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German Pages 316 [336] Year 1962
THEOLOGIA VIATORUM
VIII
THEOLOGIA VIATORUM VIII JAHRBUCH DER KIRCHLICHEN HOCHSCHULE
BERLIN
1961/1962
H HRAl'SGHGEBEN IM A 1' I"T RAG DF.S DUZKXTKXKOLLEGIUllS ON PROFESSOR
DR. F R I T Z M A A S S
R H K "I" O R
W A L T E R
DE
G R U Y T E R
& CO.
/
B E R L I N
V O R M A L S G . J . G Ö S C H H N ' S C H i; V I ; R I.AG S H A N D LU N G • J . G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG
• GEORG
REIMER
1962
• KARL J.TRUBNER
-VEIT
&
COMP.
A r c h i v - N r . 32 J8 62 1 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche G e n e h m i g u n g des V e r l a g e s ist es auch nicht gestattet, dieses B u c h oder Teile daraus auf photomechanischem W e g e ( P h o t o k o p i e , M i k r o k o p i e ) zu vervielfältigen (g)
1962 by Walter de G r u y t e r & C o . , Berlin W 30 Printed in G e r m a n y
Satz und D r u c k : Walter de G r u y t e r 6c C o . , Berlin W 30 P h o t o s : Fritz P. K r ü g e r , Berlin-Steglitz
GÜNTHER
HÄRDER
HEINRICH KURT
VOGEL
SCHARF
Z u m 60. G e b u r t s t a g am 13. Januar — 9. April — 21. Oktober 1902 in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet von der Kirchlichen Hochschule Berlin
GÜNTHER
HARDER
HKINRICH
YOGF.L
KURT
SCHARF
VORWORT
Vier Beiträge dieses V I I I . Bandes der „Theologia Viatorum", die von G. Giese, D. Goldschmidt, R. Rendtorff, U. Wilckens, wurden im Rahmen einer Ring Vorlesung „Tradition und Gegenwart" im Wintersemester 1901/62 in der Kirchlichen Hochschule vorgetragen. Im übrigen steht der Band unter keinem einheitlichen Thema. Zum ersten Male wurden frühere, jetzt an westdeutschen Universitäten tätige, Dozenten der Kirchlichen Hochschule um ihre Beteiligung gebeten. E . Fuchs, H. Hommel, M. Mezger, L. Rost, M. Schmidt, C. Westermann sind der Bitte nachgekommen. Wir sind ihnen für dieses Zeichen der Verbundenheit mit der Kirchlichen Hochschule aufrichtig dankbar. Der „Osterkreis" von Kurt Ihlenfeld zeigt, daß es auch eine andere Art legitimer Interpretation biblischer Texte gibt als die wissenschaftliche Abhandlung. Wir danken ihm, dem treuen Freund der Kirchlichen Hochschule, daß er mit diesem Beitrag in unsere Mitte getreten ist und sich den Glückwünschen für die drei Jubilare angeschlossen hat. Für treue Korrekturhilfe danke ich Herrn stud. theol. Götz-Ulrich Sauer und Herrn stud. theol. Günther Stephanek. Das Jahrbuch 1961/02 ist drei Männern gewidmet, deren Namen mit der Geschichte der Kirchlichen Hochschule für immer unlöslich verbunden sind. Professor D. Dr. GÜNTHER HÄRDER gehörte bereits in der illegalen Zeit zum Dozentenkollegium und war von 1946—1948 und 1957/1958 Rektor; Professor D. HEINRICH VOGEL war einer der Begründer und ersten Dozenten und hatte von 1937 bis zum Krieg die Leitung, 1950/51 das Rektorat inne; Präses D. KURT SCHARF war seit 1945 Mitglied, seit 1954 stellvertretender Vorsitzender und seit 1961, als Nachfolger Propst Böhms, Vorsitzender des Kuratoriums der Kirchlichen Hochschule. Was die drei Jubilare der Kirchlichen Hochschule waren und sind, läßt sich in diesem Vorwort nicht sagen. Wir grüßen sie mit Daniel 12 Vers 3. F . MAASS
INHALTSVERZEICHNIS
FRITZ D E H N : OTTO
A.
Vom Wesen des Tragischen in der griechischen Dichtung
DILSCHNEIDER
. . . .
1
: Freiheit und Unfreiheit als sozialethisches Problem
KARL-GOTTFRIED ECKART:
L'rchristlichc Tauf- und Ordinationsliturgie (Col
Act 28 l i>)
23 Das Wesen des Sprachgeschehens und die Christologie ( W a r u m h a t
ERNST FUCHS:
die Predigt des Glaubens einen Text ?)
GOLDSCHMIDT:
HILDEBRECHT
38
Bildung zwischen Tradition und Gegenwart
GERHARD GIESE: DIETRICH
ROMMEL:
52
Die „unbewältigte Vergangenheit"
71
Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Licht antiker Über-
lieferung KURT
90 Ein Osterkreis
IHLENFELD:
HARALD
117
Die Spraclunlrage in der kirchlichen Verkündigung (dargestellt
KRUSKA:
an der heutigen kirchlichen Lage im südlichen Ostpreußen) KARL
KUT'ISCH:
127
Demokratie lind Reformation — zur Geschichte Jürgen Wullen-
wevers
139 Autodidaktos -
OTTO LUSCHNAT: FRITZ
MAASS:
MANFRED
MEZGER:
ROST:
157 •
•
•
173
Bachs Amt und Erbe im T h o m a s k a n t o r a t von Karl S t r a u b e
185
Thesen zum Begriff des Absurden bei Albert Camus
203
Tradition und Prophetie
ROLF RENDTORFF: LEONHARD
Eine Begriffsgeschichte
Das Gleichnis vom ungerechten H a u s h a l t c r Lucas Ui i — 8
WOLFGANG MÜLLER-LAUTER:
MARTIN
10
1 9—20
Zwei Glossen zum Sinn des Abendmahls
SCHMIDT:
216 227
Das Erbauungsbuch The Whole D u t y of Man (1659) und seine
Bedeutung für das Christentum in England CLAUS WESTERMANN
: Zur Sammlung des Psalters
232 278
Uber die Bedeutung jüdischer Uberlieferung in der Geschichte des hellenistischen Urchristentums 285
ULRICH WILCKENS:
JÜRGEN
WILHELM
WINTERHAGER:
Neu-Delhi und die Anfänge einer ökumeni-
schen Theologie KARL KUPISCH:
299
Schlußbericht aus den R e k t o r a t s j a h r e n 1959—1961, e r s t a t t e t a m
15. November 1961 (gekürzt)
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VOM WESEN DES TRAGISCHEN IN DER GRIECHISCHEN DICHTUNG V o n FRITZ D E H N
Es gibt eine schlechthin allgemeine, ausnahmslos jedes Leben treffende Tragik; sie liegt darin beschlossen, daß alles, was geboren wurde, zum Tode hin lebt und einmal in eine für Menschenaugen undurchdringliche Nacht versinkt. Wohl sind unsere Sinne und unser Denken so abgestumpft, daß wir im allgemeinen kaum noch bewußt gegen dies allgemeinste Schicksal reagieren, es sei denn, daß wir damit beschäftigt sind, uns gegen den konkreten Angriff des Todes zur Wehr zu setzen. Wir schließen vielleicht eine Lebensversicherung ab und bekunden damit, daß wir von einer Grenze des Menschenlebens sehr wohl wissen; aber im übrigen hat dies Wissen, wie ein berühmter Theologe der Gegenwart behauptet, noch niemandem eine schlaflose Nacht gemacht. In der Frühzeit der Geschichte, in der wir uns den Menschen weniger vom Großhirn und dem immer so beruhigenden rationalen Denken bestimmt vorzustellen haben als der aufgeklärte Spätmensch es ist, war es anders. Das gewaltige babylonische Gilgameschepos, von dem uns ansehnliche Teile überliefert sind, gibt dafür einen unwiderleglichen Beweis. Denn das Gilgameschepos hat nichts anderes als den grenzenlosen Schauder vor dem Tode und den freilich völlig vergeblichen Versuch, mit dem Schicksal der Vergänglichkeit fertig zu werden, zu seinem zentralen Inhalt. Ein Königssohn und Held, der entsetzt seines unvermeidbaren Endes innewird, der nach unsäglichen Mühen am Rande der Welt das Kraut findet, das ihm Leben geben könnte, ihm und den anderen, dem aber das rettende Mittel durch die Schlange entrissen wird, der vergebens den Schatten des toten Freundes beschwört, um Auskunft über die Unterwelt zu erhalten, und der — so hat man das Ende rekonstruiert — schließlich in seinen Palast zurückkehrt, in allem äußeren Reichtum keine Ruhe findet, bis der gefürchtete Tod ihn wegrafft — hier haben wir gewiß eine mächtige Urgestalt des Tragischen zu erkennen. Im Gilgamesch spüren wir das wilde, leidenschaftliche Aufbegehren einer frühen Menschheit gegen das noch nicht selbstverständlich gewordene Todesschicksal, das freilich nur in dumpfe Resignation einmünden kann. Gehen wir einen Riesenschritt in der Kulturgeschichte weiter und hinüber nach der Wiege 1 Theologia Viatorum 8.
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Fritz Dehn
unserer abendländischen Kultur, nach Griechenland, so finden wir in dem kleinen Attika, in Athen, die drei Dichter, deren Drama die abendländische Urgestalt des Tragischen bedeutet. Die Tragödie des Aeschylos, des Sophokles und auch noch die des Euripides scheint in ihrer Wirkungskraft unerschöpflich. Noch im deutschen Klassizismus des 18. Jahrhunderts galt das griechische Drama als normgebend, und wenn auch davon heute nicht mehr gesprochen werden kann, so ist doch keine irgend auf den Grund der Dinge gehende Betrachtung über das Tragische möglich, die an den Griechen vorüberginge. Das Drama der Griechen, von dem wir hier zu handeln haben, hat mit jenem babylonischen Urschreck nicht mehr viel zu schaffen. Wohl zittert noch das Grauen vor dem allgemeinen Menschenlos in ihm nach, wohl klagt mancher Chorgesang schwermütig über das Eingehen alles Lebens in den dunklen Hafen des Hades; doch das ist nicht mehr als eine Begleitmusik zum Grundtext. Den Grundtext aber liefert, mit ganz wenigen Ausnahmen, der Mythos. Über den Mythos ist unendlich viel geforscht und philosophiert worden. Für uns ist wichtig zu wissen, daß er für den Griechen nicht das war, was wir Dichtung, Märchen, Fabel nennen, sondern Wirklichkeit, in der der Unterschied zwischen Historie und Märchen aufgehoben war. Der Mythos ersetzte ihm die genaue geschichtliche Erinnerung. Wenn das Volk von Athen im großen Theater des Dionysos versammelt war, um der tragischen Trilogie, gefolgt vom Satyrspiel, zuzuschauen, so wußte es sich in eine große, mächtige, religiöse Handlung hineingezogen, die ihm beispielhaft den zwischen Göttern und Menschen anhängigen Prozeß zeigte. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Der antike Held, der Heros, steht nicht einsam im Weltraum. Alles, was ihm geschieht, sein Tun und Lassen, seine Größe und sein jäher Sturz, steht in Beziehung zu einer oberen und unteren Welt, ist eine Auseinandersetzung mit Göttern und Dämonen. Das Drama ist also nicht nur darum dialogisch, weil Menschen miteinander sprechen, sich gegenseitig zu überwinden suchen, oft genug in scharfer, zugespitzter Rede, Zeile um Zeile sich zuwerfend, miteinander streiten. Es ist dialogisch noch in dem tieferen Sinne, daß ihr Tun und Wollen immerfort bezogen bleibt auf den Willen der Götter, mögen diese nun unsichtbar bleiben oder sogar sichtbar in Erscheinung treten. Die Beziehung des Menschen zum Gott ist nicht von vornherein eindeutig klar; so wie der Mythos an dieser Frage rätselte, t u t es auch der tragische Dichter. Eine auf jeden Fall verhängnisvolle Spaltung ist die unvermeidliche Voraussetzung der Tragödie — wäre diese nicht gegeben, bestünde eine Harmonie zwischen Mensch und Gott, so könnte von einem tragischen Drama nicht die Rede sein. Das
Vom Wesen des Tragischen in der griechischen Dichtung
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Drama macht die verworrene und mehrdeutige Beziehung der menschlichen zu den göttlichen Spielern recht eigentlich zu seinem inneren Thema. Es weiß von Aufruhr, Schuld, Fluch, von vernichtendem Eingreifen der oberen Gewalten, aber auch wohl von einer trotz aller Dunkelheiten gnädigen Führung der Geschicke, von einer Aussöhnung und einem milden Frieden, wie der koloneische Ödipus ihn verkündet, wie er sicherlich den Schluß des aeschyleischen Prometheus bildete und wie er am Schluß der Orestie zwischen Orest und den ihn verfolgenden, wütenden Erinnyen gestiftet wird. Jedoch sind diese milden Lösungen, die die Gottheit als versöhnbar und freundlich erscheinen lassen wollen, von so überzeugender Kraft, daß sie vergessen lassen können, was ihnen voraufging ? Wenn Orestes schließlich von dem Gericht auf dem Areopag unter Mithilfe der Göttin Athena freigesprochen wird, so daß die Rachegeister von ihm ablassen müssen, kann das vergessen machen, daß er zuvor durch göttlichen Befehl angetrieben wurde, an der schuldigen Mutter, der Klytaimestra, zum Bluträcher, zum Mörder zu werden ? Ließen sie, die Götter, ihn nicht allein in dem schauerlichen Konflikt zwischen dem Gebot der Rache und dem der kindlichen Ehrfurcht ? Wenn Zeus dem Feuerbringer Prometheus seine Liebe zu den Menschen im dritten Drama der Trilogie vergibt, bleibt es darum weniger wahr, daß er den Heros wider a.lle Gerechtigkeit an den Felsen geschmiedet hatte ? War dessen letztes Wort etwa unberechtigt gewesen: „Seht, wie ich erdulde, was außer dem Recht ist?" Und wenn schließlich Ödipus, der einst so glanzvolle Herrscher von Theben, am Ende seiner hoffnungslosen Irrfahrt freundwillig von den Unterirdischen aufgenommen wird, als segnender Heros in der Felsenhöhle hausen darf, wird damit ausgetilgt, was Apollo ihm antat, der den Ahnungslosen in Vatermord und Blutschande stürzte ? Es sind grauenhafte Hintergründe, mit denen der griechische Geist sich auseinanderzusetzen hatte, sein Mythos spiegelte ihm kein goldenes Zeitalter vor, die „Herkunft" der wohlgeordneten griechischen Staatswesen ist mit allen Greueln befleckt. Treubruch, Verrat, blutige Menschenopfer, Blutrache, Inzest — und das alles unter Duldung, ja oft genug auf Anstiften der Götter, die den Menschen, wenn es ihnen gefällt, erhöhen wie jenen armen Findling, den Ödipus, den Knaben mit den geschwollenen, den durchbohrten Füßen, ja ihm Weisheit geben, mit der er die alte dämonische Erdmacht, die Sphinx stürzt, um dann ihn selbst in den Abgrund zu stürzen. Herakles, zum Wahnsinn inspiriert, mordet die eigenen Kinder, Aias, der gewaltige Held vor Troja, wird um geringen Fehls willen von Athena verblendet, daß er in der Meinung, gegen die verhaßten Männer Odysseus und Agamemnon zu kämpfen, mit dem herrlichen Schwert in eine Herde Schafe einfällt.
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F r i t z Dehn
Ist es verwunderlich, daß ein Volk, dem solche Visionen vom Menschengeschick vor Augen standen, zu dem schwermütigen Satz kam: das Beste sei es, gar nicht geboren zu sein, wenn aber doch, dann früh zu sterben ? Und ist es verwunderlich, daß durch das Drama immer wieder der Schrei der Empörung hallt, durch das gleiche Drama, das doch genötigt ist, das Urteil über den Heros, mit den Worten Friedrich Hölderlins zu reden, in den feierlichen Formen des Ketzergerichts zu vollziehen. E s ist kein Zweifel: ein tiefer Widerspruch geht durch die Tragödie hindurch, und die verkennen die abendländische Urgestalt des Tragischen, die den Widerspruch hinausinterpretieren wollen. E r geht durch das Bild der Götter, durch das der heroischen menschlichen Partner ihres Spieles, und natürlich nicht zuletzt durch den tragischen Dichter selbst. In der Tragödie spiegelt sich monumental der ungelöste Konflikt des griechischen Menschen mit der Gottheit. E r vermag kein ganzheitliches, in sich verständliches Bild des Lebens zu gewinnen. E r möchte wohl den Göttern trauen, ihnen ein gerechtes Walten zuschreiben. Aber unversehens wandelt sich ihm das Bild, das er soeben noch zu schauen meinte. Sind die Götter neidisch ? Können sie ein allzugroßes Glück der Sterblichen nicht mitansehen ohne in Mißgunst zu entbrennen ? Uralt ist diese Vorstellung vom Neide der Himmlischen, j a von der grausamen Ironie, mit der sie den eben auf den Gipfel des Glücks Erhobenen stürzen. Das ist Volksglaube und darum kam, mit den Worten J . BURCKHARDTS, dieser Volksglaube schließlich auf einen dumpfen Fatalismus hinaus. Die Philosophie suchte gewiß solche trüben Vorstellungen abzuwehren, ihr wurden die Götter zum Sinnbild der Gerechtigkeit und der Vernunft. Das ist die Meinung Piatons, der sie schon von Sokrates überkommen hatte, und das lehrt die stoische Weisheitsschule, die freilich die Götter überhaupt auf das die Welt durch waltende Vernunftgesetz reduzierte. Aber wir haben aus dem tragischen Zeitalter der Philosophie ein seltsames und ungewöhnlich packendes Zeugnis eines ganz anderen Denkens, eben des tragischen Denkens über die Götter. Heraklit von Ephesus hat das W o r t gesprochen, daß die Menschen das Leben der Götter sterben, die Götter aber den T o d der Menschen leben. Die Menschen sterben das Leben der Götter — in diesem wunderlichen Satz kommt zweierlei zum Ausdruck: das Leben, das die Menschen haben, ist zum Teil noch Leben der Götter, sie haben einen Tropfen des Götterblutes in sich, einen Lebensfunken ihrer unendlichen Leidenschaft und F r e u d e ; aber sie haben es nicht so, wie es die Götter selbst haben, unversiegbar und unanfechtbar, sondern sie sterben dieses Leben der G ö t t e r ; nur ein Rest ist ihnen geblieben von der Götterherrlichkeit, und dieser Rest wird fort und fort verzehrt. Die
Vom Wesen des Tragischen in der griechischen D i c h t u n g
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Götter aber, so fährt Heraklit fort, leben den Tod der Menschen — was kaum eine andere Deutung zuläßt, als daß das Leiden der Menschen an der Vergänglichkeit ihnen, den Göttern, zur Freude und zum Lebenszuwachs wird. Wie merkwürdig vermählen sich in diesem Wort eine rauschhafte, dionysische Bejahung und tiefe, schwermütige Verzweiflung. Und wie deutlich ist der Schatten, der auf die Götter fällt, die unbekümmert droben im Licht dahinleben und sich sogar grausam am Elend der Menschen weiden! Solches Wort zeigt uns, wie zerklüftet die griechische Seele war, welch tiefe Nacht ihr das Auge verdeckte. Schiller sehnte sich zurück nach den Göttern Griechenlands, nach jenen Zeiten, „wo der Dichtung zauberische Hülle sich noch lieblich um die Wahrheit wand!" Aber an der Stelle der zauberischen Dichtung war oft genug der härteste, nackteste Realismus der Weltbetrachtung da, und die Götter Griechenlands waren Spiegelbild einer harten und grausamen menschlichen Wirklichkeit. Das trübe, umflorte Auge vermochte nicht hindurchzublicken bis auf den Grund der Dinge, nicht bis zur Ahnung des weltüberlegenen, von den Strudeln der Leidenschaft nicht berührten Gottes. Der Gott ist hier das schauerliche, gigantische Gegenbild des Menschen mit aller seiner Ungerechtigkeit, Willkür und Leidenschaft; er ist inhuman durch und durch wie der Mensch, der nicht zufällig die Humanitas erfand. Mit diesem Erbe hatte die Tragödie sich auseinanderzusetzen, und von daher kommt es, wenn bei Aeschylos, noch deutlicher bei Sophokles und am unverhülltesten bei Euripides der Zweifel an den Mächten in freilich sehr verschiedenem Grade, manchmal unter der Decke sehr verschieden gearteter Eusebie sich geltend macht. Man kann zusammenfassend etwa sagen: die ganze Skala der Gefühle, von fromm vertrauender Anbetung bis zu trotzigem Aufbegehren und schließlich bis zum fast nihilistischen Zweifel wird von den Tragikern der Griechen innerhalb weniger Jahrzehnte durchlaufen, und zwar so, daß der älteste, Aeschylos, besonders in seiner Orestie die größte Anstrengung zu einer Ethisierung und Humanisierung der Gottmächte auf sich nimmt. Bei dem in der Mitte stehenden Sophokles dominiert eine gewisse scheue Ehrfurcht vor ihren an menschlichem Maß nicht meßbaren Ratschlüssen, die leicht den Charakter dumpfer Ergebung annimmt. Die Götter erhöhen und stürzen und erhöhen wieder ohne Grund. Euripides geht noch einen Schritt weiter und kommt zu dem furchtbaren Zweifel an der Sittlichkeit der Götter, der leicht zur Infragestellung ihrer Göttlichkeit überhaupt führt. Die drei Dichter spiegeln offensichtlich eine Entwicklung des religiösen Empfindens ab, die man nur als Dekadenz bezeichnen kann, als einen Niedergang bis hin an die Grenze der Verzweiflung. Alle drei versuchen das Walten der
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Fritz
Dehn
Götter, oder sagen wir allgemeiner des Schicksals, an den Vorstellungen menschlicher Sittlichkeit zu messen. J e heller, je wacher das Bewußtsein wird, um so düsterer, verneinender fällt das Bild aus. Das aber konnte nicht anders sein. Denn der Mythos, der den Stoff des Dramas hergab, kennt keine im menschlichen Sinne sittlichen und guten Götter; von Anfang an tragen sie das Zeichen des Dämons an der Stirn. Setzte sich also in der Tragödie die menschliche Sittlichkeit mit den alten Dämonen auseinander, so mußte der Konflikt schließlich zu einer Götterdämmerung führen. Damit war denn aber auch die Tragödie an ihrem Ende angelangt: mit der Gottheit verliert auch der Heros seine Substanz. In all ihrer Zwiespältigkeit ist nun diese abendländische Urgestalt des Tragischen dem glühenden Kern der Wirklichkeit näher als die optimistische Philosophie, besonders die der Stoa, die der Meinung ist, der Mensch vermöchte Herr des Schicksals, ja Herr des Todes zu werden. Diese überaus bequeme Philosophie wollte das Tragische ausschalten; ihr ging es um die Durchsetzung der vollen menschlichen Autonomie, d. h. der freien Selbstverantwortlichkeit des Menschen, und um die kleine menschliche Vernunft. Da war die Tragödie ein wesentlicheres und wahrhaftigeres Zeugnis vom Menschen. Sie verschleiert nicht die Furchtbarkeit des Schicksals und ist noch weit entfernt von der Schillerschen Meinung, daß es den Menschen erhebe, wenn es ihn zermalme. Sie weiß, daß zwischen Schicksal und menschlichem Wohlverhalten eine breite und wüste Kluft sich auftut, daß ein vortreffliches, bewundernswertes Leben noch keine Anweisung auf eine entsprechende „Belohnung" durch erfreuliche Lebensführungen darstellt. Über allen waltet etwas Undurchdringliches, unbesiegbar Grauenhaftes, eben das Schicksal, und keiner ist vor seinem Ende glücklich zu preisen. Gerade die höchsten Menschen trifft dies Unbegreifliche am liebsten und am härtesten. Wir dürfen nicht verschweigen, daß vielleicht eine letzte unausgesprochene, ja unbewußte Weisheit in der Tragödie zu spüren ist, die Ahnung nämlich einer allen gemeinsamen Urschuld, daß schon das menschliche Selbstsein, das Personsein in selbstherrlicher Freiheit eine dunkle Schuld in sich schließen könnte. Der autonome Mensch ist bereits das Produkt einer Fehlentwicklung, und wenn das zutrifft, versteht es sich, daß das Schicksal vor allem jene großen Charaktere trifft, die in ihrem Gepräge dem Autonomieprinzip am nächsten kommen. Es ließe sich zeigen, daß schon die Philosophie des Milesiers Anaximander diesen Gedanken im Keim enthält, und es läßt sich sehr wahrscheinlich machen, daß der alte Mythos von ödipus dies im Sinne hatte: das Schicksal des autonomen Menschen als ein tragisches, grauenhaftes zu prognostizieren.
Vom Wesen des Tragischen in der griechischen Dichtung
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Ödipus, das hat schon Hegel gesehen, ist der freie, sich selbst wissende Geist, der die bloße Natur, der er entstammt, überwindet, ödipus überwindet ja die ägyptische Sphinx, die dämonische Macht der Erde, durch Lösung ihres Rätsels, so daß sie sich in den Abgrund stürzt. D. h. wenn der helle, wache Menschengeist erscheint, muß die zeugende und tötende Natur ihre bestimmende Macht verlieren, und der Mensch steigt als Sieger über sie empor, wie der strahlende Sonnengott aus der nächtlichen Finsternis emporsteigt. Er tritt nun seine Rolle als der neue Gott der Welt an. Hegel sah in diesem ahnungsvollen Mythos nur die Verherrlichung der Autonomie 1 . Er übersah das Grauen, das ihm zugrunde liegt. Denn der in der Herrlichkeit seines Selbstbewußtseins sich sonnende Mensch ist dem bergenden Schutze seiner Herkunft untreu geworden. Er verließ den tragenden und nährenden Lebensgrund. Sein Verstand, der herrliche, rationale Verstand, kann ihm nicht leisten, was ihm vormals der aus dem Unbewußten wirkende Instinkt selbstverständlich gewährte: dieser neue Mensch kennt Vater und Mutter nicht mehr, er wird zum Frevler an den unumstößlichen Gesetzen der Natur. Er meint sehend zu sein und ist in Wahrheit blind, naturblind, gottblind. Von solchen schwermütigen Erkenntnissen hatte die Dichtung des 5. Jahrhunderts kein deutliches Bewußtsein mehr. Aber unbewußt und unverstanden mögen sie nachgewirkt haben und mögen uns einen Schlüssel geben zu den Unbegreiflichkeiten der alten Tragödie. Der Mythos steht im Aufgang der abendländischen Geschichte wie ein dunkles Menetekel vor der gepriesenen Entfaltung der autonomen Menschlichkeit, die in erster Linie das Verdienst des griechischen Geistes war. Welcher Sehende aber könnte verkennen, daß hier eine Stimme aufgeklungen ist, die über die Jahrtausende hinreicht und erschreckende Wahrheit geredet hat ? Es bedarf keines Wortes über die Gefahr für die Kultur, ja für den Bestand der Menschheit, in die jene in den verschlüsselten Worten des Mythos signalisierte sehende Blind1
Religionsphilosophie 2 I, S. 455/56. Hegel spricht über das Rätsel des Isistempels zu Sais. E s heiße in der Inschrift : „Die Frucht meines Leibes ist Helios". Damit sei die Klarheit, das Sichselbstklarwerden, als das Wesen der Natur ausgesprochen, es sei die geistige Sonne, die aus der Gottheit geboren werde. Diese Klarheit werde in der griechischen und jüdischen Religion erreicht, dort in der Kunst und in der schönen Menschengestalt, hier im objektiven Gedanken. Hegel fährt fort: „ D a s Rätsel ist gelöst: die ägyptische Sphinx ist nach einem bedeutungsvollen, bewunderungswürdigen Mythos von einem Griechen getötet und das Rätsel so gelöst worden: der Inhalt sei der Mensch, der freie, sich selbst wissende Geist". — Nietzsche hat dann in der „Geburt der Tragödie" den Finger darauf gelegt, daß gerade der weiseste der Griechen, Ödipus, zur tragischen Gestalt werden muß, und Erwin Reisner ist diesem Rätsel ergründend nachgegangen.
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Fritz Dehn
heit des autonomen Geistes uns Heutige hineingeführt hat. Es gibt aber Mächte, die den Sturz ins Bodenlose aufhalten, der Zentrifugalkraft entgegenwirken, die Katastrophe hinauszuschieben imstande sind. Diese aufhaltenden Kräfte finden ihren höchsten Ausdruck im Opfer. Auch davon scheint der Mythos etwas zu wissen. Wieder gibt uns der „König Ödipus" einen Fingerzeig. Theben wird von einer Pest heimgesucht, weil eine ungesühnte Schuld auf der Stadt liegt. Der Schuldige ist kein anderer als der König selbst, der mit grausamer Konsequenz, indem er das Richteramt ausübt, sich selbst entlarven muß. In der Erkenntnis des Unheils bringt er sich zum Opfer, er blendet sich die Augen, die ihn geführt und verführt haben, und wird einer der Elendesten. So wird die Polis errettet. Das ist wie ein Nachklang der uralten Sitte des Königsopfers, von der uns z. B. mit Bezug auf die Herrscher des afrikanischen Meroe berichtet wird. Aber gewiß ist auch dies, wenn wir von dem einen Sophokleischen Drama absehen, nicht mehr als klare Erkenntnis in der attischen Tragödie wirksam. So lastet ein tiefes Dunkel über der Tragödie, wie der griechische Mensch des 5. Jahrhunderts sie sah. Mit explosiven Spannungen bis zum Bersten geladen, trägt sie einen durchaus vorläufigen Charakter. Die Gewalten, mit denen hier der Mensch kämpft, sind dämonischen Wesens. Ihre Größe aber haben wir darin zu erkennen, daß sie in aller abergläubischen Verzerrung doch auf den Gott als das Gegenüber des Menschen hinweist. Mit dem Verlust dieser Bezogenheit auf echte Transzendenz, wie er später im deutschen Drama der Klassik mehr oder weniger entschieden zum Ausdruck kommt, um sich dann immer radikaler geltend zu machen, wird ein Prozeß fällig, der dem sich ursprünglich noch einem Göttlichen verantwortlich wissenden Menschen allmählich sein antwortendes Gegenüber nimmt, bis er es schließlich nur noch mit dem eigenen Ich und dessen Phantasmagorien zu tun hat. Bei Shakespeare hat der Held noch echte menschliche Gegenspieler, in seinem Drama messen sich Personen mit Personen, Wirklichkeiten treffen auf Wirklichkeiten. E s steht, wenn schon die metaphysischen Hintergründe fragwürdig sein mögen, noch die unergründliche Person in der Mitte, bezogen auf ein ebenso unergründliches, in Liebe oder Haß antwortendes Gegenüber. Das gilt auch noch von dem problematischsten Shakespeareschen Helden, von Hamlet. Der Naturalismus gab der dramatischen Person nur noch ein Milieu, also ein Neutrum zum Hintergrund, die auf ihn folgende symbolistische Richtung, beginnend bei Ibsen, bei Strindberg schon bis zu einem Gipfel geführt, macht das Individuum zu seinem eigenen Pro-
V o m Wesen des Tragischen in der griechischen Dichtung
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blem und löst die Gegenspieler in Spiegelungen aus dem Ich auf. Das alles mag sehr interessant sein, hat aber nichts mehr zu tun mit dem alten Sinn des Dramas, das eine allgemein verbindliche Wirklichkeit aussagte und darum unter freiem Himmel die Bürger einer ganzen Polis vereinte. Es ist auch nicht möglich, diesen Sinn des Dramas wieder zurückzuerobern, ihm die archaische, verbindende Funktion wiederzugeben, weil die Voraussetzungen dafür eben abhanden gekommen sind. Rilke hat einmal das treffende Wort gefunden: Die Griechen hatten ein Theater, weil sie gemeinsame Götter hatten. Das moderne Drama hat allenfalls Ideologien auszusagen; oder es gleitet in die Schilderung von Neurosen ab. Wir stehen im christlichen Aeon, der grundsätzlich das Ende des antiken Heros bedeutet und damit das Ende des Tragischen im alten Sinne. Die christliche Verkündigung hat aber im allgemeinen nur peripherisch ins Drama hineingewirkt. Zentral hat sie es nur in wenigen Ausnahmefällen erfaßt. Das neue große Drama, oder sei es denn die neue Tragödie, müßte getragen sein von der mit apokalyptischen Spannungen erfüllten Atmosphäre der Zeit. Der Dichter müßte nicht nur die sog. Verzweiflungsliteratur bereichern, auch nicht wie Sartre eine fragwürdige Philosophie als Heilmittel psychischer Neurosen anbieten, er müßte ein Diagnostiker der Zeit aus echter Verantwortung sein und von der Krankheit nur wissen als einer, der auch um die echte Heilung weiß. Von der Bühne als historischem, psychologischem oder pathologischem Raritätenkasten haben wir genug. Wo aber jene Forderungen auch nur andeutungsweise erfüllt wären, könnten wieder Menschen in atemloser Hingeriommenheit dem Spiel zuschauen — wobei es unwichtig wäre, ob der Dichter sein Werk als Tragödie oder als Komödie bezeichnet.
F R E I H E I T UND U N F R E I H E I T ALS SOZIALETHISCHES PROBLEM V o n OTTO A . D I L S C H N E I D E R
Die Lebensordnung der antiken Hausgemeinschaft wird bestimmt durch die Gesellschaftsordnung dieser Zeit. Hier kommt alles auf die Rechtsstellung an, die die natürliche Person einnimmt. Das von Rom geprägte Recht des Westens wie das hellenistische Recht des Ostens und die morgenländischen Volksrechte unterschieden zwischen Freien und Unfreien, also Sklaven. Paulus, der Diaspora-Jude aus Tarsus, war römischer Staatsbürger. Er hat sich in kritischen Lagen auf diesen Rechtsstand berufen 1 . Obwohl er diesen Rechtsstatus eines freien römischen Bürgers für sich in Anspruch nahm, ließ er jene antike Rechtsordnung unangefochten, in der es Freie und Unfreie gab. So ermahnt er die Sklaven in Kolossae zum Gehorsam gegen ihre Herren und rät den Hausvätern, den Sklaven zu gewähren, was rechtens ist (Col 3 22—4i). Die hellenistischen und morgenländischen Volksrechte geben Auskunft, was das praktisch bedeutet 2 . Es wäre nicht unwichtig für die zeitgeschichtliche Erforschung der neutestamentlichen Umwelt, sich ein Bild von der Stellung des Sklaven in der damaligen Zeit zu verschaffen. Der Apostel Paulus knüpft mit seiner Selbstbezeichnung als Knecht Jesu Christi an jene Vorstellungen des Sklavenstandes an 3 . Was also bedeutet diese Bezugnahme auf den Sklavenstand? Bei der Behandlung des Sklavenproblems im neutestamentlichen Zeitalter tauchen immer wieder Anschauungen auf, daß Paulus den Sklavenstand bejahen konnte, weil er seiner Praxis nach milde und vertretbar war und daher nicht im Widerspruch zu den Geboten Gottes stand 4 . Nun sollte man wissen, daß der Sklave nach römischem Recht nicht Person, sondern Sache war und nach Sachenrecht behandelt wurde. Er konnte gekauft, verkauft und vermietet werden wie ein Tier. Für die Beschädigung eines Miets-Sklaven wurde wie für eine Miets-Sache Ersatz geleistet. Der Sklave gehört in das Eigentum seines Herrn. Was der Sklave erwirbt, gehört dem Herrn. Der Herr kann mit Acta 16 3 7 22 2 e 2 3 „ 26 3 2 . R. SOHM, Institutionen des röm. Rechtes, 15. Aufl., 1917, S. 134 Anm. 2 u. 3. 3 TH W Bd. II, 264 f. * D. BONHOEFFER, Ethik, 1953, S. 254. 1 2
Freiheit und Unfreiheit als sozialethisches Problem
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dem Sklaven verfahren wie mit einer Sache. Er kann ihn töten. Es soll vorgekommen sein, daß große römische Latifundienbesitzer ihre Fischteiche mit erschlagenen Sklaven gefüttert haben. Man denke an das Sklavenschicksal derer, die als Ruderer auf den Kriegsschiffen angekettet dem Tod preisgegeben waren. In Delos, dem Hauptsklavenmarkt des östlichen Mittelmeeres, betrug der Tagesumsatz 10000 Sklaven 5 . Die griechische Philosophie tat das ihrige, um den Sklaven seiner Humanität zu entkleiden. Dessen sollte man eingedenk sein, wenn man sich die Stellung des Sklaven in der antiken Gesellschaft vergegenwärtigt. Natürlich hat es auch anders gelagerte Fälle gegeben. Sicherlich ist das Schicksal dieser Unfreien hier und da auch erträglicher gewesen. Das hing immer von dem einzelnen Sklavenhalter ab. Erst das spätere römische Kaiserrecht hat um vieler Mißhandlungen willen eine Sklaven-Schutzgesetzgebung geschaffen, um die Sklaven gegen grundlose Mißhandlungen und Tötung und die Sklavin gegen Prostitution zu schützen 6 . Natürlich gab es auch die Möglichkeit einer Freilassung des Sklaven. Die spätere Gesetzgebung Kaiser Konstantins entwickelte dafür die manumissio in ecclesia, eine Form der Freilassung durch Erklärung vor dem Bischof und der christlichen Gemeinde. Sie galt gleichsam als eine Art von Wiedergeburt des Menschen 7 . Wir werden mit dieser so bedeutsamen gesellschaftlichen Problematik befaßt nicht nur, weil sie uns hier als zeit- und kulturgeschichtliche Erscheinung der neutestamentlichen Umwelt begegnet, sondern weil sie uns vor eine grundsätzliche Frage der christlichen Existenz schlechthin stellt. Zunächst aber wird festzustellen sein, wie wir mit dieser Frage befaßt werden. Und hier lassen sich eigentlich nur Vermutungen aussprechen und vorbringen. In besonderer Weise ist Paulus mit dieser gesellschaftlichen Problematik seiner Zeit konfrontiert worden durch das Schicksal eines entlaufenen Sklaven namens Onesimus. Im letzten Abschnitt des Kolosserbriefes erfahren wir nämlich, daß Paulus einen Mann namens Tychikus zur Berichterstattung nach Kolossae sendet und daß sich in Begleitung dieses Mannes eben dieser entlaufene Sklave Onesimus befindet (Col 4 7. 9). Onesimus wird als ein Landsmann aus Kolossae bezeichnet, sonst aber wird die Lage und das Schicksal dieses Onesimus sorgsam verschwiegen. Wie es um diesen Onesimus steht, das erfahren wir dann genauer aus dem Privatschreiben des Apostels an 5
WOHLRAB-LAMER, Die altklassische Welt, 1928, S. 142.
6
R . SOHM, I n s t i t u t i o n e n , 1 9 1 7 , S. 1 9 3 — 9 4 . — D e s g l . S. 1 9 6 — 9 7 .
7
G. KEHNSCHERPER, Die Stellung der Bibel und der alten Kirche zur Sklaverei, 1957.
12
O t t o A. D i l s c h n e i d e r
Philemon. Hieraus ergeben sich eine Reihe von Vermutungen. Gehört dieser Onesimus als Landsmann von Kolossae nach Kolossae und befindet sich also das Haus des Philemon in Kolossae ? Ist dieser Philemon vielleicht ein Glied und Förderer der Gemeinde zu Kolossae? (Phil 7). Rücken also der Gemeindebrief an die Kolosser und der Privat-Brief an Philemon zeitlich eng zusammen ? Möglich wäre es schon, denn beide Briefe bekunden sich als Briefe aus der Gefangenschaft des Apostels und die Grußlisten beider Briefe weisen große Ähnlichkeiten auf8. Möglicherweise hat sogar Tychikus den Auftrag gehabt, beide Briefe nach Kolossae zu bringen und den Onesimus so seinem Herrn Philemon wieder zuzuführen. Wir wissen es nicht. Wir können nur sagen, daß die Ermahnungen, die Paulus an Herren und Sklaven nach Kolossae schreibt, für sein praktisches Verhalten im Falle PhilemonOnesimus zutreffen, ja daß dieser konkrete Fall die Haltung und Einstellung des Apostels beleuchtet und erklärt. Skizzieren wir kurz die Anschauung des Apostels zu diesem wohl für alle Zeiten aktuellen Problem. Gewiß, der Apostel ermahnt im Kolosserbrief die Sklaven zum Gehorsam gegen ihre Herren und die Herren, den Sklaven das zu gewähren, was rechtens und billig ist. Wie aber denkt er sich die innere Gestaltung dieses Verhältnisses zwischen Herren und Sklaven? Paulus ermahnt den Philemon, diesen Onesimus nach seiner Rückkehr zu ihm „nicht mehr als einen Sklaven, sondern als etwas Besseres: als einen geliebten Bruder" anzunehmen. Und er fügt noch hinzu: „Nimm ihn auf, wie mich selbst" (Philem 16 u. 17). Was also immer wieder bei aller so harten Kritik an Paulus übersehen worden ist, ist die wirkliche Meinung und Anschauung, die der Apostel über das Sklaven Verhältnis hat. Und diese kann sich praktisch gar nicht eindeutiger bekunden als dadurch, daß er das Sklaven-Verhältnis umwandelt in die Beziehung einer christlichen Bruderschaft. Dies und nichts weniger fordert er nämlich von dem Sklavenhalter Philemon. Wenn dieser es mit seiner christlichen Existenz und seinem christlichen Glauben wirklich ernst nehmen will, muß er seinem Sklaven Onesimus die Stellung eines Mitbruders im Glauben einräumen. Damit hat aber Paulus mitten in einer antiken Gesellschaftsordnung, in der die Unfreiheit des Menschen Gesetz und Recht war, diese Ordnung durch den christlichen Anruf auf Bruderschaft aufgelöst. Das wird um so deutlicher, wenn er hinzufügt: „Nimm ihn auf, wie mich selbst". Was heißt das anderes: Nimm ihn auf, wie einen Glaubensbruder, der in aller Freiheit zu dir kommt. Paulus hat den antiken Rechtsstatus mit keinem Wort erwähnt oder zur Diskussion gestellt. 8
MARTIN DIBELIUS,
Philemonbrief, 1927, zu Vers 1.
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Und doch hat er in einer für die antike Welt einzigartigen Weise diese Rechtsordnung von innen her aufgelöst und beseitigt. Paulus vollzieht eine Unterwanderung der antiken Gesellschaftsordnung durch diesen Anruf der christlichen Existenz auf Mitbruderschaft. Damit hat Paulus in der T a t eine gesellschaftspolitische Entwicklung ausgelöst, die niemals mehr zum Stillstand gekommen ist. Wo es christliche Existenz gab, mußte dieser Anruf gehört und befolgt werden. Die Frage, die sich einstellt, ist nur die, ob der hier von dem Apostel verfolgte Weg der christlichen Unterwanderung der Sklaven-Ordnung, theologisch gesehen, der einzig und allein vertretbare Weg ist und bleiben mußte. Ob wir also hier einen allgemeingültigen Modellfall und Standardfall vor uns haben, mit dem die christliche Entscheidung ein für allemal so und nicht anders festgelegt worden ist. In der Tat scheint dies gerade die Anschauung der christlichen Ethik zu sein, nicht zuletzt auch in THIELICKES umfassender Darstellung der Ethik 9 . Gerade aber an dieser Stelle wird diese Problematik für uns heute wichtig. E s geht nämlich gar nicht darum, daß ein Nein zur Sklaverei gesprochen wird. Darin würden wir uns wohl alle mit Paulus einig sein. Es geht aber darum, wie dieses Nein theologisch zu vertreten ist. Und eben hier könnte es erhebliche Abweichungen von Paulus geben. Doch tun wir gut, uns dies zunächst einmal in bestimmten Fällen vorzustellen. Der sächsische Schöffe EIKE VON REPGOW, aus der Nähe Dessaus stammend, etwa um 1180/1190 geboren, legte zwischen 1220/1227 die deutsche Ausgabe des Sachsenspiegels vor. Im Prolog dieses deutschen Rechtsbuches schreibt er: „Des Heiligen Geistes Minne, die stärke meine Sinne, daß ich Recht und Unrecht der Sachsen entscheide nach Gottes Huld und der Welt Frommen . . . Gott ist selber Recht, darum ist ihm Recht lieb, darum wollen sich alle vorsehen, denen ein Gericht von Gottes wegen anvertraut ist, daß sie also so richten, daß Gottes Zorn und Gericht gnädiglich über sie kommen kann . . . " Wir sind uns also dessen gewiß, daß wir hier einen Juristen vor uns haben, der aus christlicher Existenz und Verantwortung heraus versucht, sein Rechtsbuch zu schreiben 10 . Wir bringen nun aus dem dritten Buch des Landrechtes des Sachsenspiegels einen Auszug des Artikels 42, der folgende Darstellung gibt: 9 10
H. THIELICKE, Theologische Ethik, 1955, Band I I Teil 1, S. 553—554. G. ROTERMUND, Der Sachsenspiegel, 2. Aufl. 1935, S. 15. Siehe auch den Originaltext des Sachsenspiegels herausgegeben von CL. Freiherr VON SCHWERIN bei Reclam, 1934.
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„Gott hat den Menschen nach sich selbst gebildet und ihn durch sein Leiden befreit, einen wie den andern. Ihm steht der Arme so nahe wie der Reiche. . . . Als zuerst das Recht geschaffen wurde, d? war niemand Dienstmann, da waren alle Leute frei, als unsere Vorfahren ins Land kamen. In meinem Sinn kann ich es nach der Wahrheit nicht aufnehmen, daß jemand des anderen Eigener sein sollte. Auch haben wir darüber keine Urkunde. Doch sagen manche, die auf falschem Wege sind, daß die Leibeigenschaft an Kain entstanden sei, der seinen Bruder erschlug. . . . Andere sagen, es kam die Leibeigenschaft von Ham, Noahs Sohn. Noah segnete zwei seiner Söhne, Leibeigenschaft ließ er jedoch an dem dritten nie entstehen. . . . Ferner haben wir Urkunden: Gott ruhte den siebten Tag. . . . Auch den siebten Monat sollen wir hochhalten und das siebte Jahr, das ist das Jahr der Wahl. Da sollte man eille Gefangenen und Leibeigenen lediglich und freilassen. . . . Auch gab uns Gott Urkundes mehr an einem Pfennig, womit man ihn versuchte, da er sprach: Laßt dem Kaiser sein gewaltig Bild und gebt Gott Gottes Bild. Dabei ist uns von Gottes Wort bekannt, daß der Mensch Gottes Bild gewesen ist. Wer sich deshalb jemanden anders denn Gott zusagt, der handelt wider Gott. Nach rechter Wahrheit hat die Leibeigenschaft ihren Beginn von Zwang und Gefängnis und unrechter Gewalt, die man von alters her in unrechter Gewohnheit gezogen hat und nun für recht hält" 11 . Wie sehr es E I K E VON R E P G O W um die Durchführung dieser Erkenntnis ging, zeigt ein späteres Zitat aus dem dritten Buch des Landrechtes, Artikel 73 wo es heißt: „Vom Anfang des Rechtes war vorgeschrieben, daß von Freien nie Leibeigene abstammen könnten" 12 . Weil es E I K E VON R E P G O W aus christlicher Überzeugung um die Durchsetzung der Freiheit der Persönlichkeit im Rechte geht, gelangt er zu einer neuen Standesordnung der Schöffenbarfreien. Die Lage war die, daß Fürsten ihre Lehen nur an Hofbeamte, Ministerialen und Dienstmannen zu vergeben pflegten. Das hatte zur Folge, daß Edelleute, also Freie, die ein Lehen begehrten, sich in den niederen Stand der Ministerialen und Dienstmannen begeben mußten. Damit war weithin eine Einbuße der persönlichen Freiheit verknüpft. Um dies zu vermeiden, schafft E I K E VON R E P G O W den besonderen Rechtsstatus der 11
Desgl. S. 106—108. Siehe dazu auch die Bilderhandschrift des Sachsenspiegels herausgegeben von Freiherr VON KÜNSSBERG, Inselbücherei Nr. 347 — Bildfolge N r . 4 0 — 4 2 u n d d a z u die A n m e r k u n g e n S. 22/23.
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G. ROTERMUND, D e s g l . S. 1 2 3 .
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Schöffenbarfreien und vollzieht damit eine rechtliche Hebung und Verbesserung des ganzen Dienstmannenstandes, die schließlich zur Ritterbürtigkeit dieses Standes führt. Schon im 15. Jahrhundert ist diese Entwicklung abgeschlossen. Aus dem belehnten Stand der Unfreien und Mittelfreien hat sich der Stand der Schöffenbarfreien und des Lehnsadels entwickelt13. Werfen wir nunmehr einen Blick in das Reformationszeitalter und auf das, was MARTIN L U T H E R ZU dieser Frage zu sagen hatte. Wir befinden uns mitten in den Kriegen der Bauernschaft, als L U T H E R seine „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" im Jahre 1525 ausgehen läßt. Es darf nicht übersehen werden, daß L U T H E R hier den Fürsten unerschrocken die Wahrheit sagt und ihnen die Schuld an den Bauernaufständen zuschreibt. Dann aber wendet er sich an die Bauern selber und hier lesen wir nun folgendes : ,,Es soll kein Leibeigener sein, weil uns Christus alle befreit hat. Was ist das ? Das heißt christliche Freiheit ganz fleischlich machen. Hat nicht Abraham und andere Patriarchen und Propheten auch Leibeigene gehabt ? Lest S. Paulus, was er von den Knechten, welche zu der Zeit alle leibeigen waren, lehrt. Darum ist dieser Artikel stracks wider das Evangelium und räuberisch, damit ein Jeglicher seinen Leib, so eigen geworden ist, seinem Herren nimmt. Denn ein Leibeigener kann wohl Christ sein und christliche Freiheit haben, gleichwie ein Gefangener oder Kranker Christ ist und doch nicht frei ist. Es will dieser Artikel alle Menschen gleich machen und aus dem geistlichen Reich Christi ein weltliches, äußerliches Reich machen; welches unmöglich ist. Denn weltliches Reich kann nicht bestehen, wo nicht Ungleichheit ist in Personen, daß etliche frei sind, etliche gefangen, etliche Herren, etliche Untertanen. Wie S. Paulus sagt Gal. 3 28, daß in Christo Herr und Knecht ein Ding sei" 1 4 . Es ist nicht nur theologisch, sondern schon rein kulturgeschichtlich ein äußerst interessanter Vergleich, der sich zwischen E I K E VON R E P GOWS Denken und MARTIN LUTHERS Einstellung ergibt. Denn obwohl wir den Verfasser des Sachsenspiegels um zwölfhundert, also rund dreihundert Jahre früher als MARTIN L U T H E R anzusetzen haben, so gehören doch beide der mittelalterlichen Kulturwelt an. Beide sind, wenn auch nicht Zeitgenossen, so doch Menschen eines Zeitalters. E I K E VON 13
R. SCHRÖDER, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgeschichte, 1889, 428/29. ED. HEILFRON, Deutsche Rechtsgeschichte. 1905, 73/74 und 83.
14
W A 1 8 , 3 2 6 — 3 2 8 — CLEMEN, A u s g . I I I ,
64—65.
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R E P G O W stammt aus Reppichau bei Dessau, und L U T H E R S Wiege hat in Eisleben gestanden. Ihre Geburtsorte liegen also nur etwa (50 Kilometer auseinander. Das besagt, daß L U T H E R in der Welt des Sachsenspiegelrechtes gelebt hat. Er hat den Sachsenspiegel gekannt und auch gelegentlich auf ihn Bezug genommen. So etwa, wenn er das israelitische Volksrecht als der Jüden Sachsenspiegel bezeichnen konnte, das für den Christen nicht verbindlich sei. Wenn also die Bauern sich mit ihrer Forderung auf Aufhebung der Leibeigenschaft auf ihre christliche Existenz und ihren christlichen Glauben beriefen, so hatten sie dafür das Sachsenspiegelrecht und dessen Darstellung auf ihrer Seite. Wie also konnte L U T H E R in einer bedeutsamen Frage der menschlichen Existenz zu einer so grundsätzlich anderen Entscheidung und Auffassung kommen als das Rechtsbewußtsein seiner Zeit ? Diese Frage ist nicht mit einem Satz zu beantworten. Am allerwenigsten mit dem sofortigen Hinweis auf die Zwei-Reiche-Lehre L U T H E R S , mit der ja in dem obigen Zitat L U T H E R S Entscheidung begründet wird, wenn es da heißt, man solle nicht aus dem geistlichen Reich Christi ein weltliches, äußerliches Reich machen. Gewiß, diese Zwei-Reiche-Lehre ist die tragende theologische Begründung für Luthers Entscheidung. Sind damit aber auch die eigentlichen, bewegenden Motive in L U T H E R S Leben und Denken aufgezeigt, die zu jener Zwei-Reiche-Lehre hingeführt haben? Man sollte bei der heute so heißen Diskussion um diese Zwei-Reiche-Lehre auch einmal die Motiv-Schichten durchleuchten, die zur Ausgestaltung dieser so umstrittenen Lehre Anlaß gaben. Man sollte einsehen, daß L U T H E R hier in einem Zweifrontenkampf zwischen Katholizismus einerseits und Schwärmertum anderseits stand und förmlich zu dieser Lehre gedrängt war. Schauen wir uns die Begründungen des Sachsenspiegels für die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit an, so wird deutlich, daß hier von einer christlichen Anthropologie aus argumentiert wird: Der Mensch ist Gottes Ebenbild, der Mensch ist von Gott erlöst und kann nur Gott allein zugehören. War dieser theologische Ansatz E I K E VON R E P G O W S SO falsch, daß man ihn mit der Zwei-Reiche-Lehre widerlegen konnte ? Oder ist es nicht so, daß dieser Weg einer christlichen Anthropologie heute überzeugender ist als jener der Zwei-ReicheLehre ? In der neueren Geschichte begegnet uns das Problem der Sklaverei als Frage an den christlichen Glauben auf amerikanischem Boden. Ein Blick in den jungkolonisierten Erdteil Amerikas des 18. Jahrhunderts zeigt, wie brennend hier die Sklavenfrage ist. Die vom englischen Großkapital getragenen Reedereien haben 190 Sklavenschiffe in Dienst gestellt. Englische Industriewaren gehen an die westafrikanische Küste
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und werden dort gegen Negersklaven eingetauscht. Diese werden wiederum nach Nordamerika verfrachtet und gegen Bargeld verkauft 1 5 . Zwischen Europa, Afrika und Amerika blüht ein gutes Geschäft. Mit betont lutherischem Bewußtsein stellt WERNER ELERT fest, daß es die ausgewanderten lutherischen Salzburger waren, die seit 1734 in Georgia und Süd-Carolina siedelten und sich gegen dieses Kolonialsystem mitsamt seiner Sklavenwirtschaft wandten. E r betont auch, daß es das lutherische Dänemark war, das 1792 als erster europäischer Staat den Sklavenhandel verbot 1 6 . Man wird also wohl LUTHERS zeitgebundene Anschauungen von diesem weiterentwickelten Luthertum unterscheiden müssen, wenn man WERNER ELERT richtig verstehen will. Bekannt ist, daß auch die Jahresversammlung der Quäker von Philadelphia 1752 einmütig den Sklavenhandel für ihre Mitglieder verboten hat. Die Quäker nahmen entscheidenden Anteil an der Bekämpfung der Sklaverei. Das können wir an dem Lebensbild eines sonst wenig bekannten amerikanischen Quäkers, JOHN WOOLMAN (1720—1772), studieren. Das Tagebuch dieses frommen Christen und Wanderpredigers ist ein interessantes Zeitdokument zur Sklavenfrage geworden. JOHN WOOLMAN, der in West Jersey in Mount Holly bei einem kleinen Landkrämer in Diensten stand, schreibt: „Mein Arbeitgeber hatte eine schwarze Sklavin. Eines Tages verkaufte er sie und verlangte von mir, ich sollte die Rechnung schreiben. . . . So unbehaglich mir bei diesem Gedanken war, eine Urkunde über die Sklaverei eines meiner Mitgeschöpfe zu schreiben, so hielt ich mir doch vor, daß ich auf einen Jahresvertrag angestellt war, und daß es sich um eine Anordnung meines Meisters handelte. . . . Ich gab also aus Schwäche nach und schrieb die Rechnung, fühlte aber innerlich eine große Unruhe dabei und sagte sowohl meinem Meister, als auch jenem Freund, daß das Sklavenhalten mit der christlichen Religion nicht zusammenstimmen könne. . . . Als ich weiter dachte, fand ich, daß ich mich hätte klarer ausdrücken müssen, wenn ich hätte davon befreit sein wollen, etwas zu tun, was gegen mein Gewissen war" 1 7 . Nun gibt JOHN WOOLMAN seinen Kaufmannsberuf auf. E r wird Schneider und ist nebenher Obstzüchter in Mount Holly am Delawarefluß. Jedem Streben nach Reichtum abhold schreibt er: „Mich verlangt nur, der Stimme des treuen Hirten zu folgen und daran nicht 15
W E R N E R E L E R T , M o r p h o l o g i e des L u t h e r u m s , 1 9 3 2 B d . I I , S . 4 5 9 .
16
Desgl. S. 458 und 460.
17
ALFONS
PAQUET,
Die Aufzeichnungen
von
JOHN
WOOLMAN,
venbefreiung, Quäkerverlag Berlin, 1923, S. 24/25. 2 T h e o l o g u Viatorum 8.
AUS d e r Z e i t d e r
Skla-
18
O t t o A. D i l s c h n e i d e r
gehindert zu werden" 1 8 . Auf solche Weise beginnt sein Wanderpredigertum, das er jetzt ganz in den Dienst der Sklavenbefreiung stellt. Würden wir fragen, welche theologischen Gründe J O H N W O O L M A N vorzubringen hätte, um für die Aufhebung der Sklaverei einzutreten, so wäre er sicherlich überfordert gewesen. Was er gegen die Sklaverei ins Feld zu führen hatte, lautete etwa so: „Jedem Geschöpf Gottes ist die Knechtschaft zuwider, sie erzeugt in ihm auf die Dauer Verbitterung und Unzufriedenheit" 1 9 . „So oft ich über die Reinheit des Wesens Gottes und seine Gerechtigkeit nachdenke, ist meine Seele mit Furcht und Schrecken erfüllt. Ich kann nicht umhin, auf einige Fälle hinzudeuten, wo die Menschen nicht mit reiner Gerechtigkeit behandelt wurden. Diese Fälle waren bedauerlich. Viele Sklaven in unserem Lande seufzen unter der Bedrückung, und ihre Schreie dringen an das Ohr Gottes. Gottes Wille ist so rein und sicher, daß er zu unseren Gunsten keine Ausnahme machen wird" 2 0 . Das alles scheint noch nicht bis ins Letzte hinein theologisch ausgereift und entwickelt zu sein. Und dennoch muß gesehen werden, daß W O O L M A N das, worauf es ankommt, bereits erfaßt hatte. E r führt nämlich das Thema der Gerechtigkeit ins Feld. Wohl weiß er, daß die Sklavenbefreiung ein ganzes Wirtschaftssystem ins Wanken bringen kann und große wirtschaftliche Opfer fordert. Ist die christliche Liebe zu solchen Taten und Opfern bereit ? W O O L M A N antwortet: „Die bisherigen Werke der evangelischen Liebe zur Sache der Gerechtigkeit haben eine solche hohe Stufe noch nicht erreicht" 2 1 . W O O L M A N ist sich also darüber völlig im klaren, daß man nicht das Gebot christlicher Liebe verkündigen darf, ohne zugleich auch Gerechtigkeit für den Nächsten zu fordern und durchzusetzen. Und mit dieser Erkenntnis war er seiner Zeit weit vorausgeeilt. Heute müssen wir sagen, daß W O O L M A N in seiner ganzen Schlichtheit christlicher Frömmigkeit an die Grundlagen eines evangelischen Sozialethos herangeführt hat. Wir werden dazu noch einiges zu sagen haben. Was den Quäker J O H N W O O L M A N bei diesen Gedanken leitete, war eine innere Erleuchtung, war das lumen internum, das „Sichere Zeugnis der göttlichen Wahrheit" 2 2 . Daraus gewann er diese Gewißheit, daß Unfreiheit des Menschen mit christlicher Existenz unvereinbar sei. 18 19 20 21 22
Desgl. Desgl. Desgl. Desgl. Desgl.
s. S. S. S. S.
27. 62. 78. 149. 49.
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19
Nach diesen geschichtlichen Betrachtungen kehren wir zu der uns beschäftigenden Frage zurück: Können wir heute noch so denken und praktizieren, wie es einstmals der Apostel Paulus tat ? Ist jener Weg, die Unfreiheit des Menschen durch den Anruf auf christliche Bruderschaft von innen her aufzulösen, der einzige theologisch legitime Weg, der uns gewiesen ist ? Dies scheint wenigstens immer wieder im Bereich der Sozialethik vertreten zu werden 23 . Wir sahen, daß, obwohl es einen Philemonbrief gibt, sich ernste Christen bemüht haben, einen anderen Weg als Paulus einzuschlagen. E I K E VON R E P G O W w i e J O H N WOOLMAN l e h n e n a u s c h r i s t l i c h e r
Über-
zeugung rundweg die Unfreiheit der Persönlichkeit ab. EIKE VON REPGOW setzt mit dem Gedanken ein: „Gott hat den Menschen nach sich selbst gebildet und ihn durch sein Leiden befreit". Und JOHN WOOLMAN sagt: „Jedem Geschöpf Gottes ist die Knechtschaft zuwider". Theologisch gesehen berufen sie sich beide auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und begründen ihre Auffassung von der christlichen Anthropologie her. Warum aber tat Paulus nicht das Gleiche ? Und da er es nicht tat, ist dieser Ansatz darum falsch ? Auf diese Frage scheint DIETRICH BONHOEFFER eine zuverlässigere Antwort zu geben, als viele Ethiken, die bei der Philemonbriefsituation stehen bleiben. BONHOEFFER schreibt: „Warum aber bekämpft das Neue Testament nicht die Sklaverei ? . . . es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten für die Gemeinde, ihre Verantwortung gegenüber der Welt wahrzunehmen; anders wird sie es tun in der Missionssituation, anders in der Situation staatlicher Anerkennung der Kirche, anders in den Verfolgungszeiten. Die Missionsgemeinde in der Minorität wird durch volle Konzentration auf die Christuspredigt als Ruf zur Gemeinde sich erst die Bahn brechen müssen, um irgendwie weltlich mitverantwortlich arbeiten zu können; für die staatlich anerkannte Kirche und für die Christen in weltlichem Amt und Verantwortung gehört die Bezeugung des Gebotes Gottes über Staat, Wirtschaft usw. zum Christusbekenntnis" 24 . Wie wir uns auch zu dieser Anschauung BONHOEFFERS stellen, wichtig und richtig an ihr ist die generelle Erkenntnis von der Zeitgebundenheit christlicher Existenz und Entscheidung. Wer dies bei dem, was Paulus der antiken Hausgemeinde anempfiehlt und was er an Philemon schreibt, übersieht und nicht in Rechnung stellt, der wird die Darstellung christlicher Existenz grundsätzlich verfehlen müssen. 23 24
2»
H. D.
THIELICKE,
Theologische Ethik, 1955, Bd. II, Teil 1, S. 553—554. Ethik, 1953, S. 252—253.
BONHOEFFER,
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O t t o A. D i l s c h n e i d e r
Paulus hat den Weg eingeschlagen, der für ihn und für seine Zeit der einzig mögliche war. E r hat durch den Anruf auf christliche Bruderschaft die Sklavenordnung der Antike unterwandert und aufgelöst. Seitdem aber liegen rund zweitausend J a h r e Menschheitsgeschichte hinter uns und mit ihr die Überwindung der antiken Gesellschaftsordnung der Sklaverei. Es geht also nicht an, aus der paulinischen Entscheidung vor zweitausend Jahren ein christliches Standard-Modell machen zu wollen. Es fragt sich nur, wie wir heute in dieser Frage theologisch argumentieren müssen, um christliche Existenz zur Darstellung zu bringen. E I K E VON R E P G O W und J O H N W O O L M A N gehen von der christlichen Anthropologie aus. Dies dürfte auch heute noch der umgreifende Ansatz sein, von dem her diese Problematik zu behandeln wäre. Was das im einzelnen besagt, kann und braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Darüber habe ich schon früher an anderer Stelle das Erforderliche gesagt 2 5 . Hier handelt es sich nur darum, konkret sichtbar zu machen, wie man innerhalb dieses anthropologischen Ansatzes zu verfahren hätte. Und da muß noch einmal an den bereits oben angeführten Gedanken von J O H N W O O L M A N erinnert werden: „Die bisherigen Werke der evangelischen Liebe zur Sache der Gerechtigkeit haben eine solche hohe Stufe noch nicht erreicht". Wir wiesen bereits darauf hin, daß es sich hier um einen Gedanken von hoher theologischer Qualität handelt. Hier wird die Liebe im neutestamentlichen Verständnis der Agape in eine unmittelbare Beziehung zur Gerechtigkeit gebracht. Dieser Satz, der 1769 geschrieben wurde, nimmt rund 190 J a h r e vor uns eine Entwicklung vorweg, in die wir erst seit einigen Jahrzehnten eingetreten sind. Es handelt sich um die grundsätzliche Erkenntnis, daß das christliche Gebot der Nächstenliebe die Forderung nach Gerechtigkeit einschließt. Man kann nicht Liebe predigen, ohne zugleich auch im gesellschaftlichen Leben Gerechtigkeit zu fordern. Denn die Gerechtigkeit ist die soziale Struktur und Erscheinungsform der Nächstenliebe. Wir tun gut, wenn wir uns kurz die Stimmen vergegenwärtigen, die heute diese Erkenntnis vertreten und damit an die Grundlagen der christlichen Sozialethik heranführen. E M I L B R U N N E R sagt vom Christen innerhalb der Gesellschaft: „ E r muß, innerhalb der Ordnungsgewalt, seine Liebe gleichsam umwechseln in die Valuta der Gerechtigkeit, da nur sie in der Ordnungswelt Kurs hat. . . . Der Mensch der Liebe kann im Staat nur mit Gerechtigkeit dienen; er muß seine Liebe ganz in Gerechtigkeit umwechseln, solange und sofern er im
25
O. DILSCHNEIDER, Das christliche Weltbild, 1951, S. 2 4 7 — 2 5 5 .
21
Freiheit und Unfreiheit als sozialethisches Problem
Staate handelt" 2 6 . REINHOLD NIEBUHR schreibt in seiner Dogmatik ein ausführliches Kapitel über „The relation of Justice to Love". Das Luthertum mit seinem Heilsindividualismus ist in der Gefahr eines Defaitismus gegenüber den großen gesellschaftlichen Aufgaben der Gegenwart. Hier gilt es zu erkennen, daß das Gebot der Liebe hindrängt zur Mitgestaltung gesellschaftlichen Daseins in Gerechtigkeit 27 . In einer sehr feinen Studie über „Liebe, Macht, Gerechtigkeit" hat uns PAUL TILLTCH seine Gedanken zu dieser Frage dargelegt. E r sagt: „Die Liebe tut nicht mehr, als die Gerechtigkeit fordert, aber die Liebe ist das letzte Prinzip der Gerechtigkeit. Liebe vereinigt wieder; Gerechtigkeit bewahrt, was vereinigt werden soll. Sie ist die Form, worin und wodurch die Liebe ihr Werk tut. Gerechtigkeit in ihrem letzten Sinn ist schöpferische Gerechtigkeit, und schöpferische Gerechtigkeit ist die Form der wiedervereinigenden Liebe" 2 8 . H. D. WENDLAND schreibt in seinen Entscheidungsfragen für das kirchliche Handeln im Zeitalter der Massenwelt die Sätze: „Die pneumatische Agape, die aus Gott geboren ist (Gott ist Liebe), kann verschiedene geschichtliche Gestalten der Humanität annehmen, in den Dienst der Gerechtigkeit treten um des sozialen Minimums der Liebe willen und vielfältiger, kleiner und großer weltlicher Mittel sich bedienen. . . . Weil Gott das Recht liebt, so muß die Liebe, zu der er seine Gemeinde ermächtigt, auch Liebe zum Recht sein, um des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft willen" 2 9 . ERIK WOLF, der bekannte Freiburger Jurist und Rechtsphilosoph, hat uns eine ausgezeichnete Studie „Recht des Nächsten" vorgelegt, in der er sagt: „Aber die Erfahrung des Glaubens macht, daß Liebe nicht mehr als Grenze des Rechts erscheint, sondern als Grund einer Daseinsneuordnung sichtbar wird, in der Gott Jedem das Seine zuspricht: E r bringt uns zu Mitmenschen (und Mitgeschöpfen) in Ordnung" 3 0 . Und nicht zuletzt müßte noch auf die Gedankenwelt EDUARD HEIMANNS verwiesen werden, die in gleicher Weise die Beziehungen zwischen Liebesgebot und Gerechtigkeit herstellt 31 . Nur wäre die Frage zu stellen, was jene Gerechtigkeit als eine soziale Struktur der Liebe beinhaltet und umfaßt. Diese Frage gehört mit zur Grundlegung einer evangelischen Sozialethik. Sie ist auch 26
EMIL BRUNNER,
27
R E I N H O L D N I E B U H R , T h e N a t u r e a n d D e s t i n y o f M a n , 1 9 4 6 , B d . I I , S . 2 4 6 f.
29
PAUL TILLICH, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, 1955, S. 73. H.D. WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 2. Aufl. 1958, S. 174 bis 175.
29
Gerechtigkeit,
1943,
S. 1 5 1 — 5 2 .
30
E R I K W O L F , R e c h t d e s N ä c h s t e n , 1 9 5 8 , S. 1 5 — 1 6 .
81
EDUARD HEIMANN, Christi. Grundlagen der Sozialwissenschaften, theologie, 1958, Heft 4, S. 160/61.
in
Pastoral-
22
O t t o A. D i l s c h n e i d e r
neuerdings auf der Weltkirchenkonferenz in Neu Delhi angeschnitten worden32. Fest steht jedenfalls, daß das, was in solchem christlichen Verständnis Gerechtigkeit ist, den kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen je und je zu entsprechen habe, also eine wandelbare Größe darstellt 33 . So erblicken wir heute in der Gleichberechtigung von Mann und Frau eine gerechte Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens, obwohl wir wissen, daß dies in früheren patriarchalischen Gesellschaftsordnungen, wie sie im biblischem Schrifttum erscheinen, keinesfalls gegeben war. Duldet also eine Gerechtigkeit, die als soziale Struktur der christlichen Nächstenliebe verstanden wird, heute noch eine Gesellschaftsordnung, in der es Freie und Unfreie gibt ? Diese Frage muß heute mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Die aus Nächstenliebe hergeleitete Gerechtigkeit darf dem Nächsten heute nicht mehr verweigern, was ich selber für mich in Anspruch nehme. Dazu gehört an erster Stelle die Freiheit der Persönlichkeit. Anzunehmen, daß Paulus heute noch einen Philemonbrief so abfassen würde, wie er es einstmals tat, ist ein unzutreffendes Urteil. Ja, es wäre ein Anachronismus. An zweitausend Jahre staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung sind vergangen, seitdem der Apostel seine Briefe schrieb. Und im Verfolg dieser Entwicklung sind der Christenheit entscheidende Erkenntnisse über die Stellung des Christen zu Staat, Gesellschaft und Kultur zugewachsen. Dazu gehört auch diese Einsicht von der Freiheit der Persönlichkeit als Ausdruck christlicher Existenz und Achtung des Nächsten. Dazu gehört jenes sozialethische Faktum, daß die Gerechtigkeit jene Strukturform christlicher Nächstenliebe ist, die im gesellschaftlichen Leben geltend zu machen ist. Ein anderes allerdings ist es, welchen Weg der Christ heute zur Geltendmachung dieses Faktums einzuschlagen hat. Selbstverständlich kann er zunächst das tun, was Paulus im Philemonbrief tat: Er richtet seinen christlichen Appell an den Mitbruder und ermahnt ihn auf seine Pflichten christlicher Bruderschaft. Der Christ steht aber auch heute im öffentlichen Leben und ist gerufen, mitzugestalten an den Ordnungen gesellschaftlichen Daseins. Hier hat er das zu bezeugen und dafür einzutreten, was ihm über das Wesen des Menschen in christlicher Sicht aufgegangen ist. Dazu gehört das, was einstens einmal ein E I K E VON R E P G O W und späterhin ein J O H N W O O L M A N erkannt und ausgesprochen haben: Das Zeugnis von der Freiheit des Menschen, den Gott zu seinem Ebenbild geschaffen hat. 32
E . VARKEY MATHEW, Die Laien - die Kirche in der Welt, in Neu Delhi Dokumente 1962, S. 354 f.
3 3
E . VARKEY MATHEW Desgl.
S.
354.
U R C H R I S T L I C H E TAUF- UND
ORDINATIONSLITURGIE1
(Col 1 9-20 Act 26 18) V o n KARL-GOTTFRIED ECKART
I. Die Lektüre eines Kommentars wie des von ERNST LOHMEYER über den Kolosserbrief 2 regt hinsichtlich des Problems urchristlicher Liturgie sehr zum Nachdenken an. E s ist keineswegs eine Neuentdeckung, daß das Neue Testament eine Menge liturgischen Gutes aufbewahrt hat 3 . Es handelt sich dabei nicht nur um Lieder, Hymnen oder Gebete, sondern auch um Bekenntnisformulierungen und Paränesen. Diese liturgischen Stücke sind durch besondere Form, durch gehobenen, feierlichen Stil und durch die Besonderheiten des Inhalts gekennzeichnet. Es besteht für den Exegeten leicht die Versuchung, nach liturgischem Gut zu suchen und am Ende auch reine Prosatexte zu liturgischem Gut zu erklären, zumindest ihnen besondere poetische Kunstform nachsagen zu wollen. LOHMEYER scheint dieser Versuchung in besonderer Weise erlegen zu sein. Gibt es doch kaum einen Vers, der unter seinen Händen nicht doch poetische Form verrät, oder, mit NORDEN4 ZU reden, sich am Ende doch in den Rahmen antiker, speziell urchristlicher Kunstprosa einreihen läßt. Einige dieser LOHMEYER sehen Analysen bleiben dem Leser völlig rätselhaft, da LOHMEYER selbst nicht nähere Auskünfte darüber erteilt, wie er sich die Regeln solchen Kunststiles gedacht h a t 5 .
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Habilitationsvorlesung, gehalten vor dem Dozentenkollegium der Kirchlichen Hochschule Berlin am 2. 7. 1960, überarbeitete Fassung. E R N S T L O H M E Y E R , Kolosser- und Philemonbrief, in: Krit.-exeget. Kommentar, begr. von H. A. W. M E Y E R (1930 8 , bearbeitet 1953°), 1956 1 1 . Vgl. z. B . O. C U L L M A N N , Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse 1943; G. H Ä R D E R , Paulus und das Gebet 1936; R . B U L T M A N N , Bekenntnis- und Liedfragmente im 1. Petrusbrief, in: Coniectanea Neotestamentica 11, Lund 1947, 1 — 1 4 ; und als grundlegende Untersuchung des besonderen Stils und der besonderen Struktur urchristlicher Kunstprosa E D U A R D N O R D E N , Agnostos Theos, 1956 4 . a. a. O. Vgl. auch sein früheres Werk: Antike Kunstprosa, 2 Bände, 1898. Vgl. die Auseinandersetzung zwischen E . L O H M E Y E R und A. D E B R U N N E R i n : T h B l 1926, Heft 9.
Karl-Gottfried
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Eckart
Angesichts dieses etwas willkürlichen Verfahrens, das schließlich jeden beliebigen Text in Zeilenpaare oder Kola zerlegt, scheint es äußerst notwendig, sich im Überblick die stilistischen und formalen Grundstrukturen dieser teils recht einfachen Kunstformen ins Gedächtnis zurückzurufen. Das ist um so einfacher, als NORDEN uns gelehrt hat, mit liturgisch-hymnischen Texten auch sachgemäß umzugehen. Bei der Analyse solcher Texte sind Stil und Form genauestens zu beachten. Der Parallelismus ist zwar eine typische Form alttestamentlicher Poesie 6 , wie aber NORDEN nachweisen konnte — und wie BLASSDEBRUNNER7 bestätigt — ist dieser Parallelismus nicht auf das AT beschränkt, sondern gerade eines jener Merkmale auch der antiken Kunstprosa. Stilistisch wird sich die Liturgie oder der Hymnus darüber hinaus oft durch syntaktische Kadenzen 9 ausweisen, also durch Aneinanderreihung von Infinitiven oder Partizipien. Inhaltlich schließlich wird sie deutlich durch Prädikationen im Relativstil, in der Aussageform oder ebenfalls im Partizipialstil 9 . Liturgischen oder hymnischen Texten wird die z. B . im Brief doch wohl vorauszusetzende konkrete Beziehung auf die Situation einer Gemeinde fehlen. Als Musterbeispiel solcher Allgemeingültigkeit dürfen die liturgischen Paränesen 1 0 gelten. Dagegen werden sich im liturgischen Text meist terminologische und sachliche Beziehungen zum gottesdienstlichen
• Die Anfänge der Erforschung der hebräischen Poesie liegen bei LOWTHS, De sacra pocsi Hebraeorum, 1753, und HERDER, Vom Geist der hebräischen Poesie, 1778. Im übrigen kann hier nur notdürftig das allernotwendigste an Untersuchungen genannt werden: BUDDE, ZAW 1891, p. 244ff. (Klagelied); ROTHSTEIN, Grundzüge des hebräischen Rhythmus, 1909; E. KÖNIG, Hebräische Metrik, 1914; IGNAZ
GABOR,
Der
hebräische
Urrhythmus
=
B Z A W
52,
1929;
CONDAMIN,
Poèmes de la Bible, Paris 1933; ROBINSON, Anacrusis in Hebrew poetry = 66, 1936, p. 37—40. 7
F. BLASS/A. DEBRUNNER, §§
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Grammatik
des
neutestamentlichen
Griechisch,
BZAW 19499,
489—492.
Der Ausdruck ,,syntaktische Kadenz" ist neu. Darunter ist das besondere Kunstmittel verstanden, im Parallelismus der Zeilen die syntaktisch gleiche Form immer wiederkehren zu lassen. Zum Stil der Partizipialkadenz vgl. ECKART, Exegetische Beobachtungen zu Col 1 9-20, in; Theologia Viatorum VII, 1959/60, p. 94, besonders Anm. 27. Zur Infinitivkadenz vgl. z. B. I Thess 4 3b-6a 4 l 0 b - n , beides vermutlich nachpaulinische Texte. Die verschiedenen Formen der Prädikation siehe bei NORDEN, Agnostos Theos, p. 143—240. Vgl. ECKART a. a. O. p. 94f. „Liturgisch" meint hier zunächst einfach die F o r m der Kunstprosa. Auch ein Katechismus oder ähnliches würde hier, sofern er Kunststil aufweist, „liturgischer T e x t " heißen müssen. E s handelt sich zunächst also hauptsächlich um eine Charakterisierung des Stils.
Urchristliclie Tauf- und Ordinationsliturgie
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Leben der Gemeinde zeigen11. N O R D E N stellte uns schon einige Texte solcher gebundenen Rede vor. Die Behauptung, es handele sich bei einem Text um liturgisches Gut oder überhaupt um poetischen Text, wird demnach des Nachweises der Kunstform nicht entraten können, um eben die Willkür zu vermeiden. Es werden unbedingt zufällig geratene Formulierungen unterschieden werden müssen von gewollter Kunstform. Im allgemeinen werden bei liturgischen Texten Parallelismus und eine der genannten stilistischen Besonderheiten Hand in Hand gehen. II. Handelt es sich in der heutigen Untersuchung um einen Vergleich von Taufliturgie und Ordinationsliturgie, so sind wir in der glücklichen Lage, in Col 1 9-20 eine recht vollständige Taufliturgie zu besitzen, wie E R N S T K Ä S E M A N N 1 2 nachgewiesen hat. In dem EÜXOCPIATOÜVRES TCO TrccTpi Col 1 1 2 findet er mit gewissem Recht die Einleitung zu einer Tauf liturgie, zu einem Tauf bekenntnis, nachdem G Ü N T H E R B O R N K A M M EÜxocpicrrEiv u n < i eüxctpicrna als Bekenntnisterminologie nachweisen konnte. Nun zeigen aber Stil, Form und Inhalt des Textes, daß die Liturgie schon viel früher beginnt, nämlich schon im v. 9 l *. Freilich ist zu fragen, welchen Sinn die Fürbitte Kai r^els oü TTauöpieöa -rrpoCTEUXÖpevoi in einer Liturgie, noch dazu in einer Taufliturgie, hat. Die Frage erledigt sich aber von selbst im Blick auf die Terminologie und den Stil des Textes. Richten wir unser Augenmerk auf den Anfang! L O H M E Y E R 16 meinte, eine zunehmende syntaktische Undurchsichtigkeit des Textes beobachten zu müssen. Bei sorgfältiger Analyse zeigt sich der Text aber syntaktisch völlig intakt. Dem Hauptsatz r)|iEi5 oü ttocuoheOCC TrpoCTEU)(önEuoi schließt sich im Iva uAripooöfiTE der Inhalt der Fürbitte an. Freilich steht -TrÄTipco6f)TE hier etwas ungewöhnlich mit dem Akkusativ der Sache. Dieser Fürbitte ist final der Zweck der Erkenntnis des göttlichen Willens angeschlossen: -rrEpmorrfiaai. Daß 1 3
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z. B . Taufterminologie oder Anspielungen auf die Taufsituation. Vgl. G. BORNKAMM, Das Bekenntnis im Hebräerbrief, ThBl 1942, Heft 2/3, Sp. 58ff., jetzt in
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G . BORNKAMM,
Studien
zu
Antike
und
Christentum,
1959;
E . KÄSEMANN,
Eine urchristliche Taufliturgie, in: Festschrift Rudolf Bultmann, 1949, p. 133—148, jetzt in: E. KÄSEMANN, Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960. a. a. O. a. a. O. Eine ausführliche Analyse dieses Textes habe ich in dem in Anm. 8 genannten Aufsatz vorgelegt. Hier folgen noch einige Nachträge, doch sind Wiederholungen leider unvermeidlich. a. a. O.
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wir hier nicht die grammatisch volle Formulierung EIS TÖ -rrEpiTrorrfiaai ü|ias vorfinden, sondern stark abgekürzt den bloßen finalen Infinitiv, ist eben ein Zeichen für den gehobenen Stil des Textes, aber keine syntaktische Undurchsichtigkeit. Was im TTEpnTcnficrai des näheren gemeint ist, wird in einer Partizipialkadenz aufgezeigt. Gegen D I B E L I U S 1 6 ist festzustellen, daß an den finalen Infinitiv TTEpiTrorrfjo'cci eine Kadenz von vier Partizipien angeschlossen ist: Kap-TTOq>0T|v a o i
7Tpo)(EipiCTacr6ai CTE ùrrr|péTr|v v TE EISÉÇ HE
Kai pâpTupa COV TE Ô