der slavische» Stämme den Rückhalt entzog. Erst jetzt begann eine Consolidirung der vielgeprüften, in einigen Jahrzehnten durch ein Dutzend von Ber-
faffungsexperimenten hindurchgehetzten Monarchie auf der Grundlage der Vor
herrschaft der Magyaren und Deutschen.
Wäre eS möglich, daß diese gesicherte
Bahn wieder veklaffen würde, um auf abenteuerlichen Wegen über Abgründe
hinweg nach den» Luftgebllde der alten Hegemonie in Deutschland zu jage»?
Sollte die Kunst der Beichtväter und der militärischen Heißsporne ein so verhäng nißvolles Wagestück plausibel mache» können?
Sollte die Broschüre des Erz
herzogs Mpomuck Salvator, die gleichzeitig die gänzliche Unbrauchbarkeit der östreichischen Festungsartillerie und das dringende Bedürfniß nach einem Krieg
gegen Deutschland bewies, bei ernsthaften Männern einen Hintergrund haben? Hätte das Bestreben der deutsche» Politik nach einer Verständigung mit alle», ihrer Würde bewußten Staaten zu gemeinsamer Abwehr päbstlicher Uebergriffe
eine Abneigung gerade da geweckt, wo man den Schimpf einer Mchtigkeitser-
klärung deS StaatSgrundgesetzeS hatte erfahren müffen?
Die confefsionelle»
Gesetze werde« im Mai ei» Jahr alt; seit der Dreikaiserzusammenkunft sind im kommenden September erst drei Jahre verfloffen; wohin würde ein Staat ge rathen, der in so jähem Wechsel von einer den preußischen Maigesetze» ver
wandten Kirchenpolitik zum Pabst, von der Allianz der beiden stärksten Mächte
zu Frankreich hinüberschwankte?
Und was würden die Ungarn zu der Ab
schwenkung sage«, die von den ihnen feindlichen Anhängern deS militärischen
Absolutismus oder deS Föderalismus vollzogen werden müßte? — Für Oestreich
ist der Friede gleichbedeutend mit der fortschreitenden inneren Befestigung und Wohlfahrt; der Krieg — mit dem Zerfall in zwei oder drei Theile. Das Inter esse, welches der Kaiserstaat an der Auftechterhaltung deS Friedens und an einer
stetigen Fortführung des jetzigen Regierungssystems hat, liegt so klar vor Augen, daß der neulich von Wie» her ertönende Warnruf über die bedrohte Stellung
Andraffy'S von Vielen nicht recht gewürdigt wurde.
Und doch — woher kämen
Politische Correspondenz.
454
die weltgeschichtlichen Katastrophen, wenn die Illusionen und Leidenschaften nicht zuweilen Herr über die Vernunft würden? Kaiser Franz Joseph bewies viel Selbstüberwindung, als er zur Begrüßung Vietor Emanuels die Stadt Venedig wählte; stärker konnte er kaum auSdrücken, daß die Erinnerung an den herrlichen Besitz seines HauseS für ihn
versunken und vergessen sei.
Wiener Mittheilungen lassen den Kaiser sogar
eine Ansprache in diesem Sinn an den König von Italien halten. Zeit zu politischen Geschäften in dem Rausch der Festlichkeiten
wissen nur die Eingeweihten.
Wie viel
übrig blieb,
Officielle Berichte auS Wien heben hervor, daß
die begleitenden Minister und Räthe sich über einen Handelsvertrag und eine Eisenbahnlinie, also sehr nützliche und unschuldige Dinge, verständigt hätten. Sonst sei die Absicht der Begegnung gewesen, Italien enger an das Dreikaiserbündniß heranzuziehen. Im Gegensatz hierzu erzählen italienische Blätter von zwei Briefen, welche der Cardinal-Patriarch von Venedig den beiden Monarchen
im Auftrag des PabsteS überreicht habe.
Sicher ist die römische Frage in der
Conversation der Souveräne nicht unberührt geblieben, und eS ist durchaus glaubwürdig, daß sie gegenüber der energischen deutschen Politik sich in dem
Gedanken zusammengefunden haben, eS müße jeder Staat in jener Frage seine
besonderen Wege gehen.
In Oesterreich scheint mit den confessionellen Gesetzen
die Kraftanstrengung gegen die Curie erschöpft zu sein.
In Italien aber ist
man zwar bereit unseren Streit mit dem Pabstthum zu benutzen, aber sehr wenig geneigt daran Theil zu nehmen.
Je heftiger der Kampf zwischen Rom und Deutschland tobt, desto leichter
glauben die italienischen Minister eine „Versöhnung" mit dem Pabst erreichen zu können. Diese Seite unserer Anstrengungen gefällt ihnen sehr wohl.
Selbst
die diplomatische Besprechung deS GarantiegesetzeS, so lange sie nur nicht zu po sitiven Forderungen fortschreitet, hat für Italien den großen Vortheil, daß die
Bewohner deS Vatican in Angst gerathen und eine plötzliche Begeisterung für die Einheit, Größe und Unabhängigkeit Italiens empfinden.
Der Umschwung in
der Sprache der päbstlichen Blätter bei dem ersten Austauchen jener Frage war überraschend. All die feierlichen Proteste der Curie gegen daS Werk „der Lüge,
der Verschlagenheit und deS Hohns", welches unter dem Borwand, die Kirche zu
schützen, ihr einen „eilfhundertjährigen" Besitz rauben und den Pabst der Herr schaft eines anderen Fürsten unterwerfen wolle, waren mit einem Male ver
gessen.
Die Frage des Kirchenstaats trat völlig in den Hintergrund.
Die
Jesuiten machten die merkwürdige Entdeckung, daß das Pabstthum zu allen Zeiten das mächtigste Bollwerk für die Unabhängigkeit Italiens gewesen sei. Um diesen kostbaren Schatz vor dem Eingreifen deS preußischen Despoten zu
schützen, öffnete die Curie dem bedrängten Italien ihre Arme.
Nur unter der
Führung deS PabstthumS, so hieß eS, als Glied jener furchtbaren sich erneuern den „Liga" der katholischen Mächte wird Italien den neuen Einbruch deS KaiserIhumS von sich abwehren können.
Die italienischen Minister sind zu nüchtern, um diesen jesuitischen Traum-
bildern zu folgen, aber sie sind auch zu schwach und durch die Phrase don der freie» Kirche im freien Staat, sowie durch die alten Sympathien der Consorterie für
Frankreich zu sehr beherrscht, um an der Seite deS deutschen Reichs entschiedene Stellung zu nehmen. Für unsern Kampf mit dem Pabstthum hat die Mehrzahl
der gebildeten Italiener kein Verständniß.
Gänzlich «nkirchlich wie sie sind, be
greifen sie nicht, in wie hohem Maße bei einem religiös ernsten Volk die kirchliche Seite jener Institution zur Verwirrung der Gewiffen benutzt werden kann. Die Wirkungen der heillosen PreiSgebung aller Staatshoheitsrechte über den CleruS,
deren das Garantiegesetz sich schuldig macht, empfinde« sie noch nicht, die Bulle« und Bannflüche lassen sie gleichgültig, und sie meinen,' daß auch wir pedantische
Deutsche» dieselben nicht so tragisch nehmen sollten.
Hinter dieser Indiffermz
steckt aber daS Interesse an der Conservirung einer Institution, welche der
Stadt Rom ihren Glanz verleiht, Millionen Geldes als PeterSpfennig «. f. w. jährlich dahin strömen läßt und de« Italienern den Vorzug giebt, als hohe
Würdenträger der Kirche die katholische Welt zu regieren. Im Interesse seiner nationalen Einheit hat Italien sich den Kirchenstaat einverleibt.
ES hat dadmch
bewirkt, daß die andern Mächte keinen direkten Angriffspunkt gegen bett Pabst mehr finden, wenn derselbe seinen kirchlichen Einfluß zu politische» Uebergriffen
mißbraucht.
Gleichzeitig aber hat eS den Pabst, der jetzt innerhalb des König
reichs lebt, mit der Ssuveränetät und der vollen Freiheit in der Ausübung seiner Funktionen bekleidet, und keinen Vorbehalt für den Fall gemacht, daß er
zu diesen Funktionen auch die Aufwiegelung fremder Unterthanen gegen die Ge setze ihres Staats und vie Anstiftung des Bürgerkriegs rechnet. DaS Garantie gesetz ist ein innerer Widerspruch, der entweder daS Pabs^hum zur Aus
wanderung aus Rom zwinge» oder Italien mit seine» völkerrechtlichen Ver
pflichtungen in Conflict bringen muß.
Die Regierungspartei in Italien setzt sich über den Widerspruch hinweg. Sie will den Nutzen «icht preisgeben, welchen die Domicilirung deS PabstthumS
in Rom für sie hat.
Sie lchnt also jede Pression auf de« Vatican ab.
Wir
Deutsche sollen in Geduld den Schade» tragen, der a»S der zügellosen Freiheit deS landlosen PabWnigS für «nS hervorgeht.
In seiner Schrift über die „vatikanischen Decrete"
wirft Gladstone die
Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Emir bei ihrem sichtbaren Stre be», Europa in eine» Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der Ansicht,
daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute davon zu tragen hoffe.
Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katholischen Liga
vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der Aussöhnung
zwischen Italien und dem Pabst die Rückgabe deS Kirchenstaates zu fordern.
Im Gegenthell; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu Belegen für eine
weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja 1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz daS Patrimonium Petri bis auf den leo-
niuifchen Theil der Hauptstadt angetragen haben.
Vielleicht weist man nach,
daß dieses Angebot der Curie nicht ftemd war, oder beruft sich darauf, daß
Politische Eorrespondenz.
456
schon im April 1871 der Pabst vor dem Botschafter Frankreichs
erklärte:
„AlleS was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo ich Herr sein kann' Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zurückzugeben, so würde
ich es nicht annehmen."
Freilich gehörte zu dem kleinen Stück Land auch Rom;
aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen Versprechungen begnügen wollen,
warum sollte'man ihnen nicht auch den Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? — Der Pabst hat die Gewalt, zu binden und zu lösen.
Ist Deutschland nur erst
niedergeworfen, so kommt man über Eide und Versprechungen schon hinweg.
Angesichts des allgemeinen Verlangens der katholischen Welt würde die Curie dann nicht umhin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden. An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Italiens.
Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavours geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Pabst.
Sie würden keinen Augen
blick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten französischen Krieg sich weder
bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom Frühjahr 1870 noch einmal auf nehmen dürfe.
Man weiß übrigens in Deutschland, daß daS italienische Volk
patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung. Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen Frankreich den Unabhängigkeilsinn verloren.
Setzten wir auf dieses gesunde Volksgefühl, daS im entscheidenden
Momente zum Durchbruch kommen wird, nicht unsere Hoffnung, so würde die
Haltung, welche die italienische Regierung in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn nur solange Italien seine Interesien als
solidarisch mit den unsrigen anerkennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies einmal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage:
welches Interesse haben wir daran, daß Rom nnd Vivita Veechia von italie
nischen statt von päbstlichen Behörden regiert werden? Die letztere Regierungs weise ist freilich schlechter als die erstere, aber wir haben nicht die Aufgabe, unter eigenen Opfern für die Wohlfahrt fremder Völker zu sorgen.
Können
wir durch Verzicht auf solche Sorge bei uns den Friede» und die Unterwerfung
unter das Gesetz herbeiführen, warum sollte uns die Heimath nicht näher an Sollte das deutsche Volk durch die Verkehrtheiten der
gehn als die'Fremde?
italienischen Politik jemals zu solchen Reflexionen gebracht werden — der Zeit
punkt, sie in Thatsachen umzusetzen, würde bald genug gekommen sein.
Italien verdankt den deutschen Waffen Venedig und Rom; Belgien ver dankt ihnen, daß es überhaupt noch existirt.
Am 24. Juli 1870 veröffentlichte
die Times jenen berüchtigten Allianzentwurf, welcher Preußen den deutschen Süden überließ, wenn dasselbe die Erwerbung Luxenburgs und die Eroberung Belgiens zulassen wollte.
Die diplomatischen Enthüllungen, welche der franzö
sische Krieg hervorrief, offenbarten der erstaunten Welt, wie ruhelos die französische
Politik an der Vernichtung des Grenzstaates gearbeitet hatte und wie wenig seine Neutralität ihn geschützt haben würde, wenn der hohe Sinn des preußischen
Staatsmannes eine Regelung der deutschen Angelegenheiten im Bunde mit Frankreich und «m solchen Preis zngelaffen hätte. Führte das Glück der Waf
fen die französische Armee nach Berlin, statt die deutsche nach Paris, so sie Belgien trotz der papierne» Proteste Englands, dem Sieger zum Opfer. rechnm in
der Politik nicht auf Dankbarkeit,
Wir
aber wir fordern von der
Regierung eines Landes, welches so ohne sein Verdienst dem Untergang ent ronnen ist, daß sie wenigstens einige kluge Rücksicht denen gegenüber nehme,
die als willige Werkzeuge der Vorsehung es gerettet habe«.
Man kann doch
nicht wissen, ob diese Willigkeit nicht auch später noch von Nutzen sein wird.
Denn der Gedanke, für den Verlust von Elsaß-Lothringen eine Ent schädigung in Belgien zu suchen, liegt den französischen Politikern a«S begreiflichen Gründen sehr nahe. Es würde unS nicht wundern, wenn man von
Paris auS versuchte, vor dem Ausbruch eines zweiten Kriegs oder im Verlauf desselben in dieser Richtung unS Ausgleichungsvorschläge zu machen.
Oder
sollte« die belgischen Kleriealen trotz der Unglücksfälle, welche Frankreich heim gesucht haben, die Bereinigung mit der großen Nation der bisherigen Selbst ändigkeit vorziehen? — Belgien ist daS Land der konstitutionellen Schablone;
als solches hatte es einst einen Ruf bei den liberalen Parteien, bis die Welt dahinter kam, daß die formalen Grundrechte von den Jesuiten zur Vernichtung
wahrer Bildung und Vslksfreiheit benutzt worden feien. Auch in dieser Ent wicklung zum jesuitischen Musterstaat wolle» wir Belgien nicht stören; aber da die Kleriealen, deren ParteidiSciplin so streng ist, die Regierung deS Landes
in der Hand haben, so dürfen wir von dieser Regierung erwarten, daß sie ihre Priester von jeder aufhetzsnden Einmischung in unsere innern Kämpfe fernhält.
Sie kann eS sobald sie mur will.
Ultramontane Manifestationen sind nicht der
Ausdruck individueller Freiheit, sondern sie erfolgen auf Anstiften oder unter Zulassung der geistlichen Oberen, mit denen das Ministerium im besten Einver
nehmen steht.
Die Berufung auf die „illustren Institutionen" Belgiens kann
diesen einfache» Sachverhalt nicht verhülle».
Der Zusammenhang zwischen dem vaticanischen Concil und den Einflüssen,
welche Napoleon III. in den Krieg trieben, ist geschichtlich ziemlich festgestellt. Ob
anch die Bulle quod nunquam und die gesteigerte Feindseligkeit der Ultramontanen aller Länder mit der Decretirung der 149 neuen französischen Feldbataillone im Zusammenhang steht, wird die Zukunft lehren.
Immer mehr enthüllt sich
der politische Hintergrund unseres kirchlichen Kampfes und je näher wir der weltgeschichtlichen Entscheidung rücken, desto mehr wird die Führung jenes Kampfs
von dem Leiter unserer Politik direkt in die Hand genommen. Von ihm stammt der Gedanke, bis an den Ausgangspunkt unserer verkehrten kirchenpolitischen Entwicklung zurückzugehen und jene Berfaffungsartikel aufzuheben, welche einst
von den Clericalen eingeschmuggelt wurden und seitdem die staatsrechtliche Grund
lage ihrer ««gemessenen Ansprüche wareni
Gestützt auf den vieldentigen Satz
von der Selbstständigkeit der Kirche schleuderten sie den Vorwurf der Verfassungs-
Widrigkeit gegen jedes Specialgesetz, welches die hierarchische Willkühr beschränkte.
Politische Lorrespondenz.
458
Die Verfaffuiigsurkunde diente als Borwand, um selbst vom bürgerliche« Stand punkt aus die Verweigerung des Gehorsams gegen die Gesetze zu legitiiUi-ren.
Dieser Borwand wird jetzt beseitigt, an die Stelle einer sophistisch ausgebeateten Theorie treten die klaren und deutlichen Vorschriften der positiven GesetzgebuUg. Freilich das Rechtverhältniß, wie es vor 1850 zwischen Staat und Kirch« be stand, lebt dadurch nicht von selber wieder auf; ob der Verkehr zwischen dem
Pabst und den Bischöfen und die Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen
künftig beschränkt, ob das Ernennung-- und BestätigungSrecht des Staats bei Be setzung kirchlicher Stellen wieder in Anspruch genommen werden soll, unterliegt
der nunmehr ungehemmten Entscheidung der gesetzgebenden Faktoren.
Än der
Aenderung der Verfassung liegt also der Antrieb zu einer gesteigerten legislativen
Thätigkeit. DaS ist die Antwort auf den trotzigen Protest der Fuldaer Bischöfe.
Sie ist noch eindrucksvoller als die schneidige schriftliche Erwiderung deS StaatSministeriumS. Die Bildung von selbstständigen Gemeindeorganen zur Verwaltung des lokale» Kirchenvermögens, oder wen» die Bischöfe die Wahlen verhindern,
die commiffarische Verwaltung deS Vermögens durch den Staat; die Sistirung
der Zuschüsse an die gesetzwidrigen Geistlichen auch aus der Gemeindecaffe, die
Auflösung der Klöster und Congregationen — daS sind Maßregeln, die de»
CleruS zur Besinnung bringen, die ihm wenigstens den Ernst des gegen den Staat unternommenen Kriegs fühlbar mache» werden.
Wichtiger noch, als
diese Gesetze, ist die Beseitigung der ultramontanen Verwaltungsbeamte».
Ein
Dwtttheil der Landräthe am Rhein gilt für clerical; einer von ihnen ist so
znm Oberbürgermeister
eben
gewählt,
die Regierung
versagt
ihm
wegen
«ltramontauer Gesinnung die Bestätigung, aber Landrath durfte er bisher Zu dem bedeutenden Amt eines LandeSdirectorS wird von der 'clericalen
sein.
Partei ein Mann ihrer Farbe anSgesucht, und der Oberpräsident der Provinz gewährt ihm, wie eS heißt, seine Protection!
So lange die StaatSregierung
hier nicht Wandel schafft, werden alle Gesetze nur halben Eindruck machen. Man denke an die klassische Aeußerung jenes «ltramontanen LandratHS:
„Wie kann
ich vor einem Ministerium Respect haben, das einen Mann wie mich im Amte
läßt!" Seien wir gerecht auch gegen unsere Widersacher!
An dem Streit, der
heute die Gemüther trennt und verwirrt, tragen wir Alle Schuld, nicht blos die Jesuiten, die Bischöfe und der CleruS.
ES war der Staat Preußen selbst,
feine Regierung, sein Beamtenthum, seine Parteien, die jenen hierarchischen Hoch muth großzogen, den wir jetzt um unserer Existenz willen brechen müssen.
haben die Sünden einer ganzen Generation zn büßen.
Wir
Aber well daS Uebel
so tief gewurzelt ist, müssen auch die Heilmittel radicaler sein, als sie irgend
ein anderes Land, die Schweiz ausgenommen, bisher versucht hat.
DaS Pro
blem, welches wir zu lösen haben, besteht nicht mehr darin, durch starke An
wendung staatlicher Zwangsmittel einen leidlichen modus vivendi zu schaffen, sondern die katholische Kirchenverfaffung so weil umzugestalten, daß sie mit der
nationalen Einheit deS Reichs und mit den Formen bürgerlicher Selbstverwal-
Politische Torresponbenj.
459
lang verträglich wird. So lange wir einen absolutistisch-büreankratischen Staat hatten, ließ sich mit der Hierarchie leichter fertig werden; wenn sie nach unten unbedingten Gehorsam forderte, so gehorchte sie dafür nach oben. Mit einem parlamentarischen Staatswesen dagegen steht ein Priesterthum im grellsten Wider spruch, das nach unten die Maffen wie eine Heerde leitet, nach oben sich zu gleich vom Staatswillen emancipirt, und nun all die Freiheitsrechte, deren Uebung nationalen und bürgerlich-gesetzlichen Sinn voranSsetzt, agitatorisch ohne solche BorauSsetznng anSbeutet. Wer jenem Widerspruch scharf nachgeht, wird finden, daß wir jiim Schutz unserer bürgerlichen Freiheit noch tiefe Einschnitte in die sogenannte hierarchische Ordnung machen müssen. W.
Notizen. Die „Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Jahren 1814 bis 1831", welche Theodor v. Bernhardi für die in Hirzel's Verlag erscheinende Staatengeschichte der neuesten Zeit schreibt, ist für
heißhungrige Kritiker ein wahres Leckermahl.
Mit welchem Behagen sind sie
schon über den ersten Band mit seiner ausführlichen Darstellung deS Wiener
Kongreßes, der Schlacht von Belle Alliance und des zweiten Pariser Friedens
hergefallen, und nun bringt die kürzlich erschienene Fortsetzung einen „Rückblick"
von 190 Seiten auf den Entwickelungsgang der europäischen Kultur in Mittel alter und Neuzeit und eine Uebersicht der älteren Geschichte Rußlands, welche
mit ihrem Schlußkapitel die Regierung Peters deS Großen eben erst erreicht. Gestehen wir ehrlich, etwas locker ist der Zusammenhang dieser (theilweise übri gen- schon einmal veröffentlichten) Einleitungen mit dem Thema einer Geschichte
Rußland- im 19. Jahrhundert,, mag dasselbe auch durch den Zusatz „und der
europäischen Politik" eine vieldeutige Erweiterung erfahren haben; ja selbst dann wenn man die Berechtigung eines solchen Präludiums im Allgemeinen zugiebt, so erscheint doch einiges, wie die englische Verfassung und der Jansenismus,
mit übergroßer Ausführlichkeit behandelt.
Indeß sind wir gewohnt, uns aller
Kinder der Muse zu freuen, mögen sie heißen wie sie wollen, wenn sie nur schön und gut sind, und darüber kann hier kein Zweifel obwalten.
Den Verfasser von Toll's Denkwürdigkeiten, den Autor jener Broschüre,
welche zur Zeit des beginnenden Militärkonfliktes die konfusen Pläne eines
Willisen erbarmungslos geißelte, den Mann, welchen der Chef unsres General stabes im Jahre deS böhmischen Krieges würdigte der Ueberbringer des preußi schen FeldzugsplaneS in Florenz zu sein, kennen Historiker und Militärs als
einen klaren, kritischen Kopf mit einem nicht gewöhnlichen Talente der Gruppirung und Darstellung.
Jetzt rechtfertigt er nicht nur abermals diesen alten
Ruf, sondern fügt den neuen einer gründlichen und vielseitigen Gelehrsamkeit hinzu.
Er zeigt sich in den Streitfragen der Theologie ebenso bewandert wie
in den Problemen der Politik, in der Kriegskunst so wie in der allgemeinen
Litteratur, in der ältesten russischen Geschichte so wie in der neuesten englischen
und amerikanischen.
Was er sagt, ist ja keineswegs alles neu, aber selbst wo
er bekanntes berührt, bringt er es unter einen neuen Gesichtspunkt, in einen
andern Zusammenhang als den gewöhnlichen, so daß auch die kundigsten Forscher sich einen Genuß von der Lektüre versprechen dürfen.
Am schönsten entfaltet
sich sein Talenr auf dem Gebiete der Kritik, wenn eS gilt, den Widerspruch von
Wort und That zu constatiren; seine Rede entwickelt an diesen Stellen eine von sittlichem Ernst getragene sieghafte Kraft, welche auch den Widerstrebenden fort
reißt.
So dünken uns die Abschnitte über die Magna Charta, über Lord Cha
thams Berfaffungstheorie, über die Unabhängigkeitserklärung der Bereinigten Staaten von Amerika geradezu meisterhaft: man steht dem nüchternen, durch
aus realistischen, mit einem unvergleichlichen Wahrheit-sinn begabten Berfaffer ordentlich daS Behagen an, mit welchem er bewußter und unbewußter Unwahr
heit die Maske herunterreißt.
Seiner Charakteristik Boltaire's geben wir weit
aus den Vorzug vor der Apologie von D. Strauß.
Seine Beurtheilung der
deutschen Liberalen alten Schlages erinnert mit ihrer unerbittlichen Schärfe an Baumgarten'S einst in diesen Blättern erschienene Selbstkritik des Liberalismus,
wie denn überhaupt der Leser einen guten Theil befielt wiederfinden wird, wofür die Jahrbücher seit ihrem Ursprung gestritten haben.
Gleiches Lob verdient der Abschnitt über daS alte Rußland.
Wir haben
der Historiker, welche die Kunst des AuSwählens, GruppirenS und DarstellenS
verstehen, wahrlich nicht so viele, daß wir gleichgültig bei einer Leistung vorüber gehen sollten, die diese Borzüge in so reichem Maße besitzt; wir dürften e- selbst
dann nicht, wenn sie uns, der russischen Litteratur so selten kundigen Deutschen weniger sachliche Aufschlüsse brächte.
Und jene unparteiische Wahrheitsliebe,
welche dem ersten Theile des Bandes zur Zier gereichte, wird auch in dem zweiten nirgends vermißt; eS war ganz ungerecht, wenn ein Kritiker den Autor
einer tadelnswerthen Voreingenommenheit beschuldigt hat.
Wahr ist, er stellt
die Russen über die Pslen; sollte aber im Jahre 1874, nach 66 und 70, fast hundert Jahre nach dem Untergänge Polens, hierzu der Deutsche nicht endlich
das Recht haben?
Dabei polemisirt fast jedes Kapitel gegen die Anmaßung
jener Slawänvphilen, welche das russische Alterthum verherrlichen, um daS Eindringen der deutschen Kultur als überflüssig und schädlich hinzustellen; na mentlich verwahrt sich Bernhardi gegen daS Bestreben, Anklänge parlamentarischer Institutionen da finden zu wollen, wo doch die absolute Gewalt deS Landes herr«, als Erben deS Mongolen-KhanS, naturwüchsig und selbstverständlich war;
nicht erst unter Peter dem Großen, nicht erst unter Anleitung der Deutschen
haben Rußlands Herrscher die unumschränkte Macht usurpirt.
Wie völlig un-
befamgen aber der Verfasser ist, geht daraus hervor, daß er in einer anderen
vielbestrittenen Frage sich der Ansicht der moskauischen Schule zuneigt; auch er
glauibt, daß die noch heute in dem größten Theile Rußlands bestehende, jedes Sondereigenthum der Bauern ausschließende Feldgemeinschaft altslawischen Ur
sprungs sei. — Ueber manche Einzelheiten wird nian anderer Ansicht sein können als Bernhardi.
Wir halten das Bewußtsein nationaler Einheit bei den alte» Ger
manen für nicht so stark wie er, glauben auch nicht, daß aus dem deutschen
Köuigchum der Urzeit etwas gewaltigeres geworden wäre, wenn es nicht erobernd nach außen aufgetreten wäre.
Die Würdigung des mittelalterlichen StaateS ist
insotfern nicht ganz billig, als der Fortschritt vom Stadtstaate deS Alterthums
Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft«.
31
462
Notiz««.
zum Flächenstaate, ohne welchen die modern« Geschichte doch nicht denkbar ist, zu gering angeschlagen wird.
Etwas spitzfindig kommt unS die Behauptung vor,
daß die niederländischen Provinzen sich nicht im Namen der Freiheit, sondern zum Schutz ihrer ständischen Freiheiten, die ihren Glauben und ihren Handel schützen sollten, erhoben hätten.
als
Hippolithus a Lapide braucht man nicht mehr
ein räthselhafteS Pseudonym anzusehen,
nachdem vor einiger Zeit erst
F. Weber sich wieder für die Autorschaft deS PH. BogiSlauS Chemnitz erklärt
hat; als Verfaffer der JvniuSbriefe konnte Sir PH. FranciS genannt werden; statt Lambert von Aschaffenburg muß eS heißen L. von Hersfeld. Karl IV. „elend" zu neunen ist ebenso hart, wie eS bei dem fünften Kaiser dieses Namens ungerecht ist, die mannigfache Förderung zu verschweigen, welche die Protestanten
aus seiner wechselvollen Politik gezogen haben.
Am meisten überrascht hat unS
die Behauptung, daß die von Ludwig XIV. aus Frankreich vertriebenen Reformirten „daS bis zu der Zeit in der modernen Welt nie ausgesprochene Prinzip
der VolkSsouveränetät" aufgestellt hätte».
Die Abhandlung Ranke's, in welcher
die Jesuiten Lainez, Bellarmin und Mariana dafür verantwortlich gemacht werden, ist zu bekannt, als daß wir annehmen sollten, sie sei dem Autor ent
gangen; jedenfalls mußte er seine abweichende Ansicht einigermaßen begründen.
Wir bemerken aber, daß auch in der sonst so wohl gelungenen Charakteristik MonteSquieu'S die Resultate derselben glänzenden Untersuchung unsres ersten M. L.
Historikers nicht verwerthet sind.
Staat und Kirche, in ihrem Verhältniß geschichtlich entwickelt, von
F. H. Geffcken (Berlin bei W. Hertz), so lautet der Titel eines umfangreichen BucheS, welches den alten Kampf der beiden Mächte, von dem heidnischen Alter
thum und der israelitische» Theokratie an bis auf die preußischen Maigesetze ver
folgt.
In dem Buche ist ein reiches geschichtliches Material zusammengettMN
und die Verarbeitung deffelben ist ein Verdienst, das wir dem Verfaffer nicht schmälern wollen. Leider aber verliert sich die Objektivität in dem Maaße, als sich der Verfasser der Gegenwart nähert;
und sehr nach politischer Tendenz
schmeckt daS Schlußcapitel, welches die preußische Kirchenpolitik der letzten Jahre als einen „verhängnißvollen Mißgriff" darzustellen sucht.
Der Verfaffer wirft die Frage auf, ob eine solche Kritik mitten in dem jetzigen Kampf patriotisch sei und behauptet daS freie Recht der Opposition in
allen Fällen außer in dem deS auswärtige» Kriegs.
Wir sind sehr fern, dieses
Recht zu bestreiten, aber wir fügen die Pflicht hinzu, daß der Kritiker die „falschen Grundlagen", vor denen er warnt, genau nachweise, und daß er die rich tigen Wege einigermaßen bezeichne, die wir statt der unrichtigen einschlagen sollen.
Wer aber z. B. behauptet, daß dem preußischen Gerichtshof für kirchliche Ange legenheiten „thatsächlich die Entscheidung in rein dogmatischen Fragen" ge
geben sei, oder daß der Staat eS unternommen habe, „das eigentliche theolo gische Studium durch Prüfungen zu regeln", hat unsre Maigesetze nicht ernst
haft geprüft.
Wer ferner meint, daß die österreichische Gesetzgebung von 1874
das rechte Maß gefunden und daß bei Einhaltung desselben auch die Bischöfe
Preußens sich trotz päbstlicher Verdammung wie ihre österreichische« College« ge fügt haben würden, hat weder die Gesetze der beiden Länder scharf verglichen,
noch die politischen Ursachen deS verschiedenen Verhaltens von Curie und Episcopat Preußen gegenüber einer Untersuchung werth gefunden. Was die „richtige«
Wege" betrifft, so hätte der Berfaffer ein systematischeres, methodischeres Vorgehe«
gewünscht. Für die Gesetze zur Wahrung der Hoheitsrechte deS Staats „ergab sich naturgemäß eine Dreitheilung", erst ein interconfessionelleS Religionsgesetz zur Feststellung gleichmäßiger Grundsätze gegenüber alle» Religionsgesellschaften; dann zwei besondere Gesetze für die Rechtsverhältnisse der evangelischen und der katholi
schen Kirche.
DaS sind Regeln, die für die Theorie wichtiger sind, als für die
praktische Politik.
Wie verkehrt sie im Leben fein können, zeigt die Ansicht
deS BerfafferS, daß eS richtiger gewesen wäre, die Schulaufsichtsfrage erst im Unterrichtsgesetz zu regeln. A«S sachlichen Gründen kann das ÜnterrichtSgesetz
erst nach Vollendung der begonnene« Verwaltungsreformen an die Reche kommen.
Also hätten wir einem doctrinären Schematismus zu Liebe die Schule noch Äahr und Tag unter clericalem Einfluß lassen solle«!
Eine solche formal« Kritelei ohne Andeutung neuer Gesichtspunkte gereicht
nur dem gemeinsamen Gegner zum Vortheil. Das Schlagwort, daß „alle festen Begriffe von Gerechtigkeit und Freiheit in dem sinnverwirrenden Lärm der
nationalliberalen Phrase unterginge»" würde sich in einer Rede deS Abg. von
Schorlemer-Alst besser ausnehmen als am Schluffe des Werkes eines Lehrers
an der Straßburger Hochschule.
Hermann von Beckerath, ein Lebensbild von Hugo Kopstadt (Braun schweig, Westermann) ist eine in angenehmster Form und mit klarem geschicht
lichen Blick geschriebene Biographie.
Wir sind sicher, daß unsere Leser, auch
wenn sie der politischen Wirksamkeit deS einstmaligen Reichsministers und be deutenden Führers der liberalen Partei nicht mehr nahe standen, dieser Dar stellung mit vollern Genuß folge» werden. Der edle, charaktervolle Mann stand
seit dem Beginn deS vereinigten Landtags bis zur neuen Aera in der Mitte unserer politischen Kämpfe.
Sein Lebensbild isk zugleich ein Rückblick auf die
Ereignisse, die u»S vom Patent von 1847 durch Frankfurt und Erfurt hindurch
bis zur Begründung der Verfassung und bis zur Vorbereitung der neue» Zeit durch die Militärreform von 1860 führen.
Besonders interessant ist der per
sönliche und briefliche Verkehr Beckerath's mit Friedrich Wilhelm IV.
Er war
es, gegen den der König im April 1849 nach der Frankfurter Kaiserwahl den
denkwürdigen Ausspruch that:
„Wenn Sie Ihre beredten Worte an Friedrich
de» Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein
großer Regent".
Beckerath erlebte noch die Gründung deS norddeutschen Bun
de-; er schied wenige Wochen, bevor die vereinigte deutsche Armee den Rhein überschritt.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. W. Wehrenpfcynig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791. (Vgl. Preuß. Jahrb. 1873, Heft 5 und 6, Art.: „Innere Zustände Polen'« vor der ersten Theilung".)
III. Als der Reichstag nach kurzen Ferien im Februar 1790 wieder zu-
sammenkam, begannen von Neuem die Bemühungen, die Besteuerung und daS Heerwesen in besseren Gang zu bringen.
Denn immer noch ging die
Grundsteuer sehr unvollkommen ein, und eine ans Rohhänte gelegte außer ordentliche Steuer hatte gänzlichen Mißerfolg. Wieder wurden neue Com missionen zur Ausgleichung der höchst ungenügend vertheilten Stenern ein
gesetzt, wieder appellirte man an die private Opferwilligkeit, der König gab Juwelen
und Geräthe im Werthe von einer halben Million her, der
Marschall Malachowski machte der Republik ein Darlehn von einer Mil
lion ohne Verzinsung.
Man begeisterte sich für solche patriotische Thaten,
aber die Unordmung konnte ans den Steuerbehörden nicht Oltferut werden.
Lucchesini kehrte ans Berlin mit der Antwort auf einen Allianzvorschlag und Handelsvertrag, der Preußen vorgelegt worden war, zurück. toutbe nur der Handelsvertrag in Erwägung
gezogen.
Vorläufig
Preußen erhob,
seit eö durch die erste Theilung in den Besitz der Weichsel gekommen war,
sehr hohe Zölle von den polnischen Waaren, welche den Fluß hinunter dem einzigen polnischen Hafen in Danzig zuströmten. polnische Handel
Dadurch wurde der
sehr schwer belastet, wahrend doch der Vortheil,
den
Polen auS seinem Hafenplatz zog, in gleichem Maaße herabgedrückt wurde, so daß Danzig als eingeengte Enclave und mit stark deutscher Bevölkerung
für Polen fast werthloS war.
Gegen die Handelsvortheile, welche Lucchesini
Polen in der Herabsetzung der Weichselzölle anbot, verlangte er nun die
Abtretung ThornS und Danzigs.
Allein die Abtretungen von 1772 waren
für die Polen noch eine frische Wunde, welche den alten Schmerz bei-der
leisesten Berührung wachrief,
und je öfter Preußen auf seinen Wunsch
nach dem Besitz der beiden für Polen so werthlosen Städte im Laufe der
Preußische Jahrbücher. Br. XXXV. Heft s.
32
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
466
folgenden Ereignisse zuriickkam, um so empfindlicher wurde das patriotische Gefühl der Polen.
Schon jetzt wagte man kaum die Frage an den Reichs
tag zu bringen und Lucchesini mußte sie vor der Hand bei Seite stellen.
Sie sollte von der Handelssache getrennt behandelt werden.
Dafür drängte
man von allen Seiten den Reichstag zum Abschluß eines Defensivvertrages
mit Preußen, England und Schweden, und die Polen wiesen unter diesem
Eindruck daS Anerbieten einer Allianz, welches ihnen von Kaunitz damals gemacht ward, ab. — In dieser kritischen Zeit tauchten wieder die be kannten Schreckgespenster einer Empörung im Süden auf, verschwanden
jedoch bald wieder. Preußens.
Diese Gerüchte mehrten aber die Zahl der Freunde
Ignaz Potocki hielt eine flammende Rede für die Allianz, und
mit allgemeiner Begeisterung wurde das Prvject dazu am 15. März an genommen.
Am 29. März wurde der Vertrag abgeschlossen.
Darin ga-
rantirten sich Preußen und Polen gegenseitig ihr Gebiet/ versprachen im
Kriegsfälle mit einer dritten Macht bestimmte Kontingente an HülfStruppen, und Preußen verpflichtete sich, die etwaige Einmischung einer fremden Macht in die innern Verhältnisse der Republik für einen Kriegsfall an-
zusehen.
Um dieselbe Zeit schloß der preußische Gesandte Diez in Kon
stantinopel einen Vertrag mit der Pforte ab, in dem er zwar seine Voll
macht überschritt, welcher aber dennoch Preußen in eine Lage brachte, die eine Betheiligung am Kriege leicht nach sich ziehen konnte. Hertzberg hatte hier bisher die Rolle übernommen, welche Kaunitz im Jahre 1770 spielte:
Er wollte Oesterreich durch türkisches Gebiet für die Rückgabe Galiziens an Polen entschädigen, und dieses sollte dafür Preußen durch die beiden Städte und zwei Palatinate belohnen.
Die Türkei hoffte er durch gute
Dienste als Vermittler mit ihren Feinden zum Nachgeben zu bewegen, die
Gegner durch Waffengerasiel zu schrecken, auö dem fremden Blut aber im Ganzen seinen Gewinn zu ziehen.
Wie damals Kaunitz, so ward nun
Hertzberg doch durch den Lauf der Dinge widerwillig von der diploma
tischen Feder zum mürrischen Hervorholen des Schwertes getrieben, nur fand er sich zuletzt beffer in die aufgenöthigte Situation, als Kaunitz. Hertzberg war nicht wie Oesterreich abgeneigt,
im äußersten Falle den
Kampf anzunehmen, und allerdings waren die Bedingungen jetzt für Preu
ßen günstiger als damals für Oesterreich. Da starb am 20. Februar 1790 Josef II., und mit diesem folgen
schweren Ereigniß begann eine Reihe der unglücklichsten Vorgänge in Preu ßen.
Hertzberg hatte an Friedrichs Satze festgehalten, daß mit Oesterreich
wie es damals war, kein Friede dauernd möglich fei.
Nun suchte Leopold II.
den schwachen Friedrich Wilhelm II. allmählich mit Hertzberg zu entzweien «nd von dessen Politik loszulösen.
ES begannen Unterhandlungen zwischen
den beiden Höfen, in denen Hertzberg zwar noch immer seinem System treu bleiben konnte, die aber doch die Stellung Preußen- zu Oesterreich änderten und namentlich einer Annäherung der beiden Fürsten, einer Wand
lung der Anschauungen Friedrich Wilhelm- den Weg ebneten. —
Unterdessen schritten die Verhandlungen in Warschau langsam fort. Preußen drückte neuerdings die Weichselschifffahrt besonder- stark und suchte
dadurch auf die Gemüther im Reichstage zu wirken.
Aber diese ebenso
patriotisch fühlenden als politisch unverständig denkenden Gemüther bewegten
fich in einem engen Kreise politischer Thorheiten.
„Preußen, sagte man,
verlangt Danzig und Thorn weil ganz Westpreußen ihm gehört; seit wann
aber gehört eS ihm? ES ist die traurige Folge der Theilung, einer Epoche, deren alleinige Erwähnung niederdrückend und unerträglich
Republik."
ist für die
Und weil diese Erinnerung ihre Nerven unangenehm berührte,
widersetzten sich diese Politiker einem Handel, in dem sie eine werthlose Sache gegen große Vortheile eintauschen konnten, den jahrelang die preußffche Politik hauptsächlich im Auge hatte und deflen Nichtabschlnß vielleicht
einen großen Theil der Schuld an dem späteren Mißgeschick Polens trug. Denn Preußen- mußte die beiden Städte um jeden Preis haben, und konnte
es nicht mit Polen, so mußte es bei der ersten sich darbietenden GeleFreundschaft und Feindschaft
genheit gegen Polen das Ziel erreichen.
hingen von dieser Frage ab, Polen aber wollte die größten Beweise der
Freundschaft ohne etwa- dagegen zu bieten.
Auch England bemühte sich
die sogenannten Patrioten zur Nachgiebigkeit zn
HanddlSvortheile von seiner Seite an.
bewegen, eS bot große
Pitt interessirte sich lebhaft dafür,
machte Aussicht auf günstige Handelsverträge mit England und Holland,
durch welche die russischen Products durch die besseren polnischen auf den ausländischen Märkten ersetzt werden sollten*). Die wahren Patrioten hielten
den Gegnern vor, eS handle sich um die Rettung des Vaterlandes, wofür die beiden entfernten Städte geopfert werden sollten.
ES fruchtete jedoch
AlleS nichts gegenüber der kindischen Beschränktheit dieser politischen Phan tasten, vielmehr ward der Sinnlosigkeit die Krone aufgesetzt indem am 9. September 1790 der Reichstag zum Gesetz machte, daß in Zukunft e»
verboten sein solle, irgend welche Vorschläge zu Gebietsabtretungen oder
Gebiet-tausch zu machen.
Lange wurde der Abtretung der beiden Städte
nicht wieder erwähnt.
Inzwischen
waren zu
Reichenbach
jene unseligen Verhandlungen
zwischen Oesterreich und Preußen gepflogen worden, deren Ergebniß war, daß Friedrich Wilhelm plötzlich Alle- aufgab was da- Ziel der Hertzberg»
*) Bgl. OginSki, Denkwürdigkeiten, Th. I. Cap. IV.
Die erste Theilung Polens nnb die Constitution vom 3. Mai 1791.
468
schen Politik bisher gebildet hatte, daß die Seemächte von Preußen sich trennten und, dieses isolirt und von unfähigen Köpfen in eine falsche Mchtung gebracht, alle Vortheile, die cö seit langen Jahren gegen Oesterreich
errungen hatte, fortwarf und von Oesterreich in'S Schlepptau genommen
ward.
Nicht wenig trug zum Mißerfolg die Weigerung der Polen zur
Abtretung der Städte bei, indem sie Hertzberg's bei den Verhandlungen
vorgebrachte Pläne scharf kreuzte, die complicirtcn preußischen Forderungen Alle die kühnen Unternehmungen, die Hertzberg mühsam vorbe
lähmte.
reitet hatte, fielen platt zu Boden, und so war auch der Vertrag bedeu tungslos, den Polen mit der Pforte gegen Ende des Jahres abschloß und
dessen wesentlicher Inhalt den Krieg Preußens, Polens und der Pforte gegen Rußland betraf. Rußland blieb die ganze'Zeit über passiver Beobachter der Vorgänge
in Polen, es wartete ruhig seinen Augenblick ab, in dem eS wieder znr Action werde schreiten können.
Als der Vertrag mit Preußen seinem Ab
schluß entgegen ging, enthielt sich Stackelberg jeder Einmischung, ja selbst
dann gab
er diese Zurückhaltung nicht ans, als die hochgehcnden Wogen
patriotischer Begeisterung zur offenen Feindschaft, als einige erhitzte Köpfe zur Ausweisung des Gesandten drängten.
Im September 1790 ward
Stackelberg abberufen und durch Bulgakow ersetzt.
So feindlich dieser
die Stimmnng fand, so blieb doch auch er unthätig.
Er meinte, die
Landboten seien von Preußen mit 150,000 Dukaten erlauft worden und
wären künftig wohl auch von andrer Seite her durch Geld zu gewinnen. — Die Arbeiten der VerfassungSdepntation schritten nur langsam vor wärts.
Man beschäftigte sich mit den verschiedensten Dingen.
Bald war
eS die Erblichkeit des ThroneS, bald die confessionelle Frage, bald ging
man an die Rechte der Städte, bald an die Zusammenstellung der Grund
rechte der Nation.
Schon damals bildete sich eine Partei, die die Nach
folge auf dem Throne in erblicher Weise dem sächsischen Haufe zuzuwen den wünschte.
Die eifrigsten Preußenfreunde schwärmten sogar für die
Wahl Friedrich Wilhelms und die Bereinigung Polens mit Preußen.
Die
wichtige Frage über die Bestimmung eines Nachfolgers für den König führte zu dem Beschluß, neue Landtage auszuschreiben zur Wahl von Land
boten, welche mit den bereits vorhandenen Landboten vereinigt, eine brei tere Grundlage für die der Nation in ihrer Gesammtheit zustehende Wahl des künftigen Herrschers bilden sollten.
So lag denn wieder einmal der
politische Schwerpunkt in den Landtagen,
es hing alles davon ab, wie
dieselben sich zur Thronfolge sowie zu deu Verfassungsänderungen auö-
sprechen würden. gen.
Nnn begann der russische Gesandte sich wieder zn re
Katharina schickte ihm 50,000 Dukaten für die nöthigen Bestechungen
und er griff mit dieser Hilfe in die Wahlümtriebe thätig ein, indem er
hauptsächlich dagegen zu wirken bemüht war, daß ein preußischer Priüz zur Nachfolge erkorep würde.
Branicki, Felix Potocki ließen die Kraft
ihrer ungeheuren Reichthümer in conservativem Sinne wirken, Czartoryski
andererseits verausgabte 20,000 Ducaten zur Bearbeitung der Landtage für die Erblichkeit der Krone in den Händen des sächsischen Prinzen und für Abschaffung des liberum veto.' Auch die Geistlichkeit war thätig, an vielen Orten wurden «stimmen laut gegen die Neuerungen, gegen die
weltliche Erziehung,
die den Mönchen zurückgegeben werden
sollte, für
WaS in Warschau in letzter Zeit
Wiederherstellung des Jesuitenordens.
vorgegangen war, die Gedänken, welche dort in den Köpfen hin und her flogen, hatten die Masse des Landadels unberührt gelassen, auf den jetzt
wieder, das Schicksal Holens angewiesen war.
Die Wahlen fielen, min
Der doppelt besetzte. Reichstag
destens zweifelhaft für die Patrioten aus.
kam zusammen und zählte int Ganzen über 500 Glieder.
Bald wurde
eine Aenderung des Geistes in ihm bemerkbar, die den Patrioten ungün
stig war.
Die preußischen Forderungen in Bezug auf Danzig und Thorn
wirkten noch nach, die Nachgiebigkeit Rußlands in der letzten Zeit that
das Ihrige, nm die Stimmung für Preußen abzukühlen.
UeberdieS wurde
die Hand Leopolds in Polen immer fühlbarer, die einerseits Preußen sich zu nähern beflissen war,/: anderseits energisch daran arbeitete, Preußen aus seiner Stellung in Polen, zu verdrängen.
Ihm entgingen , die reichen Vor
theile nicht, welche die Verleihung der polnischen Krolle an daS KurhaüS Sachsen seinem Staacke bringen mußten, und diesen Plan gegen Prxußen und Rußland zu fördern waren seine Minister und die seit längerer Zeit
sich verstärkende polnische Emigration in Wien eifrig bemüht. — Unter dessen murrten die Patrioten, viele Landboten seien mit russischem Golde
ersauft.
Kasimir Nestor Sapieha schlug auf dem Reichstag vor, die Glie
der sollten einen Eid ablegen, daß sie keine Pensionen von ausländischen Höfen genommen hätten, noch nehmen würden. Der Vorschlag wurde als unwürdig der Versammlung zurückgewiesen.
Hinterher aber gelaugte doch
ein Gesetz zur Annahme, welches denjenigen, welcher in Zukunft Pensionen
von ausländischen Höfen annehmen werde,, mit dem Tode bedrohte.
Der
Hinterbringer sollte mit dem achten Theil deS Vermögens des Hingerich
teten belohnt werden, verfiel aber seinerseits der Todesstrafe wenn feine Beschuldigung sich als falsch erwies.
Dieses Gesetz wurde gegeben gegell-
über einer Versammlung, in der ganze Schaaren früher und später in
dem Solde dieses und jenes Hofes.gestanden haben und aus der vom Könige bis auf den letzten Landboten herab, es schwer fällt, einige Per
sönlichkeiten mit Sicherheit für in dieser Beziehung tadellos zu erklären.
470
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
Die liberal-patriotische Partei hatte bei Eröffnung
des
doppelten
Reichstages wo nicht eine Schwächung so doch keine allzusichere Stärkung
erfahren.
Freilich waren trotz der Bemühungen der russischen Partei und
der Conservativen die Instructionen der neuen Landboten meist der Ma jorität des Reichstages günstig ausgefallen: sie stimmten für die Wahl des
Kurfürsten von Sachsen zum Nachfolger des Königs, für die Durchfüh rung der Reformen, für Gleichheit der Abgaben, für Verstärkung der
Armee*).
Noch aber war die Menge nicht von den modernen Reform-
ideen durchdrungen worden, die die hervorragenden Geister der Patrioten
belebten.
Von wesentlicher Wirkung war nun eine Begebenheit, die da
mals die warschauer Kreise electrisirte.
Der begabte Dichter Niemcewicz hatte ein Lustspiel verfaßt unter
dem Titel: „Die Heimkehr des Landboten."
Darin waren die politischen
Parteien des Tages in zwei Hauptpersonen dargestellt und die wichtigsten Fragen im Reichstage, die Erblichkeit der Krone, die Abschaffung des li
berum veto, die Mehrung der staatlichen Mittel wurden dramatisch be
handelt, dem Könige, dem Reichstage und seinen liberalen Neuerungen, endlich dem neuen Verbündeten wurde Weihrauch gestreut.
DaS Stück
hatte großen Erfolg und übte eine ungeheure Wirkung auf die öffentliche
Stimmung aus.
Es brachte einen bedeutenden Umschlag zu Gunsten der
Patrioten zn Wege, der Landbote Niemcewicz, der Verfasser deö Stückes,
ward der Held des Tages und auf dem Reichstage waren er und fein Werk Gegenstand lobender und tadelnder Reden**).
Ignaz Potocki und der Reichstagsmarschall, die Führer der Patrioten und
die feurigsten Parteigänger Preußens, bekamen die Leitung des Reichstages nun fast widerstandslos in die Hände, aber während sie den Augenblick benutzten, um neue innere Reformen vorzübereiten, begannen schon Schat ten an dem Himmel der preußischen Freundschaft aufzusteigen.
AuS Wien,
aus Konstantinopel langten Nachrichten an, die darauf hinwiesen,
daß
Preußen durch die Hülfe Oesterreichs das von Polen zu erlangen geneigt
war, was es von Polen selbst nicht erhalten konnte. Kaunitz machte sogar dem polnischen Gesandten in Wien, Wohna, eine Mittheilung, nach wel cher Preußen und Rußland sich über eine neue Theilung Polens in Ein
vernehmen gesetzt hätten***), und diese Schreckgespenster verfehlten ihre
Wirkung nicht;
die Verhandlungen über den HandelStractat kamen
in
Warschau wieder ins Stocken. Unterdessen sah Preußen dem Frieden Ruß-
*) Vgl. Vom Entstehen und Untergange der polnischen Constitution vom 3. März 1791. S. 127. **) Niemcewicz, Denkwürdigkeiten meiner Zeit. S. 144 ff. (poln.) ***) Vgl. Sybcl, Geschichte der Revolutionszeit. 2. Ausl. Bd. I. Cap. 6.
landS mit der Pforte ruhiger als bisher entgegen, der alte Eifer war völlig erloschen.
Denn schon war Friedrich Wilhelm in die Netze Leopolds
gegangen, schon war der Grund zu einem engen Bündniß mit Oesterreich
gelegt worden zu derselben Zeit, als Leopold in Polen energisch gegen Preußen intriguirte und jene falschen Gerüchte durch seine Minister in
Umlauf setzen ließ.
Polen sollte von Preußen getrennt und zu Oesterreich
herüber gezogen werden.
Ganz im Stillen bearbeitete man mit Erfolg
die nicht unbedeutende Emigration in Wien.
Durch privates Entgegen»
kommen seitens des wiener HofeS keimte in diesen politischen Kreisen in Wien der Gedanke einer Anlehnung Polens an Oesterreich und fand in
Warschau Anklang.
die Patrioten
Denn zugleich befürwortete Leopold eifrig Alles waS
wünschten:
innere Reformen,
Erblichkeit der Krone im
Hause Kursachsen;, und er wurde hierin durch die augenblickliche Lage der Kriegsereignisse unterstützt, die auf einen baldigen Frieden im Östen und als Folge davon auf eine Entfesselung der russischen Kräfte Polen gegen über hinwiesen.
Rußland blieb zwar noch immer vorwiegend beobachtend,
aber im August 1790 war der Friede von Werelä mit Schweden geschlossen worden, in Galatz wurden Verhandlungen gepflogen,
die leicht einen
russisch-türkischen Frieden nach sich ziehen und Katharina zur Rache an Polen die Hände freimachen konnten.
Um so eifriger drängten die Progressisten in Warschau zur Vornahme von Reformen, die Polen innerlich und äußerlich stärken möchten.
DaS
Projekt der Derfassungödeputation, das Stimmrecht auf den Landtagen nur auf angesessene Edelleute einzuschränken war angenommen.
Die städti
schen Rechte kamen wieder zur Verhandlung und durch eine List der
Patrioten wurde trotz lebhafter Widersprüche zuletzt ein Gesetz am 16. April
beschlossen, das nicht unwichtige Vortheile den Städten gewährte. Dieselben wurden von aller nicht städtischen judiciären und administrativen Gewalt
befreit und unter die Verwaltung und Gerichtsbarkeit selbst erwählter Magistrate und der königlichen Hofgerichte gestellt.
DaS Gesetz Neminem
captivabimus ward auf alle Stadtbürger ausgedehnt, sie wurden zum
Dienst in der Armee und in den Kanzleien der Gerichte und Tribunale zugelassen und verdienten sich durch einen unbedeutenden Dienstrang den
Erbadel.
Auch die kirchlichen Würden wurden ihnen geöffnet, das Recht
des Grundbesitzes gewährt.
Anderseits wurde dem Edelmann gestattet,
Bürger zu werden und bürgerliches Gewerbe zu treiben.
Diese uner
hörten Neuerungen veranlaßten die lebhaftesten Freudenbezeugnngen seitens
der Städter und bereiteten die Stimmung der warschauer Bevölkerung für die größeren patriotischen Begebenheiten vor, welche die nächste Zukunft
im Schooße trug.
Biele der hervorragendsten Magnaten, wie der Reich-»
472
Die erste Theilung Polens und di Constitntion vom 3. Mm 1791.
tagSmarschall Malachowski, Ignaz Potocki u. Ä. traten sofort in die war
schauer Bürgerschaft, andere, wie OginSki in die Wilnaer und andere
Bürgerschaften ein und fachten dadurch einen Enthusiasmus der Verbrüde rung an, der den in Aussicht genommenen weiteren Reformen zu Statten kommen mußte.
Noch immer aber vermochten die Hauptfragen, welche bei Einberufung
der neuen Landboteu ins Auge gefaßt worden waren, keinen sicheren Boden auf dem Reichstage zn^gewinnen. War es den Liberalen nur nach schweren Mühen gelungen, die Reform der Landtage und des Städtewesens den
Konservativen abzutrotzen,
so stießen
sie auf unüberwindliche
Schwie
rigkeiten sobald sie die Erblichkeit des Thrones, die Abschaffung des li
berum veto zu Sprache brachten.
Oftmals war der Versuch gemacht
worden, aber stets wnßten die Gegner eine Beschlußfassung zu hintertreiben. Die Conservativen stützten sich ganz ans den russischen Gesandten, der so weit der Augenblick gestattete, nichts unterließ, was diese Reformen ver
hindern konnte.
Die Patrioten machten große Anstrengungen, die Ge
müther für eine kühne, rücksichtslose Umwälzung zu gewinnen, ja sie ver breiteten nun ihrerseits geflissentlich das jene Behanptung Kaunitzens vom
vorigen Jahre schneidende Gerücht, es werde von den Nachbarmächten mit Ausnahme Preußens eine neue Theilung Polens geplant.
Aber immer noch
durften sie in jenen Fragen nicht auf eine Majorität im Reichstage rechnen.
Da faßten die energischsten Führer, Kollontay, Ignaz Potocki, dann auch
Stan. Malachowski u. A. den Gedanken, zu einem Staatsstreich, wie sie
es nannten, ihre Zuflucht zu nehmen.
Das Osterfest d. I. 1791 stand
vor der Thür, an welchem die Mehrzahl der Landboten die Stadt zu
verlassen und auf ihre Güter sich zu begeben pflegte. Der Entwurf eiWx Constitntion sollte im Stillen ausgearbeitet und dann noch ehe die Glieder deS Reichstages wieder vollzählig sich versammelt haben würden, deM Reichs
tage vorgelegt und angenommen werden.
Im Geheimen gewann man
60 Stimmen für diesen Plan, der König wurde durch den Abt Piatoli,
einen Italiener, der seit einiger Zeit sein Pertrauen gewonnen hatte und großen Einfluß auf ihn übte, zur Zustimmung bewogen.
Stanislaus August, der jahrelang treue Anhänger Katharina's und Vor
kämpfer für ein enges Bündniß mit Rußland, war nun.doch im Verlaufe des Reichstages von dem Strom der Dinge fortgerissen worden. Bald 30 Jahre
lang war er jetzt der dankbare Schützling seiner Jugendgeliebten, und es war unschwer für ihn einznsehen, daß seine Krone am sichersten von Der jenigen ihm gewahrt werden konnte, die sie ihm aufs Haupt gesetzt hatte.
Er hatte aber viel gelitten unter der russischen Vormundschaft, denn die Kaiserin hatte allmählich
seine Schwäche kennen gelernt, sie hatte die
Achtung für diesen unmännlichen Hofmann verloren, und scheute sich nie,
ihn diese Meinung fühlen zu lassen, ohne jedoch um deswillen ihre poli tische Ansicht von Stanislaus August zu ändern: sie brauchte eben einen
Schwächling auf Polens Thron. Stanislaus August war keineswegs un fähig, über dem Vaterlande wenigstens zeitweilig sich selbst zu vergessen.
Er wünschte von ganzem Herzen Polen stark und selbstständig zu sehen, die Schmach der ersten Theilung abzuwaschen.
Die letzten Jahre hatten
Polen Schritt vor Schritt von seiner alten Richtung entfernt, neue Aus
sichten einer besseren Zukunft hatten unter der Gunst des
Augenblicks
sich aufgethan und die Besten im Lande arbeiteten mit opferfreudiger Hin gabe an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes.
Und diese Besten waren
ja die Zöglinge des Königs selbst, es wäre» die Früchte seiner jahrelangen
Zucht in Schule und Staatsdienst,
die Kinder seines Geistes, die sein
Bestes, seinen gebildeten Patriotismus, seine aufgeklärten Ideen eingesogen und damit groß geworden waren.
Wie sollte der Vater sich nun von dem
Stolz seines Alters, von der erblühten Hoffnung seiner Jugend, von dem Streben seines ganzen Lebens unnatürlich kalt abwenden!
Wie konnte die
weiche gefühlvolle Natur des Königs sich dem edlen Schwünge verschließen,
der ihm Bilder vormalte, in denen er sich als Retter, als gepriesener Vater seines Landes sah!
Zudem hielt seit einiger Zeit eine Frau ihn gefesselt,
die, ohne-schön zu sein, es verstand, länger alS die vielen früheren Ge
liebten den «lternden Weiberfreund zu leiten.
Die Wittwe Grabowska
war mit Ignaz Potocki verbündet und flößte dem Könige, der stets von
seinen Gelieb>ten abhängig war, die Ideen der Patrioten ein. Die Verschworenen setzten die Verhandlung über die neue Verfassung auf den 5. Mai fest.
Aber der Mitwisser waren zu viele um daS Be-
kanntwerden deö Anschlages vermeiden zu können. Die fremden Gesandten waren bald in Kenntniß gesetzt und sowohl HaileS der englische, als Goltz, der preußische Gesandte, machten den Verschworenen lebhafte Vorwürfe
über die Unbesonnenheit ihres Planes, der die benachbarten Höfe gegen daS umgewandelte Polen aufbringen müsse.
Malachowski entgegnete Goltz,
die Patrioten wünschten durch die Wahl deö Kurfürsten von Sachsen zum
erblichen Könige und durch die Ehe seiner einzigen Erbtochter mit einem preußischen Prinzen Polen mit Preußen zu vereinigen.
Dieser Ausspruch
zeigt, wie wenig die Patrioten die politische Lage übersahen: sie waren in völliger Unkenntniß sowohl über die veränderte politische Lage der Nachbar mächte, als über die Tragweite der unternommenen Umwälzung und die
Mittel zu ihrer Aufrechterhaltung.
Die russischen Minister und die Conservativen sandten sofort nach
allen Seiten Boten aus, um ihre Parteigänger zum 5. Mai nach Warschau
474
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
zu berufen, und kreuzten dadurch die Pläne der Gegner.
diese zwei Tage früher vorzugehen.
Nun beschlossen
Am 1. Mai wurden die Landboten im
königlichen Schloß bewirthet, am 2. fand ein glänzendes Mahl im Palast Radziwill statt, auf welchem das inzwischen ausgearbeitete Project verlesen und von den Freunden unterschrieben ward.
Dasselbe schloß sich den Ge
danken an, die Kollontay in seinen Briefen an Malachowski vor 3 Jahren entwickelt hatte.
Inzwischen wurde das niedere Volk in der Stadt frei
gebig mit Trinken und Essen günstig gestimmt.
Am Morgen des 3. Mai
wälzten sich zahlreiche Haufen deS Volkes auf Antrieb der Verschworenen
zum Schlosse.
Die Bürger waren den Reformen aus Ueberzeugung zuge
than, der niedere Mann ging dem Gelde nach, das man ihm gab und
war gern bereit für Alles zu demonstriren, wozu man ihn anwies.
Zahl
reiche Truppen umgaben das Schloß.
Hier ward nun die Versammlung eröffnet, welche für Polen verhäng nißvoll werden sollte.
Der Reichstagsmarschall Malachowski eröffnete die Sitzung und die Verschworenen begannen damit, durch auswärtige Nachrichten, welche auf eine neue Theilung Polens hinwiesen, auf die Gemüther zu wirken.
Die
Deputation für auswärtige Angelegenheiten wollte Depeschen solchen In
halts aus Wien, Berlin, Paris, Petersburg erhalten haben, die nun ver
lesen wurden.
Die Gegner, Branicki und sein Anhang, versuchten ver
geblich die Verlesung zu hindern,
ja einige sollen sogar ihren Führer
Branicki gebeten haben, ihnen den Gebrauch Branicki schrie ihnen aber zu: „fort".
der Waffen zu gestatten.
Auf Antrag der Patrioten war
Publicum hereingelassen worden, welches sich um die Patrioten Im Vor dergründe schaarte und die andere Partei zurückdrüngte.
Der Landbote
Suchorzewski stürmte mehrmals vor mit dem Verlange», sprechen
zu
dürfen, ward aber von den Stäben der Marschälle And dem Geschrei der Arbitri zurückgewiesen. Endlich griff er zu dem theatralischen Mittet, welches wix bereits früher beschrieben haben und erhielt dadurch das Wort.
Er beschwor die Versammlung sich durch gefälschte Depeschen nicht be
thören zu lassen, Veränderungen nicht zu gestatten, welche die alte Freiheit Polens dem Despotismus überliefern würden. Eine ungeschickte Wendung seiner Rede brachte die Versammlten zum Lachen und seine Rede verlor
alle Wirkung.
Endlich wurden die Depeschen verlesen und ihr Inhalt
machte tiefen Eindruck.
Nach einigem Schweigen wandte sich Ignaz Potocki
an den König mit der Bitte um seine Meinung.
Stanislaus wies darauf
hin, wie die eben vernommenen Nachrichten ihn wünschen ließen, die nö
thigen Reformen so rasch als möglich zum Abschluß zu bringen.
Der
Gecretair möge ein bereits fertiges Project dieser Reformen verlesen. —
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
475
Das „Gesetz über die Regierung", wie es betitelt war, wurde vorgetragen. Sein Inhalt war in Kürze folgender.
1.
Die katholische Confessio» wird zur herrschenden, ein Abfall von
ihr für strafwürdig erklärt.
Alle anderen Bekenntnisse aber genießen den
Schutz der Regierung. 2. Alle Rechte und Privilegien deS Adels werden von Neuem be stätigt.
Die Schlacht» ist unter einander gleich berechtigt; die persönliche
Sicherheit und Freiheit, das Eigenthum werden gewährleistet; jeder Ein griff in das Eigenthum der Schlacht» unter dem Titel eines jus regale
ist verboten, der Schlacht» als Wächterin
der Freiheit wird auch der
Schutz der gegenwärtigen Verfassung anvertraut. 3.
Das am 16. April angenommene Gesetz über die Städte wird
der Verfassung eingefügt.
4.
......................
Der Bauernstand wird unter den besonderen Schutz deS Gesetzes
und der Regierung gestellt.
Verträge zwischen Edelmann und Bauer sol
len alS gegenseitig bindend gesetzlich beschützt werden.
Jeder Bauer, der
über die Grenze deS Reichs sich entfernt hat und wieder zurückkehrt, wird
für persönlich frei erklärt. — 5. Alle staatliche Gewalt geht vom Volke aus; sie zerfällt in die
gesetzgebende, bestehend auS den vereinigten 3 Ständen deS Reichs, in die ausführende, bestehend aus dem Könige und dem königlichell Rath, und in
die rechtsprechende Gelwalt. 6.
Der Reichstag zerfällt unter Vorsitz des Königs in die Land
botenstube und die Senatorenstube.
Der Landbotenstube als Ausdruck der
VoMsouveränetät steht hauptsächlich die Gesetzgebung zu; daher gehen von ihr Me organischen Gesetze auS, desgleichen entscheidet sie über zeitweilige
Steuern, über Münze, AdelSertheilung, staatliche Schulden und Ausgaben, Krieg und Frieden, sie ratificirt auswärtige Verträge und Bündnisse. Die
Senatorenstube besteht unter Vorsitz des Königs aus den Bischöfen, Wojewoden, Kastellanen und Ministern, und hat die von der Landbotenstube
angenommenen Gesetzesvorlagen zu bestätigen oder zu verwerfen: das ver worfene Project muß dem nächsten Reichstage wieder vorgelegt und falls
die Landboten es zum zweiten mal billigen vom Senat bestätigt werden. Jede Verordnung wird von beiden vereinigten Stuben des Reichstages durch Stimmenmehrheit entschieden, nachdem sie vorher in jeder der bei
den Stuben angenommen worden ist.
Alle zwei Jahre wird der Reichs
tag neu erwählt, er ist ständig und wird nach Bedürfniß einberufen.
Ein
vom ordentlichen Reichstage erlassenes Gesetz kann nicht von demselben Reichstage aufgehoben werden.
Das am 30. December 1789 beschlossene
Gesetz über die neue Verfassung der Landtage wird bestätigt. Jeder Land-
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
476
böte ist Vertreter des gesammten Volkes. schafft,
DaS liberum veto ist abge
jede Conföderation oder conföderirter Reichstag verboten.
Alle
25 Jahre erfolgt eine Revision der Verfassung durch einen besonderen
hierzu berufenen Reichstag. 7.
Zur Erfüllung der Gesetze bedarf eS einer kräftigen auSsühren-
deu Gewalt, welche dem Könige und seinem Rathe unter dem Namen
Die Executive steht unter dem Gesetz, hat
„Wächter der Gesetze" zusteht.
seine Beobachtung zu überwachen, für die allgemeine Ruhe und Ordnung zu sorgen die Verhandlungen mit den auswärtigen Mächten zu führen. Alle
Aemter sind ihr untergeordnet. Der königliche Rath besteht aus dem Primas, den Ministern und
2 Setretairen.
Ohne Stimme haben darin Sitz der volljährige Thron
erbe und der Reichötagsmarschall, dieser aber nur wenn es sich um Be
rufung des Reichstages handelt.
Wenn der ReichStagSmarschall die Be
rufung des Reichstages für nothwendig hält, der König sich derselben aber widersetzt, so darf jener in gewissen Fällen von sich aus die Berufung
vornehmen.
Im Rath giebt die Meinung des Königs den Ausschlag.
Der König ernennt die Minister, wird aber dnrch */, der Stimmen des
Reichstages zur Entlassung und Entsetzung eines Ministers gezwungen.
Die Minister sind dem Reichstage verantwortlich. Unter dem Rath stehen als ausführende Behörden 4 Commissionen, für VolkSnnterricht, Polizei, Heerwesen und Finanzen, welche vom Reichstage besetzt werden.
8.
Der Thron wird für einen Wahlthron nach Familien erklärt,
zur nächsten Dynastie nach dem Tode deö regierenden kinderlosen Königs wird die des Kurfürsten von Sachsen erwählt, zur Infantin dessen Tochter. Jeder König hat ans die Verfassung und die zu vereinbarenden Pacta
conventa den Eid zu leisten.
son heilig.
Der König ist unverantwortlich, seilve Per
Alle öffentlichen Acte, Gerichte, .Aemter,
Tribunale, Münze
und Stempel tragen den königlichen Namen; der König hat das Begna
digungsrecht für nicht staatliche Verbrecher, er hat den Oberbefehl über die Armee und ernennt die Offiziere. 9. Die Justiz ist unabhängig vom König und Reichstag.
Die bis
herigen Gerichte werden im Wesentlichen beibehalten; für Staatsverbrechen
wird alle 2 Jahre vom neuen Reichstage ein höchster Gerichtshof gewählt, Ein neuer Codex der Civil- und Criminalgefetze soll ausgearbeitet werden. 10. In gewissen Fällen führt der Rath unter Leitung der Königin
oder des Primas die Regentschaft. 11. Die Söhne des Herrschers und ihre Erziehung stehen unter der Oberaufsicht des Reichstages, in unmittelbarer Leitung des Königs und des Rathes.
12.
DaS Heer ist das zu seinem
Schutz bewaffnete Volk.
DaS
Heer hat dem Könige und dem Volk den Fahneneid zu leisten. Nachdem der BerfaffungSentwurf im Reichstage verlesen worden war,
dankte Stanislaus Malachowski in feuriger Rede dem Könige für das wie
er vorgab von ihm ausgehende ausgezeichnete Werk. tete und endete mit den Worten:
Der König antwor
„Der König mit dem Volk und das
Volk mit dem König! so werde ich bis zum Tode anSrufen."
Diese Worte
zündeten und wurden lebhaft von der Versammlung wiederholt.
Da trat
wieder jener SuchorzewSki hervor, seinen Knaben an der Hand si'chrend: er wolle an diesem Orte sein eigenes Kind tödten, damit es nicht die
Sklaverei erlebe, welche der Entwurf vorbereite.
ihm den erschreckten Knaben. Seiten.
Seine Freunde entrissen
Nun erhob sich wüstes Geschrei auf beiden
Dir Conservativen schrien- die Pacta conventa seien verletzt
wordm, sie mögen verlesen werden.
Dieses geschah und man stritt über
daö Recht des Reichstages, durch die neue Erbfolgeordnung die vom Volk abgeschlossenen Pacta conventa zu ändern.
Der König selbst hatte schon
vdrher diese Frage vermeiden wollen, indem er bat, ihn m dieser Bezie hung von der Verpflichtung der Pacta conventa zu entlasten.
Nun
drängten sich die Redner zur Tribüne, die einen glühten für Vaterland, für polnische Freiheit, die Polen vor allen Völkern auSzeichne, die andern
deckten die Blößen deS Staates auf.
Am meisten wirkte KicinSki'S Schil
derung dex Schmach, welche Rußlands gewaltthätigeö Benehmen Polen angethan hDe und noch anthne, und welcher nur ein kraftvoller Monarch en^egentreten könne. Die Gegner zeigten, wie der.Entwurf gesetzlich erst
drei Tage lang zur Einsicht ausliegen müsse, ehe man über ihn abstimmen
könne, wie in den ReichStagSnniversalen nur von der Wahl des Kurfürsten
zum Nachfolger StaniSlauS Augusts, nicht von der Erblichkeit der Krone die Rede gewesen sei. Ausrufe, Apostrophen, Thränen wurden verschwen derisch zur Verstärkung der Reden angewandt.
Stanislaus Potocki, ein
Mitarbeiter an dem Entwurf, fiel nach schwungvoller Ansprache vor den
„Gottheiten des Volkswohls", wie er die Glieder des Reichstages nannte-
auf die Kniee nieder und flehte sie an, den Entwurf zu genehmigen.
Der
König bot seine glänzende Beredsamkeit zu Gunsten des Entwurfs auf, er schilderte wie das Vaterland ihm allein am Herzen liege, wie der Ent
wurf ihm persönlich Gefahr bringe, wie er aber nun bereit sei, unbeküm
mert um diese Gefahr den Entwurf zu vertheidigen.
Der heutige Tag
werde der herrlichste sein oder aber er, der König, werde weinen müssen um daS Vaterland.
Die Patrioten nnd die Menge des PublicumS riefen
dem Könige und der Constitution Lebehochs zu wie sie jeden progressistifchen
478
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791,
Redner mit stürmischem Beifall begrüßten, die Stimmen der Gegner aber
überschrieen.
Diese traten indessen hartnäckig fort und fort auf die Tri
büne, sie protestirten gegen die Gesetzwidrigkeit des bevorstehenden Schrittes, sie appellirten an das Volk, das eine Tyrannei des Reichstages zu er-
errichten im Begriff sei.
Hin und her wogte der Kampf, alle Künste der
Rhetorik mußten den Effect erhöhen, daS Publikum wurde immer lärmen der.
Da beschwor der Landbote von polnisch Livland Zabiello die Ver
sammlung bei ihrer Liebe zum Baterlande,
den Entwurf anzunehmen.
„Ich bitte dich, durchlauchtigster König, sprach er, leiste alS Erster den Bürgereid auf die neue Verfaffung und wir alle werden dir folgen."
Von
allen Seiten erhoben sich Rufe der Beistimmung, die Senatoren umringten
den König.
Das Publikum drängte sich in den Sitzungssaal und schrie
Vivat der Constitution, bis von der Straße her vernahm man das bei
In diesem
fällige Getobe der für diesen Zweck vorbereiteten Menge.
Augenblicke drang noch einmal Suchorzewski zum Thron vor, warf sich
zur Erde und schrie mit kreuzweise verschränkten Armen:
„Ueber meine
Leiche werdet Ihr zum Eide schreiten, der die altpolnische Freiheit tödtet!" Er ward von seinen Freunden weggeführt und der Lärm dauerte fort.
Endlich entschloß sich der König, der Sache ein Ende zu machen. Er er
klärte. der Reichstag habe seinen offenbaren und festen Willen kundgegeben, und forderte den Bischof von Lkrakau auf, ihm den Eid abzunehmen.
Nachdem dieses geschehen, sprach er: „Juravi domino, non me poenitebit. Freunde des Vaterlandes, mir nach zur Kirche."
Er erhob
sich, der
Reichstag folgte und im Triumph unter erschütternden Zurufen deö Volkes und endlosem Jubel gelangte der Zug zur Kirche St. Johannis.
Hier
benutzte der eitle Kasimir Nestor Sapieha die Gelegenheit zu einer Ent
faltung seiner rednerischen Gaben, dann erfolgte die Vereidigung der Glieder de- Reichstages auf die neue Verfaffung.
Inzwischen waren die Gegner in nicht unbetrÄchtlicher Menge im Sitzungssaal zurückgeblieben. Der vollendeten Thatsache gegenüber blieben sie passiv.
Branicki unterschrieb sogar die Verfassung.
AIS am folgen
den Tage die VerwaltungScommissionen zur Unterschrift aufgefordert wur den, leisteten dieselben Folge, aber die Verfassungscommission, über deren
Kopf hinweg die neue Verfassung entworfen und angenommen worden war und deren Vorsitzender der Bischof Koffakowski, ein verschwenderischer und
schon damals im russischen Solde stehender Egoist war, machte Schwierig
keiten. — Wieder drangen Schaaren niederen Volks in den Saal und nach jeder Rede forderten diese gewichtigen Zeugen die Glieder der Ver-
saffungSdeputation mit lautern Geschrei zur Unterschrift auf.
Sie unter-
schrieben.
Allmählich traten auch viele frühere Gegner der stets wachsen
den und von der Volksstimmung unterstützten BerfassungSpartei bei und unterschrieben gleichfalls. Die Stadt war in Begeisterung. Kasimir Nestor Sapieha, ein früherer
Feind der Verfassung, der aber im letzten Augenblick derjenigen Partei sich anschloß, die muthmaßlich allein die Stütze des Ehrgeizigen werden
konnte, überbot nun alle an Verherrlichung des 3. Mai. Abzeichen an mit der Aufschrift: mit dem Könige".
Er legte ein
„Der König mit dem Volk, das Volk
Bald trug alle Welt dieses Abzeichen an einem ledernen
Schulterriemen. Die Damen ahmten dem Beispiel nach, das von der Nichte des Königs, der Pani Thszkiewicz gegeben worden war, und man sah sie stete
mit himmelblauem Gürtel, auf dem dieselbe Aufschrift wie oben zu lesen war.
Ein Schwindel ergriff die ganze Bevölkerung, die Gegner wagte»
sich nicht öffentlich zu zeigen, die meisten heuchelten ihren Uebertritt zu
den Patrioten.
Die ehemals wüthendsten Gegner ergossen sich in Lobreden
auf die Verfassung, thaten als ob nichts ihre Begeisterung für sie bändi gen könne.
DaS Reichstags-Gericht drohte mit Strafe demjenigen, der
sich-der Constitution widersetzen werde, wozu es durch einen am 3. Mai gefaßten Beschluß des Reichstages selbst befugt war.
Endlose Feste, Illu
minationen und^ Vergnügungen erhöhten die Stimmung. Daö Land ward von der Revolution durch ein Universal in Kennt niß gesetzt welches die Rettung des Vaterlandes durch den Reichstag pries. An vielen Orten wurde die Nachricht mit Jubel ausgenommen, um so mehr als anfangs das Bewußtsein und
waren, waS geschehen war.
die Kenntniß deffen sehr gering
So war eS eine kurze Zeit der schönsten
Hoffnungen und patriotischer Begeisterung, welche der 3. Mai dem Volke und seinem Könige gebracht hatte.
Schauen wir noch flüchtig auf den Inhalt dieser ersten und letzten geschriebenen Verfassung Polens zurück, deren wesentliche Bestimmungen wir oben anführten.
In der Periode der VerfassungSstürme Europa'«
nimmt sie nicht blos der Zeit nach die erste Stelle ein, sondern verdient auch bemerkt zu werden durch den ihr eigenen Geist.
So unvollkommen
sie für unsere heutigen Ansprüche war, so wird man ihr weder eine ge
wisse Originalität absprechen, noch die Mäßigung übersehen können, die sie den gegebenen Verhältnissen gegenüber bewahrt, eine Mäßigung, die gerade inmitten der wirren Zuständen eines von Natur leidenschaftlichen und po
litisch unreifen Volke- auffällt. 'Man bemerkt darin leicht die Ideen der neuen Zeit, den Geist der fran zösischen Revolution in ihren maaßvolleren besseren Erscheinungsformen,
480
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
durchschnitten von den nothwendigen Rücksichten auf das polnische Wesen und seine bisherige Entwickelung.
Die nahe Verbindung, in welche Palen
besonders seit der Conföderation von Bar mit Frankreich und seinen hervor
ragenden Geistern getreten war, vermittelte und verstärkte die Durchdringung deS polnischen Reformgeistes von Gedanken der französischen Aufklärungs
philosophen.
So hatte man schon im Jahre 1772 sich durch den königli
chen Küchenmeister WielhorSki, nach Andren durch den französischen Ge neral Viomenil, damals nach Dumouriez Abgang, Obercommandiren-
den der Truppen der Conföderirten von Bar*), ausdrücklich an Rousseau um seine Meinung über Polen und über eine Reform der Verfassung gewandt, und dieser hatte in seinen „Consid6rations sur le Gouverne
ment de Pologne“ Ansichten ausgesprochen, die nun zur Verwerthung
gelangten. Die Behutsamkeit in der Befreiung deS Leibeigenen und in der Ber-
befferung seiner Lage, die Verordnung für die Bürger, welche eine all mähliche Verschmelzung des Adels mit dem Bürgerstande herbeiführen
sollte und manches Andere sind die Gedanken des Genfer Philosophen, die freilich scharf den Ideen widersprechen, mit denen sein Contrat social
die Welt entzündete.
Rousseau hatte auf solche Weise das merkwürdige
Schicksal, im Osten Europa'« eine Revolution wesentlich gefördert zu haben, welche grade den Gegensatz zu derjenigen bildete, die er inz Westen schürte. Polens StaatSgedanke war feit Jahrhunderten der Vertrag gewesen: der
jenige^ Frankreichs seit Jahrhunderten daS monarchische Recht.
Als das
monarchische Recht in Frankreich von dem neuen Bertragsgedanken bedroht
ward, alS Frankreich vom Absolutismus zum Vertragsstaat hinübersprang,
da ließ der Sprung den Boden auch in Polen erbeben — und man sprang
auS dem Vertragsstaat in die Erbmonarchie!
In Frankreich führten die
Schriften Ryusieau'S zur Gleichheit Aller durch Herabdrückung aller ständi schen Unebenheiten, hier suchte man dje Gleichheit durch Emporheben deS
Bürgers zum Edelmann herzustellen und ließ sogar die Unfreiheit deS Bauern
im Ganzen unangetastet. Und das auf ausdrücklichen Rath Rouffeau'S**). In Frankreich schuf man Grundrechte deS Volks, hier gelang es der liberalen
Partei, die alten polnischen Volksrechte, die von den Conservativen eifrig in den Vordergrund geschoben wurden, in der neuen Verfassung fast ganz zu übergehen.
Dort tauchte der dritte Stand gegenüber den alten Ge-
*) Daß Viomenil eS war, der sich an Ronsseau wandte, erzählt Heyking a. a. O. Th. II. Cap. 2, WielhorSki wird in den Denkwürdigkeiten deS S. Bukar genannt, s. die Denkwürdigkeiten Ochocki'S Th. IV., S. 239. **) Vgl. (Ferrand) Histoire des trois demembremens de la Pologne T. III., pieces justificatives du livre X., No. 1.
walten auf und machte die Revolution, hier machten die beiden ersten
Staude im Bunde mit dem Könige eine Revolution gegen eine Gefellfchastsgruppe, die niedere Schlacht«, welche zum Theil den dritten Stand Frankreichs darstellte.
Dort kämpfte die Gesellschaft gegen die verrotteten
Formen des StaateS: hier stritt der Staat gegen die politisch unfähige
Gesellschaft.
Dort trug der Fortschritt die Fahne der Volköfreiheit: hier
stand der Rückschritt auf der Seite der altpolnischen nationale» Freiheit
Die Gegensätze sind, so scharf, als sie nur irgend gedacht werden können, und dennoch natürlich genug.
Fortschritt und Rückschritt sind eben sehr
schwanke Begriffe nnd wandeln sich je nach den Verhältnissen die sie berühren.
Frankreich rang sich
aus dem starren Absolutismus heraus
zur Demokratie hin: Polen drängte von der zügellosen Oligarchie zum Königthum:
Denn Polen war in Wahrheit eine Aristokratie,
wie wir
sie nur in den alten Staaten Griechenlands vorfinden, in denen jeder
Bürger den Staat vertrat und doch zugleich dem Nichtbürger, einer Masse von Sclaven gegenüberstand, die mit dem Staat nichts zu schaffen hatten.
Waö in Athen oder Sparta möglich war konnte in einem so ausgedehnten
Reiche wie Polen nicht Dauer haben und so erfolgte in Polen eine Re-
voluüon von oben wie in Frankreich eine Revolution von unten, so war eö in Polen liberal, die Tyrannei der aristokratischen Staatsgewalt des ein zelnen Bürgers gegenüber der StaatSeinheit zu beschränken, wie es in
Frankreich liberal war, die Tyrannei der monarchischen StaatSeinheit gegen dem Bürger zu bändigen. In der That kann man dieser neuen Verfassung im Ganzen die
Anerkennung nicht versagen, die Hauptschäden
des polnischen
Staats
wesens mit geschickter Hand erfaßt und in ihren Wurzeln ausgebrannt zu haben.
ES spricht aus ihr unzweifelhaft ein Scharfblick, Reife, Besonnen
heit und Unbefangenheit des Geistes die glänzend hervorleuchten in der
Menge politischer Unfähigkeit, die überall die polnische Geschichte und Ge
sellschaft aufweisen.
DaS Werk enthält mancherlei Lücken, Zweideutig
keiten, eS bleibt oft auf halbem Wege stehen; aber das sind nicht Mängel dieser Schöpfung, sondern solche der damaligen Verhältnisse, die hier zum
Ausdruck kommen und um so mehr den Scharfsinn desjenigen bekunden
der nicht ein Ideal von Verfassung, sondern eine seinem Volke anpassende Staatsform im Auge hatte, und der den Widerstand nicht übersah, welcher
im Reichstage zu überwinden war.
Es war ein besseres Werk als die
französischen Verfassungen, denn eS war relativ gut, nicht verpfuscht durch die moderne Krankheit deS politischen Doktrinarismus, dieses gravitätisch
blinzelnden StaatSeulenthumS.
Wäre z. B. der Schlacht« die zweideutige
Concession nicht gemacht worden, daß ibre sämmtlichen Rechte nnd Privi-
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft -.
33
482
Die erste Theilung Polens und die Constitution vom 3. Mai 1791.
legien bestätigt wurden, so mochte Wohl das ganze Werk in Stücke gehen. Das Verdienst dieses Werkes gebührt hauptsächlich Hugo Kollontay, der
von Ignaz Potocki in die Verfassungsdeputation war berufen worden.
ES
erndtete im Auslands vielfachen Beifall, Burke Si^yeS und viele Andere sprachen von ihm in den lobendsten Ausdrücken.
Ein Borwurf freilich,
den diese nicht erhoben, donnerte bald von allen Seiten gegen die Con stitution vom 3. Mai loS und schmetterte sie und den Staat zu Boden: der Vorwurf, über der Heilung des eigenen Leibes die Aerzte vergessen
zu haben, in deren Händen Polen sich befand.
Die Aerzte kurirten den
Kranken rasch in ihrer Weise. Ernst von der Brüggen.
Kritische Streifzüge. VI. Aus der Wertherzeit.
Am Schluß mente« vorigen Streifzugs versprach ich, ans Erich Schmidt'- »Richardson, Rousseau und Goethe" noch einmal zurück zu kommen.
Indeß ist eine neue, sehr interessante Mittheilung au- der
Wertherzeit erschienen: „Goethe'- Briefe an Johanna Fahlmer,
herausgegeben von Urlichs, Leipzig bei S. Hirzel", durch welche die sehr spärlichen urkundlichen Notizen aus jener Zeit eine willkommene Ergän
zung finden.
Diese und andere Quellen veranlassen mich, über die Ge
schichte de» Werther Einige- nachzuholen. Daß im „Werther" Biele- au- der „Neuen Heloise" durchklingt,
war allgemein bekannt; Erich Schmidt hat sich nun mit großer Gewissen
haftigkeit und Sorgfalt der Aufgabe unterzogen, die Beziehung der beiden Romane zu einander, den Einfluß des einen auf den andern im Detail
zu untersuchen.
Biele Freunde und Verehrer der Dichtkunst sind einer
solchen Analyse abhold, und sie ist auch nicht für Jedermann; nicht Jeder, der sich an einem aufblühenden Baum erfreut, wird eS gern haben, wenn man ihn anschneidet, um den Zusammenhang des innern Organismus zu
entdecken.
Gleichwohl hat so etwas einen großen Nutzen.
Die Wissen
schaft der Geschichte ist erst recht aufgeblüht, seitdem man der Filiation der Ideen ernsthafter nachgeht: die Filiation der Bilder und Vorstellungen
hat daS nämliche Interesse, und ebenso, waS damit enge zusammenhängt, die Einwirkung der Empfindungö- und Ausdrucksweise des einen Volks auf da- andere.
Je sorgfältiger man das Einzelne sammelt, prüft und
vergleicht, desto höher steigt der Werth der Arbeit.
Man glaube ja nicht, daß der unmittelbare Eindruck des Kunstwerks
darunter leide.
WaS Erich Schmidt von der Einwirkung der „Neuen
Heloise" ans den „Werther" sagt, ist Alles voNommen richtig, aber nun
lese man die beiden Bücher hintereinander, und man wird erstaunen, wie ungeheuer der Werther gewinnt.
Goethe hat von Rousseau sehr viel ge-
33*
Kritische Streifzüge.
484
lernt, aber als Künstler hat er ihn in einer Weise überboten, daß man
eigentlich aus dieser Vergleichung erst recht das volle Maaß seiner Größe gewinnt. Nach dieser Seite hin kann Schmidt'S Arbeit als fertig betrachtet werden, als etwas, was nicht zum zweiten Mal angefangeu zu werden
braucht, und ich darf den Leser auf das Buch verweisen; dagegen will ich
versuchen, ihn nach andern Seiten hin zu ergünzen. Wie Joung'S „Nachtgedanken" auf ihn gewirkt haben, hat Goethe in
„Wahrheit und Dichtung" selbst bekannt: nicht sowohl auf die Conception
deS Romans, als auf die. Gemüthsstimmung,
wurde.
von welcher er getragen
Eine andere ebenso wichtige Quelle für diese Stimmung war
Klopstock: die begeisterte Feier dieses Dichters im Roman bei Gelegenheit einer Frühlingsstimmung spricht den Dank dafür auS.
Die Liebe, wie sie im „Werther" geschildert wird, und wie sie die
damalige Jugend biS zu einem Wärmegrad elettrifirte, von dem wir heute
kaum einen Begriff haben, ist, so viel ich die Literatur übersehe, keine specifisch deutsche Erscheinung; ich meine diejenige Art Liebe, durch welche
von dem Besitz der geliebten Person die völlige Existenz abhängig gemacht wird, welche daS ganze Sein des Menschen ausfüllt.
Das Bild der Liebe
geht unS Deutschen mehr in der Art unseres Martin Luther auf: wir denken sie uns gern am Familientisch, unter Kindern, zum Weihnachts baum, alS Sonntagöstimmung, die wesentlich zum Gehalt der Werkeltage gehört, aber doch denselben nicht ersetzt.
An Geschichten unerlaubter Liebe
fehlt es in der deutschen Literatur gar nicht, aber sie wird in der Regel
leichtfertiger behandelt. So äußerst verschiedene Figuren wie Günther und Christian Weise legen Zeugniß dafür ab: jener durch die Art des Wechsels in feinen Leidenschaften, dieser durch den Spott gegen die schrankenlose Leidenschaft überhaupt. Bei den romanischen Völkern ist es anders.
Schlagen wir eine be
liebige Novelle von Cervantes auf, denn das Motiv wiederholt sich: bei
dem Eintritt eines LiebeSunglückS hat der Liebende durchaus nicht nöthig, nach der Pistole zu greifen; er fällt hin und ist auf der Stelle todt, der
Schmerz hat ihn getödtet.
Das wird ganz einfach erzählt, es wird also
vorausgesetzt, das Publicum werde sich wohl dafür interessiren, aber nicht weiter besonders wundern.
Und es ist ein populairer Dichter, der so
schreibt: bei den spätern Hofdichtern wie Calderon ist die Couvenienz be reits so fest gestellt, daß die Liebe, so leidenschaftlich sie sich vorher ge bärden
mag, beim Eintritt der Katastrophe sich
sofort und unbedingt
subordiuirt. In der italienischen Poesie bieten sich zahllose Beispiele; von der
französischen erwähne ich nur „Manon LeScaut", ein Menschenalter vor dem Werther: in welcher die Allgewalt der Liebe mit einer solchen Para
doxie auf die Spitze getrieben ist, daß Werther lange nicht hinanreicht. Shakespeare hat im Ausdruck dieser Leidenschaft wie im Ausdruck aller
Leidenschaften das Größte geleistet, aber nicht ohne Grund verlegt er jedes Mal die Scene nach Italien oder sonst in ein südliches Klima. In Deutschland nun war durch Klopstock ein großer Umschwung er
folgt.
Seine Liebesgedichte an Fanny fanden gewaltigen Wiederhall unter
der Jugend, und er sorgte durch Briefe dafür, das Gefühl der schmerz
haften Entbehrung als etwas höchst Merkwürdiges und Bedeutendes seinen Anhänger^ und Freunden einzuprägen; die Briefe an Fanny selbst sind
freilich erst neuerdings veröffentlicht.
Da- Neue bei Klopstock ist nicht die
Liebe an sich, sondern daß die Liebe überhaupt und namentlich die unglück liche Liebe als ein eminent sittliches Motiv aufgefaßt und mit Feierlichkeit behandelt wird, als etwas, was den Menschen verkläre, ihm einen Heili
genschein gebe, ihn über die Gemeinheit des Lebens hoch hinaus führe. In diesem Sinn wirkte auch der „Werther" in der durch Klopstock vorbe
reiteten Jugend.
Man betrachtete den Roman nicht als eine gut, wahr
und rührend erzählte Geschichte, als die treue Beobachtung eines singulären
Falls, sondern als ein Ideal: so müsse der hohe echte Mensch empfinden, und wer nicht so empfinde« könne, sei kein echter und hoher Mensch. Zeugniffe von dieser Wirkung haben wir zu Tausenden, und ich glaube,
däß Goethe selbst unter denn Wiederhall solcher Stimmungen allmählich sein Werk anders auffaßte, den Schlüssen Sir Henry Rawlinsons einverstanden erklären, so
mbient doch das Sachliche und Thatsächliche seine» Werke» allerdings volle und anerkennende Aufmerksamkeit.
Aus seiner Darstellung der in jenen
Gegenden obwaltenden Verhältnisse empfängt man den Eindruck unbe
dingter Verläßlichkeit.
Er kennt die Dinge und Personen genau, hat selbst
sehen und beurtheilen können, und ist erkennbar bis in die neueste Zeit in dauernd beobachtendem Könne; mit ihnen geblieben.
Wenn nun auch nicht
die Eroberung Ost-Indien» durch Rußland, so können doch au» den ge
genwärtig in Affghanistan obwaltenden Verhältnisten Konflikte entstehen, die in ihrer politischen Bedeutung nicht unterschätzt werden dürfen, nament
lich in .einer Zeit,
wo Eisenbahnen schon nach Persien und Kabul hin-
züngeln, und auch für dort eine neue Zeit ankündigen.
Wir wollen also
versuchen, da» Thatsächliche aus den Mittheilungen Rawlinson's zusammen zustellen.
Ein Leitfaden für da» Verständniß und die Beurtheilung kvm-
mender Dinge! —
Ettglarib und Rußland im Orient.
564
Der alte Amir Shir Ali von Affghanistan ist seit einiger Zeit un zufrieden mit seinen englischen Alliirten.
Was diese Stimmung eigentlich
erzeugt, ist bei einem Asiaten nicht leicht zu ergründen. die Beobachtung Russischer Thätigkeit
im Vergleich
Zunächst wohl
mit der brittischen
Lässigkeit — Rawlinson loquitur — Für ihn mag eS unbegreiflich ge
wesen sein, daß England sich unthätig in seinen alten Grenzen hält, wäh rend Rußland Jahr für Jahr eine Eroberung nach der anderen mache.
Er konnte also nur glauben, daß England der schwächere Staat sei.
An
derseits lieben asiatische Herrscher es gleichzeitig mit beiden Parteien zu halten, und so mag Shir Ali, wie sein Sohn Jacub, seine Blicke ebenfalls nach zwei Seiten auSgeworfen haben.
Erwiesen hat Shir Ali mit dem
General von Kaufmann korrespondirt, und es ist nicht unmöglich, daß mit
der Zeit ein Russischer Agent seinen Sitz in Cabul, oder an irgend einem andern Punkte Affghanistan'S aufschlägt.
dete Beschwerden gegen England.
Shir Ali hat aber auch gegrün
Lord Mayo hatte ihm seiner Zeit die
unbegrenzte Unterstützung Englands zngesagt, und der Amir verlangte eine solche zur Zeit, als die Annäherung der Russen durch das Land der Turk
menen ihn gründlich beunruhigte.
So sah er sich denn gewaltig ent
täuscht, als ihm geantwortet wurde, daß man sich die Beurtheilung des
Zeitpunktes müsse.
und des Umfanges
einer solchen Unterstützung Vorbehalten
„Hat er doch schon einen alten Groll gegen uns, — und zwar wie
viele meinen, nicht ohne Grund —, schon aus der Zeit der Kämpfe mit seinen Brüdern, welche unsere zögernde Politik verlängerte.
Schon damals
mußte er die Engländer für seine Erbfeinde halten, welche in sein Land
eingefallen, und seine Familie verbannt hatten. Hofes
Priester und Edle seines
sahen stets mit tiefer Feindlichkeit auf alle Engländer. — Motz
dieser gereizten Stimmung hat sich Shir Ali bis jetzt stets würdig, wenn auch
verschlossen gegen uns betragen,
und
hat weder Borwürfe noch
Drohungen laut ausgesprochen."
Daß er seinen jüngeren Sohn Abdullah Jan statt des älteren Ja
cub Khan zu seinem Erben erklärt, mag nur Familien-Einflüssen zuzu schreiben sein, und daß er Jacub Khan verhaftet hat und eingekerkert hält, mag mehr eine Folge seines Gefühls persönlicher Unsicherheit, als die Absicht gewesen sein, England beleidigen zu wollen.
Jacub Khan war
entrüstet, daß sein Vater ihm sein Erbe nehmen wollte, und ihn auch mit Absetzung von seinem Posten als Gouverneur von Herat bedrohte.
So
erneuerte er denn seine Intriguen mit Persien, welche auch schon früher daS Mißfallen seines Vaters hervorgerufen. Vor allen Dingen muß man
bei diesem Streite in der Herrscherfamilie, — dessen Ausgang Niemand vpraussehen kann, — beachten, daß Affghanistan keine zusammengehörige
und zusammenhängende Monarchie ist und eS nie sein kann,
denn die
Nation besteht aus einer Menge von einzelnen Bolköstämme» von ganz
ungleicher Kraft und von einander abweichenden Gewohnheiten, die nur
von dem Charakter und der Fähigkeit ihres Herrschers zusammengehalten werden.
DaS Gefühl der Vaterlandsliebe, wie es Europa kennt, existirt
dort nicht, weil eben keine gleichgeartete Nation existirt.
ES ist dem Aff-
ghanen ganz gleichgültig, ob sie von Engländern, Russen, Persern oder Durani'S beherrscht werden und eS läßt sich auch in der That kein ir
gend stichhaltiger Grund auffinden, weshalb Herat und Candahar gerade
zu Cabul gehören sollen.
Herat ist z. B. von Stämmen bewohnt, die
nicht das Geringste mit den eigentlichen Affghanen gemein haben, Jam-
schidiS, EhmakS und HazareHS. und Türkens
In Candahar dagegen Perser, TaShier'S
Die eigentlichen Affghanen sind durchgängig Widersacher
der Engländer und Gegner jeder Verbindung mit ihnen.
Es hat nie in
unserem Interesse gelegen, die Uebelstände affghanischer Mißverwaltung allgemein
bekannt werden zu lassen, ganz
im Gegensatze zu Rußland,
welches stets die Unordnungen in den Usbeghischen Khanaten und in den
Turkomannischen Steppen öffentlich bekannt macht. Beschwerden
genug gegen Affghanistan.
Und doch haben wir
Der BolLn
und
der Keiber-
Paß waren lange vollständig unserem Handel verschlossen; Raub, Ueberfälle, Verwüstungen an unseren Grenzen waren ebenso häufig, als an
der Grenze Rußlands gegen Chiwa.
Wir wollten aber eben keinen Grund
zur Einmischung haben und anerkennen, weil unsere Politik verlangt, daß
wir an unserer Grenze einen starken, unabhängigen und freundlich für uns gesonnenen Staat haben.
DaS hat aber auch sein Maaß.
Einen un
ruhigen, in sich zerriffenen, uns feindlich gesinnten Staat dürfen wir an unseren Grenzen nicht leiden! —
Wenn
wir die Sicherheit hätten,
daß Rußland innerhalb seiner
jetzigen Grenzen bleibt, und nicht weiter als nöthig vordringt, um diese Grenzen zu schützen, so könnten wir in Frieden unsere Hände falten und uns weder um Kaschgar,
noch
um die Turkmenen,
das drohend unruhige Cabul bekümmern.
noch endlich um
Aber die schon gemachten Er
fahrungen belehren uns, daß es eben Thorheit wäre, sich auf solche
Möglichkeiten zu verlaffen.
Rußland ist nun einmal die Macht, welche
unsere Ruhe verscheucht und unS zwingt, uns auf die unruhigen Waffer des politischen Kampfes zu begeben.
Mag es nun durch Absicht oder
zufällig fein, so ist doch das stetige Vordringen Rußlands gegen Indien unzweifelhaft; und wir müssen unS daher auf einen Zusammenstoß vor
bereiten.
Eine neue Expedition gegen die Turkmenen bringt die Russen
unvermeidlich nach Merw.
Der gewöhnliche Weg in ähnlicher Lage wäre,
England und Rußland im Orient.
566
zunächst Erklärungen zu verlangen, und dann zu protestiren; da wir aber sehr wohl wissen, daß wir die Mittel nicht besitzen, den Vormarsch russi scher Truppen wirksam zu verhindern, so wäre es weder klug noch wür
dig, auS einem Gewitter einen „brutum sühnen“ zu machen. Wir könnten vielleicht durch Persien daS russische Vordringen gegen Merw verhindern
oder anfhalten; aber das wäre sehr kostbar und die Wirkung doch unge wiß.
Bor allen Dingen würde eS uns aber zur Unterstützung Persiens
gegen irgend einen folgenden Angriff verpflichten. Wir haben uns daher, nach meiner Ansicht, vor allen Dingen über
die Prinzipien unserer Politik klar zu werden, die wir für die Zukunft in Central-Asien befolgen wollen; dann aber darüber zu wachen, daß diese
Politik unter unserer Controlle und soviel alS möglich in unseren eigenen Händen bleibt.
Früher gab eS Politiker — ich weiß nicht, ob sie jetzt noch so den ken, — welche eine in Indien eingedrungene russische Armee Indus bekämpfen wollten.
erst am
Ihr erstes Argument war, daß, je weiter die
Russen vordringen, je mehr entfernen sie sich von ihren HülfSquellen und je mehr würden sie von der dann erwachenden Feindlichkeit der Volks-Stämme
zu befürchten haben, über die sie zertretend hinwegschreiten müßten, um bis zu uns zu gelangen, während wir immer die See und unsere Flotten als
Operationsbasis, unsere Magazine, DepötS und Borräthe stets in der Nähe
haben würden.
Nur schade,
daß dieses Calcul den entmuthigenden ja
geradezu vernichtenden Umstand deS
moralischen Eindrucks außer
Acht
läßt, die unser Abwarten und unsere Unthätigkeit auf die Hindu-Bevölle-
rung hervorbringen würden, wenn diese sieht, daß wir unsere schönen und
blühendm Provinzen von
jenen barbarischen Horden
verwüsten lassen,
welche stch beutegierig unfehlbar an die Fersen einer europäischen Armee hängen würden, und daS würden dieselben wilden Reiter sein, die einst dem Nadir Shah nach Delhi folgten. Wir müssen eS also als abgemacht betrachten, daß wir nicht so lange warten, bis man uns angreift — denn in einem solchen Falle würde
die Gefahr in unserm Rücken noch viel größer sein, als die vor unserer Front — und eS fragt sich daher nur noch, welches ist
der Punkt, auf dem wir mit dem Feinde zusammentreffen, und von dem aus wir zu Rußland sagen: „So weit sollst Du gehen, aber nicht weiter!“ An unserer Nordgrenze hat sich Rußland selbst eine Grenze — die OxnSLinie — gesetzt, die allerdings nach den neuesten Abmachungen nicht über
schritten werden darf. Aber von jener Seite droht Indien auch keine Gefahr. Die OperationSbasiS für ein europäisches Heer liegt nicht im Norden durch
den Hindu-Kuöh nach Cabul, sondern im Nordwesten durch Merw, Herat
und Candahar für diese Linie hat noch keine Uebereinkunft stattgefunden, denn jede Abmachung könnte England
und daS ist vielleicht recht
gut,
binden und Rußland doch
noch freie Hand lassen.
Also
keine Unter
handlungen über ein weiteres Vorgehen Rußlands, sondern verhindern,
daß die Russen Merw besetzen und unS entschließen, daö MurghLl Thal,
alS den zugänglichsten Weg vvn Merw nach Affghanistan vertheidigen zu wollen!
Die Leichtigkeit, von Merw auS Herat zu nehmen, ist so flagrant
und die Folgen eines solchen Handstreichs würden so entscheidend für Indien seht, daß man es allerdings überlegen sollte, ob der russischen Besetzung
der einen, nicht sofort die englische Besetzung der andern Stadt folgen
müßte.
Sollte die
oder zwei Jahre
CrisiS noch ein
hinquSgeschobev
werden, so werden die Wolken, welche jetzt über Cabul hängen, sich wohl verzogen haben und Shir Ali dann wahrscheinlich.sehr zufrieden sein, wenn
der „Schlüssel Indiens" sich in den Händen einer britischen Garnison befindet.
Einigen unserer indischen Staatsmänner —- besonders solche, welche in
der modernen Schule eines politischen Puritanismus
erzogen worden
find, -7- wird freilich die Besetzung Herats durch brittische Truppen als ein wilder und ausschweifender Gedanke erscheinen.
Sie werden Visionen
von ermordeten Gesandten, eingekerkerteu Ladies, aufgeriebenen Regimentern,
die Ehre Englands in den Staub gitreten, Niederlage, Banquerutt und Ruin haben.
Absurditäten
Es
—
ist aber
der
wirklich Zeit,
abgestandene
Zeit der Schreckgespenster,
daß alle dergleichen kindische
Bodensatz einer
vorübergegangenen
Ich denke wahrlich nicht gleich
aufhören!
gültig gegen die schwerwiegende Bedeutung des Schrittes, den ich Vor schläge,
uUd bin nicht taub für die mancherlei Bedenken,
die gegen die
Aussendung einer brittischen Armee in die Nord-Indischen Gebirgspässe,
gegen die ungeheueren Kosten und gegen daö Wiederaufleben von jetzt
ruhenden Feindseligkeiten mit Persien und Cabul erhoben werden können. Aber in militärischer Hinsicht würde eine Bewegung gegen Herat eine sehr
leichte Aufgabe sein.
Schließt sich der Amir von Cabul, im Interesse
seiner eigenen Vertheidigung, an uns an, so würde der Vormarsch von
Seindo aus über Quetta und Candahar nach Herat, nur eine „militärische Promenade" sein.
Die Entfernung von Scinde nach Herat ist wesentlich
geringer als die von Orenburg nach Chiwa, oder vom Kaspi See nach Merw, unser Weg reich an Lebens- und Beförderungsmitteln und die etwa
auf unserem Marsche zu überwältigenden Volksstämme nicht so gefährliche Gegner als Kirghisen und Turkmenen.
seiner jetzigen Verkehrtheit beharren,
und
Sollte der Amir Shir Ali in
unserm Marsche
nach Herat
Schwierigkeit oder Mißtrauen in unsere Absichten entgegensetzen wollen,
England und Rußland im Orient.
568
so werden unsere Vorbereitungen für den Marsch freilich umfänglicher getroffen, oder eine Expedition gleichzeitig nach dem Keiber Passe gemacht werden müssen.
Nach meiner Schätzung würden 10,000 Mann, — der
größte Theil natürlich Europäer, — dazu genügen; 5000 für die Garni son von Herat; 3000 in Candahar; 1000 müßten in Quetta und Piöhin
bleiben um die Verbindung mit dem Süden zu erhalten; 1000 müßten in Girishk und Farreh vertheilt werden, um Candahar bis Herat zu besetzen. Cabul selbst zu besetzen, würde ich nicht vorschlagen, ebensowenig,
daß wir uns in die inneren Angelegenheiten Affghanistan's mischen.
Im
Gegentheil müssen wir Alles Mögliche thun, um den Affghanen die Ueber
zeugung beizubringen, daß eS sich für uns nicht um Eroberungen oder Vergrößerung, sondern um eine Vertheidigung unseres Besitzes handelt, die uns durch die aggressive Haltung Rußlands aufgezwungen worden ist. Will der Amir Shir Ali in dieser Politik mit uns gehen, unS die HülfSqnellen
West-Affghanistan'S zur Disposition stellen,
Herat zu fördern, — wie dies bei unserer
um unsere Expedition nach
früheren Operation gegen
Herat der Fall war, — so würde keine Nothwendigkeit für unS vorliegen,
aus in die gewöhnliche Civil-Verwaltung deö Landes zu mischen oder an ders zu verfahren, als bei zeitweisem Aufenthalte in Freundes Land.
Die Beamten des Amir würden dann wie gewöhnlich die Steuern einziehen und die Ruhe aufrecht erhalten, um unseren Requisitionen zu genügen, uns also wie eine HülfStruppe behandeln.
Sollte ein solches
Verhältniß aber Reibungen oder Unordnungen erzeugen, nun so könnten
wir daS Land für die nöthige Zeit selbst in Verwaltung nehmen, und dem
Amir eine liberal zugemessene Rente zahlen; die unS unentbehrlichen Distrikte aber durch englische Beamte verwalten lasten.
Ich kann wirklich keinen
Grund finden, daß wir bei einem solchen Abkommen und Verfahren nicht
gute Freunde mit dem Amir und seinen Affghanen bleiben sollten? Unsere Gerichtsbarkeit würde sich nur auf die Distrikte zu beiden Seiten unseres Marsches und unserer Verbindungslinie beschränken, also Shawl, PiShin,
die Ebene von Candahar, die untern Thäler des Turnuk und des Ar-
gandab, Girischk, Jamln-Dawer, Farreh, Sabzar und den fruchtbaren
Theil von Herat.
Dagegen würde der Amir die Herrschaft über daS
ganze übrige Affghanistan, von Mhmench bis Wakhan, von Ketel-i-Ghilzhe
bis an den Keiber behalten, und zum erstenmale feit er zur Herrschaft gelangte, einen ganz hübschen Ueberschuß über seine Einnahmen von Can dahar und Herat in seine Tasche stecken können.
Wohin eine solche Besetzung Herat'S führen kann, ist freilich nicht
abzusehen.
Rußland könnte möglicherweise vor einem Contakt
mit unS
zurückschrecken; oder wir könnten unS Beide in eine angemessene Entfernung
von einander zurückziehen, oder endlich die Russen in Merv» und wir in Herat uns dauernd festsetzen! Rußland könnte seine Mittel auf dem OxuS
oder auf dem KaSpi See an sich ziehen und wir durch eine Eisenbahn Candahar mit dem Indus verbinden, und so auf der ganzen Linie sich eine
gute Grenznachbarschaft herausbilden, die doch das Ende aller Vorgänge
in Central-Asien fein muß, wenn Rußland und England ihre Herrschaft gleichzeitig in Asien aufrecht erhalten wollen.
Wenn Rußland wirllich Absichten auf Merw hätte, so kann dies nur eine feindliche gegen uns fein! maßregeln
treten.
Für bloße Handelsvortheile oder Polizei
wird kein Staat in eine so gefährliche Unternehmung
ein
Nur Zwecke von höchster politischer Bedeutung könnten sie recht
fertigen und ein solcher Zweck würde allerdings der Besitz von Herat sein. Jede Enropäische Macht aber, di« Merw hat, hat sehr bald auch. Herat,
und von Herat aus würde allerdings Indien ernstlich bedroht fein.
Herat
besitzt natürliche Vortheile von ganz auSnahmSweifer Bedeutung.
Es ist
die Grenzstadt zwischen Persien und Indien, ist durch Heerstraßen mit den
Hauptstädten aller seiner Nachbarländer verbunden, mit Cabul über die
Hazareh Höhen, mit Balkh und Bocchara über Mhmench, mit Chiwa über Merw, mit Mesched, mit Dezd, mit Iopahan, mit dem Seistan und mit Candahar.
ES hat ein herrliches Clima und liegt in der Mitte eines der
fruchtbarsten und bevölkertsten Thäler ganz Asiens. Die Stadt Herat selbst ist mit Erdwerken befestigt und zwar von riesenhafter Form und Ausdehnung, welche noch auS vorhistorischer Zeit
stammen und durch die Hinzufügung moderner Fortifikationen unnehmbar für jede asiatische Armee gemacht werden können.
Rußland im Besitz von
Herat würde stets die Hand an der Gnrgel Indiens haben, weil der Be sitzer von Herat sofort über alle militärischen HülfSquellen Persiens und AffghanistanS verfügen kann, uns also zwingen würde, unsere Armee im
Norden Indiens, um wenigstens 20,000 Mann zu verstärken.
Sieht man
die Lage der Dinge also auch nur aus finanziellem Standpunkte an, so
würde unser Ueberschreiten der Gebirgspässe und unsere Besetzung von Herat, jedenfalls die wohlfeilste Versicherung gegen Rußland sein, die nur unserem indischen Staatswesen zu Gute kommen würde.
Alle diese Verhält
nisse sind übrigens schon einmal von unseren Staatsmännern reiflich erwogen
worden als die Lage sehr viel weniger bedeutend war; damals, als Persien Herat besetzen wollte.
Wir sandten 1838 eine ansehnliche Expedition in
den persischen Meerbusen, um das persische Heer zur Aufhebung seiner
Belagerung der Stadt Herat zu zwingen und als 1856 dessenungeachtet persische Truppen diese Stadt besetzten, führten wir einen wirklichen Krieg
mit dem Schah, nur um ihn zum Znrückziehen seiner Armee zu veran-
kaffen.
Wenn aber so nachdrückliche Maaßregeln schon damals gerecht
fertigt erschienen, wo eS nur darauf ankam, die westliche Hauptstadt AffghanistanS davor zu schützen, daß sie nicht dauernd in die Hände Per
siens fiel,
— und Persien ist doch immer nur der Mineur und Vor
läufer von Rußland, — so sollte man sie doch viel umfänglicher anwen
den, wenn diese Gefahr von Rußland selbst droht!
Ich will mir nicht
herausnehmen, die Kosten einer solchen Expedition nach Herat zu berech Jeder Kosten-Anschlag, der sich nur auf die ungewissen Daten
nen.
stützen wollte, die man bis jetzt übersehen kann, würde sehr trügerisch ausfallen.
Aber allerdings kann ich darauf Hinweisen, daß die Ausgaben,
die wir für unsere Defensiv-Stellung — mögen sie so groß sein, wie sie wollen, — machen müßten, nicht so bedeutend sein würden, als diejenigen, zu denen Rußland bereit sein muß, um sein wohlüberlegtes System des
Angriffs vorzubereiten und durchzuführen.
Denn hat sich Rußland erst
in Merw festgesetzt, und seine Verbindung dieses Platzes mit dem KaSpi-
See im Westen, und dem OxuS und Turkestan im Norden gesichert, so
hat eS 50,000 Mann an unserer Grenze, — und wenn auch die USbeghen-Länder wenig oder nichts zu ihrem Unterhalt beitragen, so wird
diese Armee jedenfalls eine Drohung für Indien sein. ES ist aber da noch ein anderer Punct, welcher der Verständigung bedarf.
Einige unserer besten Autoritäten in Central-Astatischen Dingen
behaupten, wir würden eine eben so ungeheure als nutzlose Verschwendung begehen, wenn wir Rußland schon jenseits der Gebirgspässe entgegen ge hen wollten, und die Schwierigkeiten unserer Posttion dadurch mindestens
verzehnfachen.
Sie glauben, daß wir überall auf Haß und Widerstand
stoßen, und die Affghanen selbst in die Arme Rußlands treiben würden, so daß die Russen nicht als Eindringlinge Widerstand finden, sondern als
Befreier begrüßt werden dürften.
"Meine eigene Erfahrung spricht aber dagegen und wird auch von den neuesten Reisenden in jenen Gegenden bestätigt z. B. in dem Buche
von Dr. Bellew:
„From the Indus to the
Tigris.“
Dr. Bellew von den Bewohnern CandaharS sagt:
S. 143, wo
„Die Unzufriedenheit
deS Volkes ist allgemein und manches stille Gebet wünscht die baldige
Rückkehr der Engländer, mancher Seufzer beklagt, daß sie das Land über haupt je wieder verlaffen haben. Die gerechte Behandlung und die Mensch
lichkeit, die Sorge für verlaffene Kranke und Arme, welche die Engländer
bewiesen, der Reichthum, der sich während ihrer Anwesenheit über das ganze Land verbreitete, das Alles lebt in der Erinnerung und macht den
Wunsch nach unserer Wiederkehr um so lebhafter.
DaS ist keine über
triebene Schilderung und spricht für den wohlwollenden Charakter unserer
kurzen Herrschaft in Candahar, die doch eigentlich nur eine vorübergehende
militärische Besetzung des Landes war.
Noch mehr tragen zu dieser
Stimmung in Candahar die Berichte bei, welche Kaufleute, die aus In
dien znrückkehren, von unseren Zuständen dort machen.
Die neu entdeck
ten Goldfelder zu deren Ausbeutung den Affghanen jedes Geschick und
alle Mittel fehlen, könnten übrigens in unseren Händen und von brittischen Ingenieuren bearbeitet, leicht unsere Expedition nach West-Affghanistan bezahlen."
So Dr. Bellen».
Als mögliche Feinde betrachtet, sind übri
gens die Affghanen des Westen» geradezu verächtlich, und wenn wir un»
allenfalls eines Gefechtes im Bolan oder Khojer Paffe versehen, werden wir den ganzen Weg von Scinde bis Herat ungehindert zurücklegen kön
nen.
Die ShndS von PiShin, die AtschikzieS am Khojer, welche selbst
1841—=42 während böser Zeit zu uns hielten» die Parfiwan-Bauern von Candahar, so
wie die Kaufleute und Ackerbauer
deS ganzen Landes,
würden Alle zu uns halten, Schutz und Unterstützung bei uns suchen.
Nur von den Priestern und einigen Durani Häuptlingen werden wir nicht» Gutes zu erwarten haben.
rigkeiten bei
Jedenfalls würden wir nicht größere Schwie
unserer Okkupation von Candahar und Herat zu besiegen
haben, al» die Ruffen in Taschkend und Samarkand! —
Zum Schluß muß ich nur noch sagen, daß ich weder etwas Ueber-
eilteS, noch Unreifes Vorschläge.
Wenn Rußland am Kaöpi-See Halt
macht, so brauchen wir auch das Indus-Thal nicht zu verlaffen.
So
lange Rußland nicht nach Merw geht, so lange brauchen wir nicht nach
Herat zu gehen.
Wirft Rußland uns aber überlegt den Handschuh hin,
so müffe» wir ihn freilich aufnehmen. Als Wächter der Interessen In diens dürfen wir nicht leiden, daß Rußland unter dem Vorwande, die Turkmenen zu bändigen, oder sich eine Handelsstraße durch ganz Asien zu eröffnen, eine Stellung am Murghab einnehme, welche die Sicherheit Herat'» bedroht.
Herat ist strategisch wie politisch
ein unentbehrliches
Bollwerk für Indien, und wir können weder, noch dürfen wir zugeben, daß sein künftiges Schicksal in der Gewalt einer fremden Macht ist."
Wir haben den Autor in voller Unparteilichkeit selbst reden kaffen;
hat er doch gewiß in der Diagnose nach vielen Richtungen hin Recht, und es ist ja auch möglich, daß der Verlauf der Dinge ihm auch ferner Recht giebt; immer aber machen seine Argumente den Eindruck einer vorgefaßten
Meinung, für die er sich Alles zurechtlegt, gegen die er keinen Zweifel gestattet, und in welcher er vollständig aufgegangen, — wir wollen nicht
sagen — verrannt ist, und zu deren Unterstützung und Vertheidigung er
England und Rußland im Orient.
572
schon durch seine früheren Prophezeiungen gezwungen wird. In der That beruhen seine sämmtlichen Deduktionen fast durchgängig auf Trugschlüssen, deren Basis eine falsche ist. Wenn er sagt: „AlS Wächter der Interessen
Indiens dürfen wir nicht leiden, daß Rußland unter dem Vorwande, (pretext) die Turkmenen zu bändigen, oder sich eine Handelsstraße durch ganz Asien zu eröffnen, Herat bedroht."
Nun sind aber die Engländer
zunächst Wächter ihrer eigenen brittifchen Interessen, wie eS die Indier ihren indischen Interessen sind, und diese indischen Interessen gipfeln nur
in dem Einen Punkte, sich der englischen Oberherrschaft zu entledigen. Daß eine solche Tendenz, ein solches Streben dort vorhanden ist, darüber
sind alle, irgend Vertrauen verdienende Stimmen einig, und es ist ja auch das ganze Buch Rawlinsons weniger ein Angriff gegen Rußland als eine
Präventiv-Maaßregel gegen den Abfall Indiens!
ES ist kein bloßer Vor
wand, wenn die Russen sich gezwungen sehen, die Turkmenen zu bändigen,
sondern eS ist eine sittliche, eine sociale, eine nationale und darum poli
tische Nothwendigkeit!
ES ist kein Borwand, wenn Rußland sich eine sichere
Handelsstraße durch Asien bahnen will, sondern eS ist das Lebensbedürfniß
eines Staates mit 80 Millionen Unterthanen, dessen Handel, Industrie und Verkehr sich in einem allgemeinen, wenn auch von England mit einiger Scheel
sucht anerkannten Aufschwünge befindet. Auf das Wort „Vorwand" hin läßt sich allerdings eine ganze Reihe von Trugschlüffen bauen, so wie ganze Ex
peditionen organisiren, und jeden Wechselfall, dem sie begegnen möchten, im Voraus unschädlich machen.
Aber ganz dieselben „Vorwände" lassen
fich auf die Beziehungen Rußlands zu Japan, zu China und zu Persien, ja, gegen Klein-Asien anwenden, und theoretisch sind ja daS höchst inter essante Aufgaben für GeneralstabS-Probe-Arbeiten, oder für Leitartikel
größerer Organe der Tagespresse; aber in der Praxis sehen die Dinge denn doch wesentlich anders aus, und wir glauben, man rechnet unter
allen Umständen falsch, wenn man die russische StaatSkunst und Diplomatie für ungeschickt hält.
Eine solche Eroberung Indiens, gleichviel ob in teilt
militärischem Zuschnitt, oder als des Löwen Antheil bei Unterstützung eines
Aufstandes der Indier gegen die brittifche Herrschaft, wäre aber in der That etwas Ungeschicktes!
Dergleichen bei Russischen Staatsmännern vor-
auSzusetzen, dazu haben die merkwürdig stetigen Erfolge ihrer Politik im
ganzen XIX. Jahrhundert Niemandem ein Recht gegeben. Eine besonders verdienstliche Seite hat die Arbeit Rawlinson'S in der
großen Offenheit, mit welcher er — theils sogar aus eigener Erfahrung,
—
die von der englischen und englisch-indischen Regierung begangenen
Fehler in der Behandlung Persiens, der indischen Vasallenstaaten, u. s. w. bespricht; für ein Mitglied des Councils of India eine Bestätigung der Be-
Häuptling, daß er sich trotz seiner amtlichen Stellung vollkommen unabhän
gig fühlt.
Ob ihm dies grade die Bewunderung seiner Collegen, — der
andern „MemberS, assembled in Council" — verschafft hat oder verschaffen wird,
ist eine Frage, die sich nach continentalen Begriffen von amtli
cher Wirksamkeit und Verpflichtung doch nicht unbedingt bewundernd be
antworten lassen dürfte, mit welcher die historische und politische Literatur
und ihre Kritik nicht abzurechnen hat, die im Gegentheil sehr dankbar dafür sein muß, daß ihr ein so reiches Material zur Disposition gestellt wird.
Rawlinson selbst sagt in der Vorrede (Preface VIII) von seinem Essay: „Der Zweck nicht allein seines letzten Kapitels sondern deS ganzen Buches ist die Feststellung des
Prinzips, daß,
wenn Rußland gewisse
Grenzen in seiner Annäherung an Indien überschreitet, ihm ein bewaffneter
Widerstand entgegengesetzt werden muß; selbst auf die Gefahr hin, einen Krieg zwischen beiden Ländern dadurch hervorzurufen."
Mit aller Achtung vor der schriftstellerischen und staatsmännischen
Bedeutung des Verfassers, können wir doch die Bemerkung nicht unter drücken, das solche Arbeiten wohl in den Carton für KriegS-Eventualitäten
des Councils of India oder des UnterstaatS-SekretairS für Indien, aber nicht, oder doch wenigstens noch nicht, in die Oeffentlichkeit gehören.
Ein
Buch, daß für englische Intereffen geschrieben auch in Rußland, in Persien, in der Türkei und vor allen Dingen in den indischen Vasallenstaaten ge
lesen werden kann, tritt vollbewußt aus dem Kreise wiffenschaftlicher Auf gaben und Behandlung heraus,
und
beansprucht nur die Ehren einer
politischen Brochüre, setzt sich dann aber auch der naturgemäßen Contro-
verse aus.
Für Deutschland liegt das Interesse an dem eigentlichen Gegenstände der Rede und Gegenrede
räumlich allerdings sehr fern; politisch aber
nahe genug, wegen der Gruppirungen deS Für und Wider, welche
sich
sofort auch in Europa gestalten würden, wenn Merw und Herat wirklich
einmal aus dem Rebel der Conjektur', in die Klarheit der Aktualität tre ten sollten, denn Deutschland ist beiden Staaten, England wie Ruß land, aufrichtig befreundet, und hat keinen Grund dem Einen Sieg auf Kosten des Andern zu wünschen, um so mehr, als ein Sieg Englands
an der eigentlichen Lage der Dinge in Central-Asien gar nichts verändern
würde, ein Sieg Rußlands aber die Macht, das Prestige und die Bedeu tung Englands für die ganze civilisirte Welt so gründlich ändern würde,
daß damit der Fall Frankreichs von seiner früheren Höhe kaum zu ver gleichen sein dürste.
Wozu also dieses Herantragen
glühender Kohlen
an den schon vorhandenen fortschweelenden Brand unter der Central-
afiatischen Erde? In beiden Ländern gilt die deutsche TageSpresse in dieser
England und Rußland im Orient.
674
Frage hoffentlich für «npartheiisch.
Möge sie daher unablässig daS ihrige
thnn, um diese immer gehässiger und aufreizender werdende Polemik zwischen
Rußland und England abzuschwächen, und zum Ausgleich, zur Versöhnung
zu mahnen!
Für den Augenblick ist der Angriff leider ausschließlich und
eben so ausgesprochen auf Seiten der englischen Presie.
Nur selten und
wenn der, von den englischen Leaders angeschlagene Ton beleidigend und
zwar bewußt und anscheinend absichtlich beleidigend wird, antwortet die russische Presse.
DaS kann aber kaum noch von langer Dauer sein, denn jedes Ding hat eben sein Maaß, auch russiau Fobearance!
Vor einigen Tagen
nannte Daily Telegraph z. B. alle Serben „Schweinetreiber" und alle Montenegriner „Diebe," weil sie Slaven sind und weil sie zu Rußland
halten. Zu solchen Auswüchsen läßt sich allerdings Rawlinson nicht herab. Das macht aber sein Buch nicht weniger bedenklich.
Ein Schimpfwort
läßt sich verachtend ignoriren. Ein elaborirteö Argument fordert aber zur
Gegenrede heraus. Bis jetzt waren alle Fortschritte, alles Weitergreifen Englands in
Indien Calkül und Jntereffenberechnung; dagegen jeder räumliche Fort schritt Rußlands, ihm von seinen halbwilden Grenz-Nachbarn wenigstens
mit aufgezwungen worden.
Wir halten es für positiv unmöglich, daß Einer
dem Andern ein gebieterisches: Halt! bis hierher und nicht weiter! rnfen oder einen Erfolg davon erwarten könnte;
zu-
aber nicht allein für
möglich, sondern auch für wünschenöwerth, daß beide Staaten sich dort
friedlich erreichen und beide vereint an der großen Aufgabe der Civilisation
Asiens arbeiten. Potsdam, 26. April 1875.
L. Schneider.
Notizen. Dahlmanns Quellenkunde der deutschen Geschichte, welche die
historischen Studien so lange und so wirksam unterstützt hatte, war nach dem Tode ihres Verfassers nicht wieder aufgelegt worden und so veraltet. Bor sechs Jahren veranstaltete Professor Waitz eine neue Ausgabe, welche die verdiente
Anerkennung in so reichem Maße fand, daß er schon jetzt zu einer zweiten Be
arbeitung schreiten konnte. Man spürt die sorgsame und unermüdete Hand des
Verfassers auf jeder Seite, und der Umfang des auch um ein Register ver
mehrten Buches ist erheblich gewachsen; wenn trotzdem hier und da einige Wünsche unerfüllt geblieben sind, so ist dies kein Wunder: denn die Auswahl, welche, unter, einer stellenweise überreichen Litteratur , getroffen wird, kann bis zu
einem gewissen Grade nur subjektiv sein.
Wir erlauben uns ein paar Vor
schläge zu machen, von denen wir annehmen, daß sie auch von andern Forschern
getheilt worden.
Bei den Wörterbüchern dürften Diefenbach und Kehrein, so
wie Lexer mit seinem Kärntener Idiotikon hinzuzufügen sein; bei der Numis
matik Beierleins Werk über baierische Münzen; bei den Chronikensammlungen die Baseler von Bischer und Stern; bei den Urkundenbüchrrn das Breslauer
von Korn; bei den Rechtsquellen die preußischen Gesetzsammlungen, sowohl die
ältere von Mylius als auch die neuere, mit dem Jahre 1810 beginnende; bei den Liedern
die Sammlungen von Wolff, Körner und Uhland.
Die grund
legenden Artikel von G. Schmöller über das preußische Städtewesen
waren
nicht nur hinten, wo sie sich nicht einmal der Typen bevorzugter Werke er
freuen, sondern auch vorn, bei der allgemeinen Städtelitteratur zu erwähnen. Etivas schmal ist der Abschnitt über das Heerwesen ausgefallen; die preußische Armee ist ein so wesentliches Stück deutscher Geschichte, daß sie wohl darauf
Anspruch machen kann, auch hier reichlicher bedacht zu werden.
Man vermißt
Ciriacy und das zum Theil aus den Akten gearbeitete Werk von l'Homme de
Courbiere, ferner Scherbenings Reorganisation der preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden Gerwiens und Waldersees Organisation der Landwehr; Stamm listen und Regimentsgeschichten werden nicht einmal im Allgemeinen erwähnt.
Daß unter den statistischen Werken nicht ein einziges von L. Krug und C. F. W. Dieteriei genannt wird, beweist ebenfalls den nichtpreußischen Ursprung des
Werkes.
Ueberhaupt ist das Mittelalter ungleich reichlicher bedacht als die
Neuzeit: dort hätten wir nur noch die Erwähnung von Walter Alterthümer
der heidnischen Vorzeit in Heffen und Guibal Arnaud de Brescia gern gesehen. Unbescheidener sind wir bei den späteren Jahrhunderten.
Wir würden hinzu
fügen: E. Fischers Abhandlung über Lundorp, bei Khevenhiller noch einen aus drücklichen Verweis auf die Kritik in Rankes Wallenstein, Schmettau über den
Feldzug von 1778, BenzenbergS und MinutoliS Schriften über Friedrich Wll-
helm III, die leider unvollendet gebliebene Biographie Gneifenaus von Fransecky, die Gallerte preußischer Charaktere, Dunckers Aufsatz über die von Preußen
Notizen.
576
gezahlte Milliarde, E. M. Arndt Erinnerungen aus dem äußeren Leben, die
offizielle Schrift: Darstellung des Benehmens der französischen Regierung seit dem Tilsiter Frieden, Ollechs Geschichte der Nordarmee, die offiziellen preußi schen Berichte über den dänischen Krieg von 1848 und 49.
Die französischen
Werke von Bignon, Thiers, Lefebvre u. s. w. durften wohl nicht nur summarisch
erwähnt werden; in der Epoche einer werdenden Universalmonarchie ist die Be
schränkung auf eine nationale Litteratur am wenigsten angebracht.
Störend ist
die Eintheilung der Schriftsteller in gleichzeitige und spätere; methodisch von der
großen Wichtigkeit, zerreißt sie in einer bibliographischen Uebersicht eng Zu
sammengehöriges und ist am Ende auch principiell nicht aufrecht zu erhalten: Sleidans Werk ist eben so gut eine Bearbeitung der Reformaüonszeit wie das
von Ranke.
Gerade bei dieser Periode vermiffen wir Uebersichtlichkeit am
meisten; hier kommt noch die nicht ganz glückliche Distinktion:
„Reformation"
und „die politischen Verhältnisse unter dem Einfluß der Reformation" hinzu, um
die Zersplitterung zu vermehren.
Retzows Charakteristik ist nicht 1804, sondern
schon 1802, Segurs Werk über Friedrich Wilhelm II., dessen Titel auch inkorrekt
angegeben ist, 1800 und nicht 1802 erschienen.
Die „Geschichte der Kriege seit
1792" ist von Schulz und Schütz gearbeitet, Mirabeaus Werk De la monarchie prussienne zum Theil von Mauvillon.
Die Notiz, daß die Werke von Damitz
auf Borträgen Grolmans beruhten, ist mißverständlich; wenigstens über den
Feldzug von 1814 schrieb Damitz das Schacksche Tagebuch ab und obenein recht
schlecht.
M. L.
Während sonst der militärischen Theorie nur ein kurze- Leben beschieden ist, haben sich an den Schriften von Karl v. Clausewitz schon mehrere Gene rationen unsrer Generalstabsoffiziere gebildet, und er trägt somit nicht den ge ringsten Antheil an den Siegen von 1866 und 70. Da außerdem seine Kritik das Urtheil der Nachwelt über ganze Persönlichkeiten und Feldzüge geleitet hat, so war es die Einlösung einer alten Schuld, daß Oberst F. v. Marheimb ihn zum Gegenstände eines Vortrags in der militärischen Gesellschaft machte, der nun auch im Drucke erschienen ist. So weit es in der kurzen Frist einiger Stunden möglich war, ist der Gegenstand erschöpft worden. Der beherrschende Gedanke in Clausewitz' Schriften ist der, daß der Krieg nicht, wie so viele seiner Zeitgenossen wähnten, angewandte Mathematik, sondern fortgesetzte Politik sei und daß man daher Feldzugspläne nicht nach den Bergen und Flüffen, sondern nach den Menschen, ihren Tugenden und Fehlern, ihren Neigungen und Be dürfnissen einzurichten habe. Dies hat der Verfasser sehr gut entwickelt. Die Skizze von Clausewitz' Leben ist etwas knapp gehalten; namentlich vermißt man eine Notiz über seinen Antheil an der Aufstellung der ostpreußischen Landwehr. Grolman ist irrig unter den preußischen Offizieren genannt, welche 1812 ihren Abschied nahmen; Wesel wird neben Cleve so erwähnt, als hätte es einer eigenen Provinz den Namen gegeben. Sehr erfreulich ist die hier eröffnete Aussicht auf Veröffentlichung des Clausewltzschen Manuscriptes über den Feldzug von 1806, dem Höpfner so viel verdankte. M. L. In der Reihe der von Schweizerischen Gelehrten herausgegebenen „Oeffentlichen Vorträge" ist kürzlich von Dr. Vietor Kayser ein „Psychologischer Essay" über „Macbeth und Lady Macbeth in Shakespeares Dichtung und in Kunst werken von Cornelius und Kaulbach" erschienen. Der Inhalt wird durch den Titel genügend angegeben. Kayser entwickelt die Charactere der beiden Gestalten
und untersucht, ob Kaulbachs bekannte Illustrationen zu der Tragödie dem geistigen Bilde entsprechen, welches der Dichter in unserer Seele wachruft, oder ob eS Cornelius besser gelungen sei, in seinem freilich nur einzigen Blatte, einer Zeichnung, auf der wir Lady Macbeth erblicken, wie sie im Schlafe wandelnd sich die Hände von Blut rein zu waschen sucht, den Geist Shakespeares zu er fassen und zu gestalten. Der Berf., der weder zu den Freunden noch den Feinden Kaulbachs oder Cornelius' gehört, sondern beide Männer als bereits historisch gewordene große Meister betrachtet, die eS unbefangen zu würdigen gilt, konnte sich natürlich nur für Cornelius entscheiden. Er weist nach, wie Kaulbachs Auf fassung in keiner Weise der tragischen Macht Shakespeares gerecht geworden sei. Er hätte einen Schritt weiter thun können, indem er von dem einzelnen Bei spiele auf die Totalität übergehend, Kaulbachs Illustration zu Shakespeare, wie die zu Goethe, einfach als verfehlte Versuche hinstellte, die auf ein oberflächliches Publicum berechnet sind und an denen kein wahrer Kunstfreund Freude haben kann. In zehn oder zwanzig Jahren wird dieses, Manchem heute vielleicht hart erscheinende Urtheil wahrscheinlich mit ganz anderer Schärfe noch ausgesprochen werden. Eine weitere Frage wäre, ob eS überhaupt möglich sei, großen Dichtern mit Illustrationen nahe zu kommen und dem Leser durch dergleichen, der Phan tasie zu Hülfe kommende Zuthaten Nutzen und Genuß zu bereiten. Antworten ließe sich, bei fortlaufendem Beweisverfahren an der Hand der Kunstgeschichte: daß bildliche Darstellungen von Scenen auS den Dichtungen Homers, Dantes und der übrigen Heroen gleichen Ranges erst dann Werth haben, wenn sie an diese Dichtungen als selbständige eigene Erweiterungen ihres Inhalts nur an knüpfen. Große Maler von starker eigner Individualität haben bisher nirgends etwas zu Stande gebracht, das sich im heutigen Sinne als Illustration der Dichter bezeichnen ließe. Cornelius' Lady Macbeth hat einen viel zu starkep Zusatz von Cornelius' Blute in ihren Adern, um als Shakespeare'- alleinige Creatur gelten zu dürfen. Kaulbach'S Darstellungen erfüllen, so betrachtet, m der That bester ihren Zweck. ES sind wirkliche Illustrationen zu Macbeth, ja, sie entsprechen so sehr deu Durchschnittsanforderungen der großen Mäste, daß man nicht ohne Bewunderung die Beobachtungsgabe deS Künstlers erkennt, die ihm so deutlich zeigte, was dem heutigen Publikum eigentli«^ gefalle, während uns nicht minder dre Erfindungskraft imponirt, mit der er in leicht verständ licher eleganter Waare diesen Anforderungen zu genügen verstand. Die ungc» meine, in ihrer Art einzige Gabe Kaulbachs, jedes geistige Thema sofort zu einer bildlichen Darstellung zu gestalten^ die Jedermann verständlich ist, wird künftig den größten Theil seines Ruhme- ausmachen. Seine Composttionen zu Macbeth stellen die Scenen der Tragödie gleich fix und fertig dar, wie sie von den Händen eines gut geschulten Regisseurs auf der Bühne eines idealen Theaternach Meininaischen Principien arrangirt erscheinen und den Beifall de- sich amüstrenden Publicum- ohne Zweifel nicht umsonst herau-fordern würden. H. G.
Druckfehler. S. 420. Z. 17 v. o. lies: Arbeit statt Bildung S. 433. Z. 8 v. u. lies: Bolksvermögen schufen, statt Volk-Vermögen,
Perantwortlichcr Redacteur: Dr. W. Wehren Pfennig. Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.
Preußische Jahrbücher. Vd. XXXV. Heft 5.
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über welchen die Beobachtungen (seit 1786) sich erstrecken, so ist eine vollstän dige Neubearbeitung der Bahn des Encke'schen Cometen um so mehr wünschenswerth, als die bisher untersuchten Bewegungen anderer periodischen Cometen keinen analogen widerstehenden Einfluß verrathen haben. Die Gesellschaft wünscht eine solche vollständige Neubearbeitung herbeizuführen, und stellt des halb die Aufgabe: die Bewegung des Encke'schen Cometen mit Berücksichtigung aller störenden Kräfte, welche von Einfluß sein können, vorläufig wenigstens innerhalb deS seit dem Jahre 1848 verflossenen Zeitraums zu untersuchen. Die ergänzende Bearbeitung für die frühere Zeit behält sich die Gesell schaft vor, eventuell zum Gegenstand einer späteren Preisbewerbung zu machen. Preis 700 Mark. 4. Für das Jahr 1878. Die Entwickelung des reciproken Werthes der Entfernung r zweier Punkte spielt in astronomischen und physikalischen Problemen eine hervorragende Rolle. In der Theorie der Transformation der elliptischen Functionen wird die zuerst von Cauchy entdeckte Gleichung bewiesen Tia3
4 7a3
4tir3
77,3
= l + 2e”“r4-2e
16.7a3
9.7 a3
y(l+2e-7r+2e ~4-2e
+2e _ 9/r,3
J5"...) == _ 16/7r3
+2e ~4-2e ~...
in welcher mit Rücksicht auf die zu erzielende Genauigkeit die positive willkürliche 77 a3
Constante a so groß gewählt werden kann, daß die Exponentialgröße e vernachlässigt werden darf. Alsdann hat man *•
_ 77T3
_ 4/7,3'
= l + 2e ^+2e
r'
_ O.ir2
+2e
ct3
-----
eine Reihenentwickelung von ungemein rascher Convergenz. ES steht zu erwar ten, daß eine auf die vorstehende Formel gegründete Entwickelung der StörungSfunction in dem Problem der drei Körper sich für die numerische Rech nung als Vortheilhaft erweisen werde. Die Gesellschaft wünscht eine unter dem angedeuteten Gesichtspunkte ausgeführte Bearbeitung des Störungsproblems zu erhalten. Indem sie dem Bearbeiter die Wahl deS besonderen Falles überläßt, hi welchem die numerische Anwendbarkeit des Verfahrens gezeigt werden soll, setzt sie voraus, daß das gewählte Beispiel hinlänglichen Umfang und Wichtigkett besitze , um die Tragweite der vorgeschlagenen Methode und thr Verhältniß zu den bisher angewandten hervortreten zu lasten. Preis 700 Mark. Die Bewerbungsschriften sind, wo nicht die Gesellschaft im besondern Falle ausdrücklich den Gebrauch einer anderen Sprache gestattet, in deutscher, lateinischer oder französischer Sprache jux verfassen, müssen deutlich ge schrieben und paginirt, ferner mit,einem Motto versehen und von einem versiegelten Couvert begleitet sein, das auf der Außenseite daS Motto der Ar beit trägt, inwendig den Namen und Wohnort deS VerfasterS angiebt. Die Zeit der Einsendung endet mit dem 30. November des angegebenen Jahres und die Zusendung ist an den Seeretär der Gesellschaft (für daS Jahr 1875 Prof. Dr. Scheibner) zu richten. Die Resultate der Prüfung der eingeganS^enen Schriften werden durch die Leipziger Zeitung im März oder April deS olgenden Jahres bekannt gemacht. Die gekrönten Bewerbungsschriften werden Eigenthum der Gesellschaft.
Friedrich August, Freiherr von Hardenberg. Ein Lebensbild zugleich
ein Beitrag zur Geschichte der kleinen deutschen Staaten im 18. Jahrhundert. Von
einem Mitgliede der Familie.
Friedrich August, Freiherr von Hardenberg, ward am 30. Oktober 1700
zu Ober-Wiederstedt, in der Grafschaft Mansfeld geboren. Sein Vater, Georg Anton von Hardenberg war der zweite Sohn des churbraunfchweigfchen Statthalters Hildebrand Christoph von Hardenberg, und seit 1694 vermählt mit Anna Dorothea Tochter zu Eltz. Ein sehr glückliches Familienleben umschloß Friedrichs Kindheit.
Er
war der Vorjüngste von 5 Geschwistern. Der Vater, eine ruhige, feste Persönlichkeit von sehr strenger Ordnungsliebe, bewirthschaftete Wiederstedt
selbst. Ungefähr 1714 oder 1715 wurde Friedrich nach Halle geschickt, um auf dem 1712 von August Herrmann Franke gestifteten Pädagogium seine Ausbildung zu erhalten. Die Schule war schon in voller Blüthe und von nah und fern strömten Schüler hinzu. Hier blieb er bis zum Jahr 1719 und bezog dann die Universität Leipzig um Jura und Cameralia zu stu-
diren. Am HimmelfahrtStage 1721 starb der Vater Georg Anton von Harden
berg nach kurzem Krankenlager. Der älteste Sohn und die älteste Tochter waren schon verheirathet. Der zweite Bruder übernahm die Verwaltung von Wiederstedt. Friedrich sollte, ehe er als Kammerjunker in brannschweigsche Dienste trat, auf Reisen gehen und die Welt sehen. Die rauheren deutschen Sitten sollten durch französische Feinheit und Sprache geglättet werden, sowie namentlich den jüngeren Söhnen durch Preußische Jahrbücher. Bd.XXXV. Heft«.
4Q
diese Reisen Gelegenheit geboten wurde, sich auswärts einen Beruf, einen Wirkungskreis zu suchen. Ueber Friedrichs Reise existirt ein Tagebuch von seiner Hand.
Es
ist überraschend wie fein seine Bemerkungen sind, mit wie hellem klarem
Blick er die Welt anschaute; so gestalten sich seine Berichte von selbst zu einer treuen und durchsichtigen Sittenschilderung jener Zeit.
Ein Blatt
auS diesem Tagebuch mag hier folgen. „Da im Februar daS Wetter schon sehr schön war, so machten wir
„einige Male Parthien nach St. Cloud.
Bei einer derselben versuchte
„ich mein Glück bei der wunderschönen Tochter der Marquise v. B. Wir
„unternahmen, 4 Paare, eine Fahrt nach St. Cloud.
Die junge Dame
„war mir zugetheilt und während ich sie im Park und Schloß umherführte,
„fädelte ich meinen kleinen Roman ein.
Ohne ihre Frau Mutter, die uns
„mit den Augen verfolgte, würde mir der Tag recht günstig gewesen sein, „so aber mußte ich mich mit den Präliminarien begnügen.
„Promenade folgte das Diner.
„Hof zu machen.
Nach der
Nach Tisch fing ich an der Mutter den
Man muß aber nicht denken, daß sie eine Matrone
„war, im Gegentheil, sie war eine liebenswürdige Wittib.
Während die
„Andern scherzten und spielten, denn chacun avait sa chacune, machte
„ich die größten Fortschritte bei Madame la Marquise, während einer
„meiner Freunde die Tochter amüsirte.
Diese aber, die meine Unterhal-
„tung mit Mama hors de saison fand, wußte es zu machen, daß unsre „Unterhaltung abgebrochen wurde und nun machte sie mir Borwürfe über
„meine Unbeständigkeit.
Ich habe sie aber doch wieder mit mir auSge-
„söhnt." Nach der Rückkehr Friedrichs von seiner Reise trat er laut seines
Patents vom 5. Februar 1724 als Kammerjunker
in die Dienste des
Herzogs Ludwig Rudolph von Braunschweig-Lüneburg. hier war aber nicht von langer Dauer.
Seines Bleibens
Schon am 7. April 1725 for
derte er unter lebhaften Ausdrücken des Bedauerns seinen Abschied, der
ihm am 9. April in sehr gnädigen Worten von dem Herzog ertheilt ward. Die Erklärung hiervon giebt ein Brief der jungen Frau deö Bruders
von Hardenberg, geb. von Heinitz.
„Der jüngste Herr Schwager hat das
„Fräulein von Drucksleben, mit der er sich versprochen, mit 3600 Thlr.
„baareS Geld abgefnnden, dagegen hat sie ihm ein Schreiben gegeben, „daß sie nicht mit ihm verlobt sei.
„dazu geschenkt."
Das Geld hat ihm der Onkel Eltz
Vermuthlich hatte das Fräulein schon einige ähnliche
Geschäfte gemacht, darum waren sowohl der Herzog wie auch der Oheim
so bereit den jungen Mann aus ihrem Netze zu befreien. Man knüpfte nun Verhandlungen
mit dem Hofe zu Stuttgart an
und in den letzten Tagen des Jahrs 1725 trat Hardenberg als Kammer, junker in Würtembergische Dienste.
Laut Patent vom 28. Juli 1727 er
nannte ihn der Herzog zum RegierungS-Rath.
Am Hofe der Erbprinzessin, geborenen Prinzessin von BrandenburgSchwedt, lernte er die schöne Hofdame, deren er schon in dem Tagebuch
erwähnte, Elisabeth von Gemmingen näher kennen.
Im Februar 1728
warb er um ihre Hand, und am 28. März desselben Jahres wurde die >
Hochzeit am Hofe zu Ludwigsburg glänzend gefeiert.
1729 trat bei einer
geschäftlichen Angelegenheit Hardenbergs Verwaltungstalent
in
ein so
glänzendes Licht daß sich der Herzog bewogen fand ihn am 10. October 1729
zum Kammerpräsidenten zu ernennen.
Jetzt fand er sich in seinem ei
gentlichen Element. Sein ganzes Streben ging dahin die Finanzen und den Handel WürtembergS zu heben und die Hilfsquellen desselben flüssig
zu machen. Am 23. Januar 1733 ernannte ihn der Herzog „wegen seiner bisherigen treufleißigen Dienste" zum Hofmarschall.
DaS Kammerpräsidium
führte er weiter. Erbprinz Friedrich, der einzige Sohn Ludwig Eberhards war 1730,
ohqx männliche Nachkommen, da fein kleiner Sohn ihm voranging, ge
storben. Den 31. October 1733 folgte der Herzog dem Sohne in die Gruft. Ludwig Eberhard war ein prachtliebender, verschwenderischer Fürst, der, be sonders durch sein Verhältniß mit der berüchtigten Gräfin von Wrbna und
Freudenthal, geb. von Grävenitz aus Mecklenburg und deren Bruder dem Premier-Minister von Grävenitz, das Land entsetzlich drückte und auSsyg.
Als er aber älter wurde und erst den Enkel, dann den einzigen Sohn
vor sich sterben sah, ward er den ernsten Vorstellungen Friedrich Wilhelms des Ersten pon Preußen zugänglich. Der König bewog ihn, sich in den letzten Jahren seines Lebens von
dieser ihn tyrannisch beherrschenden Frau zu trennen, ja sich mit seiner
Gemahlin, einer edlen Persönlichkeit, wieder z« versöhnen.
„Der LandeS-
hofmeisterin, LandeSverderberin" wie der Volkshaß die Grävenitz nannte, verblieben jedoch ihre Güter, und wenngleich von Stuttgard entfernt (sie
lebte mehrere Jahre in Heidelberg) dauerte ihr Einfluß durch ihre Crea-
turen, wenn auch im verringerten Maaße, fort. Der Nachfolger des Herzogs war fein, zur römischen Kirche überge
tretener Vetter Karl Alexander, vermählt mit Marie Auguste Prinzessin von Turn und TaxiS.
Der Hof zu Stuttgard nahm unter ihm eine un
gleich bessere Haltung an, da seine Ehe eine zufriedene, einige war.
Hardenberg hatte seine Stellung als Kammerpräsident beibehalten.
Am 25. Januar 1734 ernannte ihn der Herzog zum wirklichen GeheimeRath und Ober-Marschall.
Als am 9. April 1734 die Franzosen ganz ohne alle Kriegserklärung
mit 40,000 Mann bei Kehl über den Rhein gegangen waren und Trar bach zur Uebergabe gezwungen hatten, wurde Hardenberg an den franzö
sischen Marschall Duc de Berwick mit dem wörtlichen Auftrage abgesandt: »Zu fragen nnd zu erforschen weshalb so eigentlich die Fran-
„zosen
ins
Land
brächen?
und
Schutz
und
Schonung
für
„Baden und Würtemkerg zu erbitten!" Es war der polnische Erbfolgekrieg der jetzt begann.
Der Herzog
Karl Alexander ging am 26. April 1734 mit einem riesigen Troß und
Gefolge in das Lager des Prinzen Eugen ab, um nach 3 Wochen heim
zu kehren. Im Winter 1735 gestaltete sich plötzlich das Verhältniß Hardenbergs
zum Herzog sehr ungünstig.
Die Finanzlage deö Landes hatte sich verschlechtert, und Hardenberg
hatte als Remedur eine Reduktion der Ausgaben deö HofeS, sowie für mehrere Jahre eine Verringerung der
damals ungewöhnlich hohen Ge
hälter der höheren Beamten in Vorschlag gebracht.
Der Herzog,
weit
entfernt hierauf einzugehen, hatte sich jetzt zuerst auf die Finanzpläne und Geldspekulationen des später so berüchtigten Juden Oppenheim, bekannter
unter dem Namen Süeß, eingelassen. ES ist nicht ersichtlich ob Süeß direct den Sturz Hardenbergs ver anlaßt hat, jedenfalls lag eine Intrigue der ganzen Partei zum Grunde, um den Mann zu beseitigen der ihnen bei ihren Finanzplänen ein unüber-
steiglicheS Hinderniß war.
Aus zwei Briefen Hardenbergs, in deren einem
er sich darauf beruft: „Der Herzog wisie wohl, daß er den beiden Fürsten „nicht um seines Vortheils sondern aus reinem point d’honneur gedient
„habe," erhellt, daß man ein Verbot zum Vorwand nahm: „Niemand solle
„ohne Erlaubniß des Herzogs nach Wildbad kommen," um Hardenberg, der geschäftlicher Sachen willen den Herzog sprechen mußte, des Unge
horsams gegen die fürstlichen Befehle zu zeihen. Da man seine Rechtfertigung nicht annahm, forderte Hardenberg seinen Abschied, verlangte aber den Herzog noch einmal zu sprechen.
Statt
aller Antwort wurde ihm einfach der Abschied ungnädig zugeschickt. Hardenberg ging mit seiner Frau zu deren Mutter nach Guttenberg und siedelte dann nach seinem Gute Schlöben über. Hier lebte er mehrere
Jahre in ländlicher Ruhe. HauS daselbst.
Im April 1736 zerstörte ein Brand sein
Während er damit beschäftigt war,
ein neues Wohn
haus sich zu bauen, waren in Würtemberg seltsame Zeiten vorüberge gangen.
^>er Jude, „Baron von Süeß Excellenz," wie man ihn spottweise
nannte, hatte sich nach und nach völlig des Herzogs bemächtigt*).
Die
verwittwete Herzogin deren klugen Einfluß er fürchtete, zwang er,
sich
nach Kirchheim unter Teck zurückzuziehen. Alle treuen Räthe wie Bilfinger,
Keller und Andre wußte er zu beseitigen, und ihre Stellen mit seinen
Creaturen zu besetzen.
Die katholische Geistlichkeit hoffte durch ihn ihre
Kirche wieder zur herrschenden in Würtemberg zu machen. Ihin als Ju
den war es natürlich gleich welche Confession regierte.
Um des Zweckes
willen sparte die katholische Geistlichkeit das Geld nicht, für das Süeß allein zugänglich war.
Durch die Priester gewann er die Herzogin.
Pabst ernannte sie zur Chevaliöre de Malta.
Der
Ein Komthur ward eigens
von Rom gesandt um ihr feierlich „das Kreuz des Glaubens" zu über bringen.
Alle öffentlichen Gelder und Kaffen nahm Süeß unter seine
Direction, sogar die Pupillengelder, protestirte.
wogegen die. Landschaft vergeblich
Der Herzog war durch den Juden und den Kriegsminister
von Remding wirklich dahin gebracht im Einverständniß mit dem Bischof
von Würzburg, die würtembergische Verfaffung umstoßen zu wollen und
die katholische Kirche wieder in den Besitz des gesammten Kirchengutes zu setzen. Da trat plötzlich eine Aenderung ein.
In der Nacht vom 12. März
1737, als der Herzog von einem glänzenden Maskenfeste sehr erhitzt zurück kehrte, traf ihn ein Lungenschlag und machte binnen wenig Minuten seinem Leben ein Ende.
Süeß und Remding wurden noch in derselben Nacht
gefangen genommen, schuldigen eröffnet.
eine lange Untersuchung gegen sie und ihre Mit Das endliche Schicksal
des Inden schildert Prinz
L. Fürstenberg mit den Worten „Ce fameux chiffoneur des finanees dansera ä la corde, et puis il repr&entera le ballet dans la cäge avec laquelle il restera suspendu!“ Für den minorennen Sohn des Herzogs trat eine Vormundschaft
An deren Spitze trat Herzog Karl Friedrich von Würtemberg-Oels.
ein.
Er berief am 20. Juni 1741 Hardenberg zurück.
Dieser verweigerte eS,
„so lange die Landeshofmeisterin (die Grävenitz) ferner in Stuttgard bei
Hofe ihre Rolle spiele." Erst im September war sie völlig beseitigt. Vom 19. September 1741 ist sein Patent, das ihn in den Vormundschafts-Rath und das Geheime-RathS Collegium-berief, welches außer ihm ans den
Geheime-Räthen Bilfinger, von Wallbrunn und Zech bestand. Hardenbergs Verwaltungstalent gab ihm hier bald wieder die Füh
rung.
Er beförderte Handel und Gewerbe.
Die Saline Sulz kam unter
*) Die Notizen über diese Zeit in Würtemberg find sämmtlich au« Originalbriefen an da« Hardenbergische Ehepaar genommen. Theil« sind e« Briefe von der verwittwcten Erbprinzesstn, theil« von dem Dr. Bilfinger, dem Bruder de« Minister«, theil« von dem Prinzen Loui« Fürstenberg einem Verwandten dk« herzoglichen Hause«.
Friedrich August, Freiherr von Hardenberg.
584
Er ließ eine neue Flötz- und Wege-Ordnung von so vor
ihm in Flor.
trefflicher Beschaffenheit ausarbeiten, daß ihn im Jahr 1753 der Groß-
voigt von Münchhausen um die Mittheilung der Würtembergschen CameralEinrichtungen bittet, und ihm zugleich seinen Dank für die ihm bereits
überschickte vorzügliche Wege-Ordnung ausspricht.
Einen Punkt behielt die Vormundschaft, und besonders Hardenberg und Bilfinger, die eine treue Freundschaft mit einander verband, unver
rückt im Auge.
Den Punkt nemlich die jungen Prinzen zur evangelischen
Kirche zurückzuführen.
Man beschloß sie in preußische Dienste treten zu
lassen und faßte den Plan sie womöglich mit protestantischen Prinzessinnen
zu vermählen.
Die vielen Schwierigkeiten die diesen Plänen entgegen
standen, ließen sich nur langsam beseitigen.
ES gelang die Herzogin zu
bewegen die Söhne nach Berlin zu schicken, sie brachte sie im December 1741
selbst dahin.
Friedrich II. nahm sie sehr freundlich auf, und bestimmte
dem jungen Herzog Karl Eugen eine Prinzeß von Bahreuth zur Gemahlin. Der jüngste Prinz, der ganz in preußische Dienste trat, faßte später eine lebhafte Neigung
Schwedt.
für die Tochter des Markgrafen von
Brandenburg-
Hardenberg bewog die Würtemberger Landstände dem Prinzen,
weil die Gemahlin eiue Protestantin war, eine hohe Apanage zu zahlen; der Sohn dieser Ehe, der spätere erste König von Würtemberg, ist zugleich
wieder der erste evangelische Regent des Landes gewesen. Der Aufenthalt der jungen Prinzen in Berlin ist folglich für Würtemberg von großer
Bedeutung geworden. Eine andre Zusammenkunft der Herzogin mit Friedrich dem Großen
schildert dieser selbst im 3. Theile von Histoire de mon temps. Er giebt zugleich die Gründe an, weshalb er für den jungen Herzog eine kaiserliche
Mündigkeits-Erklärung auswirkte, obgleich der Prinz erst 16 Jahr alt war. Hardenberg und Bilfinger widersetzten fich dieser Maßregel nach allen
Kräften, da sie für das Land von einem so jungen Regenten wenig Gutes erwarteten.
Friedrich der Große aber legte ihr Widerstreben falsch aus,
und warnte in der berühmten Instruction in Form eines Briefs an
den Herzog Karl Engen, den jungen Fürsten ganz bired vor den beiden Räthen.
Hardenberg hat später
den protestantischen
und deutschen Berns
Preußens mit Klarheit erkannt, im Augenblick aber war ihm das Ver fahren des Königs unbegreiflich, wenn ihm gleich der hohe Begriff von
den Pflichten eines Fürsten von dem der Brief durchleuchtet ist, imponirte. Die Wirksamkeit beider Minister blieb jedoch unberührt, denn die
ersten Jahre seiner Regierung dachte der junge Fürst nur an seinen Zeit vertreib und ließ seine Minister regieren, wie eS ihnen gefiel.
Die Zeiten waren schwer, der Krieg dauerte fort und Würtemberg
wurde bald von Frankreich, bald von Oestreich hart bedrängt um Partei
zu nehmen.
Auö einer Correspondenz Hardenbergs mit dem Reichstags«
Gesandten Zech ersieht man, wie schwierig die Lage der kleinen deutschen Fürsten war, ungeachtet sie sich auf dem Reichstag von^1743 ihre Neu
tralität erkämpft hatten.
Die Franzosen benutzten als kaiserliche HülfStruppen nicht nur das Recht deS Durchmarsches um vielerlei Exceffe zu verüben, sondern ließen
auch ungeachtet aller Protestationen im Spätherbst 1744 ihre Truppen in
Würtemberg Winterquartiere beziehen.
Der französische Gesandte forderte
unter Drohungen: der Herzog solle der Frankfurter Union beitreten, die Friedrich der Große vorgeschlagen um den Kaiser Karl VII. zu stützen.
Kaum war der französische Gesandte abgereist, so erschien ein Oestrrichischer hoher Offizier, um dringend eine Allianz mit seiner Regierung
zn fordern. Hardenberg trieb und drängte daß die vorder» Kreise, der Schwäbische,
der Ober- und Nkederrheinische nnd der Fränkische sich fest an einandsr schließen und eine bedeutende Truppenmacht aufstellen sollten, um. beide
kriegende Theile in Respect zu halten.
Allein im fränkischen Kreis ver
uneinigten sich die katholischen und evangelischen Stände, das bewirkte in drN andern Kreisen Mißtrauen der beiden CoNfessionen, die Trnppenauf-
stellung kam nicht zu Stande. Gegen Preußen zeigte sich bei den Würtem-
bergischen Ministern Bitterkeit und Argwohn. Der Kaiser Karl VII. er freute sich nicht der geringsten Popularität. Hardenberg hoffte die Seemächte,
deren Gesandte im Winter 1745 erwartet wurden, sollten sich der kleinen
neutralen Fürsten annehmen. So hielt er die Sache hin, biS am 20. Ja nuar 1745 Kaiser Karl VII. starb. Frankreich machte neue Versuche Würtemberg zu sich herüber zu ziehen, fand aber nnn ernstlichen Wider
stand, da ja Frankreichs Truppen keine kaiserlichen HülfSvölker Mehr
waren. Die Kaiserwahl kam heran und eS gelang der östreichischen Partei
ans dem Reichstag, da die Franzosen sich zurückzogen, am 13. Septem ber 1745 die Wahl Kaiser Franz I. durchzusetzen. Bald genug sollten die kleinen deutschen Fürsten inne werden, daß
Friedrich II. sich nicht ohne Grund gegen die Wahl deS neuen HabSburg-
Lothringischen Kaiserhauses gewehrt hatte, und daß eS Oesterreich verstand das Reich und dessen Wohl seinen eignen Intereffen unterzuordnen. Noch war das Jahr nicht verflossen, so hatten die neutralen Regierungen alle
Mühe sich
auf dem Reichstag, wie in den KreiS-VersammlUngen vor
dem Hinelnziehen in den Krieg mit Frankreich zu retten.
Im Frühjahr 1746 drängte das Wiener Cabinet Wiirtemberg von
Neuem.
In
einem Memorandum
das Hardenberg an
den Reichstag
richtete sagt er: „Durchlaucht sehen kein Mittel ihr Land vor unerschwinglichen Lasten
„zu bewahren, al- daß Sie mit allen Mitteln ihre Neutralität aufrecht „zu erhalten suchen............. Man könne ja bei der Neutralität festsetzen:
„daß im Fall daß die Kaiserin-Königin, oder sonstige Fürsten und Stände „in ihren deutschen Landen angegriffen würden, das ganze Reich
„zu Hülfe eilen solle." Im April 1747 wiederholen sich dieselben Verhandlungen.
Graf
Cobenzl, der östreichische Gesandte und der englische Mr. Burrish, tra ten mit Drohungen und Einschüchterungen aller Art in Stuttgard auf.
Trotzdem gelang eö ihnen nicht Würtemberg zum Nachgeben zu bringen.
Auf dem Reichstag wurden alle möglichen Intriguen in Scene ge
setzt.
Ebenso auf dem schwäbischen Kreistage.
Die katholischen Stände
und Mainz (das Direktorium des Kreises) nahmen die östreichische Partei, und als Würtemberg, um eine den Neutralen
ungünstige Abstimmung,
die durch Ueberstimmen der Andern zu Stande gekommen war, nochmals
zu prüfen, daraus antrug auf den 21. December eine Plenarsitzung der Kreisversammlung anzuberaumen, mißlang dies, weil die Prälaten und
die kath. Stände erklärten:
„Sie hätten Gewissenöbedenken am St. Tho-
„maStage, dem 21. December Sitzung zu halten." Das zähe Festhalten Würtemberg'- an der Neutralität, zog jedoch
die Sache immer von Neuem hin, und hinderte jedes Zustandekommen
eines entscheidenden Beschlusses.
Den Schluß sämmtlicher Verhandlungen bildet ein Votum Harden berg'-, in dem seine nun erlangte Ueberzeugung sich klar ausspricht:
Daß
nur im Anschluß an Preußen für die evangelischen kleinen Fürsten ein Halt und eine Sicherung sei. Rath und Hülfe.
Er wendete sich an den Berliner Hof nm
Friedrich d. Gr. machte sein Vertrauen nicht zu Schanden
und erlangte mit Schweden und Dänemark gemeinschaftlich bei dem Frie
densschluß von Aachen, die Restitution von bedeutendem Grundbesitz an
Würtemberg, welchen Frankreich lange Jahre seqnestrirt hatte und der zu der, dem Herzog durch Erbschaft zugefallenen Grafschaft Mömpelgard
gehörte. Ebenso wie in den äußern Verhältnissen der Politik, hatte Harden berg in den innern Zuständen deö Landes mit großen Schwierigkeiten zu
kämpfen.
Eigentlich fingen sie erst recht an, als der äußere Friede her
gestellt war.
Denn die Noth der Kriegszeit hatte den jungen Herzog in
wohlthätigen Schranken gehalten.
Jetzt, als Hardenberg dem Lande, das
trotz der Neutralität schwer gelitten hatte, zu Hülfe kommen wollte, begann
die Verschwendung, die Vergnügungssucht deS jungen Fürsten alle Grenzen zu übersteigen.
Der Marstall, der Schloßbau von Ludwigsburg, die Sol
datenspielerei des Herzogs verschlangen riesige Summen. Hardenberg sah sich genöthigt seinen persönlichen Credit, seine eignen Gelder anzuwenden
um den verarmten Gemeinden aufzuhelfen, industrielle Etablissements, die
Hunderte nährten, vor dem Zusammensturz zu bewahren.
Hierdurch, so
wie durch seine Energie mit der er dem Herzog oft schroff entgegen trat, und durch Bilfingers kluge nach beiden Seiten vermittelnde Persönlichkeit ist eS allein zu begreifen wie es zuging, daß Hardenberg so viele Aahre
hindurch das Steuerruder in der Hand behielt und vieles Unheil von
dem Lande abwehrte.
Ein noch hinzu kommendes Moment war, daß die
Landstände, deren Macht noch keineswegs ganz gebrochen war, in den
meisten Fällen hinter dem Minister standen und ihn stützten.
So gaben
sie bedeutende Summen zu einer Reise nach Italien im Jahre 1753 her,
um den Herzog aus den Netzen zn lösen, die sich um ihn gezogen, und
ihn womöglich mit seiner Gemahlin auSzusöhnen.
Eine ziemlich große
Hardenbergs Tagebuch über diese
Suite begleitete das HerzogS-Paar.
Reise daS noch ganz vorhanden ist, schildert den Empfang der hohen Rei senden durch die Repräsentanten der Republiken Venedig und Genua, den
Eindruck deS Landes, die Fährlichkeiten die ihnen durch algierische See räuber drohten, die ersten Ausgrabungen in Pompeji und Herculanum.
Der Glanzpunkt aber der Schilderung ist:
Rom, wo man den katho
lischen Herzog mit offenen Armen aufnahm, dann aber, als er, als deut scher Fürst, sich weigerte den Pantoffel des Papstes zu küffen, ihn so
rücksichtslos behandelte, daß der Herzog Rom verließ und nach Neapel ging.
Bon dort zurückgekehrt sah er als Privatmann
die Österlichen
Festlichkeiten mit an nnd war durch nichts zu bewegen sich den Wünschen des heiligen Vaters zu fügen.
'
'
Bei der Rückkehr nach Stuttgard empfing das Land das herzogliche Paar und vor allem die Herzogin die nun wieder im Schloß zu Stutt
gard heimisch blieb mit großer Freude.
von kurzer Dauer.
Freilich war die Besserung nur
Kaum 2 Jahr später verließ die Herzogin den un
würdigen Gemahl für immer.
Im Frühjahr 1755 trat der Herzog unvermuthet in die Versamm lung des Geheimen Raths und überhäufte Hardenberg mit den heftigsten und unverdientesten Vorwürfen. dem Herrn Eindruck
Seine würdevolle Vertheidigung schien
gemacht zn haben, denn Wochen
vergingen ohne
daß er die Sache weiter berührte. Im Juni sandte er Hardenberg plötz lich seinen Abschied zu, der demselben völlig unvermuthet kam, so daß er
anfangs das Refcript nicht verstand.
Seine Schwester wünschte ihm
aus'S lebhasteste Glück, daß er aus einem Labyrinth gezogen sei, welches
ihn habe in den Abgrund führen müssen. Sein Schwager schrieb: „Du hast wohlgethan zu erwarten, daß Dir der Herzog den Abschied gab, „nun kann Dir Würtemberg keinen Vorwurf machen, daß Du das Land
„verlassen und eS seinem Unstern preis gegeben habest." Im Februar 1756 forderte der Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-
Er schwankte ob er
Cassel Hardenberg auf in seine Dienste zu treten.
diese Berufung annehmen sollte, da der Landgraf schon hoch bejahrt, und
der Nachfolger nicht der Art war, daß er ihm gern gedient hätte.
Er
machte sich die Bedingung dem alten Landgrafen persönlich zu dienen, und
im Fall er sich mit dem Nachfolger nicht einigte, schädigung für die Kosten des Umzugs. dingungen ein.
forderte er eine Ent
Der Landgraf ging auf diese Be
Das Patent als Wirklicher Geheime-Rath und Minister im
Steuer- und Finanzfach mit 5000 Thaler Gehalt ist vom 28. März 1756. Charakteristisch ist in Hardenbergs Leben ein fortwährender Kampf
gegen den Katholizismus.
Dies tritt besonders in seinem Verhältniß zu
CoNvertiten hervor, deren sich ja in jener Zeit in vielen kleinen deutschen
Fürstenhäusern fanden, außer in Sachsen und Würtemberg auch in HessenCassel, Hessen-Rothenburg, Zweibrücken und Ansbach.
Der' Erbprinz von Hessen war 1749 zu Neuhaus im Stift Pader
born zur römischen Kirche übergetreten. klärt.
1754 hatte er es öffentlich er
In Gemeinschaft mit den Landständen forderte der Landgraf von
dem Sohne die Ausstellung einer AssecurationSacte zur Beibehaltung des
Status ecclesiastici im Lande, sowie wegen Erziehung seiner beiden Söhne
in der reformirten Kirche. tirt.
Preußen und England hatten die Acte garan-
Mit seinem Vater war der Prinz stets in Differenzen, besonders
seit et durch seinen Beichtvater, einen Jesuiten, zu einem Fluchtversuch sich hatte verleiten lassen um in östreichische Dienste zu treten.
Man war auf den katholischen Priester aufmerksam geworden, hatte
ihn unvermuthet festgenommen, und fand bet ihm den ganzen Fluchtplan, entworfen von der Prinzessin von Heffen-Rothenburg und dem östreichischen
Gesandten.
Der Secretär des Prinzen und ein hessischer Lieutenant, die bei
diesem Plane eine Rolle übernommen, waren arretirt und nach einigen Wochen
Festungshaft, der Erste entlassen, der Zweite versetzt worden.
Den Prinzen
hatte man, eine Scene mit seinem Vater abgerechnet, unbehelligt gelassen.
Bon nun an suchte der Landgraf den Prinzen in preußische Dienste zu bringen.
Er schickte ihn nach Berlin und ließ bei dem Könige Schritte
thun, um seine Erlaubniß zu erhalten, der König verspürte jedoch wenig Lust, diesen Herrn in seine Armee zu bekommen.
Mit seiner Gemahlin*) lebte der Prinz in sehr unglücklicher Ehe.
Sie wurde getrennt und ein Vetter Hardenbergs, August Ulrich war als englischer Commissar bei dieser Scheidungsangelegenheit der Prinzessin als
Beistand gegeben.
Obgleich die Scheidung vorüber war, als Hardenberg
nach Hessen berufen wurde, so hatte der Erbprinz schon um des Namens willen von vornherein ein Vorurtheil und einen Widerwillen gegen ihn.
Hardenberg wurde durch seinen Eintritt in den hessischen Dienst, kurz
vor dem Ausbruch des siebenjährigen Kriegs, sogleich wieder mitten in die Spannung und Reibung zwischen katholischer und protestantischer Auf-
faffung geführt. ES kann nicht der Zweck dieser Blätter sein neue Ansichten über
jene Kriegszeit zu liefern, oder gar eine Aufweisüng der Fäden, die den Knoten geschürzt, um dies weltgeschichtliche Ereigniß herbeizuführen, zu ver
suchen, sondern nur die Anschauung Hardenbergs und der Männer, mit denen er in Beziehung stand, darzustellen.
Diese Männer standen nicht
im Centrum der Bewegung, und daher mögen ihnen viele Fäden, die die Ereigniffr lenkten, verborgen geblieben sein.
Daß sie aber die Ueberzeu
gung hatten, daß in diesem Kampfe Katholizismus-und Protestantismus
mit einander um die Herrschaft stritten, erhellt aus ihren Briefen.
Har
denbergs Cörrespondenz mit dem hessischen RetchStagSgesandten, von Wülk nitz, General von Donop, Geh. Rath Waitz in Caffel, Kammer-Präsident von Münchhausen in Hannover, Geh.-Rath von Keller in Gotha, dreht
sich wesentlich um diesen Punkt. Auch die Thatsachen deS Kriegs kommen hier nur so weit in Bettacht,
als sie sich in den vorliegenden Schriftstücken wiederspiegeln. Den 11. April 1755 war zwischen England und Hessen ein Sub-
sidien-Bertrag abgeschlossen.
Ein Theil der hessischen Truppen war dem
gemäß nach England eingeschifft als im Frühling 1756 Frankreich Miene machte in England zu landen. noch 4000 Mann stellen.
Falls es England forderte, mußte Hessen
Jedoch war der Landgraf durch diesen Ver-
ttag keineswegs Bundesgenosse England'S, sondern seine Truppen galten
nur alS englische Soldtruppen. Da Hardenberg erst im März dieses Jahres in hessische Dienste trat, so hat er diesen Subsidien-Vertrag nicht veran
laßt, wohl aber war ihm von vorne herein die Wichtigkeit desselben klar.
Ansbach und Würzburg**) hatten sich auch mit England über Snb*) Maria, Tochter Georgs II. von England. Vormünderin und LandeSregentin der Grafschaft Hanau vom 1. Februar 1760—1764, für ihren Sohn, den spätern ersten Churfürsten von Hessen. Sie starb 14. Januar 1772 zu Hanau. **) Es muß hier bemerkt werden, daß alle diese Details, auch namentlich die auf die Reichstagsverhandlungen bezüglichen, den Briefen, Berichten und sonstigen Akten stücken des Nachlasses von Hardenberg entnommen find.
sidien-Berträge geeinigt, die englischen Minister hatten aber aus Spar samkeitsrücksichten nicht auf mehrere Jahre, sondern nur auf ein Jahr abgeschlosien. Die Nachtheile dieser Sparsamkeit traten im Sommer 1756
zu Tage, denn als das Jahr ablief, hatte Oesterreich durch den, in seinem Sold stehenden Minister
von
Seckendorf
Fürsten den Vertrag kündigten.
erlangt, daß die kleinen
es
Ueberhaupt hatte Kaunitz durch seine
Agenten ein förmliches Netz über die kleinen deutschen Fürsten gezogen, sogar einen Theil der evangelischen gewonnen.
Diejenigen, die wie Hessen
und Gotha von vorn herein fest auf der preußischen Seite standen, sahen
und meldeten alle Symptome hiervon voll Besorgniß den hannövrischen Ministern. Im Mai 1756
schon
hatte Friedrich II.
durch
ein vertrauliches
Schreiben Hessen, Gotha und Hannover aufgefordert, eine evangelische
Union zu bilden, aber noch war die Befürchtung zn lebhaft gewesen, durch
einen solchen Schritt die feindlichen Mächte aufzubringen.
Hardenberg
billigte das Vornehmen, allein erst wollte er sicher gehen und die Vor schläge der andern Fürsten erwarten.
Er hoffte noch, wie vor Jahren
in Würtemberg, die.kleinen Länder mit einer leidlichen Neutralität durch
den drohenden Sturm zu steuern. Bon östreichischer Seite wurde am Reichstag zu Regensburg eine so
scharfe Sprache geführt, daß Hessen-Darmstadt schon im Juli nicht mehr wagte, einen Subsidien-Vertrag mit England abzuschließen.
Am 12. August 1756 schrieb Hardenberg an den Kammer-Präsiden ten von Münchhausen in Hannover.
„Nach der mir bekannten Gesinnung des Landgrafen wird Hochder„selbe sich von des Königs von Großbrittanien und Preußen Majestät
„nimmermehr trennen.
Vielmehr nach Vermögen alles dasjenige unter«
„stützen was zur Aufrechterhaltung des protestantischen Wesens dienlich „sein kann."
„So lange Ihnen aber nicht bekannt:" „1.
WaS für mesures beide Majestäten im Fall einer französischen
„Invasion genommen?"
„2.
WaS für eine Armee den Franzosen entgegen zu stellen?"
„3.
Wo sich selbige zu versammeln beliebet werde?"
„4.
Ob noch Mehrere und Welche, protestantische Reichsstände
„mit ihren Truppen daznstoßen werden? So lange sehe ich meines Orts ,',nicht ein, wie vor näherer Erörterung der vorbemeldeten Fragen, der
„Herr Landgraf einen Entschluß wegen Zustoßnng eines Corps Truppen „fassen könne.
Außerdem werden sich Ser. vorzusehen haben, dem Gegen
theil keine unzeitige ombrage zu geben,
sonst,
wenn der Uebergang
„am Ober-Rhein geschehen
sollte,
Hochderselbe
am Meisten
exponirt
„wäre".
„Und da der größte Theil der hiesigen Truppen außer Lande- ist, die „Bestung Rheinfels auch nicht unbesetzt bleiben kann, so kann Ew. tzxcel„lenz leicht ermessen, daß auf ein beträchtliches Corps hiesiger Truppen „zur Formirung einer Armee kein sonderlicher Staat zu machen ist, wenn „ich auch Ew. Excellenz im Vertrauen melden kann, daß die Infanterie „bedeutend verstärkt werden soll.
Sollte, wie es den Anschein hat, we-
„gen de» protestantischen WesenS etwas zu befürchten stehen, so dürfte „meines
ErmeffenS das ausgiebigste Mittel sein, auf Errichtung einer
„Union zwischen den evangelischen Ständen Bedacht zu nehmen.
Je eher
„dies geschieht, je mehr wird dem kaiserlichen Hofe die Gelegenheit be«
„nömmen, einige evangelische Höfe auf seine Seite zu ziehen."
Die Antwort Münchhausens vom 13. September sagt: „Mich dünkt, wir haben einander mißverstanden.
Die Meinung hie-
„sigen OrtS ist nicht die, öffentliche Veranstaltungen zu machen oder eine
„Liga mittelst Zusammenbringung verschiedener Truppen zu bilden, welche „beite Objecte unsre Absicht keineswegs ansmachen, und unser bei dem
„Herrn Landgrafen gemachtes Ersuchen besteht nur darin zu erfahren, „wie viel Truppen derselbe zu stellen glaube, wenn Frankreich entweder „durch die Casselschen Lande oder durch das Westphälische in hiesige ein«
„zubrechen intendirt.
Auf den ersten Fall hat Se. Majestät, unser Herr,
„sich bereit erklärt, mit der ganzen Macht zu Ihren Truppen zu stoßen „und Dero Land bestmöglichst zu beschützen". „Seit dem 30jährigen Krieg sind keine gefährlicheren Zeiten in specie „für die evangelischen Stände gewesen.
Es scheint aber, die Conjunc-
„turen machen noch nicht genügsamen Eindruck."
Hardenberg las auS diesem Briefe heraus, daß zuerst, bis die eng
lische Armee da sei, Heffen sich allein zu schützen hätte.
Er machte also
dem Landgraf den Vorschlag, so schnell alö möglich Infanterie und Kaval lerie bedeutend zu vermehren.
In diesem Votum vom 5. September
sagt er: „Ist eS bei den Franzosen ein Ernst die Kaiserin zu secundiren, so
„ist Alles daran gelegen, sofort Truppen zusammen zu bringen, um sich
„zu opponiren.
Die Erfahrung zeigt, daß geringe Mittel und geringer
„Aufwand zu rechter Zeit von weit größerem Nutzen sind, als große „und mit vielen Kosten verknüpfte, aber zu spät gemachte Anstalten."
EtwaS später ist er außer sich über die geringen Truppen, die Han nover stellen wollte.
„Eine Armee von 31,400 Mann ist viel zu schwach, um Hannover,
„Hessen und Westphalen zu decken, sintemalen die Franzosen mit einer „viel größern Armee kommen werden."
^Die Minister der andern Staaten, so sehr sie Anfangs der preußische
Angriff gegen Sachsen erschreckt hatte, fingen an wegen der Saumseligkeit, die die Hannöverschen Minister blicken ließen, besorgt zu werden, auch daß Dänemark und Schweden so gar kein Interesse für die Gefahr der evan gelischen Stände zeigten, befremdete sie.
Geheimer Rath von Keller aus
Gotha schrieb am 14. October: „Wir hoffen von einem Tage zum andern auf Nachricht von Koppen„hagen und Hannover.
Herr von Münchhausen versichert:
„Sowie sie
„Befehle vom Könige erhielten, würden sie sich mit ihren Plänen äußern."
„Indeß ist zu fürchten, daß diese Lethargie und dieö Zaudern binnen „Kurzem ein unumstößliches Hinderniß werde, die protestantischen Länder
„zu einem einmüthigen Plane zu einen, wie es das allgemeine Interesse „in so gefährlichen Umständen fordert.
Man wird sehen, ob dann noch
„eine Möglichkeit sein wird, einen richtigen Plan zu entwerfen, für den
„Fall, daß eS Oesterreich gelingt, die katholischen Fürsten zu bewegen, ihre „Truppen mit den kaiserlichen zu vereinen, und das kann leicht geschehen, „wenn die Franzosen in'S Reich einrücken."
Im October brachte Preußen die pidces justificatifs, das heißt die sämmtlichen Verhandlungen und Verträge, die zwischen Oestereich und
Sachsen geschlossen waren, an den Reichstag und führte damit den Beweis,
daß das Einrücken in Sachsen nur Nothwehr von preußischer Seite war; Keller versicherte am 27. October: „Die Gegenpartei wird die Sache auf'S Aeußerste treiben, um von „dem blinden Eifer zu prositiren, der fast alle Katholiken befielt.
ES ist
„recht traurig, daß die protestantischen Höfe nichts desto weniger in ihrer „Gleichgültigkeit verharren.
Sie behandeln die Sache nur bruchstückweise
„mit einer Indolenz, die allen Glauben übersteigt .... Alles, was nicht
„den König von Preußen vernichtet, wird in Wien mißfallen."
Oesterreich brachte den Antrag auf dem Reichstag ein,Preußen des Landfriedensbruchs anzuklagen und Sachsen zu entschädigen.
Dagegen
erhoben sich Hessen-Kassel und Gotha mit einem energischen Votum, in
dem nachgewiesen wurde, daß ja die beiden Kläger dem Paragraphen, der die Conspirationen verbot, eben so wohl zu nahe getreten seien.
Sie
hofften die übrigen protestantischen Stände sollten sie unterstützen, aber
Hannover zögerte beizutreten und Braunschweig sprach
oberstrichterlichen Amte des Kaisers:
sogar von dem
„Sie wollen die Feuerbrunst erst allgemein werden lassen, ehe sie „löschen, schreibt Keller*) 27. November, sie wollen die kaiserliche Regie-
„rung zum Frieden ermahnen, und bedenken nicht, daß fremde Mächte „und Länder dabei hetheiligt sind, die nicht unter unsern Gesetzen stehen.
„Ich bin von Schmerz durchdrungen, so wenig festen Grund unter ynsern „Landsleuten und Glaubensgenossen zu finden.
Wir aber wollen an
„unserm Votum festhalten, und sollten wir allein damit stehen!" Jetzt wurde der
französisch - östereichische Vertrag bekannt, wonach
Frankreich die Niederlande erhalten sollte, wenn Oestereich Schlesien znrück erobert hätte.
Die noch Zweifelnden wurden von der Wahrheit der
Thatsache überzeugt, als die Oesterreicher aus den Niederlanden abzogen
und im December in Franken und in Thüringen in die Wintorqqartjere
einrücktev.
Die bittersten Klagen der betroffenen Gegenden wurden laut.
Den 30. December schrieb Hardenberg abermals an Münchhausen: „Die Adspecten deS bevorstehenden neuen Jahres versprechen freilich
„nicht viel Gutes und das ganze systema imperii wie auch die evange„lifche Religion scheinet um so mehr einer nicht geringen Gefahr unter-
„worfen zu sein, da mit vielem Grund zu vermuthen, daß sämmtliche „katholische Stände mit einander
einverstanden sind.
Ein auSgiebigeS
„Mittel dagegen würde sein, wenn auch die protestantischen Stände d’ac-
„cord wären.
Allein gleich wie hierzu wenig apparence ist, so kommt
„eS meines Erachtens auf die baldige Ergreifung von Maßregeln an,
„wodurch den Besorgnissen begegnet werden kann.
„England dependirt Solches.
Von Sr. Majestät in
Wann Dieselben, da eS Ihnen nicht an
„Macht und Autorität fehlet, sich vor den Riß zu stellen und Andere durch
„Ihren Vorgang zu ermuntern geruhen wollen, so werden viele protestan-
„tische Stände veranlaßt werden, sich an Höchstdieselben anzuschließen und „unitis consiliis et viribus zu Werke zu gehen.............. Andre Stände,
„die sich selbst zu schützen nicht im Stande sind, müssen billig erwarten, „was von denen an Macht überlegenen Ständen vor Mittel werden an
„Hand gegeben werden." Er wiederholt, daß der Landgraf zu jeder Maaßregel und Anstren
gung seiner militärischen und finanziellen Kräfte bereit sei. Zugleich berichtet er, daß Frankreich überall erklären lasse:
„Daß der König keine Aenderung in den Religionssachen dulden, und
„nur als Garant des westphälischen Friedens zu Werke gehen werde." In
dem Fall hätten die Hessischen Lande nichts
zu fürchten.
Allein
trotzdem werde sich der Landgraf nicht von England trennen, nur bäte er, *) Geheime Rath Keller in Gotha, ist derselbe der früher in Würtembergischen Diensten war und oben erwähnt wurde.
Friedrich August, Freiherr vou Hardenberg.
594
man möge ihm ihre Pläne eröffnen, damit er beurtheilen könne, ob Heffen
wohl anf alle Fälle geschützt sei; und ob und wie bald die hessischen Truppen auS England zurückkehren könnten? Münchhausen antwortet auf diesen Brief den 3. Januar 1757:
„Man sieht leicht, welche bedenkliche Folgen eS sowohl für die Frei« „heit der Stände als auch der Religion haben kann, wenn die starken „evangelischen Mächte erst außer Stand gesetzt sind, sich beider anzunehmen.
„Die Gefahr ist um so größer, älS man Mittel gefunden, den Eifer, den
„die Nordischen Kronen für daS evangelische Wesen früher gezeigt, einzu-
„schläfern, und andererseits, wenn die Absicht zur Ausführung kommt, „fremde Truppen in'S Reich zu ziehen, dem Lande verschiedener Stände
„das Uebelste droht." „Ich brauche Ew. Excellenz nicht erst bemerklich zu machen wie die „Besorgniffe, insofern sie die Religion und Freiheit angehen, allen evan-
„gelischen Ständen gemein sind. . . . Der König, mein Herr, hat als „Churfürst an dem Gegenwärtigen nimmer Theil genommen, daher kann
„man ihn mit Recht vor Andern nicht anfallen.
Wird aber über das,
„was Recht erfordert, hinaus gegangen und blos der Wille zu schaden,
„ein unverdienter Haß und die Erreichung anderer Zwecke verfolgt, so „gebe ich Ew. Excellenz zu bedenken, ob die hessischen Lande weniger
„als wir zu befürchten haben?
Eine gemeinsame Zusammenziehung der
„Kräfte zur Beschützung der beiderseitigen Grenzen
ohne weitere Rück-
„sichten als welche Zeit und Umstände nicht zu lassen, scheint mir für
„Beide gleich rathsam, wenn man sich nicht der Gefahr, über den Haufen
„geworfen zu werden, aussetzen will.
Ich gebe zu, eS werde den Plan
„sehr erleichtern, wenn man gewiß wäre, ob und wie bald die hessischen
„Truppen auS England zurückkommen, indeß kann man sich auch ohne „diese Nachricht „handenen
oder
über die gegenseitige Beschützung mit den
zu
stellenden
Truppen
vereinigen
und
noch vor-
stelle
daher
„Ew. Excellenz anheim, ob die täglich näher kommende gemeinschaftliche
„Gefahr nicht erfordre, daß die Sache ohne Verzug angegriffen werde." Hessen hatte 6000 Mann in England, daS Höchste, was das Land
auf einmal an Mannschaften stellen konnte, waren 20— 25000 Mann, und da in Friedenszeiten ohne Zweifel kaum ein Drittel davon vorhanden
war, so erscheint das Verlangen von Hannover eigenthümlich; und, das
Aeußerste gerechnet, waren 12000 Mann ausreichend um Heffen zu decken? Den
10. und 17. Januar 1757
sollte
am Reichstag abgestimmt
werden:
1.
Ob
solle?
und
der Reichskrieg 2.
Ob
die
gegen
Krone
Preußen
Frankreich
erklärt werden als
Garant
des
westphälischen
Friedens
zur
Hülfe
gerufen
werden
solle?
Hessen-Caffel, Wolfenbüttel, Gotha, Weimar, Hannover und wunderbarer
Weise Würtemberg stimmten gegen jede Gewaltmaßregel und gegen die
Kriegserklärung.
Die katholischen Stände,
vornehmlich die geistlichen
Fürsten verwarfen laut eines Briefes von Wülknitz*) vom 24. Januar:
„alle friedfertigen Vorschläge, Ihre Gesandten nahmen nicht einmal die
„angebotene restitution der Chursächsischen Lande ad referendum, und
„setzten auf die bekannte tumultuarische Weise die Kriegserklärung gegen
„Se. Majestät in Preußen per majora durch.""
Ansbach, Bremen,
Darmstadt, Bernburg fielen von der protestantischen Partei ab und stimm
ten für die Kriegserklärung und zwar hatte man das AnSbachsche Votum,
den 9. Januar, den Tag vor der Abstimmung dem Herrn von Wülknitz abgenommen und einem der andern Gesandten Baron von Seyfried über tragen, desgleichen war das Darmstädtische durch eine Intrigue von Chur-
mainz einem Baron von Teufel gegeben und zwar in andrer Form, wie eS sonst beim Reichstage gebräuchlich, blos per rescriptum des HofeS.
Der AnSbachsche Minister von Seckendorf, der in östereichischem Sold stand, hatte den Bremenschen und den Bernburger Gesandten Herrn von
Pfau seit Wochen bearbeitet, und Seyfried und Pfau gaben gefälschte Abstimmungen ab, die von ihren beiden Regierungen später verleugnet
wurden.
So kam die Majorität für den Reichskrieg gegen Preußen zu
Stande, ganz ähnlich wie hundert und zehn Jahre später am 14, Juni 1866
durch das Votum von Victor von Strauß.
Nun folgte eine böse Nachricht der andern, Wülknitz durchschaute nach und nach das ganze Gewebe von Intriguen, die beim Reichstag in Scene gesetzt waren.
Die Verträge zwischen Oestereich, Frankreich und Rußland
traten völlig an'S Licht.
Vom 23. Februar ist ein Votum von Harden
berg vorhanden, in dem er sagt:
„Da schriftlich weder eine rechte Union der evangelischen Stände, „noch eine Neutralitätserklärung zu Stande gekommen, so halte ich dafür, „daß schleunig eine Zusammenkunft in Hannover zu veranlassen, um
„eineStheilS das hannöversche Ministerium zu rectifiöiren, anderntheilS
„dessen eigentliche Absicht zu ergründen;
überhaupt aber einen
„Plan wegen des ferneren Zusammenhandelns und souteniren der Neu
tralität zu vereinbaren.
Eine solche Verbindung kann keinöm Andern
„anstößig sein als Denjenigen, die mit Unterdrückung der Stände und *) August Ludwig von Wülknitz geboren 1695 in Biendorf im Anhaltschen, von 1744 an, Reichstagsgesandter für Hessen-Cassel, Mecklenburg-Stralitz, Naffan-Dietz, Naffau-Dillenburg und Ansbach. Er starb 1768 unvermählt. (Nach handschrift lichen Notizen des Freiherrn von Meusebach, in einer Sammlung von Leichenpre digten zu Ober-Wiederstedt befindlich.) Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6
41
„der Religion umgehen. Es wiL aber die höchste Zeit fein, die Fran'„zosen können ihre Drohungen bald genug auSfiihren." Im März schrieb er nach Berlin an den Grafen PodewilS. Er stellte
vor, wie unumgänglich nothwendig es sei, daß die protestantischen Höfe
auf den Reichs- und Kreistagen einerlei Sprache führten und bat flehent
lich, man möge von Berlin auS Hannover treiben: „Alle unsre Bemühungen bei den Andern sind umsonst, so lange „Hannover nicht vorgeht, hinter dem man doch das mächtige England
„weiß." Oestereich und Frankreich traten nun offen gegen die dissentirenden Stände auf.
Oestereich forderte von den Ständen die Stellung ihrer
(Kontingente und Beiträge zum Reichskrieg, die sogenannten Römermonate.
Hannover, Braunschweig, Hessen verweigerten sie, Weimar und Gotha
wurden mit Gewalt gezwungen, sie zu zahlen. Alles hoffte nur auf die Preußischen Siege.
rief daher lauten Jubel hervor.
Die Schlacht bei Prag
In derselben Zeit hatte Oestereich durch
den Grafen Colloredo in London für die dissentirenden Stände ein Neutralitätöproject übergeben lassen, von dem Keller 17. Mai 1757 schreibt:
„Dies Projekt wird immer ein scandaleuseS Denkmal des Hochmuths „und der Arroganz der beiden alliirten Höfe fein.
Hält man es gegen
„den Vertrag zwischen Preußen und England, so kann man nur empört „sein über die unwürdigen und demüthigenden Vorschläge dieses Neutra-
„litätöprojects.
Allein eben so wird eS für die Nachwelt ein Denkmal
„bleiben, daß zur selben Zeit als dies Hohnsprechen geschehen ist, eine
„solche Demüthigung und Züchtigung in Böhmen stattgefunden hat."
Alle bis dahin schwankenden Fürsten waren nach und nach zu Oest reich übergetreten, so der Herzog von Würtemberg, der jedoch Mühe hatte,
feine noch fehlenden 1000 Mann zu stellen, da die Würtemberger in hellen Haufen desertirten,
„zu müssen."
„um nicht gegen Se. Majestät in Preuße» fechten
Der Herzog reiste Anfangs Mai nach Wien, um den Ge
burtstag der Kaiserin Königin mit zu feiern.
Wülknitz erwähnt dies in
einem Briefe vom 14. Mai an Hardenberg und setzt hinzu:
„Vielleicht
„daß indeß die Nachricht von der Schlacht von Prag daselbst angekommen „ist, et a rendu la fete plus parfaite!“
Im Juni verweigerte der Landgraf durch Hardenberg einen Neu tralitäts-Vertrag, den Frankreich anbot:
Mit der Bedingung sich von
England loszusagen, und mit der hochmütigen Erklärung des Grafen Fol lord im Namen des Königs:
„Den Staaten, die sich dem ReichLconclu-
„sum nicht fügten, könne Frankreich nur noch aus Gnaden, nicht von
„Rechtswegen eine Neutralität zugestehen."
Am 13. Juni wendete sich Hardenberg abermals an Münchhausen,
er berichtet, daß von Berlin daS Project zu einer näheren Bereinigung geschickt wäre, daß der Landgraf völlig damit d’accord sei und den Ge neral von Donop nach Berlin geschickt habe, um den Verhandlungen bei
zuwohnen.
Münchhausen antwortete am 16., daß das Unionswerk von Berlin angekommen und allerdings loyal und zweckmäßig sei.
Freilich wäre
es zweifelhaft, da auf Kopenhagen
und Stockholm
nicht zu rechnen sei, wohl nur wenig evangelische Stände und gar keine
katholischen zu gewinnen wären, ob es überall von effect sein werde.
Indeß bei dergleichen wichtigen Angelegenheiten müsse freilich einer den Anfang machen.
Deswegen sei von Hannover an den König berichtet,
und hoffe er, der König werde zustimmen. „Giebt Gott, daß der König von Preußen bald Meister von Prag „werde, und daß der Herr Herzog von Cumberland die Absicht der Feinde
„in Westphalen vernichte, so werden sich ja hoffentlich in Deutschland noch „Leute finden, die nicht selbst an den Ketten schmieden wollen, die unver-
„meidlich sind, wenn die östereichischen und französischen Absichten gelingen.''
Dieser Brief brachte Hardenberg außer sich:
„Ew. Excellenz äußern in dem Schreiben vom 16., der Entwurf „solle erst nach London geschickt werden."
„Ich kann und darf Ew. Excellenz nicht bergen, daß diese Wendung
„hier um so mehr überrascht, als Se. Majestät von England schriftlich „und mündlich wiederholt die Idee einer Union goutiret und zugesagt
„die Jn'S Werksetzung nach dem Gutfinden Sr. Majestät in Preußen zu „billigen.
In diesem Betracht und in der festen Hoffnung, daß dieser
„Plan ferner keinem Zweifel unterworfen werde, hat der Landgraf Herrn
„von
Donop nach Berlin geschickt und frägt an, wen Se. Majestät
„von England zu diesem Negotium absenden werde?"
„Je mehr sich die Gefahr vergrößert, desto nöthiger hält man, daß „endlich die verlangte Bereinigung zu Stande komme, wenn wir nicht riS„kiren wollen, von allen Reichsständen isolirt zn sein."
„Wäre eS gefällig gewesen vor Jähr und Tag nach den hiesigen
„Vorschlägen auf eine solche Union Bedacht zu nehmen, und über daS
„entstehende Aufsehen sich hinweg zu setzen, so stehet zu glauben, daß die „jetzigen mißlichen Umstände gar nicht existiren würden."
„Wie aber geschehene Dinge nicht mehr zu ändern sind, so kommt „eS jetzt nur darauf an, daß man ohne weitern Zeitverlust zu„sammentrete und den schwachen Ständen zeige, daß man sich ihrer ernst-
„lich anzunehmen gedenke. ....
Friedlich Aügllst, Freiherr von Hardenberg.
598
„Durchlaucht ist um so mehr genöthigt hierauf zu appuhiren, alS der„selbe, da die Observatiönsarmee nun die Weser passirt, sich also noch
„weiter entfernen wird, sich von allen Seiten exponirt sieht, zu geschwei„gen, daß die Niederhessischen Lande völlig offen sind, so sind auch die
„Übrigen Landestheile durch die im Elsaß sich sammelnden Truppen schwer „bedroht . . . Wenn auch die französischen Drohungen den Landgrafen
„seinen Ansichten nicht untreu machen, so verlangt er nun doch endlich
„statt der Worte Thaten zu sehen."
Münchhausen antwortete ziemlich kleinlaut: „ Jetzt käme es freilich auf das Aufsehen nicht mehr an, dem König
„läge daS Interesse des Landgrafen, wie sein eignes am Herzen.
ES sei
„zweifelhaft ob früher schon eine Union zu Stande gekommen sein würde."
Am 27. April schreibt er: „Jetzt wären endlich die Instructionen für die Gesandten eingetroffen, der
„König approuvire den Unionsvorschlag.
Es sei auch nicht anzunehmen,
„so lange die ObservationSarmee im Stande sei, daß die Franzosen sowohl „gegen Hoffen wie gegen Hannover etwas unternähmen!"
Inzwischen aber hatte Hardenberg, da die Franzosen schon bei Ehren breitenstein waren, den Landgrafen beredet, Cassel zu verlassen nnd sich
nach Hamburg zu begeben.
Die Erbprinzessin ging nach Stade.
Harden
berg erhielt eine sehr unbeschränkte Vollmacht, er wählte den Kammer director Waltz und den Erbmarschall von Riedesel als Assistenten, da
Beide eine sehr genaue Kenntniß des Landes besaßen. Minister von Donop war in Berlin, Eyben und der VormundschaftSrath Stein begleiteten den Landgrafen, der Caffel verließ, als Rinteln mit seiner schwachen Besatzung
capituliren mußte.
Die Franzosen zeigten sich schon bei Paderborn und
6000 Mann Pfälzische Truppen, die bei Düsseldorf gestanden, hatten Ordre
erhalten, sich in Arnsberg mit 10000 Maün Franzosen zu vereinigen.
Münchhausen gab am 4. Juli endlich die Erklärung, daß der Wech sel des Ministeriums in England alles anfgehalten und daß man hoffen müsse, das neue Ministerium werde bald zur völligen Consistenz gelangen.
Der König von England genehmigte den UnionStractat.
spät.
ES war zu
Hardenberg ließ die Archive und Gelder von Caffel in Sicherheit
bringen, er ließ bei dem Churfürsten von der Pfalz Vorstellungen machen
wegen der Pfälzischen Truppen, die Hessen bedroheten.
Man gab zur
Antwort: „ES seien die Truppen in französischem Sold, man habe keine Macht „darüber, übrigens würde es ja auch wohl gleichgültig sein, ob Pfälzer „oder Franzosen Hessen besetzen."
Am 18. Juli rückten die Franzosen in Caffel ein, nachdem man dem
Marschall d'Etröe und dem Marschall Contade den Einmarsch in die damals befestigte Stadt Cassel und in die übrigen festen Plätze freiwillig eingeräumt hatte unter der Bedingung, das Land zu schonen.
Darauf hatte d'Etröe mit der hessischen Regierung ein reglement
vereinbart, dessen erste Artikel lauteten: 1. ES werden keine Contributionen an Geld gefordert. 2. Nichts wird in
der Regierung
und der
Religion des Landes
geändert. 3. Das Land wird als Freundesland behandelt und sorgfältig geschont.
Nun begannen die kleinlichsten Bexationen,
Man forderte von Har
denberg, er solle angeben, wohin der Iesuitenpattr gekommen, der den Erbprinzen zur Flucht beredet hätte? dann eine Requisition über ein Sub
ject, einen Mr. Lafont, der sich über die Regierung zu Hanau beschwerte,
weil ihm seine Frau davo,n gegangen sei! Hardenberg wies bei Ersterem nach, daß er in sein Domicil in Oest reich zurückgeschickt sei; bei Letzterem, daß er halb verrückt wäre, und sei
nerseits Frau und Kinder im Stich
gelassen habe.
Dann kamen im
August Forderungen von Fourage und Lebensmitteln, Eaffel mußte zwölf
hunderttausend Rationen liefern, die nach und nach
auf 3 Millionen
gesteigert wurden, Hanau 121,000, Schaumburg 250,000, Schmalkalden 10,000 Rationen. Das nannten die Franzosen „das Land
als Freunde behandeln!"
Freilich auch den katholischen Fürsten spielten die Franzosen nun ebenfalls
nicht übel mit, z. B. wurde Bayern die Wahl gelassen, ob eS 6200 Mann
HvlfStruppen geben, oder für 30,000 Mann Franzosen Winterquartiere liefern wolle?
Hardenberg und Waitz mußten gemeinschaftlich die erste böse Zeit in Castel regieren, und zwar völlig auf eigne Hand, denn von dem Land
grafen erhielten sie weder Befehle noch Briefe. Ende August stellte sich heraus, daß der alte Herr sich mit dem Minister von Eyben überworfen'
hatte, Eyben kam nach Cassel zurück und brachte Hardenberg den Befehl
zu dem Landgrafen nach Hamburg zu kommen,
Seine Vollmacht erhielten
Donop und Waiz. Anfang September reiste Hardenberg nach Hamburg ab.
Am 26. Juli war die Schlacht bei Hastenbeck geschlagen.
Der völ
lig unfähige Herzog von Cumberland, (den man in England für einen
Feldherrn hielt, weil er eine Hand voll Rebellen zu Paaren getrieben), hatte den FeldzugSplan, den Friedrich der Große entworfen und in Eng
land hatte übergeben lassen, nicht befolgt, sondern war nach seinem eignen Gutdünken verfahren.
Bei Hastenbeck verlor der Herzog den Kopf und
gab Befehl zum Rückzug, während auf der andern Seite die Schlacht be-
reitd so gut wie gewonnen war; so ging sie wirklich verloren und Cum
berland krönte sein Werk durch den Abschluß der Convention von KlosterSeven.
Nach ihren Bestimmungen sollten die deutschen Hülfsvölker der
ObservationSarmee in ihre betreffenden Landschaften zurlickkehren.
Schon
hatten die Heffen ihren Rückmarsch angetreten, da erfuhr der Landgraf, daß der Marschall Richelieu Befehl gegeben, das hessische CorpS beim Ein
tritt in das Land zu entwaffnen.
Richelieu hatte gegen Donop geäußert,
aus Rücksicht auf den Landgrafen sei dieser PassuS nicht in die Conven tion gesetzt, aber er sei fest ausgemacht. Sofort schickte der Landgraf Hardenberg an den Herzog von Cum
berland ab, der nach seinem übereilten Rückzüge nach Stade, sich daselbst
friedlich bei seiner Schwester, der Erbprinzessin von Hessen, etablirt hatte. Nach Hardenbergs Bericht vom 23. September reiste er von Ham burg zu Wasser ab, traf um 2 Uhr in Stade ein, ließ sich sogleich bei
dem Herzog melden und fragte: „Ob bei der Convention etwa ein geheimer Artikel die Entwaffnung
„derer Truppen stipuliret?" Sr. Durchlaucht erklärten:
„Dies Verlangen des Duc de Richelieu
„laufe der bonne foi zuwider, es sei niemalen von der Entwaffliung der
„Truppen die Rede gewesen!
Er wolle dem Herzog Richelieu Vorstel-
„lungen machen, Ihro Schuldigkeit erfordere es und Ihrs eigne Ehre
„verstre dabei." Hardenberg bat den Herzog die Ordre zu geben, daß der Rückmarsch der Hessen sistirt werde, und sie in'S Lager zurück zu ziehen, suchte den
Erbprinzen von Braunschweig, der in dem Lager selbst war, auf, und meldete ihm, daß den braunschweigischen Truppen dasselbe Schicksal drohe.
Dann ging er zu dem Grafen Lynar, der als Gesandter de« König« von
Dänemark, welcher die Garantie der Convention übernommen, bei dem
Abschluß gegenwärtig gewesen war.
Hardenberg versicherte:
„Der Herr
„Graf Lynar erscheinet höchst seltsam, sintemalen er die Convention vom „heiligen Geiste eingegeben vermeinet; puncto der Entwaffnung erklärte „derselbe:
„Der Landgraf müffe sich fügen!"
Obgleich ich bemerkte,
„daß derselbe schon vor dem Abschluß der Convention von den hegenden
„Absichten de« Marschall« unterrichtet war, so war ich
doch genöthigt
„ihn zu flattiren, erklärte aber schließlich, daß der Landgraf nimmermehr
„in diese Entwaffnung willigen und lieber die äußersten Extremitäten er„warten wolle, als zu einer so deShonnorablen Sache die Hände zu bie-
„ten.
Der Herr Herzog will den Grafen Lynar sogleich an Richelieu
„nach Braunschweig schicken. „len effect.
Von dieser Demarche erwarte ich nicht Die»
Ehe den Herzog verlassen, habe ich mich selbst überzeugt, daß
„die Ordre an die Offiziere, die Truppen in's Lager zurück zu führen,
„wirklich abgegangen ist." In derselben Weise falsch und bundbrüchig verfuhren nun aber auch
die Franzosen in Hannover und Braunschweig. In welcher Weise Richelieu daselbst wirthschaftete, wurde von seinen eignen Landsleuten gebrandmarkt,
indem sie den Palast, den er sich von seinen erpreßten Geldern in Paris
baute, spottweise den pavillon d’Hannover nannten.
Die hannöverschen
Minister sahen zu spät mit Schrecken ein, wie thöricht sie gehandelt. Sie
suchten nun verzweifelt Hülfe und Rath.
Vom 18. October ist ein Privat-Gutachten von Hardenbergs Hand, betitelt:
Erforderte Gedanken eines Patrioten an seinen Freund über den
kläglichen Zustand der hannöverischen Lande und Armee.
»Ich sehe den Verderb der königlichen Länder und schließe, daß unser
„Zustand weit kläglicher als der von Sachsen sei.
Der erste und große
„Vorwurf meines Schreibens wird fein:
„1. Ob es rathfam fei die Convention von Kloster-Seven zu brechen?
oder
„2. Zu halten? oder was „3. Für ein Mittelweg ausfindig zu machen? „4. Was aus diesem für Mittel zur Selbsterhaltung gewählt werden
müssen." „Ich werde mich bei Allem der Kürze beschließen.
Wir können kei-
„nen Krieg in der Situation, in der wir uns befinden, mit Frankreich
„aushalten.
Wir müssen von dem Willen und den Kräften des Berliner
„Hofes besser unterrichtet sein". „Dem kaiserlichen Hofe dürfen wir weiter keine ombrage geben."
„Die Freundschaft Dänemarks müssen wir zu conserviren suchen." „Mit Braunschweig und Hessen gemeinschaftliche Sache machen."
„Rach diesen Sätzen glaube ich nicht, daß es rathfam sei die Con„vention z« brechen."
„1. Weil wir weder von dem Willen noch den Kräften deS Berliner „Hofes unterrichtet find; und also befahren könnten, daß der König mit
„Frankreich einen Separatfrieden schließen und uns dem Gutfinden des „französischen Hofes überlassen könnte."
„2. Weil, wenn wir solche brechen, wir den einzigen Freund, den
„König von Dänemark auch verlieren werden; da dessen gloire eineStheilö „erfordert über die ertheilte Garantie zu halten, andererseits die prädomi-
„nirende französische Partei an diesem Hofe uns nichts Gutes hoffen lasst." „3. Weil wir dadurch uns gänzlich mit dem Wiener Hofe brouilliren „und vielleicht den FiScal gegen uns excitiren werden,"
„4. Weil wir nicht sicher vor Schweden sein, dessen Absicht auf die
„Acquisition der Herzogtümer Bremen und Berden seit langer Zeit ge--
„richtet sein." «ns
die militärischen Operationen keinen sonderlichen
„AuSgang versprechen.
Die Franzosen auch in der Hinsicht im Vortheil
„5. Weilen
„find, daß sie sämmtliche größere Städte in Besitz haben." „Ich glaube also ad 1, daß es sehr gefährlich die Convention zu
„brechen: gestehe jedoch dabei gerne ad 2, daß solche auf die Art und Weise
„zu halten, wie selbige anjetzo ist, unmöglich und gar nicht rathsam sei."
„Moraliter unmöglich halte ich solches, weil in dem engen Be„zirk, den wir haben, 10 Batterien und 28 Escadrons auf die Länge
„nicht bleiben können, daß Soldat und Unterthan ruinirt wird.
Wie ist
„es möglich die Truppen in diesem Bezirk zu recrutiren, kleiden und remon-
„tiren?
Wie wird eS diesen Winter um die Lebensmittel, die jetzt schon
„fast um daS Doppelte gestiegen, stehen?
Rathsam halte ich eS nicht,
„weil mein Grundsatz ist, daß sich die Armee nicht theilen darf, da die
„CorpS so nach Holstein und Lauenburg gehen, so gut wie abgeschnitten „sind und unS im Nothfall nicht beistehen können."
„Wer die Beschaffen-
„heil der Elbe und unsre Schiffahrt kennt, wird eingestehen, daß zum
„Uebersetzen von 12000 Mann wenigstens 8—10 Tage nöthig sind. Ge„ setzt, Dänemark wolle selbige wieder herüber lassen, wird Frankreich dazu „stille sitzen?"
„Ebenso sind diejenigen Truppen, die nach Lauenburg gehen und auf „einzelne Fähren übergesetzt werden müssen.
Ehe dies möglich, können
„die Franzosen, die zu Harburg, Lüneburg und Celle liegen, daS Ufer
„besetzen, und wenn die Schweden sich regen, so können sie nach Umstän„den zwischen zwei Feuer kommen. „ES muß also
„3, bei dieser desperaten Lage der Sache auf einen Mittelweg gedacht „werden.
Diesen zu finden ist nicht ohnmöglich."
„Frankreich ist der Convention unstreitig in vielen Stücken zu nahe „getreten."
„1. Durch die Einnahme von Rheinfels." „2. Die unredliche Executicn in hiesigen Landen." „3. DaS verlangte ddsarmement der hessischen und braunschweigischen „Truppen."
„4. Die doppelt und dreifachen Sauvegarden; hartes Verfahren gegen „die königlichen Diener, Zurückhaltung der Kriegsgefangenen pp.
Dies
„Verfahren der Franzosen dem Reichstag und dem Publikum vorzulegen, „halte ich für höchst nöthig."
„ES leidet also keinen Zweifel, daß Sr. Königliche Majestät in
„totum und tantum davon abgehen können und wird nicht an einem schein-
„baren Grund fehlen, um die Truppen in die Winterquartiere rücken zu „lassen, zumalen die rauhe Jahreszeit nahe ist"
„Der Mittelweg, den ich also Vorschläge, ist dieser: daß man sämmt„liche CorpS zurückziehe und 3 Cordons bilde.
„Buxtehude nach Haffelfeld.
Einer gegen Harburg von
Der zweite gegen das Amt Seven, so daß
„Mutham (unleserlich) und Breiyerwöhrde die Limiten sein, und müßte „man zu diesem Ende die schwache französische Besatzung von Bremerwöhrde
„nöthigen Falls mit Gewalt delogiren.
Der dritte gegen Bremen.
Wir
„müssen zu unsern Winterquartieren den ganzen Winkel zwischen Weser, „Elbe und Ocker nehmen, und es koste, was es wolle sonteniren.
Zwar
„begreife ich ganz wohl, daß
„ad 4, dieses Bewegungen an den Höfen verursachen wird. ES fragt
„sich aber, ob eS besser, durch Theilung der Truppen ganz hvlfloö und „verächtlich zu werden, oder vor Hunger und Kummer selbige vielleicht
„utnkommen zu lassen, oder ob eS nicht vielmehr rathsam sei, diesen Mit„telweg, wozu Recht und Befugniß genug vorhanden, noch und zwar ohne
„Zeitverlust z« wählen.
Und dieserhalb stimme ich für das Letztere, jedoch
„mit Beibehaltung und Ergreifung aller der Wege, die die Klugheit er-
„fordert."
Er giebt nun diejenigen Personen an, die man nach Kopenhagen, Wien, Braunschweig schicken könne; sowie diejenigen auswärtigen Minister, „denen mit Geld beizukommen sei," wegen der Winterquartiere, der Anle
gung von Magazinen u s. w. Der Schluß lautet:
„ES sind inzwischen alles dies Gedanken, die
„ich nichts weniger als untrüglich auSgebe, vielmehr zur Prüfung über-
„gebe,
mit dem herzlichen Wunsche:
Gott segne die Rathschläge des
„Königs und seiner Räthe zum Besten deS Landes und so vieler seufzen-
„den Unterthanen." AuS einem Briefe deS Ministers von Münchhausen, Stade den 20. No
vember erhellt, daß alle diese Vorschläge Hardenbergs bis in'S Einzelne be folgt worden sind, daß sogar wie er angab, die Besatzung von Bremerwöhrde
zur Ausführung deS Cordons delogirt worden sei: „Ich spreche Ew. Excel-
„lenz
meinen gehorsamsten Dank für Dero gute Rathschläge aus und
„bitte doch nun inständigst Sr. Durchlaucht zu persuadiren fest zu halten
„und nicht nachzugeben." (Schluß folgt.)
Ein Freiwilliger von Gravelotte. (A. d. R.
Der junge Held, von dem nachstehende Aufzeichnung herrührt, ist todt; seine
Genesung war nur Schein; so mögen seine Worte als Zeugniß jenes schlichten preußischen
Geistes, der uns zum Siege verhalf, bewahrt bleiben.)
Am Morgen des 18. August, früh um 2 Uhr, wurde Generalmarsch geschlagen und von Pont-L-Mousson aufgebrochen.
ES war noch fast Nacht.
Ein kalter Herbstnebel benahm die Aussicht; ich ging halbschlafend, fast in stinktmäßig für mich hin. Allmählich machte mich die Frische des Morgens,
die immer mehr zunehmende Helligkeit und der Anblick der klarer hervor tretenden Landschaft erwachen. Wir gingen stundenlang zwischen Weinbergen und Gärten am rechten
Moselufer entlang.
Endlich ging die Sonne auf, der Nebel fiel, und der
herrlichste Herbsttag brach an.
An einer Landstraße machten wir kurzen Halt und konnten, daS Ohr
am Boden, fernen Kanonendonner hören.
Wir kamen auf den bevor
stehenden Kampf zu sprechen.
Mein Nebenmann, der Füsilier Pollow, erzählte mir manche schauer
liche Geschichte aus dem Feldzuge von 1866, den er mitgemacht, und wenn er dann sah, daß er meine kampflustige Stimmung dadurch eher erhöhte, als daß er mich kleinlaut machte, so rief er mir öfter zu:
passen sie mal auf,
„Na na, Stein,
sie werden bald ganz anders reden, wenn erst die
Kugeln uns um die Ohren pfeifen."
Er hielt meinen Enthusiasmus nicht für feuerfest. Gegen Mittag machten wir auf einer weit ausgedehnten Hochebene
Halt.
Die Gewehre wurden zusammengesetzt, Gepäck abgelegt und abge
kocht.
In weiter Entfernung vor uns vernahmen wir deutliches Schießen,
wie zusammenhängende Kanonensalven, ein Heulen fast ohne Aufhören.
Sehen konnten wir nichts. Kaum war ich mit meiner Suppe, die aus Reis, Salz und Kartoffeln,
in Waffer aufgesetzt, bestand, fertig, so wurde von allen Seiten zum Auf bruch geblasen.
Die in der Nähe gelegenen Truppenthetle, besonders viel
Artillerie, gingen voran, so daß uns Zeit blieb, wenigstens etwas von un
serm Mittag in der Eile noch zu verzehren. Der Major, in Besorgniß, daß überraschend schnell daS AufbruchSignal ertönen möchte, trieb unö zu äußerster Beschleunigung der Mahl
zeit, unser Hauptmann aber, der jovialste und kaltblütigste Mensch von der
Welt, rief unS ganz gemüthlich zu:
„Na, Kinder, beeilt Euch man nicht
zu sehr, eßt ruhig Eure Suppe, so viel Zeit ist noch." wirklich noch reichlich soviel Zeit.
Und eS war
Biele bereuten eS später bitter, in der
ersten Hast alles verschüttet zu haben.
Ich war, wenn ich mir auch an
der heißen Suppe gehörig die Zunge verbrannt hatte, doch wenigstens
etwas gesättigt und zufrieden. Bon zwei dem Kampfplatz zuführenden Wegen schlugen wir den rechten ein, ans dem wir nach einigen Stunden Marsches an den Schlachtfeldern
des 16. August vorüberkamen.
Sie waren schon größtentheilS gesäubert.
Hie und da lag am Weg ein mit Staub und Blut bedeckter Leichnam.
Diese Anblicke machten einen unverkennbaren Eindruck auf die Vorüber gehenden.
Wir wurden stiller, die Scherze hörten auf und keiner mochte
singen oder sich unterhalten. Jeder dachte, aber wohl jeder in verschiedener
Weise, über seine Lage nach.
danken an den Tod.
Es waren wohl meist die ersten ernsten Ge
Mir drängte sich beim Anblick dieser Todten zuerst
nur der eine Gedanke aus, daß die Unglücklichen schuldlos ihr theuerstes
Gut, ihr Leben hier opfern mußten für eine Sache, die nur durch den frevelhaften Uebermuth eines leichtsinnigen Volkes heraufbeschworen war.
Wo war da die ewige Gerechtigkeit, von der ich früher geträumt hatte. Dieser schreiende Contrast zeigte mir, daß es für den einzelnen Men schen wenigstens keine giebt.
Er ist eben nur ein Glied des Ganzen und
muß sich für dasselbe hingeben.
Aber hieraus folgt zugleich ein Schluß,
der meinen Muth aufrecht erhielt und mich sogar mit einer gewissen Freudig keit zu kämpfen erfüllte.
Ich sagte mir, da ich nun ein Glied dieses
Ganzen bin, da nun einmal die Sache soweit gekommen, daß sie nur mit
unserm Siege enden darf, wenn wir nicht unser Vaterland und unsere Angehörigen preiögeben wollen, da ich für die Erhaltung dieser beiden hier
im Felde stehe, so will ich wenigstens alles, was in meinen Kräften steht, dazu thun, um daö angestrebte Ziel zu erreichen.
Für mich, der ich «n-
verheirathet, unverlobt war, hatte dieser Entschluß zu seiner Entstehung
bei weitem nicht die Kraft nöthig, wie vielleicht bei manchem anderen Ca-
meraden; ich hatte ein kurzes Leben hinter mir, welches mir ebensowenig, wie eine bescheiden ausgemalte Zukunft Etwas geboten hätte, das mir eine allzu große Liebe zu ihm und infolgedessen Furcht hätte einflößen können.
Ich war fest entschlossen und gefaßt, und selbst der Gedanke an den Tod
(der mir allerdings auffallend fern lag) verlor das Schreckliche durch den Gedanken an die schöne und edle Sache, die wir vertheidigten. Ein wunderbarer, aber recht natürlicher Zug eines Cameraden fiel
mir während des Marsches auf. verloren.
Er hatte Tags zuvor feine Feldmütze
Ein anderer Camerad nahm eine in der Nähe eines Todten
liegende auf und bot sie ihm an.
Sie war recht gut erhalten.
sie eine Zeit lang, besann sich und warf sie wieder fort.
Er besah
Wenn man, wie
wir es waren, noch nicht verwildert ist durch den Krieg, dann kann man noch nicht auf dem vertrauten Fuße mit dem Tode stehen, wie Leute, die
viele Schlachten mitgemacht; und alles waö einem Todten angehört hat, hat etwas unheimliches und abstoßendes für uns, weil wir eben noch so
ganz im Leben sind und daran denken wollen.
Gegen 7 Uhr kamen wir in die Nähe des Kampfplatzes.
Es wurde
gehalten und zum ersten Male für mich ertönte das Commando: den" im Ernste.
„Gela
Es ist ein unbeschreiblicher Unterschied zwischen dem
Laden aus dem Schießstande und dem vor der Schlacht.
Was ich bis
dahin so mechanisch und ruhig unzählige Male gethan, das regte mich jetzt
ungemein auf und obgleich ich alle Kraft zusammennahm, so konnte ich doch eine unsichere Hast bei diesen bekannten Griffen nicht unterdrücken.
Zum ersten Male trat der Gedanke klar vor meine Seele: du Menschen tödten."
„Jetzt wirst
Aber das war auch nur ein kurzer, schnell ver
drängter Gedanke, der aber mich unbewußt ernster gemacht hatte. Mit großer Spannung verfolgten wir alle den vor uns tobenden Kampf, von dem wir allerdings mehr hören alö sehen konnten. Soldaten waren alle sehr ruhig und ernst gestimmt.
Die
Die Offiziere waren
heiterer oder versuchten es doch wenigstens zu sein. Endlich wurde das Signal zum Aufbrechen gegeben und nach einigen
kurzen Pausen während eines etwa viertelstündigen Marsches kamen wir in das feindliche Feuer; zuerst erreichten uns nur verlaufene Chaffepotkugeln
und Granaten, die mit einem dumpfen Knall hoch über unsern Köpfen
explodirten.
ES ging in rasendem Sturmschritt vorwärts, so daß eS mir
oft schwer fiel, mitzukommen.
Bor uns lag eine Schlucht mit zum Theil
steilen, felsigen Abhängen und Steinbrüchen.
Wir gingen hinunter, dann
eine Zeit lang auf der breiten Sohle in starkem Gedränge mit anderen Compagnien entlang, wobei wir eine Chaussöe passirten und zuletzt den steilen Abhang der anderen Seite wieder hinauf.
'kommen bin, weiß ich kaum;
Wie ich da hinaufgei-
nur das ist mir noch klar, es war sehr
schwierig, ich mußte mich zum Theil an Dorngestrüpp Heraufziehen; und eS ging doch recht schnell.
Wir wurden alle, so schien eS mir wenigstens,
wie von einer höheren Macht fast willenlos sortgerissen, die Kräfte wuchsen
«m jedes Hinderniß schnell zu überwinden und der Geist dachte nur an einS: „vorwärts!" Alle anderen Gedanken traten vollständig zurück.
diese „höhere Macht" war für mich etwas wirklich Vorhandenes.
Und
CS
war der in mir klar und fest dastehende Gedanke an die heilige Pflicht.
Der Muth, den ich der bevorstehenden Gefahr gegenüber in mir fühlte,
machte, daß ich dieselbe als eine ehrenvolle und ruhmreiche, nicht als eine
schreckliche und vernichtende ansah. von mir fern.
Er hielt jeden Gedanken an den Tod
Ich habe während des ganzen Angriffs, der jetzt erfolgte,
nicht einen Augenblick an Sterben gedacht.
Ich hatte ein Gefühl fast von
Gewißheit, daß mich keine Kugel treffen würde; das that nicht nur anf mich selbst, sondern auch auf meine zum Theil zaghaften Kameraden, die
ich öfters aufmunterte, eine gute Wirkung.
Mr hatten uns jenseit der Schlucht «uf einem, ebnen, ansteigenden Terrain gesammelt und gingen in Compagnie-Colonne vor.
Ein heftige-
Feuer entwickelte sich vor uns, als man unser gewahr wurde.
Aber zuerst
gingen, 'da wir noch ziemlich weit entfernt waren von der feuernden Schützenlinie, alle Kugeln über unsere Köpfe hinweg und nur aus dem zusammenhängenden Gepfeife und Geheule,»daS sie über unS anstimmten, konnten wir ihre Masse beurtheilen.
ich eS nie für möglich gehalten hätte.
Um unS entstand ein Getöse, wie
Es war eine Musik, bei der die
Baßbegleitung in einem beständig, bald stärker bald schwächer dahinrollenden Kanonendonner bestand nnd zu der die schaurige Melodie die heller nah
und fern, um und vor uns knatternden Gewehrsalven nnd Mitrailleusen-
schüsse bildeten. Kaurn verständlich wurde „schwärmen" kommandirt, aber nur zum Theil, weil nur halb gehört, auSgeführt.
Ich hielt mich mit meinem
Vordermann zusammen und eS gelang mir mit Mühe mich mit ihm ver ständlich zu machen.
Man konnte faktisch sein eigene- Wort nicht ver
stehen.
Da- Schießen auf die nur in dunkeln Umriffen sichtbaren, hinter Rauch, Dämmerung und Gräben versteckten Feinde, hatte unsererseits auf gehört.
Wir gingen mit gefälltem Gewehr im Sturmschritt vorwärts.
Aber jetzt plötzlich empfing uns ein wahrer Hagel von Geschoffen.
Der
Gegner, der uns schnell und entschlossen herankommen sah, nahm noch
einmal alle Kraft zusammen. schwarz mit Leichen bedeckt.
raden lautlos zusammensinken. ZugeS.
Rechts
lag neben unS das
ganze Feld
Ganz in meiner Nähe sah ich mehrere Kame
Ich stand am rechten Flügel des ersten
In diesen Augenblicken hatte ich ein sonderbares Gefühl.
Mir
war's wie oft im Traume, als ob eine unsichtbare Macht.sich meinem
raschen Schritt entgegenstellte und mich nicht vorwärts ließ, obwohl ich
wollte und mußte; als ob sie ein feines Netz um mich geworfen hätte und
mich zuriickzuziehen versuchte. schneller.
Aber mein Schritt wurde nur fester und
Ich glaube, es war das nnwillkiihrliche Auflodern der ganzen
Lebenskraft gegenüber der Gefahr, ein Gefühl das den Körper mit starrem Rieseln durchzieht, es war die unbewußte Empörung der Natur gegen den Tod, der mich wie eine unsichtbare Macht mit seinem bleiernen Athem
anhauchte.
Aber ich kannte ihn nicht, obgleich ich ihm scharf in'S Auge
sah, und ich wollte ihn auch nicht kennen.
Ein leises Zucken huschte plötzlich durch meinen Körper, wie eS mir
schien, in der Nähe der rechten Hüfte.
Ich kehrte mich nicht daran, ob
gleich eS mir auffiel und ging einige Schritte weiter.
Da fing es an,
mir dunkel vor den Augen zu werden; ich fühlte etwas Schwäche.
Der
Gedanke, daß ich verwundet sei, machte mich so wüthend, daß ich sofort
mein Gewehr lud, einen schwarzen Gegenstand vor mir aufs Korn nahm und feuerte, mit der stillen Hoffnung, einen Franzosen getroffen zu haben.
Da konnte ich das Gewehr nicht mehr hoch halten, um noch einmal zu laden, ich schwankte heftig, ging zu meinem zugführenden Lieutenant mit
angefaßtem Gewehr, meldete Mich verwundet und trat dann auf dessen
Weisung hinter die Compagnie zurück.
Ich weiß, daß ich noch eine kleine
Strecke gegangen bin, während mir der Athem immer knapper wurde und viel Blut aus dem Munde strömte.
Ich legte mich hin, mit vollem Ge
päck, ich konnte nicht mehr die Tornisterhaken loslösen, auch Mantel abnehmen.
nicht den
Die ganze rechte Seite wurde gelähmt und das Luft Da dachte ich eine kurze Zeit — eö war das erste
holen immer schwerer.
und einzige Mal — an den Tod.
Ich erwartete ihn mit Ruhe, nur der
Gedanke an den Schmerz der Angehörigen war mir schrecklich und nm
ihnen so viel Trauer zu ersparen, wäre ich gerne am Leben geblieben.
Diesem entstehenden Wunsch gesellte sich bald die Hoffnung zu.
Ich be
hielt meine Besinnung, die Thätigkeit der Lunge war sehr schwach, aber sie nahm doch nicht noch mehr ab.
Mit dem Gedanken an einen immer
wahrscheinlicher werdenden glücklichen Ausgang kam mir ein anderer: an
da- Verbandzeug.
Ich holte es mir mühsam aus der vorn im Rock be
findlichen Tasche mit der noch beweglich gebliebenen rechten Hand, öffnete mit Hülfe der Zähne das Täschchen aus Wachsleinewand und stopfte von der darin befindlichen Charpie in die Wunde, welche dadurch aufhörte zu
bluten.
Allmählig ließ
auch die Blutung aus dem Munde, die beim
Athemholen entstand, nach.
Aber jetzt kamen die grauenvollsten Augenblicke, die ich während jener
Nacht erlebt.
Nicht
heftigster Weise.
weit vor mir erneuerte sich daS Gewehrfeuer in
Unzählige Kugeln hörte ich Uber mir wegsausen, jede
«ach Schnelligkeit und Höhe mit einem verschiedenen, unheimlichen Singen.
So noch verwundet zu werden, in hiilfloser Lage, ohne sich vertheidigen zu können, das war ein aufreibender Gedanke.
Eine Kugel schlug ganz
nahe an meinem Kopf in die Erde, so daß mir der anfspritzende Sand in
das Gesicht flog. Nach einiger Zeit wurden von unserer sowie von feindlicher Seite Signale geblasen und das Feuern ließ nach, aber nur, um nach kurzer
Pause wieder ebenso heftig aufgenommen zu werden.
Diese- Schießen wiederholte sich vier oder fünf mal, bis vollständige Dunkelheit und vielleicht auch vollständige Ermattung auf beiden Seiten ihm ein Ende machten.
In meiner Nähe war es ziemlich still.
Obgleich
das ganze Feld bedeckt war, so hörte ich doch nur vereinzeltes Stöhnen
und Rufen,
sein.
Es müssen sehr viel Todte unter den Daliegenden gewesen
Ein Kamerad meiner Compagnie, Füsilier Miolff, lag ganz in meiner
Nähe, am Bein verwundet.
Wir hatten uns sviedererkannt und gaben
uns Mühe die Aufmerksamkeit der ab und zu auftauchenden Krankenwärter
auf uns zu lenken.
Ich versuchte zu rufen, aber das war so schwach und
leise, daß ich ihn bat für mich meinen Namen zu nennen und Jemand
heranzuziehen.
ES kam auch ein Krankenwärter, der einen älteren Offi
zier*) heranrief.
Dieser ließ mir, als er meinen Namen erfahren, das
Gepäck abnehmen, den Tornister bequem unter den Kopf legen und zwei
Mäntel überdecken, da mich heftig fror.
Am nächsten Morgen versprach
er, mich mit einer Tragbahre abholen zu lasten.
So in eine bessere Lage
gebracht, beruhigt und voll Hoffnung für den nächsten Morgen erwartete ich den Anbruch des Tages.
Meine Schmerzen waren nicht bedeutend
und nur dann empfindlich, wenn ich mich bewegte. Am Morgen des 19. kamen
die versprochenen Krankenträger
und
trugen mich zu dem nahegelegenen Verbandplatz. Unterwegs begegneten wir
dem abmarschirenden 42. Regiment aus dem ich mir den Lieutenant Fritz Zenke herauSrufen ließ, um ihm Nachrichten für die Meinigen aufzutragen.
Der Verbandplatz bestand aus einem langen in der Mitte erhöhten
Strohlager, zu dessen beiden Seiten, mit dem Kopfe auf der Erhöhung
ruhend,
die Verwundeten hingelegt wurden.
Ein Arzt sah
sich
meine
Wunde an, ließ meinen Verband ungeändert, schüttelte bedenklich den Kopf und sagte auf meine Frage, ob die Wunde lebensgefährlich sei:
Sie können noch geheilt werden."
schon mit Verwundeten angefüllte Tretmühle gebracht. gelegen, weiß ich nicht mehr genau.
*) Oberstlieutenant v. Massow.
„O nein.
Bon dieser Streu wurde ich in eine
Wie lange ich hier
Ih habe nur noch wenige Eindrücke
Ein freiwilliger Krankenpfleger des Barmer HiilfscorpS
davon behalten.
nahm sich meiner an, gab mir zu trinken nnd schrieb für mich einen Brief nach Hanse.
In der Nacht regnete es durch das Dach.
war faul und plagte mich durch den schlechten Geruch.
der Raum geleert.
Auch an mich kam bald die Reihe.
Däs Stroh
Allmählig wurde
Man brachte mich
Dort erhielt ich ein Bett in einer ziemlich düstern, kleinen
nach Gravelotte.
Bauerstube, in der sich schon drei andere Verwundete befanden.
Mit meinen Wunden ging es gut.
Der Arzt glaubte, sie würden
ohne Eiterung heilen, da sich noch keine Spur derselben zeigte.
mich int Allgemeinen wohl.
Ich fühlte
Nur die Nächte waren fürchterlich.
Traum führte mich wieder vor die feindlichen Schützenlinien,
Jeder
unzählige
Male wurde ich wieder verwundet, stürzte nieder, raffte mich wieder auf und schleppte mich vorwärts.
Zuletzt wurde die Aufregung der Träume
so groß, daß ich davon erwachte; und das allmählich immer leichter und
öfter, bis der Schlaf ganz wich.
auf kurze Zeit.
rationen
Ich nahm Opium, aber es betäubte nur
Ich hörte doch Alles, was im Zimmer vorging, die Ope
und sonstigen
Stubenkameraden
schmerzhaften Proceduren,
vornahm.
Wenn
ich die
die man mit meinen
Schmerzensschreie meines
Nachbarn, dem beide Beine zerschossen waren, hörte, dann bedauerte ich
ihn von Herzen und fühlte mich ordentlich zufrieden mit meiner Lage. Und dabei ahnte ich nicht, daß ich in lebensgefährlichem Wundfieber lag und einer Lungenentzündung entgegenging.
Nach einem Zeitraum den ich nicht
genauer anzngeben vermag, da mir alle Daten aus dieser Zeit dunkel sind, kam ich in ein besseres Haus und ein freundlicheres Zimmer.
lische Schwester Lieutenant Rnpe. erschöpft.
pflegte mich und einen
Eine katho
neuen Stubenkameraden,
den
Durch einen achttägigen Ruhranfall waren meine Kräfte
Ich lag da auf. dem Rücken, ohne zu sprechen, was mir vom
Arzte verboten war und ließ mit mir machen,
was man wollte.
Zum
Glück übernahm das Lazareth, dem ich zugetheilt war, ein Stettiner Arzt, Herr Dr. Kugler, der meine Eltern kannte und es sich angelegen sein ließ, Alles nur mögliche zu
meiner Wiederherstellung zu thun.
Schon sein
bloßer Anblick, wenn er Morgens mit seinem frischen, blühenden Gesicht
in unsere Stube trat und mir Aussicht machte, in Kurzem evacuirt zu werden, wenn er uns die angekommenen Briefe brachte und das Neueste aus dem Kriege erzählte, das Alles stimmte mich froh und zufrieden, zumal
da ich außer beim Verbinden der Wunden, nicht über große Schmerzen
zu klagen hatte.
Der Schlaf besserte sich, aber leider trat Husten mit
starkem Auswurf ein.
Ich warf dann mehrere Tage viel Blut aus, ohne
einen rechten Begriff davon zu haben, woher es käme und in welcher Ge fahr ich schwebte.
Eines Morgens kam der Arzt herein, um mir mitzutheilen, daß mir
eine freudige Ueberrafchung bevorstände.
Ich mußte ihm fest versprechen,
daß ich mich ganz ruhig dabei verhalten wollte und in keiner Weise meiner Freude lauten Ausdruck geben werde.
Bald darauf trat mein Compagnie
chef, der Premierlieutenant v. Treskow herein und überreichte mir im Namen des Regiments das eiserne Kreuz.
Erwartungen;
Das übertraf aber alle meine
auf eine solche Ueberraschung war ich
nicht vorbereitet.
Meine freudige Bewegung machte sich in krankhaftem Weinen Luft.
Bald
behielt aber doch der Wille und der Gedanke an daS dem Arzte gegebene Versprechen die Oberhand; ich wurde ruhig und drückte meinem Com
pagniechef mit der Betheuerung des aufrichtigsten Dankes die dargebotene
Hand.
Als ich wieder allein war, legte ich das Kreuz vor mich- hin auf das
Bett und betrachtete es lange, ohne die stillen Freudenthränen zurückzu
halten.
ES waren gerade vier Wochen feit der Schlacht vergangen.
Ein eisernes Kreuz gehörte noch zu den größten Seltenheiten und galt für die schönste und beneidenSwertheste Auszeichnung, die Einem von
uns zu Theil werden konnte.
Ich hatte wohl manchmal im Stillen mir diese herrliche Auszeich nung gewünscht, aber nie gewagt, darauf zu hoffen; denn, obgleich ich mir bewußt war in Denken und Handeln meine Stelle als Soldat dem Feinde
gegenüber ausgefüllt zu haben, so glaubte ich doch nur meine Schuldigkeit, vielleicht mit mehr Eifer und Vertrauen als Andere, gethan z« haben.
Roch drei Festtage habe ich aus dieser Trauerzeit aufzuzeichnen: die drei Tage, an denen mich mein Vater besuchte.
Schon gleich auf die erste Nachricht, die zu Hause von meiner Ver wundung eingetroffen war, hatte er sich aufgemacht um mich zu suchen.
Nach vielen Mühen und oft getäuschten Ewartungen kam er endlich auch nach Gravelotte und traf hier gleich beim ersten Nachfragen meinen Arzt,
der ihn, nachdem er mich am Abend seiner Ankunft vorbereitet hatte, am nächsten Morgen zu mir führte.
Ich kann nicht sagen,
ob in jenem
Augenblicke mich mehr übermäßige Freude oder tiefe Trauer erfaßte; es war ein Gemisch von Beidem.
Nur das weiß ich noch, daß mich seine
Ankunft sehr ergriff und, wie ich aus dem nur wenige' Augenblicke gestat teten Wiedersehen schloß, wohl zu sehr anfregte.
Er versprach in einigen
Wochen wiederzukommen, um mich dann möglichen Falls in die Heimath
zu tranSportiren.
Diese schöne und einzige Hoffnung trug viel dazu bei,
mich vor Muthlosigkeit zu schützen und mir meine Lage
erträglich zu
machen. Nach 14 Tagen traf mein Vater mit einer reichen Sendung von LiePreußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6
42
61S
Ein Freiwilliger von Gravelotte.
beSgaben ausgerüstet, wieder in Gravelotte ein.
Er sah sehr angegriffen
auS, und wenn er sich auch Mühe gab, jeden Anflug von Mattigkeit
vor mir zu verbergen, so schloß ich doch auS seinen Zügen, daß er eine
Reise voll Anstrengung und Entbehrung hinter sich hatte.
Um so mehr machte eS mich glücklich, daß auch ich ihm eine Freude machen konnte, indem ich ihm daS vor Kurzem erhaltene eiserne Kreuz
reichte.
ES war für mich, als wenn ich zum zweitenmale damit decorirt
würde, als er eS mir mit freudig-zufriedenem Blick und einem Kuß auf
die Stirne zurückgab.
Er schied wieder nach kurzem Aufenthalt.
Durch die reichlichen, unschätzbaren Vorräthe, die sich jetzt in unserer
Speisekammer ansammelten, war unsere Lage bedeutend gebessert.
ging eS meinem Stubenkameraden immer schlechter.
Leider
Er war durch die
damals im ganzen Dorfe grassirende Ruhr stark mitgenommen und wollte sich gar nicht wieder erholen.
Ich mußte alle Leckerbissen, die wir sonst
immer redlich getheilt, allein verzehren, und, während ich von Tag zu Tag an Kräften und Lebenslust zunahm, sah ich meinen Leidensgefährten immer kraftloser, mißmuthiger und hoffnungsloser werden.
Ich hatte auch etwas zu leiden, aber nicht an den Wunden, sondern nur an mehreren durchgelegenen Stellen.
Da mir jedoch der Arzt sagte,
daß daö nur die Folge körperlicher Schwäche wäre und mit zunehmen der Gesundheit heilen würde, so trug ich's mit Geduld und machte mir weiter keine Sorgen darüber.
Schwester Salesia, unsere Kankenwärterin, benahm sich ausgezeichnet
während der ganzen Zeit.
Mit Anspannung aller Kräfte, selbst mit Auf
opferung ihrer Gesundheit gab sie sich unserer Pflege hin.
Sie begleitete
uns noch mit nach Wiesbaden, als mein Vater zum drittenmale nach Gra velotte kam und mich mit meinem Stubenkamerad, in einem mitgebrach
ten, bequem eingerichteten Salonwagen der Stettiner Bahn dorthin trans-
portirte. Dieser dritte Festtag jener Zeit, der Tag der Uebersiedlung nach
Deutschland, war für mich einer der schönsten. Mir war'-, als ob ich aus einer langen, drückenden Haft befreit würde, als wenn ich aus einer trüben Einöde in ein Paradies versetzt würde.
Jeder Baum, jeder Berg, die unbedeutendsten Gegenstände, die
ich im Vorbeifahren sah, erregten mir Freude und Interesse.
Ich setzte
mich im Eisenbahnwagen eine kurze Zeit an'S Fenster, so lange eS meine Kräfte zulleßen, und betrachtete die schöne Landschaft, die wir durchfuhren.
Ein solcher Anblick ist von unbeschreiblichem Zauber für einen Menschen, der acht Wochen in einer Lage still auf dem Rücken gelegen und nichts
glS die rohe Holzdecke feines Zimmers und vier kahle Wände gesehen hat.
Ein Freiwilliger von Äraveloite.
ZlZ
Bei unserer Abfahrt in ArS-sur-Moselle wäre eS unS beinahe schlecht
Ganz in der Nähe des Bahnhofes war von unseren Truppen
gegangen.
eine Schanze aufgeworfen, die vom Fort St. Quentin bei Metz beschossen
wurde.
Am Tage vorher hatten Granaten von dort auf dem Bahnhöfe
arge Verwüstungen angerichtet.
diren an als wir einstiegen.
zu krepiren.
Man fing gerade wieder mit Bombar»
Eine Granate fiel in der Nähe nieder ohne
Sofort stürzte Alles hin, um sie sich anzusehen, unter ande
ren auch unser Zugführer, der uns durch seine Nengier zwang, mehrere Minuten unnütz in dieser unbehaglichen Lage zu warten. Nach zweitägiger Fahrt kamen wir am Abend des 12. Oktobers in
Wiesbaden, unserm Bestimmungsorte, an
und wurden durch freiwillige
Krankenträger in das dortige Paulinenstift, ein zum Lazareth umgewan
deltes, protestantisches Erziehungsinstitut für arme Kinder tranSpartirt, Hier, unter der trefflichsten Pflege erholte ich mich rasch, so daß ich schon
am 27. November 1870 eine Reise nach Meran antreten konnte, begleitet von meiner Schwester, um dort in einem milderen Klima den Winter
zuzubringen und meine vollständige Heilung abzuwarten. Mein Stubenkamerad und Leidensgefährte, Lieutenant Rupe, starb im
PaulinenstiftSlazareth, acht Tage nach unserer Ankunft.
DiphtheritiS hatte seine letzten Lebenskräfte waren vollständig geheilt.
erschöpft.
Eine bösartige Seine Wundey
Er hatte, ähnlich wie ich, einen Schuß durch
den rechten Lungenflügel erhalten.
Geschrieben im August 1872.
Fritz Stein.
Samuel Pusendorf. i.
Nahe dem Altar der alten Nicolaikirche, die inmitten des lauten Ge wühls der deutschen Hauptstadt noch von den
bescheidenen Tagen
der
ehrenfesten märkischen Landstadt Berlin erzählt, steht in dunkler Nische ein
halbvergessenes Grab.
Eine verblichene lateinische Inschrift unter einem
grell bemalten Freiherrnwappen meldet, daß hier die Gebeine Samuel
Pufendors'S ruhen: „seine Seele ist in den Himmel ausgenommen, sein Ruhm fliegt über den ganzen Erdkreis."
Unter den Hunderten, welche
im Oktober 1694 diese offene Gruft umstanden — und was Berlin an Glanz und Macht besaß, der kurfürstliche Hof voran, war dort versam melt — blickte vielleicht Mancher mit Groll und Neid auf die Bahre deS streitbaren Denkers; doch Niemand hätte jenes volltönende Lob der Prah
lerei zu zeihen gewagt.
Die Nation empfand: eine Größe unseres Lan
des und deS Welttheils war geschieden.
Im Laufe der Jahre ist der einst
ffochgepriesene und tödtlich gehaßte Name verschollen und vergessen.
Der
Masse der Ungelehrten erwacht bei seinem Klange wohl nur die unbe stimmte Vorstellung von einem gravitätischen Professor in Goldbrokatkleid
und Allongeperrücke, oder sie erinnern sich lächelnd der Verse Schillers: Drum laßt der wilden Wölfe Stand Und schließt des Staates dauernd Band!
So lehren vom Katheder Herr Pufendorf und Feder.
Selbst in der Wissenschaft war das stattliche Bild des größten Publicisten
der alten Reichszeit langehin dermaßen verdunkelt und
entstellt,
daß HSuffer in seiner Pfälzischen Geschichte den furchtbaren Störenfried der zünftigen Gelahrtheit geradezu als „einen charakteristischen Ausdruck dieser unermeßlich gelehrten, aber in ihrer patriotischen Gesinnung so ganz
leb- und farblosen Bücherzeit" schildern konnte.
Erst in der jüngsten
Zeit hat Drohsen dem Historiker, Bluntschli dem Politiker Pufendorf die gebührende Ehre gegeben; seitdem beginnt die gelehrte Welt dem Vergesse-
pen wieder ihre Augen zuzuwenden, und eS mehren sich die Stimmen,
welche den Seherblick des SeverinuS de Monzambano preisen.
Indem
ich zu schildern versuche, was die Zeitgenossen an ihm bewunderten und
fürchteten, fühle ich schmerzlich die Armuth meines Wissens.
Hat der
stolze Mann, der in Allem von dem Handwerksbrauche abwich, auch die
Briefseligkeit der Gelehrten seiner Tage verschmäht?
blieb ihm bei dem
Uebermaße der Arbeit und der Kämpfe keine Muße für vertraulichen Ge
dankenaustausch? oder hat nur ein räthselhafter Unstern über seinem Nach laß gewaltet?
Genug, bis auf wenige dürftige Bruchstücke ist uns Alles
verloren, wa- von den HerzenSgeheimniffen dieses stürmischen Geistes er zählen könnte.
Mehr als von anderen Gelehrten gilt von ihm, daß des
Denkers Leben in seinen Werken liegt. —
Als Ernst Moritz Arndt im Frühjahr 1848 zu Frankfurt unter den Vertretern der Nation erschien und den Schwergeprüften , der
jubelnde
-Hochruf der Versammlung begrüßte, da ergoß sich sein überströmendes Ge
fühl in die Worte:
„ich glaube an die Ewigkeit meines Volkes."
Wer
diesen rührenden Ausspruch des Alten verstehen und sich überzeugen will,
daß wir wirklich, menschlich zu reden, auf die unverwüstliche Dauer deut schen VolkSthumS bauen dürfen, der wird den festesten Anhalt für solche
frohe Zuversicht nicht in den Zeiten deutscher Macht und Herrlichkeit fin den, sondern in den jammervollen Tagen nach dem dreißigjährigen Kriege.
Durch die völlige Zerstörung seiner alten Gesittung, durch eine beispiel lose Verwüstung des Wohlstandes nnd deö sittlichen Lebens hatte das Va
terland der Reformation dem Welttheil die Freiheit des Glaubens gerettet.
Mit dem stärksten Volke Europas spielten die Fremden.
Jene Sprache,
die zu Luthers und Huttens Zeiten zugleich im Glanze reiner Bildung und in der gedrungenen Kraft volkSthümlicher Derbheit geprangt, war
verwälfcht und verschnörkelt,
ein widriges Gemisch von Flachheit und
Schwulst, von Künstelei und Roheit, so knechtisch, so unfähig das Edle und Erhabene in einfacher Großheit auszusprechen, daß auf die Frage: welche deutschen Schriften jener Tage wir heute noch lesen können? — die ehrliche Antwort lauten muß: außer einigen Gedichten von Simon Dach, Logan, Paul Gerhard allein die schnurrigen Abenteuer des SimplicissimuS und die
gespaßigen Predigten Pater Abrahams
a St. Clara!
Die Angst und
Noth der Zeit, die Herrschaft der rohen Gewalt und das Eindringen frem
der Sitten hatten da- Gemüthsleben der Nation bis in feine Tiefen ver wirrt nnd gestört.
Treu und Glauben war verschwunden, wie der stolze
Freimuth und die Helle Lebenslust der Väter. Häßliche Geldgier beherrschte Hoch und Niedrig; die prahlerische Hoffart üppiger Verschwendung währte
fort mitten in der allgemeinen Verarmung.
WaS Allen gemein war hatte
für ehrenwerth gegolten ;in besseren Tagen, jetzt war daS Gemeine ver-
ächtlich.
Schlecht und recht zu leben dünkte den Alten rühmlich, jetzt
ward daS Schlechte zum Schimpfwort. Und dennoch, in dieser entsetzlichen Verwüstung, die jedes schwächere VolkSthum vernichtet hätte, begann der große Werkeltag der neuen deutschen Geschichte.
Damals hat Churfürst
Friedrich Wilhelm den Grund gelegt für den neuen Staat unseres Vol
kes; damals erhob sich der Kampf des weltlich freien Gedankens gegen
die theologische Verbildung und den blinden UeberlieferungSglauben einer verkommenen Wissenschaft, jener Kampf, der daS Werk der Reformation vollendete und, siegreich hinausgeführt, den Deutschen die Binde von den
Augen riß und die Zungen löste also daß sie fähig wurden der Welt die Ideale der Humanität zu verkündigen. Wenn der Ruhm jener politischen Neubildung allein den Märkern und den Preußen gebührt, so haben an den schweren ersten Anfängen die ses Ringens der Geister kurfächsifche Männer den reichsten Antheil.
Der
hochbegabte obersächsische Stamm, von jeher reich an Hellen Köpfen, hat
feit Luthers Tagen nie wieder so entscheidend eingegriffen in die Bildung unseres Volkes, wie damals, da er neben einer Fülle kleinerer Talente
rasch nach einander die drei reformatorischen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibnitz, ThomasiuS, in daö verödete deutsche Leben hinaussandte — drei Männer, die, allesammt verstoßen von der Heimath, doch in Art und
Unart immer echte Söhne ObersachsenS blieben.
Im Jahre der Schlacht von Lützen (8. Jan. 1632) wurde Samuel Pufendorf im Pfarrhause von Dorf-Chemnitz geboren, ein Altersgenosse
von Spinoza, Locke und Cumberland. Sein Geschlecht zählte zu den alten
Theologenfamilien; in langer Reihe erscheinen die bibelfesten EliaS, David, JeremiaS, Samuel, EfaiaS Pufendorf unter den Pastoren des MeißnerlandeS.
Zwei Jahre darauf wurde der Vater nach Flöhe versetzt.
Dort
in den Bergen, im inalerischen Thäte der Flöhe ist der Knabe aufgewachsen,
mitten unter den Trümmerstätten des großen Krieges; denn zweimal hatten droben im Erzgebirge die wildesten Söldner des wilden Jahrhunderts, die
Höllischen Jäger gehaust. Die Almosen eines Edelmannes ermöglichten dem armen Pfarrer, den kleinen Samuel auf die Fürstenschule nach Grimma
zu schicken.
Der Krieg hatte die Schüler verscheucht; nur zwei oder drei
Tische waren noch besetzt in den vormals überfüllten Sälen.
Dann und
wann streiften wohl brandschatzende Fouriere herüber auS der schwedischen
Garnison im nahen Leipzig.
des
Krieges
die
Unabänderlich ging inmitten der Schrecken
alte geistlose Methode des Unterrichts ihren Gang:
strenge Unterweisung in Grammatik, Logik, Rhetorik und den Dogmen des rechtgläubigen Lutherthums.
Aber dem stämmigen Jungen mit den
trotzigen Lippen und den großen braunen Augen wollte die „Bärenhäute-
rei“ nicht behagen.
„Gott gab mir zu Grimme ein, schreibt er in spä
teren Jahren zufrieden, daß ich denselbigen Quark fahren ließ und las
sofort brave AutoreS."
Wie oft hat der gestrenge Conrector Brodkorb
den Schüler geohrfeigt, wenn er heimlich unter der Bank die historischen
Werke der Alten verschlang.
So stand der Jüngling früh auf eigenen
Füßen und trug von der Schule heim, was die philologische Pedanterei
der Lehrer ihm nicht bieten konnte, eine umfassende Kenntniß der Geschichte und der Gedanken des classischen Alterthums. Als er die Leipziger Universität bezog, wurde soeben das prunkende
Friedensfest gefeiert (1650); die Schweden zogen ab, und die akademische Herrlichkeit reckte sich wieder behaglich auS in der alten Musenstadt.
Die
Stadtsoldaten präsentirten wieder das Gewehr, wenn der Rector Mag-
nificuS in seiner.Pracht daherschritt; und derweil die diplomatische Welt über den Excellenztitel der kurfürstlichen Gesandten haderte — dem Leip
ziger Professor der Theologie als
einer festen Säule von Staat und
Kirche wagte Niemand die Excellentia zu bestreiten.
Der Name Leipzigs
hat jederzeit mit vollem Rechte einen guten Klang gehabt unter den deut
schen Universitäten.
Doch während fast jede unserer größeren Hochschulen
irgend einmal belebend und neuernd auf die Gesittung der Nation einge wirkt hat, und die Namen Wittenberg, Heidelberg, Halle, Göttingen, Königs
berg, Jena, Berlin unzertrennlich verflochten sind mit der Geschichte der großen Umwälzungen unserer Bildung, ja selbst kleinere Universitäten als
Bahnbrecher deutscher Cultur im bedrohten Grenzlande oder auch durch
die Umgestaltung
einzelner Wissenschaften reformatorische Thatkraft be
währt haben: — blieb das Athen an der Pleiße immer eine hochconser-
vative Macht, mehr eine Wahrerin überlieferten Wissens als eine Schöpfe rin neuer Gedanken.
Und niemals stand die Leipziger Gelehrsamkeit den lebendigen Kräf ten der Zeit so feindlich gegenüber wie in jenen Tagen, da sie mit hln-
eingerissen ward in den Niedergang des kursächsischen StaateS.
Unauf
haltsam war der Staat der Albertiner hinabgesunken von seiner glänzen den Stellung an der Spitze der deutschen Protestanten.
Seit eine blu
tige Verfolgung die milden Anhänger Melanchthons aus der Landeskirche
vertrieben, seit der Kanzler Nicolaus Crell den letzten kecken Versuch große protestantische Politik zu treiben mit dem Leben gebüßt hatte, erschien Kursachsen
als das klassische Land des altlutherischen EpiscopalsystemS,
das in dem Leipziger Benedikt Carpzov seinen theoretischen Verherrlicher
sand.
Unumschränkt schaltete in Staat und Kirche der geistliche Stand
verschwiegerter und verschwägerter Theologengeschlechter.
Mit thut fest
verbündet der politische Stand, daö Landjunkerthum, damals wie heute
der hochmüthigste Adel des deutschen Reichs: umsonst versuchte Graf RochuS
kynar seinen Standesgenossen zu beweisen, daß die Arbeit des Architekten einem Edelmanns nicht unziemlich sei; der Groll der Kaste blieb nnbelehrt, der geistvolle Baumeister mußte nach Brandenburg hinüberziehen um dort
Die Masse des Volkes fand
in Ehren seinem Künstlerberufe zu leben.
bei der schwachen Gewalt des Landesherrn keinen Schutz wider die Will
kür dieser beiden herrschenden Stände; dem vielgeplagten status oeeono-
micus blieb auferlegt, in der Kirche die Heilswahrheit ans dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen, im Staate die Beschlüsse des adlichen Landtags gehorsam zu befolgen.
Wie die Verfassung der Landeskirche der römischen Hierarchie sich
näherte, so kam die Politik des sinkenden StaateS Schritt für Schritt
den Plänen der Habsburger entgegen.
Die Hofprediger jubelten, als in
der Schlacht am Weißen Berge der calvinistifche Pfalzgraf von der katho lischen Liga niedergeworfen wurde; denn mit dem abendländischen Antichrist
zu Rom können sich die wahren Christen zur Noth vertragen, nicht mit dem morgenländischen Antichrist, dem Islam, die reformirten SacramentS-
schänder aber stehen den Muhamedanern gleich! An jedem Sonntag flehte das Klrchengebet den Himmel an, daß er das rechtgläubige Volk bewahr«
vor den Tücken des Calvinismus, und noch heute erinnert das obersäch
sische Schimpfwort „Du Sakermenter"
Protestanten.
an den alten Bruderzwist der
Während deS dreißigjährigen Kriegs focht die Vormacht des
deutschen Protestantismus nur vier Jahre hindurch für die evangelische Sache; sechsundzwanzig Jahre lang verblieb sie im Lager des Kaisers oder
in kläglicher Neutralität und erwarb endlich den Besitz der Lausitzen durch den Verrath an ihren schlesischen Glaubensgenossen.
AIS dann beim Be
ginn der Frieden-verhandlungen der junge Kurfürst von Brandenburg dem zerriffenen Vaterlande den Weg der Rettung wie- und die unbedingte Amnestie, geicheS Recht für die drei großen Glaubensbekenntnisse Deutsch
lands forderte, da widerstrebte das sächsische Lutherthum ebenso leiden
schaftlich wie die Wiener Jesuiten; erst nachträglich, nach vergeblichen Pro testen, trat Kursachsen dem Westphälischen Frieden bei. Also hatten die Albertiner längst den abschüssigen Weg beschritten,
der sie schließlich zum Abfall vom evangelischen Glauben führen sollte. Die
Macht ihres StaateS war gesunken trotz des vergrößerten Gebietes; denn schon begann der deutsche Protestant in Berlin den Schutz zu suchen, den man in Dresden schwach versagte.
Voll Haß und Eifersucht verfolgte der
Dresdner Hof das Anfsteigen seines unruhigen nordischen Nebenbuhlers, der soeben in dem Wettkampfe um Cleve und Magdeburg die Albertiner geschlagen hatte; dort in den Marken erhob sich der StaatSgedanke einer
neuen Zeit, die absolute Monarchie, ein unheimlicher Nachbar für die
Libertär der sächsischen Stände.
An allen Sünden
dieser ständisch-lutherischen Oligarchie hatte die
Leipziger Universität ihren reichen Antheil.
Sie galt unbestritten als die
erste der deutschen Hochschulen, im Auslande als der Mittelpunst
deut
scher Bildung; ihre Lehrer führten gern das Wort im Munde: extra
Lipsiam vivere est miserrime vivere.
Der kleinliche Begriff des deut
schen Auslandes war den Gelehrten jener Zeit noch unbekannt; während
heutzutage Preußen allein unter allen deutschen Staaten seinen Studenten unbedingt gestattet, sich ihre Bildung außerhalb der Landesuniversitäten zu suchen, verband damals eine schrankenlose Freizügigkeit alle deutschen Hochschulen.
So strömten denn drei- biö viertausend Studenten aus allen
Gauen des Reichs an der Pleiße zusammen.
Dies bewegte akademische
Treiben und der schwunghafte Fremden-Berkehr der Messen gaben
der
Stadt, die noch kaum fünfzehntausend Einwohner zählte, ein großstädti sches Gepräge; die deutschen Buchhändler, die bisher in Frankfurt ihren
Markt gehabt, begannen bereits vor der gestrengen kaiserlichen Censur sich nach dem Osterlande zu flüchten.
Die wohlhabende Bürgerschaft, allezeit
empfänglich für geistige- Leben, bedachte ihre Hochschule mit reichen Stif
tungen; weithin im Reiche pries man die alamodische Feinheit, die welt läufige Bildung des galanten Sachsens, die noch in Lessings Minna von
Barnhelm der rauhen Schroffheit der Märker überlegen gegenübertritt. Ein gewaltiger Wiffenöschatz lag in den Hallen des Paulinums
aufge-
thürmt; und eS war kein Zufall daß auf diesem Boden Polyhistoren wie
Pufendorf und Leibnitz erwuchsen. ligste der deutschen Geschichte,
Selbst dies Geschlecht, das schreibse
wußte Wunder zu berichten von der rie
sigen Arbeitskraft der Leipziger Gelehrten; man erzählte von Profefforen, die nm Zeit zu sparen sich niemals auskleideten. eine festgeschlossene Zunft und Betterschaft.
Die Ordinarien bildeten
Einige große Gelehrtendy-
nastien, die nach Fürstenweise allen ihren Söhnen denselben Bornamen
gaben, die Benedikt Carpzov, die Polycarp Lyser, beherrschten die Univer sität — zumeist wohlhäbige Herren, verschwägert mit den reichen Kaufleuten,
trefflich auögestattet mit Sporteln und Naturaüieferungen, und wer ein UebrigeS thun wollte, nahm Studenten in Kost oder verband auch wohl
mit seinem Collegium einen
einträglichen Wein- nnd Bierschank.
Ob
wohl der sprichwörtliche Kindersegen der Leipziger Professoren späterhin
den gelehrten Magister Fiebiger veranlaßte eine tiefsinnige Abhandlung de polyteknia eruditorum zu schreiben — für den Genossen dieser mäch
tigen Sippen blieb immer noch ein Lehrstuhl frei. Wohl gesichert wie das Einkommen der Ordinarien war auch ihre
politische Machtstellung.
An der Entscheidung der Theologen von Leipzig
und Wittenberg hing das Heil jeder Seele im Lande; die vier Leipziger
Decane übten die Censur über alle neuen Bücher.
Der Schöffenstuhl der
Iuristenfacultät fällte unermüdlich seine blutigen Sprüche, verfolgte mit
frommem Eifer die argen Friedensstörer der argen Zeit, die Hexen; und
der alte Carpzov rühmte sich gern, wie viele tausend Todesnrtheile er schon unterzeichnet habe.
Neben den Ordinarien lehrte die lange Schaar
der Magistri legentes, weit zahlreicher als unsre heutigen Privatdocenten,
aber auch weit abhängiger als sie von der Gunst der Facultäten; selten einmal gelang es einem barbarus Doctor, der in Orleans oder Padua seinen
Doctorhnt erworben, einzudringen in diese scharf umgrenzten Kreise, wenn er sehr stark im Glauben war oder den goldenen Schlüssel, der in dem
alten Kursachsen alle Thüren öffnete, zu haildhaben verstand. Unheimlich tritt hinter der anmaßlichen Herrlichkeit dieser respectabeln Zunftgelehrten und alamodischen Studenten die HerzenShärtigkeit und Ge dankenarmuth einer verkommenen Epoche hervor.
Auf die naturwüchsige
Centaurenplumpheit der alten Zeit war eine verfeinerte Roheit gefolgt,
prunkend mit allen Lastern der höher gesitteten Nachbarvölker.
Ein Penna-
lismuS, dessen abgefeimte Grausamkeit zuweilen sogar den Regensburger
Reichstag zum Einschreiten zwang, erzog ein Volk von Knechten, vernich
tete jeden männlichen Stolz; und mitten in dem gefeierten Sitze der deut schen Musen blühte der blöde Aberglaube, um jene Zeit zog der ewige
Jude in Leipzig bettelnd von Thür zu Thür und erntete reiche Gaben.
Unter dem Wust überlieferten Wissens erstickte der letzte Funke des prome lheischen FenerS; die Erkenntniß, daß die Wissenschaft ein ewiges Werden ist, dieser Gedanke, der den Hochschulen der Gegenwart die Luft deS Lebens
bildet, blieb der theologischen Verstocktheit jener Tage unfaßbar. Verfassung und Lehrweise der Universitäten ließen noch überall er kennen, daß sie einst ausgegangen waren von der alten Königin der Wissen
schaften; daö Volk in Niederdentschland nannte die Studenten noch Halfpapen.
Die Glaubenseinheit des akademischen Körpers bestand überall
als unverbrüchliche Regel, und für selbstverständlich gast, daß die Wiflen-
schaft dem wahren Glauben niemals widersprechen könne. Wie der Theolog verpflichtet war die Schrift und die symbolischen Bücher lauter und un verfälscht zu lehren, so wurde der Jurist auf das Corpus Juris vereidigt,
der Philosoph auf
den Aristoteles; vier Professoren der
aristotelischen
Philosophie hatten zu sorgen, daß dem sächsischen Studenten die Weisheit des alten Griechen Iren und ohne Zuthat überliefert werde.
Die alte Zanksucht dieser im Autoritätsglauben erstarrten Wiffenschaft
entbrannte eben jetzt in tobendem Zorne, seit der milde Georg CalixtuS und
feine Helmstädter Genossen die hadernden Konfessionen wieder an den ge
meinsamen Boden des ältesten Christenthums zu erinnern wagten. Calovius in Wittenberg und Hülsemann in Leipzig donnerten wider die synkretisti
schen Mameluken, verfluchten die gemischte Ehe zwischen Lutheranern und Reformirten als eine Todsünde.
Nachdrücklicher als je zuvor wmde dem
sächsischen Täufling der Tenfel auSgetrieben, unb wehe dem Leipziger Can
didaten der als ein neuernder Theolog, ein theologus novaturiens er funden ward!
Das deutsche Reich hallte wieder von dem Schlachtgeschrei
der Protestanten und der lauten Schadenfreude der Jesuiten, und Friedrich
von Logan schrieb klagend: Ehr' mir Gott Religion, die zwar reinen Glauben giebt, Aber nichts als Haß und Neid wider ihrm Nächste» übt!
Da untersagte Friedrich Wilhelm von Brandenburg seinen Geistlichen daS Lästern wider die ^evangelischen Brüder. Calov aber schrieb zornig: schön gut, daß man den Calvinern das Maul verbietet, denn einen Grund-
irrthum können sie uns nicht nachweisen; nnr der getreue lutherische Wäch ter ans Zion muß frei reden dürfen, wenn der Geist ihn treibt!
Und so
zügellos ward fortan auf dem entweihten Lehrstuhl Martin Luthers gegen
den
brandenburgischen Ketzerfürsten gehetzt und gezetert,
daß Friedrich
Wilhelm endlich seinen Landeskindern den Besnch der Wittenberger Hoch schule verbieten mußte. Dem Lutherthum jener Tage war von dem ursprünglichen Geiste der
Reformation schlechthin nichts mehr geblieben.
Als hätte Luther niemals
mit seinen gewaltigen Fäusten unter die Scholastiker geschlagen, feiern die
Lutheraner den Doctor angelicus Thomas von Aquino wieder als den Fürsten der Moralisten.
Ehrfurchtsvoll wie in den Jesuitenschnlen wird
„der Papst der Metaphysiker" Suarez auf den sächsischen Kathedern geprie sen; EScobar und Mariana, alle die spanisch-italienischen Jesuiten, welche
den Habsburger» die Waffen wider die Ketzer geschliffen, gelten dem ver
kommenen Lutherthum als Säulen der Kirche so gut wie „unser seliger
Stahl", der gestrenge GlaubenSwächter von Jena.
Lutherische Theologen
und Juristen gebrauchen wetteifernd daö verstaubte Rüstzeug der scholasti schen Formeln und Definitionen und trösten sich mit dem bequemen Bor wand: nur durch solche Waffen könne man daS Papstthum bekämpfen! Die lutherische Wiffenschaft ging an dem reichen Tische der Jesuiten zu
Gaste; waS Wunder, daß die alte Kirche noch immer mächtig um sich griff
im protestantischen Deutschland, einen Reichsfürsten nach dem andern zum römischen Glauben zurückführte! Dabei verstanden die sächsischen Theologen trefflich, ihre Herrschsucht hinter gleißnerischer Unterthänigkeit zu verstekken; während sie den Staat auSbenteten, rühmten sie ihre Kirche, weil sie
„die servilste von allen ist und mehr als jede andere die Obrigkeit favoristrt", und forderten für sich im irdischen Jammerthal« nichts weiter als obsequii gloriam — ohne den grimmigen Hohn zu ahnen, den TacituS in jene Worte gelegt hat. In diese verknöcherte Welt tritt jetzt der junge Pufendorf ein, ein feuriger Jüngling mit dem ganzen Ungestüm des obersächsischen BluteS — denn wohl kein anderer Stamm in diesem leidenschaftlichen Deutschland zählt so viel stürmisch aufbrausende Naturen — derb und rücksichtslos, schnellfertig im Urtheil, ungewillt die rasche Zunge zu bändigen. Seine gediegene classische Bildung läßt ihn schnell die Leere der akademischen Wissenschaft erkennen, sein scharfer Witz stößt sich an den pedantischen Formen des Zunftbrauchs, und bald liegt er in beständigem Kampfe mit feiner gesammten Umgebung. So wächst er früh zu streitbarem Freimuth heran, wie nachher unter verwandten Verhältnissen seine Landsleute Lessing und Fichte; den Warnungen weltkluger Behutsamkeit antwortet er mit seinem Luther: „ich kann nicht wider die Wahrheit." Er war sein Lebtag ein treuer Lutheraner und bewahrte neben freiem, heiterem Weltsinn immer das schöne Erbtheil seines frommen Vaterhauses, ein tiefes religiöses Ge fühl; die theologischen Studien aber verließ er angewidert schon nach wenigen Wochen. Ihn empörte dieser geistliche Hochmuth, der über der Rechthaberei des dogmatischen Parteigezänks den sittlichen Inhalt des Christenthums ganz vergessen hatte. Exegese wurde in Leipzig gar nicht gelesen, und der fromme Franke mußte einige Jahre später in den Buch handlungen der Meßstadt lange vergeblich nach einer Bibel suchen. Schönere Kränze, als die Erklärung der heiligen Schrift sie bot, winkten dem sächsi schen Theologen, wenn er aus den tausend Büchern über die Erbsünde das tausendunderste zusammenstellte oder durch eine Dissertation „über das Gewicht der Weintrauben im Lande Kanaan" einen im Weinberge des Herrn längst gehegten Zweifel beseitigte, oder wenn er gar die schwierige Frage beantwortete: „ob Pythagoras ein Jude war oder ein Karmelitermönch?" Die in den Kreisen dieser Gottesgelahrtheit empfangenen Eindrücke hat Pufendorf nie verwunden; bis an fein Ende blieb ihm der rechtschaffene Haß gegen „die Priester, die unter dem Namen des Gebets nur die gräu liche Wuth ihres erbitterten Gemüthes ausschnauben." Also schied er vou den Theologen und ist fortan allezeit als ein rechter Bönhase fern vou der geebneten Straße der Zünftler seine- eigenen Wegs geschritten. Er warf sich mit planlosem Eifer auf alle Zweige des Wissens, blieb dabei jugendfrisch und lebenslustig, ein frohmuthiger Genosse des Collegium anthologicum, wo das junge Volk „unter Liedern der Freundschaft die Wahrheit suchte." Außer der Theologie und der Medicin ward ihm jedes
Fach der Gelehrsamkeit vertraut; nur die Welt des Schönen blieb ihm verschloflen wie allen Söhnen jenes prosaischen Geschlechts.
Andere junge
Männer schwärmten wohl mit erzwungener Begeisterung für die leblosen Gebilde einer ohnmächtigen Dichtung, und ein Leibnitz konnte im Ueberschwang teutonischen Selbstgefühls jene unbegreiflichen Verse dichten: Was labt man viel die Griechen?
Sie müssen sich verkriechen,
Wenn sich die teutsche Muse regt. — Horaz in Flemming lebet, In Opitz Naso schwebet, In Greiff Senecen's Tranrigkeit.
PufendorfS derbe Wahrhaftigkeit hat sich nie bemüht Gefühle zu er
künsteln, die ein gesunder Sinn nicht hegen konnte.
Als er in seinem fünfundzwanzigsten Jahre für kurze Zeit nach Jen» übersiedelte, fand er zum ersten male einen Lehrer, der ihn zu fesseln und
seinen unstet schweifenden Sinn auf ein festes Ziel zu richten verstand:
den geistreichen Mathematiker Erhard Weigel.
Nur von der überlegenen
Bildung deS Auslands konnte die verwilderte deutsche Wissenschaft den Anstoß zü neuem Schaffen empfangen.
So war auch Weigel erst in der
Schule deS Cartesius zum selbständigen Denker geworden;
er verstand
nach der vielseitigen Gelehrtenweise der Zeit, die mathematische Methode
deS Meisters auch auf das Naturrecht und die politischen Wissenschaften an zuwenden und ist vielen guten Köpfen, späterhin auch dem jungen Leibnitz, ein Erwecker gewesen.
In diesem Kreise zuerst ward mit der lutherischen
Scholastik entschieden gebrochen; hier lernte Pufendorf, obgleich er niemals
ein Cartesianer ward, wissenschaftlich zu denken und allen Autoritäten un abhängig gegenüberzutreten.
Er begann jetzt sich zu sammeln, wurde durch
seinen freundlichen Lehrer in die Werke des Grotiuö und HobbeS einge
führt und sah beschämt, wie weit die heimische StaatSwissenschaft hinter dem vorauSsetzungSlosen Denken der Nachbarn zurückstand. Wie lächerlich erscheinen ihm nun die leeren Wortgefechte der deutschen
Professoren: Mars Germania» perpetuus! Höhnisch fragt er, durch welche
verhängnißvolle Vergünstigung (quo fatali favore) denn dieser Aristoteles dazu
gelangt sei für den Gipfel aller menschlichen Weisheit zu gelten.
Er spottet
der RechtSlehrer, die vor dem sanctissimum corpus Juris die Kniee beugen,
und ruft den Theologen zu: seit unsere Kirche in die Scholastik zurückfiel und die jesuitischen Sophisten verehrt, geht eö abwärts mit ihr und das
Papstthum steigt auf!
Aus der Vernunft allein will er die Welt verstehen
und eine christliche Philosophie so wenig anerkennen wie eine muhameda-
nische; trotzig pocht er.auf daS Recht der Lebendigen und hält sich an
jenen AltSspruch des HobbeS, der die innerste Ueberzeugung aller freien
Köpfe dieser ringenden Zeit verkündigt: „sollen wir daS Alter ehren, nun wohl, die Gegenwart ist älter alS die Vorzeit."
Er verschmäht den feilen
juristischen Doctorhut zu kaufen; mit Mühe beredet ihn Weigel, daß er sich mindestens den unentbehrlichen Magistertitel erwirbt.
So kehrt er alS
ein abgesagter Feind der zünftigen Gelehrsamkeit nach Leipzig zurück; zu
arm und zu stolz um die Gunst der akademischen Machthaber zu erbitten steht er bald rathloS in bitterer Noth.
Da nimmt sein Bruder EsaiaS sich des Verlassenen an.
Geschwister
zeigen häufig eine seltsame Verwandtschaft der Anlagen, die zugleich einen schroffen Gegensatz enthält; einzelne Charakterzüge ungewöhnlicher Männer
finden wir oft bei ihren Brüdern bis zum Zerrbild gesteigert wieder.
Wie
jener mephistophelische Zug, den Friedrich der Große mit der Kraft des Genius zu bändigen wußte, in dem Prinzen Heinrich als die Grundstim
mung der Seele auftritt, so wird EsaiaS Pufendorf durchaus beherrscht von den verneinenden und zersetzenden Kräften, die in Samuels Geiste
gährten.
Ihm fehlt die Tiefe, die Vielseitigkeit und darum auch die
Mäßigung deS Bruders; Samuels kritische Schärfe erscheint bei ihm als
liebloser
Spott,
dessen
tapfere Kampflust
als
kecker
Abenteurermuth.
Vier Jahre älter als Samuel hatte EsaiaS gleich Jenem die Theologie bald verlassen und sich den politischen Wissenschaften zugewendet; auch er war ein eifriger Protestant, doch sein Haß wider Rom blieb nicht ohne einen Anflug weltmännischer Skepsis, vor allen anderen Denkern liebte
er den feinen Spötter Erasmus.
Um die Zeit da Samuel die Univer
sität bezog, eröffnete der Aeltere bereits als Leipziger Magister staatswiffen-
fchaftliche
Vorlesungen,
ward
dem
jüngeren Bruder
ein
freundlicher
Mentor und machte ihn zuerst mit den politischen Fächern bekannt. Aber daS Katheder vermochte den rastlosen-Thatendrang EsaiaS PufendorfS nicht lange zu fesseln.
Er ging mit einem Grafen KönigSmarck auf Reisen,
wurde durch ihn in die Kreise deS schwedischen AdelS eingeführt und trat bald selbst in den
diplomatischen Dienst der
nordischen Macht;
daS
menschenarme Land bedurfte beständig deutscher Kräfte um seine künstliche Großmachtstellung zu sichern. Seitdem ist er in mannichfaltiger Wirksamkeit zu Paris und Stockholm, zu Königsberg und Wien als diplomatischer Agent der Krone Schweden thätig gewesen, ein echtes Kind seiner gewissen losen Zeit, mit unruhigem Ehrgeiz nach Macht und Einfluß strebend. Die Skandalsucht der Zeitgenossen wußte viel zu erzählen, wie oft er den
Schweden Spionendienste geleistet und als Bauer oder Handwerker ver
kleidet das deutsche Reich durchwandert habe; der große Kurfürst ließ ihn einmal auö Ostpreußen ausweisen, denn warum mußte der Bielgewandte,
angeblich in postalischen Angelegenheiten, so lange in Danzig und Königs«
borg sich umhertreiben?
Seine Gesandtschaftsberichte zeigen den ganzen Mann: weiten, freien
Blick, die boshafte Ironie des überlegenen Kopfes, scharfe Beobachtung und eine seltene Kunst lebendiger Erzählung.
Wie meisterhaft hat er die
Jesuiten am Hofe Kaiser Leopolds geschildert, wie sicher durchschaut er
die Hohlheit jener habsburgischen Staatskunst, die über ihren europäischen Plänen die Wohlfahrt des eigenen Landes vergißt: „die Kaiserlichen Mi nister haben ihren Herrn schon von langer Hand her weis gemacht, daß
sie sich um die Kammersachen nicht bekümmern dürften, sondern selbige
Sorge«, als die mit ihrer Grandeur und Dignität nicht convenabel und dazu sehr verdrießlich und schwer wären, denen so darüber bestellet, aller dings und absolute überlassen, und also in diesem Stück nur mit fremde«
Bugen sehen müsien."
Er aber weiß, daß „die allerklügsten Consilia gute
Gedanken bleiben, wenn sie nicht zuvor mit dem Beutel in Rath gestellet sind." Der skrupellose Realist schätzt nur die Macht, verachtet die Schwäche
des zerrissenen deutschen Reiches nnd dient, gut schwedisch, unbefangen der ansgreifenden Herrschsucht seines MilitärstaateS; er lebt in den Ue berlieferungen der Politik Axel Oxenstiernas, will den deutschen Protestan ten an den verbündeten Kronen Frankreich und Schweden einen Rückhalt
geben und also den Habsburger» die Stange hallen.
An der Herrschaft
der Fremden auf deutschem Boden nimmt er keinen Anstoß: die Eitelkeit bet deutschen Fürsten soll sich nicht „flattiren, daß fremde Potentaten ihnen
nothwendig umsonst und gleichsam ihres gelben Haares wegen zu Hilfe kommen müßten."
Mit seiner reichen Welterfahrung, seiner gewiegten Kenntniß der
practischen Staatskunst
ist
EsaiaS dem
immer ein
jüngeren Bruder
unschätzbarer Lehrer gewesen; beherrscht hat er ihn niemals.
Samuel
war nicht der Mann in die Fußtapsen eines Anderen zu treten; doch bei
vielfacher Meinungsverschiedenheit blieb die herzliche Eintracht ungetrübt. Jeder Mensch verlangt nach
einer Heimath; eS war, als wollten die
Brüder durch treue Zuneigung einander die verlorene Heimath ersetzen,
die Beiden fortan nur Haß und Verfolgung gespendet hat.
Immer wie
der hat Samuel in Büchern und Briefen den Vielverdächtigten dankbar gepriesen; er nennt ihn gern animae dividium meae.
Durch EsaiaS Vermittlung erhielt der junge Magister die Stelle eines Hauslehrers bei dem schwedischen Gesandten Ritter Cohet in Kopenhagen.
So trat er denn im Frühjahr 1658 seine Gelehrtenreise an, die peregrinatio academica, die damals noch von jedem angehenden Professor ver langt wurde; sie sollte ihm höchst nnakademische Erfahrungen bringen.
ES
war der Fluch der Zeit, daß Theorie und Praxis des StaatSlebenS noch
völlig
unvermittelt neben
einander hergingen.
Während die deutschen
Staatslehrer mit feierlichem Ernst die hohlen Formeln deS Reichsrechts
erläuterten, wurde das Schicksal der Staaten bestimmt durch die neue
StaatSraison*), eine Politik der Gewaltthat und der Lüge, die sich trotzig
zur Verachtung jedes Rechts und jeder Treue bekannte; im Volke sprach man entrüstet von dem Teufelskatechismus, den umgekehrten zehn Geboten
der Politiker. Eine
der
frechsten
Thaten
dieser
modischen
Pufendorf jetzt aus nächster Nähe beobachten.
lebte vom Kriege,
Staatsraison
sollte
Die schwedische Großmacht
sie konnte nur durch neue Beute die unerschwing
lichen Kosten ihres Heeres bestreiten.
Gleich einem Seekönige der skan
dinavischen Urzeit war jener nordische Alexander, König Karl Gustav, ur plötzlich in Polen eingebrochen, den Krieg entzündend, der sechs Jahre
lang die weiten Lande des Nordens und Ostens mit Blut und Brand
erfüllte; er hatte sodann in rascher Schwenkung sich gegen Dänemark ge
wendet und durch den verwegenen Zug über den gefrorenen Belt den über raschten Feind zum RoeSkilder Frieden gezwungen.
Pufendorf traf grade
in Kopenhagen ein, als Schweden mit den zaudernden Dänen über die
Ausführung dieses Friedens unterhandelte, und bemerkte bald ein befremd
liches verdecktes Spiel zwischen den beiden schwedischen Gesandten: Ritter Cohet hielt sich streng an seine Instructionen, sein vornehmerer Genosse
Steno Bjelke, ein zweifelhafter Charakter, vielleicht von den Dänen be stochen, suchte die Verhandlungen zu Dänemarks Gunsten zu wenden.
Da
kam plötzlich geheime Weisung aus Stockholm, man solle die Dinge zum Bruche treiben.
Karl Gustav glaubte zn bemerken, daß der geschwächte
Gegner noch härtere Friedensbedingungen ertragen könne, und entschloß
sich sofort, ohne Grund noch Vorwand einen neuen Krieg zu beginnen — eine frevelhafte Ruchlosigkeit, die selbst in jenen Tagen kaum ihres Gleichen
fand.
Mit allen Mitteln diplomatischer Grobheit sucht nun Cohet den
Abbruch der Verhandlungen herbeizuführen, schon im August erklärt Schwe
den den Krieg.
Cohet selbst hatte sich zur rechten Zeit geflüchtet; sein
*) Beiläufig, es wäre lehrreich festzustellen, wann dieser Ausdruck zuerst aufkam. Er stammt unzweifelhaft aus Italien, wie der Name „Staat" und wie die Gedanken des Machiavellismus. Machiavelli selbst kennt ihn noch nicht; doch schou um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts scheint das Wort ragione di stato geläufig gewesen zu sein. In der berühmten Prachtrede, die Giovanni della Lasa (1547) im Austrage des Papstes Paul IIT. au die Signorie von Venedig richtete, schildert er, wie bedrohlich die Weltherrschaftspläne Karls V. für die Freiheit Italiens würden, und fährt fort: se egli usa adunque la sua ragione, non riprendiamo lui, xna doll' ufficio buo ei dolghiamo.
AmtSgenosse aber und das Gefolge mitsammt dem deutschen Hau-lehrer
wurden von den erbitterten Dänen in den Kerker geworfen. Unter solchen Erfahrnngen gelangte der junge Denker zu jener vor nehmen, echt wissenschaftlichen Mittelstellung, die er seitdem immer in der politischen Theorie behauptet hat: er wollte weder, wie die Zunftgelehrten
daheim, „auf die Rede des Meisters schwören und leere Worte machen,
noch unter dem Namen der ratio Status die sittlichen Grundsätze der Politik umstoßen", wie jene Praktiker in Kopenhagen.
Acht Monate lang
fitzt er nun im dänischen Kerker, ohne Verkehr, ohne Bücher.
Jeder an
dere deutsche Gelehrte jener Zeit hätte in solcher Lage sich wie ein Fisch
auf dem Sande gefühlt; er aber faßt sich in der tiefen Einsamkeit das
Herz, alle Krücken wegzuwerfen und der Kraft des eigenen Gedankens zu vertrauen.
Er durchdenkt noch einmal Alles was er von den Meistern,
des Auslands, von Machiavelli und Bodin, von GrotiuS und HobheS über das Wesen des Staates und des Rechts gelernt, prüft und verwirft
selbständig und stellt endlich sein eigenes System der philosophischen Rechtslehre zusammen, die Elementa jurisprudentiae universalis.
DaS Be
deutendste an dem kleinen Buche ist der Plan, der in Deutschland noch
niemals gewagte Versuch die Grundsätze der Rechtsphilosophie nach dem
Vorbilde des GrotiuS allein durch die Vernunft zu finden, ohne Rücksicht
auf die zehn Gebote und das positive Recht. Die Ausführung zeigt überall noch die unsicher tastenden Hände des Anfängers.
Er kommt noch nicht
ganz loS von den scholastischen Formeln; hatte doch selbst GrotiuS, um dem Verdachte dielettantischer Oberflächlichkeit zu entgehen, die hergebrachten
Definitionen der Scholastik nicht völlig aufgegeben.
Endlich auS der Haft befreit geht Pufendorf mit dem Ritter Cohet zu längerem Aufenthalt in die Niederlande, bewundert den Reichthum, die
Freiheit und vor Allem die Duldung des glücklichsten Staates der pro testantischen Welt und betheiligt sich eifrig an den historisch-philologischen
Studien der classischen Lateiner von Lehden.
Damals hat auch diesen
tapfern Geist für kurze Zeit jener mißtrauische Kleinmuth
angewandelt,
der um die Mitte der zwanziger Jahre, in der schweren Zeit des UebergangS vom Lernen zum Lehren, den gewissenhaften Gelehrten so leicht zu
ergreifen pflegt. Er wagt sich nicht ans den Markt hinaus mit den Früch ten seiner Kerker-Einsamkeit, bis ein frischer Brief des Bruders EfaiaS
ihn ermuthigt „auf die Gunst des Jahrhunderts zu hoffen." Die Elementa werden gedruckt und dem gefeierten Gönner der Wissenschaft, dem Kur
fürsten Karl Ludwig von der Pfalz zugeeignet; ohne Fürstengnnst kann in jenen Tagen kein Deutscher sich durch'S Leben schlagen.
Der Pfalzgraf
antwortet mit einem freundlichen Briefe und beruft den jungen Gelehrtey
Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6.
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bald nachher auf eine Professur des römischen Rechts.
Pufendorf schlügt
aus, ihm graut vor der landesüblichen geistlosen Erklärung der Pandekten. Da erbietet sich sein Gönner, in der Heidelberger philosophischen Facultät ein neues Katheder für den Verfasser der Elemente zu gründen, und so
besteigt denn der neunundzwanzigjährige Magister, der noch immer den juristischen Doctortitel
hartnäckig verschmäht,
den
ersten Lehrstuhl
deS
Naturrechts in Deutschland, unter den Weherufen der gejammten Zunft der Rechtsgelehrten.
Die frohesten Tage seines Lebens brachen an.
Ueberall in dem Garten des rheinischen Oberlandes erzählten noch beredte Trümmer von den Schrecken des großen Krieges: die verödeten Höfe in den Dörfern der Bergstraße, die zerschossenen Manern des Dils-
bergS, die leeren Bücherschreine
in der Heidelberger Heiligengeistkirche;
die schönste Büchersammlung Deutschlands, die Palatina, war durch Titlh'S Soldaten geraubt und nach Rom entführt.
Aber die frische Thatkraft
der- leichtlebigen Pfälzer begann bereits wieder in tapferer Arbeit sich zu
tummeln, das kluge und sorgsame Regiment Karl Ludwigs brachte dem schwer heimgesuchten Lande, zum letzten male unter dem alten Fürsten
hause, eine kurze Zeit der Blüthe.
Segen der Monarchie schätzen.
Hier zuerst lernte Pufendorf den
Unter grausamen Erfahrungen war Karl
Ludwig früh zum Manne gereift.
Er hatte den jammervollen Sturz der
pflälzischen Macht erlebt, war heimathlos mit seinen Eltern nmhergeirrt, hatte sodann unglücklich für die evangelische Sache gefochten und endlich
mit eigenen Augen angesehen, wie das Haupt seines königlichen OheimS Karl unter dem Henkerbeile der Puritaner fiel.
Nach solchen Erlebnissen
blieb ihm ein tiefer Widerwille gegen die gehässige Leidenschaft religiöser
Kämpfe.
Ein nüchterner Weltmann, auf der Leydener Hochschule viel
seitig unterrichtet, schnell bei der Hand mit einer fertigen Formel für jede Frage deS Lebens, voll Verachtung wider „die Niaiferien und vulgären OpinioneS" deS ungebildeten Haufens, erscheint er als einer der ersten Ver treter jenes aufgeklärten Despotismus, dem das nächste Jahrhundert ge
hörte.
Er schwelgte in dem Bewußtsein fürstlicher Machtvollkommenheit
so selbstgefällig wie nur irgend ein Zeitgenosse Ludwigs XIV.
In per
sönlichen Angelegenheiten lennt seine Selbstsucht keine Schranken; als ihn seine Gemahlin nicht in Frieden frei giebt, da ertheilt er sich selber die
Erlaubniß zu der Doppelehe mit der schönen Raugräfin.
Pflichten des Landesherrn hat er immer groß gedacht.
Doch von den
Als er heimkehrt
in das Land seiner Väter, weiß er sich klug in das Unabänderliche zu
schicken, tritt zu dem alten Feinde seines Hauses, dem kaiserlichen Hofe, in ein leidliches Verhältniß, also daß ihn Kaiser Ferdinand III. „mein
politischer Kurfürst" nennt, und deckt sich zugleich, nach rheinischem Fürsten-
LraAche, den Rücken durch die Freundschaft Frankreichs. DaS Gold Ludwigs,
das an allen deutschen Höfen umlief, ward auch in Heidelberg nicht ver
schmäht, und zuweilen spielte der Kurfürst sogar mit dem Traumgebilde einer austrasischen Königskrone, das ihm von Versailles her als lockender Preis gezeigt würd-.
Seine beste Kraft galt dem Wiederaufbau der ver
wüsteten Heimath; er wollte als der Hersteller der Pfalz in dem Gedächt
niß feines Volkes leben.
Bald füllten sich wieder die verlassenen Dörfer;
bis herab zu dem großen Fasse im Schloßkeller wurde mit treuer Sorg falt und umsichtigem Fleiße Alles wieder aufgerichtet was Kaiserliche und
Schweden zerstört hatten. Karl Ludwig schenkte dem Lande was dieser Brandstätte des Glau benshasses vor Allem Noth that, den kirchlichen Frieben.
Das älteste
rheinische Kürfürstenthum, der einzige größere weltliche Staat an der lan
gen Pfaffengasse deö Reichs, war den geistlichen Herren ringsum allezeit
ein Dorn im Auge gewesen.
Welch' ein Entsetzen nun, da in der Pfalz
Katholiken, Lutheraner und Reformirte in buntem Gemenge friedlich neben einander leben durften und der calvinistische Kurfürst seinen Lutheranern
in Heidelberg die Providenzkirche erbaute.
Bald riefen auch die sächsischen
Theologen Wehe über den pfälzischen Freigeist, der sich unterfing in Mann heim eine Friedenskirche mit drei Kreuzen für alle drei Confessienen ge
meinsam zu errichten. Die alte Rupertina, hundert Jahre zuvor der Hort
deS streitbaren Calvinismus, greift jetzt zum zweiten male als die Trä gerin
eines schöpferischen neuen Gedankens
in die Geschichte deutscher
Wissenschaft ein; sie zerbricht das Joch der Theologie, giebt die Glaubens-
einheit auf und erhebt, zuerst unter allen unseren Hochschulen, das Ban
ner der modernen weltlich freien Wiffenschaft.
„Ja wohl, ruft Pufen-
dorf den lutherischen Eiferern spottend zu, dies ruchlose Heidelberg, wo Lutheraner und Calvinisten einträchtig zusammen hausen, einig in dem
Glauben, daß der Wein noch besser schmeckt als das Bier!"
Karl Lud
wig läßt die Profefforen der drei weltlichen Facultäten nur noch auf das Wort GotteS und die ältesten ökumenischen Symbole verpflichten; er geht bald noch weiter und versucht Baruch Spinoza für Heidelberg zu gewin
nen. Eine stattliche Schaar tüchtiger Lehrer, zumeist jüngere Männer, finden Die reformirte Theologenfacultät, geleitet von
sich am Neckar zusammen.
einigen freien Köpfen wie Ezechiel Spanheim und Mieg, läßt die Welt lichen gewähren; und in den Hallen, wo vor Kurzem noch, geschützt durch
die Hellebarden der bairischen Eroberer, katholische Priester ihre Kloster
weisheit lehrten, wird jetzt mit herausfordernder Keckheit verkündet, hier stehe die feste Burg akademischer Freiheit inmitten der Lande des Krummstabs. AuS PufendorfS späteren Briefen tönt immer ein Klang der Sehn-
sucht so oft er der fröhlichen Pfalz gedenkt.
Wie lieblich ging ihm hier
das Leben ein, in den ersten Jahren einer glücklichen Ehe, in einer glän
zenden akademischen Wirksamkeit.
Seine feurige Beredsamkeit fesselte bald
einen dichten ZuhörerkreiS; selbst die jungen Edelleute, die sonst der ge
lehrten Pedanterei lachend den Rücken drehten, fühlteu, sich angezogen von der weltmännischen Feinheit
des jungen Professors
und dem gesunden
Realismus seiner Vorträge — was in diesem Zeitalter der Adelsherr schaft sehr wichtig war.
Pufendorf nahm Theil an der Erziehung deS
Kurprinzen, verkehrte viel bei Hofe und gewann im Gespräche mit Karl Ludwig manchen Einblick in daS geheime Getriebe der Reichspolitik. Auch
dem
feuchten Genius loci, der über dem heiteren Neckarthale schwebt,
wurde die gebührende Huldigung geleistet, manche frohe Nacht beim Becher
klang unter übermüthigen Scherzen verbracht.
Die freie Heiterkeit des
Mannes hatte längst wieder die Oberhand gewonnen; sein Name war be
rühmt noch bevor er irgend ein größeres Buch geschrieben.
Alle Welt
fürchtete seinen scharfen Sport, und noch heute leben in den Heidelberger
Juristenkreisen allerhand Geschichten von PufendorfS schneidigem Freimuth. Einmal besuchte Kaiser Leopold den Pfalzgrafen und empfing die Juristen
der Hochschule sehr ungnädig; die Urtheile des Spruchcolleginms in den zahlreichen Processen, womit der Wiener Hof seine getreuen Reichsfürsten
zu ängstigen liebte,
waren selten zu Gunsten
des Kaisers ausgefallen.
„Wie kommt es denn, Ihr Herren, fragte LeopolduS GloriofuS ärgerlich,
daß ich bei Euch immer Unrecht bekomme?" — „Weil Kaiserliche Majestät immer Unrecht haben," war die blitzschnelle Antwort deS Sachsen. Er hatte um jene Zeit eine kleine Schrift über Philipp von Make
donien geschrieben; das wunderliche Buch sprach von seinem eigentlichen Gegenstände wenig, entwickelte vielmehr mit großer Zuversicht eine Reihe
völlig neuer Gedanken über den Begriff des unregelmäßigen Staates und erregte abermals.das Mißtrauen der Juristenzunft wider den Bönhasen,
zumal da die Nutzanwendung der ketzerischen Lehre auf das heilige römische
Reich sehr nahe lag.
Als nun eine Professur für Deutsches StaatSrecht
zu besetzen war, überging man Pufendorf und zog ihm den gelehrten Publicisten Bökelmann vor.
Im Unwillen darüber, so gesteht er selbst*),
faßte er den Plan zu jenem übermüthigen Werke, das der Welt zum ersten male die ganze Eigenart seines Geistes gezeigt hat.
Er wollte den Ju
risten beweisen, wie gründlich er daS deutsche Reichörecht kenne, er wollte
der Nation die unheilbare Krankheit ihres StaateS enthüllen und endlich
*) Conscriptus hic (über) fuit impellente indignatione praereptae ab altero profesBionis quam sibi deberi crediderat autor. (PufendorfS Vorwort zur editio poBthuma des Severinas.)
einmal mit der Fackel wissenschaftlicher Kritik die gespenstische Fabelwelt der ReichSpublicistik beleuchten; die Zunftgelehrten sollten sich winden un
ter dem Spotte des Severinus de Monzambano.
Lügen, nichts als Lügen: — das bleibt doch der erste und der letzte Eindruck, den der Anblick der verfallenden Reichsverfassung jedem ehrlichen
Betrachter hinterläßt.
Das Vaterland der Reformation in theokratischen
Formen regiert; der gekrönte Schirmvogt der römischen Kirche zugleich verpflichtet zum Schutze der Ketzerei; der ReligionSfriede
feierlich ver
kündigt und dabei an allen Kirchthüren der Habsburgischen Erblande mit kaiserlicher Genehmigung jene päpstliche Bulle angeschlagen, die den Frie
densschluß verdammt; prahlerische Titel und unbestimmte Ansprüche auf die Beherrschung der Christenheit, während alle Nachbarmächte herrisch auf deutschem Boden schalten; alle gesunden politischen Kräfte zu bestän
diger Opposition gezwungen, alle verfaulten mit dem Kaiserhause treu ver bunden; die Reichstagsmehrheit in der Hand der schwächsten Reichsstände
— überall ein schreiender, unauSgleichbarer
Widerspruch zwischen den
Formen deS Rechts u,nb den lebendigen Mächten der Geschichte.
Ueber
diesem gespenstischen Mummenschanz hängt ein dickeS Gewölk von Phrasen, so unwahr wie das Reichsrecht selber: salbungsvolle reicheväterliche Ver
mahnungen des Kaisers, der die Macht der Nation für die Zwecke feines
HaufeS
mißbraucht; inbrünstige Betheuerungen
altteutscher Treue und
fromme reichspatriotische Erbietungen aus dem Munde derselben Fürsten, die von Frankreich Pensionen beziehen. Nicht minder verlogen als die StaatSknnst«deö Reiches ist auch seine
politische Wissenschaft.
Mit freudiger Uebereinstimmung preisen alle deut
schen Staatsrechtslehrer die elendeste Verfassung, welche je ein großes Volk dem Gespött der Nachbarn preiSgab, als das
ausbündiger Weisheit.
vollkommene Werk
Knechtischer Philistersinn und gedankenloser Buch
stabenglaube hatten auS der Bibel, auS dem mißverstandenen Aristoteles und dem Corpus Juris ein System des Reichsrechts erklügelt, daS, irt jedem einzelnen Satze falsch, gleichwohl unangreifbar schien, weil seine Fabeln
einander gegenseitig trugen und stützten:' Die in Bildern denkende Me thode der Scholastik beherrschte noch immer die deutsche Staatswissenschaft.
Wie einst die Anhänger deS Thomas von Aquino schlossen:
Der Mond
erhält sein Licht von der Sonne, folglich empfängt der Kaiser seine Macht durch die Verleihung deS Papstes — so bewiesen jetzt Theodor Reinkingk
und die Caesarianer: Es steht geschrieben DanieliS am siebenten: „Diese vier großen Thiere sind vier große Reiche, so auf Erden kommen werden", darnach sind auf Erden gekommen die assyrische, die persische, die griechische und endlich die vierte, die römische Monarchie, daS römische Reich aber
ging ans die Deutschen über, folglich ist unser Reich eine Monarchie, seine Kurfürsten müssen
von der Wissenschaft
als
die praefecti praetorio,
die obersten Beamten der Sacra Caesarea Majestas betrachtet werden; mit dem Kaiserthum ist auch die geschriebene Vernunft, das römische Recht
zu den Deutschen gelangt, und durch ein Gesetz Kaiser Lothars des Sachsen im Reiche verkündigt worden.
Die cäsarianische Doctrin erweckte, zumal
seit Wallenstein sie zu verwirklichen versucht hatte, den Widerspruch deö
Partikularismus; die Schulen der Fürstenerianer und Kurfürstenerianer priesen daS heilige Reich als eine wundervolle Mischung von Monarchie
und Aristokratie, Einzelne fanden sogar noch einen Zusatz von der dritten
aristotelischen
StaatSform, der
Demokratie,
in
dieser unvergleichlichen
Reichsverfassung. ES war ein unfruchtbares Wortgezänk, ebenso
barbarisch wie ihre Namen.
die Lehren beider Parteien
Beide Theile wetteifern in unter«
thäniger Verherrlichung der bestehenden Unordnung, im geistlosen Wieder holen
der
überlieferten
Begriffe,
aristotelischen
beide
reden
mit
der
gleichen stumpfsinnigen Gelassenheit von der Ohnmacht des Vaterlandes,
und
während sie
mit
massenhaften
Citaten
aus
den Pandekten
und
dem langobardischen Lehenrechte prunken, verstehen sie von Politik und deutscher Geschichte
„so viel wie der Esel vom Lautenschlagen" — so Als das Orakel des StaatS-
lautet PufendorfS unehrerbietiges Urtheil.
rechtS galt der große LimnäuS; Pusendorf rühmt ihm nach, sein Werk
übertreffe an Dickleibigkeit alle anderen.
Auch dieser „Patriarch und Erz
vater" deutscher Reichsrechtswissenschaft ließ sich'S wohl sein auf der Lehre vom gemischten Staate, dem alten Lotterbette publicistischer Gedankenar
muth, und entdeckte scharfsinnig, das Licht der Aristokratie strahle im deut schen Reiche doch etwas Heller als das Gestirn der Monarchie.
Bereits einmal hatte ein Störenfried daS stille Behagen dieser ruheseligen Wissenschaft erschüttert.
Während der letzten Jahre deS großen
Krieges hatte Philipp BogiSlav v. Chemnitz, ein harter Kämpe, der schon oft mit dem Schwert und der Feder gegen daS Haus Habsburg gefoch
ten, daS trotzige Buch veröffentlicht: HippolithuS a Lapids über die StaatS-
raifon in unserem römisch-deutschen Reiche.
Dies Programm der schwe
dischen Partei verkündet ungescheut die letzten Hintergedanken der deutschen
Libertät, des reichsfeindlichen ParticulariSmuö. Mit der Weltkenntniß des praktischen Staatsmanns werden die Hirngespinnste der unterthänigen „Le-
gisten" zurückgewiesen, wird der schönfärbenden Wiffenschaft ein entsetzlich
treues Bild von Deutschlands wirklichen Zuständen, von „dem unheimlich
leichenhaften Angesicht Germaniens" entgegengehalten und die Nation aufgdfordert zum Kampfe auf Tod und Leben wider das Haus Oesterreich.
Imm?r wieder, in schwungvoll beredten Worten, kehrt HippoUthuS zurück
zu seinem caeterum censeo: exstirpandam esse domum Austriacam. Der ganze wilde Haß des Religionskrieges tobt in seinen Worten:
Der
Würfel ist geworfen, der Rubicon überschritten; sie können unS das Leben nehmen, doch nicht den Himmel, das Vaterland, doch nicht die Welt!
Die schneidige Schrift verfiel dem gewöhnlichen Schicksal der Parteiwerke. Sie erregte auf kurze Zeit ungeheures Aufsehen und schadete, wie Fer
dinand III. gestand, der kaiserlichen Sache mehr als eine verlorene Schlacht;
sie ist auch in späteren Tagen stets von Neuem lebendig geworden so oft die Nation den Druck des österreichischen Joches unmuthig empfand — so unter Friedrich dem Großen und zur Zeit deö Rheinbundes; und noch
nach dem Tage von Olmütz habe ich manchen leidenschaftlichen Patrioten
gesehen, der an dem HippolithuS wie an einer politischen Bibel mit in grimmiger Hoffnung sich erbaute. Wissenschaftlicher Werth gebührt dem Buche nicht; die glänzende Kunst der Rede vermag nicht über die tenden
ziöse Unwahrheit der Darstellung zu täuschen.
So richtig HippolithuS
die politischen Kräfte seiner Gegenwart ^würdigt, wenn er den Schwer punkt deutscher Macht in den größeren weltlichen Territorien sucht: ebenso
willkürlich stellt er die Thatsachen der Geschichte auf den Kopf, ind?m er das Reich als eine ursprüngliche Aristokratie, die kaiserliche Gewalt als
eine beständige Usurpation schildert.
Das Titelbild zeigt den kaiserlichen
Aar wie er auf der Weltkugel thront.
Der König von Frankreich mit
dem Lilienmantel und der schwedische Löwe rupfen ihm die Federn auS
den Schwingen, und ein geharnischter Mann, der deutsche ReichSfürst, erhebt das Schwert um den Kopf des Adlers zu zerschmettern.
Auf solche
Gedanken deS Landesverraths läuft die Staatsraison des feurigen Anwalts deutscher Libertär hinaus; Chemnitz schrieb wahrscheinlich auf Befehl der
Krone Schweden, schwerlich in gutem Glauben.
Nach dem weftphälischen
Frieden verlor das Buch viel von seinem Ansehen.
Zwar bestand noch
eine schwedische Partei im Reiche; EsaiaS Pufendorf hat an den Chemnitzischen Gedanken mit diplomatischer Behutsamkeit
immer festgehalten.
Doch der großen Mehrzahl der ReichSpublicisten galt HippolithuS als ein frecher MajestätSschänder, gleich den englischen KönigSmördern; die Facultäten frohlockten als das Libell von Reichswegen verboten wurde. Ungleich wichtiger war eine große wissenschaftliche Entdeckung, die
etwa gleichzeitig mit der Calixtinischen Bewegung von der rührigen kleinen HelmstSdter Hochschule auSging. unterstand sich,
Der gelehrte Arzt Herman Conring
in seinem Buche Origines Juris Germanici (1643) der
entsetzten juristischen Welt die Frage vorzulegen: ob eS denn wahr sei, daß
daö römische Recht schon seit sechshundert Jahren im Reiche herrsche? —
und fand mit der sicheren Intuition des Genies aus seinen dürftigen,
ungefichteten Quellen die überraschende Antwort: die Rechtsbücher Justinians sind niemals durch ein Reichsgesetz den Deutschen auferlegt worden, sie
haben erst seit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, feit die Schüler der Bologneser Juristenschule in unseren Gerichten die Oberhand
gewannen,
das alte nationale Recht verdrängt.
Mit dieser glänzenden
Entdeckung war der Grund gelegt für die neue Wissenschaft der deutschen
Rechtsgeschichte und zugleich der herrschenden Doctrin des ReichSrechtö der Boden unter den Füßen hinweggezogen; denn ganz von selbst ergaben sich
nun die Schlüsse, daß die Begriffe deS römischen Rechts mindestens auf das deutsche StaatSrecht nicht angewendet werden dürften, daß die alte deutsche Königswürde mit dem römischen Kaiserthum nur äußerlich ver
bunden fei u. s. w.
Die juristische Zunft sträubte sich lebhaft wider die
unbequeme neue Wahrheit, und mit solchem Erfolge, daß Conrings Ge
danken bekanntlich erst durch Savignh's Forschungen zu einem anerkannten Gemeingute deutscher Wiffenschaft geworden sind.
Dem großen Helm
städter Polyhistor selber fehlte leider, wie ihm Pufendorf vorwarf, gänzlich jener Muth der Gesinnung, der dem Lehrer der StaatSwissenschaften fast
ebenso unentbehrlich ist wie das Talent.
Er nahm das Geld wo er es
fand, bezog Pensionen von Frankreich und Schweden, suchte die Gunst
deS großen Ludwig zu gewinnen, indem er ihm die Besiegung der Türken und die Herrschaft auf dem Mittelmeere verhieß.
Ein solcher Charakter
konnte wohl den deutschen Protestanten auswärtige Bündnisse zum Schutze
ihrer Libertät empfehlen, doch
die Ergebnisse
seiner
tiefen historischen
Forschung auf daö bestehende Staatsrecht anzuwenden, mit freimüthigem
Urtheil die Gebrechen der Reichsverfassung aufzudecken kam ihm nicht in den Sinn. Wie wenig productive Kritik von diesem Helmstädter Kreise zu er warten stand, das lehrt die immerhin beste reichsrechtliche Schrift der Con-
ring'schen Schule, die Abhandlung de statu regionum Germaniae (1661) von dem jungen Ludolph Hugo, der späterhin als welfischer Staatsmann eine Rolle spielte.
Von der Weissagung DanieliS und der vierten Mon
archie ist hier freilich nicht mehr die Rede, aber welche unmaßgebliche Leise
treterei, welcher Mangel an juristischer Schärfe, welches Spielen mit un klaren Bildern!
Mit glatten Worten gleitet Hugo über die ungeheuerlichen
Widersprüche der Reichsverfassung hinweg: das Reich ist ein Staat, die
Territorien desgleichen; der Oberstaat (summa res publica) besorgt die
allgemeinen, die Unterstaaten die besonderen Angelegenheiten; die Einzel-
staaten sind als analoga von Staaten aufzufassen, ihre Landeshoheit, die Nebenbuhlerin (aemula) der Reichsgewalt, muß nach der Analogie der
Souveränität erklärt werden.
Dieser Staatenstaat lebt
in glückseliger
Harmonie, wenn seine Glieder gleichsam ein Abbild (quasi effigiem) des Natürlich werden dann auch die Bündnisse der
ganzen Körpers darstellen.
rhetuischen Fürsten mit Frankreich als ein nützliches Beispiel für die Nach welt gepriesen.
Kurz, überall zeigt das Buch neben einzelnen guten Ge
danken jene mattherzige Neigung, den Aberwitz eine- unwahren positiven Recht- theoretisch zu rechtfertigen, jene Kunst Feuer und Wasser zu ver
schmelzen, worin die Literatur des deutschen Reichs- und Bundesrechts
stets so Wunderbares geleistet hat. Wie ein reinigendes Gewitter fuhr nun im Jahre 1667 in die Stick luft dieser wissenschaftlichen Fabelwelt daS kleine Buch: SeverinuS de Monzambano über den Zustand des deutschen Reichs.
Pufendorf fühlte, daß
gegen die gespreizte Feierlichkeit gelehrter Gedankenarmuth der Spott die
beste Waffe sei; er nimmt gewandt die Maske eines Ausländers vor »nd
betrachtet die den Deutschen geläufigen Ungeheuerlichkeiten des ReichSrechtS mit den verwunderten Augen eines vornehmen BeroneserS.
Der geistreich
frivole Weltmann SeverinuS erzählt seinem Bruder LaeliuS, in dem man
leicht den getreuen EfaiaS wieder erkennt: er habe versucht aus gelehrten Büchern die politischen Zustände dieses gewaltigen Volkes kennen zu lernen, daS dreißig Jahre lang mit Hilfe der Fremden sich zerfleischte und selbst
so entsetzliche Schläge lebenskräftig überdauern konnte.
Aber die lang
weilige Breite der deutschen ICti widert den feinen Italiener an,
und
nun wird mit jenem überlegenen Hohne, der daS Vorrecht aller großen
Publicisten
bleibt,
die unersättliche
Schreibseligkeit
unserer
Wiffenschaft verspottet.
Mehrmals kommt SeverinuS
schweres
deutschen Lebens,
Gebrechen deö
das damals
zurück noch
erstarrten auf
ein
kein an
derer Deutscher erkannt hatte, auf das unnatürliche Uebergewicht der ge
lehrten Berufe: dies verwüstete Land bedarf derber wirthschaftlicher Arbeit, die Reihen seines Bauernstandes sind gelichtet durch den großen Krieg, sein Gewerbfleiß von den Nachbarn längst überflügelt, und doch widmen sich Tausende dem unfruchtbaren Schaffen einer geistlos sammelnden Ge
lehrsamkeit; „unter so Vielen, die den Lorbeer tragen, wird nur selten ein
Phöbus gefunden."
Der Italiener versucht nunmehr, durch den Verkehr
mit Staatsmännern sich zu belehren; er bereist das deutsche Land, be trachtet in Regensburg das lächerliche Treiben des Reichstags, trinkt sich
durch an unzähligen geistlichen und weltlichen Höfen, was dem mäßigen Südländer hart genug ankommt, lernt auch Conring kennen, den einzigen deutschen Publicisten, der ihm Bewunderung einflößt, und berichtet dem
Bruder was er also erfahren.
Zunächst entwirft er,
oftmals den Spuren ConringS folgend,
in
großen Zügen einen Abriß der deutschen Geschichte, der noch heute, bi- auf
einige unwesentliche Irrthümer, der strengsten Prüfung Stand hält; erst seit wenigen Jahrzehnten ist unsere historische Wissenschaft von den Ver
irrungen romantischer
Kaiserschwärmerei wieder zurückgekehrt
zu jener
nüchtern politischen Anschauung, die hier mit genialer Sicherheit vertreten wird.
Ein ungeheures Wissen verbirgt sich hinter dieser kurzen lebendigen
Erzählung; Pufendorf war der erste Deutsche, der die Ergebnisse schwer gelehrter Forschung in durchsichtiger, gemeinverständlicher Form wiederzu
geben verstand.
Er schildert, wie erst nach den Zeiten Karls des Großen
ein selbständiges französisches Volksthum neben dem deutschen entstand, und widerlegt damit jene überrheinischen Geschichtsfälschungen, welche damals zuerst dem Reiche bedrohlich wurden.
Einige Jahre zuvor hatte König
Ludwig als legitimer Nachfolger Karls deö Großen seine Hand ausgestreckt nach der Kaiserkrone.
Aubery und andere Pariser Hofpublicisten bewiesen
in rechtsgeschichtlichen Abhandlungen „die gerechten Ansprüche des Aller christlichsten Königs auf das Reich."
Sodann bekennt sich Pufendorf zu
seinem Staatsideale, der absoluten Monarchie.
Nur diese härteste Form
der StaatSeinheit konnte die zuchtlose Selbstsucht der deutschen ständischen
Libertät einer gerechten Ordnung unterwerfen; darum sind die freien Geister
unter den Publicisten und Staatsmännern jener Generation, Leibnitz und Thomasius, Jena und MeinderS, allefammt überzeugte Absolutisten ge wesen.
Nur in
dem regnum rite compositum
findet SeverinuS die
dauernde Macht des Staates, gesicherten Rechtsschutz für Hoch und Niedrig
und die entschlossene Thatkraft eines von Einem Geiste geleiteten Volkes. Dieser vollkommensten Staatsform hat Deutschland in den Anfängen seiner Geschichte sehr nahe gestanden; doch die alte nationale Monarchie verfiel
durch die unselige Erblichkeit der Reich-ämter — einen schweren politischen
Fehler, den nur gelehrte Thorheit loben kann — und sie zerbröckelte völlig seit da- deutsche Königthum mit der römischen Kaiserwürde verbunden wurde.
Schon der Name: heilige- römische- Reich deutscher Nation ent
hält einen inneren Widerspruch; die Pläne kaiserlicher Weltherrschaft haben nur Unheil über da- Vaterland gebracht, Ströme deutschen Blute- und
Gelde-
wurden
auf Italien-
undankbaren Boden verschüttet,
Macht der deutschen Krone ward zum Schatten.
und die
Grade in der einseitigen
Härte dieser Schilderung offenbart sich da- politische Talent de- Denker-;
wer wie er noch mitten inne stand in dem gräulichen Verfalle de- alten Reiche-, der konnte und durfte kein Verständniß haben für die unver gängliche Herrlichkeit, die einst in den entgeisteten Formen des Kaiserthum-
gelebt hatte. Dann wird mit einigen Meisterstrichen die Stellung Oesterreich- zum
R«che gezeichnet; das fromme Erzhaus hat durch allerhand Privilegien so trefflich für sich gesorgt, daß Oesterreich einem nicht-habSburgischen
Kaiser sofort den Gehorsam aufsagen kann.
Die Dynastie benutzt Deutsch
lands Kräfte, ohne jemals selber eine Pflicht gegen das Reich zu erfüllen; in favorabilibus eßt membrum imperii, in odiosis non item.
Darum
hat sie auch ihre burgundischen Lande zum Schein in das Reich aufnehmen
lasten, „damit die Deutschen um so bereitwilliger sür
fremden Gutes ihr eigenes opfern sollen." schrecklichen Großtürken,
die Bewahrung
Auch die Angst vor dem er
die noch immer unser Volk
beherrschte
und
Tausende in unterthäniger Treue an das Haus Oesterreich fesselte, findet vor dem weltkundigen Italiener keine Gnade.
Spottend ruft er: durch
solchen Schrecken wissen die Pfaffen dafür zu sorgen, „daß die harmlosen
Leute offenen Leib und offenen Beutel behalten"; die Macht der Türken ist längst gesunken und Oesterreich wohl im Stande sie aus Ungarn zu ver treiben — ein Seherwort, das nach einem Menschenalter durch die Siege
des Prinzen Eugen in Erfüllung ging.
In den Händen dieser fremden
Macht dienen die leeren Formen, die inania simulacra des KaiserthumS ttür noch dazu, Eifersucht zwischen den deutschen Staaten zu
erregen,
CabinetSjustiz zu üben und mit deutschen Heeren die Kriege der habsbur gischen HauSpolitik auSzufechten.
Die Gerechtigkeit ist auS dem Reiche ge
flohen : das Reichskammergericht fällt feine Urtheile erst nach Jahrhunder ten, beim Reichshofrath entscheidet Gunst und Bestechung.
Der Reichstag
hat soeben die Berathung der ewigen Wahlcapitulation begonnen und da mit einen willkommenen Borwand für unendliches Zusammenbleiben ge
funden itnb eine bequeme Antwort auf die Frage: „waS denn diese Masse
von Gesandten so viele Jahre lang treiben und warum sie Vormittags spanischen, Nachmittags Rhein- und Moselwein trinken müssen?"
Die wirkliche Macht deS Reichs liegt in den größeren weltlichen
Fürsten, nur daß auch sie durch beständigen Hader und durch Zettelungen mit dem Auslands das Vaterland schwächen.
Die Reichsstädte sind zum
Untergänge reif, auch die Reichsritter bestehen nur noch durch die gegen seitige Eifersucht der
mächtigeren Nachbarn.
Die volle Schale seines
Spottes ergießt der Italiener über die geistlichen Staaten.
Unter Einge
weihten darf das tiefe Geheimniß wohl ausgesprochen werden, das so viele gelehrte und beredte Priester durch salbungsvolle Reden vor dem frommen
Haufen z« verbergen wissen: die römische Kirche ist keine Glaubensgenossen
schaft, sondern eine politische Macht, mit der einzigen Aufgabe, die welt
liche Herrschaft der Priester aufrechtzuhalten.
Diesem Zwecke dienen ihre
Dogmen — denn wer sollte sich nicht beugen vor einem Pfaffen, der Christi Leib und Blut hervorzuzaubern vermag?
—
diesem Zwecke die
Orden, die nach den Gütern der Weltlichen das Netz au-werfrn.
DaS
apostolische Gebot der Armuth hat vermuthlich nur, für die älteste Kirche
gelten sollen.
Kein anderer Stand hegt soviel Ehrgeiz, Habgier, Neid,
Zorn und Schmähsucht wie diese Priester; freilich ergießt sich auch der
heilige Geist über ihren geschorenen Scheitel weit reichlicher als über das volle Haar der Weltkinder.
Und in keinem anderen Lande sind die Priester
so mächtig wie im heiligen Reiche; sie haben das ganze Mittelalter hin durch gegen die Kaiser gemeutert und nach und nach daS reichste Drittel
Deutschlands, die schönen Rheinlande, sich erworben; dort hausen sie be haglich in ihren Domcapiteln — der lästige Coelibat wird ja durch ge fällige Mädchen um Vieles erträglicher — und der fromme Adel versorgt
nach
dem glorreichen Beispiele unseres geliebten heiligen Vaters seine
Söhne und Vettern mit fetten Pfründen.
„zweiköpfig",
rettungslos
der
DaS deutsche Reich aber bleibt
Anarchie preisgegeben,
so lange
dieser
hohe Clerus seine Macht behauptet; denn er dient einem auswärtigen Souverän, dem unfehlbaren Stellvertreter Christi, bildet einen Staat im
Staate. Mit scharfen Worten wird darauf die weltliche StaatSkunst der geist
lichen Herren gezeichnet: die wüste Fehdelust deS Bischofs von Münster,
Bernhard von Galen, und vor Allem die Großmachtspolitik des Mainzer Hofes. sich
Ein großer Umschwung der europäischen Machtverhältnisse hatte
soeben
vollzogen:
die
spanische Krone sank seit
dem phrenäischen
Frieden zu einem Staate zweiten Ranges herab, und auf den Trümmern ihrer Macht erhob sich das französische Königthum.
Der großen Mehrzahl
der Zeitgenossen blieb diese verhängnißvolle Aenderung noch lange verborgen.
Die deutschen Protestanten lebten in den Anschauungen einer überwundenen
Epoche, sie zitterten noch vor dem Schreckbilde deS spanisch-österreichischen Weltreichs; erst ein oder zwei Jahrzehnte später, nach der Ueberrumpelung
Hollands,
nach dem Falle Straßburgs und der Verwüstung der Pfalz,
begann die Mehrheit der Nation zu ahnen, welche Gefahr ihr von dem
räuberischen Ehrgeiz deS Versailler HofeS drohte.
Zugleich mit dem Ueber-
gewichte Frankreichs und beständig genährt durch französische Ränke erwuchs
dem deutschen Reiche eine neue Macht des Unheils: die unruhige Groß
mannssucht der Mittelstaaten.
Wenn die kleinen Höfe bisher in der Regel
thatloS dem Gange der großen Politik zugeschaut hatten, so versuchen sie jetzt voll rastloser Eitelkeit eine europäische Rolle zu spielen, sie drängen sich ein in die Händel der Großmächte mit ungebetenen Rathschlägen und
benutzen das neu gewonnene Recht der Bündnisse zn einem unredlichen diplomatischen Spiele, das schließlich nur den Plänen Frankreichs zu gute
kommt.
Als die Ahnherren dieser neuen Mittelstaatenpolitik erscheinen der
Mainzer Kurfürst Johann
Philipp von Schönborn und sein Minister
Freiherr von Boineburg, der Beust des siebzehnten Jahrhunderts. Nirgends
erklang
die reichspatriotische Phrase
so
inbrünstig,
so
schwungvoll wie in den wortreichen Depeschen des Erzkanzlers, der nach alter kurmainzischer Ueberlieferung
schen
Fürstenstandes
fühlte.
sich stolz als den Führer des deut Welt rühmte die Duld
Die aufgeklärte
samkeit dieses geistlichen Hofes, die freilich zur römischen Kirche nicht ausschloß.
den Uebertritt BoineburgS
Die ersten Gelehrten der Zeit,
Conring und Leibnitz, wetteiferten um die Gunst des freisinnigen Kurfürsten
und seine- geistreichen Ministers.
Die irenische Politik des Mainzer HofeS
vermaß sich, mit der gesammelten Macht der rheinischen Kleinfürsten den Weltfrieden zu wahren,
Ruhe zu gebieten.
den Bourbonen und den Habsburger» zugleich
Meisterhaft verstanden die französischen Staatsmänner,
die Eitelkeit des kleinen Nachbarn zu benutzen.
ES war ja doch nur
Frankreichs Vortheil, wenn der Mainzer dnrch die Wahlcapitulation dem Kaiser jede Einmischung in die spanisch - französischen Händel untersagen
ließ; zum Lohne durfte dann Bolnebnrg theil nehmen an den Verhandlungen auf der Bidassoa-Jnsel, weilte monatelang als weiser Friedensstifter unter
den Diplomaten der Großmächte, strich selbstgefällig den Dank Europas ein, den ihm seine deutschen Bewunderer aussprachen, und nicht minder bereitwillig die wohlverdienten französischen Gelder.
Frankreichs Truppen
rückten mitten im Frieden bis in daS Herz von Deutschland um dem irenischen Kurfürsten seine aufsässige Stadt Erfurt zu unterwerfen; Frank reich «nd Schweden entschieden, deS Reiches ungefragt, die kleinen nachbar
lichen
Streitigkeiten zwischen Mainz und Pfalz.
Brandenburg,
Als Oesterreich und
endlich einmal einig in einem großen nationalen Unter
nehmen, ihren ersten Siegeszug gen Düppel und Alfen begannen und die Schweden vom Boden des Reichs zu verdrängen suchten, da erscholl auS
dem Kreise der Mainzer Patrioten, widerhallend an allen kleinen Höfen, der Weheruf über den Ehrgeiz Friedrich Wilhelms, über
tiefer
ins
Reich
dringenden
brandenburgischen
„den immer
Dominat";
und
die
rheinischen Fürsten, Mainz voran, schlossen den ersten Rheinbund, der
unter FrankrStchS Protectorat den Frieden deö Reiches sichern, den deut schen Reichsstand Schweden vor Vergewaltigung bewahren sollte. Fast die gesammte Nation pries die irenische Weisheit; Pufendorf allein
unter ihren Publicisten durchschaute die Nichtigkeit dieser Politik der edlen
Worte und der verrätherischen Thaten.
Er kannte die Mainzer Herren aus
seinen Heidelberger Erfahrungen, hatte soeben, in einem Gutachten über den bekannten pfälzischen WildfangSstreit, die Rechte seines Landesfürsten ver theidigt gegen die Ansprüche deS geistlichen Nachbarn.
Sein unbarmher-
ziger Realismus
verachtete die leere Vielgeschäftigkeit der prahlerischen
Ohnmacht; noch in seinem letzten Geschichtöwerke sagt er spottend: der Kurfürst von Mainz war der Ansicht, daß in der Politik Redensarten
mehr auSrichten als daS Schwert (plura consilio quam vi molienda).
So wird auch im SeverinuS der Politik Frankreichs und seiner Verbün
deten mit fester Hand die MaSke abgerissen.
Der unförmliche Zustand
deS Reichs ist den Franzosen hochwillkommen, sie wollen nicht unsere Ver
fassung vernichten, sondern durch Geschenke und Pensionen, durch Sonderbünde und freundnachbarliche Vermittelung die deutschen, vornehmlich die rheinischen Fürsten an sich fesseln: „ein Thor, wer nicht einsieht, daß durch solche Mittel der Weg geebnet wird zur gänzlichen Vernichtung der deut schen Freiheit."
Zugleich wird Boineburg, der soeben bei seinem Herrn in
Ungnade gefallen war, mit einer Fülle boshafter Lobsprüche überhäuft, die dem Gepriesenen kaum minder peinlich sein mußten als dem Mainzer Hofe.
Unter einer starken Krone, fährt der Italiener fort, würde dies Reich mit seinen Millionen wehrhafter Männer den Franzosen überlegen, ja dem
ganzen Welttheil furchtbar sein; überall in der Welt bringt der deutsche Adel sein tapferes Blut zu Markte.
Nur die elende Verfassung hält die
gewaltigen Kräfte der Nation darnieder; in einer solchen Vielheit von geist
lichen und weltlichen, großen und kleinen, monarchischen und republikanischen
Staaten kann Einheit deS Entschlusses nicht bestehen.
Auch Handel und
Wandel leiden unter der Vielherrschaft; die zahllosen deutschen Münzen besitzen
nur die eine Tugend der Bescheidenheit, sie verrathen durch ihr Erröthen, wie
sehr sie sich ihres geringen Silbergehaltes schämen.
DaS Reich ist keine
Monarchie; lassen wir uns nur nicht täuschen durch den Genius der deut schen Sprache, die mit leeren Ehrentiteln zu prunken liebt.
Die kaiserliche
Majestät, die plenitudo potestatis, wovon die Hymnen der kaiserlichen Hofdecrete (decretorum carmina) zu singen wissen, besteht in Wahrheit längst nicht mehr — wenn man nicht etwa den straflosen Ungehorsam der
Unterthanen als das eigentliche Kennzeichen der Majestät betrachten will. DaS Reich ist aber auch kein Bund, da der Einfluß deS Kaisers noch sehr weit reicht; es vereinigt in sich alle Uebel eines lockeren Staatenbundes
und einer schlecht geordneten Monarchie, erscheint der MissÄlschaft als ein unregelmäßiger und ungeheuerlicher Körper (irreguläre aliquod Corpus
et monstro simile), der zwischen jenen beiden StaatSformen mitten inne steht und unter keine der üblichen Kategorien beff Staatsrechts fällt.
Und
wie man einen am Abhang niederrollenden Stein mit leichter Mühe in
die Tiefe, doch nur schwer wieder auf die Höhe empor wälzen kann, so kann auch die deutsche Verfassung nur durch die härtesten Erschütterungen wieder zurückgeführt werden zu ihrer ursprünglichen monarchischen Fornt,
Sie eilt vielmehr wie durch Naturgewalten getrieben der, extremen Ausbil dung ihrer heutigen foederalistischen Entartung entgegen; das Reich wird sich verwandeln in einen Bund unabhängiger Staaten.
Die Worte muthen uns an als wären sie gestern geschrieben.
Der
rollende Stein des deutschen Gemeinwesens „eilte" zwar noch durch andert
halb Jahrhunderte bergab; doch die letzten Ziele dieses Niedergangs hat Seve-
rinnS mit wnnderbarer Sehergabe voraus verkündigt, und auch die Formen
der künftigen Bundesverfassung sind ihm schon klar:
der deutsche Bund
wird die republikanischen wie die theokratischen Kräfte deö heiligen Reichs
Mit einigen kecken
beseitigen und nur weltliche Fürstenthümer umfassen.
Streichen zerreißt der Italiener das Lügengewebe, das die lutherischen
Hoftheologen über die Geschichte des jüngstvergangenen Jahrhunderts ausgespannt hatten.
Er erklärt rundweg: die , evangelische, Lehre konnte, , sich
selber überlassen, sehr leicht in ganz Deutschland zur Herrschaft gelangen ; doch der geistliche Vorbehalt des Augsburger Religionsfriedens' verschloß
ihr die geistlichen Territorien, die Protestanten versäumten in Zwietracht
und Kleinmuth diese künstliche Fessel abzustreifen.
Dann verkündet er zu
versichtlich den Gedanken der Säkularisation, jenen rettenden Gedanken,
der seit Luthers Tagen in allen großen Krisen unserer Geschichte wieder
auftauchte bis endlich die Gewalt der Fremden ihn verwirklichte: verständen die deutschen Fürsten ihren Vortheil, so würden die geistlichen Gebiete evangelisch oder in weltliche Staaten umgewandelt und damit die politische
Macht des Papstthums im Reiche vernichtet werden.
Veroneser mit schlauem Schmunzeln hinzu,
Aber,
fügt der
unsere heilige Kirche mag
ruhig sein, die Fürsten werden diesen Gedanken schwerllch fassen; denn Gottlob, der Zufall der Geburt verleiht die Herrschaft nur selten dem Klugen. Also offenbaren sich in dem geistvollen Buche
überall jene beiden
Gaben, deren Verbindung den großen Publicisten macht: der Sinn für das Lebendige, das Wesentliche, der hinter dem Scheine der Macht und
des Rechtes die Wirklichkeit der Dinge erkennt, und die Sicherheit einer
mächtigen Phantasie, die in den unfertigen Gebilden der Gegenwart schon das bleibende Ergebniß zn ahnen vermag.
Und doch wird kein Deutscher
heutzutage den Severinus ohne ein Gefühl des Befremdens, ja des Mit leids aus der Hand legen.
Wer so unbarmherzig die Blöße seines eig
nen Landes vor der Welt aufdeckt, der speist uns nicht ab mit noch so geistreichen Schilderungen einer fernen Zukunft; will er uns nicht als
ein frevelhafter Spötter erscheinen, so muß er uns sagen, waS denn hier und heute geschehen solle gegen das Elend des Vaterlandes.
Und auf
diese Frage giebt Severinus nur eine resignirte, fast hoffnungslose Ant-
wort.
So lebhaft er die Einheit seines Landes ersehnt, in der Reichs
politik des Augenblicks ist er conservativ — und er muß es sein, weil seine Nüchternheit nirgendwo in der deutschen Gegenwart eine lebensfähige
rovolutionäre Kraft zu entdecken vermag; er muß eS sein, wie ja alle be
sonnenen Reformer dieser letzten Zeiten deS Reichs, auch Friedrich der Zweite und der große Kurfürst, die bestehende Reichsverfassung alS eine
vorläufig unzerstörbare Ordnung hingenommen haben.
Er redet nicht ohne
Theilnahme von den verwegenen Gedanken des HippolithuS a Lapide und
verspottet dessen unterthänige Gegner als Faseler und Schmeichler; doch den Rath, daS HauS Oesterreich zu vernichten, verwirft er durchaus. die Meinung eines Scharfrichters, nicht eines Arztes.
DaS fei
Nicht ohne fremde
Hilfe können die Deutschen ein solches Unternehmen wagen, unter den
gegenwärtigen Verhältnissen würde nur Frankreich Vortheil ziehen von
der Vernichtung deS KaiserthumS — eine Weissagung die in den napo
leonischeu Tagen sich bewähren sollte.
Kennt Ihr nicht, fragt SeverinuS,
die Fabel von den Fröschen, die sich den Storch zum König wählten? und wer weiß denn, ob nicht nach dem Ausscheiden Oesterreichs auch an dere Glieder das zerrüttete Reich verlassen würden? Wie heute die Dinge
liegen, bleibt nur übrig, dem Kaiser einen permanenten Rath von Gesand
ten der mächtigsten deutschen Staaten an die Seite zu stellen; so mögen dann
die Angelegenheiten
des Vaterlands in
ehrlichem
Einvernehmen
zwischen den lebendigen Gliedern des Reichs berathen, willkürliche Schritte des kaiserlichen HofeS verhindert, alle Sonderbündnisse mit dem Auslande
aufgehoben und dem Reiche ein leidlicher Zustand des Friedens vorläufig gesichert werden.
Sicherlich ein dürftiges positives Ergebniß nach so grausamer Kritik; eine nüchterne, maßvolle Realpolitik, aber die Politik eines hoffnungslos
darniederliegenden Staates!
Nur in einem Falle hält SeverinuS eine
Reform deS Reichs an Haupt und Gliedern für möglich: wenn der MannS-
stamm der Habsburger auSsterben sollte.
Dieser Fall schien bekanntlich
in jenen Jahren nahe bevorzustehen, da dem Kaiser Leopold auS seinen beiden ersten Ehen kein Sohn am Leben blieb; und auch hier wieder be
währt sich der prophetische Blick deö Denkers, denn in der That erst nach
dem AuSsterben deö alten Erzhauses ist der erste ernstliche Versuch zur Umgestaltung des Reichs gewagt worden.
Aber eine deutsche Macht, die
dem Hause Oesterreich heute schon die Spitze bieten könnte, findet Seve rinuS nirgends; auch er ahnt noch nichts von der großen Zukunft der Hohenzollern.
Elf Jahre bevor das Buch erschien, hatten die blauen brandenburgischen Regimenter auf dem Felde von Warschau ihre graden Klingen gekreuzt
Mit den
polnischen Krummsäbeln und zum ersten male den stegeSfrohen
Schlachtruf:
Mit Gott! angestimmt.
Neun Jahre zuvor war Friedrich
Wilhelm gegen die Schweden ausgezogen und hatte der Nation die boden lose Tiefe ihrer Schande schildern lassen in „an den ehrlichen Deutschen."
es dort.
jener köstlichen Flugschrift
„Siehe an Dein edles Vaterland — hieß
Es ist leider im letzten Kriege unter dem Borwand der Religion
und Freiheit gar jämmerlich zugerichtet und an Mark und Bein dermaßen
auSgesogen, daß von dem einst so herrlichen Körper schon nicht- mehr
übrig ist alS das Skelett.
Gedenke daß Du ein Deutscher bist!
WaS
sind Rhein, Elbe, Oder, Weserstrom heute anders alS fremder Nationen Gefangene?
WaS ist unsere Freiheit und Religion mehr alö daß Fremde
damit spielen?" — Und solche Worte, die uns Nachlebenden wie mäch
tiger Glockenklang am .Morgen einer neuen Besseren Zeit das Innerste erschüttern, konnten in dem wüsten Parteigezänke jener Tage so spurloverhalle», daß der erste Publicist der Nation sie nicht vernahm!
mehr.
Noch
Bor wenigen Jahren erst hatte Graf Georg Friedrich von Waldeck
mit dem Großen Kurfürsten den Plan einer Reichsreform erwogen, die
den Gedanken des SeverinuS sehr nahe kam: ein Bund der mächtigeren ReichSfürsten sollte daS Haus Oesterreich zwar nicht vom Reiche auSschließen, doch die Willkür der kaiserlichen Gewalt beschränken.
Bon dem
Allen scheint Pufendorf ebenso wenig gehört zu haben wie die große Mehr-^ zahl der Zeitgenossen; er erwähnt den Brandenburger nur einmal mit
kühler Achtung als einen mächtigen Herrn, der zweihundert Meilen weit
im Reiche reisen und dabei täglich auf seinem eigenen Gebiete übernachten könne.
So langsam reiften Gottes Saaten; auch Pufendorf sollte erst
nach langen Jahren, hart geschüttelt durch schwere Erfahrungen, das Wesen der jungen deutschen Großmacht verstehen lernen. Mit allen Mängeln, die er der unfertigen Bildung de- Zeitalters verdankt, bleibt der SeverinuS doch ein glänzendes Werk, das alle gleich
zeitigen Schriften der Reichspublieistik einfach todt schlägt, meisterhaft auch in der Form.
Kein einziger deutscher Poet jener Zeit vermag einen
Charakter zu zeichnen; die dramatischen Helden fallen beständig aus der
Rolle, schreien mit polterndem Pathos die Empfindungen des Dichter
in die Welt hinaus. Ton
Wie kunstvoll dagegen weiß SeverinuS den leichten
der eleganten Reisebeschreibung
zn treffen;
die Reisenden
dieser
nüchternen Epoche, noch unberührt von der gefühlsseligen Landschaft-be
geisterung moderner Touristen, ergehen sich ja allesammt in der Schilde rung von Sitten, Volk-wirthschaft und Verfassung-verhältnissen.
So na
türlich klingt die spöttelnde Rede de- weltkundigen Italiener-, der, selber
glaubenlo-, um der politischen Herrschaft willen an der römischen Kirche Preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft«.
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festhält, daß noch heute die Erklärer des Buchs manchen ironischen Aus-
spruch
des SeverinuS für PufendorfS eigene Meinung halten.
Knapp
und klar, scharf und streng sachlich eilt die Darstellung dahin, .seltsam abstechend von der breitspurigen Förmlichkeit der Zeitgenossen, unwider stehlich siegreich, also daß der Leser hinter jedem Satze ruft: so ist eS!
SeverinuS redet mit der ganzen Zuversicht des eingeweihten Kenners, fer tigt alle Einreden rasch ab mit einem entschiedenen cordatioribus non difficulter subolet oder stupidus
sit qui non animadvertat.
Sein
Latein ist keineswegs elegant, doch überaus lebendig und ausdrucksvoll;
nur wer eine gebildete Sprache vollkommen beherrscht kann ironisch sprechen, in deutscher Sprache war ein Buch dieses Schlages damals noch unmöglich. Ergreifend bricht zuweilen ans der leichten Rede ein starker Naturlaut poli
tischer Leidenschaft, vaterländischen Stolzes hervor: auch der Veroneser hat seine Freude an diesem ehrlichsten der Völker, an diesen treuen und tapfe ren Menschen, die sich so leicht regieren lassen — was in dem Munde
ein hohes Lob ist.
des Absolutisten
Immer liegt
ein
eigenthümlicher
Zauber über dem Erstlingswerke eines bedeutenden Mannes, der während der gährenden zwanziger Jahre enthaltsam geblieben und erst in der vol
len Reife deö Geistes mit einer grösseren Arbeit auf den Markt hinaustritt; solche Bücher scheinen keinem Alter anzugehören.
im SeverinuS
der
jugendliche Uebermuth
eines
So verbindet sich
zweiunddreißigjährigen
Mannes mit reifer Welterfahrung und tiefer Gelehrsamkeit. Pufendorf hatte die Handschrift schon im Jahre 1664 vollendet und
legte sie seinem Kurfürsten vor.
Der freute sich des feinen Spottes, sah
mit weltmännischer Gelassenheit darüber hinweg, daß der herbe Tadel des SeverinuS wider die auswärtigen Verbindungen deutscher Kleinfürsten auch
den Pfälzer Hof traf,
und hat vielleicht sogar einige Pinselstriche hinzu-
gefügt zu der getreuen Schilderung der geliebten geistlichen Nachbarn. Von
selbst versteht sich, daß auch Bruder LaeliuS in Paris den Schatz seiner
diplomatischen Erfahrungen geöffnet und mit boshafter Geschäftigkeit aller hand kleine Züge aus dem Hofleben beigesteuert hatte. Doch das Impri matur für die gefährliche Schrift konnte der Pfalzgraf vor kaiserlicher Majestät nicht verantworten; er bestand darauf, das Buch solle im Aus lande und ohne den Namen des Heidelberger ProfefforS gedruckt werden.
So mußte wieder der gewandte Efaias aushelfen.
Er gab die Handschrift
einem Pariser Censor, dem Historiker Mezerai. Der aufgeklärte Franzose
vertheidigte jedoch,
wie sein Rabelais, die Freiheit des Gedankens nur
juequ’au feu — exclusivement, und erwiderte: „das Buch ist vortrefflich, aber die Pfaffen würden mich in dieser Welt verdammen, für daS Jen seits fürchte ich sie nicht".
Der SeverinuS erschien endlich nach jähre-
langem Umherwandern bei einem Haager Verleger, natürlich unter einer falschen Firma, wie fast alle die verwegenen Schriften der europStschen Opposition, die in Hollands freier Presie eine Zuflucht fanden.
Ein Aufschrei der Entrüstung empfing „das monströse Buch", da- sich
erdreistete die vollkommenste Verfassung des Welttheils für ein Monstrum zn erklären. Die nächsten Jahre brachten eine Fluth von Gegenschriften. Bald
wurde das anstößige Libell verboten, und sofort stieg der Absatz, wie Pufendorf vorausgesagt; Drucker und Nachdrucker überschwemmten den Markt mit vielen tausend Exemplaren.
Alle Welt suchte nach dem Berfaffer.
Dem
jungen Samuel Pufendorf wollte Niemand eine solche Fülle praktischer
und theoretischer Kenntnisse zutrauen; für den unverkennbar jugendlichen Ton deS SeverinuS hatten die Pedanten kein Ohr. Man rieth auf EsaiaS,
auf Conring, , auf den Kurfürsten von der Pfalz; die stumpfe Kritik der
Gelahrtheit bemerkte nicht, daß die ketzerische Schrift weder schwedisch, noch französisch, noch pfälzisch, sondern deutsch war. Dem Freiherrn von Boine burg, so schreibt er selbst, „standen alle Haare zu Berge", da man auch
ihn, wegen jener ironischen Lobsprüche deS SeverinuS, als den Verfasser deS Libelle bezeichnete.
Endlich geriethen die Spürer doch auf die rechte
Fährte, und jeder Zweifel mußte schwinden, seit Pufendorf öffentlich den
SeverinuS vertheidigte und kurzab aussprach: „die Schrift wird ihre Stelle in der Nation behaupten, so lange die Freiheit der Reichsstände und der evangelische Glaube bestehen!"
Und so geschah eS.
Als daö Buch herauskam, hat allein Conring
gewagt den Lästerer zu vertheidigen; angezogen von der Wahlverwandt schaft des genialen Kopfes,
gab er einmal feine natürliche Zaghaftigkeit
auf und erklärte, dies herrliche Werk stehe in der deutschen Literatur
ohne Gleichen da.
Nach und nach verstummte das Gebell der kleinen
Kläffer, und die Gedanken des SeverinuS fanden in der Stille ihren
Weg.
In den ersten Jahren deS achtzehnten Jahrhunderts ließ Gund
ling den SeverinuS im Auftrage der neuen Berliner Akademie wieder drucken; auch Thomasius veranstaltete eine neue Ausgabe, die er seinen
staatsrechtlichen Vorlesungen an der Universität Halle zu Grunde legte.
Der Name des Geschichtschreibers des großen Kmfürsten war in Bran
denburg längst zu hohem Ansehen gelangt.
In diesen preußischen Kreisen
blieb PufendorfS Ansicht von deutscher Geschichte und Reichspolitik noch lange lebendig; ihre Nachwirkung ist noch in den Schriften Friedrichs des
Zweiten erkennbar.
Der große König hat den SeverinuS sicherlich nie
gelesen und, nach hoher Herren Weise, Pufendorf wie so viele andere Hel den deS deutschen Geiste- kurzweg unter die langweiligen Pedanten ver wiesen.
Doch man kennt Friedrich- Vorliebe für Thomasius, der ganz in
PufendorfS politischen Ideen lebte; und schlagen wir jene geistreiche Ueber sicht der deutschen Geschichte auf, die in die mömoires de Brandebourg
verwebt ist, so begegnen unS fast in jedem Satze die Gedanken des tapfern
Sachsen wieder, ohne wissenschaftliche Vertiefung, aber mit staatsmännischer Berechnung auf ein praktisches Ziel hin gerichtet: dieselbe rationalistische
Gleichgiltigkeit gegen das alte Kaiserthum,
dieselbe Geringschätzung der
leeren Formen des Reichsrechts, derselbe Hohn wider die geistlichen Fürsten,
derselbe Haß gegen Oesterreich, neben der nüchternen Erkenntniß, daß nur eine ebenbürtige deutsche Macht den Waffengang wider daS Kaiserhaus
wagen dürfe, dieselbe stolze Abweisung aller auswärtigen Einflüsse, endlich dieselbe Ueberzeugung von der Lebenskraft der größeren weltlichen Staaten. Weil Pufendorf die Dinge sah wie sie waren, darum konnten seine
Gedanken fortwirken so lange daS Reich bestand; und weil es in dieser
schattenhaften ReichSverfaffung so schwer war die Wirklichkeit vom Scheine
zu unterscheiden, darum blieb das alte Deutschland so trostlos arm an großen Pnblicisten.
Ueberblicken wir daS gesammte achtzehnte Jahrhundert,
so finden wir treffliche Erforscher deS ReichSrechtS in stattlicher Anzahl, von dem alten Moser bis auf Pütter und die Göttinger Juristen;
auch
freimüthige Tadler einzelner Mißbräuche, wie Schlözer und Karl Friedrich Moser, und geistvolle Kenner deS Volkslebens wie Iustus Möser; doch
wo ist in dieser langen Reihe stattlicher Namen ein Publicist großen Stiles,
der, dem SeverinuS gleich, die Grundschäden deS heimischen StaatSlebenS aufgedeckt,
den Finger in die Wunden feines Volks gelegt hätte? Ich
kenne nur Einen:
Friedrich den Großen, dessen politische Schriften mit
ihrer grausamen Wahrhaftigkeit wie Eichen über niederem Gestrüpp auS der Publicistik deS Zeitalters emporragen — und allenfalls den geistreichen
Schüler des Königs, den Grafen Hertzberg.
Erst als die Stürme der
Revolution die alte deutsche Welt aus den Fugen hoben, da begann jener
Geist schöpferischer Kritik, der in unserer Kunst und Philosophie schon längst erwacht war, auch auf dem Gebiete der politischen Theorie Funken zn
schlagen, und in Friedrich Gentz erstand unS wieder ein mächtiger Pub
licist, der das Wirkliche zu sehen vermochte.
Wer dem SeverinuS gerecht werden will,
der vergleiche was der
erste wissenschaftliche Kopf der Epoche, Leibnitz, über die Reichspolitik ge schrieben. Wie schwer hat sich doch die Gegenwart an diesem Denker ver sündigt!
Klingt eö nicht unglaublich, daß unsere gelehrte Nation noch keine
GesammtauSgabe seiner Werke besitzt?
Akademie
die
Ehrenpflicht
Denkmal zu setzen?
fühlen,
Sollte nicht endlich die Berliner
ihrem Stifter
das
einzig
würdige
Und ist eS nicht fast ebenso traurig, daß der uner
freulichste Theil seine- Wirkens, seine politische Thätigkeit, bisher nur von
zwei so ganz unpolitischen Köpfen, wie Guhrauer und Edmund Psteiderer,
eingehend geschildert wurde?
Die unverständigen Lobsprüche dieser wohl
meinenden historischen Dilettanten fordern geradezu den Spott heraus; Beide halten für Gewissenspflicht, so oft sie vor Leibnitz auf die Kniee fallen, zuerst an Pufendorf einen Fußtritt zu verabreichen.
Leibnitz stand
auf einer Höhe, wo sich das Wort erfüllt: „Alles verstehen heißt Alles
verzeihen."
Er wußte, wie kaum ein anderer schöpferischer Denker, die
revolutionäre Kraft des Genies mit überlegener Milde zu verbinden, und
suchte die prästabilirte Harmonie, die e.r in dem Weltganzen ahnte, auch in den endlichen Kämpfen des Menschenlebens wtederzufinden.
So mit
der Stimmung des Vermittlers und Versöhners trat A ein in die zer
fahrene Welt der deutschen Politik, wo nur die radikale Härte einseitigen Entschlusse- frommte.
Sein großer Sinn strebte zum Ganzen, er wollte Er beneidet die Männer, denen Gott zum Ver
leben für das Allgemeine.
stände auch die Macht gegeben,
als „die principalsten Instrumente der
Vorsehung", und strebt mit brennender Sehnsucht hinaus aus dem Schatten
der Forschung „in da- Licht der Staat-geschäfte."
Und doch, dort im
Schatten hat er Unsterbliches gethan, hier im Lichte ward er von kleineren
Geistern übertroffen. Der große
unterlag
Denker
einer wunderlichen
wenn er sich zu politischem Wirken berufen wähnte.
Selbsttäuschung,
Das ehrgeizige Ver
langen nach einer Thätigkeit, die feiner Begabung widerstrebte, verwickelte
ihn in das gewissenlose Ränkespiel erbärmlicher kleiner Höfe. stete Treiben hat feinem Charakter manche Sünden Zeit,
manche Untugend des zweideutigen Abenteurers
Dieö un
der verkommenen
ausgeprägt;
den
Menschen Leibnitz rückhaltlos zu lieben ist ebenso unmöglich wie seinen Genius nicht zu bewundern. bilden, war ihm befchieden.
Keine der Kräfte, die den großen Politiker Ihm fehlt der streitbare Muth.
Er hat alle
seine politischen Schriften namenlos oder unter falschem Namen erscheinen
lassen, um ihnen eine unbefangene Aufnahme zu sichern und „sich nicht so
viel Haß und Neid zuzuziehen"; dieser vornehme Widerwille gegen „den wenig
liebenswürdigen Namen der Eris" ehrt den gelehrten Forscher, doch der politische Mann will nur im Kampfe leben.
des politischen Denkens.
Ihm fehlt auch die Methode
Eine proteische Natur, ein Virtuos in der Kunst
des Anempfindenö, wunderbar befähigt den Standpunkt zu wechseln Und in grundverschiedene Anschauungen sich hineinzudenken; zudem vielleicht der größte Weltbürger, der je gelebt hat, beständig in regem Verkehre mit allen
neuen
Gedanken des Auslandes,
das
seinem rastlosen Geiste reichere
Nahrung bot als sein verödetes Vaterland:
so konnte er fast auf allen
Gebieten menschlichen Wissens eine Saat ausstreuen, deren Früchte noch
heute nicht alle eingeheimst sind, er mochte auch wohl in geistsprühendem höfischem Gespräche einem andächtig lauschenden Staatsmann eine Fülle
neuer politischer Gesichtspunkte eröffnen.
Solche geniale Vielseitigkeit ist
das genaue Gegentheil von der Gesinnung des Publicisten,
der auf den
Willen wirken, mit gesammelter Kraft alle Gedanken auf ein klar begrenztes, erreichbares Ziel richten soll.
Dem Philosophen fehlt sogar, wenn wir
schärfer prüfen, die tiefe, leidenschaftliche Theilnahme an dem Leben des StaateS;
er steht zu hoch für einen Publicisten, feine Gedanken fliegen
weit über den Staat hinaus. dieser Seele sich regten,
So lebhaft Ehrgeiz und Vaterlandsliebe in
und so bedeutsam LeibnitzenS reiche juristische
Bildung auf die Entwicklung seiner Ideen eingewirkt hat: der Mittelpunkt seiner Gedanken war doch nicht der wirkliche Staat in seiner endlichen
Bedürftigkeit, sondern, wie dem Philosophen geziemt, „das Reich Gottes", die ideale Einheit des Menschengeschlechts.
Nur als ein Bruchtheil dieser
allumfaffenden spiritualistischen Ordnung gewinnt ihm das staatliche Leben Werth und Bedeutung; Staat und Kirche, Recht nnd Sittlichkeit vermischen
und verschlingen sich unzertrennlich in seinem Geiste, während das praktische
Bedürfniß der Zeit darnach drängte, die weltliche Natur deö Staats von theologischer Verbildung zu erlösen.
Auch Leibnitz hatte, wie Pufendorf, in jungen Jahren den engherzigen Kleinsinn der Zunftgelehrten erfahren, als die Leipziger Juristen um seiner
Jugend willen ihm den Doctorhut versagten; er sah sein Lebelang mit der Ironie des Hofmanns auf die akademischen Pedanten herunter, wollte
die Universitäten gern in die Hanptstädte verlegen um Gelehrsamkeit und
Weltbildung zu versöhnen.
So leidenschaftliche Kämpfe mit der zünftigen
Wissenschaft, wie sie seinem streitlustigen Landsmanne bevorstauden, blieben er hat niemals gebrochen
mit den Anfängen seiner
ihm doch
erspart;
Bildung.
Er war ausgewachsen in den Anschauungen deS rechtgläubigen
LutherthumS und bewahrte sich auch, als feine Kritik die höchsten Flüge wagte, mitten im weltlichsten Leben eine innige Frömmigkeit; die Religion
allein vermochte feinem prosaischen Geiste zuweilen einen poetischen Klang zu entlocken, wie jene tief empfundenen Zeilen: Laß' die matte Seel' empfinden
Deiner Liebe süßen Säst.
Schon in früher Jugend war er mit den Werken der alten und neuen
Scholastik vertraut geworden, namentlich mit dem „Anker der Papisten", Suarez; und wie denn gemeinhin Jugendeindrücke in genialen Naturen
sehr fest zu haften pflegen, so blieb ihm fortan eine hohe Achtung für die alte Kirche.
Für den großen Zweck der Wiedervereinigung der Christen
heit war er bereit, den conservativen Mächten der lutherischen und der
römischen Kirche sehr weit entgegenzukommen, obgleich er sich selber immer seinen evangelischen Glauben und die volle Freiheit der Forschung vorbe
hielt.
Auch die politischen Gedanken, die ihn in Leipzig umfingen, hat er
niemals gänzlich aufgegeben, er verstand nur nach seiner vielbeweglichen Art ganz verschiedene Ideen damit zu verschmelzen.
Der Kurfürst von Sachsen
blieb ihm noch lange sein verehrter „natürlicher Herr", die alte kursäch
sische Ehrfurcht vor dem löblichen Hause Oesterreich und dem Heiligthum der Reichsverfassung verließ ihn nie, so scharf er auch die Gebrechen des
Reichs durchschaute.
Sein Staatöideal war theokratisch;
er träumte von
einem heiligen römischen Reiche, das einmüthig geleitet vom Papst und
Kaiser die befriedete Christenheit umschließen sollte.
Welch ein Verhängniß nun, daß dieser vielseitige Geist noch in seinen be-
stim mbareu Jugendjahren an jenen ixenischen Mainzer Hof verschlagen wurde,
wo man die Knust verstand den VaterlandSverrath mit schwungvoller na tionaler Begeisterung zu betreiben. Hier unter den Helden der reichspatrioti schen Phrase ist Leibnitz in doktrinäre Phantasterei versunken; er blieb seit
dem außer Stande Macht und Ohnmacht in der Politik zu unterscheiden.
Er
begeistert sich für den freisinnigsten aller Kirchenfürsten, der
bei
einst
den Friedensverhandlungen' zu Osnabrück so viel Duldsamkeit bewiesen und soeben
eine deutsche Bibelübersetzung im
goldenen Mainz
drucken
ließ; er will in unterthänlger Verehrung sogar die Aufsicht über das gesammte deutsche Bücherwesen dem Mainzer Kurfürsten übertragen, auf
daß fortan alle Angriffe gegen das Reich und die römische Kirche, gefähr liche Bücher wie der HippolithuS und SeverinuS „mehr und mehr ringe-
Alle die windigen Projekte, die der vielgeschäftige geist
spamt" werden.
liche Herr den großen Mächten aufdrängt, nimmt sein gelehriger Schüler
für baare Münze;
er redet sich ein, der Erzkanzler sei als vornehmster
Reichsfürst auch der wichtigste und mächtigste. Er preist Johann Philipp, der.auf feinen
starken
Schultern daö Schicksal des Welttheils trägt,
feiert Boineburg als den Hercules dieses Atlas und singt dem Klein fürsten z«: „schirme den Frieden Europas und gieb ihm dauernde Ruhe!"
Der Rheinbund, den Pufendorf als eine gefährliche Spielerei verdammt, erweckt die brünstige Bewunderung seines jüngeren
Landsmanns;
für
jede Unart des Kleinfürstenthums findet der Vielgewandte eine bequeme Entschuldigung:
„Sonderbünde find Gist für einen gesunden Körper,
Arznei für den kranken Leib des deutschen Reichs!"
Dann hofft er selbst
durch einen Sonderbund deutscher Fürsten den Häusern Bourbon und
Habsburg Frieden zu gebieten und entwirft das bekannte Bedenken über
die securitas publica deS Reichs — eine Denkschrift, die mit allen ihren geistreichen Einfällen doch in der leeren Luft schwebt; nirgends verfällt
der Philosoph auf die entscheidende Frage: ob ein solcher Bund ohnmäch tiger, zwieträchtiger nnd zumeist von Frankreich bestochener Kleinfürsten nicht nothwendig ein Werkzeug des LandeSverratheS werden müsse?
Als nun die begehrlichen Pläne des Versailler HofeS gegen Holland und
die Rheinlands klarer und klarer hervortraten, da schreibt der Unermüd liche seinen „ägyptischen Plan", der für den weiten geschichtsphilosophi
schen Horizont des Denkers ein ebenso beredtes Denkmal bleibt wie für
seine praktische Unfähigkeit.
Leibnitz hofft den allerchristlichsten König zu
gewinnen für die Eroberung Aegyptens, für einen Vernichtungskrieg gegen Frankreichs natürliche Bundesgenossen, die Türken, und ihn also abzu
lenken von der lockenden Beute, die am Rheine dicht vor der Spitze seines Schwertes liegt.
Er verheißt ihm nach der Niederwerfung der OSmanen
die Herrschaft auf dem Mittelmeer, die Feldherrnschaft der Christenheit,
das Schiedsrichteramt der Welt und die erbliche Kirchenvogtei — immer mit dem stillen Hintergedanken, am letzten Ende werde der Kaiser diese
seine alten Rechte gegen den betrogenen Franzosen behaupten.
Dann eilt
er nach Paris seinen untrüglichen Plan der Krone Frankreich
zu em
pfehlen, empfängt die kühle Antwort, seit Ludwig dem Heiligen seien die Kreuzfahrten aus der Mode gekommen, und singt dem unbelehrten Könige klagend zu:
„Gelten Dir statt des Nils wirklich die Jll und die Saar?"
Das Verderben rückt näher, Holland wird von Ludwigs Truppen über
fallen, der Brandenburger allein unter den zaudernden und bestochenen Fürsten des Reichs
erkennt
den Ernst der Stunde, wirft sein kleines
Heer den Franzosen entgegen.
Und in solchem Augenblicke schickt Leibnitz
seinen Mainzer Gönnern die Denkschrift de castigando per Saxonem Brandenburgico, ein Meisterstück politischer Treulosigkeit, das Häßlichste, waS je aus seiner Feder floß.
Der irenische Politiker zürnt, weil die
groben Naturalisten in Berlin den Tiefsinn seines ägyptischen FriedenS-
planeS nicht verstehen wollen;
darum
sollen sie gezüchtigt werden,
an
Brandenburg nnd Holland soll die Welt erfahren, daß „man den König
von Frankreich nicht ungestraft beleidigt."
Der Brandenburger ist der
natürliche Feind von Frankreich, weil er die Schweden bekämpft — von Mainz, weil er die Führung der deutschen Protestanten an sich gerissen —
von allen größeren deutschen Staaten, mann bedroht.
weil seine Machtstellung Jeder
Also muß Kursachsen ihm in die Flanke fallen, so lange
sein Heer noch am Rheine kämpft;
der christlichen Kirche entblödet sich
und der Schwärmer für die Einheit nicht, sogar den Glaubenshaß der
sächsischen Lutheraner gegen die reformirten Märker in die Waffen zu
rufen.
Vielleicht gelingt es dann, dem Brandenburger einige Provinzen
abzunehmen und ihm möglichst entlegene Gebiete, etwa in Holland, dafür
ut dispersior eit potentia.
zu geben,
Dabei regt sich immer wieder
die Thatenscheu der Mainzer Jreniker; diesen politischen Dilettanten ist es niemals ganzer, schwerer Ernst mit der Staatskunst.
Wie drohend
Leibnitz redet, er hofft doch, schon die Rüstung KnrsachsenS, solus armorum terror werde genügen, die Franzosen von dem dreisten Brandenburger
zu befreien.
DaS Alles mit tiefer, lauterer vaterländischer Begeisterung!
Man begreift, wie verletzend die schonungslose Schärfe des SeverinuS
diesen Mann der allbereiten Vermittlung berühren mußte.
In Leibnitz
und Pufendorf verkörpern sich zwei Seiten des obersächsischen Charakters: dort zu bezaubernd geistvoller Liebenswürdigkeit gesteigert die glatte, schmieg
same Feinheit, die in dem Stamme überwiegt, hier jener schroffe WahrheitStrotz, der, in natürlichem Rückschläge, zuweilen einzelne Söhne des Landes beherrscht hat. Leibnitz verdammte den SeverinuS als ein freches Pasquill, schrieb bittere Noten dazu, die er sich vorsichtig hütete herauSzu» geben, kam in Briefen und Schriften häufig auf das verhaßte Buch zurück.
WaS er aber selber der Ketzerei seines Landsmannes zu entgegnen weiß,
ist überraschend schwach, Urtheil.
auch für daS leidenschaftslose wissenschaftliche
Um nur nicht aufgeschencht zu werden aus der holden Selbst
täuschung, die Pufendorf mit grausamer Hand zerstörte, nimmt der tiefe Denker alle die hohlen Schlagwerte der politischen Scholastik wieder auf,
die Jener gröblich als Albernheiten verwarf.
Wer mag es ohne Beschä
mung lesen, wenn ein Mann von solchem Geiste feierlich niederschreiht, die Weissagung DanieliS von der vierten Monarchie sei „das Fundament"
des deutschen Reichs?
Welch ein faunischeö Lächeln mag dabei um seine
feinen Lippen gespielt haben!
Dem scharfen klaren Souveränitätöbegriffe
PufendorfS hält er die Phrase entgegen:
„Die Souveränität besteht nicht
in der Macht, sondern in der Ehre, die Majestät ist dem Rufe ähnlich" (majestas est similis existimationi).
So geht es fort in unklaren bild
lichen Redewendungen; die Sätze schillern in allen Farben, schielen nach jeder Seite.
DaS Reich ist ein wirklicher Staat, da dem Kaiser daS domi
nium über die Fürsten zusteht, freilich ein unregelmäßiger Staat, der
eines Willens zwar bedarf, doch ihn nicht immer hat.
Die kaiserliche
Gewalt scheint aus der päpstlichen Gewalt zu entspringen, wie aus ihrer
Ursache (tanquam causa), nicht.
sie bedarf der absoluten Machtvollkommenheit
Vielmehr läßt sich Einheit und Freiheit wohl verbinden, wenn nur
Eintracht besteht zwischen Haupt und Gliedern und „die uralte heilsame
Mixtur" der Reichsverfassung getreulich bewahrt wird. Während er also die Staatsgewalt des Reichs in leere Redensarten
anflöst, träumt er zugleich überschwänglich von Deutschlands ungeheurer
Macht: die Schweizer und Niederländer werden zum Reiche zurückkehren,
auch die Italiener, unsere Vasallen, werden den Regensburger Reichstag
beschicken, sobald sie ihren Vortheil recht erkennen.
er sich vor dem Hause Oesterreich;
beugt
In tiefer Ehrfurcht
da- alte Anagramm pello
duos, das die Wiener Jesuiten so oft zur Verherrlichung verschiedener habsburgischer Leopolde
angewendet, kehrt bei Leibnitz wieder:
Kaiser
LeopolduS wird Türken und Franzosen, die beiden Todfeinde Deutschlands
zugleich verjagen; sein Oesterreich ist unsere Vormauer gegen die Bar baren des Ostens, und „der Oesterreicher Treue um so mehr zu loben,"
da sie durch ihre Privilegien der Reichspflichten entbunden sind.
Das
einzig Feste in diesem phantastischen Durcheinander ist die Ruheseligkeit,
die sich mit sanften Worten über die entsetzliche Fäulniß deö heimischen StaateS hinwegzureden weiß. Ueberall bewährt sich, daß der große Philosoph kein Politiker war;
ungleich wichtiger als der irdische Staat bleibt ihm die res publica una der Christenheit mit dem Papst als Primas und dem Kaiser als Schwert Bezeichnend
träger.
für
die wunderliche Allseitigkeit des Mannes ist
schon der Titel der Schrift, die er nachher im Dienste der Welfen heraus
gab: Caesarinus Fürstenerius.
Hier versucht er dem Kaiser das Seine zu
geben, aber auch den Fürsten, geißelt die Sünden der deutschen Libertät und
vertheidigt zugleich das unselige Recht, worauf diese Libertät wesentlich ruhte, die selbständige auswärtige Politik der kleinen Höfe. sein politisches Schaffen in späterer Zeit,
Erfreulicher erscheint
als die deutschen Dinge sich
etwa« klärten und die Reichskriege gegen Frankreich begannen.
Damals
hat er in zahlreichen Flugschriften seine warme Vaterlandsliebe, seinen Haß gegen den übermüthigen Friedensstörer ausgesprochen. der Nation zu packen gelang ihm doch niemals.
DaS Gewisien
Er lernte nie die Kunst
deS Publicisten, ohne Umschweife auf daS Ziel loszugehen, und stets von Neuem überkamen ihn die alten phantastischen Liebling-gedanken.
Noch
immer hofft er die Macht Frankreich- vom Rheine ab gegen die Türken
zu lenken, noch immer preist er den Jammer der deutschen Verfassung: „da- Reich ist wohlgeordnet und in unserer Macht steht eS glückselig zu
sein".
So ist die publicistische Wirksamkeit de- großen Manne- für da-
nationale Leben leider völlig unfruchtbar geblieben, unschätzbar freilich für den Historiker, denn schlagender al- an den Irrfahrten diese- gewaltigen Geiste- läßt sich der rettungslose Zerfall deS alten deutschen Staates nicht
erweisen.
Von Pufendorf ist uns, so viel ich sehe, kein einzige- Wort über den rastlosen Gegner erhalten. Der streitbare Mann war völlig neidlos, eine
hochherzige Natnr, bereit jedes fremde Verdienst freudig anzuerkennen, ganz
frei von jener mäkelnden Grämlichkeit, welche damals mit dem einbrechen-
den Philisterthum den alten großen Sinn unseres Volke- zn entstellen be
gann; er wußte auch in der Hitze des Streites zur rechten Zeit die Stimme
zu senken und zu heben, behandelte geistreiche Feinde ganz anders als pfäffische Eiferer.
Daher dürfen wir wohl vermuthen, daß er absichtlich
vermieden hat sich zu messen mit einem politischen Gegner, der auf anderen Gebieten so bewunderungswürdig war.
Leibnitz hingegen verfuhr kleinlich
und unwahr wider den verhaßten Neuerer.
Er hat nicht nur höchst un
gerecht über Pufendorfö Werke abgeurtheilt, wollte ihm nicht- zugestehen
al- etwas Scharfsinn und eine gewandte Feder; er scheute sich auch nicht, alle die albernen Klatschgeschichten, welche die erbitterten Orthodoxen von
ihrem
tapferen Feinde berichteten,
geschäftig umherzutragen.
Schon in
jungen Jahren erzählt er schadenfroh, die Elemente, seien aus Weigel'S Heften abgeschrieben, der SeverinuS aus ConringS Werken.— abgeschmackte
Märchen, worüber Weigel und Conring selbst nur lächeln konnten.
Und
lange nach Pufendorfö Tode versichert er noch, der arge Mann sei durch
einen rechtzeitigen Tod dem Zorne seines Königs entrissen worden — was
sich wiederum als eine grobe Unwahrheit herausstellt.
Darum verdient
eS auch wenig Glauben, wenn Leibnitz ein andermal ohne Angabe der Thatsachen behauptet, Pufendorf habe sich treulos erwiesen bei einem Ge
schäft, das ihm der Philosoph für den Stockholmer Hof aufgetragen. Bon Falschheit liegt gar nichts in Pufendorf'S herrisch schroffem Wesen, und
wir müssen bi- auf besseren Beweis annehmen, daß auch hier wieder ein Mißverständniß obgewaltet hat oder eine der zahllosen Zwischenträgereien, welche unter dem klatschsüchtigen Gelehrtengeschlechte jener Zeit umliefen.
AlS Publicist übertraf der Berfaffer deS SeverinuS den großen Denker
durch wüthigen Gradsinn, Bestimmtheit der Rede, Schärfe der Begriffe; er übertraf ihn, gerade well fein Geist minder reich, reizbar und umfassend
war als das Genie des Philosophen.
Da Leibnitz die politische Ueberle-
genhett deS Gegners im Stillen fühlen mochte, so hat sich sein Widerwille
gegen den Störer des Reichsfriedens bis zu krankhafter Gehässigkeit ver härtet.
Unterdessen wimmelten die kleinen Ameisen
der ReichSrechtSwiffen-
schaft, aufgestört durch den Fuß deS SeverinuS, geschäftig hin und her. ES
lohnt der Mühe nicht, die abschreckend langweiligen und geistlosen
Schriften aufzuzählen, die jetzt in rascher Folge gegen das monströse Buch in die Schranken traten.
Ergötzlich nur, wie vornehm diese kleinen Leute
,',ben wälschen Sophisten" von oben herunter abfertigen. Da giebt Andrea-
Oldenburger unter dem Namen PacificuS a Lapide den SeverinuS noch einmal heraus und kanzelt den Verfasser in schulmeisternden Anmerkungen
mit verächtlichem ohe! und mi homo! ab.
Da fragt der pseudonyme
Teuteburg, wie nur dieser profane Wälsche Uber den leeren Titelprunk VeS KaiserthumS spotten könne: deS Reiches Stände sind doch, wie mim-
niglich bekannt, sehr vornehme Herren, und der Kaiser unbestreitbar noch
viel vornehmer!
Da beweist der Leipziger Schaarschmidt, die Souverä
nität sei ein Wahnbegriff (majestatem esse non-ens), und das heilige Reich mit seiner unfindbaren souveränen Gewalt erfreue sich blühender Gesund
heit — eine bequeme Theorie, die sich nahe berührt mit dem Leibnitzischen Satze,
die Souveränität bestehe in der Ehre.
Da zetert ein frommer
Lutheraner: der frivole Heidelberger hat seinen evangelischen Glauben verra then, indem er unter der Maske eines Papisten schrieb!
Ein Regensburger
Jurist des Namens Prasch veröffentlicht gar geheime Briefe des Seve-
rinus, läßt darin den Italiener reuig feine Ketzereien zurücknehmen und demüthig bekennen: jetzt weiß ichs besser, das-heilige Reich ist wirklich ein
musterhafter „gemischter Staat." In zwei geharnischten Dissertationen hat Pufendorf solche Angriffe
zurückgewiesen*) und
seine Auffassung wissenschaftlich
tiefer begründet.
Diese beiden Abhandlungen „über die Staatenverbindungen" und „über
den unregelmäßigen Staat" zählen noch heute zu dem Besten, was auf dem phrasenreichen Gebiete der Lehre von den Foederationen geleistet worden
ist.
Unerbittlich
stellt er dem verschwommenen Gerede vom gemischten
Staate den schroffen Satz
entgegen: jeder geordnete Staat bedarf der
Einheit des politischen Willens (unitas voluntatis publicae), er bedarf einer höchsten Gewalt, die wie König Gustav Adolf Niemanden über sich anerkennt als allein Gott und das Schwert des Siegers (neminem nisi
Deum et ensem).
In der Gliederung der Staatsbehörden und Ber-
faffungSorgane kann wohl eine Mischung von monarchischen, aristokratischen
und demokratischen Grundsätzen sich zeigen; aber die Frage: wer der Sou
verän sei, wem die höchste Gewalt zustehe, darf in einem gesunden Staate nicht zweifelhaft bleiben.
„Die Untheilbarkeit der Souveränität ist nicht
ein scholastisches Dogma, sondern der allerwichtigste Lehrsatz der StaatSwissenschaft.
Darum sind nur zwei regelmäßige Formen deS zusammen
gesetzten StaateS möglich: das monarchische Reich und der Bund souve*) Wenn S. Brie (Geschichte der Lehre vom Bundesstaate S. 22) stch verwundert, daß Pnftndorf neben so vielen unbedeutenden Gegnern den geistreicheren Ludolph Hugo nicht erwähnt, so hätte er die Erklärung schon aus den Jahreszahlen ent nehmen können. Der Verfasser deS Severinus fertigt nur die Einwendungen ab, welche gegen sein Buch erhoben wurden; Hugo's Regiones aber waren schon sechs Jahre vor dem SeverinuS erschienen. Auch konnte Pufendorf trotz seiner Seher gabe doch unmöglich voraus wissen, daß der Versuch deS jungen Helmstädter Doctors, die verfallene Verfassung des alten Reichs theoretisch zu coustruiren und zu rechtfertigen, zweihundert Jahre später unter dem neuen Reiche von einem ge lehrten Kenner des deutschen StaatSrechtS als der glänzende Ausgangspunkt der allein wahren BundeSstaatS-Theorie gefeiert werden würde.
räner Staaten.
Entweder sind unterthänige Gemeinwesen, die im Innern
einige Selbständigkeit behaupten, dem Befehl« eines monarchischen Ober hauptes unterworfen: so im deutschen Reiche zur Zeit seiner Blüthe. Oder souveräne Staaten bilden für ihre gemeinsamen Zwecke eine Bundesgewalt, welche die einstimmigen Beschlüsse der verbündeten Souveräne auöführt,
also unter den Bundesgliedern steht: so in der Republik der Niederlande, die Pufendorf als ein Schüler des GrotiuS durchaus im ©Inne der particularistischkn Staatenpärtei benrtheilt.
Gleich allen seinen Zeitgenossen ahnt er noch nicht, daß noch eine dritte Form der Staatenverbindung möglich ist: der BnndeSstaat, die Unter
werfung unterthäniger Territorien unter eine souveräne Bundesgewalt, die
unter Mitwirkung der Territorialgewalten gebildet wird; diese kunstreichste Form der Foederation ist ja erst seit dem Entstehen der amerikanischen
Union der StaatSwissenschaft bekannt geworden. Auch verrathen seine Gedanken überall die Härte des Absolutisten, der die unbedingte Bereini
gung aller Staatsgewalten in Einer Hand erstrebt.
Er versäumt den dehn
baren Begriff der Souveränität zu zergliedern und nachzuweisen, welche
Hoheitsrechte der Staat nicht aufgeben kaun ohne sich selber aufzugeben. Gleichwohl bleibt ihm der Ruhm, daß er durch seinen harten Souveräui-
tätSbegriff für alle Zukunft den Weg gewiesen hat, der allein znm wiffenschaftlichen Verständniß der Foederationen führt.
Auch die historischen Vor
aussetzungen deS bündischen LebenS, wofür die formalistische StaatSwissen schaft jener Zeit noch gar kein Auge hat, werden von Pufendorf feinsinnig erörtert:
er verlangt für einen kräftigen
Staatenbund Gleichheit der
Sprache, der Sitten, der Jntereffen, und erkennt bereits, daß Republiken leichter als Monarchien einer Bundesgewalt sich fügen können.
Das deutsche Reich, das die Souveränität weder dem Ganzen noch den Theilen unzweifelhaft gewährt, ist und bleibt ihm ein Monstrum, muß über lang oder knrz in einen Staatenbund oder in eine wirkliche Monarchie
sich verwandeln, obwohl die Geschichte manche langlebige Monstra kennt. Während Leibnitz die kaiserliche Macht in Oesterreichs Händen wohl auf
gehoben sieht und nur zugiebt, in den Tagen Wallensteins seien einige
Mißbräuche vorgekommen, erklärt Pnfendorf rnnd heraus, ein natürlicher Gegensatz der Jntereffen trenne den Kaiser von den Reichsständen, rück haltlose Eintracht fei unmöglich in diesem Reiche.
So, mit unbeirrtem
Freimuth, hält er seinem Lande den Spiegel vor und ruft: „eS wäre Feig
heit, wenn ich mich schrecken ließe durch die Menge der Gegner!" — 30. Mai.
Heinrich von Treitschke.
Die Abtheilung Leges der Monumenta Germaniae historica. In dem letzten Heft dieser Zeitschrift hat Herr Professor Brunner
einige Bemerkungen über „die Umgestaltung der Monumenta Germaniae“
gemacht, die sich vorzugsweise auf die ihm zunächst und besonders am Herzen
liegende Abtheilung der Leges beziehen.
So sehr ich mit manchem über
einstimmen kann, das da gesagt und gewünscht ist, so finden sich doch auch
Aeußerungen, die, wie ich meine, ans einem Mißverständniß beruhen, ckndere mit denen ich mich in Widerspruch befinde, den ich hier mit
einigen
Worten darlegen möchte.
Zunächst freut es mich mittheilen zu können, daß für die von Brunner in den Vordergrund gestellten Deflderien, eine Ausgabe der Leges Salica
und Bibuaria und eine neue Bearbeitung der Capitularia das erreicht ist, waS gewiß eine ihn und Alle befriedigende Lösung dieser wichtigen Auf gaben in Aussicht stellt.
Auch wegen der von Bluhme unvollendet hinter-
laffenen Lex Wisigothorum sind Unterhandlungen angeknüpft, die hoffent lich zu einem glücklichen Resultat führen.
Und daß diese Lex weniger
wichtig, kann ich nicht zngeben, wenn sie auch, wie Brunner sagt,
germanistischer Ausbeute sehr dürftig" ist.
„an
Dafür ist sie ein überaus inter
essantes Denkmal der Verbindung römischer und germanischer Rechts- und Culturverhältnisse,
auf der doch der Fortgang der abendländischen Ge
schichte beruht und die in ihren verschiedenen Gestalten kennen zu lernen
sicher von nicht geringer Bedeutung ist.
ES kommt dazu, daß die neueste
Ausgabe, wie Bluhme gezeigt, überaus mangelhaft ist, über die allmäh« lige Entstehung und authentische Beschaffenheit des Textes keinen Aufschluß gewährt, wie er aus den Handschriften zu gewinnen ist, während für die
Lex Salica in den Abdrücken von PardessuS und Hubs doch jedenfalls das Material zur Kenntniß auch der Geschichte des Textes vorliegt.
Ebenso wenig kann ich beistimmen, daß „nach einer neuen Ausgabe der Formeln zur Zeit kein dringendes wissenschaftliches Bedürfniß bestehe“.
So verdienstlich die Ausgabe von RoziLre in vieler Beziehung ist, so läßt
Die Abtheilung Leges der Monumenta Gertnaniae historicft.
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doch die Zuverlässigkeit der Texte zu wünschen übrig, und die Auflösung aller besonderen Sammlungen und Zusammenreihung der einzelnen Stücke
in sichlicher Ordnung hat, bei einigen Vortheilen, doch auch so.entschiedene
Nachtheile, daß eine auf andern Grundsätzen beruhende Bearbeitung gewiß ein Bedürfniß genannt werden kann, dessen Abhülfe Sickel schon für die AuSzabe der Diplomata dringend wünschen muß und ohne Zweifel auch andere wünschen werden.
Brunner ist entweder sehr bescheiden in seinen Ansprüchen oder hat geringe- Vertrauen zu der neuen Direction.
Er meint, sie habe den Vor
schlag von Dinding, auf Aufnahme der Stadtrechte nicht blos vertagen, lieber ganz abweisen sollen.
Ich habe schon lange, ehe jener mit seiner
Ansicht hervortrat, die Meinung gehegt, daß nichts Wünschenswerther, ja
nöthiger sei als eine Ausdehnung des Unternehmens auf diesen Theil der Rechtsquellen, und freue mich sagen zu können, daß einer der wohl firn»
digsten Arbeiter auf diesem Gebiet, Prof. Frensdorff, darin ganz mit mir übereinstimmt.
Brunner'S Grund, daß ein solcher Plan nur auf andere
abschreckend einwirken werde, kann ich auch nicht gelten taffen. Die deut schen Juristen haben in der That Zeit genug gehabt eine solche Arbeit zu
unternehmen, deren Bedürfniß oft hervorgehoben ist, nnd find nicht dazu gelangt.
Die Vorarbeiten sind auch der Art, daß eS in der That einem
Einzelnen sehr schwer werden wird sie zu machen, Zeit und Geld dafür zu gewinnen.
In der historischen Commission zu München ist schon vor
einer Reihe von Jahren der Plan angeregt, mußte aber wegen Mangel an Mitteln und einer geeigneten Leitung zurückgestellt werden.
Wenn jetzt
eine solche in Aussicht steht, was könnte die neue Centraldirection besseres thun, als diese Sache in Angriff nehmen, selbst auf die Gefahr hin, daß
irgend eine Einzelausgabe dadurch aufgehalten würde, wozu übrigens nach meiner Ansicht nicht einmal Grund fein kann.
Hat denn die Fortsetzung
der WeiSthümer durch die historische Commission andere Publicationen ge hemmt, nicht vielmehr die der Oesterreichischen durch die Wiener Akademie
und andere gerade veranlaßt?
Ich bin allerdings der Meinung, daß
die Monumenta nicht ausschließlich die Hand auf irgend welche Quellen der Geschichte legen dürfen, sich vielmehr jeder Ergänzung oder Concnrrenz nur freuen können, daß sie andererseits aber auch
ihren Bereich nicht
ängstlich begrenzen sollen, sondern sich für berufen halten müssen,
Arbeiten zur bessern
alle
Kenntniß der Denkmäler deutscher Geschichte zu
fördern, zu leiten, so weit es irgend ihre Mittel erlauben, und eS steht
ja gewiß zu hoffen, daß mit ihren Aufgaben auch die Mittel wachsen werden.
Die Abtheilung Leges der Monumenta Germania® historicä.
658
Brunner erwähnt gar nicht
(Leges II).
der neuen Ausgabe der ReichSgesetze
Und so wichtig dieser Band bei seinem Erscheinen war, doch
weiß jeder, wie dringend hier eine neue Bearbeitung erforderlich ist, die
das Gegebene ergänzen, vervollständigen, auch über die Zeit Heinrich VII.
hinaus bis zu Karl IV., d. h. bis zum Anfang der ReichStagSacten, hinab führen muß.
Der Plan dazu ist auch lange schon von dem frühern Leiter aber aus begreiflichen Gründen nicht
der Monumenta selbst entworfen; zur Ausführung gekommen.
Es freut mich sagen zu können, daß sich eine
erprobte Hand auch für diese Arbeit gefunden hat.
ES wird auch noch anderes zu thun, eS wird an eine neue Bear beitung eines Theils der erschienenen Leges zu denken sein.
Daß mehrere
unter ihnen das nicht gegeben was man erwarten konnte, ist lange kein Geheimniß; aber kann man Pertz daraus einen Vorwurf machen?
Er
konnte schwerlich mehr thun als Männer wie Bluhme, BoretiuS, Merkel, v. Richthofen für diese Arbeiten gewinnen.
Wenn zwei von ihnen Vorzüg
liches geleistet, so war eS wohl ein Mißgeschick, wenn zwei andere von bestem Ansehn in der Wissenschaft doch hier kritisch in die Irre gingen.
WaS aber Brunner, mir nicht recht verständlich, „die nicht unwahrschein liche Marotte die einzelnen Leges in alphabetischer Ordnung erscheinen zu lassen" nennt, ist allein dadurch herbeigeführt, daß Merkel zuerst mit den
Leges Alamannorum und Bajuvariorum fertig war, und eS nun, um irgend
eine Reihenfolge zu haben,
alphabetischen Folge fortzufahren.
angemessen erschien zunächst in der
Wie wenig aber darauf Gewicht gelegt,
zeigt am besten der Umstand, daß in dem begonnenen 5. Band die Leges
Saxonum und Thuringorum so wie das Edictum Theodorici gedruckt sind, ohne auf die Ribuaria und Salica zu warten.
Dieser begonnene Band muß zuerst abgeschlossen und also hier auf alle Fälle das Folioformat beibehalten werden.
Fehlt dann vielleicht über
haupt nur noch einer, — denn die Stadtrechte werden natürlich eine Ab
theilung ganz für sich bilden — sollte man wegen der Bequemlichkeit ein
zelner Personen
lassen?
eine
angefangene
Serie abbrechen
und
unvollständig
Ich will hier nicht auf die moderne Abneigung gegen das Folio
format eingehen, die andere Nationen weniger haben als wir, indem die
Franzosen alle
großen Quellenwerke
fortführen wie sie begonnen, die
Italiener ihre Monumenta patriae, Theiner seine Urkundenpublicationen
so haben erscheinen lassen. Ich bemerke nur, daß derselben wohl hinlänglich Rechnung getragen ist, wenn für die neue Ausgabe der Capitularien und
der Reichsgesetze ausdrücklich dasselbe kleinere Format beschlossen ist wie für die neuen Abtheilungen, und dasselbe würde natürlich bei einer zweiten
£)ie Abtheilung Leges der ütonumenta Germaniae historiea.
659
Ausgabe der Volksrechte der Fall fein, so daß zu Brunner's Frage, „was
denn die armen Leges verschuldet", daß sie anders behandelt werden sollen „als die so gut situirten Urkunden", wohl kaum Grund war. Wie ich meine, auch nicht zu der Ansicht, daß diese und andere
Abtheilungen überhaupt besser gestellt seien.
Der Unterschied ist, wie e-
in den verschiedenen Aufgaben liegt, daß diese meist von Einem geleitet, d. h. doch auch zum guten Theil bearbeitet werden sollen, während auf dem Gebiet der Leges für Volksrechte, Capitularien, Formeln, Reichs gesetze, Stadtrechte, verschiedene Gelehrte — ich darf ja einige Namen
nennen: Behrend, BoretiuS, FrenSdorff, Loersch, Sohm — selbständig neben
einander arbeiten werden.
Dürfen wir nicht hoffen, daß auf diesem Wege
am sichersten daS erreicht wird was auch Brunner wünscht, und über daS dir neue Direktion nur glaubt noch etwas hinausgehen zu dürfen?
25. Mai 1875.
preußische Jahrbücher. Bd. XXXV. Heft 6.
G. Waitz.
45
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
(Fortsetzung.)
Wright war, wie gesagt, ganz der Mann, der in diesem Sinne nicht allein seine eigene Regierung vorwärts trieb, sondern auch fordernd und
drängend gegen die preußischen Minister auftrat. „Da ich keine Antwort auf die von mir berichteten Fälle erhalten
habe — schrieb er am 21. und 28. September 1858 nach Washington — so muß ich annehmen, daß das auswärtige Amt sich bei den Ansichten der preußischen Behörden beruhigt.
Ich kann deßhalb nicht umhin, unsrer
Regierung vorzuschlagen, daß eS an der Zeit und geeignet sein dürfte, eine
radikale Aenderung zu erwirken, sowohl in Behandlung der Ansprüche der
preußischen Regierung gegen angeblich militärpflichtige amerikanische Bürger, als auch zur Erlangung einiger Hülfe zu ihrem Schutze, wenn sie ohne
vorherige Benachrichtigung, ausgewiesen werden.
geschweige denn Untersuchung aus Preußen
Es ist zur Zeit bekannt, daß Bereinigte Staaten-
Bürger gegen ihren Willen in der preußischen Armee dienen, daß andere in ihr Geburtsland zurückzukehren suchen, welches sie als Kinder verlassen haben, um ihr Vermögen einzuziehen, ihre bejahrten Eltern wiederzusehen oder Über dem Grabe ihres Vaters, weinen. stattet.
wie Einer von ihnen sagt — zu
All daö wird unter dem gegenwärtigen Ministerium nicht ge
Wäre das unsrer
irischen Einwanderung unter der englischen
Regierung passirt, so würde man wohl ein Mittel dagegen gefunden haben. Warum sollen wir denn keinS gegen Preußen finden? menen Fälle sind zahlreich und müssen sich nach
vermehren.
Die vorgekom
der Natur der Dinge
Können wir denn keinen Einspruch erheben, in welchem wir
wenigstens einige Ausnahmen von der Regel verlangen?
Kann nicht das
in Preußen geborene Kind, das unter unsrer Flagge zum Manne heran
gereift ist, in sein Vaterland zurückkehren, seine Verwandten besuchen und seine Geschäfte erledigen, und kann nicht der amerikanische Bürger, der
unter gültigen Verträgen seine Geschäfte in Preußen treibt, das Recht in
Anspruch nehmen, von den preußischen Gerichten zur Untersuchung gezogen zu werden, ehe er ausgewiesen wird?
Kurz, will unsere Regierung nicht
anerkennen, wie wichtig eS ist, die Unverletzlichkeit des Bürgers der Ber
einigten Staaten in Preußen zu sichern,
und sofortige und entscheidende
Schritte dafür thun, um diesen Gegenstand dem Prinzen von Preußen zu
unterbreiten?
Meine Meinung ist,
daß wenn wir fest und entschieden auftreten,
wir unter der gegenwärtigen,
besonders günstigen Lage der Dinge kn
Preußen gute Resultate erzielen werden.
Die wichtige Angelegenheit ist
aber jeden Falls eines Versuches werth, und meine Zeit und Energie soll
ganz der Förderung des Werkes gewidmet sein.
Da ich glaube, daß etwaS
erreicht werden kann, und daß mit der Uebernahme der RegierungSgeschäfte durch den Prinzen von Preußen der günstige Augenblick für vyS gekommen ist, zumal dieser Prinz schon manche schlagende Beweise für die
volle Anerkennung der Rechte deS Bürgers geliefert hat, so erwarte ich in dem festen Glauben die Ansichten
der Regierung, daß jetzt endlich
einiger Schutz und einige Hülfe für diese große Klasse unserer würdigen Adoptivbürger erlangt werden kann."
Wright läßt fortan keine Post abgehen, ohne auf den Gegenstand zurückzukommen und seinem Ingrimm mit gehörigen Uebertreibungen Lüft zu machen.
Einmal legt er, um die Allgemeinheit der Auswanderung zü
beweisen, eine Liste der ohne Erlaubniß auSgewanderten Militärpflichtigen bei, welche vom Kreisgericht zu Stralsund vorgeladen und im Falle des.
Nichterscheinens mit BermögenSstrafe bedroht werden.
Dann erzählt er
vost amerikanischen Bürgern, welche den mexikanischen Krieg mitgemacht
hätten und jetzt in der preußischen Armee dienen müßten.
Ein ander
Mal beklagt er sich, daß selbst bei Erlegung der Geldstrafe durch die
Mutter dem ohne Erlaubniß nach Amerika auSgewanderten Sohne die Rückkehr
nach Preußen
nicht gestattet sei.
„Obgleich nun ein solcheS
Berfahren höchst tadelnSwerth ist, — schließt er seinen
Bericht vom
4. Dezember 1858 — so ist eS doch lange nicht so schlimm, alS die ge
genwärtig noch geltende Bestimmung, wonach ein Vater, der mit seinen minderjährigen Söhnen nach Amerika auSwandert, eine Erklärung unter
schreiben muß, daß diese, sobald sie das erforderliche Alter erreicht haben
werden, ihre Militärpflicht erfüllen wollen.
Diese Lehre von dem Rechte
deS BaterS, für feine minderjährigen Kinder zukünftig eintretende Ver bindlichkeiten einzugehen, können wir nicht anerkennen.
Kein Vater hat
das Recht, feine Söhne zur Leistung derartiger Pflichten zu binden.
Die
Verpflichtung ist eine ungültige und sollte als solche von «nS betrachtet werden."
(Wright widerrief später diesen Unsinn, den ihm entweder 45*
Der beutsch-atnclikanische Vertrag tioin 22. Februar 1868.
662
Jemand aufgebunden oder den er selbst bei seiner Unkenntniß der deut schen und französischen Sprache
aus MißverstSndniß
zusammengebraut
hatte.)
Caß
antwortete am 10. Dezember 1858
zunächst mit abkiihlender
Ruhe, indem er seinen Gesandten auf die von der Regierung gebilligten Ansichten von Wheaton, Webster und Everett verwies, sowie eine strikte
Prüfung und Darstellung der einzelnen Fälle, nicht lose Analogien und Gerüchte verlangte.
„Wir können, sagt er,
nicht in Abrede stellen, daß
daS preußische Gesetz berechtigt ist, Verpflichtungen aufzuerlegen,
welche,
zur Zeit der Expatriation bereits existirend, durch unsre Naturalisation nicht
aufgehoben, sondern im Fall der Rückkehr der Betreffenden von ihm er zwungen werden können.
Mit dieser großen Frage sind ernste praktische
Schwierigkeiten verknüpft, welche wir gern aus dem Wege schaffen und, wenn daS nicht angeht, weniger beschwerlich und drückend machen möchten. Die preußischen Ansprüche sind unseren Ansichten von politischen Rechten so schnurstraks entgegengesetzt, daß sie hier zu Lande ein starkes Gefühl
der Mißbilligung erregen, und ebenso große Sympathieen für diejenigen
wecken, welche unter ihrer Erzwingung gelitten haben.
Wenn eS von uns
allein abhinge, so würde für den gleichen Schutz gegen alle diese harten
Maßregeln gesorgt werden.
Im Verkehr mit fremden Regierungen ist
eS aber unsere erste Pflicht, sich unserer Rechte zu versichern und, nach
dem dieses geschehen, sie aufrecht zu halten und zu erzwingen, besonders
wenn sie die persönliche Sicherheit unserer geborenen oder adoptirten Bürger betreffen. Selbst wo wir nicht berechtigt sind, peremtorische For
derungen
zu stellen, haben wir wenigstens das Recht, unS an das Ge
rechtigkeitsgefühl und die freundschaftliche Gesinnung einer fremden Macht zu wenden, damit sie Maßregeln abstelle, welche mit ungebürlicher Strenge
auf unseren Bürgern lasten.
„In dem Falle deS Eugen DullyS (eines geborenen Preußen und naturalisirten
Amerikaners, der
über
einen bei einem Bankett auSge-
brachten Toast auf den König gezischt hatte und in Folge deffen polizeilich ausgewiesen ward) stimme ich nicht mit Ihnen überein.
Welche Gründe
Sie auch dagegen vorgebracht haben mögen, Preußen kann vom RechtSstandpunkte ans nicht gezwungen werden,
Verfahren umzustoßen.
daö gegen Dullhö beobachtete
Wäre ich zu einem andern Schlüße gelangt, so
würde ich Sie instruirt haben, der dortigen Regierung die stärksten Vor
stellungen gegen ihr Verfahren zu machen und eine peremtorische For derung auf Genugthuung zu stellen.
Da wir aber auf diesen Fall als
eine Verletzung der Vertragsbestimmungen besonderes Gewicht zu legen nicht berechtigt sind, so waren wir auch nicht Willens, das Wohlwollen
der preußischen Behörden anzurufen, zumal sie sich nicht einmal bereit gezeigt hatten, in ihrer alten Politik die von uns gewünschten Aenderun
gen eintreten zu taffen. trifft,
Was aber die Rechtsfrage in diesem Falle be
so habe ich zu bemerken,
daß sie in Verbindung mit gewlsien all
gemeinen BerwaltungSgrundsätzen steht, heischen.
die eine knrze Besprechung er
Jeder unabhängige Staat hat das Recht, seine inneren Ange
legenheiten in seiner eigenen Weise zu ordnen, und er braucht nur darauf
zu achten, daß er anderen Nationen keine gerechte Ursache zur Klage giebt. In fast allen europäischen Staaten werden die Polizei- und VerwaltungS-
befugnisse von den Regierungen ausgeübt, wodurch diese in den Stand
gefetzt find, eine sehr willkürliche Gewalt über die Einwohner,
eingeborene oder fremde, geltend zu machen.
feien sie
Wenn unsere Bürger jene
Länder besuchen, so unterwerfen sie sich natürlich der Wirkung ihrer Ge
setze, so willkürlich diese auch sein mögen, und sind für jede GesetzeSUebertretnng verantwortlich.
Unser Vertrag mit Preußen (vom 1. Mai
1828) erkennt diese Verpflichtung an und bestimmt, .daß Einwohner jedes
der beiderseitigen Länder berechtigt sind, in dem Gebiete des andern zu wohnen, und daß sie unter der Bedingung des Gehorsams gegen die gel
tenden Gesetze und Borschrifteri, dieselbe Sicherheit und denselben Schutz wie die Eingeborenen genießen sollen. „Baron Manteuffel hat Ihnen, wie Sie bemerken, erklärt, daß DullyS
kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen begangen hat, welches ihn nach preußische» Gesetzen der polizeilichen Bestrafung und eventuell der
polizeilichen Ausweisung unterwirft.
Ich theile Ihre Ansicht nicht, daß
nach diesem Zugeständniß Dullhe sich überhaupt nicht gegen das preußische Gesetz vergangen hat, sondern schließe daraus nur,
daß der Akt, wegen
dessen er verfolgt wurde, bloß eine Verletzung der öffentlichen Ordnung
war,
welcher ihn vor die polizeilichen, nicht aber die gerichtlichen Be
hörden bringt, von welchen erstere die Oeffentlichkeü ausschließen.
sehe nicht,
Ich
daß Sie diese Prinzipien des prenßischen Rechts sowohl in
Beziehung auf seine Verbote als auf seine Verwaltung in Frage stellen. Da nun das preußische Recht autoritativ festfleht, da nach Mittheilung
deö Ministers
für die auswärtigen Angelegenheiten
die dortige Regie
rung die Sache mit großer Sorgfalt untersucht hat, so haben wir kein
Recht, die Genauigkeit der Angabe des Ministers zu bezweifeln, vielmehr müssen wir diesen Punkt als erledigt anfehen.
„Auch in dem Falle von Henne konnte ich Ihre Ansichten, wie Sie
gewünscht hatten, nicht billigen. Sie haben den Minister des Auswär tigen gebeten, daß Henne, ein geborener Preuße und naturalisirter Ame rikaner, Erlaubniß zum Besuche feiner Freunde und Verwandten in bet'
Dit deutsch-amerikanische Vertrag vom 32. Februar 1868.
664
Heimath erhalte.
Darauf erwiderte der Minister,
daß er dies Gesuch
zweien seiner Kollegen, in deren Ressort es gehöre, mitgetheilt habe, daß
diese aber erklärt hätten, Henne sei ohne Erlaubniß
und
ohne seiner
auSgewandert, daß es aber feststehender
Militärpflicht geniigt zu haben,
Grundsatz in Preußen sei, keinen, der sich dieser Pflicht entzogen habe, zurückkehren zu lassen,
ohne ihn zur nachträglichen Leistung derselben zu
zwingen. Sie bemerken ganz richtig, daß diese Entscheidung im Einklang mit den früher ergangenen stehe und daß diese letzteren von den Vereinigten Staaten nicht bestritten seien.
Wenn also Henne zur Zeit, als er Preußen
verließ, schon dienstpflichtig (owed an existing Service) und wenn er nicht
vom Dienste befreit war, so ließ sich kaum erwarten, daß die Regierung einen Grundsatz annehmen sollte,
welcher ihn von den Folgen einer be
reits eingetretenen Verbindlichkeit befreite. „Sie setzten mich jüngst davon in Kenntniß, daß die erwartete Ein
setzung der Regentschaft in Preußen voraussichtlich eine günstige Gelegen heit bieten werde,
um die Frage der Behandlung unserer Bürger in
Preußen der Aufmerksamkeit der Regierung zu unterbreiten, und gingen
von der Hoffnung auS,
daß wir preußischer Seit- die Zustimmung zu
Aenderungen in dem gegenwärtigen Polizei- und Berwaltungsshsteme er
langen könnten, welche einige der schlimmsten gegenwärtigen Unzuträglich keiten entfernten.
Da jenes Ereigniß inzwischen schon stattgefunden hat,
so empfiehlt es sich, der gegenwärtigen Regierung die Einführung einiger Berbefferungen in der preußischen Verwaltung vorzuschlagen, damit wir dadurch die Lage unserer Bürger wenigstens einiger Maßen verbessern»
In einer Ihrer Mittheilungen sagen Sie,
daß manche amerikanische
Bürger gegen ihren Willen in der preußischen Armer dienen, aber Sie erwähnen nicht die näheren Umstände,
unter denen dieser Zwangsdienst
stattfindet.
(Die ganze Geschichte war Wright aufgebunden, oder von ihm
erfunden.)
Ich kann mir also kein Urtheil darüber bilden, ob die preu
ßische Regierung uns in dieser Beziehung gerechte Ursache zur Klage giebt. ES mögen Fälle vorkommen, in welchen solcher Dienst ohne irgend welche
Verletzung unserer Rechte verlangt und erzwungen wird, z. B. wenn der zwangsweise Eingestellte auf Grund von Verpflichtungen dienen muß, die
schon zur Zeit der ÄuSwanderung existirten und auferlegt waren.
Unter
diesen Umständen kann ein Auswanderer dadurch, daß er amerikanischer Bürger wird, sich im Falle der Rückkehr, nicht von den, vor seiner Aus
wanderung existirenden Verbindlichkeiten befreien.
Ich wünsche in diesem
wie in allen Fällen den vollen Thatbestand sowie den Wortlaut der Ge
setze über preußische Militärverfaffung, kurz alle Details,
damit ich mir
ein Urtheil darüber bilden kann, ob das Einschreiten unsrer Regierung
gegen etwaige Vertragsverletzung gerechtfertigt ist, urib damit ich die Lags
unserer zurückgekehrten Bürger besser würdigen kann."
Nachdem Caß dann näher anSgeführt, daß die paar nach Preußen zurückkehrenden amerikanischen Bürger doch der Ruhe und dem Frieden
deS Landes nicht schaden könnten, daß also die preußische Regierung keine Ursache zu strengen Maßregeln gegen sie habe, daß diese sich vielmehr in
ihren Beziehungen zu den Bereinigten Staaten von den Gefühlen der Freundschaft und Billigkeit leiten lassen solle,
fährt
er wörtlich
fort:
„Sie begleiten Ihre Ansicht über diesen Gegenstand mit der Bemerkung,
daß leicht, ein Auskunftsmittel gefunden werden würde, wenn unsere natu» rakisirten Bürger von irländischer Abkunft Ursache zur Klage gegen die eng
lische Regierung hätten, ähnlich der, welche naturalisirte Preußen gegen die ihrige haben — und Sie fragen mich bezeichnend, warum wir denn nicht auch in letzterm Falle ein solches Auskunftsmittel finden sollten?
Ich bin
gezwungen zu glauben, daß diese, vom Präsidenten mit Bedauern gelesene
Bemerkung tvorden
von Ihnen
zu fein.
gemacht wurde,
ohne vorher gehörig erwogen
Eine Abhülfe gegen Härten zu finden, das ist es ja
gerade, waS Sie erstreben, und was die Regierung zu erreichen wünschte. Wo Verletzungen unserer internationlen ober vertragsmäßigen Rechte statt-
finden, da werden
die Vereinigten Staaten keinen Augenblick anstehen,
alle geeigneten Mittel zur Sicherung der Abhülfe anzuwenden. eS giebt viele Fälle von Unterdrückung,
Allein
in welchen solche Rechte nicht
verletzt werden, und bei ihrem Vorkommen müssen wir unfern Appell an
die Gerechtigkeit und freundschaftlichen Gefühle der betreffenden Regierung richten, an die preußische natürlich, wenn sie dort stattfinden.
Die dies
seitige Regierung aber wird in der Behandlung oder in der Beschütznng Unserer naturalisirten Bürger durchaus nicht von Erwägungen beeinflußt,
welche in dem Lande ihrer Geburt wurzeln, und ich verstehe nicht, wie
Sie eS für nöthig erachten konnten, eine davon verschiedene Ansicht auS-
zusprechen. „Sobald
ich die zur Bildung eines richtigen Urtheils
unerläßliche
Information erhalten haben werde, will ich die ganze Frage gehörig be leuchten Und erst dann wird sich beurtheilen lassen, ob und welche gerechte Ursachen zur Klage vorhanden sind,
und welche Abänderungen wir von
der preußischen Regierung verlangen sollen." Wright antwortete am 18. Januar 1859, rechtfertigte sich, so gut er konnte, berichtete einige neue Fälle, die sich von dem früheren durchaus
nicht unterschieden,
sandte die hauptsächlichsten diese Frage betreffenden
preußischen Gesetze ein und formuürte, indem er die Zahl der jährlich
nach Deutschland zurückkehrenden naturalisirten Bürger aus nicht weniger
als 10,000 angab, seine Wünsche für die von der preußischen Regierung
zu erlangenden Zugeständnisse in folgenden vier Punkten: 1.
Die Aufgebung des Anspruches auf Dienst im stehenden Heere
für alle nach Preußen
zurückkehrenden amerikanischen Bürger,
welche ihr Vaterland vor dem Eintritt der Dienstverbindlichkeit verließen (before the liability accrued.)
2.
Kein Strafverfahren gegen abwesende, in den Bereinigten Staaten
wohnende Preußen,
welche ihr Land verließen, ehe sie ein be
stimmtes Alter — sage 20 Jahre — erreicht hatten. 3.
Einige zusätzliche Bestimmungen, welche den in Preußen wohnen den amerikanischen Bürgern das Recht der Untersuchung vor einem preußischen Gerichte einräumen, ehe ihre zwangsweise Aus
weisung erfolgt.
4.
DaS Recht auf Abschrift aller Papiere,
kanischen Bürger vor irgend einer
welche
einen ameri
preußischen Behörde irgend
wie betreffen.
„Preußen, so fährt Wright fort, ist von kleinen Staaten und freien
Städten umgeben, große Leichtigkeit
und seine Eisenbahnverbindungen gewähren ihm eine int
Verkehr.
unternehmenden Preußen,
Deßhalb
finden
auch die jungen
und
welche unser glückliches Land aufsuchen, wenig
Schwierigkeiten auf ihrem Wege dahin.
Sie bilden die zahlreichste Klasse
derer, welche in reiferen Jahren nach ihrem Geburtölande zurückkehrey,
um, wie der Eine sagt, auf dem Grabe seines Vaters zu weinen, oder, wie ein Anderer, feine betagte Muttev noch einmal zu sehen, oder, wie ein Dritter, die mit dem Nachlaß seiner Eltern verbundenen Geschäfte zu
erledigen.
Die Bereinigten Staaten haben keinen Theil an den Anstalten,
durch welche die Souperaine Europa'- ihre Unterthanen in ewiger Knecht schaft halten,
und durch welche sie ihnen das Recht versagen,
eine freie Heimath und freie Institutionen zu wählen.
sich selbst
Wenn aber diese
Unterthanen in Erstrebung ihrer nnbezweifelten Rechte unser freies Land
zu ihrer Heimath machen, seinen Gesetzen gehorchen, unter unsrer Berfaffung genährt und erzogen werden und, zu amerikanischen Bürgern ge worden, die völlige Gleichheit mit den eingeborenen Bürgern erlangen, so
scheint mir unser Theil an diesem Vertrage der zu sein, daß wir sie
schützen, während sie in der Fremde sind, wenigstens diejenigen von ihnen, welchen keine Pflichten oblagen, als sie ihre Heimath verließen. traue fest darauf,
Ich ver
daß unsre Regierung im Stande sein wird, friedliche,
aber energische Mittel vorzuschlagen, welche diesen ungerechten und un
menschlichen Beschränkungen ein Ende machen werden." Caß antwortete am 12. Mai 1859 und stellte sich jetzt in der Haupt-
frstge auf die Seite seines Gesandten.
Er behauptete zwar,
die ihnt
übersandten preußischen Gesetze sorgfältig geprüft zu haben; aus seiner
Beweisführung
aber deutlich
geht
namentlich
die
er sie nur theilweise
hervor, daß
und
die
Natur der allgemeinen Dienstpflicht nicht richtig gewürdigt hatte.
So
verständen,
Heereseinrichtungen
preußischen
verfiel er in einige arge Mißverständnisse,
welche man preußischer SeitS
nicht beachtete, oder wohl gar selbst veranlaßte, wie z. B. durch die falsche
Uebersetzung deS der Mess),
wichtigen Gesetzes
vom 31. Dezember 1842
wo daS Wort Landwehr mit Militär
(S. 71
wiedergegeben ist,
ein folgenschwerer Irrthum, der bei dem Rückschluß auf die unbedeu tende amerikänifche Miliz ein ganz falsches Bild im Geiste deS Staats
sekretärs erzeugen mußte.
Der eigentliche Grund aber,
welcher einen so
plötzlichen und radikalen Umschwung in den Ansichten deS amerikanischen
Ministers
herbeiführte, dürfte wohl in den Bedürfnissen der inneren Im Laufe der jämmerlichen Verwaltung Bucha-
Politik zu suchen sein.
nan'S wäre« immer mehr Deutsche von der demokratischen Partei abgefotfen,
während sich die Reihen der Republikaner durch die neu Einge
wanderten mnd Einwandernder täglich mehr verstärkt hatten.
ES lag also
im letzten Jahre des Buchanan'schen AmtstermineS die Befürchtung nähe, daß die Deutschen bei der bevorstehenden Präsidentenwahl den AuSschlag
zu Gunsten deS republikanischen Kandidaten geben könnten
der That 1860 bei der Wahl Lincoln'- auch thaten).
(was sie in
Gelang eS aber,
sie in energischer Vertretung ihrer vermeintlichen Rechte der herrschenden
Pärtei wieder zuzuführen oder zu erhalten, so war ein d.irch seine Stim menzahl wichtiger Bundesgenosse gewonnen und der Sieg immerhin noch möglich.
Daher der plötzliche Eifer des Caß für die angeblichen und
wirklichen Rechte
der Adoptivbürger,
die
sich
übrigens als
denkende
Männer, soweit sie deutsche Republikaner waren, von ihm nicht einfangen ließen, sondern seinen Kalkül zu Schanden machten.
Zunächst erklärte der amerikanische Minister, die Ansicht der preußischen Regierung sei vertragswidrig, (eine solche lag gar nicht vor, sondern nur eine ganz
anders
lautende PrivatSußernng Manteuffels)
wonach
kein
früherer Unterthan des Königs das Recht hätte, feine Rückkehr in die
Heimath zu verlangen.
Er forderte also auf Grund deS von beiden
Mächten am 1. Mai 1828 abgeschlossenen Vertrags, obgleich dieser nichts mit der vorliegenden Frage zu thun hatte, daß die Bürger der Bereinigten Staaten zu jeder Zeit ungehindert das preußische Gebiet betreten und dort
so lange wohnen und ihr legitimes Geschäft betreiben könnten, als sie sich
den preußischen Gesetzen unterwürfen (was ihnen nie verwehrt worden war). ES könne sich also im einzelnen Falle nicht darum handeln, ob der den Ge-
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
668
setzen sich nicht Fügende gegen das Völkerrecht, sondern nur darum, ob er ge
gen eine der Bestimmungen deS angeführten Vertrages gefehlt habe. Natürlich räume er der preußischen Regierung das unbedingte Recht ein, die Unter suchung gegen amerikanische Bürger in derselben Weise wie gegen preußische zu führen.
Soweit habe Wright ganz Recht.
Er gehe aber zu weit, wenn
er auS den Grundsätzen der Gegenseitigkeit folgere, daß Preußen die Unter suchung in derselben Weise wie die Bereinigten Staaten führen, daß diese
unter allen Umständen öffentlich sein, daß dem Angeschuldigten die An klage mitgetheilt, sowie die Gelegenheit der Vertheidigung gewährt werden müsse, endlich aber, daß die amerikanische Regierung daS Recht zur Unter
suchung der Frage habe, ob daS Verfahren richtig (reasonable) und das gefällte Urtheil gerecht gewesen sei.
So mangelhaft und zum Theil will
kürlich auch daS preußische Polizeiverfahren in Ausweisungsfällen sei, so könnten die Vereinigten Staaten für ihre Bürger doch nicht mehr ver
langen, alS die Handhabung der gegen die preußischen Unterthanen geltenden gesetzlichen Bestimmungen.
Doch sei dieser Punkt von untergeordneter
Bedeutung und liege außerhalb der Gränzen der vorliegenden Untersuchung, welche sich auf die Leistung der Militärpflicht beschränke.
Caß sucht nun
auch die Bestimmungen des genannten Vertrages gegen die Ansprüche der preußischen Regierung auf nachträgliche Leistung der Militärpflicht ihrer
ausgewanderten Unterthanen
zu verwerthen und seinen Standpunkt in
folgender Weise zu begründen: „Doch der Hauptgegenstand unsrer Klage wurzelt in der Gewalt,
welche die preußische Regierung sich anmaßt, um die Leistung der Militär-
pflicht in Fällen zu erzwingen, in welchen sie nach jenem Vertrage^ nicht gerechtfertigt ist.
Preußen bekennt sich nicht zu der Lehre von der ewigen
Unterthanenpflicht,
sondern erkennt bei seinen Bürgern daö Recht
der
Expatriation und der Anknüpfung neuer politischer Bande in einem ander« Lande an.
Welche immer auch in
früherer Zeit die einander wider-
streitenden Ansichten über diesen Gegenstand gewesen sein mögen,
wir
glauben, daß dieses Recht jetzt allgemein von allen Großmächten der Erde
anerkannt wird.
ES ist wenigstens nicht wahrscheinlich, daß man in Zu
kunft auf der Lehre ewiger Unterthanenpflicht praktisch bestthen wird.
In
unserm aufgeklärten Zeitalter kann eine Regierung kaum den Gedanken hegen, den Bürger in der Wahl seiner Heimath zu überwachen und ihn
mittelst einer bloßen politischen Theorie für sein ganzes Leben an ein Land
zu binden, welches er beständig zu verlassen wünscht.
Alles, was man in
dieser Beziehung von auswanderungslustigen Bürgern oder Unterthanen
erwarten kann, besteht darin, daß sie vor ihrer Auswanderung treulich die
bereits vorhandenen oder entstehenden Pflichten erfüllen, welche sie dem
Lande ihrer Geburt schulden.
Wenn sie dies gethan haben, so haben sie
unzweifelhaft die Freiheit, sich in irgend einem Theile der Welt eine neue
Heimath zu gründen.
Indem Preußen diese Doktrin anerkennt, tritt es
in vollen Einklang mit dem Geiste deS Jahrhunderts und mit Allem, waS in Zukunft als das anerkannte Gesetz der Welt gelten wird.
Bereinigten Staaten?)
(Aber die
Auf Grund der Ihnen vom Baron v. Manteuffel
gegebenen Information muß aber derjenige, welcher in Preußen das Recht
der Expatriation auSüben will, die Erlaubniß der Regierung nachsucheo;
die Verletzung dieses Gesetzes wird aber mit Geldstrafe und Gefängniß geahndet.
(Nur beim Militärpflichtigen!)
ES ist hier nicht bekannt, ob
dieses Gesetz strikt erzwungen oder wie weit eS
bei seiner Anwendung
durch Rücksichten auf Alter oder Lebensstellung beschränkt wird; indessen
ist eS nicht leicht, feine Existenz mit der vollen Einräumung deS ExpatriationSrechteS in Einklang zu bringen.
Wenn ein in Preußen Geborener feine
Heimath selbst ohne Erlaubniß verläßt, kann da verständiger Weise be hauptet werden, daß er bei seiner Rückkehr, bloß weil er so auSgewaudert
ist, der Bestrafung unterliegt?
Eine solche Annahme würde heißen, daß
er für die Ausübung eines anerkannten Rechts bestraft wird.
Es ist
unerläßlich, daß er Preußen verläßt, ehe er anderswo eine neue Heimath
findet; ihn für seine Abreise strafen, heißt ihn etwa für deu Wechsel seiner Heimath strafen.
Wenn eine solche Lehre aufrecht erhalten wird, so müssen
dadurch unbedingt zwei große Nationen in häufige und peinliche Konflkkte
verwickelt werden, soweit die Rechte und Pflichten eines Unterthanen der
einen Macht in Betracht kommen, welcher im Gebiete der andern natu-
ralistrt ist.
Eine solche Person kehrt z. B. in das Land ihrer Geburt
zurück und verlangt hier keinen Schutz in ihrem ursprünglichen Charakter
als Eingeborener, sondern sie verläßt sich, während sie selbst nichts Un
rechtes thut, auf die Regierung ihrer neuen Heimath, daß sie von ihr gegen jede Beeinträchtigung geschützt werde. dieser neuen Regierung gegen sie?
Welches ist nun die Pflicht
Soll sie erlauben, daß der von ihr
Naturalistrte in'S Gefängniß gesteckt oder anderweitig bestraft wird, ohne
daß sie irgend einen Versuch zu seinem Schutze macht? unterlassen,
Ja, soll sie dies
wenn zwischen beiden Ländern ein Vertrag in voller Kraft
besteht-, welcher vorschreibt, daß die Bürger eines jeden von ihnen das Recht haben sollen, das Gebiet des andern zu besuchen und zu bewohnen?
Diese Fragen b^eichnen sehr klar den Weg, auf welchem unter Völkern Kollisionen von Pflicht und Autorität entstehen, wenn der Akt der Ex patriation
akS schweres Verbrechen aufgefaßt und
mit Geldstrafen und
Gefängniß belegt wird.
„Hinsichtlich deS preußischen Anspruchs auf Leistung der Militärpflicht,
67Q
Der beutsch-anierlk-inijche Vertrag vom 22. Februar 1868.
Welcher von den deutschen Staaten als sehr wichtig betrachtet wird, muß
offenbar ein Unterschied gemacht werden zwischen wirklichen Deserteuren ans der Armee und dem Verlassen des Landes Seitens solcher Personen,
welche noch nicht zum Dienste herangezogen sind.
Die ersteren müssen
unzweifelhaft ihrer Militärpflicht genügen, wenn sie in ihre Heimath zurück kehren;
indessen kann den Bürger die bloße Möglichkeit (contingency),
daß er später dienstpflichtig wird, nicht derselben Verpflichtimg unterwerfen. Das Prinzip des Dienstzwanges existirt auch in den Bereinigten Staaten, und alle ihre waffenfähigen Bürger können, wenn es nöthig wird, zur Vertheidigung der Republik eingezogen werden.
Aber diese Verbindlichkeit,
welche so lange gefordert wird, bis sie in Folge physischer Unfähigkeit auf hört, und welche eine aktive Pflicht wird, wenn die Lage des Landes sie nothwendig macht, beeinträchtigt die Rechte eines Bürgers weder zu Haufe noch in der Fremde, noch verhindert sie ihn, Mitglied einer anderen po
litischen Gemeinde zu werden.
Und ganz dieselben Erwägungen greifen
Platz bei allen denjenigen Pflichten, deren Erfüllung von allen Regierungen gefordert wird, wie bei dem Dienste als Geschworener, da, wo die Jury einen Theil des gerichtlichen Verfahrens bildet, bei der Bekleidung öffent
licher Aemter, wo das Gesetz diese Pflicht vorschreibt, und allen anderen Arten obligatorischer Dienste, welche die Bedürfnisse der Gesellschaft er heischen und welche von Zeit zu Zeit gethan werden müssen.
Wenn die
erst in Zukunft zu leistende Erfüllung der Militärpflicht eine ewige Ver
bindlichkeit schafft, Verbindlichkeiten
wo auch der Betreffende weilen und welche andere
er auch eingegangen haben mag,
Grundsatz eine Regierung
auch in den Stand,
so
setzt dieser selbe
ihre Unterthanen oder
Bürger an der Auswanderung oder an der Verlegung ihres Wohnsitzes zu hindern.
Es wäre das praktisch die Verneinung des Rechtes der Ex
patriation und die volle Behauptung der Lehre von der ewigen Unter
thanenpflicht. „Indem ich diese Ansichten aufstelle, wünsche ich nicht so verstanden
zu werden, als ob ich die Jurisdiktion Preußens innerhalb feines eigenen
Gebietes beschränken oder seine volle Kontrole über seine eigene Gesetz gebung im Innern im Mindesten bestreiten wollte.
Ich appelllre nur an
den ausdrücklichen Wortlaut unsers Vertrages und an die von Preußen selbst anerkannten Grundsätze und Politik.
Ich kann nicht glauben, daß
der Anspruch auf Erfüllung der Militärpflicht gegen einen amerikanischen
Bürger geltend gemacht werden wird, der Deutschland in einem Alter ver ließ, wo er noch nicht militärpflichtig war.
Da die Zahl derer nicht groß
sein kann, welche ihre Heimath in militärpflichtigem Alter verlassen, ehe
sie eingezogen sind, so steht zu hoffen, daß eine liberale Behandlung der
Der belttsch-ainenkauische Vertrag vom 22. Februar 1868.
67 t
in diese Klasse gehörigen und nach Preußen zurUckkehrenden amerikanischen
Bürger wirkliche Mißhelligkeiten verhüte» wird." In einem andern Falle, dem des HanoveranerS Christian Ernst, in
welchem die hanoversche Regierung sich in
ihrem vollen Rechte befand,
aber in Folge der Wright'schen Vorstellungen den in seine Heimath zurück« gekehrten und zwangsweise in die Armee gesteckten Ernst begnadigte, führt Eaß die in dem letzten Schreiben aufgestellten Gesichtspunkte sogar alabsolut gültig und von jedem Vertrage unabhängig noch näher aus, indem
er am 8. Juli 1859 an seinen Gesandten schreibt: „DaS Recht der Expatriation kann heut zu Tage in den Vereinigten
Staaten weder bezweifelt,
noch in Abrede gestellt werden (Sic!)
Seit
Gründung der Republik ist die Ansicht stets verworfen worden, daß ein Mensch verpflichtet sei, für immer im Lande seiner Geburt zu bleiben und daß er
da- Recht nicht habe,
seinem freien Willen zu folgen und sein
eigenes Wohlergehen bei der Wahl einer neuen Heimath zu befragen.
Di-
hervorragendsten Völkerrechtslehrer erkennen das Recht der Expatriation an.
ES kann auch nur von denen bestritten werden, welche in unserm
neunzehnten Jahrhundert immer noch dem alten Fendalrechte mit all'
seiner Unterdrückung huldigen.
Die Lehre der ewigen Unterthanenpfltcht
ist ein Ueberbleibsel der Barbarei, welches im letzten Jahrhundert allmälig aus der Christenheit verschwunden ist.
(Im Munde ihres ersten Ministers
ein schönes Kompliment für die Vereinigten Staaten, wo dieses barbarische
Ueberbleibsel zu jener Zeit noch nicht verschwunden war!) „Die Verfassung der Bereinigten Staaten erkennt die Expatriation al- ein natürliches Recht an, indem sie dem Kongreß die Gewalt einräumt,
ein gleichförmiges Gesetz für die Naturalisation zu erlaffen.
Sie würde
mit sich selbst in Widerspruch getreten, und eS würde deS Charakters der Verfasser jener Urkunde unwürdig gewesen sein, wenn sie die Fremden veranlaßt hätten, ihre Heimath zu verlaffen, ihre bisherige Staatsange
hörigkeit aufzugeben und Bürger der Bereinigten Staaten zu werden, wenn sie nicht von dem absoluten und unbedingten Rechte der Expatriation über
zeugt gewesen wären.
Der Kongreß hat seit dem Beginn der Bundes
regierung stet- nach diesem Grundsatz gehandelt.
(Siehe oben S. 520!)
Im Augenblick, in welchem der Fremde naturalisirt wird, ist seine Unter«
thanenpflicht gegen seine Heimath für immer gelöst.
Er erfährt eine nene
politische Geburt; eine breite und unpassirbare Linie trennt ihn von seinem Geburtslande.
Diesem ist er, nachdem er seinen neuen Charakter ange
nommen hat, für etwas, das er sagen oder thnn mag, so wenig verant
wortlich, als ob er in den Bereinigten Staaten geboren wäre.
Im Falle
det Rückkehr in seine Heimath kehrt er als amerikanischer Bürger nnd in
Der deutsch-amerikanische Bertrag vom 22. Februar 1868;
672
keiner andern Eigenschaft zurück.
Wenn seine heimathliche Regierung da»
Recht beansprucht, ihn für ein Vergehen zu strafen, so muß er diese» be gangen haben, al» er noch ihr Unterthan war und ihr Gehorsam schuldete.
Da» Vergehen mußte vor seiner Expatriation begangen und derartig be
schaffen sein, daß er dafür im Augenblick seiner Abreise zur Untersuchung gezogen und bestraft werden konnte.
Eine künftige Verpflichtung, in der
Armee zu dienen, rechtfertigt eine solche Strafe nicht, weil er vor dem Eintritt diese» Dienste» bereit» sein Unterthanenverhältniß geändert hat
und Bürger der Vereinigten Staaten
geworden ist.
Die Behauptung
würde geradezu abgeschmackt sein, daß ein fremder zwölfjähriger Knabe,
der mit seine» Vaters Familie hierher gekommen und dann naturalifirt ist, später, zum Mann herangewachsen, bei einem Besuche in der alten Heimath aufgegriffen und zum Militärdienst gezwungen werden dürfte, weil
er, wenn er zu Hause geblieben wäre und da» erforderliche Alter erreicht hätte, dienstpflichtig geworden sein würde.
(Allerdings wird er da», wenn
der Vater die gesetzlich vorgeschriebene Anzeige seiner Auswanderung ver
Ein solches Prinzip zulassen würde heißen, einen gehässigen
säumt hat.)
Unterschied
zwischen
unseren naturalisirten
und
eingebornen
Bürgern
machen. „In meinem Briefe an Herrn Hofer vom 14. v. M. beschränke ich
die fremde Jurisdiktion über unsere naturalisirten Bürger auf diejenigen von ihnen,
welche zur Zeit ihrer Auswanderung entweder im stehenden
Heer dienten
oder bereits
zum Eintritt aufgefordert
waren, d. h. auf
wirkliche Desertion oder auf die Weigerung, nach regelmäßig
erfolgter
Losung und Einziehung in die Armee der Regierung einzutreten, welcher der Ausgewanderte zu jener Zeit noch Gehorsam schuldete.
Wenn ein
Soldat oder Matrose aus unserm Heere oder unsrer Flotte desertiren, also ein Verbrechen begehen sollte, welches mit schwerer Strafe belegt ist,
und wenn er nach seiner Naturalisation in einem fremden Lande in die
Vereinigten Staaten zurückkehren sollte, so würde es eine sonderbare Ver theidigung sein, wenn er geltend machen wollte, daß er für sein Verbrechen
straflos sei, weil er, nachdem er dasselbe begangen, der Unterthan einer
andern Regierung geworden sei, und noch befremdender würde eS sein, wenn unsre Regierung ihn auS diesem Grunde laufen laffen wollte." Gegenüber den Eingangs dargelegten thatsächlichen
und rechtlichen
Verhältnissen ist eS überflüssig, die Caßschen Gemeinplätze, Sophismen und absichtlichen oder unabsichtlichen Entstellungen des Thatbestandes einzeln zu widerlegen. Somit bleibt hier nur die eine einzige Frage zu erörtern, da ein
eigentlich prinzipieller Widerspruch zwischen der preußischen und amrrika-
nffchen Auffaffung über die Leistung der Militärpflicht nicht vorhanden ist
Beide Regierungen gehen nämlich von derselben richtigen Ansicht aus,
daß eS Pflichten giebt, denen sich der AuSwandernde durch seine Expatriation nicht entziehen kann und darf.
Nur in dem einen Punkte unterscheiden sie
sich von einander, daß Preußen die Militärpflicht unbedingt dahin rechnet,
einerlei ob der Betreffende schon bei der Fahne steht oder erst künftig ein gezogen wird, während die Bereinigten Staaten sie in der von jener Macht verlangten Ausdehnung nicht anerkennen und den Auswandernden wegen
der möglicher Weife einmal eintretenden Dienstpflicht in seinem ExpatriationSrecht nicht beschränken, sondern diesen nur bei wirklicher Desertion
strafbar machen wollen.
ES handelt sich also um Beantwortung der Frage,
ob die Dienstpflicht eine stets vorhandene, eine mit der Geburt entstehende, aber erst in einem gewiffen Alter fällig werdende Verbindlichkeit jedes
männlichen Preyßey ist, ober ob sie erst mit Erreichung dieses Alters ge
fordert werden kann, und deßhalb von denen, welche früher ausgewandert sind, nicht gefordert werden darf?
Caß beruft sich zum Beweise der Richtigkeit seiner Ansicht auf die Miliz der Bereinigten Staaten.
„Der Militärdienst — sagt er in einem
diese Ansicht näher motivirenden Briefe vom 3. Oktober 1860 an den
Gesandten Faulkner in Paris — wird bei uns in der Miliz geleistet, wenn dieser Arm unsrer nationalen Bertheidigung in einem der von der Konsti tution vorgesehenen Fälle aufgerufen wird.
Da wir keinen andern ZwangS-
dienst haben, so machen wir auch keinen Anspruch auf solche, bei etwa künftig eintretenden Ereignissen mögliche Pflichten.
Wenn ein amerika
nischer Bürger das Land verläßt, so hat er sich nicht gegen unsere Gesetze vergangen.
Er ist bei seiner Rückkehr frei von aller Verbindlichkeit und
kann nicht für Pflichten verantwortlich gemacht werden, welche von ihm,
wenn er zu Hause geblieben wäre, gefordert fein würden.
Diese Doktrin
findet allgemeine Anwendung, dehnt sich auf den Dienst des Geschworenen
und andere vom Gesetz auferlegte persönliche Pflichten aus, deren Leistung
von zukünftigen Möglichkeiten abhängt.^
Genau daffelbe Verhältniß findet in Preußen statt.
Waö hier der
Landsturm ist, das heißt in den Bereinigten Staaten die Miliz.
Sie
diente dort nach der Konstitution zur Ausführung der Gesetze, zur Unter
drückung von Aufstand und zur Abwehr von Einfällen; sie bildet den
Gegensatz zur stehenden Armee und besteht aus allen körperlich tüchtigen Personen im Alter von 18 bis 45 Jahren, die auf Grund des Gesetzes
vom 8. Mai 1792 zu Regimentern formirt und orgauisirt, aber nur in
außerordentlichen Nothfällen vom Präsidenten der Bereinigten Staaten als nationale Truppe aufgeboten werden.
Es geschah das bis jetzt drei Mal,
zuerst bei dem sogenannten Whiskey-Aufstand in Pennsylvanien 1794, dann
674
Der dentsch-ailierikanische Vertrag bonf; 22. Kebruar 1868.
beim Krieg mit England 1'812 und zuletzt während des RebellionSkrieges von 1861—1865.
Der Dienst in dieser Miliz ist, wie Caß auch zrigiebt,
nicht obligatorisch.
Das Ganze ist in der That mehr eine harmlose Sol
datenspielerei mit bunten Jacken, auffallenden Kopfbedeckungen, preußischen
oder bayrischen Helmen und sonstigem in die Augen stechendem Firlefanz. Diese tapferen Siebener, glorreichen Fünfer, Chathamstreet Husaren auf ab
getriebenen Metzgergäulen oder Bowery ChevauxlegerS mit mageren Mieths-
kleppern, und wie sie alle heißen mögen, stehen militärisch höchstens auf der Stufe der seligen Kölner Funken und sind so wenig im Ernst zu nehmen, wie Zettel der Weber, als er den Löwen spielte. höchstens zur Bewältigung eines StraßcnauflaufS.
Sie taugen
Die Regierung hat sich
ihrer daher auch nur im äußersten Nothfalle ausnahmsweise bedient und sie meistens in der Reserve verwandt, oder half sich ans die Dauer, wie
z. B. im mexikanischen Kriege und letzten Bürgerkriege, lieber mit Freiwilli gen, die theils vom Patriotismus, theils von hohem Handgeld angetrieben,
bisher noch immer in ziemlich ausreichender Zahl herbeigeeilt sind.
Als
gegen Ende des letzten Krieges auch diese Quelle zu versiegen drohte, bot
der Präsident mittelst SpezialgesetzeS jeden waffenfähigen Mann, Bürger
und Bürger-Kandidaten, vom 20. bis 45. Lebensjahre zur Vertheidigung des Landes auf.
Doch auch dieses Aufgebot wurde bei der bald darauf
erfolgenden Uebergabe der Rebellenarmee nur theilweise und in geringem Grade ausgeführt.
Auch der vom großen Scharnhorst gegründetere preußische Landsturm, der übrigens, weil seine Mehrzahl noch aus altgedienten Leuten bestehend,
militärisch tüchtiger und brauchbarer ist, kann bei außerordentlichen Gele
genheiten für einen bestimmten Zweck (Abwehr eines feindlichen Einfalls) mittelst SpezialgesetzeS, vom König aufgeboten werden.
Er besteht au-
allen Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 42. Lebens jahre, welche weder dem Heere noch der Marine angehören und soll, wie
in den Vereinigten Staaten, an Stelle des ungeregelten Massenaufgebot-
eintretenden Fall- mit seiner militärischen Organisation und Unterord nung unter die Militärgesetze treten.
Bi- jetzt wurde er nur ein mal
und zwar in den letzten Kriegen gegen den ersten Napoleon aufgeboten. Natürlich ist ein Landsturmpflichtiger, wenn er au-wandern will, keiner
Behörde Rechenschaft schuldig; er ist in allen seinen Schritten so unbe hindert und frei, wie ein amerikanischer Milizmann oder Geschworener. Um auch für die Union die allgemeine Wehrpflicht zu beweisen, hütet
Caß sich wohl, die einzige richtige Parallele zwischen den preußischen und amerikanischen Heereseinrichtungen zu ziehen, d. h. die stehende amerika
nische Armee mit der preußischen auf dieselbe Stufe zu stellen.
Die Ber-
einigten Staaten haben zwar ein kleines stehendes Heer, allein es ist ein mit allen möglichen Werber-Kniffen und Künsten zusammengekiebeneS Ge
sindel aller Nationen, namentlich deutscher Deserteure und irischer Bumm ler, welches von einem höchst aristokratischen Offizierkorps mit eiserner
Disziplin und barbarischen Strafen- zusammengehalten und meistens an
den Gränzen der Civilisation verwandt wird.
Geborene Amerikaner ge-
hörm ihm als Gemeine nur ausnahmsweise und dann nur in den verlump
testen Exemplaren an.
Amerikanischer Liniensokdat zu sein, ist in den
Augen jedes anständigen Menschen dort eine ebenso große Schande und
Qual, alS es im vorigen Jahrhundert in Deutschland das Unglück war, „dem Kalbfell folgen zu müssen."
Die Vereinigten Staaten haben eben
keine gefährlichen Nachbarn, weßhalb sie sich auch den LnxuS einer großen Armee sparen und die Produktivkraft deS Landes gewinnreicher verwerthen
können als Preußen. Die äußere und zwar lächerliche Nachahmung des emopäifchm Militärwesens besorgt bei ihnen die Miliz. Preußen, resp. Deutsch
land dagegen ist weniger bequem und Vortheilhaft situirt. spielt deßhalb auch nicht, sondern ist Soldat.
Der Deutsche
Auf allen Seiten von
Militärstaaten ersten Ranges umgeben, muß unser Vaterland bei seiner verhältnißmäßigen numerischen und räumlichen Schwäche diesen Nachtheil
durch Anspannung aller seiner Kräfte, durch Ausbildung der Intelligenz
des Volkes und Heranziehung aller seiner Bürger zur steten Kriegsbereit schaft, zur Vertheidignng des Landes auszugleichen suchen.
Daher die allge
meine Wehrpflicht, ohne welche es nie den ersten Napoleon niedergeworfen
und in späteren Kriegen nie Oesterreich besiegt, noch den dritten Napoleon
ausgerottet hätte.
Nur vermöge seiner demokratischen Heeresverfassung,
hab sich Preußen resp. Deutschland um Europa so große Verdienste er
werben können und ohne dieselbe nähme eS nicht seine gebietende Stellung
in der Welt ein, ja es würde sofort zu einer Macht dritten RangeS her absinken und den allgemeinen Kulturfortschritt gefährden, wenn eS jetzt den
Rückschritt zu den amerikanischen Heereseinrichtungen oder gar den dor
tigen Milizen machen wollte.
Was
der eine oder andere
Doktrinär
vom Blutzoll faseln mag, Preußen resp. Deutschland fordert mit vollem
Rechte von jedem seiner Söhne den Dienst im Heere.
Diese Pflicht ist
deßhalb auch für jeden männlichen Preußen eine absolute, eine angeborene,
eine immer gegenwärtige, seit
dem Jahre 1813 auf Gesetz beruhende
und im Bewußtsein des Volkes lebendige.
Sie tritt also nicht erst in
einem gewissen Alter oder unter außerordentlichen Umständen ein, wie in
den Vereinigten Staaten, sondern entsteht mit dem Augenblick der Geburt jedes männlichen Preußen.
Der Dienst ist die gesetzlich feststehende Regel
und die Befreiung davon die Ausnahme. Preußische Jahrbücher. SBb. XXXV. Hef, °.
Jeder Preuße und jetzt jeder 46
Deutsche ist, um ein Bild auS dem Wechselverkehr zu gebrauchen, mit
seiner Geburt Soldat wenn auch nur auf Zeit, und wenn er auch erst
im besten Jünglingsalter als solcher fällig wird.
WaS Caß dagegen sagt,
beruht auf Unkenntniß der deutschen Gesetze, die ihm ja vorgelegen haben, beweist, daß er gar keine Ahnung hat von der Bedeutung eines VolkS-
HeereS, von dem tiefgewurzelten,
sittlich
begründeten Pflichtgefühl deS
deutschen Soldaten, das auch unter den schwierigsten Verhältnissen nicht wankt.
Die allgemeine Wehrpflicht hat sich seit mehr als zwei Menschen
altern als eine mit der Geburt entstehende, stets gegenwärtige, unbedingt
zu leistende, und mit dem zwanzigsten Jahre fällig werdende Pflicht in Preußen eingelebt; sie greift so sehr in die wichtigsten Lebensbeziehungen
des Einzelnen ein, daß jeder Preuße ihre Bedeutung kennt, und daß der
beschränkteste Bauer im entlegensten Dorfe weiß, daß er ebenso gut dienen muß, wie sein Vater oder Großvater gedient haben.
Dieser Pflicht gegen
über von entschuldbarer GesetzeS-Unkenntniß zu sprechen, wie eS Caß und seine Vorgänger thun, um eine mildere Behandlung der ohne Erlaubniß
ausgewanderten Preußen zu erlangen, lautet in den Ohren eines Preußen etwa grade so befremdend, als eS in denen eines Amerikaners lauten würde, wenn ein Fremder ihn nach dem Könige in Washington fragen
wollte. Den Bereinigten Staaten als souveräner Macht kann natürlich Nie
mand wehren, wenn sie ihr System bei sich durchführen, wenn sie die
englisch amerikanischen,
aristokratischen Einrichtungen für besser halten.
Preußen andrerseits hat aber ebenfalls ganz Recht, wenn es feine Heeres
einrichtungen als den Grundpfeiler seiner Sicherheit und Größe betrachtet und jeden seiner Söhne zum
Dienste zwingt.
Staate im völkerrechtlichen Verkehr Aufdrängung einer allein
Ueberhanpt steht keinem
eine schulmeisternde Rolle oder die
seligmachenden Theorie zu.
Wenn die Aus
führung der in Preußen als zweckmäßig erachteten Einrichtungen den Ver
einigten Staaten unter Umstände» schadet, so mag das von ihrem Stand punkt auS zu beklagen sein, allein Preußen zuzumuthen, daß es ihnen, zu
Liebe auf die Dienstpflicht einzelner waffenfähiger Preußen verzichte, heißt ungefähr ebenso viel als von den Engländern zu verlangen, daß sie den
Bestand
ihrer Flotte verringern oder von den Holländern zu erwarten,
daß sie einige ihrer Deiche durchstechen, weil vielleicht den Bereinigten Staaten mit einer solchen selbstmörderischen Politik gedient sein könnte.
Die preußischen Minister hatten also vollständig Recht, wenn sie die ameri kanischen Zumuthungen als völlig unberechtigt ablehnten und kurzer Hand auf die Landesgesetze verwiesen, welche jedem Preußen mit Ausnahme der
Militärpflichtigen das unbedingte Recht der Auswanderung zugestehen.
Es
kann deßhalb nur beklagt werden, daß der Norddeutsche Bund diesen den deutschen Interessen einzig entsprechenden Standpunkt verließ, ohne auch
nur das geringste Aeqnivalent für seine Nachgiebigkeit zu verlangen.
Caß' Note und Wright'S Vorstellungen machten
keinen Eindruck in Berlin. Korrespondenz enthält
-
übrigens zunächst
Die offizielle, in Washington veröffentlichte
überhaupt
unter Buchanan'S Administration.
keine besonders
wichtigen
Mtenstücke
Andererseits aber wurde die preußische
Praxis unter dem Prinzregenten und dem Könige Wilhelm eine bedeutend mildere, wie dies verschiedene auf das Gesuch deS amerikanischen Gesandten erfolgte Begnadigungen beweisen.
So beauftragt W. H. Seward, der
Staatssekretär Lincoln'S, im März 1862 seinen Gesandten N. B. Judd, der preußischen Regierung für die im Gnadenwege erfolgte Freilaffung zweier in Amerika naturalisirten militärpflichtigen Preußen zu danken, und weist ihn bei dieser Gelegenheit an, die ganze Streitfrage so lange aus stch
beruhen zu lassen, bis die Vereinigten Staaten und Preußen ihre gegen
wärtigen Schwierigkeiten (südliche Rebellion drüben und Konflikt hüben)
überwunden haben würden.
Im Laufe deS amerikanischen Bürgerkrieges wurde eS Seward übri gens klar, daß diese Angelegenheit für die Vereinigten Staaten doch auch ihre Kehrseite hätte.
sandten*):
Er schrieb nämlich im März 1863 an seinen Ge
„Eö sind verschiedene Fälle vorgekommen, daß hier naturalistrte
Europäer die Bereinigten Staaten verlassen haben, alö sie zum Dienste herangezogen werden sollten, und daß sie, um hier nicht dienen zu müffen, nach Europa zurückgekehrt sind, daß sie aber trotzdem drüben den Schutz der Vereinigten Staaten in Anspruch nahmen, um sich ihrer heimischen
Militärpflicht zu entziehen.
AuS diesem Grunde brauchen Sie, ohne vorher
ganz besonders instruirt zu sein, in Zukunft keine Vorstellungen mehr zu
Gunsten dort Militärpflichtiger zu machen." So ließ man die Frage bis zum Ende des Bürgerkrieges ganz auf
sich beruhen.
Judd eröffnete am 9. August 1865 die Kontroverse wieder,
*) Die folgende Darstellung stützt sich aus die offizielle amerikanische Denkschrift: „Opiuions of the Heads of the Executive Departments and other papers, relating to Expatriation, Naturalisation and Change of Allegiance,“ auf Seite 1177 —1438, im zweiten Theil der Foreign Relations of the United States. 1873. Die betreffende Stelle befindet fich S. 1296 und 1297. Ferner Executive Documents, No. 4, Senate. 40th Congress Ist Session, dem Senate vom Präsidenten auf Grund eines Beschlusses vom 28. Juli 1866 mitgetheilt am 11. März 1867. Diese 144 Seiten starke Sammlung enthält die offizielle Korrespondenz der Vereinigten Staaten mit Frankreich und Preußen über die Mili tärpflicht der naturalisirten Bürger vom 27. Juni 1859 bis zum 17. December 1866. Preußischer resp, deutscher ©eit« sind, soviel dem Verfasser bekannt, die diplomati schen Verhandlungen über diese Frage weder ganz, noch theilweise veröffentlicht werden. Die preußischen und deutschen Schriftstücke sind hier wie auch oben au« dtm Englischen in'« Deutsche zurückübersetzt.
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. KebruarI18ö8.
678
indem er Sewards Aufmerksamkeit auf die Lage derjenigen naturalisirten Deutsch-Amerikaner richtete, welche laut Gesetz vvm 17. Juli 1862 als Soldaten in der Verewigten Staaten Armee gedient, einen ehrenvollen
Abschied erhalten, wenigstens ein Jahr im Lande gewohnt und auf Grund dessen ausnahmsweise das Bürgerrecht erlangt hatten, bei ihrer Rück kehr nach Preußen indessen, weil sie hier militärpflichtig und ohne Erlaub niß anSgewandert waren, mit ZwavgSeinstellung in die Armee bedroht wurden.
Als Judd'S Depesche in Washington einlief, war der inzwischen
zu den Republikanern Lbergegangene Wright, der frühere Gesandte Buchanan's, von Johnson wieder zum Berliner Gesandten ernannt worden.
traf
im September 1865
Er
in Berlin ein und nahm sofort sowohl
in
Washington als in Berlin seine Agitation zu Gunsten der ohne Erlaubniß
ausgewanderten militärpflichtigen und in Amerika naturalisirten Preußen wieder auf.
Im November hatte Wright aus Anlaß des Falles eines
gewissen Brieger eine Audienz beim Grafen Bismarck und bat ihn bei
dieser Gelegenheit um Erleichterungen.
Der preußische Ministerpräsident
erwiderte, daß eS fast unmöglich sei, in dieser Frage daS preußische Recht
im Wege der Gesetzgebung zu ändern, zumal die deutschen Bauern das
Vorurtheil hegten, daß alle militärpflichtigen Preußen, die als naturalisirte Amerikaner zurückkehrten, vom Dienste befreit sein würden, daß folglich
die Frage nur durch einen Vertrag mit den Vereinigten Staaten geregelt werden könnte.
Dies sei seiner Ansicht nach der einzig richtige Weg, die
Sache zu ordnen, und er bezweifle nicht, daß im Falle eines Ueberein kommens die Grundsätze, über tfie man sich geeinigt, durch die gesetzgebenden
Faktoren beider Länder auSgeführt würden.
Als die Grundlage
eines
solchen Vertrages schlug Bismarck nach Wright vor: die Befreiung aller militärpflichtigen, in ihre Heimath zurückkehrenden Preußen, welche diese
vor ihrem 17. Lebensjahre
verlassen hätten, und ferner die Befreiung
aller derjenigen, welche zur Zeit ihrer Auswanderung nicht im Heere dien ten oder nicht zum Eintritt in dasselbe aufgefordert und welche zehn Jahre
lang außer Landes geblieben wären.
Es wurde dann auf die Schwierigkeit
hingewiesen, welche nach den bestehenden Auslieferungsgesetzen sich der Verhaftung und Verfolgung von Personen entgegenstellten, welche in einem
der beiden Länder eines Verbrechens angeklagt sind. Gegenstand bemerkte Bismarck:
In Bezug auf diesen
„Der Fortschritt in der Handelswelt seit
dem 1828 abgeschlossenen StaatSvertrage, lasse eS zweckmäßig erscheinen, zusätzliche Vorsichtsmaßregeln und Beschränkungen summarischer Natur auf« zustellen, durch welche eine schnellere Vollstreckung der Strafgesetze gesichert
würde, und er hoffe, daß die Auslieferungsverträge zwischen beiden Län dern in einigen Punkten modifizirt würden.
Ich verließ Graf Bismarck
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
mit dem wechselseitigen Einverständniß, daß er sich mit Herm v. Gerolt (dem preußischen Gesandten in Washington) und mit den Militärbehör
den Sr. Majestät Regierung ins Einvernehmen setzen wolle.
Stimmten
diese mit seinen Ansichten überein, so würde er durch die Gesandtschaft der Bereinigten Staaten seine Ansichten über die in den Auslieferungsverträ
gen erforderlichen Abänderungen mittheilen, in der Erwartung, daß die Bundesregierung (wenn sie dieselben günstig aufnähme) mit einer Anspie
lung auf die preußischen Militärgesetze antworte, indem sie Modifikativnen der bestehenden Gesetze beantrage, durch welche die Regulirung dieser Frage wenigstens in Angriff genommen werden möchte und durch welche «au, wie er fest vertraue, zu einem zufriedenstellenden Uebereinkommen gelan
gen würde."
Auf diese Mittheilungen, hin versah. S.eward. seinen Gesandten am 2. Dezember 1865 mit folgenden Instruktionen: „Politische und Bequem
lichkeitsrücksichten bestimmten uns, diesen Gegenstand während der Dauer des Krieges ruhen zu lassen.
Wir wurden selbst weniger eifrig, als wir
sahen, daß unwürdige naturalisirte Bürger vor den Forderungen der Dienst
pflicht flohen, welche sie ihrem Adoptivlande schuldeten, und daß sie nicht allein Schutz vor der Erfüllung dieser Pflicht in ihrer Heimath suchten-
sondern unverschämter Weise noch verlangten, daß die Vereinigten Staaten ihnen helfen sollten, sie auch drüben von der Leistung ihrer Militärpflicht
zu befreien.
Diese Dinge gehören übrigens jetzt der Vergangenheit an.
Und die Frage tritt wieder in ihrer ursprünglichen Form an unö heran. Die Bereinigten Staaten haben eine Regierung gegründet, welche auf dem Rechte der ohne Verbrechen dastehenden Menschen fußt, sich den Staat zu
wählen, in welchem sie wohnen wollen, und sich als Mitglieder in jenetti
Staate einzubürgern, sowie fortan seine Wohlthaten und Vortheile zu ge
nießen, worunter das Recht auf Schutz einbegriffen ist.
Dieser Grundsatz
empfiehlt sich sowohl durch die Gefühle der Menschlichkeit als vom Stand
punkt der abstrakten Gerechtigkeit auö; eö ist ein Grundsatz, welchen wir nicht aufgeben können.
Wir glauben deßhalb auch nicht, daß der Militär
dienst, welcher in Verleugnung dieses Prinzips von einem fremden Staate
gefordert werden mag, diesem wichtig oder nützlich sein kann. Der Präsident
wünscht, daß Sie diesen Gegenstand der ernsten Erwägung des Grafen
Bismarck unterbreiten.
Sie können ihn zugleich versichern, daß wir bereit
fein werden, irgend welche Vorschläge mit Offenheit zu empfangen, welche
die preußische Regierung uns in dieser Frage zu machen für geeignet er achten wird, und daß wir etwaige Aenderungen der zwischen beiden Ländern
bestehenden Auslieferungsverträge aufrichtig erwägen werden."
Am 16. Dezember 1865 übersandte Wright seiner Regierung ein ihm
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
680
vom Unterstaatssekretär Thile übergebenes Memorandum, welches die preu ßischen Vorschläge zur Abänderung des AuSliefcrungSvertrageS enthielt,
und mit Aufzählung der Begünstigunge» schloß, welche eventuell den in Amerika naturalisirten oder zu natnralisirenden preußischen Unterthanen
ES lautet:
bewilligt werden können.
„Sr. Maj. Regierung hat Gründe eine Revision deS Auslieferungs vertrages zwischen Preußen und den Bereinigten Staaten vom 16. Juni
1852 und auch deS Vertrages von 1828 zu wünschen. Die hauptsächlichsten in'S Auge gefaßten Abänderungen betreffen die
nachstehenden Punkte:
1.
Die Kategorie der strafwürdigen Handlungen, welche, eine Aus
lieferung von Verbrechern begründen, soll auch die bis jetzt im Vertrage nicht vorgesehenen Verbrechen deS Diebstahls und Betruges umfassen.
2.
Die Unterstützung der amerikanischen Behörden im Auslieferungs
verfahren soll ex officio eintreten, Kosten zu verursachen.
und ohne den preußischen Gerichten
Bis jetzt traten die amerikanischen Behörden nicht
von selbst ein, und die für Preußen in Honorirung von Advokaten, Poli zisten u. s. w. auflaufenden Kosten sind nngeheuer; dazu kommen noch die
ebenfalls sehr bedeutenden Kosten für das gerichtliche Verfahren. 3.
einfacht
Das Verfahren, der amerikanischen Gerichtsbehörden müßte ver
werden.
Die Amerikanische Republik
der betreffenden Gesetzgebung begonnen und
hat bereits eine Reform das Gesetz vom 22. Juni
1860 bietet zu dem Ende eine geeignete Basis.
Die zwischen Preußen
einer- und Frankreich, Belgien, Holland, Rußland und Spanien ander
seits abgeschloffenen Verträge verlangen für die Auslieferung eines Ver brechers einfach einen
von dem Heimathögerichte
erlassenen Haftsbefehl,
gerichtliches Urtheil oder Anklage-Ordre (mandat d’arret on tout autre
acte ayant au meins la meme force qu’un mandat), und es ist kein weiteres Verfahren vor den Tribunalen des andern Landes erforderlich. Ein ähnliches Verfahren,
wenn von der amerikanischen Regierung adop-
tirt, würde für beide Länder höchst heilsam sein. Vortheile, welche von der Gesetzgebung über preußische Nationalität
solchen preußischen Unterthanen eventuell gewährt werden könnten, welche entweder amerikanische Bürger sind oder es zu werden wünschen: 1.
Es könnte zugestanden werden, daß, nach einer zehnjährigen Ab
wesenheit, nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten und Verbind lichkeiten
eines preußischen Unterthans seinem GebnrtSlande gegenüber
erloschen
sein sollen.
Dieser Satz ist bislang bloß in einzelnen Fällen
von den preußischen Behörden befolgt, allein nicht im Allgemeinen aner? knnnt worden, noch ist er Landesgesetz.
Art. 110 des preußischen Strafgesetzbuches sagt:
2.
in der Absicht verläßt, sich
„Wer Preuße«
seiner Dienstpflicht zu entziehen,
wird mit
einer Geldbuße von 50 bis zu 1000 Thalern oder mit Gefängnißstrafe
von einem Monate bis zu einem Jahr bestraft." Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel könnte zu Gunsten solcher Personen gemacht werden, welche Preußen vor dem siebenzehnten
Lebensjahre verlaffen.
Wright erklärte zunächst selbst diese Begünstigungen für unzureichend
und hoffte mehr bei Bismarck direkt zu erreichen.
„Bei meinem letzten
Besuche sagte ich dem Grafen Bismarck — schreibt er am 21. März 1866
— daß sich die Bereinigte-Staaten-Regierung meiner Ansicht nach nicht dazu verstehen würde, BertragSstipulationen einzugehen, welche daS Recht
eines amerikanischen Bürgers auf seine Rationalität durch die Anerken nung fremder Regierungen qualifizirten, und ich fügte hinzu, daß unsre
Regierung nicht der Ansicht sei, daß eine Beranlaffung oder Dringlichkeit für eine Revision unserer Handel-- oder AuSlieferungSverträge vorliege. Der Graf bezeigte meiner Mittheilung mehr als gewöhnliches In teresse, und, indem er seiner Enttäuschung Ausdruck verlieh, bemerkte er, daß eS für Preußen unmöglich fei, feine Gesetze über die Militärpflicht
Es sei, so sagte er, unausführbar für ein Land, so gelegen
zu ändern.
wie Preußen,
diese Gesetze abzuschaffen, während deren bindende Kraft
zu Gunsten von Auswanderern über die Zugeständnisse (so nannte er seine Protokoll-Borschläge) hinaus zu mildern, nicht blos gleichbedeutend
sei
mit einer praktischen Abschaffung derselben Gesetze rücksichtlich Aller,
welche bereits nach den Vereinigten Staaten ausgewandert seien,
oder
in Zukunft so zu thun gedächten, sondern in der That gleichsam eine Art von
Auswanderungsprämie
allen
körperlich
gesunden
sobald sie daS dienstpflichtige Alter erreicht hätten.
Männern
Er legte,
biete,
wie ge
wöhnlich, das ernste Verlangen an den Tag, diesen Gegenstand zu ordnen, und deutete an, daß eine siebenjährige Abwesenheit von Preußen
Person von
allem Militärdienste frei machen solle,
eine
soweit derselbe von
Allen erheischt werde, welche ihr Vaterland nach ihrem siebenzehnten Jahre
verlaffen.
Dies, so meinte er, sei ein billiges Kompromiß und, setzte er
hinzu: „da die Regierung der Vereinigten Staaten noch nicht unternom men habe,
werde,
und, wie er dringend hoffe, auch künftig nicht unternehmen
ihre eigenen Ansichten über den Gegenstand inS Werk zu setzen
(enforce), weßhalb,
wiederholte
er,
nicht jene Vorschläge annehmen?
Dies würde auch die preußische Regierung der vielen Vorstellungen ent
heben,
welche kürzlich
in so vielen
einzelnen
Fällen an ihn gerichtet
worden, und über welche er, zu seinem Bedauern, nicht immer persönlich
Der deutsch-anierikamsche Vertrag vom 22. Februar 1868.
682
zu verhandeln im Stande sei.
Weßhalb nicht jene Vorschläge annehmen,
so fuhr der Graf fort, die es der großen Mehrzahl der ausgewanderten
Preußen möglich machen würden, unbelästigt (with impunity) herübexzukommen und ihr Geburtsland zu besuchen?"
Wright drang in den amerikanischen Staatssekretär, diese Vorschläge anzunehmen, erblickte er doch mit Recht darin ein so weitgehendes Zugeständniß,
wie er es bisher selbst kaum
für möglich
gehalten hatte.
„Der Präsident, antwortete aber Seward am 9. April 1866, ist erfreut über die vom Grafen Bismarck bei dieser Gelegenheit an den Tag ge
legten guten Absichten.
Seine, mir von Ihnen berichteten Bemerkungen,
hatten jedoch nicht den Erfolg, die Ansichten zu ändern, welche über jene Fragen in der Ihnen ertheilten Instruktion ausgesprochen
sind.
Ich
würde gleichwohl mit Vergnügen im Interesse der Vereinigten Staaten die Argumente des Graftn Bismarck beantworten, und ich habe einigen, wenn auch nicht sehr zuverlässigen Grund anzunehmen, daß in einer solchen
Antwort, welche natürlich in einem durchaus freundlichen Sinne gemacht würde, wir zu einer definitiven Lösung der Schwierigkeit vorschreiten könnten. ES wird Ihnen gewiß nicht entgehen, daß es ein ungewöhnliches
Verfahren Seitens dieser Regierung sein würde, den Argumenten des
preußischen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten eine formelle Antwort folgen zu lassen, Argumente, die seinerseits nicht schriftlich, sondern münd
lich vorgebracht, und uns blos durch unsern Vertreter in Berlin bericht weise bekannt gemacht worden sind.
Sie können dem Grafen eine der
artige Andeutung machen, und ihm sagen, daß wenn er eS für zweck
mäßig erachtet, seine Argumente in die übliche Form zu bringen, wir ihnen eine sorgfältige und
eine freundschaftliche Betrachtung angedeihen
lassen werden."
Der preußisch-österreichische wieder die Verhandlungen;
Krieg
des Jahres
1866
unterbrach
Preußen zeigte sich aber einer großen Anzahl
Militärpflichtiger gegenüber sehr mild und kam der amerikanischen Re
gierung gern entgegen.
Am 24. September 1866 berichtet Wright, daß
einiger Zweifel darüber obwalte, ob die zu erlassende preußische Amnestie auch die Fälle der amerikanischen Adoptivbürger umfasse,
welche in ihrer
Abwesenheit wegen nicht geleisteter Militärpflicht zu Strafen verurtheilt feien.
Der Kriegsminister Roon sei gegen
diese Amnestie,
Bismarck die Amnestie auch auf solche Fälle ausdehnen wolle.
während
An dem
selben Tage instrnirte Seward seinen Gesandten, beim Grafen Bismarck anzufragen, „ob es nicht unter den gegenwärtigen Umständen der Größe
und Würde Preußen'- entspreche, den Grundsatz der Naturalisation als das natürliche und angeborene Recht jedes Mannes anzuerkennen".?
Der deutsch-amerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868.
ßgI
Er, Seward, sei außer Stande zu glauben, das Preußen sich auf die zwangsweise Erfüllung der Dienstpflicht derjenigen seiner Söhne verlassen könne, welche freiwillig in einen fremden Staatsverband eingetreten seien.
Dann aber vermöge keine Maßregel Preußen auf eine höhere Stufe unter
den neueren Völkern zu erheben als, die Annahme jenes Grundsatzes,
welcher eine der Grundlagen der amerikanischen Republik bilde. merke wohl,
(Man
Seward spricht hier auf einmal yyn Naturalisation, in
deren Bedingungen Preußen ebenso liberal ist als die Union, aber nicht von Expatriation, um welche es sich bisher doch ausschließüch gehandelt
hatte,
und über welche die Bereinigten Staaten damals noch feudalen
Anschauungen huldigten.
Leider scheint ihm
auf dieses Taschenspieler
kunststückchen von Preußen nicht gedient worden zu sein.) Friedrich Kaj>p(
Politische Correspondenz. Berlin, 9. Juni 1875. Seit dem 12. April, dem Datum unsrer letzten Uebersicht hat sich die Welt
scheinbar verwandelt.
Damals hier erhebliche Besorgniß über daS franz'östsche
Cadresgesetz, die sich bis zu Kriegsgerüchten und im Ausland bis zu der An
klage steigerte, daß wir das harmlose und wehrlose Frankreich überfallen wollten. Heute allgemeine Zuversicht auf den bewahrten oder geretteten Frieden; bei uns die Versicherung, er sei überhaupt nie bedroht gewesen, im Ausland, insbesondere
in England ein großsprecherischer Eifer, sich das Verdienst an seiner Rettung zuzuschreiben.
In der That der Contrast kann nicht greller sein; wenn die
wirklichen Hergänge sich deckten mit dem, was in den Zeitungen darüber ge schrieben steht, und wenn die Kunst der Diplomatie in der von ihr beeinflußten
Presie nicht häufig darin bestände, die Wahrheit zu verhüllen, so könnte daS Er gebniß gar nicht erfreulicher sein.
Wer, wie wir, in die Geheimnisse der Diplomatie nicht eingeweiht ist, son dern nur mit nüchternem Menschenverstand die Tagesbegebenheiten kritisch ver
folgt, thut wohl, als Leitfaden für sein Urtheil eine einfache Frage aufzuwerfen: Welches war doch die wesentliche Ursache der Beunruhigung im April und was hat sich au dieser Ursache im Mai geändert? Ist diese Aenderung eine reelle,
so wird auch der scheinbare Wechsel der Situation, der auf der Oberfläche ein»
getreten ist,
Haltbarkeit und Vertrauenswürdigkeit haben.
Ist aber die Ur
sache, welche die Bewegung im April hervorrief, unverändert geblieben, dann steht zu fürchten, daß wir es nur mit einem Dekorationswechsel zu thun haben,
der verschwinden kann, wie er gekommen ist. Wir schrieben im April an dieser Stelle: „Zur Zeit scheint es nicht, als ob uns eine nahe Gefahr drohe"; gestützt auf jenen Leitfaden müssen wir heute
leider sagen: „Zur Zeit scheint es nicht, als ob unS ein dauernder Frieden ver gönnt sei".
Damals stand unsere Ansicht im Einklang mit allerlei officiösen
oder für offieiös gehaltenen Aeußerungen, heute steht sie zu ihnen im Wider
spruch.
Das Eine wie das Andere kann uns wenig kümmern.
Denn wir
gründen unser Urtheil ja nicht auf Erfindungen der Laune, sondern auf That
sachen, die wir unseren Lesern zur eigenen Prüfung offen vorlegen. Thatsachen sind die militärischen Vorgänge in Frankreich.
vor diesen Vorgängen das Auge verschließen.
Diese
Man kann allerdings
Man kann sagen, dieselben hielten
sich in dem Rahmen einer Friedensorganisation, und wenn man dem Publicum
verschweigt, daß Frankreich heute schon in der Zahl der Formationen seiner
Infanterie und Artillerie über die entsprechenden Formationen deS volkreicheren
Deutschland hinausgegangen ist, so mag
finden.
eine
solche Behauptung Glauben
Man kann ferner sagen, jene Maßregeln seien zwar Kriegsrüstungen,
aber die Sieger von Wörth und Sedan dürften auf die Anstrengungen eines
so herabgekommenen Volkes, wenn auch seine Feldarmee heute schon doppelt so stark sei als im Juli 1870, mit stolzem Gleichmuth herabblicken.
Man kann
endlich in seiner Geringschätzung und seiner Blindheit gegen die deutlichsten An zeichen der Frankreich beherrschenden und zusammenhaltenden Leidenschaft, so weit gehen zu behaupten, daß daS charakterlose Volk die Revanche bereits vergeffen
habe, mindestens sich begnüge nur nach ihr zu schreien, ohne sie ernsthaft zu Wer so spricht, wird
wollen.
für den Augenblick einen großen Theil deS
PublicumS für sich gewinnen, denn ganz Deutschland wünscht und bedarf den Frieden, und Mele lasten sich ja gern die Verhältnisse so darstellen, wie sie wünschten, daß sie sein möchten. Aber die Zukunft wird lehren, daß man mit solcher Darstellung sich selbst oder Ändere leichtsinnig täuscht. Wir haben eine heffere Meinung von unsern Nachbarn.
Wir halten sie für ein sehr tapferes,
militärisch rasch organisirbareS und für den Ruhm seines Landes äußerst auf opferungsvolles Volk, welches Alles daran setzen wird, um die verlorene Supre
matie in Europa wieder zu gewinnen.
Zu diesem Zweck ist die Ration der
Vostasre und Roustean sogar bereit ultramontan zu werden, und versteht sich ein Laboulaye dazu, den letzten Rest deS Staatseinflusses auf die Bildung der
höheren Kassen den Bischöfen zu opfern.
Roch mehr, wir sahen, daß dieses
Volk seit vier Jahren unter dem Zusammenwirken aller Parteien und mit eiserner Consequenz eine Reihe von Maßregeln zur Steigerung seiner Wehr
kraft durchgeführt hat, welche eS weit über seine Leistungsfähigkeit im Jahre
1870 hinausheben, und welche unvernünftig sein würden, wenn sie nicht von der Absicht auSgingen, in höchstens zwei Jahren Krieg zu führen.
die Thatsachen, von denen unsre Auffassung der Lage auSgeht.
DaS sind
Man mag diese
Auffassung „pessimistisch", oder wenn man etwas recht Thörichtes sagen will, sogar „chauvinistisch" nennen, aber alle Friedensschalmeien, welche heute auf
Commando geblasen werden, können uns leider die Thatsachen nicht hinweg
blasen.
DieS ist der Punkt, den wir anknüpfend an unsern Bericht im April,
unser» Lesern noch näher darlegen müssen.
Gleichzeitg mit der russischen Entreveue und mit der Versicherung der ftiedlichen Gesinnungen
durch
die
und zum
Presse,
die
Maßhalten
Deutschlands
aller
europäischen
Mächte
große» Regierungen in
beschwichtigt
den Rüstungen
werde.
Ob
lief auch
die
Nachricht
hätten in Paris zur Vorsicht
gemahnt,
solche
damit das Mißtrauen
Ermahnungen
erfolgt
sind,
wissen wir nicht, wohl aber ist eS heute notorisch, daß sie jedenfalls frucht
los
geblieben
sind.
Sie
würden
durch
die
entschiedene Sympathie,
mit
welcher sich England in der jüngsten Krisis auf die französische Seite steyte, in ihrer Wirkung ja auch neutralisirt worden sein.
Am 26. Mai ließ der Herzog
von DecazeS in die „Agence Havas“ die Notiz einrücken:
Die Nachricht sei
irrig, daß die französische Regierung die Ausführung der Maßregeln, welche
von der Nationalversammlung zur Reorganisation der französischen Wehrkraft und zur Sicherstellung des französischen Gebiets beschlossen worden seien, einge
stellt habe.
Eine Einstellung derselben sei niemals in Frage gekommen.
Unter
jenen Maßregeln ist vorzugsweise das Gesetz vom 13. März „über die CaderS und die Effectivbestände der activen und der Territorialarmee"
zu verstehen,
welches die beabsichtigten Reuformationen, insbesondere die vierten Bataillone
enthält, und in seinen Anlagen die Cadres bis auf den letzten Tambour gesetz
lich feststem.
Am 28. März wurde das Gesetz durch den Präsidenten Mac
Mahon publicirt; durch das Ausführungsdecret vom 29. März und die Er
läuterungen vom folgenden Tage wurde die Errichtung der JnfanteriecadreS wie der neuen Formationen in der Cavallerie und Artillerie angeordnet. in
unserm früheren Bericht
wiesen wir auf die
Schon
Erklärung des Moniteur
vom 5. April hin, der die Maßregel der vierten Bataillone, durch welche „Frank
reich den Jnfanteriemassen andrer Großmächte nunmehr die Spitze bieten könne," eine
vollendete
Thatsache nannte.
Die Richtigkeit dieser Mittheilung
des
Moniteur hat sich inzwischen völlig bewährt, wenn auch vielleicht die praktische
Organisation erst einige Wochen nach jenem 5. April fertig geworden ist.
Der
Militäretat für 1876 ist bereits auf Grundlage des CadresgesetzeS entworfen,
alld neuen Truppentheile der verschiedenen Waffengattungen sind in dem Etat vorgesehen, nur der Artillerie fehlen im Vergleich zu dem Gesetze noch 38 Batterien.
Es hängt dies wohl damit zusammen, daß von der Versailler Versammlung
schließlich zwei Batterien pro ArmeecorpS mehr beschlossen wurden, als der Kriegs minister de Ciffey ursprünglich verlangt hatte; die Herstellung dieser nachträg lichen Formationen wird sich etwas verzögern. — Wer also hoffte, Frankreich
werde doch ein Einsehen haben und nicht seinen Kopf darauf setzen, zur „Sicher
stellung seines Gebiets" 170 Feldbataillone mehr zu schaffen, als die Deutsche Armee zählt, muß sich jetzt einen anderen Trost suchen.
Auch die Mittheilung
deS „Gaulois," die zwar die Existenz der vierten Bataillone zugab, aber ihnen die winzige Stärke von 30 Köpfen — Officieren und Mannschaften —- andichtete, hat sich als Schwindel erwiesen.
Matt sieht aus der Tabrikation solcher irre
leitenden Notizen, wie sehr die Regierungskreise in Paris das Bedürfniß fühlen, die Thatsachen zu verheimlichen, weil dieselben, offengelegt, die Absicht der Frie
densstörung gar zu deutlich an der Stirn tragen.
In dem Etat für 1876
haben alle Cadres eines Linienregiments die durch
die Anlagen zum Gesetze
vom 13. März vorgesehene gleichmäßige Stärke, nur scheint es, daß man an Mannschaften sparen will.
Die vierten Bataillone haben heute schon, wie aus
den in den Zeitungen vielfach gemeldeten militärischen Ernennungen hervorgeht, ihre Stäbe, wenn auch hier und da noch ein Bataillonschef fehlen oder eine an
dere Lücke auszufüllen sein mag.
Ja neben jenen vierten Bataillonen ist dem
Cadresgesetz gemäß noch ein Ersatzbataillon mit zwei Depotcompagnien errichtet,
während in Deutschland die Bildung von Ersatzformationen erst mit dem Aus bruch deS Krieges beginnt.
* ’ Was beider französischen Armee noch unvollendet scheint, ist die Bewaff nung.
Mit der Artillerie allerdings soll man nahezu fertig sein.
Im December
1874 kam durch die Indiscretion französischer Blätter ein Schreiben des KriegsMinisters an den Obersten Reffye, den Erfinder des neuen Geschützes, zu Tage,
worin der Minister demselben lebhaften Dank abstattete, weil eS durch ihn möglich^geworden sei, daS Artilleriematerial bis zum Frühjahr 1875 fertig zu stellen. Anders steht eS offenbar mit dem neuen Jnfanteriegewehr.
Im März d. I.
brachte ein süddeutsches Organ detaillirte Nachrichten über die Reise einer franzö-
fischen Militaireommission und ihre Absicht, einen Vertrag auf Lieferung vM 1 Million neuer Gewehre mit einer großen Waffenfabrik in Steiermark abMfchließen.
Die Nachricht wurde von der hiesigen officiösen Presse ausgenommen
und blieb unseres Wissens unwidersprochen.
Wie weit Frankreich mit seinen
aptirtett Chaffepots, wovon es selbst nach der obigen Notiz nur eine halbe Million jährlich habe Herstellen können, heute gedichen ist, haben wir mit deu Hülfsmitteln unsrer Militärliteratur nicht herausbringen können. Man scheint anzunehmen, daß mit dem nächsten Jahr die ganze Feldarmee im Besitz deS
neuen Gewehrs sein werde. Wer sich ein Urtheil über die Bedeutung des — nach der obigen DarleMNg — nunmehr durchgeführten CadresgesetzeS bilden will, dem empfehlen
wir dringend, doch selbst einen Blick in daS, durch den Buchhandel jetzt leicht zugängliche Gesetz sammt den angehängten Tableaux zu werfen. Er wird dann finden, daß bei den Linienregimentern der Bestand an Mannschaften mög^
lichst gering, der Bestand an Offieieren und Unterofficiren möglichst hoch ge
halten ist.
Eine französische Compagnie zählt
an Soldaten
int
Friedens
stande nur noch 66 Mann; die deutsche Compagnie zählt 119 Mann.
Kopfstärke
eines deutschen Bataillons
mit Ausschluß
die Kopfstärke eines
und Spielleute 491 Mann,
stande nur 264 Mann.
ist
Die
der Unteroffiziere
französischen im FiedenS-
In dieser Abschwächung kann das Bataillon seine
Aufgabe, eine Schule für die Ausbildung der neu eintretenden Recruten zu sein, nur sehr schwer erfüllen; manche Zweige des Dienstes, besonders die Feld
übungen sind kaum noch auszuführen.
Die französischen Militärs sehen diese
Mängel so gut ein, wie die deutschen; warum haben sie gleichwohl die Mann
schaft eines Regiments statt in drei in vier Theile zerlegt, und dadurch jene Schwächung herbeigeführt?
Weil ihnen weniger an der guten Ausbildung der
jetzt noch eintretenden Recruten, als an dem Besitz einer möglichst großen Zahl
Don CadreS — Offieieren und Unterofficieren — liegt, in welche sie die Maffen kxiegSgeübter Soldaten, die ihnen in Folge der colossalen Aushebungen von 1870 und 1871 zu Gebote stehen, einreihen können.
Denn es ist kein Zweifel,
daß sie die Kriegsstärke des Bataillons auf die höchste zulässige Zahl von 1000 Mann bringen wollen.
Darum ist im Friedensstand das französische
Regiment an Mannschaft viel kleiner als das deutsche; aber während dieses nur
57 Offieiere und 172 Unterofficiere zählt, steigt in jenem die Zahl der Ofßciere
auf 73, die der Unterofficiere auf 252. Eine solche Organisation mit sehr starken
Politische Eotttspöttdönz.
688
Cadres und sehr schwacher Mannschaft würde die französische Militärverwaltung
als dauernde Einrichtung niemals schaffen, als Maßregel ad hoc aber, deren Schaden man ein oder zwei Jahre erträgt, um sofort die festen Rahmen für die Einfügung aller waffengeübten Männer bereit zu haben, ist sie zweckmäßig
und wohl ersonnen. — Die Hauptursache unserer Beunruhigung ist also unverändert — zu diesem Ergebniß gelangen wir, wenn wir unsern Verstand und nicht unsere Wünsche fragen.
War nun die deutsche Regierung nicht im Recht, in diesem Frühjahr die Mächte auf die unverkennbare Absicht der Franzosen hinzuweisen?
Wäre sie
nicht im Recht gewesen, wenn sie vor den befreundeten Mächten hinzugefügt
hätte, wolle der Gegner einmal schlagen, so werde sie nicht warten bis ihm
Zeit und Umstände am gelegensten schienen; — wenn sie erklärt hätte, ohne
eine beträchtliche Reduction der französischen Armee werde der Friede nicht ge sichert sein?
Lord Derby hat im englischen Oberhaus — nach dem glaubwür
digen telegraphischen Bericht — am 31. Mai versichert, daß der deutsche Bot schafter sich wiederholt in diesem Sinne ausgesprochen habe.
Der englische Mi
nister mag die Situation zu schwarz gemalt haben, um seine mit höflichem Dank
zurückgewiesene FriedenSmediatiön zu illustriren. doch nicht fälschen.
Aber jene Thatsache konnte er
Und wenn sie richtig war, so folgte daraus noch keineswegs,
daß man in Berlin zum Krieg schon entschloffen war, daß man die Umstände hier schon so dringlich hielt, um in Paris die Entwaffnungsfrage zu stellen. Man konnte zunächst nur die Absicht haben, zur Rechtfertigung für die Zukunft
das Ausland auf den wirklichen Quell aller Unsicherheit hinzuweisen, indirect
auf Frankreich zu wirken, oder die Stellung zu prüfen, welche die verschiedenen Mächte den gerechtfertigten Sorgen Deutschlands gegenüber einnehmen würden.
Da scheint nun durch die Zwischenaction „von Persönlichkeiten vom höchsten An sehen," wie Lord Derby sich ausdrückte, die Vorstellung in London erzeugt zu sein, als ob der Krieg Beschlossene Sache sei; und man scheint jener Vorstellung von dort
auS auch nach Petersburg hin den Weg gebahnt zu haben.
In Folge davon
erhob sich Anfang Mai in der englisch-französischen Preffe daS tobende Geschrei, daß wir unter nichtigem Borwand, wie der Wolf das Lamm^ Frankreich über fallen, es zerstückeln, vernichten wollten.
Man spielte in Paris die Rolle des
unschuldigen Opfers recht gut, und in London that man so, als glaube man daran.
Jetzt wurde unsere sorgenvolle Achtsamkeit zur wilden Beutegier, unser
berechtigtes Mißtrauen zum frivolen Borwand.
Natürlich wußten diese unver
schämten Schreier ganz genau, daß in Wahrheit Deutschland den Frieden und Frankreich die Rache will, aber das hinderte sie nicht von uns Stillhallen zu
verlangen, bis unser Gegner die Stunde der Rache für gekommen erachte.
Der
Choc der brutalsten Angriffe die nun folgten und deren reeller Hintergrund die
Eifersucht über die deutschen Erfolge und das Mißtrauen über das russische Bündniß ist, — machte einen solchen Eindruck auf unsere offici'öse Preffe, daß sie sich völlig auf den Kopf stellte.
Jetzt plötzlich sollte gar nichts vorgefallen
sein; den ganzen Lärm habe die Presse verschuldet, Ultramontane und Baissiers
von der Börse wurden als Uebelthäter zu Hülfe genommen; seit 1870, so hieß es am 12. Mai, sei der Berkehr mit der französischen Regierung amtlich nie freundlicher und zufriedenstellender gewesen, als in den letzten Wochen. Durch solche Erklärungen wurde auch unser deutsches Publicum gereizt. So viel Schrecken, so viel Unsicherheit für Industrie und Handel, so viel Verluste an der Börse und alles um bloßes ZeitungSgerede l Warum sei man dem nicht früher entgegengetreten, warum habe das Regierungsblatt am 10. April selbst den beunruhigenden Charakter des französischen Cadresgesetzes fignalisirt! Der schmähsüchtige Theil der Journalisten heuchelte sittliche Entrüstung gegen die Blätter, welche im April die Verhältniffe ernst aufgefaßt hatten*). Später kam dann durch die freilich auch gefärbten Enthüllungen im englischen Parlament heraus, daß ihr Auge doch wohl das schärfere gewesen war. Aber nun entstand der Eindruck, als ob man in Berlin eine durchkreuzte Absicht zu verhüllen ge habt habe, und die Gesammtwirkung war übler, als hätte man die Continuität mit der Aeußerung vom 10. April stets festgehalten, und nur die übertriebenen Folgerungen abgewehrt. Die schroffen Uebergänge von schwarz zu weiß haben daS Publicum nur verwirrt und erbittert. Es weiß zwar, daß eine Regierung ihm nicht Alles sagen kann, aber es verlangt, daß was officiös gesagt wird, ohne Widersprüche sei. „Alle ehrlichen Leute in der Welt, — so stand in unserm Bericht vom April — müssen uns bezeugen, daß wir den Krieg mit Frankreich heute so wenig suchen, als 1870. Wir würden in Verlegenheit sein, welchen Preis wir nach einem zweiten glücklichen Feldzug verlangen sollten. Aber die Hände in den Schooß legen, bis der Gegner marschirt, können wir unmöglich." Daß dieser selbstverständliche Satz im Ausland böswillig mißdeutet wurde, überraschte un- nicht, in Deutschland kam es uns unerwartet. Wir hatten zwei Bedin gungen für die Action hingestellt — nicht blos „das Anwachsen der französi*) In der Brest. Zt^. führte ein Berliner Leitartikelschreiber ein paar Wochen lang das heitere Thema auS: die Krists in Europa sei von den „Preußischen JahrHÜchern" angestiftet, waö um so „ruchloser" sei, als hinter dem ganzen ZeitungS-
lärm gar nichts stecke. Ausgangs Mai waren ihm endlich die Augen aufgegangen^ er sah ein, „daß wir uns in einer erheblichen Gefahr befanden";" aber, fügte er hinzu, dos haben wir immer gewußt und nur aus Furcht vor der Polizei nicht direct die Personen angegriffen', die wir eigentlich meinten und deren Empstndlichkeit gegen die Presse wir kennen. — Dies Signalement geht augenscheinlich auf den Reichskanzler; gleich wohl heißt es unmittelbar darauf, die „Preuß. Iahrb." hätten ausgesprochen, was eigentlich der Wunsch „eines Theils der Camarilla" war. Also Fürst Bismarck ein „Theil der Camarilla"! Selbstverständlich unter scheiden wir zwischen der Bresl. Ztg. und ihrem Mitarbeiter und glauben durchaus nicht, daß ein so geachtetes Blatt aus Furcht vor der Polizei die Unwahrheit gesagt habe. — DaS Erstaunlichste an Schmähungen leistete der freiconservative Herr Blankenburg in der „Schlesischen Zeitung." Als Stilproben mögen folgende Kraft wörter dienen: „niedere Dienste gegen die jedesmaligen momentanen Wünsche^ und Bedürfnisse der Diplomatie", „frevles Spiel mit der öffentlichen Meinung eines freien Landes", „Literaten der Antichambre" u. f. w. Herr Blankenburg erreicht in der Kunst, die Ansichten politischer Gegner zu entstellen und dieselben persönlich zu ver dächtigen, die begabtesten ultramontanen Blätter. UebrigenS diskutiren die „Preuß. Jahrbücher" nicht mit Leuten, welche schimpfen.
Politische Korrespondenz.
680
schm Armee", sondern auch „sich vorbereitende Allianzen".
Mr erläuterten
dies noch weiter durch das Beispiel Friedrichs des Großen, der zwar auch ^den Krieg lange vorausgesehen habe, aber doch nicht eher losgebrochen sei, „als bis das Netz der europäischen Verschwörung nicht mehr anders zu zerreißen wär."
Jeder klare Kopf wird uns die sittliche und patriotische Berechtigung dieses Ge dankens zugeben; denn nicht wer den Krieg beginnt, sondern wer ihn noth
wendig macht, ist der wirkliche Angreifer.
Aber zu den trügerischen Vor
stellungen, durch welche man die öffentliche Meinung zu verwirren sucht, gehören
auch die von einer preußischen Militär- oder Kulturkampfpartei, welche sich nach Krieg sehne.
In Preußen hat der avancementslustige Lieutenant auch , in
den schlimmsten Zeiten nicht über Krieg und Frieden entschieden, ebensowenig
der Major und selbst nicht der General.
Unsere Feldmarschälle und Heer
führer, die durch Kriege ohne Gleichen mit Lorbeeren überhäuft find, — wie könnten sie bei einiger merrschlicher Demuth in einem neuen Feldzug ein ebenso wunderbares, kaum durch einen Mißfall getrübtes Waffenglück erwarten? Aber auch eine Militärpartei in dem Sinne, daß nicht ihr persönlicher Ehrgeiz, sondern ihre technischen Erwägungen die letzte Entscheidung geben, existirt bei
uns nicht, sonst hätten wir im August 1866 unsere Armeen nach dem Rhein
marschiren lassen und im Frühjahr 1867 den Kampf wegen Luxemburg ausge nommen.
Die militärischen Beweggründe sind stets der staatsmännischen Wür
digung der gesummten politischen Situation untergeordnet gewesen, Wenigsteps so lange, als es sich nicht nachweisbar um die Existenz der Nation handelte.
Und die— Diversion im Kulturkampf, nach welcher der Reichskanzler sich an geblich sehnen soll, weil es mit der Unterwerfung der Schwarzen nicht rasch
genug gehe, oder die internationale Verständigung zwischen den europäischen
Mächten gegen das Papstthum nicht gelungen sei!
Wer hetzt und schürt denn
am meisten zum Krieg? — Doch wohl die Ultramontanen. Chancen des Erfolges für sie noch so zweifelhaft sind,
gensätze zum gewaltsamen Losbruch zu treiben. Standpunkt aus Recht.
Selbst wo die
suchen sie die
Und sie haben
von
Ge-^
ihrepb
Denn große und schwere Leiden der Völker steigern
mit dem religiösen Sinn zugleich den Wahnglauben und befestigen daher die Herrschaft des Priesterthums über die unverständige Maffe.
DaS Schwert
mag einige landsverrätherische Fäden zerschneiden, den inneren Kampf zwischen
dem souveränen Staat und der ultramontanen Kirche vermag eS nicht zu be enden.
Das kann nur in einem langsamen Prozeß durch die Wirkung unserer
Gesetze, unserer die Confessionen zusammenhaltenden bürgerlichen Einrichtun
gen und durch die allmählich fortschreitende vernünftige Schulbildung geschehen. Wir haben obenausgeführt, daß die wesentliche Ursache der europäischen Beunruhigung — die Rüstungen Frankreichs —- sich keineswegs zu Gunsten des Friedens geändert habe.
Aber diese militärischen Verhältnisse sind nur
die eine Seite der Situation, die andere liegt in den politischen Beziehungen der Ätächte. Und in dieser Hinsicht ist aus der letzten Krisis ein sehr erfreuliches
Ergebniß hervorgegangen.
Lord Derby hatte auch an das Wiener Kabinet die
Aufforderung gerichtet, die sogenannte „Friedensmediation" in Berlirt zu «Ger
Aber Graf Andraffy lehnte dieses Ansinnen ab und erwiderte dem
stützen.
englischen Kabinet, daß er keinen Anlaß sehe, Deutschland eine friedenSstLrende Tendenz z« insinuiren, zunial er von dem Fürsten BiSmarck officiell« Zusicherun
gen über die gemäßigten Dispositionen der Deutschen Regierung habe.
Stuf die
spätere Mittheilung Lord Derby'S, er müsse nach den ihm von Berlin a«S zuge
gangenen Aufklärungen den Frieden als gesichert betrachten, antwortete Andraffy: „daS
britische Kabinet habe nur
eine Ueberzeugung gewonnen,
in
deren
Besitz man sich in Wien schon vor dem Beginn der diplomatischen Thätigkeit
England- befunden habe".
Die Bemühungen Englands, Oesterreich von dem
Dreikaiserbund abzuziehen, scheiterten also; Andraffy wieS die Theilnahme an einer zwischen Deutschland und Frankreich sich in die Mitte stellende», sogenann ten FrikdenSligua ab und beharrte entschieden auf der Seite deS deutschen Alliirten.
Md daß der Leiter der österreichisch-ungarische» Monarchie mit diese» Gesin
nungen auch bei seinem Monarchen festen Boden hat, dafür ist der Besuch, den Erzherzog Albrecht dem deutschen Kaiser in EmS abstatten wird, ein vielsagender Beweis. — Die völlig unverminderte Fortdauer der freundschaftlichen Gesinnun
gen deS russischen Czaren zu Kaiser Wilhelm und zn Deutschland hat selbst die englische Presse nicht anzweifeln können.
Weder der Nachricht, daß Fürst Gort-
schakoff ein gemeinschaftliches FriedenScircular von dem Fürsten BiSmarck ver langt habe, noch dem beruhigenden Telegramm an die Gesandten, welches der russische Kanzler für zweckmäßig hielt, hat man eine solche Deutung z« geben gewagt.
Man weiß, daß der Czar unser bester Freund, für die Intriguen unserer
Gegner unzugänglich «nd über die Absichten Frankreichs schwerlich im Un klaren ist.
So im Rücken gedeckt durch eine in guten und üblen Tage» znverläsfige Allianz, und in der Wanke gesichert durch eine loyale Politik, die der entgegen
gesetzten Strömungen offenbar jetzt mehr Herr ist, als wir vor zwei Mo naten annahmen, könne» wir allerdings den Fortgang der französischen Rüstungen mit größerer Ruhe beobachten.
Vielleicht, daß plötzliche Ereigniffe dem Gedanken
kreis des französischen Volkes eine andere Richtung geben. Vielleicht, daß die allgemeine« Wahlen eine veränderte Lage schaffen, daß die bestehende Ordnung
einmal wieder umgestürzt wird, — kurz daß irgend etwa- geschieht, was die Energie, mit welcher die Revanche vorbereitet wird, lähmt «nd den Frieden
verlängert, dessen Erhaltung ganz Deutschland ersehnt. — Wir schließen unsere Uebersicht in dem Augenblick, wo die parlamentarische Thätigkeit deS preußischen Landtags zwar ihrem Abschluß entgegen geht, aber
daS Schicksal der wichtigsten Vorlagen noch in den Händen deS Herrenhauses
liegt.
Eben deshalb mag der Rückblick auf jene angestrengte Thätigkeit und die
Darstellung der Kämpfe und Gegensätze, welche die Berathung der Provinzial-
ordnung wachrief, dem nächsten Heft vorbehalten bleiben.
Preußische äahrbücher. Bt. XXXV. Hest S.
W.
47
Notizen. Ws Ranke in seiner englischen Geschichte gewisse auf Macaulay zurück-
gehende Lieblingsvorstellungen des Liberalismus bekämpfte, hatte ein deutscher
Kritiker die Dreistigkeit, ihn der royalistischen GeschichtSmacherei zu beschuldigen. Wenn der gesinnungstüchtige Parlamentarier noch unter den Lebenden wellt
und das neueste Werk seines Gegners liest, so wird er ihm wohl das damals angethane Unrecht hundertmal abbitten. ES giebt mehr als ein Werk von Ranke,
welches die Abhandlung
„Ursprung und Beginn der Revolutions
kriege 1791 und 1792" an Tiefe der Auffaffung und Schönheit der Dar stellung übertrifft; vom ethischen Standpunkt aus betrachtet, steht sie vielleicht
am höchsten.
Wer die persönlichen Ansichten deS Verfassers kennt, wird hier
eine Selbstüberwindung geübt finden, welche glücklicherweise in unsrer ehrlichen
und gewiffenhaften Historiographie nicht zu den Seltenheiten gehört; wie oft
wird der Deutsche nur a«S Liebe zur Gerechtigkeit ungerecht.
Die Entwickelung deS historischen Urteils über de» Krieg gegen die franzöflfche Revolution ist bekannt.
Die französische Anschauung, »ach welcher die
Mächte deS feudalen Europa das konstitutionelle Frankreich ruchloS überfallen
hätten, beherrschte die gesammte Litteratur ein halbes Jahrhundert, lang, bis H. v. Sybel in seinem klassischen Werke über die RevolutionsM den Nachweis lieferte, daß der Krieg von langer Hand durch die Gironde zur Verwirklichung ihres radikalen Programms vorbereitet war; das auswärtige Unternehmen stellt« sich als Theil eines wohldurchdachten Systemes specifisch französischer Politik dar.
Wen überraschte eS nicht, daß Ranke der alten, französischen Auffassung wieder einen Schritt entgegen kommt, indem er vor allem der Königin Marie Antoinette
einen wesentlichen Antheil an dem Ausbruch deS Krieges zuschreibt.
Er.thut
dies auf Grund von Briefen, die ein vorsichtiger Forscher bis jetzt bei Seite lassen mußte, weil sie in den echtes und unechtes mischenden Sammlungen von Hunolstein und Feuillet de ConcheS enthalten waren; Ranke hat sie aber selbst
in der Zeit, wo die französischen Archive deutschen Forschern noch nicht ver schlossen waren, im Original gesehen und benutzt, wir habe» eS also so zu sagen
mit neuem Material zu thun. Hiernach darf man allerdings nicht mehr behaupten,
Marie Antoinette habe die Abneigung ihres Bruders gegen fremde Einmischung getheilt.
AuS den entscheidenden Sommermonaten 1791, wo eS sich um An-
nehmen oder Ablehnen der Konstitution handelte, liegt ein Brief vor, in dem die Königin letztere nicht nur „monströs" nennt und ihr eine lange Lebensdauer in der schärfsten Weise abspricht; sie erklärt auch mit dürren Worten: „nur die
fremden Mächte können uns retten", sie hofft auf ein Manifest derselben, das von einer starken Streitkraft unterstützt wäre (Feuillet de Conches 2, 223. 224).
Trotzdem ist sie dafür, daß ihr Gemahl die Verfassung annimmt, doch nur mit
dem Vorbehalt starker und wesentlicher nachträglicher Aenderungen.
Sehr bald
nachdem der Eid geleistet, kehren ihre Klagen und Bitten wieder: die europäischen Mächte sollten sich nicht nur durch friedliche Erklärungen der Sache deS Königs annehmen, welche die Sache aller Souveräne^sei, sondern durch eine thatkräftige
Dazwischenkunft. dieser Frau.
Ranke geht so weit zu sagen, es sei etwas Dämonische- in
„Sie will das Scepter in seiner vollen Autorität nicht bloS wieder
herstellen, sondern nach allen Seiten erst wahrhaft fixiren.
So hoffte sie es
ihrem Sohne, in dem das Blut ihrer Ahnen rolle, der sich als ein wilrdigex Enkel Maria Theresias au-weisen werde, zu übertragen.
Zugleich fleht sie alle
persönlichen Gefahren, die fle dann wirklich betroffen haben, im Voraus kommen^ Schon in diesem Augenblicke fühlt sie die Bedrängnisse, in denen sie ist, die
Beleidigungen, die sie erfährt, wie einen moralischen Tod, mit dessen Quecken der physische nicht zu vergleichen sei.
ES entspricht ihrer persönlichen Stellung;
daß sie die Wiederaufrichtung der monarchischen Gewalt und selbst die Kon-
servation der Königlichen Familie zwar von der Anhänglichkeit eines Theile- der Franzosen, aber noch mehr von der Einwirkung der auswärtigen Mächte w?
wartet.
Sie macht sich jedoch keine Illusion darüber, daß sich gegen diese im
Schooße der Nation ein Widerstand von einer Energie und Ausdehnung vor
bereite, von der man noch nie gehört habe.
Dieselbe Gewalt, die da- König
thum uuterdMcke, werde den europäischm Mächten den Krieg erklären.
Ebert
um dieser Gefahr zuvorzukommen, fordert sie ihren Bruder auf, im Verein mit den übrigen europäischen Mächten König Ludwig XVI. durch einen Kongreß zu unterstützen und ihm die Freiheit der Action wiederzugeben, durch welche
allein auch die große europäische Gefahr abgewendet werden würde."
Ein ander Mal, wo von der Annahme der Verfassung die Rede ist, sagt
Ranke im Hinblicke auf die Berbesserungspläne des Königspaars: „Eine Con stitution halten ist schwer: sie halten und zugleich verbessern, fast unmöglich?" ES ist die alte, seitdem eS Charten giebt, immer wieder ventilirte Frage Äer
die Verpflichtung des BerfaffungseideS und die Unabänderlichkeit der Constitution selbst.
Die modernen Verfassungen enthalten alle einen Paragraph über die
Möglichkeit einer gesetzlichen Aenderung, er allein macht einem ehrlichen, nicht an menschliche Unfehlbarkeit glaubenden Manne den Eid auf das Grundgesetz
möglich; offenbar ist hiermit aber die Streitfrage nicht gelöst.
Denn zu einem
lusren Spiele würde der Eid, welcher mit dem stillen Vorbehalt geschworen
würde, Paragraph für Paragraph zu ändern.
So etwa hat die ältere franzö-
Notizen.
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fische Geschichtschreibung ben Schwur Ludwig XVI. angesehen, in völliger Ber
kennung aller Thatsachen, wie Sybel gezeigt hat und Ranke von neuem bestätigt. Höchst energisch äußert sich Marie Antoinette allerorten gegen die Emigranten und ihre Ideale, eine Erneuerung etwa der alten Autorität der Parlamente und
der alten Generalstände wäre ihr geradezu widerwärtig gewesen, denn sehr wohl empfand sie die darin liegende Einschränkung der königlichen Gewalt.
Deshalb
war sie früher für die Verdoppelung des dritten Standes gewesen; wesentliche Theile der neuen Verfaffung, und gerade solche, die den Emigranten am meisten
verhaßt waren, wollte sie und ihr Gemahl so ehrlich halten, wie nur irgend ein Musterkonstitutioneller.
Ebenso unbestritten bleibt ein andres Resultat deutscher Forschung.
Aller
dings geht Ranke dem französischen KönigSpaar scharf zu Leibe, namentlich
Ludwig XVI., für den er sehr geringe Sympathien bekundet.
Er wirft ihm
einen Mangel an Voraussicht vor, der fast unbegreiflich sei; nicht ohne Gefühl für die Würde der Krone, habe er doch in den Mitteln geschwankt sie aufrecht zu erhalten; eS sei ein Grundzug seine- Charakters gewesen, daß er hartnäckig
an dem Einen festhielt und dann doch auf das rascheste sich zu dem Gegentheil entschloß.
Ranke betont weiter, daß erst nach dem mißglückten Fluchtversuch
deS König- die bis dahin noch immer niedergehaltenen republikanischen Elemente
emporgekommen seien; er stellt daS Rundschreiben von Padua und die Zusammen
kunft in Pillnitz nicht ganz so unverfänglich dar, wie seine deutschen Vorgänger, er constatirt namentlich auS einem bisher unbekannten Dokument, daß denn doch schon in Pillnitz die Kriegsbereitschaft der beiden deutschen Mächte beschlossen gewesen ist, allerdings ohne daß die That dem Worte auf dem Fuße nachgefolgt wäre.
Er kann eS nicht harmlos finden, wenn die Emigranten auf deutschem
Boden zu feindlichen Demonstrationen schritten; er nennt den Erlaß deS Fürsten
Kaunitz vom 17. Februar 1792 heftig und geeignet, den Streit der französischen Parteien zu vollen Flammen anzufachen, er sagt sogar: „Ohne Zweifel lag in
der Depesche ein Versuch, in die inneren Angelegenheiten von Frankreich über
haupt einzugreifen: ein Versuch der jede Nation, keine aber mehr als die fran zösische aufregen mußte."
Die Errichtung gleichsam eines obersten Tribunals
über die ftanzösischen Angelegenheiten dünkt ihm ein Widerspruch gegen den ganzen Lauf der europäischen Geschichte in den letzten Jahrhunderten.
Welchen Eindruck werden diese Erklärungen in Frankreich machen!
Er
wird um so größer sein, da man sicherlich andere Stellen deS BucheS übersehen
oddr todtschweigen wird.
Ranke hält, wie Sybel, daran fest, daß die Absicht
der Jakobiner darauf gerichtet war, den Krieg zum AuSbruch zu bringen; eS habe in ihnen der Impuls gelebt, „welcher nach der Macht strebt und ihren
Besitz vor Augen sieht."
Erst die bestimmte Kunde von dem bevorstehenden
Angriff der Franzosen und dann dieser Angriff selbst habe die beiden deutschen Mächte veranlaßt, zu den Waffen zu greifen.
„Mit Unrecht — heißt eS an
einer anderen Stelle — würde man die Excesse der Revolution von dem Angriff,
der ihr drohte, Herkerten: dieser selbst war in allen seinen Stadien eine Fnlge der revolutionären Handlungen." Manchem Leser wird eS bei diesen Stellen so ergangey .sein wie uns, er wird eine ausreichende Motivirung derselben in dem Ranke'schen Buche vermißt haben. Ein Mangel, der mit der Eigenthümlichkeit der späteren Werke unsres großen Historikers eng zusammenhängt. Sie verweilen längere Zeit nur bei den Ereignissen, über welche der Autor neues Material vorzulegen vermag; so ist eS gekommen, daß die einseitige Aufhebung der den deutschen Fürsten in Elsaß-Lothringen völkerrechtlich vorbehaltenen Rechte verhältnißmäßig kurz abge than wird, und doch wurde, wie Ranke selber zugiebt, durch diese Gewaltmaßregel der Rational-Bersammlung zuerst daS staatsrechtliche Verhältniß erschüttert, auf welchem der Friede mit Deutschland beruhte. Sodann aber, waS noch wich tiger, immer mehr hat sich Ranke's Darstellung auf einen engen KreiS hoher und höchster Persönlichkeiten beschränkt; jene wundervollen Schilderungen volkSthümkicher Bewegungen, welche noch einen Haüptschmuck der „deutschen Geschichte" bildeten, fehlen in 'seinen neueren Schriften so gut wie völlig. Nirgends offen* bar zu größerem Schaden des Ganzen als hier, wo eS sich um den gewaltigsten Erfolg handelt, den die populären Kräfte jemals errungen haben. Der Verfasser erkennt sie in ihrer Bedeutung an, indem er ihnen aber in seiner Erzählung einen geringen Raum gönnt, tritt nothwendig auch ihre Verschuldung an dem AuSbruch des Krieges weiter zurück als es den thatsächlichen Verhältnissen ent spricht. Einem Halbeingeweihten können sie hier beinahe unschuldig erscheinen, und daS waren sie doch wahrlich nicht. Sie hatten stärkere und bessere Vor wände, als man bisher anzunehmen geneigt war, sie hätten den Krieg aber auch begonnen ohne jeden Borwand. M. L.
AuS den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marien burg Theodor von Schön: so lautet der Titel eines der merkwürdigsten Bücher, welche die letzte Saison auf den Markt gebracht hat. Ob eS mehr Hoffnungen erweckt oder enttäuscht hat, bleibe dahingestellt. Der Herausgeber, ein Sohn deS Ministers, hat, wie er in der Vorrede andeutet, vergeblich ver sucht, einige namhafte Schriftsteller für die Bearbeitung zu gewinnen, und end lich selber die Arbeit übernommen — getrieben durch eine achtungSwerthe Pietät, aber leider ohne die gelehrte Ausrüstung, welche die Aufgabe verlangt. Jene Vorrede ist eigentlich daS einzige, waS er in dem vorliegenden Bande von 350 Seiten fein eigen nennen kann, alles übrige find Memoiren und Briese, die noch dazu mit sehr geringem Geschick aneinander gereiht find. Die Sammlung wird eröffnet durch die Selbstbiographie deS alten Schön, dann folgen, in besondrer, die Benutzung unnöthig erschwerender Paginirung „An lagen", welche angeblich die Biographie erläutern sollen, obwohl sie theilweise
Notizen.
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üuS einer Zeit stammen, die dort gar nicht mehr behandelt ist.
Mitten in die
Memoiren wird ein langer Brief und in diesen wieder ein kürzerer eingescho ben (S. 84. 89).
Die Wiedergabe des Textes erfolgt im engsten Anschluß
an die Originale,
sogar auf Kosten des Verständnisses, wie z. B. S. 67,
wo
ein
völlig
unverständlicher
Satz
ohne
jede
Aenderung
und
Erläute
rung wiedergegeben ist; S. 60 der Anlagen war durch ein Semikolon Sinn in den Unsinn zu bringen, man mußte aber wissen, daß eS zwei Offiziere des Namens Schöler in der preußischen Armee gab.
Die Erklärungen beschränken fich
auf einige werthlose Auszüge aus SchönS Stammbuch, auf ein Excerpt aus E. M. Arndt, auf die deutsche Uebersetzung eines frauzöfischen Briefes von FranciS Jver-
nois, auf einige Noten zu den Namen derer, mit welchen Schön korrespondirte. Doch
auch in diesem wenigen zeigt der Herausgeber seine Unkenntniß, so weiß er nicht, wer AlopeuS ist und daß Friedrich v. Raumer mit Schön in brieflichem Verkehr stand (Anlagen S. 88. 161).
Bei Gelegenheit des Durchzuges von 1812 heißt es in
den Memoiren: „Dem Davoust'schen Corps muß, als eö 70,000 Mann stark
in und um Gumbinnen stand, noch viel an der 14 tägigen Verpflegung gefehlt haben" u. s. w.; dem Herausgeber erscheint die Stelle wichtig und schwierig genug, um in einer Note zu den 70,000 folgenden Kommentar zu geben: „Clausewitz hinterlassene Werke 7. Band zweite Auflage S. 40. 2 giebt sogar
72,000 Mann an."
Ein ander Mal redet Schön von einem Aufsatze, den er
bei seiner Anwesenheit in Berlin 1810 dem StaatSkanzler gegeben habe: „wovon
Jeder
— fährt er fort — däS erste Gesetz der Gesetzsammlung die Folge ist."
Subalternbeamte würde wissen, daß die 1810 begonnene Sammlung der preu
ßischem Gesetze gemeint ist; der Herausgeber macht die gelehrte Note: „Durch KabinetS-Ordre vom 30. October 1802 war Schön zum Mitglieds der Gesetz-
Commisston ernannt"! Ob eines seiner Dokumente, wie z. B. der sehr bekannte Brief an Schlosser
über
den
ostpreußischen
Landtag,
bereits
veröffentlicht
wenig; er sendet sie alle als Inedita in die Welt.
ist,
kümmert
ihn
Natürlich bleibt auch die
in den Jahrbüchern (Band 31) veröffentlichte Untersuchung von O. Mejer
unerwähnt und unbenutzt; ebenso das charakteristische Urtheil Friedrich Wil helm III. über Schön (F. v. Raumer Lebenserinnerungen 1, 133).
Dafür
hält der Herausgeber mit Schriftstücken, die zur Erläuterung der Memoiren beitragen würden,
zurück.
So fügt er zu
der Erzählung
des auch
von
E. M. Arndt erwähnten Barnekow'schen Falles die kühle Notiz hinzu: „Die ge naueren Angaben darüber, mit den Namen, sind in den Memoiren verzeichnet" ;
welche Memoiren dies sind, warum sie nicht herbeigezogen wurden, darüber ver liert er kein Wort.
Eine seiner Hauptaufgaben findet er darin, Personennamen,
deren Erwähnung ihm anstößig schien, zu verschleiern, er macht die- aber so ungeschickt, daß jeder nur halbwegs Kundige ungenirt über seine Hieroglyphen
fortliest.
Jnitialien dagegen, die er vorfand, überläßt er dem Leser zur geneigten
Auflösung. Wer wird nach diesen Proben erwarten, daß er auch nur die elementarsten
Notizen.
697,
Grundsätze der historischen Kritik in Anwendung zu bringen vermöchte? RathloS steht er der Aufgabe gegenüber, den Zeitpunkt der Abfassung der „Selbstbiographie" festzustellen, obwohl doch schon die Erwähnung der Schrift von Friccius „Zur Geschichte der Errichtung der Landwehr" einen sichern Anhalt gewährte. Vollends die nicht eben seltene» Irrthümer seines Vaters zu er kennen war er ganz außer Stande. Diese Bersänmniß nachzuholen bleibt einer besonderen Untersuchung Vorbehalten. M. L.
Veranlwortlichcr Rcdactcur: Dr. W. Wehrenpfennig.
Druck und Verlag von Georg Reimer in Berlin.