Theologia Viatorum: Band 2 1950 [Reprint 2020 ed.] 9783110833980, 9783110031577


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German Pages 253 [260] Year 1950

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Inhaltsverzeichnis
Bischof D. Dr. Otto Dibelius
Wandlungen der Gemeindeauffassung in Israel und Juda
Die „Oikumene" im Neuen Testament
Kirche und öffentliches Leben im Urteil der lutherischen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts
Herman Dalton (1833 — 1913) in ökumenischer Sicht
Die Überwindung des anglikanischen Kirchenbegriffs im ökumenischen Raum des zwanzigsten Jahrhunderts
Die Gerechtigkeit Gottes und die Faktizität des unschuldigen Leidens in der Geschichte
Die Christusbotschaft und das Recht
Zur Logik des Logos
Oekumenischer Dienst in der Missionswissenschaft
Fragmente zur Frage des Wunders
Vergils „messianisches" Gedicht
Zu Apostelgeschichte 18,5
Jacob Burckhardt
Gedanken zu Reinhold Quaatz, Fragmente zur Frage der Gemeinschaft
Jahresbericht des Rektors
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Theologia Viatorum: Band 2 1950 [Reprint 2020 ed.]
 9783110833980, 9783110031577

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THEOLOGIA VIATORUM Ii Jahrbuch der

Kirchlichen

Hochschule

Berlin

1950

Herausgegeben im Auftrage

des

Dozentenkollegiums von

Lac. Dr. W a l t e r D e l i u s Professor

WALTER DE G R U Y T E R & CO. / B E R L I N vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung - J. G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung - G e o r g Reimer - Karl J . T r ü b n e r - Veit & Comp.

Archiv-Nr. 3216 50 Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 3 5

Inhaltsverzeichnis U H

K u r t S c h a r f , Bischof D. Dr. Otto Dibelius F r i t z M a a ß , Wandlungen der Gemeindeauffassung in Israel und Juda

3 . .

M e i n h a r d P a e s l a c k , Die „Oikumene" im Neuen Testament

16 33

M a r t i n S c h m i d t , Kirche und öffentliches Leben im Urteil der lutherischen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts W a l t e r D e l i u s , Herman Dalton (1833—1913) in ökumenischer Sicht

48 . .

72

| ü r g e n W i n t e r h a g e r , Die Überwindung des anglikanischen Kirchenbegriffs im ökumenischen Raum des zwanzigsten Jahrhunderts 81 H e i n r i c h V o g e l , Die Gerechtigkeit Gottes und die Faktizität des unschuldigen Leidens in der Geschichte 1x5 Günther Härder,

Die Christusbotschaft und das Recht

E r w i n R e i s n e r , Zur Logik des Logos S i e g f r i e d K n a k , ökumenischer Dienst in der Missions Wissenschaft

126 143 . . . 156

R. G. Q u a a t z , Fragmente zur Frage des Wunders

175

H i l d e b r e c h t H o r n m e l , Vergils ,.messianisches" Gedicht

182

E r i c h H e n s c h e l , Zur Apostelgeschichte 18,5

2x3

K a r l K u p i s c h , Jacob Burckhardt

216

Gedanken zu R e i n h o l d

Q u a a t z , Fragmente zur Frage der Gemeinschaft 232

W a l t e r D e l i u s , Jahresbericht des Rektors

240

Hochverihrter Herr Bischof! Die Dozentenschaft der Kirchlichen Hochschule Berlin erlaubt sich, Ihnen dieses Jahrbuch zu Ihrem 70. Geburtstag zu überreichen. Wir grüßen in Ihnen den Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, der in seiner Person die Einheit der Evangelischen Kirche Deutschlands, durch keineZonengrenzen getrennt, deutlich werden läßt. Wir grüßen in Ihnen den Bischof von Berlin-Brandenburg, der einst als Generalsuperintendent der Kurmark und Mitglied des Bruderrates der Bekennenden Kirche Altpreußens und Brandenburgs mit Entschiedenheit die Sache des Evangeliums vertreten hat und jetzt die Verantwortung dieser Kirche mit Gottes Hilfe tragen darf. Wir grüßen in Ihnen den Ehrenpräsidenten der Kirchlichen Hochschule, den Freund und Förderer ihrer Arbeit für die Kirchen der Ostzone Deutschlands, der durch seine Geschichte des Wittenberger Predigerseminars und durch sein reiches praktisch-theologisches Schrifttum wesentliche Aufgaben einer kirchlichen Pfarrerausbildung an seinem Teile erfüllt hat. Die Beiträge dieses Jahrbuches sollen nicht nur Zeugnis von der Forschungsarbeit der Kirchlichen Hochschule ablegen, sondern auch in ihrer Thematik versuchen, eine Verbindung zu den vielfältigen Aufgaben Ihres hohen Amtes herzustellen. Martin Albertz Walter Augustat Ernst-Viktor Benn Herbert Braun Fritz Dehn Walter Delius Otto Dilschneider Otto Dudzus Martin Fischer Gerhard Giese Günther Härder Erich Henschel Hildebrecht Hommel Ernst Jahn Sergius v. Kissel Siegfried Knak Harald Kruska Karl Kupisch Hans Lokies Fritz Maaß Meinhard Paeslack Reinhold Quaatz Eitel-Fritz v. Rabenau Konrad v. Rabenau Erwin Reisner Leonhardt Rost Joachim Reiter Martin Schmidt Wulf Thiel Friedrich Smend Heinrich Vogel Theodor Wenzel Klaus Westermann Jürgen Winterhager Johannes Wolff 1

Theologia Vutorum II

1

Bischof D. Dr. Otto Dibelius Kurt Scharf Das Wort Jesu, das seinen Jüngern das Richten verbietet, nimmt der christlichen Gemeinde beide Möglichkeiten: nicht nur die, über einen anderen Menschen ein absprechendes Urteil zu fällen, ein verwerfendes Gesamturteil über eine Person oder ein Werk, sondern auch die, einen Menschen zu preisen, ein abschließendes anerkennendes Urteil von seinem Lebenswerk und seiner Persönlichkeit auszusagen. Wo Menschen über Menschen das eine oder das andere wagen, greifen sie dem Weltenrichter vor; sie vergehen sich überheblich an Gottes Vorrecht; sie verletzen aber auch die Schranke, die sie vom Mitbruder trennt. In der Geschichte vom Kämmerer aus dem Mohrenlande im 8. Kapitel der Apostelgeschichte steht das schwer verständliche Zitat aus dem Propheten Jesajas (Kap. 53): „Wer aber wird seines Lebens Länge ausreden?" Das griechische Wort des neutestamentlichen Urtextes scheint mir eben dies zu bedeuten, was ich zuvor das Lebenswerk und die Persönlichkeit genannt habe. „Wer kann es wagen, sein Charakterbild zu beschreiben und seine Lebensleistung zu schildern ?" Sein, das heißt hier: des Menschensohnes Art und Werk ? Aber nicht darum nur, weil er der einzige, der menschlichem Verstehen unerreichbare Sohn des Höchsten ist, sondern auch darum — das will doch wohl der Zusammenhang des Textes, der von seiner Niedrigkeit redet, zugleich darlegen ? —, weil er überhaupt Mensch ist; er ist ja gerade der Mensch ganz unten in seiner letzten Verlorenheit. Wer das Wesen und die Taten eines Menschen mit seinem Urteil zu durchdringen sich bemüht, vergeht sich an ihm, verletzt das Geheimnis Gottes, das der Schöpfer über jedes seiner Geschöpfe gelegt hat, zumal über den Menschen. Urteilen bedeutet einordnen, bedeutet sibi subicere (etwas sich unterwerfen), beherrschen und gebrauchen wollen. Du machst den anderen zu einer Sache, zu einem Teil deines Besitzes, wenn du so mit ihm verfährst; du überhebst dich damit ihm gegenüber und gegenüber Gott, dem allein er gehört. 3

Eben dies scheint mir der Grund dafür zu sein, daß die Heilige Schrift Gesamtwürdigungen von Menschen nicht kennt, lobende nicht und auch tadelnde nicht, lobende weniger noch als tadelnde. Ich sage dies trotz der summarischen Urteile der Königsbücher und der Bücher der Chronik über die Regentenzeiten der Herrscher in Israel und in Juda und trotz etwa des beispielhaften Gebrauches, den der Hebräerbrief vom Lebenswerk der großen Gottesmänner des Alten Bundes macht. Böse Taten werden böse genannt, und fromme Taten werden um des Vorbildes willen weiterberichtet; aber keiner unter den Richtern, Königen und Propheten wird in der Art eines Enkomions gewürdigt, und auch keiner unter den Gegenspielern Gottes in Menschengestalt wird ausführlich und intensiv um der abschreckenden Wirkung willen in Schwarz, in einem tiefen Schwarz ohne Lichter, gemalt. Der Heiligen Schrift geht es eben niemals um den einzelnen Menschen, es geht ihr um Gott, um Gottes Taten an Menschen und durch Menschen. Wenn sie Menschen und ihr Wirken beschreibt, dann will sie zeigen, daß Gott allmächtig und barmherzig ist. Auch der Mensch, den der Satan besessen hat, ist Gottes Gewalt und Gnade nicht entnommen, und der Mensch, den Gott zu seinem sichtbaren Werkzeug gebraucht, ist nicht selbst göttlich und der Bewunderung wert. Es ist ein eigentümlicher Unterschied der gesamten alttestamentlichen und neutestamentlichen Geschichtsschreibung von der profanen Geschichtsschreibung in der antiken und der neueren Zeit und auch von den Darstellungen der Kirchengeschichte nach der Zeit der Apostel, daß die Bibel sich Huldigungen gegenüber den großen Menschen versagt, auch gegenüber den Großen im Reiche Gottes. Psychologisch bleibt es unerklärlich, nicht nur für uns Heutige, daß nationale Geschichtsschreiber wie die Verfasser der Samuelis- und Königsbücher oder ein Glied der neutestamentlichen Gemeinde wie Lukas, der Begleiter des Paulus, geradezu Eifer darauf verwenden, aus dem Leben der großen und frommen Persönlichkeiten, von denen sie berichten, auch ihre Sündenfälle, ihr vielfältiges Versagen festzuhalten. Gott hat sie als seine Boten verwandt und ihnen die Treue gehalten trotz ihrer Untreue I Das will der biblische Teilverfasser zeigen. Groß sind die Taten nicht eines einzigen unter allen Menschen, groß und erzählenswert sind Gottes Taten allein. So darf der folgende Versuch nicht als die Würdigung eines Lebenswerkes und auch nicht als eine Charakterskizze gelesen werden, die vorgeben wollte, das, was im Inneren des Menschen ist, erkannt zu haben. Er möchte nichts weiter als Gottes Taten an seiner Gemeinde rühmen auch durch Person und Dienst dessen, von dem er spricht. 4

Bischof D. Dr. Otto Dibelius hat zu Beginn des Kirchenkampfes eine Schrift herausgegeben unter dem dem letzten Werke MoeUer van den Bruck's entnommenen Titel „Die Kraft der Deutschen, in Gegensätzen zu leben". Mit einem Zitat aus dieser Schrift hat er als Angeklagter vor dem Sondergericht seine Verteidigungsrede geschlossen. Es ist nicht von ungefähr, daß er diese Kennzeichnung deutscher Art liebt. Sie drückt einen Tatbestand aus, der sich in seinem eigenen Wesen findet. Dibelius ist ein Mensch von einer außerordentlich vielfältigen Veranlagung. Von Natur her wird sein Wesen nicht durch eine beherrschende Komponente bestimmt. Und doch ist er weder disharmonisch, noch verliert seine Art sich in seinen verschiedenen Fähigkeiten. Er ist eine gesammelte Persönlichkeit, er wirkt als ein geschlossener Charakter. Ihn hält eine Kraft — eine Kraft, die er aus Bereichen jenseits des Nur-Natürlichen empfangen hat, — die die Gegensätze umfaßt. Davon soll die Rede in den folgenden Zeilen sein, wie Widersprüche und Gegensätze in seinem Handeln und seiner Art durch Gottes Kraft in Dienst genommen worden sind für den einen Zweck, Sein Reich auf Erden bauen zu helfen. Und nur das kann — nach der eigenen Aussage von Dibelius — Inhalt und Sinn des Jüngerlebens sein. Er schreibt in seinem „Bericht von der Nachfolge damals und heute: ,Die Jünger': „Es hat jemand gesagt: Wenn man drei Arbeiter, die bei einem Kirchbau beschäftigt sind, frage, was sie da machten, dann werde der eine sagen: ,Ich trage Steine.' Der andere werde sagen: .Ich verdiene hier mein Geld'. Der dritte werde sagen: ,Ich baue eine Kirche'. Dieser dritte habe seine Arbeit verstanden. Wenn man die Jünger fragt, was sie auf dieser Erde tun, so werden sie antworten: Wir helfen, daß auf unserer Erde der Wille unseres Gottes geschehe! Sie werden es den anderen überlassen, ein Urteil darüber abzugeben, ob das nicht vielleicht die beste Art ist, seine Arbeit zu tun. Ihnen ist es genug, daß es die Wahrheit ist!" Der Jünger Jesu, der seine Lebensarbeit so versteht, erfährt an sich zu seiner unbegreiflichen Verwunderung, daß Gottes Gnade nicht nur unseren Glauben, unsere Demut, ein fröhliches Opfer unserer Liebe, sondern auch unseren Irrtum, Eigenmächtigkeit und Trotz als Mittel verwenden kann, damit sein Wille sich in der Welt durchsetze, daß Gnade selbst diese Gegensätze vereint, und daß wir ihm jubelnd dafür danken dürfen, wie sein Wille durch uns geschah, — wenn nur der Grund, der uns trägt, seine Gabe ist, sein Wort und sein Kreuz! Dibelius ist nicht ein Mensch „religiöser Veranlagung". Seine Schriften strahlen eine ernste Frömmigkeit wieder. Weite Partien darin sind von 5

fortreißender rhetorischer und künstlerischer Kraft; sie enthalten Bekenntnisse von einer Tiefe des Empfindens, daß der Leser sich nur mit Zagen aufgefordert fühlt, einen Blick in die letzten Kammern dieses Menschenherzens zu tun. Aber „religiös" im Sinne einer ursprünglichen religiösen Begabimg ist er nicht. Bei aller Tiefe und Kraft des Gefühls ist er ein Mensch der unter dem Willen sich formenden Wirklichkeit. An den Tatsachen liegt ihm auch im Leben der Kirche. Er will reale Erfolge sehen, auch wenn es sich um den Aufbau der christlichen Gemeinde oder um die Seelenführung des heranwachsenden Geschlechtes

handelt. Am liebsten Erfolge, die sich in Zahlen ausdrücken lassen. Er will Realpolitik treiben als Mann der Kirche. Religiöse Naturen neigen zur Schwärmerei. Ein Schwärmer ist Dibelius nicht, eher ist er ein Skeptiker. In seinen Schriften, die immer wieder und vorwiegend historische Berichte enthalten, spricht er mit besonderer Liebe von der Frömmigkeit der soldatischen Naturen. Aus ihrem Leben wählt er die Exempla für das, was er fordert. Mir scheint, sein Handeln als Mann der Kirche ist gekennzeichnet durch die Wesensverwandtschaft mit dieser Art Frömmigkeit. Die sieben kurmärkischen Kirchentage, die er als aktiver Generalsuperintendent bis zum Jahre 1933 für die Pfarrer und Gemeinden seines Sprengeis abgehalten hat, haben etwas vom Charakter militärischer Befehlsausgaben gehabt. Er stellte jeweils das neue Jahr unter eine einprägsame, klar formulierte Parole. Ein begrenztes, durchführbares Einzelziel war ihr Inhalt. Und sein Rechenschaftsbericht im kommenden Jahre war die Feststellung eines Kommandeurs, nicht ganz fern dem Stil einer Manöverkritik, die mit Einschränkung und Ermunterung in dem Ergebnis gipfelt: „Befehl — soweit möglich — durchgeführt!" So verteidigt er in seinen ersten großen — viel Aufsehen und Polemik entfesselnden — Büchern die Notwendigkeit eines christlichen Kulturprogramms. Die Kirche darf nicht im Winkel bleiben; die Kirche gehört mitten hinein in die Öffentlichkeit. Ihre Waffe ist das Wort, aber das Wort im Angriff. Sie muß ihre Umwelt prägen, umprägen wollen — überall da, wo diese dem Willen Gottes nicht entspricht. Dabei ist sein Blick für die Schäden des öffentlichen Lebens unbestechlich und ebenso vorsichtig und kühl sein Urteil über die Kräfte und Möglichkeiten der Kirche der Gegenwart. Es ist kennzeichnend für ihn und seine Nüchternheit: wenn er in einer gefahrvollen Situation des Kirchenkampfes im voraus überschlug, wieviel Pfarrer der Bekennenden Kirche das Wort einer illegalen altpreußischen Synode gegen den Mythos der neuen 6

Religiosität oder gegen die Konzentrationslager und den Mord an den Geisteskranken verlesen würden, oder wenn er die Teilnehmerzahl an einer Bekenntnisversammlung abschätzte, griff er stets zu niedrig. Dem Menschen als Menschen, der „vermaledeiten Kanaille" in ans allen, traut er wenig zu, und er weiß nur zu gut, daß auch der Jünger Jesu seinen alten Adam täglich neu ersäufen muß in Reue und Buße über täglich neues Versagen. Seine Skepsis gegenüber aller menschlichen Leistung und der Fähigkeit des Menschen zur sich opfernden Liebe greift so tief, daß er in den letzten Jahren auf der Höhe eines wahrlich weltweiten Wirkens von nichts so angefochten wird wie von dem Gefühl großer Einsamkeit — es steigert sich bis zu allgemeinen Äußerungen tiefer Enttäuschung an den Menschen — und von nichts so bedrängt wird bei seinen Vorhaben wie von dem Zweifel am Sinn und Wert aller eigenen menschlichen Mühsal, einem Zweifel, der sich aber unter der Wirkung des Wortes Gottes im Leben des Jüngers in eine starke Sehnsucht nach der endlichen Rückkehr in die ewige Heimat verwandelt. Er lebt nicht aus der erregbaren und hochgestimmten Empfänglichkeit des homo religiosus, er steht das Leben durch aus dem Glauben, den Gott, nur Gott, im verlorenen Menschen wirkt. Dibelius ist auch keine systematische Natur. Die Regeln und Forderungen der Systematik tut er mit dem ironischen Hinweis auf einen philosophischen Systematiker wie Schilling ab: „Wie kann man den Anspruch auf Erkenntnis bei einem Manne ernst nehmen, der sein Lehrsystem nicht weniger als dreimal von Grund aus verschieden entwickelt. Dies würde keinem Historiker verziehen I Dies darf allein der Systematiker sich leisten, und bei ihm wird es sogar noch dadurch honoriert, daß seine Systeme alle drei einen Platz in der Geschichte der Philosophie finden." Das System ist für ihn die Fiktion des sich selbst täuschenden Geistes. Der Realist und historische Denker ist bewußt und mit Humor inkonsequent. Wie gern zitiert er das köstliche Bild, an dem er ästhetische Freude empfindet, aus Bismarcks Selbsturteil: „Wollte ich Politik mit Prinzipien treiben, ich käme mir vor wie ein Reiter, der mit einer Balancierstange zwischen den Zähnen durch einen dichten Wald reiten sollte." Oder er beruft sich auf Paulus (in seiner Auslegung des 15. Kapitels der Apostelgeschichte): „Wir können . . . feststellen, daß sich Paulus nicht von starren Grundsätzen hat leiten lassen, daß er hier — es handelt sich um die Beschneidung des Timotheus — getan hat, was er anderwärts auf das leidenschaftlichste bekämpft hat." — Als Historiker aber liegt ihm an dem Aufweis der großen Zusammen7

hänge und an der Nutzanwendung für die Gegenwart. Schon als der Verfasser des regelmäßigen Sonntagsartikels in einer der großen Berliner Tageszeitungen vor 1933 und danach der „Wochenschau" im Sonntagsblatt des Christlichen Zeitschriftenvereins bis etwa 1941 ist er aus einer reichen Kenntnis der vergangenen Epochen ein Kritiker des Zeitgeschehens im geistigen, kulturellen, politischen und kirchlichen Leben gewesen, der die Zustimmung weitester Kreise über die Provinzialkirchengrenzen und die deutsche Volks- und Sprachgrenze hinaus fand. Zugleich und später hat er auf den Generalkonventen der Pfarrerschaft der Bekennenden Kirche, zumal in Berlin-Brandenburg, in seinen tapferen Berichten zur kirchlichen Lage Diagnosen, strategische und prophetische Diagnosen des Kampfes gegeben, die den Kämpfern an der front, den einzelnen Pfarrern im Lande, Wegweisung und Stärkung und als solche Unentbehrlich gewesen sind. Er verwirft den Zwang des abstrahierten Schemas, aber er sucht in der Gesetzmäßigkeit geschichtlichen Ablaufes nach Spuren der Führung dessen, der der Herr der Geschichte ist. Dibelius denkt bescheiden von der diagnostischen Fähigkeit geschichtlicher Forschung, aber er treibt sie mit einem echten, die Herzen ergreifenden Pathos. Dibelius ist nicht robust und hat doch von Beginn seines kirchlichen Wirkens an ständig in scharfem Kampfe gestanden. Er ist von einer nimmermüden Aktivität, die hohe Bewunderung verdient, und ist doch eine einende, um den Frieden bemühte Persönlichkeit. Er legt Wert darauf, daß ihm die Würde des Amtes und auch persönliche Würde eingeräumt werde. Er fragt nach der Zustimmung nicht nur der vertrauten Freunde, sondern auch weiterer Kreise der Öffentlichkeit (nicht ohne Wehmut hat er kürzlich Goethe erwähnt, der von sich sagen könne, daß er zum Wirken und Leben die wohlwollende Anerkennung seiner Umwelt gebraucht und auch gefunden habe). Und doch war er in alledem immer wieder bereit, haßerfüllte persönliche Verunglimpfung ohne Gegenwehr zu ertragen und zu vergeben, ja sich in die erniedrigende Rolle des Gefangenen zu fügen, der ohnmächtig fremdem Willen ausgeliefert ist. Zwölf Jahre seines Lebens, seine besten Lebensjahre, ist er ausgeschaltet gewesen vom Regiment in der amtlichen Kirche. Es ist ihm bitter schwer geworden, sich auch dieser Prüfung Gottes zu beugen, und er hat sie dennoch bejaht. Er selbst ist stets ein Kämpfer ritterlicher Art gewesen. In der Gemeinde erstrebte er den Einklang, bereit zu jedem persönlichen Verzicht, und hat dabei dem Kampf standgehalten, den verbissene Voreingenommenheit mit schmutzigsten Waffen fast 8

zwei Jahrzehnte lang gegen ihn geführt hat. Er ist frei von Empfindlichkeit oder scheint es doch zu sein; an anderen erträgt er sie mit liebenswürdiger Nachsicht. Er findet, daß sie „so entsetzlich zeitraubend" ist. Er verbindet Duldsamkeit und Verständnis für die Besonderheiten der Brüder und Gegner mit einem überraschenden Freimut im Eintreten für eine Sache, die er dessen für wert hält, einem Freimut, der die Mächtigen im Staat und die weiteste Öffentlichkeit nicht scheut. Für seine kirchenpolitische Stellung hat dies schon vor 1933 und wieder nach 1945 bedeutet, daß er jede Regung sektiererischer Intoleranz ebenso streng verurteilte wie individualistischen Liberalismus. Christliche Kirche müsse — das unterscheide sie von der Sekte und von dem Relativismus der säkularen Agnostiker — charaktervoll ein geprägtes Bekenntnis vertreten und doch weitherzig sein, offen für jeden, der Christus dienen wolle. Auf der politischen Bühne, zumal für seine persönliche Entscheidung in der parteipolitischen Auseinandersetzung, hat das bedeutet, daß er dem materiellen Nationalismus genau so eine Absage erteilte wie einem messianischen Internationalismus. Er ist ein Patriot von brennendem Herzen und hat sich doch nie darüber getäuscht, daß der romantische Nationalismus aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine dem Wesen des Christentums ferne Weltanschauung und der selbstsüchtige Nationalismus aus dem Ende des 19. Jahrhunderts nichts weiter als diesseitige Gewinn- und Genußsucht ist. Er hat dies der Öffentlichkeit in so unzweideutiger Form gesagt, daß er schon zur Zeit der Monarchie nicht nur die gebundenen Parteipolitiker einer atheistischen Linken, sondern auch die der alldeutschen Rechten gegen sich hatte. Mit fast noch entschiedenerer Rücksichtslosigkeit als in seinen jungen Jahren vertritt er diese Erkenntnis in der Gegenwart. Ohne Furcht vor dem Tadel der Politiker und Journalisten und der breiten Masse wendet er sich immer von neuem gegen den gottlosen Nationalismus rechts und links, im Westen und im Osten, gegen die, die nicht anders können, als jede Lebensäußerung des Herzens und des Geistes nur am einseitig politischen Maßstab messen, und die damit ihrem Volke die Seele nehmen. Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes — so heißt es in seinem „Buch der Ziele" im „Jahrhundert der Kirche" — ist die der sozialen und nationalen Versöhnung. Dem Bürgertum muß es gelingen, die Brücke zu schlagen zur Arbeiterschaft — das sagt er, der ein Sohn der klassischen bürgerlichen Zeit ist wie wenige! — Echter Patriotismus und recht verstandener Pazifismus müssen einander finden — eine solche Parole 9

wagt er auszugeben in den Tagen der ostelbischen Stahlhelm-Theologie und in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus! — Gemeinsame Ideale, gemeinsame sittliche Verpflichtungen, mit einem Wort: eine gemeinsame Frömmigkeit muß der Grund werden, auf den die Stände und Klassen und Wirtschaftsgruppen treten und — die Parteien. Dazu helfen kann allein die Kirche, die Kirche, für die Kompromisse zwischen dem Evangelium und den Parteianschauungen der Masse außerhalb der Diskussion liegen, und zugleich die Kirche, die bei allen Vertrauen gewinnt, die im Leben der Nation als die Macht der Versöhnung steht I Dazu sei nötig — das fordert der große, sich als solcher nie verleugnende Sohn des Bürgertums! — , daß die Kirche den Arbeitern, gleichviel welcher politischen Richtung (!), die Türen weit auftue in ihr eigenes Regiment hinein. „ E s ist erschütternd, mit anzusehen, wie wenig diese Pflicht bisher begriffen worden ist. Wenn große industrielle Provinzen in die oberste synodale Vertretung Geheimräte über Geheimräte schicken, aber keine Arbeiter — dann zeugt das von einem Mangel an gesamtkirchlichem Bewußtsein, der nicht länger zu ertragen ist." „Die Frage nach der seelischen Haltung der Arbeiterschaft ist die Schicksalsfrage der Kirche, die Schicksalsfrage des deutschen Volkes, die Schicksalsfrage der abendländischen Kultur". „Entweder gelingt es der Kirche, die Brücke über den großen Graben zu schlagen, oder sie sinkt endgültig zu einer Kirche des Bürgertums herab. Und dann ist sie keine Kirche mehr." Was er damals zwischen 1918 und 1933 im Blick auf das relative Primat des Politischen in den Lagern der verschiedenen Parteien in Deutschland gefordert hat, wird 1948 in seiner Denkschrift über „Die Grenzen des Staates" zu einer radikalen leidenschaftlichen Anklage gegen den absoluten Machtanspruch des totalen Staates. Der viel umkämpfte ist wiederum auch ein Mann von einer starken — ich glaube, nicht zu viel zu sagen: — von einer faszinierenden Wirkung auf die Menge. Er zwingt sie in seinen Bann als Redner und als Schriftsteller. Er unterhält, belehrt und entflammt. Sein Stil ist eingängig, ohne flach zu werden; er kann hohe Dinge einfach sagen; er ermüdet den Hörer und Leser nie und trifft den Ton des Herzens. Er ist ein Meister der Themapredigt, er ist Volksmissionar und Evangelist. Mit dem gesprochenen und dem gedruckten Wort! Im Gottesdienst, in seinen kulturpolitischen Vorträgen und Streitschriften und auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten! Sein Kommentar zur Apostelgeschichte, geschrieben aus der Nähe gleicher Erfahrung mit der Verfolgungszeit der „werdenden Kirche", ist existentielle Theologie und vollmächtiges Zeugnis. 10

Die Gleise seiner Theologie hat er in einer Zeit gelegt, die uns Jüngeren fremd geworden ist. Der Erkenntnisgang, die Methode and das Gerüst seiner Lehrbegriffe, zumal des Begriffs von der Kirche sind nicht die unsem. (Wofür die obigen Auszüge aus seinem „Jahrhundert der Kirche" ein Beleg sein mögen I) Seine Verkündigung hält bewußt fest an der Forderung des kulturpolitischen Programms, sie blendet gelegentlich mit geschiehtsphilosophischer Schlußfolgerung oder beschränkt sich um der erziehlichen Wirkung willen auf die moralische Proklamation. Aber in alledem geht es auch ihr in ihrer Ganzheit um das zentrale biblische Zeugnis. Es ging ihr schon darum, als die evangelische Predigtlehre und die protestantische Christenheit noch von ganz anderen Strömungen bewegt wurde! So ist der junge Harnackschüler Dibelius auch immer für das Lebensrecht der die Bibel lesenden Gemeinschaft in der Kirche eingetreten! Ein letztes Paar von Verschiedenheiten an ihm sei erwähnt: er ist eine führende Persönlichkeit mit einer ausgesprochenen Gabe der Leitung. Als Vorsitzender während der Beratungen in einer großen Versammlung entfaltet er erst eigentlich den ganzen Reichtum seiner Gaben und seines Wissens. Er behält die Zügel straff in der Hand. Jede Sitzung mit einer noch so angefüllten Tagesordnung schließt zu der Stunde, die er vorgesehen hat. Und ebenso sicher ist: sie hat dabei ihr Pensum erledigt und praktische Ergebnisse erbracht. Und wenn die Verhandlungen ohne Unterbrechung den ganzen Tag über andauern, er ist in jedem Augenblick wachen Geistes gegenwärtig; er hat sofort die entscheidenden Fragen auch aus weit ausholenden Deduktionen herausgefunden, die ausgesprochenen Argumente und die hintergründigen Motive. Er selbst argumentiert „glasklar". Er verfügt über einen unerschöpflichen Schatz von Paradigmata aus der Historie, wirklich immer wieder neuen, und präsentiert sie mit entwaffnendem Humor, ja auch mit funkelndem Witz. (So kann er als eine Erfahrung aus der Geschichte des preußischen Herrenhauses dekretieren: „Vorsitzender eines Ausschusses von Fachleuten muß stets jemand sein, der von der Sache nichts versteht; sonst kann er nicht objektiv leiten"). Wie für Bismarck ist für ihn die Debatte die Lebensäußerung, die ihm am gemäßesten ist, in der er sich selbst und sein Wissen immer total parat hat, immer originell — es gelingen ihm geistvolle Formulierungen ungesucht — und immer loyal gegenüber den Gesprächspartnern. Hier bewährt er die geforderte Ritterlichkeit fast ausnahmslos. Es gibt wenig Gegenstände in der kirchlichen Erörterung der Gegenwart und ganz wenig Menschen, vor denen er sie 11

vergißt. Wenn er es tut, geschieht es willentlich! Und der Mann dieses leitenden Formates ist während der Zeit des Kirchenkampfes als „Frontsoldat" in die „Kameradschaft der illegalen Widerstandskämpfer" der Bekennenden Kirche eingetreten. Er ist Brüdern ein Bruder gewesen von einer ebenso vorbildlichen dienstbereiten Brüderlichkeit, wie er als kirchlicher Führer für viele ein Vorbild ist. Und er hat diese Einordnung in die Bruderschaft nicht wieder verlassen. Er will sie nicht missen; denn er hat erfahren, daß es ungetrübte Freude und Geborgenheit für den einzelnen, stehe er, wo er wolle, nur in der Bruderschaft gibt, über die Christus gebietet. Dürfen wir es wagen, zu urteilen oder zu beschreiben, was für ein Lebenswerk der Gott der Jahrtausende dem Mitgenossen unserer Not und unserer Wünsche, dem Menschen Otto Dibelius, anbefohlen hat und wozu er es brauchen wird? Ganz gewiß dürfen wir es nicht! Aber vielleicht dürfen wir versuchen, Gottes Absichten nachzusinnen, und Vermutungen darüber anstellen, an welchen Erfahrungen der Gottesgemeinde auf Erden der Herr diesen einzelnen Menschen hat teilnehmen lassen und welche Gaben an seine Gemeinde, seien es große oder geringe, er durch ihn mitbewirkt hat. In die Lebenszeit von Otto Dibelius und die Zeit seines kirchlichen Dienstes fallen drei große Geschenke Gottes an die Christenheit: Im Mutterlande der Reformation, und zwar in seinem östlichen Teil, sind die christlichen Gemeinden zum ersten Mal in ihrer Geschichte vor Entscheidungen gestellt worden, die den persönlichen Einsatz des einzelnen Gemeindegliedes verlangten; zum ersten Mal seit den Tagen der Reformation haben in größerem Umfange Gemeindeglieder kirchliche Mitverantwortung unter Gefahr auf sich genommen. Von Beginn seines Wirkens an hat erst der Pfarrer und dann der Generalsuperintendent Dibelius dafür seine Stimme erhoben, die Laien in die aktive Mitarbeit am geistlichen Leben der Gemeinde miteinzubeziehen. Als Kandidat in Wittenberg schon hatte er die Jugend der Stadt mobilisiert und es zustande gebracht, daß während der kurzen Zeit seines Dortseins evangelische Jugend einer mitteldeutschen Provinzstadt sich für ihre Zusammenkünfte ein eigenes Haus errichtete. Als Pfarrer an der Kirche Zum Heilsbronnen in Berlin hat er Kirchenälteste bei den Aufgaben die ihnen die Verfassungsurkunde zuschrieb, auch wirklich behaftet, hat den Gemeindekirchenrat um einen Beirat erweitert, dazu einer Helferkreis berufen und die willigen Gemeindeglieder auf offener Abenden in seiner Wohnung, dann in Gemeindesaal und Kirche, 12

gesammelt, ihnen Aufgaben zugewiesen und sie zu kirchlicher Selbständigkeit erzogen. Die Gemeinden, in denen um jene Zeit ähnliches »ustaade kam, sind zu zählen. In größerem Umfange wurde dies im deutschen Osten erst anders seit 1933. Erst als die Evangelische Kirche in ihrer Existenz von der staatlichen Macht ernstlich bedroht wurde, erweichten ihre Gemeinden. Deren Glieder zuzurüsten und zu einem tätigen Dienst anzuleiten, hat Dibelius sich, seit er zur Bekennenden Kirche gehörte, angelegen sein lassen. Seine ersten Entwürfe im Dienste des Brandenburgischen Bruderrates der Bekennenden Kirche waren Merkblätter für den Christen, das Leben der eigenen Gemeinde mitzugestalten. Handreichungen für die tägliche Bibellese, für tägliche Hausandachten und häusliches Gebet, für den seelsorgerlichen Dienst des Gemeindegliedes an den Mitbewohnern in demselben Haus und in derselben Straße, sind damals von ihm den Bruderräten zur Weitergabe an die Pfarrer der Bekennenden Kirche vorgelegt worden. Als zunächst die Verhaftungswellen der Staatspolizei, dann die Einberufungen zum Heeresdienst die Gemeinden ihrer Pfarrer beraubten, hat er eine Ältestenagende geschaffen, mit deren Hilfe der Kirchenälteste Gottesdienst, Unterricht und Kasualien in der Gemeinde versehen konnte anstelle des theologisch gebildeten Pfarrers. Und auch die Ordnung für die allabendliche Fürbitte, die die Bekennenden Gemeinden seit dem Tage der Uberführung Martin Niemöllers in das Konzentrationslager regelmäßig gehalten haben, stammte von ihm. Er hat sie so eingerichtet, daß sie in nicht wenigen Gemeinden viele Jahre hindurch von der Gemeindeschwester, einem Kirchenältesten oder auch dem Hausvater und der Hausmutter gebraucht worden ist. Während der letzten Kriegsjahre sind die inzwischen von unseren Bruderräten ordinierten und eingewiesenen Laienprediger und Lektoren durch ihn Woche für Woche mit Lesepredigten über die Sonntagsperikopen versorgt worden. Es war ihm sichtlich Freude und Erfüllung eines Lebenszieles, bei diesem Gemeindeaufbau im echten Sinne des Wortes mittun zu dürfen. Das andere Gottesgeschenk, dem sein Herz entgegengehofft hatte, war die Konstituierung einer einigen evangelischen Kirche in Deutschland. Bis zum Jahre 1933 waren die deutschen Landeskirchen lediglich in einem Kirchenbund zusammengeschlossen. Die nationalsozialistische Epoche schuf für die amtliche kirchliche Verwaltung die zentralistische Einheit unter staatlichem Zwang. Sie war nicht aus Gottes Geist geboren und darum nicht lebensfähig. Die bedrängten Gemeinden aber im Widerstand gegen den staatlichen Zwang fanden sich über alle Grenzen der 13

Landeskirchen hinweg in der Bekennenden Kirche zusammen. Die großen Bekenntnissynoden der Anfangszeit, die Kirchentage und regelmäßigen Zusammenkünfte der Konferenz der Landesbruderräte später worden zum echten Ausdruck gemeinsamer kirchlicher Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche. Die Frucht dieser Arbeit war die „Grundordnung einer Evangelischen Kirche in Deutschland", die die Eisenacher Kirchenversammlung im Jahre 1948 beschlossen hat. An den Vorarbeiten für diese Verfassung ist Dibelius maßgeblich beteiligt gewesen — als der Vorsitzende der Verfassungskammer d e s Altpreußischen Brnderrates und

der Verfassungskammer der Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche während ihrer Kampfzeit. So ist die Wahl von Dibelius zum Ersten Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland auf der Synode von Bethel 1949 auch hier der krönende Abschluß einer Arbeit geworden, der ein gut Teil seiner Lebenskraft gegolten hat. Und schließlich ist er einer der Träger der Bemühungen gewesen, die nach tiefen Enttäuschungen und der Unterbrechung durch den zweiten Weltkrieg zur Begründung des Weltrates der Kirchen in Amsterdam im August 1948 geführt haben. Wie seine Predigt auf der Höhe der Krisis während der Verhandlungen der Eisenacher Kirchenversammlung den Durchbruch und die Wendung zum Guten bedeutet und den Zerfall verhindert hat, so ist nicht von ungefähr gerade ihm der Abschlußgottesdienst in Amsterdam übertragen worden. Er, der von der Arbeitsleistung von Konferenzen gering denkt und mehr als einmal die Behauptung ausgesprochen hat, daß noch nie von Konferenzen eine entscheidende Wendung für das Leben der Völker oder der Kirche ausgegangen sei, weiß mit starker innerer Ergriffenheit von dem Eindruck zu berichten, den die Weltkirchenkonferenz in Amsterdam und die Vollversammlungen des ökumenischen Rates allein dadurch auf ihn machten, daß die Vertreter aus allen Rassen und Völkern in ihren bunten Trachten und dem Gewirr ihrer Sprachen sich vor einem Altar zu gemeinsamem Gebet, zu gemeinsamem Lobgesang und zum Hören auf das eine Wort Gottes zusammenfanden. Der Kreis von leitenden Männern aus allen Kirchen der Welt, der den Zentralausschuß bilde, werde mehr und mehr — so hat er uns nach der Zusammenkunft in Chichester im Sommer 1949 versichert — zu einer echten Bruderschaft, in der der indische, afrikanische oder chinesische Bischof an dem Schicksal der evangelischen Kirche im deutschen Osten den gleichen inneren Anteil nehme, wie ein amerikanischer Kirchenpräsident oder der vorbildliche Freund der deutschen Kirche, der Bischof von Chichester selbst. Man wisse von den Schwierigkeiten in den Bruder14

kirchen und sei bereit, ihre Not, ja die persönliche Not und Gefahr einzelner ihrer Glieder mitzutragen auch über Tausende von Meilen und die Weltenmeere hinweg. — Er empfängt brüderliche Anteilnahme und er gibt sie. Das wissen nicht nur die Führer der anderen Kirchen der Welt, sondern auch die Gemeinden draußen. Seine Besuchsreisen in die fremden Länder und Erdteile haben dafür den Beweis erbracht. Auch in dem weiten Bereich der gesamten Christenheit hat Gott ihn mit an die Arbeit gestellt, die sichtbar alle Teile zusammenzufassen und dem Ganzen zu dienen bestimmt war. *

*

*

Die Heilige Schrift lehrt uns die Völkergeschichte als ein Trümmerfeld zu erkennen. Nicht nur ist alles, was diese uns an Einzelheiten aufbewahrt, je ein aus der Kontingenz gelöstes Bruchstück, sondern es ist auch der Umstand, daß ein Stück vor anderen auf unser Geschlecht gekommen ist, nicht im geringsten ein Beweis für seinen größeren Wert. Oft ist gerade das Beste zugrunde gegangen, ohne daß eine sichtbare Spur von ihm blieb. Dies gilt ebenfalls für die Namen der Menschen. Die Uberlieferung der Weltgeschichte ist kein gerechter Richter für die Bedeutimg einer Persönlichkeit. Was auf die Menschen wirkt und in ihrem Gedächtnis fortlebt, ist durchaus nicht immer dasselbe, woran Gottes Augen Wohlgefallen haben. So darf es—nach einem eigenen Wort von Dibelius aus den letzten Tagen des Jahres 1949 — einem Jünger Jesu nicht wichtig sein, ob sein Name eine kurze oder längere Zeit oder auch gar nicht von der Geschichte festgehalten wird. Was bedeutet das Urteil der Menschen für den, der weiß, daß er vor Gott zu stehen hat! Wenn nur unser Name im Himmel geschrieben istl Und daß er dort geschrieben stehe, dafür ist Christus in die Geschichte der Erdenvölker herabgekommen und hat sich ihr zum Opfer gebracht. Ob der Name des Mannes, neben dem wir unsere tägliche Arbeit verrichten und den wir lieben, von kommenden Geschlechtern ehrend genannt wird, wir wissen es nicht. Aber das dürfen wir gläubig erbitten: der Herr, zu dessen Namens Ehre er die ihm anvertraute Kraft verwendet, möge durch Seinen Kreuzestod auch seinem Namen eine bleibende Statt im Himmel schaffen I Das ist unserer Liebe Gebet und ihre Zuversicht. —

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Wandlungen der Gemeindeauffassung in Israel u n d J u d a Von

Fritz Maaß Das Volk Israel ist seit seinen Anfängen ebenso wie das späte Judentum durch Gottesbegegnung und Glauben zusammengehalten worden. Diese Bindung spielt in seiner Geschichte sogar eine größere Rolle als Verwandtschaft des Blutes oder politisches Erleben. Israel ist deshalb stets „Gemeinde" gewesen und hat meist ein klares Bewußtsein darum gehabt. Doch hat sein Gemeindebewußtsein im Lauf der Jahrhunderte viele Wandlungen durchgemacht, deren Spuren im alttestamentlichen und spätjüdischen Schrifttum hier nachgegangen werden soll1). $ Der Zusammenhang der israelitischen Stämme war bei der Eroberung P a l ä s t i n a s im 13. und 12. Jh. v. Chr. stärker als z. B. die Verbundenheit der germanischen Stämme in Mittel- und Westeuropa nach der Völkerwanderung. Die Geschichte des Zusammenwachsens der Hebräerstämme bis zur Landnahme ist für uns in Dunkel gehüllt. Nur mit viölen Vorbehalten kann eine zeitgenössische literarische Bezeugung der Mosezeit angenommen werden. Über den Charakter des in dieser Zeit gewachsenen und in Palästina auftretenden Stämmeverbandes läßt sich jedoch vieles aussagen. Daß die später im Land ansässigen Stämme nicht gleichzeitig westlich des Jordans erschienen, daß sie im Lande vielfach auf eigene Faust und unabhängig voneinander kämpften, macht die Kohärenz nur um so erstaunlicher. Es kann keinem Zweifel unterliegen: hier muß schon lange vorher eine gewaltige, zusammenschließende Kraft l)

Dabei sind drei neuere Arbeiten mit besonderem Nutzen und Dank verwendet

worden: L . R o s t , Die Vorstufen von Kirche und Synagoge im A . T . ; Stuttgart, 1938. Nils A. D a h l , D a s Volk Gottes; Oslo, 1941. O. E i ß f e l d t , Geschichtliches und Übergeschicbtliches im A. T., (1. Volk uiid „ K i r c h e " im A. T.); Berlin, 1947. (Diese drei A r b e i t e n sind gemeint, w o auf diesen Seiten nur der V e r f a s s e r n a m e m i t einer Seitenzahl zitiert wird.)

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am Werke gewesen sein. Israel ist älter als die Eroberung Palästinas und war schon vor ihr durch tiefes Erleben gegangen. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat die Uberlieferung darin recht, daß die Entstehung der Gemeinschaft auf Mose zurückgeht. Mögen Bericht und spätere Tradition über die Befreiung aus Ägypten und den Wüstenzug im einzelnen unistritten bleiben; die Behauptung, daß Mose der erste Sprecher und Mittelsmann Jahves wurde, gehört in den Bereich des einigermaßen Gesicherten. Auch darin gibt es keinen ernsthaften Zweifel an der späteren Tradition, daß Jahve sich an die Gesamtheit der Gefolgschaft Moses wandte, nicht an Individuen: „Ich bin Jahve, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt hat; du sollst keine anderen Götter außer mir haben" (Exod. 20,2 f.). Damit ist aber auch für die Frage der Gemeinschaftsbildung das Entscheidende gesagt. Nicht das gleiche Blut, das gemeinsame Schicksal oder die einheitliche Sprache schufen und garantierten die auffallende zentripetale Kraft des Verbandes, sondern die erste Begegnung mit der größten Wirklichkeit. Mag es zweifelhaft bleiben, mit welchen Worten die Stämme in der Wüste diese Erfahrung bezeugten und kennzeichneten, in welchen Formen sie sie feierten, wie sie die durch dies Erleben geknüpfte und nie mehr abgerissene Verbindung mit Jahve nannten und welche Verpflichtungen sich aus ihr ergaben; die einzigartige Bindung an sich ist eine Tatsache, das Wichtigste, was Historiker und Exegeten über diese Epoche der Geschichte Israels aussagen können. Für die Richterzeit liegen zuverlässigere Quellen vor, aus denen sich ein Bild von Israels Gemeinschaft gewinnen läßt; in erster Linie sei auf das Deboralied (Richter 5) zurückgegriffen. Die ersten im Richterbuch erwähnten kriegerischen Unternehmungen, der alte Bericht von der teilweisen Besetzung des Landes durch die Stämme (Kap. 1) und die Freiheitskämpfe der zuerst genannten Richter (Kap. 3) bezeugen das Gemeinschaftsgefühl Israels. So stark und lebendig das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit bei den einzelnen Stämmen in dieser Zeit gewesen sein muß, so wenig darf jedoch eine ständige politische Organisation des Gesamtvolks angenommen werden. Zwar ist von einer „Mutter" (Richter 5,7), von „Führern" (5,2.9) und in späteren Berichten von „Richtern" in Israel die Rede (3,10; 4,4; 10,2.3; 12,8 u. ö.), doch haben sie allem Anschein nach nur bei besonderer Gelegenheit, auf Grund besonderer Ereignisse und Verdienste eine allgemein-israelitische Autorität gehabt. Daß sie ihr Ansehen nach verdienstvollen Taten behielten, ist selbstverständlich. Im Deboralied begegnet uns zweimal die Kennzeichnimg Israels als des „Volkes Jahves" (v. 1 1 u. 13). Die leidenschaftlichen Verse des Liedes machen deutlich, welche Tiefe diese Aussage hat. Wo wäre jemals in einem Heldenlied mit solcher Entschiedenheit Gott als der eigentlich Handelnde, Kämpfende 2

Theologia VUtorum I I

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and Siegende gepriesen worden I Hier stand Höheres auf dem Spiel als die nationale Existenz eines Volkes. Es ist nicht genug festzustellen, daß der gemeinsame Glaube an Jahve die Stämme zu einer Einheit zusammengeschweißt und daß dieser Glaube das Volk sieghaft gemacht habe. Die Gemeinschaft hat sich selbst anders verstanden und das klar zum Ausdruck gebracht; sie empfand sich als total abhängig. Sie nahm zwar teil an dem Kampf, ja sie gab ihr Leben dem Tode preis, aber sie kam damit nur „Jahve zuhüfe" (v. 13. 23), sie stand und fiel mit ihm. Meist wird der Kultus als der entscheidende gemeinschaftsbildende und -erhaltende F a k t o r i m a l t e n I s r a e l g e n a n n t : „ D u r c h den g e m e i n s a m e n IHWH-Kultus der Hebräerstämme ist das Volk Israel entstanden". „Die einzelnen Stämme lebten für sich, der IHWH-Kultus war, was sie vereinte." „Auch in Kanaan ist die Einheit der Stämme zunächst eine kultische gewesen"1). Es ist exegetisch stichhaltiger,einen Schritt hinter den Kultus zurückzugehen und von der immer erneuerten Jahveerfahrung und -begegnung als der gemeindebildenden Kraft zu sprechen. Für die Richterzeit ist ein einheitlicher Kult als einigendes Band der Stämme nach den Quellen nicht einwandfrei zu erweisen. Wieviel stärker als die Bezeugung des Kults wirkt die Betonung des Charismatischen. Die Taten Jahves, die gemeinsame Geschichte, lebte in aller Erinnerung. Ebenso war man sich der Lebendigkeit des Gottes Israels bewußt. Immer erneuerte nicht notwendig an den Kult gebundene, sondern von ihm unabhängige Jahvebegegnung verhinderte das Auseinanderfallen des Volkes«). Wenn für diese Zeit von einer Gemeinde gesprochen wird, dann im Bewußtsein der Tatsache, daß „Gemeinde" und „Volk" kongruente Größen sind*). Da die religiöse und kultische Bindung das Ausschlaggebende war, mag es strittig sein, ob der terminus „Volk" den Vorrang verdient. Die blutsmäßige Bindung spielte kaum eine Rolle; die israelitischen Stämme hatten wahrscheinlich nicht die gleiche Herkunft, und ohne Zweifel sind Kanaanäer Israeliten geworden. Sicher ist jedenfalls, daß Jahve der „Gott Israels" (Richter 5,3. 5) und Israel das „Volk Jahves" (5,11.13) war; daß ein realer Einschlag aus einer anderen Welt dieses „Volk" auf den Plan gerufen hatte, und daß seine Grenzen mit dem Machtbereich dieser Erfahrung zusammenfielen. Für die Zeit des einheitlichen K ö n i g r e i c h s stehen uns vor allem *) So N . A . D a h l in dem neusten, umfassenden Werk Ober die Geschichte des Gottesvolks, S. gt.\ dort nnd in den Anmerkungen zn diesen Seiten werden die Arbeiten genannt, durch die dieser Ansicht die Bahn gebrochen wurde. *) Das zeigt sich in dem „Preiset Jahve" und dem „ J a h v e zuhilfe-Kommen" des Deboraliedes (v. 1. 10. 13. 23) wie in dem Erfaßtwerden durch die •"'W H1"l den Richtergeschichten (Richter 3,10 6,34 11,29 13,25 14,6. 19 15,14). •) O. E i f i f e l d t , S. 1 0 — 1 2 .

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in

der Jahvist und die wahrscheinlich zeitgenössischen Berichte der Samuelisbücher (bes. die Geschichte von der „Thronfolge Davids" II. Sam. g—20) zur Verfügung. Das besondere Kennzeichen dieser Epoche ist das Streben nach äußerer Einheit, nach „Organisation". Die zentripetale Kraft der Jahveerfahrung sollte nach menschlichem Plan und System in der sichtbaren Welt „geregelt", „geordnet", „verallgemeinert" und festgehalten werden. Dieser Wunsch ist durch das Empfinden mitbestimmt worden, daß die Reinheit der Jahveoffenbarung in Kanaan bereits getrübt, ihre unwiderstehliche Schlagkraft geschwächt worden war. Bei den Führern des Volkes erscheint die Jahvebesessenheit schwächer als in der Richterzeit; allerdings geriet Saul „unter die Propheten", fand deshalb aber nur Spott 1 ). Um so imposanter gestaltete sich die äußere Bindimg. Das Begehren des Volkes nach einem Königtum, wie es „bei allen Völkern Brauch" war (I. Sam. 8,5), wurde erfüllt, das Königreich erhielt mit der Hauptstadt ein anerkanntes Zentrum, die Lade Jahves wurde dorthin überführt, vor die Ältesten einzelner Stämme traten die Ältesten Israels in der Residenz (II. Sam. 17,4), Beamte (II. Sam. 20,23f.) fungierten finden ganzen Bereich Israels „von Dan bis Beerseba" (II. Sam. 17,1), der von Salomo in neue Amtsbezirke eingeteilt wurde (I. Kön. 4)'). Ihre feste Basis hatte diese äußere Einheit nach wie vor in der Überzeugung, daß das Volk mit Jahve stand und fiel, und daß das Königtum von seiner Gnade abhängig war (II. Sam. I5,25f.; 16,12). Der König war in Jahves Vollmacht oberster Richter des Landes (II. Sam. 15,2), in der Sitte äußerte sich gemeinsames israelitisches Empfinden (II. Sam. 13,12f.). Für die Frage nach der Entwicklung des Gemeindebegriffes ist hier zu sagen, daß das Verhältnis zwischen Jahve und Israel ausdrücklich als ein Bund bezeichnet wird: „Ich schließe einen Bund" rvi? n-ü ^ (Exod. 34,10. vgl. 27), das ist Jahves freier Willensentschluß. Der Inhalt dieser Abmachung kann in dem Satz zusammengefaßt werden: Jahve schützt Israel und Israel ist Jahve gehorsam*). Der Bereich der Gemeinde ist der gleiche geblieben: die Gemeinde ist nach wie vor das Volk, Jahves Volk, d. h. alle, die Jahve verehren und ihm Gehorsam leisten („Volk Jahves": II. Sam. 6,21; 14,13). Dieser Ansatz ist in der Folgezeit mit logischer Konsequenz von Stufe zu Stufe entfaltet worden. *) Vgl. W. F. A l b r i g h t , From the Stono Age to Christianity; Baltimore, 1946; Kap. V A : The Charismatic Age of Israel; S. 210—220. *) Über Salomos Gaueinteilung s. A. A l t , Kitteliestschrift, 1930, S. 1 — 1 9 . Dazu W . F. A l b r i g h t , a. a. O. S. 223 und S. 3 3 1 , Anm. 21, wo die wichtigsten Äußerungen dieser Kontroverse zitiert werden. Albright stellt eine nene Erörterung der Frage in Aussicht. s ) Vgl. zum Bundesschluß: W. E i c h r o d t . Theologie des A. T., Bd. 1, Berlin, 1948; S. 6—8.

2*

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Die j ahvistische Quelle schildert die Geschichte des Gottesvolkes Israel steht hier im Mittelpunkt der Weltgeschichte; von Jahve erwählt gesegnet und zum Segen für alle Völker gemacht, wird es aus Ägyptei errettet, erhält am Sinai Jahves Gebote und wird von ihm in das ver heißene Land geführt. Hier ist Israel nun auch Kultgemeinde; nich allein Jahvevolk, für Jahve kämpfende und nach Jahves Willen lebende sondern ihn durch einen festgelegten Kultus verehrende Gemeinde. Da alte Gesetzeskorpus Exod. 34,14—26 enthält fast ausschließlich kultische Gebote. Die ä l t e s t e n B e z e i c h n u n g e n , die in den Quellen für die aus de Wüste in Palästina eingedrungene und dort zu einem Volk und Staa gewordene Stammes- und Glaubensgemeinschaft gebraucht werden sind Dp, n w np, o-nb^n) op, ^3 und S r j T Den Gebrauch von op und "ü hat L. Rost untersucht, wobei e zu dem Ergebnis kommt: „'13 bezeichnet die Gesamtbevölkerunf eines Territoriums, ap die Mannschaft eines Volkes.. ." 1 ). Dahl darüberhinausgehende Feststellung zu op, die hier mit Vorbehal wiedergegeben sei, lautet: „Das Wort wird vor allem von dem einen Volk Israel, gebraucht und tendiert auf die Bedeutung Gottesvolk" (S. 3) Es ist deutlich, daß aus der jeweiligen Anwendung dieser beiden Worte kaum feste Charakteristiken für das Selbstverständnis der alten is raelitischen Gemeinde gewonnen werden können. Mehr sagen uns di< bei Dp (nie bei '13) stehenden Gottesnamen, die das Bewußtsein de Abhängigkeit des Volkes von seinem Gott erkennen lassen. Der Name Israel ( = „es streitet Gott") ist für die spätere Gemeind der bedeutsamste geworden. „Israel" ist von Anfang an mehr als di irdische, sichtbare Stammes- oder Glaubensgemeinschaft; es ist ein „Gesamtperson", zu der nicht nur die gegenwärtigen sondern auch di' gestorbenen und künftigen Geschlechter gehören*). An dies Verständni des Namens knüpft die „Israel-Ideologie" des Gesetzes und der Escha tologie an, die ein erneuertes Israel im heiligen Land erstrebt und da Heil der Endzeit für Israel erwartet (s. S. 23!. 28; Dahl, S. 45)*). Die grundlegende Wandlung des Gemeindebegriffs, die sich in de Zeit des D o p p e l r e i c h s vollzog, ist nach dem vorliegenden Quellen material klar zu erkennen und seit langem gekennzeichnet worden*) Die Bezeichnungen für Land und Volk im A. T. (Procksch-Festschrift), 1934 S. 137—147. *) S. dazu bes. O. E i ß f e l d t , Der Gottesknecht, 1933; S. 12—25. H. W. R o b i n son, The Hebrew Conception of Corporate Personality; Beih. zur Zeitschr. f. d.a.t liehe Wiss. 66, 1936. *) Vgl.G. A.Daneil, Studies in the Name Israel in theO.T.; Uppsala, 1946 *) S. R. Smend, Lehrbuch der alttestamentl. Religionsgeschichte, Freibur i . B r . , »1899; S. 174 u.ö.; O. E i ß f e l d t , S. 12t

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Sie besteht darin, daß das bisher unauflöslich erscheinende Verhältnis zwischen Jahve und dem sichtbaren Israel gesprengt und die Entstehung eines neuen Gottesvolkes aus Israel gepredigt wird. Den ersten §phritt tat der E l o h i s t . Die Auflösung des Bundes zwischen Gott und Israel ist von der elohistischen Quelle nicht verkündet worden. Gott ist auch in ihrer Schau der Gott Israels. Aber der Elohist hat bereits ein anderes Israel vor Augen als der Jahvist. Die übliche Kennzeichnung des Elohisten als einer theokratischen Schrift hat ihre tiefe Berechtigung; jedoch ist nicht zu bestreiten, daß die Grundlage des Gemeinwesens auch in der Zeit Moses, Deboras und selbst Davids die Anerkennung der Herrschaft Gottes war oder daß dies wenigstens erstrebt wurde. Das Charakteristische des Elohisten liegt wesentlich in seiner Gemeindeauffassung. Der Akzent wird gegen früher grundsätzlich verändert. Die Jahveverehrer werden nicht mehr ohne weiteres mit dem Kollektivum des irdischen, sichtbaren israelitischen Stämmeverbandes gleichgesetzt; auch nicht das idealisierte Volk der Geschichte als „Gesamtperson" oder „seelische Ganzheit" ist das Gottesvolk, sondern diejenigen, die das Gesetz Gottes haben, erfüllen und sich von heidnischem Wesen fernhalten, und nur sie: „ W e n n ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund bewahrt, dann sollt ihr mir ein Eigentum (n^aip, L X X : ein „Volk des Eigentums") vor allen Völkern sein . . . , und sollt mir ein Königreich von Priestern (D-jnb npSipa) und ein heiliges Volk DP) sein . . . " (Exod. 19,5 f.); „Siehe, ein Volk, das für sich ("ny1?) wohnt und sich nicht unter die Heiden (D^:) rechnet" (Numeri 23,9b). Es fügt sich in diese Anschauung des Elohisten von der Gemeinde Gottes, daß die Versuchung der Seinen ein wichtiges Erziehungsmittel Gottes ist (Gen. 22, Exod. 15,25). So haben wir hier zwar ohne theoretische und systematische Klarheit den alten Kollektivismus und späteren Individualismus nebeneinander: Gott ist der Gott des ganzen Volkes, aber doch nur derjenigen, die seinen Bund bewahren. Die Kanaanisierung des Kults und die Untreue des Volkes erbitterte und kränkte die Jahvetreuen aufs tiefste; der alte Glaube, daß Israels Sieg Jahves Sieg sei, konnte angesichts der Ohnmacht des kleinen und nun gespaltenen und uneinigen Volks im 9. Jh. nicht von Bestand sein. Diese beiden Erfahrungen riefen die Unheilsprediger auf den Plan. E l i a kündigte an, daß nur 7000 Jahvetreue aus einem über Israel hereinbrechenden Blutbad übrigbleiben würden (I. Kön. 19,15—18). Wie sein Zeitgenosse Micha ben Jimla trat Elia im Namen des eifersüchtigen, d. h. keine Götter neben sich duldenden Jahve auf (I. Kön. 19,10. 14) und war geradezu gezwungen, die Niederlage des abtrünnigen Volks zu verkünden, damit Jahve recht behielt und Sieger blieb. (Die 21

Eliageschichten können jedoch nur mit Vorbehalten als zeitgenössische Quelle benutzt werden). Ausgesprochen wurde die Voraussage des Untergangs Israels nach unserer Kenntnis zuerst von Arnos (3,11 4,11 5,2.16 7,8f. 11 8,2). Arnos selbst gibt als Grund für Israels Vernichtung die Sünde an (2,4—16). Aus der ältesten Jahvebegegnung hatte sich das Dogma ergeben, daß Jahve der Gott des Volkes Israel sei. Es kann nicht bestritten werden, daß Mose, Josua, Samuel und David von der Wirklichkeit Gottes berührt worden waren; das Dogma jedoch, das daraufhin entstand, erwies sich als falsch. Mit klarer Entschiedenheit hat Arnos

diese Erkenntnis vollzogen (9,7). Er konnte es nur tun, weil ihm ein vollerer Blick in das Wesen Gottes beschieden war: Jahve ist der Gott und Herr aller Völker (3,6 5,8 9,2—5. 7). Die Gottesbegegnung war hier womöglich von noch stärkerer Intensität, gewiß von größerer Klarheit als bei Israels ältesten Führern. Jahve wurde als die größte, ja einzige Wirklichkeit der Welt gesehen: er macht die Geschichte. Deshalb mußte der Kult abgelehnt werden, weil das ausschließliche Vertrauen auf Jahves Handeln und Hilfe durch ihn gefährdet wurde oder verloren ging. Gemeindebildend ist die Verkündigung des Arnos nicht gewesen. Im sichtbaren Israel fand er keinen Anhaltspunkt für die Bildung eines Gottesvolks. Dennoch bleibt die besondere Beziehung Jahves zu Israel bestehen, wenn nicht im Heil einer künftigen Welt, so doch im Gericht, das Israels Gott hält und bei dem das erwählte Volk im Mittelpunkt steht (3,2 4,12). Bei der Entwicklung einer neuen Gemeindeauffassung geht H o s e a , dessen Verwandtschaft mit dem Elohisten mit Recht hervorgehoben wurde 1 ), über Arnos hinaus. So tief die Untreue des Volkes war, Jahve konnte es nicht aufgeben. Irgendwie mußte seine Liebe zu seinem Volk erhalten bleiben. Die Sünde und Verworfenheit des Volks erscheint mindestens ebenso schändlich wie bei Arnos, die Strafe nicht weniger furchtbar (9,16 10,7 13,9 14,1); aber einem durch ihn selbst total erneuerten und gehorsam gewordenen Israel wird Jahve das Heil schenken und sich in Ewigkeit verloben (2,19—25). Hier finden wir die älteste Schau einer besseren, künftigen Welt, in deren Mitelpunkt das Gottesvolk steht. Von dem Partikularismus des nachexeilischen Judentums ist Hosea weit entfernt; doch gebraucht er neben dem Elohisten (s. S. 21) als Erster die Worte und B'la im Sinne von ßdpßccpoi (8,10; 9,1). Bei J e s a j a geht die Entwicklung wieder einen deutlichen Schritt weiter. Arnos sah vor allem die Auflösung des Verhältnisses zwischen Jahve und Israel; Hosea wollte den alten Bund retten, konnte es aber nur in eschatologischer Schau; Jesaja begann, die neue Gemeinde, das kommende Volk Gottes, in Juda zu schaffen. l)

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S. E. S e l l i n - ! . . R o s t ,

Einleitung in das A. T., 1950; S. 58f.

Auch er wußte um den Untergang des Volkes; ja, er sollte es Verstecken, damit es gerechterweise bis auf einen Rest von einem Zehntel vernichtet werden konnte (6,10—13; 10,21 f.). Gottes völlige Unabhängigkeit und Uberweltlichkeit zeigt sich am Gerichtstag (2,6—22). Eine Verpflichtung gegenüber seinem früheren Bundespartner anzunehmen, wäre hiernach ein unvollziehbarer Gedanke (vgl. 8,11—13). Aber es gefällt Jahve, dem Rest des Volkes seine Bundestreue zu erweisen. Durch die Vernichtung Assurs beginnt sich sein Plan mit der Völkerwelt zu vollenden (14,24—27). Das Heil einer seligen Endzeit wird über das neu gewordene Gottesvolk ausgeschüttet, das ein gottgesandter Davidsproß in Frieden und Gerechtigkeit ewig regiert (9,2—7; 11,1—10). Und nun ging Jesaja daran, die neue Gemeinde in Jerusalem bilden zu helfen. In einer Hausgemeinde, in seinen „Jüngern", in den „Kindern, die ihm der Herr gegeben hat" (8,16. 18) sah er offenbar den Anfang des neuen Gottesvolks. Sie erhielten eine besondere Weisung, im Unterschied zum übrigen Volk. Die Heiligkeit Jerusalems bestand für Jesaja darin, daß dort die Gemeinde war, die Jahve wieder als sein Volk annehmen wollte und die ihm völlig und ausschließlich vertraute. Die spätere Entwicklung nahm diese Gedanken Jesajas zwar auf, bog sie aber in einem folgenschweren Mißverstehen um (vgl. S. 28). Durch Micha und Z e p h a n j a wurde die Geschlossenheit der Gemeinschaft weiter untergraben. Es bedeutete eine Sprengung des alten Gemeindebewußtseins, wenn bestimmte Klassen und Stände als besonders schuldig und dem Gericht ausgesetzt erschienen; bei diesen beiden Propheten werden die führenden Klassen, die Fürsten, Prinzen, Beamten des Palastes, Häupter, Richter, Besitzenden, Priester und Propheten verurteilt (ML 3,1. 5f. 9—11; 6,12; Zeph. 1,8; 3,3f.). Nach Michas Weissagung wird einem Rest (5,3) das Glück der Endzeit zuteil; Zephanja verkündete, daß die Demütigen, die nach Gottes Geboten handeln, am Zornestag des Herrn vielleicht verborgen werden können (2,3). Für das Deuteronomium 1 ) bestand die Gemeinde aus den in seinen Predigten und Gesetzen Angeredeten: „Höre, I s r a e l . . . " Das Nordreich war untergegangen; Juda und die israelitischen Überbleibsel Samariens, die sich an Zion anschlössen, bildeten jetzt den irdischen Bereich des Gottesvolks. Das Erbe des Elohisten wurde vom Deuteronomium angenommen, gewahrt und stark betont: „Höre, Israel, die Satzungen und Rechte, die ich euch zu tun lehre, damit ihr am Leben b l e i b t . . . " (4,1). Aber dies Israel der Gehorsamen und Getreuen hatte ein ganz spezielles Gepräge, das dem Elohisten noch unbekannt sein mußte. ') Vergl.: G . v . R a d , Das Gottesvolk im Deuteronomium, Stuttgart 1929-, bes. S. 20—23, und Deuteronomium-Studien, Göttingen, '1948, S. 49—51.

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Das „Israel" des Deuteronomiums war die Gemeinde, die irgendwie legalerweise mit dem Jerusalemischen Gottesdienst verbunden war und — ihrem Eid getreu (II. Kön. 23,1—3) — das neue Gesetz hielt 1 ). Die prophetische Forderung nach ausschließlichem Vertrauen auf Jahve und restloser Hingabe an ihn sollte hier für die Gesamtheit statutenmäßig festgelegt und auf Grund dieses Statuts allgemein durchgeführt werden. Das Volk sollte unsträflich sein, Gottes Zorn durfte nicht wieder heraufbeschworen werden. Die schärfsten Mittel wurden angewandt, das Böse aus dem Volk auszurotten und eine neue Befleckung des Landes zu verhindern (13,7—12: 17,7: 22.21—24 u. ö.)*). Um das besser erreichen und ständig überwachen zu können, wurden Kult und Priesterschaft an Jerusalem gebunden und die Gemeinde von hier einheitlich geleitet. Wie verzweifelt hat Israel darum gekämpft, die Beziehung Gottes zum Kollektivum des Volks zu erhalten. Neben „Israel" bevorzugt das Deuteron, als Bezeichnungen für das Gottesvolk: „Eigentumsvolk" .-^>¿1? op (7,6; 14,2; 26,18), („Volk des) Erbbesitz (es) " n^m oder ,"òro np (4,20; 9,26; 32,9), „Besitz, Teil" pbn (32.9)Die späteren Propheten sind der Gemeinde stärker verbunden gewesen als die Unheilsverkünder der alten Zeit. Das zeigt sich schon bei J ere mia. Zwar ist die Gemeinde sein Todfeind, und er scheint der Todfeind der Gemeinde zu sein ; das ist aber nur deshalb so, weil er von Gott gezwungen wurde, die Vernichtung des Volkes zu verkünden. In Wirklichkeit sind die Schmerzen der Gemeinde seine eigenen Schmerzen, und kein Prophet konnte besser für das Volk bitten als er (Kap. 14). Jeremia mußte erleben, wie der Versuch des Deuteronomiums, auf gesetzlichem Weg ein gottwohlgefälliges Volk zu schaffen, scheiterte. Der Prophet sah, daß auch Juda keine Buße tat, und daß die Verwerfung deshalb endgültig und unwiderruflich war. Das Vertrauen auf Gesetz und Tempel mußte ihm deshalb als Wahn erscheinen (8,8f.; 7,8—15). Die Hoffnung auf Schaffung einer neuen Gemeinde aus dem Volk oder einem Teil von ihm ist bei Jeremia nicht zu finden. Er hielt es für unmöglich, daß sich auch nur ein Teil des Volkes bekehrte (6,27—30), ja, daß auch nur ein einziger Getreuer in Jerusalem zu finden wäre (5,1). Einzelnen oder einzelnen Gruppen verhieß er Rettung (Kap. 24; 21,8f.; *) D a ß der Kultus (nicht d i s soziale Moment) bei der Entstehung und Durchbohrung der deuteionomischen Reform die Hauptrolle spielte, kann m. E - nicht widerlegt weiden. ') G. v. R a d (Deuteronomium-Studien, S. 41) betont das starke Interesse, das die Sprecher des Deut, an der „außenpolitischen Existenz Israels" hatten: Die Krwlhlung des Gesamtvolkes durch Jahve sollte durch die Reform aktualisiert und damit der Heilszustand herbeigeführt werden.

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42, io), aber nur, um demgegenüber die Repräsentation des gesamten Volkes der restlosen Vernichtung preiszugeben. Jahve hatte es für Jeremia im Grunde immer mit dem Volk als einer unteilbaren Ganzheit zu tun. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die leidenschaftliche und innige Gottergriffenheit des Propheten stark persönliche Züge trägt. Das Band zwischen Jahve und Israel wird nicht zerschnitten. Die Verbundenheit des Richters mit dem verurteilten Volk zeigt sich im Gericht (ähnlich wie bei Arnos; S. 21 f.). Aber auch eine Neuschaffung zu einem Gottesvolk wird durch Gott erfolgen (3,17—19), nach Kap. 31 durch einen neuen Bund, in dem Israel das Volk Gottes wird und sein Gesetz im Herzen trägt. Das Deuteronomium wollte das ganze Volk zu einem Gottesvolk machen. Dabei hatte es mit allen Äußerungen des völkischen Organismus zu tun. Dieses Bestreben, Volk und „Kirche" 1 ) wieder zu vereinigen, hatte nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Nach der Loslösung des Volkes vom Heimatboden, im Exil, war man der Situation der Wüste näher gekommen; hier mußte der Versuch, ein heiliges Volk zu schaffen, aussichtsreicher erscheinen. So wurden die Ideale der deuteronom. Bewegung hochgehalten und ihre Ziele aufs Neue in Angriff genommen. H e s e k i e l ist als Priester des Jerusalemischen Tempels ein Repräsentant des deuteron. Geistes gewesen. Er sprach zwar in Worten, die an Jeremia erinnern, von dem anderen Herz und neuen Geist, die Gott dem Volk geben würde (11,19; 36,26), aber er dachte dabei an etwas anderes als der Priestersohn aus Anatot. Heselriels Sinnen ist auf das Rituelle gerichtet, und von hier aus gestaltete er in der Theorie die künftige Organisation der Gemeinde. Er betonte die kultischen Pflichten (4,14; 18,6; 20,12; 22,8. 26; 23,38 usw.) und entwarf das Bild der künftigen Theokratie (40—48), in der der Kult die Hauptrolle spielt. Die gesamte ständische Gliederung des Volkes hat ihre besonderen Verpflichtungen durch den Gottesdienst. Aus den Versprengten Israels wird sich dies Ideal-Volk zusammensetzen, die Heiden werden nicht daran teilnehmen ( n , i 6 f . ; 34,13; 36,23^; 3 7 , n f . u. ö.). Die Kapitel L e v i t i c u s 17-26 erstreben die „Heiligkeit" der Gemeinde im Geiste Hesekiels. Die Einrichtung des Kults und die rechte Kultübung werden hier bis in die Einzelheiten gesetzlich festgelegt. Von anderer Art war der zweite große Prophet der Exilszeit. Die Kapitel 40—55 des Buches J e s a j a sind von der Teilnahme an den umwälzenden politischen Ereignissen durchzittert, vor allem von der Gewißheit der bevorstehenden Befreiung aus der Gefangenschaft. In großartigen eschatologischen Bildern wird die Rückkehr vorausgesagt. ») O. E i ß f e l d t , S. 1 5 — 1 7 .

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Obwohl der Geist dieser Kapitel von dem Hesekiels grundverschieden ist, tritt als „Gemeinde" auch hier „Israel" auf, das Volk in Vergangenheit und Gegenwart, das Doppeltes für alle seine Sünde empfangen hat und nun mit einer wunderbaren Freudenbotschaft getröstet werden soll. Ein grundlegender Unterschied zu Hesekiel, dem Heiligkeitsgesetz Lev. 17—26 und dem Deuteronomium besteht in der Überwindung des Partikularismus. Der Gott Deuterojesajas, der der erhabene Herr der ganzen Welt und alles Menschengeschlechts ist, zieht auch die Heidenwelt in die kommende Gottesherrschaft und läßt sie dazugehören (42,1. 6; 45,23; 49.6; 52.io; 54,3; 55,5). Die Frage des richtigen Kults und der vorschriftsmäßigen Kultausübung bewegt Deuterojesaja gar nicht; er nimmt vielmehr die altprophetische Polemik gegen den Kult auf (43,22-24) und vertraut allein auf Gottes Handeln bei der Schaffung der neuen Welt und des neuen Volkes. Das Wiedererscheinen kultischer Forderungen im sogenannten T r i t o j e s a j a , Jes. 56—66 (56,2.7; 58,13; 66,23), bat wesentlich zur Abtrennung dieser 11 Kapitel von Deuterojesaja beigetragen. Die ausgesprochen universalistische Tendenz des tritojesajan. Buches, die sich selbst im Zusammenhang der kultischen Forderungen durchsetzt (56,3—7) und zum Deuteronomium im Gegensatz steht (vergl. 56,3—7 mit Deuteron. 23,2. 4) bildet eine starke Klammer dieser beiden Teile des Jesajabuches. Sie vertreten damit eine Auffassung der von Gott gewollten und bestimmten Spannweite der Gemeinde, die der schließlich siegreichen Exklusivität entgegengesetzt ist. Die wenig verfängliche und schwer angreifbare Form, in der die antideuteronomische universalistische Überzeugung in den Büchern R u t h und J o n a vertreten wird, macht es wahrscheinlich, daß hier Nachfahren Deuterojesajas in einer Zeit nationalistischer Enge am Werk waren. Die Verzögerung des Tempelbaus nach der Rückkehr aus dem Exil kann kaum anders erklärt werden als so, daß die von enthusiastischen Erwartungen beseelten Heimkehrer auf die Erfüllung der deuterojesajan. Prophezeiungen oder auch auf eine wunderbare Verwirklichung der Pläne Hesekiels hofften. Wie konnten sie mit ihren beschränkten Möglichkeiten dem Herrn des Weltalls eine Wohnstätte bauen (vgl. Jes. 66,1)! Als sich nach Jahren vergeblichen Wartens in Not und Elend die Enttäuschung und Ernüchterung breit machte, als infolge davon wüste Götzenkulte aufkamen (Jes. 57), setzte sich die gesetzlichpraktische Richtung (deren Schematismus und Illusionismus allerdings gar nicht „praktischer" Herkunft war) bei den geistlichen Führern der Gemeinde wieder durch. Die Leitung der zurückgekehrten Gemeinde muß priesterlich gewesen sein; mehr als ein Zehntel der ersten Rückkehrer waren Priester (Esra 2,36—39.64; Nehemia 7,39—42.66). 26

Seit 520 wurde der Tempelbau durch den Hohenpriester Josua, den Davididen Serababel, Enkel Jojachius und persischen Statthalter in Jerusalem, und durch die Propheten Haggai und Sachar j a mit Energie betrieben. Der Prophet sah die Nachlässigkeit im Tempelbau als tätliche Verfehlung, als Ursache für Dürre und Elend an (Hag. 1,5—11). In viereinhalb Jahren wurde das im Vergleich zum Salomonischen Tempel armselige Gebäude hergestellt. Damit hatte die nachexilische Gemeinde einen neuen, festen Mittelpunkt. „Israel" war nun persische Provinz geworden, und trotzdem der politische Nationalismus mehrfach aufflackerte, fand man sich mit diesem Zustand ab; das Judentum entwickelte sich zu einer Religionsgemeinschaft. Doch ist fast das ganze Jahrhundert nach der ersten Rückkehr von schweren Kämpfen um den Bestand der Gemeinde erfüllt gewesen. Die Gola war nicht von Anfang an unbeschränkte Herrin der Lage. Jerusalem war nach 587 nicht entvölkert worden; den zurückgebliebenen Trümmerbewohnern gegenüber mußten sich die Rückkehrer zunächst durchsetzen. Von Samarien wurde das, was sich seit 536 in Jerusalem abspielte, mit Mißtrauen und großer Sorge beobachtet; und hier erwuchs den Zurückgekehrten ein neuer Gegner. Wir hören femer von Gegensätzen und Gruppen in der Gemeinde ; vor allem von den Armen, Unterdrückten, den „Stillen im Lande" (Psalm 35,10; 51,19; Jes. 57,15; 61,1; 66,2), die als die Gottwohlgefälligen dastehen1). Schließlich kam es auch in dieser Zeit zur Sektion der samaritanischen Gemeinde2); und bei Maleachi ist von einer Gruppe von Gottesfürchtigen (nvr -Ky) die Rede, die sich gegen die Skeptiker und Verächter wenden und sich untereinander Jahves getrösten (3,13—16). Doch haben diese Schwierigkeiten und Schichtungen des neuen Gemeinwesens nicht verhindert, daß im 5. Jh. in Jerusalem eine äußerst straffe und zentralistische Organisation errichtet wurde. Unter den in Babylon Zurückgebliebenen, wo die äußeren Hemmnisse die Entwicklung des Schematismus nicht aufhielten, wurde die geistige und schriftliche Grundlage dafür festgelegt. Sie hat in dem Gesetzbuch Gestalt gewonnen, das E s r a mit nach Jerusalem brachte und Nehemia mit den Machtmitteln des persischen Statthalters in Juda durchsetzen und vom Volk beschwören Heß. Diese Verfassungsurkunde war auf das Ziel abgestimmt, die Gemeinde Gottes in Jerusalem zu schaffen. Sie war von der Überzeugung getragen, ') L. R o s t , S. 86, hfllt sie für eine besondere Gemeinde. *) Neh. 13,4-9; Josephus, Antiqu. X I 7,2 8,2. 4, berichtet von einem Priester Manasse, der von Jerusalem verbannt — zu seinem Schwiegervater Sanballat nach Samarien ging und Priester im Tempel auf dem Garizim wurde; allerdings spielt dies Ereignis nach Jos. in der Zeit Alexanders d. Gr. Wahrscheinlich sind beide Berichte zu kombinieren.

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daß das Heil kommt, wenn das Gesetz befolgt wird. Universalismus und Partikularismus vereinigten sich in bezeichnender Weise: Gott, der Schöpfer und Herr der Welt, hat die Juden erwählt und ihnen das Heil vorbehalten; die ganze Geschichte der Welt und des Volkes von der Schöpfung an wurde unter diesen Gesichtspunkt gestellt. Die Gesetze beziehen sich hauptsächlich auf den Kultus; die Verwaltung der Gemeinde wird ganz priesterlich, hierarchisch. An der Spitze steht der Hohepriester (vom Deuteronomium und Hesekiel noch nicht erwähnt), ihm zur Seite die Priester und Leviten. Genaue Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften wird in der Folgezeit das Kennzeichen für den echten Juden. Unterlassen der Beschneidung (Gen. 17,14), Entweihung des Sabbats (Num. 15,32—36), Gotteslästerung (Lev. 24,10—16), Opfer an unheiliger Stätte (Lev. 17,9), Versäumnis von Passahfeier (Num. 9,13) und Versöhnungsfasten (Lev. 23,29), Blutgenuß (Lev. 7,27) u. a. sind nach dem Gesetz mit dem Tode zu bestrafen. So hatte der Nomismus eindeutig gesiegt. Die „Gemeinde" läßt sich nun leicht definieren; sie besteht aus den Gesetzestreuen. Diese Einstellung hat sich im nachexilischen Schrifttum auf das Stärkste niedergeschlagen1). Der Unterschied zwischen der Gemeindeauffassung der levitischen Chronik und des Priesterkodex besteht darin, daß im Priesterkodex die Aneinanderreihung der Gesetze im Mittelpunkt steht, der Chronik die Ausübung des Kults, die Psalmen und Predigten und die Freude daran, das wichtigste ist 2 ). Mit dem Untergang des Staates wurden andere B e z e i c h n u n g e n für die Gemeinschaft üblich. Der Name Israel hat sich allerdings vom Gesamtreich auf das Nordreich, vom Nordreich auf Juda und später auf die nachexilische Gemeinde übertragen und sich von den ältesten Quellen des A.T. über die Propheten, das Deuteronomium, Esra, die Priesterschrift, die Chronik bis ins Rabbinentum erhalten (und ist auch die offizielle Bezeichnung des 1948 neu erstandenen jüdischen Staatswesens in Palästina geworden). Folgerichtig trat das Wort ap zurück. Der Priesterkodex bevorzugt *) Der Zeitschriftenschau im 61. Bd. (1945/48) der „Zeitschrift für die a. t.-liche Wissenschaft", S. 254, entnehme ich die Anzeige eines mir nicht zugänglichen Artikels von R. L. H i c k s , The Jewish Background of the Doctrine of the Church; Anglican Theol. Review X X X (1948), S. 107—117, als dessen Hauptinhalt J . H e m p e l angibt: „Das Christentum erbte vom Judentum das Bewußtsein, eine durch einen gemeinsamen, gottgeordneten Kultus unauflöslich aneinandergebundene Gemeinschaft zu sein . . ." *) Besonders herausgearbeitet von G. v. R a d , Das Geschichtsbild des chronistischen Werkes, 1930; (S. 41—58).

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statt dessen rnp „organisierte Gemeinde"1). Daneben findet bei ihm das Wort Sn^ häufigste Verwendung. Snjj hat zunächst nur die Bedeutung einer Volksversammlung oder überhaupt einer Ansammlung und wird später (P, Psalmen, Chronik und bei Sirach) vorwiegend für die Gemeindeversammlung oder die Gemeinde als Kultgemeinschaft verwandt2). Dahl lehnt eine genaue Begriffsbestimmung mit konsequenter Unterscheidung beider Wörter ab und bemerkt, daß sie „oft einfach Synonyme" sind (S. 44). In den späteren Stücken des Buches Jeremia, bei Esra und Nehemia wird der Name B'TVP die übliche Bezeichnung für das Judentum in aller Welt. Der Gemeindebegriff des nachexilischen Judentums war sowohl der W e i s h e i t s l i t e r a t u r wie dem Hellenismus ganz fremd. Beide Geistesströmungen mußten — wollten sie sich im Judentum durchsetzen —, dies Restprodukt des gescheiterten jüdischen Staatswesens überwinden und gleichschalten. Beide Bewegungen — die Weisheit besonders in der späten Skepsis vom Typus Kohelets — brachten das Judentum in die Gefahr der Auflösung. Israelfremdes orientalisches Geistesgut drang machtvoll in den Bereich des Jahveglaubens ein, und der Hellenismus drohte zeitweise, die kleine jüdische Gemeinschaft aufzusaugen. Dennoch muß festgestellt werden, daß die jüdische Gemeinde in diesen Auseinandersetzungen für ihr Wirkungsgebiet gesiegt hat. Sie assimilierte sich die altorientalische Weisheit und behauptete ihre Positionen in der Welt des Hellenismus. Sie zeigte sich damit widerstandsfähiger als die christlichen Kirchen des Abendlandes in der Neuzeit, die den durch die Aufklärung eingeleiteten Säkularisierungsprozeß nicht verhindern konnten, deren beherrschende Stellung in ihrem eigenen Gebiet gebrochen wurde, und deren Gemeinden heute weithin keine Gemeinden mehr sind. Bereits die ältere Weisheitsliteratur erschien in Israel unter dem Thema: Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang; in der Weisheit Salomos und vollends bei Jesus Sirach ist dieser Fremdkörper in das Gemeindeleben eingebaut, ihm gefügig und nutzbar gemacht worden. Die Furcht des Herrn ist auch das A und 0 der Weisheit Sirachs (Kap. 1). Von der Gemeinde ist zwar in seinen Sprüchen nicht allzuviel die Rede, aber ohne Zweifel ist er — wie sein Enkel und Dolmetscher — ihr treuer Sohn gewesen. Der Grund für die Übersetzung wird in dem Prolog angegeben: damit auch die Diasporajuden „nach dem Gesetz des Herrn leben" können. Die „Gemeinde" verkündigt das Lob der Erzväter (44,15), ») S. L. Rost, S. 29—31. *) Dazu ausführlich L. Rost, S. 18—23. 88—91. 29

und von Noah, Abraham (Beschneidung!), Isaak, Mose und Aaron wird der Bundesschluß hervorgehoben (44,19- 21. 24; 45,6. 8). In der Weisheit Salomos wird die Weisheit der jüdischen Geschichtsbetrachtung dienstbar gemacht und heftig gegen diejenigen polemisiert, die Israels Glauben und Weg verlassen (Kap. 2). Im letzten Ausläufer der Weisheitsliteratur auf jüdischem Boden, dem Mischnatraktat Abot, erhebt der Weise die Forderung, sich nicht von der Gemeinde abzusondern (s. S. 32). Ob das Judentum hellenisiert oder das Griechentum im jüdischen Bereich judaisiert wurde, ist für unser Problem dadurch beantwortet, daß der feste Zusammenhalt der jüdischen Gemeinde in Palästina und der Diaspora für die Zeit vor Christus beispiellos ist. Die freiwillige Anerkennung der Autorität und Norm Jerusalems war das unzerreißbare Band, das die Juden in aller Welt zusammenhielt. Ein Mann wie Philo von Alexandrien vertrat für die Schrift unter besonderer Betonung des Gesetzes eine massive Inspirationslehre und wirkte aktiv für die jüdische Gemeindeorganisation. Die Konstituierung der jüdischen Gemeinde durch die Verpflichtung auf das Kultgesetz war von der Hoffnung begleitet gewesen, daß sich die messianischen Weissagungen bei Erfüllung des Gesetzes verwirklichen würden. Die messianische Zeit kam nicht; ihr Ausbleiben verursachte schmerzvolles Fragen. Durch die seleukidische Verfolgung brach sich die Erwartung des messianischen Reiches mit erneuerter Kraft Bahn und erzeugte das apokalyptische Schrifttum. Es verkündet die herrliche Zukunft der jahvetreuen Gemeinde. Doch löste diese Verfolgung auch eine andere Bewegung aus: den heldenhaften Widerstand gegen die Hellenisierungsversuche, den Kampf auf dem Schlachtfeld. Die aufständischen M a k k a b ä e r kämpften und starben für das Gesetz. Ihr Kampf war bewußter und reflektierter ein Kampf der Gemeinde Gottes als der, den die Scharen Josuas austrugen. Die Makkabäerbücher sind der Heldengesang dieses Kampfes. Wenn die bisher herrschende Meinung über die Entstehungszeit der im Sommer 1947 neu gefundenen hebräischen Lederhandschriften recht behält, gewinnen wir hier neue Kunde über den Kampf der Gemeinde in der Makkabäerzeit. In den von Sukenik1) veröffentlichten Teilen der Schrift, die er „Kampf der Kinder des Lichts gegen die Kinder der Finsternis" betitelt, wird beschrieben, wie die Kämpfer nach Anordnung der Sippenhäupter der Gemeinde (mjn rrax'^ükn