Theater im Schutt der Systeme: Dokumentation einer Begegnung zwischen dem Cono Surund Deutschland 9783964567697

Argentinische, chilenische, uruguayische und deutsche Dramatiker und Theaterwissenschaftler fragen sich, was das Theater

171 9 21MB

German Pages 300 [296] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Vorwort
Einleitung
Mauerfalle - Utopieverlust ?
Paradies und das Struktursplitter der „Wende" im Theater seit '89
Das chilenische Theater der 90er Jahre: Von den Utopien zur Selbstreflexion
Selbstporträt
Das Theater der 90er Jahre in Uruguay
Das Theater der 90er Jahre in Argentinien Ein Bericht
Theater als Metapher oder Tribunal. Gesprächsausschnitt
Sprachkrise und Körpertext
An den Grenzen der Worte beginnen Sprachen des Körpers. Die Aktualität von Tanztheater in den internationalen Tanzprojekten
Die deutsche Szene im europäischen Blick
Das argentinische Theater und die Krise des dramatischen Textes
La Línea Histórica. Selbstporträt
Bekannte Gesichter - Gemischte Gefühle. Gesprächsausschnitt
Gibt es ein Theater der Frauen?
Das Theater der Frauen in Chile
Schreiben die Frauen Lateinamerikas ein anderes Theater?
Doppelporträt
Theaterfrauen am Runden Tisch: Gesprächsausschnitt
Theater gegen das Vergessen
Das postmoderne Theater von Eduardo Pavlovsky
Porträt
Erinnerungen an eine Nation. Die Geschichte des Blutes vom Teatro La Memoria
Gedächtnis und Ethik des Körpers: Gesprächsausschnitt
Heiner Müller in Lateinamerika
La Máquina Hamlet vom Teatro El Periférico de Objetos
Heiner Müller: Seine Liebe heißt Sasportas - und sein Schmerz
Auf der Suche nach Erinnerung Der Auftrag von Heiner Müller: Berlin - Santiago - Berlin
Autoren
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Theater im Schutt der Systeme: Dokumentation einer Begegnung zwischen dem Cono Surund Deutschland
 9783964567697

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Röttger, Roeder-Zerndt (Hrsg.) Theater im Schutt der Systeme

Kati Röttger, Martin Roeder-Zemdt (Hrsg.)

Theater im Schutt der Systeme Dokumentation einer Begegnung zwischen dem Cono Sur und Deutschland

Vervuert • Frankfurt am Main • 1997

TOn Ku der Länder der Xv.ulturStiftung

Gefördert

aus Mitteln des Bur.dasmlnlsteriums des Innern

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theater im Schutt der Systeme : Dokumentation einer Begegnung zwischen dem Cono Sur und Deutschland / Kati Röttger; Martin Roeder-Zerndt (Hrsg.). - Frankfurt am Main: Vervuert, 1997 ISBN 3-89354-100-4

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann in Zusammenarbeit mit Kati Röttger und Thomas Engel; unter Verwendung von: Guillermo Kuitca: Mozart-Da Ponte I aus der Serie "Puro Teatro" (1995), mit freundlicher Genehmigung des Hirshhorn Museum Washington D.C.

Printed in Germany

VORBEMERKUNG

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VORWORT

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EINLEITUNG

19

MAUERFÄLLE - UTOPIEVERLUST ?

29

Thomas Oberender Paradies und das. Struktursplitter der „Wende" im Theater seit '89

29

María de la Luz Hurtado Das chilenische Theater der 90er Jahre: Von den Utopien zur Selbstreflexion Ramón Griffero Selbstporträt Heidrun Adler, César Campodónico, Alfredo Goldstein, Roger Mirza, Valeria Risi

47 65

Das Theater der 90er Jahre in Uruguay

71

Francisco Javier, Halima Tahán Das Theater der 90er Jahre in Argentinien. Ein Bericht

79

Gesprächsausschnitt Theater als Metapher oder Tribunal SPRACHKRISE UND KÖRPERTEXT Johannes Odenthal An den Grenzen der Worte beginnen Sprachen des Körpers. Die Aktualität von Tanztheater in den internationalen Tanzprojekten Manfred Beilharz Die deutsche Szene im europäischen Blick

87 93

93 97

Perla Zayas de Lima Das argentinische Theater und die Krise des dramatischen Textes

105

Manuel Hermelo La Línea Histórica. Selbstporträt

111

Gesprächsausschnitt Bekannte Gesichter - Gemischte Gefühle

119

GIBT ES EIN THEATER DER FRAUEN?

131

Maria de la Luz Hurtado Das Theater der Frauen in Chile

131

6

KatiRöttger Schreiben die Frauen Lateinamerikas ein anderes Theater?

145

Inés Stranger - Diana Raznovich Doppelporträt

163

Gesprächsausschnitt Theaterfrauen am Runden Tisch

169

THEATER GEGEN DAS VERGESSEN

179

Alfonso de Toro Das postmoderne Theater von Eduardo Pavlovsky

179

Gesprächsausschnitt Laura Yusem über Eduardo Pavlovsky. Porträt

201

Kati Röttger Erinnerungen an eine Nation. Die Geschichte des Blutes vom Teatro La Memoria

209

Gesprächsausschnitt Gedächtnis und Ethik des Körpers

235

HEINER MÜLLER IN LATEINAMERIKA Gesprächsausschnitt Daniel Veronese und Dieter Welke La Máquina Hamlet vom Teatro El Periférico de Objetos

243 243

Frank Hörnigk Heiner Müller: Seine Liebe heißt Sasportas - und sein Schmerz

255

Uta Atzpodin, Alexander Stillmark Auf der Suche nach Erinnerung. „Der Auftrag" von Heiner Müller

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AUTOREN

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Vorbemerkung

Im Januar/Februar 1996 veranstaltete das Zentrum Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts (ITI) auf Anregung der Dramaturgin und Lateinamerikaspezialistin Hedda Kage und in Zusammenarbeit mit der Theaterund Mediengesellschaft Lateinamerika, dem Haus der Kulturen der Welt Berlin und dem Goethe-Institut eine Begegnung von Theaterleuten aus Lateinamerika - genauer: dem Cono Sur - und Deutschland. Das Konzept der Veranstaltung mit ihren vielfaltigen Foren des Austauschs und der Diskussion, der Analyse und der kritischen Auseinandersetzung, der theaterpraktischen Arbeit und der gemeinsamen Planung entsprach ganz dem Auftrag des ITI, mit seinen Projekten Plattformen für vertiefte kulturelle Begegnung bereitzustellen und langfristig stabile interkulturelle Arbeitszusammenhänge zu entwickeln. Die Begegnung war auch von dem Wunsch getragen, eine intensivere Rezeption des lateinamerikanischen Theaters in Deutschland und, umgekehrt, des deutschsprachigen Theaters und deutschsprachiger Autoren in Lateinamerika zu fördern. Ausdruck dieses Wunsches und eine weitere Etappe auf diesem nicht immer leichten Weg ist das vorliegende Buch. Für das Internationale Theaterinstitut danken wir an dieser Stelle all jenen, die an seiner Herstellung beteiligt waren. Das Ziel der Mittlerorganisationen in der Kultur ist es eigentlich, sich durch die eigene Arbeit überflüssig zu machen. Wir hofften deshalb, daß die Theaterleute, die sich in Berlin begegneten und dort über zehn Tage zusammenarbeiteten, ihre gemeinsame Arbeit im direkten Kontakt fortführen würden. Wir wollten Anregungen geben, Brücken bauen für das Gespräch, Interesse am jeweils anderen wecken, dem Theater Lateinamerikas eine Öffentlichkeit in Deutschland verschaffen, einem Publikum vertiefte Eindrücke vermitteln, die ein Festival allein nicht bieten kann, die Grundlagen schaffen für ein fortgesetztes Gespräch über den Atlantik und den Äquator hinweg, und sahen diese Grundlagen besonders

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in den persönlichen Begegnungen, in der Herstellung eines lebendigen Netzwerks von Personen, die einander kennen-, die einander einschätzen- und schätzengelernt haben, die in den vier Ländern in Lateinamerika und in Deutschland von der Existenz und dem Interesse der anderen wissen und die mit Ideen und Plänen aufeinander zugehen können, um gemeinsam - und eben auch ohne die ursprünglichen Mittler ITI und Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika - an der Verwirklichung dieser Ideen und Pläne zu arbeiten. Tatsächlich entwickelten sich Arbeitszusammenhänge zunächst in der Fortsetzung von Projekten, die in unserer Begegnung angelegt waren; die Verwirklichung des Inszenierungsprojekts von Alexander Stillmark - Heiner Müllers Auftrag (La Misión) in Santiago de Chile mit Schauspielern der Truppe Teatro La Memoria, das am 29. November 1996 dort zur Premiere gebracht wurde, gehört sicher zu den spektakulärsten. Die chilenisch-deutsche Misión wurde schon am 9. Januar 1997 zu Heiner Müllers Geburtstag im Berliner Ensemble gezeigt, Ende 1997 wird sie zu einer größeren Tournee durch Deutschland aufbrechen. Wir stehen damit nicht mehr nur am Beginn einer langen Freundschaft, sondern es haben sich intensive Freundschaften als funktionierende künstlerische Partnerschaften entwickelt. Dieses Ergebnis ist, was sich jede Mittlerorganisation von ihren Projekten immer erträumt - daß es in diesem Fall und unter dem Dach des ITI so besonders durchschlagend und mit konkreten Erfolgen auf vielen verschiedenen Ebenen eingetreten ist, erfüllt uns tatsächlich mit ein wenig Stolz. August Everding Internationales Theaterinstitut Präsident

Martin Roeder-Zerndt Internationales Theaterinstitut Geschäftsführer

Die Veranstaltung „Das Theater des Cono Sur - Eine Begegnung mit Deutschland" wurde gefördert von der Kulturstiftung der Länder aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern, dem Auswärtigen Amt, dem ITI-Förderverein und dem Goethe-Institut.

Vorwort

Fünf Jahre liegen zwischen Berlin und Berlin, zwischen dem ersten Symposium Theater in Lateinamerika im Juni 1991 und dem zweiten Symposium Das Theater des Cono Sur - Eine Begegnung mit Deutschland Ende Januar 1996. Im Jahr 1991 wollten wir Veranstalter - das 1988 eröffnete Haus der Kulturen der Welt und die im gleichen Jahr gegründete Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika - gemeinsam eines: die Überwindung der Einbahnstraße im Kulturtransfer zwischen Deutschland und Lateinamerika. Dieses von zahlreichen Initiativen und Vereinen in Deutschland, besonders vom Goethe-Institut, als Notwendigkeit erkannte und definierte neue Konzept hatte Eingang in die offizielle Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes gefunden. Ein wichtiger Schritt war die Gründung des Hauses der Kulturen der Welt als Plattform reflektierter Selbstdarstellung außereuropäischer Kulturen in Deutschland. Der Respekt vor der kulturellen Selbstbestimmung ist die Basis des Dialogs, auch wenn im Trend der Globalisierung diese oft nur noch schwach ausgeprägt scheint. Kulturförderung und Kulturexport nach deutschem Muster setzen ein Selbstverständnis voraus, das in den meisten lateinamerikanischen Ländern nahezu unbekannt ist. Allenfalls repräsentative Ausstellungen oder Aufführungen mit internationalem Festivalflair kommen in den Genuß staatlicher Förderung. Der Weg über den Ozean ist weit und kostspielig, wenn es sich um das Medium Theater handelt, und so findet dieses im Vergleich zu bildender Kunst, Musik und Literatur auch kaum private Promotoren auf dem internationalen Kulturmarkt. Theatereindrücke wie der beim Festival Horizonte 1982 in Berlin oder Movimientos 1992 in Hamburg bleiben letztlich ästhetisch folgenlos für die deutsche Theaterszene, weil der Zugang zu den Materialien und Grundlagen für die deutschen Theaterschaffenden, die des Spanischen nicht mächtig sind, weitgehend versperrt bleibt. Dem großen Interesse an deutschen Theaterstücken auf der lateinamerikanischen Szene - durch das Übersetzerprogramm von GoetheInstitut und Inter Nationes angeboten - steht von deutscher Seite ein durch sprachliche und geographische Trennung begründetes Defizit an Kenntnis und mangelnde Neugier gegenüber.

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Folglich reproduzieren sich Vorurteile gegenüber dem Theater Lateinamerikas zwischen Exotismus einerseits und einem verengten Begriff des Politischen andererseits und dominieren den Vorstellungshorizont mit dem kommerziellen Ausverkauf von Samba-, Tango- und Folkloretraditionen oder dem Politkitsch wohlmeinender Solidaritätsinitiativen. Die Theater- und Mediengesellschaft hat bewußt eine gegensteuernde Haltung eingenommen, um den abschätzigen Beigeschmack von „Dritte Welt" aus dem Kulturdiskurs hinauszuspülen und den Gefahren eines intellektuellen und ästhetischen Kolonialismus oder auch entwicklungsorientierten und bevormundenden Wohlwollens zu entgehen. Ihre Mitglieder haben durch ausgedehnte Reisen und Studienaufenthalte in Südund Mittelamerika und der Karibik, durch Teilnahme an Festivals und Universitätskongressen, durch Publikationen und Übersetzungen ein Netz von Kontakten geknüpft, das ihnen bei der Planung des ersten Symposiums zur Verfügung stand. Gleichzeitig konnten sie Hispanisten und Theaterwissenschaftler an den Universitäten Berlin, Eichstätt, Mainz und Augsburg für die auf Dialog angelegte Konzeption des Symposiums gewinnen. Wilfried Floeck (Gießen) und Karl Kohut (Eichstätt) ist es zu danken, daß jeder der eingeladenen Theaterspezialisten aus Mexiko, Cuba, Kolumbien, Venezuela, Peru, Chile, Argentinien und Uruguay einen mit der Theaterszene der jeweiligen Region vertrauten deutschen Partner zur Vorbereitung der Vorträge und Diskussionsrunden des ersten Symposiums hatte. Juni 1991; das frisch entmauerte Berlin: Die eingeladenen Theaterwissenschaftler/Autoren/Regisseure aus acht Ländern Lateinamerikas folgten den Spuren der überwundenen Trennung, erlebten die Stadt, „die wie keine andere das Ende unseres Jahrhunderts symbolisiert", so der chilenische Autor Marco Antonio de la Parra in seiner programmatischen Eröffnungsrede: Doch vor allem ist da die symbolische Kraft dieser Stadt. Genau in Berlin und nirgendwo sonst konnte der Westen auf höchst dramatische Weise und besser noch als in irgendeiner Theaterinszenierung die Veränderungen spüren, die über uns hereingebrochen sind. Wie aus einer im Zentrum eines Wirbelsturms plazierten Theaterloge erlebten wir den Fall der Mauer gleich jener einzigartigen Geste, die zu finden der Dramatiker bemüht ist, um in einer Minute Handlung zehn Jahrhunderte Menschheitsgeschichte aufzuzeigen. Der Fall der Mauer bedeutete Zerstörung alles Bestehenden, bedeutete Änderung aller Hoffnungen. Er setzte ein riesiges Quantum an Angst frei, durchlöcherte angebliche Ordnungen, die nun ihre wahre Natur enthüllen - und zwar die einer muffigen Provinz - und warf Fragen auf, die noch heute in der Luft schweben

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und unser Gewissen als Künstler herausfordern; uns herausfordern zu einem höheren Maß an Auseinandersetzung und Mut, an Verletzbarkeit und Maßlosigkeit. Denn nur dann wären wir imstande zu erfassen oder wenigstens zu erahnen, was in Zukunft geschehen wird, was mit einem Planeten geschehen wird, auf dem die Kategorien Ost und West keine Rolle mehr spielen und Europa und auch Lateinamerika ein anderes Profil gewinnen werden, denn auch dieser Kontinent erlebt so gewaltige Veränderungen, daß er aufhört zu sein, was er einst gewesen ist... Berlin ist die Stadt, in der wir am besten über das reden können, was nicht mehr ist und was früher einmal war. Doch gelingt 1991 in Berlin nur in ersten Ansätzen, was de la Parra behauptete. Es blieb zunächst bei einer ersten Konfrontation von Kenntnissen und Einsichten.1 Von den Teilnehmern wurde einstimmig und nachhaltig das Bedürfnis nach einer vertieften, weniger historisch-akademischen, denn auf Erfahrung ausgerichteten Begegnung artikuliert. Begegnung nicht nur in einem von beiden Seiten zu führenden Dialog über gemeinsame Themen, sondern Begegnung auch über praktische Arbeitstreffen von Theaterschaffenden, nicht nationale Repräsentativität, sondern Konzentration auf eine Region: den Cono Sur. Der Besuch des Festivals Theater der Nationen 1993 in Santiago de Chile hält den Kontakt mit der aktuellen Theaterszene in Lateinamerika aufrecht. Besonders die Kollegen in den Ländern des Cono Sur (Argentinien, Uruguay, Chile) fragten nach unseren Erfahrungen im Theater des wiedervereinigten Deutschland. Von der Euphorie in den Katzenjammer? Vom Aufschwung in die Depression? Immer wieder haken wir uns an den Punkten fest, die in der weltweiten Umbruchsituation die unterschiedlichen Kulturszenen ähnlich beunruhigen. Die Systeme sind zerbrochen, die nationalen Militärdiktaturen im Cono Sur ebenso wie das Deutschland spaltende Ost-West-Modell, und wir stehen in den Trümmern ideologischer Vergangenheiten, die sich keineswegs so mühelos beseitigen lassen wie materielle Mauerbrocken und Institutionen. Bietet das Theater ein Forum, auf dem Schuttbeseitigung verhandelt wird? Wenn das Theater - wie behauptet - ein Ventil der Unzufriedenen, der schweigenden Minderheiten war, was liefert es jetzt? Warum sind wir - vereinigt und entspitzelt oder befreit und redemokratisiert - nicht zufrieden? Ist der Neoliberalismus, ist Vgl. dazu die von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika und dem ITI initiierten und herausgegebenen Dokumentationen der Symposien Das moderne Theater Lateinamerikas in Berlin und Theater in Lateinamerika in Essen: Wilfried Floeck/Karl Kohut (Hrsg.): Das moderne Theater Lateinamerikas, Frankfiirt/a.M. 1993; Peter Knotz/Thomas Engel (Hrsg.): Dokumentation des Symposiums Theater in Lateinamerika, Berlin 1992.

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die Reprivatisierung nach staatlicher Gängelung nicht geeignet, eine Atmosphäre der Freiheit und Chancen zu erzeugen? Gibt es Texte oder Szenarien, die das Klima in den neuen Verhältnissen, die die psychische Befindlichkeit der Weiterlebenden, der jetzt entmachteten und beschädigten, früher gedemütigten und jetzt rachsüchtigen, der desorientierten und zynischen Opfer und Täter, Karrieristen und Mitläufer in theatralische Figuren und Konstellationen zu fassen vermögen? Hat sich das Theater entpolitisiert, an den Rand der Ereignisse verspielt und rechtfertigt es seine Subventionierung in den Zeiten ökonomischer Krisen nicht mehr? Welche Autoren, welche Regisseure, welche Theater oder Gruppen setzen überhaupt noch Akzente gegen die Amnesie des Unterhaltungsbooms? Theater sei Gedächtnisarbeit gegen den beschleunigten Erinnerungszerfall, heißt es - bezieht es daraus einen Anspruch auf Institutionalisierung? Wie verläuft Gedächtnisarbeit auf der Bühne - dokumentarisch, psychologisch, realistisch in erkennbaren Biographien? Existieren noch verbindliche Modelle, in denen ein Publikum seine Idiosynkrasien reflektiert sieht? Erkennt es sich in den zerbrochenen Spiegeln, in den Frakturen sprachlicher und bildnerischer Komplexe wieder? Die chilenischen Kollegen machen mich beim Festival Theater der Nationen 1993, das Chile nach Jahren der verordneten splendid isolation künstlerisch wieder an das Theater der Welt ankoppelt, auf eine Gruppe um den Regisseur und Schauspieler Alfredo Castro aufmerksam, die sich Teatro La Memoria nennt. Sie zeigt im nationalen Beitrag zum Festivalprogramm das Mittelstück ihrer als testimoniales bezeichneten Chile-Trilogie: Historia de la sangre. Theaterleute, Kritiker und ein enthusiastisches junges Publikum scheinen in dieser Arbeit den authentischen Ausdruck wahrzunehmen für den unterhalb der glänzenden, konsumistischen Fassade herrschenden Zustand, den der Postpinochetismo hinterlassen hat. Kein griffiges Thema. In der grotesken Verwirrung von Handlungslinien suche ich einen zusammenhängenden plot, bis ich begreife, daß ein Mosaik von dokumentarischen Materialien der Gruppe als Basis für ihre szenische Erforschung des kollektiven Unterbewußten dient. Kein einziger politischer Terminus fallt; jenseits von Denunziation oder polemischen Verweisen auf irgendwelche namhaften Verursacher legen die Schauspieler in erhellenden biographischen Bruchstücken aus dem Leben von Marginalisierten, Wahnsinnigen und Gewalttätern den Schutt aus Schuld und Verdrängung in den zerbrochenen politischen und sozialen Kontexten bloß. Diese Aufführung erinnert mich in ihrer

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schneidenden Trauerwirkung an einige Inszenierungen von Stücken der argentinischen Autoren Eduardo Pavlovsky und Griselda Gambaro. Pavlovsky hatte schon 1991 beim Festival Theater der Welt in Essen mit Paso de dos viele Zuschauer verstört. Die fräsende Unerbittlichkeit der Selbsterforschung, mit der dieser Autor/Schauspieler gegen das kollektive Verdrängen anarbeitet und alle Ausflüchte und Entlastungen der auf appeasement und sogenannten „nationalen Konsens" konditionierten Gesellschaft überzieht, ist eine ähnlich grenzverletzende Zumutung wie die Auffuhrung des chilenischen Teatro La Memoria. Hier schien ein Ansatz für vergleichende Anschauung und ein darauf bezogenes gemeinsames Gespräch gegeben. Das Thema hatte uns gefunden: „Theater im Schutt der Systeme". Für die deutsche und die lateinamerikanische Situation formulierten wir im Veranstaltungsprogramm: Der Titel steht für die Umbruchsituation, in der wir uns weltweit befinden, weil das ausgelaufene polare Ideologiemodell nicht mehr dem Bedarf der Wirklichkeit entspricht. Die deutsche Mauer ist gefallen, nicht nur in Berlin. Der Freude über die Wiedervereinigung folgte nach wenigen Monaten schon die besorgte Frage nach den Kosten. Und nicht nur im Westen, sondern auch im südamerikanischen Cono Sur, wo langjährige und blutige Militärdiktaturen durch Redemokratisierungsprozesse auf Dauer abgelöst scheinen, hat nach 1989 eine Diskussion über Utopieverlust eingesetzt. Ohne Systeme leben zu müssen in einer Welt ohne Garantien, in einer 'Situation, in der alles fließt', in der wir gleichzeitig an vielen sehr unterschiedlichen Solidarisierungs- und Entgrenzungsvorgängen teilhaben, 'erfordert die Entwicklung der Fähigkeit, Differenzen zu leben und anzuerkennen' - so der verstorbene Heiner Müller in einem von J.M. Raddatz moderierten Theater der Zeit - Gespräch mit Boris Groys und Rüdiger Safranski. Letzterer erklärt die Fähigkeit, Metaphysik und Politik voneinander zu trennen und in getrennten Welten zu leben, für die unverzichtbare Lehre aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, für unsere 'postmoderne Signatur ... die Metaphysik beizubehalten, damit wir nicht zu pragmatischen Idioten werden, aber eine pragmatische Politik machen können, um unsere Sehnsucht nach Tragik, Härte, Schwere auf jeden Fall nicht in der Politik zu befriedigen'. Unbestreitbar ist das Theater einer der wenigen Orte, an denen wir uns mit unseren Leidenschaften und metaphysischen Obsessionen auseinandersetzen und die 'ungenügende Einrichtung der Welt' als Material der Kunst verwerten können. Heiner Müller bezeichnete das als den parasitären und zugleich utopischen Charakter der Kunst. Im Dialog mit Theaterschaffenden aus Argentinien, Chile, Uruguay und Paraguay wollen wir Po-

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sitionen abstecken bei der Bestandsaufnahme der Erinnerung, beim Vermessen der Fragmente, beim Suchen im Schutt. Wir wollen uns beobachten und befragen, uns auseinandersetzen und miteinander arbeiten. Unser Symposium mit seinen Aufführungen, Diskussionen, Lesungen, Tischgesprächen, Videopräsentationen und Workshops ist kein Festival, es ist ein offener Raum und eine freie Zeit für Begegnung. Die Selbstverständlichkeit, mit der das zweite zentrale Thema „Die Position der Frauen: Realität und szenische Thematisierung" das Symposium bestimmen sollte, ergab sich aus der nachfragenden Herausforderung, mit der Kati Röttger unseren Blick auf den thematischen Zusammenhang lenkte. Der aktive Anteil, den Frauen seit jeher an der Entwicklung der Theaterkultur gerade in Lateinamerika genommen haben, wo im Kulturbereich mangelnde Subventionierung weniger differenzierte Strukturen und Hierarchien entstehen ließ, ist unübersehbar. Welche Rolle sie auf der Bühne spielen, als Figuren theatralischer Imagination, welche Rolle sie, nicht nur als Schauspielerinnen, zunehmend auch als Regisseurinnen, Dramaturginnen, Autorinnen, Theaterleiterinnen spielen, welchen Beitrag sie zum Paradigmenwechsel im kulturellen Diskurs geleistet haben, sollte im Vergleich zwischen Deutschland und dem Cono Sur thematisiert werden. Und so formulierte Kati Röttger ftir diesen Bereich des Symposiums: Frauen im Theater ... das Thema ist gewiß nicht neu, weder im Cono Sur noch in Deutschland ... warum also die Frage nach der Position der Frauen noch einmal stellen? Mit einem Symposium, das die Begegnung zwischen zwei Kulturen herstellt und zur Diskussion gemeinsamer, drängender Fragen einlädt, mit einem Symposium, das Forum zur Debatte über 'Theater im Schutt der Systeme' sein will, möchten wir nicht stillschweigend davon ausgehen, daß zu einem Zeitpunkt, zu dem feministische Theorien ganz entscheidende Anstöße zur Infragestellung alter Hierarchien, zur Kritik am bürgerlich-humanistischen Weltbild, zur Dekonstruktion zentralistischer Begriffe und Normen liefern, sich der Beitrag der Frauen zum Thema von selbst versteht. Die Begegnung zwischen Deutschland und dem Cono Sur bietet zum ersten Mal die Gelegenheit, das Theater der Frauen bzw. ihre Position im Theatersystem speziell im deutschamerikanischen Vergleich zu diskutieren: Gibt es Gemeinsamkeiten? Schreiben die Frauen aus den lateinamerikanischen Ländern ein anderes Theater? Und schließlich: Was haben die Diskussionen über die Geschlechterdifferenz in den letzten dreißig Jahren für das Theaterschreiben und Inszenieren von Frauen und Männern bewirkt?

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Beide von uns formulierten Themen für das Symposium fanden Zustimmung bei den Kollegen im Cono Sur, die sich länderbezogen in vorbereitenden Arbeitsgruppen trafen. Besonderer Dank an dieser Stelle an Halima Tahán aus Buenos Aires und an María de la Luz Hurtado aus Santiago de Chile. An der kontinentübergreifenden Gesprächsstaffel waren unsere Veranstaltungspartner zunehmend beteiligt. Martin Roeder-Zerndt, Geschäftsführer des deutschen ITI-Zentrums, war anläßlich der Theaterfestivals im März 1994 in Montevideo und im September 1994 in Córdoba mit unseren Partnern in den drei Ländern zusammengekommen und setzte anschließend alle Hebel in Bewegung, um dieses Symposium zur zentralen ITI-Veranstaltung zu machen und das Projekt gegen die inzwischen verfügten Etatkürzungen dennoch in sinnvollem Umfang durchführen zu können. Regisseur Alexander Stillmark und ich reisten im November 1995 zur letzten Vorbereitungsabsprache nach Montevideo, Buenos Aires und Santiago de Chile, um dort gemeinsam mit Soledad Lagos de Kassai, die einen entscheidenden konzeptionellen und organisatorischen Anteil an diesem Symposium hatte, an der vom Goethe-Institut und dem chilenischen ITI veranstalteten Theaterkonferenz Santiago-Berlin teilzunehmen. Während dieser Reise stand noch alles auf dem Spiel. Doch die Vorfreude und das beeindruckende Engagement der chilenischen Theaterleute, die mit einer Serie von Konferenzen und Aufführungen des Teatro La Memoria im Goethe-Institut einen Teil der Reisekosten über Eintrittsgelder einspielten und damit das Symposium „subventionierten", beflügelten unseren Optimismus und überzeugten das chilenische Außenministerium, das Reisekosten für sieben Kollegen zusagte. Vielversprechend war auch die erste Begegnung von Regisseur und Ensemble vom Teatro La Memoria und Alexander Stillmark, die in einem Workshop in Berlin die Grundlagen für eine spätere gemeinsame Inszenierung von Heiner Müllers Der Auftrag erarbeiten sollten. Martin Roeder-Zerndt faxte finanzielle Rettung: „Nachgelegt" hatten das Auswärtige Amt und die unverzichtbar rettende Kulturstiftung der Länder, der ITI-Förderverein trug als privater Sponsor fast ein Viertel der gesamten Kosten. Damit durften wir es wagen, und für den Rest sorgten viele ungenannte Helfer, denen hier - wie den offiziellen - herzlich gedankt sei. Ende Januar 1996 - Berlin bei Minusgraden, gegen die kein südamerikanischer Poncho schützen konnte - Szenario einer erkalteten, vom Schutt gesäuberten Stadt mit aufgerissenem Boden und dem Ballett der Kräne am Himmel. Wir Veranstalter, um fünf Jahre gesamt-deutsch gealtert, sind fasziniert und provoziert

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von zwei Gastspielproduktionen zum Thema Vergangenheitsbewältigung - Historia de la sangre aus Santiago de Chile und Potestad aus Buenos Aires. Unsere Gäste, vorrangig Regisseure/Schauspieler/Autoren und Kritiker aus den Ländern des Cono Sur, sind fasziniert von den deutschen Aufführungen zur Vergegenwärtigung des Themas an der Volksbühne und am Berliner Ensemble und von den „Nachrichten aus der Wirklichkeit", die die Autoren Jürgen Hofmann und Thomas Oberender in ihren Vorträgen über die „Wende" in der deutschen Dramatik seit 1989 übermitteln. Die Gäste aus dem Cono Sur treffen in Etappen ein. Zuerst die Schauspieler vom Teatro La Memoria, deren Regisseur, Alfredo Castro, mit einem ITI-Goethe-Stipendium seit Ende Dezember in Berlin, sich mit der Stadt und dem Theater vertraut gemacht hat und, als ein Stellvertreter der lateinamerikanischen Theaterszene, Trauergast bei den Gedenklesungen im Berliner Ensemble für den verstorbenen Heiner Müller ist. Nun also die Theaterbegegnung Cono Sur - Deutschland. Wie „organisiert" man Begegnung? Wer will sich begegnen, d.h. zuschauen und zuhören, wenn die Sprachbarrieren den unmittelbaren Dialog schwerfallig machen? Doch hier geht es nicht um Bewertung, eher um Selbstbefragung nach dem Sinn von Begegnung. Nichts ist klimatötender als die sogenannte Evaluation am Ende jeder Tagung. Natürlich verlief vieles anders als angedacht, inklusive Pannen und Enttäuschungen. Davon sollen andere sprechen. Ich spreche von La Misión. Denn wie Begegnung neue Projekte zeugt, hat sich anschaulich im Fall des Workshops entwickelt, in den das chilenische Ensemble vom Teatro La Memoria mit Regisseur Alexander Stillmark eingestiegen war. Heiner Müllers Tod, die Trauerlesungen im Berliner Ensemble, Müllers Arturo í/z'-Inszenierung mit Martin Wuttke hatten den Arbeitstext vom Auftrag mit einer unvorhersehbaren Bedeutung aufgeladen. Aus dem Workshop entwickelte sich Monate später, finanziert und realisiert im Saal des Goethe-Instituts in Santiago de Chile - die Inszenierung La Misión, die ein junges und unerfahrenes Publikum ebenso fesselte wie die Heiner Müller-Experten, die zu einem Symposium Heiner Müller in Lateinamerika in Santiago zusammenkamen. In neuer Übersetzung (Uta Atzpodin und Rodrigo Pérez) war Heiner Müllers „Flaschenpost" über die Geschichte einer Revolution in Santiago angekommen. Die Inszenierung wurde vom ITI nach Berlin eingeladen, wo sie im Berliner Ensemble am 9. Januar 1997, dem Geburtstag des ein Jahr zuvor verstorbenen Autors Heiner Müller, zu dessen Gedenken gastierte. Zum Glück gibt es dieses Buch, in dem für die Teilnehmer die Erinnerung assoziationsreich und strukturiert festgeschrieben steht. Für Interessierte am Kultur-

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dialog bietet es Einblicke in den anderen theatralischen Umgang mit dem gleichen Leiden an den als unvermeidbar sich erweisenden Katastrophen unserer Welt. Ich danke allen, denen ich auf dem Weg von 1991 bis 1996 begegnet bin. Hedda Kage, Juli 1997

Einleitung

Was passiert, wenn sich 60 Theaterleute aus Chile, Argentinien, Uruguay und Deutschland zehn Tage lang über ihre Arbeit im Theater und für das Theater austauschen? Wenn die Begegnung nicht ausschließlich zwischen Theaterpraktikern oder nur unter Wissenschaftlern stattfindet, sondern Schauspieler/innen, Dramatiker/innen, Kritiker/innen, Regisseur/innen und Theaterwissenschaftler/innen auf einem einzigen Symposium miteinander ins Gespräch kommen? Wenn nicht nur Vorträge gehalten werden, sondern auch Lesungen von Theaterstücken1 mit anschließenden Autorengesprächen? Wenn dazu Runde Tische, Publikumsgespräche, Workshops und Gastspiele auf dem Programm stehen? Drei Kompagnien aus Lateinamerika waren eingeladen, um im Rahmen des Symposiums Das Theater des Cono Sur - Eine Begegnung mit Deutschland, das zwischen dem 25. Januar und dem 4. Februar 1996 in Berlin stattfand, an Berliner Theatern ihre Arbeiten vorzustellen: Eduardo Pavlovsky aus Argentinien, Teatro La Memoria aus Chile und Ana Maria Imiscoz aus Paraguay. Für die letzten beiden waren es ihre ersten Gastspiele in Deutschland. Parallel zum Symposium vollzog sich die Begegnung zwischen Deutschland und dem Cono Sur zusätzlich in der praktischen Theaterarbeit. Die Regisseure Alfredo Castro (Chile) und Alexander Stillmark (Berlin) waren eingeladen, jeweils einen Workshop zu geben. Castro arbeitete mit Studierenden der Ernst-BuschHochschule für Darstellende Kunst, Stillmark begann mit den Schauspielern vom Teatro La Memoria eine erste Arbeit an Heiner Müllers Der Auftrag. Erinnerungen an eine Revolution, die im Oktober 1996 in Santiago, Chile, weitergeführt wurde und schließlich auch am 9. und 10. Januar 1997 im Berliner Ensemble zur Auffuhrung gelangte. Damit gewann die Begegnung selbst ein Eigenleben: Sie setzte sich fort.

An dieser Stelle sei insbesondere noch einmal den Studierenden des Fachbereichs Szenisches Schreiben an der Hochschule der Künste Berlin fllr die Lesungen ausgewählter Szenen aus Stücken von Ricardo Monti, Griselda Gambaro, Diana Raznovich, Alfredo Castro, Ramón Griffero und Inés Stranger gedankt, die sie an drei Abenden unter Leitung von Dieter Bitterli und JUrgen Hofmann vortrugen.

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Was passiert also auf einem derartigen Veranstaltungsmarathon zwischen Menschen von kulturell und professionell so unterschiedlicher Provenienz, die nur eines gemeinsam haben: die Leidenschaft für das Theater? Vorliegendes Buch stellt sich diese Frage so, wie es sich selbst dieser Frage zu stellen versucht. Keine monographische Berichterstattung ist vorgesehen, kein Sprechen über „die Anderen" aus dem fremden Kontinent. Vielmehr will es über die aktuelle Verfassung des Theaters informieren, in Deutschland, wie in dem geographischen Gebiet, das sich Cono Sur nennt, eine hierzulande wenig bekannte Bezeichnung für das Konglomerat der südlichsten lateinamerikanischen Länder Argentinien, Chile und Uruguay. Beide Seiten werden ins Blickfeld gerückt, indem der Kommunikationsprozeß selbst, der während der zehn Tage der Begegnung stattfand, sich hier entfaltet: als Strategie des gegenseitigen kritischen Fragens ebenso wie im Streitgespräch, im monologisierenden Vortrag wie im neugierigen Dialog, im Gespräch am Runden Tisch wie in der Selbstdarstellung. Dabei gilt es nicht nur, die Erfolgsmomente der gelungenen Verständigung festzuhalten, sondern eben auch die Schwierigkeiten des Gesprächs im Feld der kulturellen Differenzen, wie z.B. die Tendenz der Teilnehmer, Positionen zu beziehen, die sich dem Gegenüber zunächst nicht öffnen, die zunächst nicht Ausdruck eines Interesses an der Begegnung zu sein scheinen, sondern eines Verharrens bei sich. Im Gesamtkontext des Projekts dann erweisen sich aber auch diese Momente als notwendige Teile eines größeren Ganzen. Der Ort des Treffens war das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das Thema „Theater im Schutt der Systeme". Für die Wahl dieses Themas gab es viele Gründe: Neben dem Versuch, eine gemeinsame Zwischenbilanz zu den Stichworten Ende der Utopien, Erschütterung traditioneller Denk- und Lebensmodelle und politischer Systeme, Fall der Mauer, Aufbruch polarer Ideologiemodelle2 zu ziehen und vor allem der Frage nach der sich daraus ergebenden neuen Rolle des Theaters nachzugehen, war es den Veranstaltern auch ein Anliegen, in Deutschland, und besonders in Berlin, die sogenannte „deutsche Wende" gewissermaßen zu internationalisieren. Es galt, über die Mauerreste hinauszublicken, den Fall nicht als exklusiv deutsches Leid zu beklagen oder einen neuen „Mythos Deutschland" heraufzubeschwören, Deutschland gar in seinem aktuellen politischen wie künstlerischen Geschick einen Sonderstatus einzuräumen. Vielmehr sollte es darum gehen, herauszufinden - und das wur-

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Vgl. dazu die Ausführungen von Hedda Kage im Vorwort.

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de von den Gästen im Vorfeld der Vorbereitungen als Anliegen genauso dringend formuliert wie von den Gastgebern -, welche Gemeinsamkeiten sich über den Ozean hinweg „im Schutt der Systeme" entdecken lassen, inwieweit „die Wende" ein globaler Prozeß sein könnte und auch das Theater bis nach Feuerland davon betroffen ist. „Chile gehörte in gewisser Hinsicht auch zum Ostblock", sagt der chilenische Dramatiker und Regisseur Ramón Griffero an einer Stelle im vorliegenden Buch (1. Kapitel) und schlägt damit einen der notwendigerweise zahlreichen Pfeiler der so oft apostrophierten „Brücke zwischen den Kulturen". In diesem Rahmen wird Fremdheit relativ. Der chilenische Autor fühlt sich manchem deutschen Theatermacher näher als einigen Kollegen im eigenen Land, so wie umgekehrt ähnliches zu gelten scheint: „Nach dem Fall der Mauer sind die Deutschen heute so getrennt, wie sie es seit dem Bau der Mauer wirklich waren", formuliert der junge deutsche Dramatiker Thomas Oberender mit erbarmungsloser Schärfe in seinem Beitrag „Paradies und das. Struktursplitter der 'Wende' im Theater seit '89" (1. Kapitel). Nicht weniger scharf wird aber auch an Bündnisse erinnert, die weder die Mauer noch der Ozean zu trennen vermag, auch wenn dies manchmal lieber vergessen wird; Bündnisse der Geschichte, mit der z.B. die argentinische jüngste Vergangenheit die deutsche einholt. Das meint die argentinische Regisseurin und Schauspielerin Laura Yusem wohl, wenn sie rückblickend auf die Zeit der argentinischen Diktatur zum deutschen Publikum des Symposiums (4. Kapitel) sagt: „Es war zum Verrücktwerden. Ich war zum zweiten Mal in Deutschland (...), und ich konnte einfach nicht glauben, daß es in Deutschland diese Dinge [Gewalt und Folter] nicht gibt, wie mir hier immer wieder gesagt wurde. Ich konnte es nicht glauben. Sie sind unsere Lehrer, wir Ihre besten Schüler. Es stimmt, wir haben Ihre Lektion am besten gelernt, aber die Lehrer sind Sie." Wo aber stehen wir jetzt, und wo das Theater, inmitten des Trümmerhaufens? Im Sinne dieser Frage verstand sich die Begegnung als gemeinsame Bestandsaufnahme, ohne den Anspruch auf eine doch kaum zu leistende „Bewältigung" des Vergangenen durch das Theater, sondern mit der Aufforderung, kritische Fragen zu stellen nach der Befindlichkeit und Funktion des Theaters jetzt, in einer Situation des Umbruchs und der Unsicherheit - im Sinne einer tastenden Suche nach Anzeichen von Wunden, Rissen, Brüchen, Friktionen, Veränderungen oder vielleicht auch Neuanfangen. Diese Gesprächsvorgaben waren keineswegs als Aufforderung gemeint, ein gemeinschaftliches, quasi universales Klagelied über den Verlust der alten (ideologischen und künstlerischen) Sicherheiten zu orchestrieren, auch wenn

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während des Treffens - wie in den folgenden Kapiteln nachzulesen sein wird sich nicht selten Nostalgie verbreitete, die zum Teil sogar dem Abschied von den Diktaturen zu gelten schien; immerhin boten diese die Gewißheiten des politischen Widerstands und des klar konturierten und polarisierenden künstlerischen Auftrags. Dagegen stand, die „neue Verunsicherung" als Chance wahrzunehmen, um die alten Spaltungen und Oppositionen zu überwinden, welche die Aufrechterhaltung der Systeme garantierten; die Spaltung zwischen links und rechts, gut und böse, richtig und falsch, - und schließlich auch die von dem Postkolonialismus-Theoretiker Edward Said zuerst in seinem vielzitierten Buch Orientalism (1978) als wir/sie-Dichotomie beschriebene Spaltung der Welt in ein westliches Zentrum und eine nicht-westliche Peripherie. Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft, Differenzen zu leben und anzuerkennen, sondern auch der Versuch, die Begegnung mit den kulturell „Anderen" anders zu gestalten. Das heißt, sich aus den alten, hierarchischen, immer noch kolonialistisch oder aufklärerisch-erzieherisch geprägten Strukturen freizumachen, vor der sogenannten „Krise der Repräsentation" des „Anderen" nicht die Augen zu verschließen und Konstellationen jenseits der Spaltungen, die den Ausschluß programmieren, zu suchen, jenseits der oppositionellen Verhältnisse, in denen das westliche Subjekt - um noch einmal Said anzuführen - die Trennlinie zwischen „Wir" und „Sie" zieht, um seine Integrität und Autorität zu bewahren. Dazu gehört mit Bezug aufs Theater auch, auf alte Sicherheiten zu verzichten, traditionelle Verfahren und überlieferte Inhalte zu überprüfen und nicht zuletzt - wie der deutsche Dramaturg Dieter Welke in seinem Gesprächsbeitrag über die Zusammenarbeit mit der argentinischen Theatergruppe El Periferico de Objetos (5. Kapitel) kompromißlos vom deutschen Theater fordert - die Bereitschaft zur Unausgewogenheit: „Diese Situation [des Umbruchs], die wir meiner Meinung nach am Jahrhundertende erleben, geht in ihrer ganzen Radikalität - ich bedaure, dies sagen zu müssen - weder in die Köpfe der deutschen Theatermacher, noch in die des Publikums. (...) Immer ist von der Ausgewogenheit des Spielplans die Rede, aber in unausgewogenen Zeiten gibt es keine ausgewogenen Spielpläne, und es kann sie nicht geben, wenn das Theater etwas zu sagen haben will." Wie schwierig der Bruch mit alten, vermeintlichen Gewißheiten und eingefahrenen Verhältnissen nicht nur für das deutsche Theaterpublikum ist, davon legen die Beiträge im vorliegenden Buch genauso ein Zeugnis ab, wie von der Lust auf Neugier und Risiko als Voraussetzung für das Gelingen einer Begegnung mit „Anderen", in welcher Gestalt auch immer.

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Daß wir immer noch mit einem Ungleichgewicht zwischen Berührungsangst auf der einen und Neugier auf der anderen Seite zu kämpfen haben, zeichnete sich bereits im Vorfeld der Organisation des Symposiums ab. Die Neugier auf die Begegnung mit den lateinamerikanischen Theatermachern hielt sich auf deutscher Seite nämlich zunächst in Grenzen, die Widerstände schienen dafür um so größer. Während auf argentinischer, chilenischer und uruguayischer Seite viele namhafte Autor/innen, Regisseur/innen und Schauspieler/innen wie Diana Raznovich, Eduardo Pavlovsky, Ricardo Monti, Inés Stranger, Francisco Javier, Ramón Griffero, César Campodónico, Alfredo Castro, Laura Yusem, Maria de la Luz Hurtado, Halima Tahán oder Alfredo Goldstein sofort ein großes Interesse am Zusammentreffen mit deutschen Kollegen und Kolleginnen bekundeten und ihre Teilnahme ohne große Umschweife zusagten, kamen von deutscher Seite eher zögernde, zweifelnde Reaktionen und viele ablehnende Antworten. Als Gründe wurden nicht nur Sprachbarrieren genannt, sondern in vielen Fällen auch die Unkenntnis des Theaters in Lateinamerika. Das Argument der Veranstalter, daß das Symposium gerade dazu beitragen sollte, dieses Wissensdefizit durch die Diskussionen, Gespräche, Vorträge, Lesungen und Gastvorstellungen auszugleichen, daß es außerdem nicht um den Beweis von Wissen, sondern eben um das Kennenlernen gehen sollte, konnte nur die wenigsten umstimmen. In erster Linie sagten daher zuerst diejenigen zu, die schon einmal mit Theater in Lateinamerika in Berührung gekommen waren: Abgesehen von Mitgliedern der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. wie Heidrun Adler, Barbara Pansé, Gerd-Reiner Prothmann nahmen von den Theaterpraktikern die Dramaturgen Dieter Welke und Manfred Beilharz, die Regisseure Maria Schüller und Armin Dillenberger teil, von den Romanisten die Lateinamerikaspezialisten Karl Kohut und Alfonso de Toro, von den Theater- und Filmwissenschaftlern Peter B. Schumann und Henry Thorau, von den Kennern der internationalen Szene Johannes Odenthal und Renate Klett. Abgesehen von diesen „Eingeweihten" ist vor allem denjenigen zu danken, die sich trotz ihrer „Unkenntnis" auf die Begegnung einließen und sich der Diskussion über die Theaterarbeiten in den 90er Jahren stellten, wie den Autoren und Autorinnen Volker Braun, Werner Fritsch, Jürgen Hofmann, Anna Langhoff, Thomas Oberender, Kerstin Specht und Lothar Trolle, dem Dramaturgen Klaus Völker und der Dramaturgin Birgid Gysi, sowie schließlich dem Regisseur Alexander Stillmark. So wenig das Treffen zwischen den unterschiedlichen Theatermachern aus Argentinien, Chile, Uruguay und Deutschland unter rigiden Vorgaben zum Aus-

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tausch perfekt vorbereiteter und formvollendeter Vorträge und Statements geraten sollte, so wenig will das vorliegende Buch die Unterschiedlichkeit und Vielstimmigkeit der Gesprächsbeiträge, Erfahrungsberichte, Kommentare und Analysen in dokumentarischer, repräsentativer, einheitlicher Darstellung einebnen. Vielmehr will es den Gesprächscharakter so weit wie möglich beibehalten. Es versteht sich deshalb als Experiment mit einer offenen Form der Berichterstattung. Das schlägt sich in erster Linie in der Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten nieder. Schriftlich fixierte und detailliert ausgearbeitete wissenschaftliche Vorträge stehen neben sogenannten „Selbstporträts" der eingeladenen Künstler und Künstlerinnen, d.h. mündlich vorgetragenen Darstellungen ihrer eigenen Arbeit und ausgewählten Ausschnitten aus den jeweiligen Rundtisch-Gesprächen, die wie die „Selbstporträts" im nachhinein transkribiert und teilweise übersetzt wurden. Die so bearbeiteten Gespräche und Beiträge sind im laufenden Text speziell durch Einrücken gekennzeichnet. Die fünf Kapitel des Buches setzen sich jeweils aus den drei Textsorten zusammen. Bei der Einteilung der Kapitel haben wir als Herausgeber ungeachtet der angestrebten Offenheit des Buches um der Lesbarkeit willen folgende Strukturierung vorgenommen: Die ersten drei Kapitel leisten Zustandsbeschreibungen, indem sie das zentrale Thema des Symposiums, „Theater im Schutt der Systeme", beim Wort nehmen und genauer untersuchen, um welche Systeme es sich eigentlich handelt: ideologische Systeme („Mauerfälle - Utopieverlust?") im ersten Kapitel, ästhetische Systeme („Sprachkrise und Körpertext") im zweiten Kapitel und Geschlechtersysteme („Gibt es ein Theater der Frauen?") im dritten Kapitel. Die beiden letzten Kapitel wenden sich der Geschichte zu. Während im vierten die Erinnerung an diktatorische Systeme und die Möglichkeiten und Aufgaben des Theaters bei der „Erinnerungsarbeit" als „Theater gegen das Vergessen" im Zentrum stehen, konzentriert sich das letzte Kapitel auf „Heiner Müller in Lateinamerika". Der Fall der Mauer im Jahr 1989 erweist sich gewissermaßen als symbolisches Epizentrum des ersten Kapitels. Die vier „Lageberichte" von Thomas Oberender (Deutschland), Francisco Javier und Halima Tahän (Argentinien), Heidrun Adler, Roger Mirza u.a. (Uruguay) und Maria de la Luz Hurtado (Chile) über das Theater der 90er Jahre in den vier vertretenen Ländern greifen dieses Bild jeweils auf, um den ideologischen Einschnitt deutlich zu machen, den dieses Ereignis nicht nur für Deutschland darstellte. Im Selbstporträt erzählt Ramon Griffero vom persönlichen Utopieverlust, den die Wende für ihn und seine Arbeit bedeutete, und formuliert stellvertretend die Frage: „Uns Künstlern, die wir aus dieser Utopie [einer neuen sozialistischen Gesellschaft] heraus geschrieben

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haben, stellt sich heute die große Frage, von welchem Standpunkt aus wir schreiben sollen." Diese Frage wird im letzten Teil des Kapitels von den vier Autorinnen und Autoren Volker Braun, Kerstin Specht, Halima Tahán und Ramón GrifFero unter Leitung von Klaus Völker wieder aufgegriffen, um die gesellschaftliche Funktion des Theaters als „Tribunal" zumindest in der gegenwärtigen Situation zu verabschieden. Welche Sprachen stehen dem Theater (noch) zur Verfugung, um gehört und verstanden zu werden? Über die nationalen Grenzen hinweg gibt es, wie das zweite Kapitel zeigt, zwei klare Lager - die Vertreter des sog. Körper- und Bildertheaters und die Verfechter des Wortes. Daß diese Debatte in Deutschland genauso virulent ist wie in Argentinien, zeigen die beiden gegeneinander polemisierenden Beiträge von Johannes Odenthal und Manfred Beilharz wie auch der Beitrag von Perla Zayas de Lima. Manuel Hermelo, der Regisseur des argentinischen Projekts La línea histórica, gibt in seinem Selbstporträt Auskunft über die innovative und Darstellungskonventionen sprengende Arbeit seiner ehemaligen, 1989 mit ihrer hochakrobatischen und spektakulären Besteigung des Obelisken auf dem zentralen Platz in Buenos Aires (La Tirolesa) bekannt gewordenen Theatergruppe La Organización Negra, um in der anschließenden Diskussion „Bekannte Gesichter - Gemischte Gefühle" mit Manfred Beilharz, Johannes Odenthal, Ramón Griffero, Ricardo Monti, Andrés Pérez und Diana Raznovich auszuführen, warum „die Gegenüberstellung von Bildertheater und Texttheater" für seine Arbeit überhaupt nicht relevant ist. Die Erschütterung des traditionellen binären Geschlechtersystems ist Thema des dritten Kapitels mit der Überschrift „Gibt es ein Theater der Frauen?", in dem kulturelle Differenz (die Rolle der Frau im Theater Argentiniens, Chiles und Deutschlands) und Geschlechterdifferenz (ist heute noch die Auffassung vom weiblichen Schreiben zu vertreten?) in einer interessanten Überkreuzung von den eingeladenen Theatermacherinnen und -wissenschaftlerinnen diskutiert werden. Während María de la Luz Hurtado in einem historischen Abriß die wachsende Bedeutung der Frauen für die chilenische Theaterentwicklung darlegt, fragt Kati Röttger in ihrem Vergleich zwischen dem zeitgenössischen Theater von Frauen in Deutschland und Lateinamerika, inwieweit es überhaupt sinnvoll sei, auf kulturellen und sexuellen Differenzen zu beharren. Als direkte Antwort auf diese Frage könnte man den anschließenden Gesprächsausschnitt „Theaterfrauen am runden Tisch" betrachten. Unter der Gesprächsleitung von Renate Klett und Gladys Ravalle wird aus den Statements so unterschiedlicher Frauen wie den Dramatikerinnen Halima Tahán und Inés Stranger, der Drama-

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turgin Birgid Gysi, der Regisseurin Maria Schüller und der Schauspielerin Valeria Risi deutlich, daß das Thema „Frau im Theater" sowohl für die deutschen Künstlerinnen als auch für die lateinamerikanischen noch lange nicht abgeschlossen ist, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen... Das Thema des vierten Kapitels , „Theater gegen das Vergessen", bezieht sich direkt auf die theatralische Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit, welche die zwei im Rahmen des Symposiums eingeladenen Produktionen Potestad von Eduardo Pavlovsky (Argentinien) und Historia de la sangre vom Teatro La Memoria (Chile) leisten. Alfonso de Toros Beitrag gibt einen Über- und Einblick in die theatrale Gesamtleistung Pavlovskys, der durch das Gespräch von Hedda Kage und Laura Yusem über die Regiearbeit Yusems mit Pavlovsky aus der Perspektive der Theaterpraxis ergänzt wird. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den Werken des argentinischen Dramatikers, Schauspielers und Psychoanalytikers steht die Frage nach der Schuld an den faschistischen Verbrechen, nach dem ambivalenten Verhältnis zwischen Folterern und ihren Opfern und nach den Grenzen und Möglichkeiten von Theatersprache, die Schrecknisse der unmittelbaren geschichtlichen Ereignisse, äußerste Erniedrigung, Grausamkeit und die potentielle Mittäterschaft eines jeden einzelnen am Gewaltsystem darzustellen - eben jene „Geschichte des Blutes", die von der chilenischen Theatergruppe La Memoria ohne Angst vor Tabubrüchen auf die Bühne gebracht wurde. Eine ausführliche Analyse des innovativen Versuchs der Truppe, eine „Schrift des Körpers" für die Bühne zu entwickeln, um das Unsagbare, das Verborgene und Schmerzliche zu sagen, liefert der Beitrag von Kati Röttgen Im anschließenden Gesprächsausschnitt zum Thema „Gedächtnis und Ethik des Körpers" kommentiert Alfredo Castro, der Regisseur vom Teatro La Memoria, mit seinen Ausfuhrungen über „den Körper als Spektakel" nicht nur persönlich seine Arbeit, sondern die weiteren Diskussionsbeiträge von Eduardo Pavlovsky, Laura Yusem und Alexander Stillmark, geleitet von Hedda Kage und dem argentinischen Theaterwissenschaftler und Kritiker Jorge Dubatti fuhren auch wieder vom exemplarischen Fall weg hin zu einer allgemeineren Diskussion der Frage nach dem „Theater als Erinnerungsarbeit". In der Vorbereitung und Durchführung des Projekts wurde auch den Veranstaltern des Symposiums bewußt, was man in Lateinamerika schon etwas länger wußte: daß es dort seit Mitte der 90er Jahre geradezu eine Welle der HeinerMüller-Rezeption gibt. Deshalb tauchte der Name dieses Autors in den Berliner Vorträgen und Diskussionen immer wieder auf, deshalb wurde er zum Gravitationszentrum der Gespräche, und deshalb ist das fünfte Kapitel dieses Buches

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(„Heiner Müller in Lateinamerika") ganz der Auseinandersetzung mit seinen Texten und mit seinem Theater gewidmet. Das hier wiedergegebene Gespräch des Autors und Regisseurs Daniel Veronese mit Dieter Welke und Francisco Javier ist zugleich ein Arbeitsbericht über die Inszenierung der Hamletmaschine in Buenos Aires und macht nachvollziehbar, warum Müller in den letzen Jahren durch die Köpfe einiger exponierter lateinamerikanischer Theatermacher spukt. Dieter Welke als an der Inszenierung beteiligter Dramaturg und Co-Regisseur bringt es anhand der Hamletmaschine exemplarisch auf den Punkt: „Das Stück behandelt den Einbruch der Geschichte ins Theater". Im Sinne der von Veronese beschriebenen „peripheren" Arbeitsweise erlaubt der Text mit seinem Bezug auf eine klassische Vorlage und damit auf beim Publikum vorhandenes Vorwissen, mit den Mitteln eines zeitgenössischen „peripheren Alphabets" des Theaters in einen Dialog mit dem Publikum zu treten, in dem historisch Verdrängtes in die Gegenwart des Theaters hereingeholt wird. Es lag aufgrund des besonderen Interesses an Heiner Müller in Lateinamerika nahe, eine Fortsetzung der Begegnung mit einem Fokus auf den Arbeiten dieses Autors zu planen: Die Gastinszenierung Stillmarks in Santiago de Chile und ein Symposium über die Heiner-Müller-Rezeption in Lateinamerika im dortigen Goethe-Institut waren erste Schritte. Der als germanistisch-theaterwissenschaftliches Kernstück des fünften Kapitels anzusehende Aufsatz von Frank Hörnigk über Müllers Auftrag („Heiner Müller: Seine Liebe heißt Sasportas und sein Schmerz") entstand ursprünglich als Vortrag anläßlich des MüllerSymposiums. Hörnigk entschied sich für die Konzentration auf den Text und zu ihm in Bezug stehende Gedichte, Prosatexte und Interviewäußerungen des Autors und verbot sich dabei in seiner präzisen Interpretation alle Spekulation über mögliche interkulturelle Dimensionen der Arbeiten Müllers etwa im lateinamerikanischen Kontext. Es bleibt der Theaterpraxis vorbehalten, diese Dimension zu erschließen. Aber gerade im Bezug zur Praxis ist Hörnigks Beitrag von essentieller Bedeutung: Er fließt deutlich in die Dramaturgie der La MisiónInszenierung Alexander Stillmarks und antwortet seinerseits auf dessen Arbeit, war Hörnigk doch vom Regisseur eingeladen, die letzte Phase der Inszenierung als dramaturgischer Berater zu betreuen. Heiner Müller sagte, seine Arbeiten seien einsame Texte, die auf Geschichte warteten. Für das chilenisch-deutsche Team der Produktion La Misión scheint der Zeitpunkt der Inszenierung ein solcher historischer Moment gewesen zu sein, in dem sich Geschichte und Text verbinden. Der Inszenierungs- und Auf-

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fiihrungsbericht von Uta Atzpodien und Alexander Stillmark zeichnet die Diskussionen und Erfahrungen im Inszenierungsprozeß nach. Im Zentrum stehen die Fragen nach Erinnerung und Verdrängung, nach Revolution und Verrat, nach dem Spannungsverhältnis zwischen der jüngsten Geschichte Chiles und der Zeit der Pinochet-Diktatur. Der Bericht knüpft damit an eines der Leitthemen des Berliner Symposiums an, eine Tatsache, die es uns gerechtfertigt erscheinen ließ, über den eigentlichen Moment der Begegnung in Berlin hinauszuschauen und Material in dieses Buch einfließen zu lassen, das fast ein Jahr später entstand. Theater im Schutt der Systeme zieht keine Bilanz, es beansprucht nicht, Wege aus dem Schutt zu weisen oder Anleitungen zur geröllsicheren Orientierung im Trümmerhaufen zu geben. Mithin kann es kein Resümee geben. Was bleibt, ist die Hoffnung auf weitere Begegnungen, nicht nur im Gespräch, sondern - wie La Misión bereits wahrgemacht hat - auch in der Theaterarbeit über die nationalen und kulturellen Grenzen hinweg, die ja meistens dann bereits anfangen zu verschwinden, wenn die Mauern in den Köpfen fallen. Zum Abschluß möchten wir als Herausgeber all denjenigen ganz herzlich danken, ohne deren geduldige und unermüdliche Mitarbeit dieses Buch nicht zustande gekommen wäre: Almuth Fricke hat uns durch ihre sorgfaltigen und einfühlsamen Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche, nicht nur der Vortragsmanuskripte, sondern vor allem der besonders schwierig zu übersetzenden transkribierten mündlichen Beiträge die Arbeit ungemein erleichtert. Bettina Sluzalek danken wir für ihre redaktionelle Mitarbeit, die vielen Telefongespräche und Faxe, die sie beantwortet hat und für ihr immer offenes Ohr. Schließlich geht ein letzter Dank an alle, die dazu beigetragen haben, daß wir die zehn Tage in Berlin nicht mehr vergessen werden ... Berlin, im September 1997 Martin Roeder-Zemdt, Kati Röttger

Mauerfalle - Utopieverlust ?

Thomas Oberender Paradies und das Struktursplitter der „Wende" im Theater seit '89

l. „Seid ihr Deutsche?", fragte uns der Staatsbürgerkundelehrer. Über der Tafel das Bild von Erich Honecker. Keine Antwort. Der Lehrer fragte jetzt den Schüler vor ihm: „Bist du Deutscher?" Eine gewisse Hinterlist war bei der Frage zu vermuten, war er doch zugleich der greise Parteisekretär unserer Schule. „DDRBürger", antwortet der Schüler daher zaghaft. „Und du? Bist du Deutscher?" wurde nun mein Nachbar gefragt. Betretenes Schweigen. „Bist du Deutscher?", fragte der Alte noch einmal nachdrücklich, dann beugte er sich zu dem schweigenden Jungen und sagte kopfschüttelnd: „Natürlich bist du Deutscher." 2.

„Sind Sie Deutscher oder aus der DDR?", fragte mich 1986 eine ungarische Händlerin auf dem Markt von Szeged. „Aus der DDR", mußte ich antworten. Erst mit der Währungsunion wurden über Nacht aus 17 Millionen DDRBürgern „Deutsche". Das war das Schlußwort der „Wende": „Kommt die DMark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr." Durch den Bürgerprotest und den zunehmenden Massenexodus implodierte die Kulissengesellschaft DDR, begann ihre Selbstauflösung - nicht administrativ ins Werk gesetzt wie durch Gorbatschow in der Sowjetunion, sondern jäh, als Bergrutsch ihrer Basis. Hatte die Studentenbewegung 1968 die Stabilisierung der Bundesrepublik durch ihre Modernisierung und Öffnung zur Folge, so bewirkte die Öffnung der DDR-Gesellschaft 1989 ihr Verschwinden. Dennoch war dieses Ende nicht von Beginn an absehbar oder gewollt. Ähnlich der Studentenbewegung 1968, die

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ein Minderheiten-Protest der intellektuellen Jugend war, waren auch in Ostdeutschland in der ersten Phase der „Wende", die mit der Leipziger Demonstration vom 2. Oktober eine Massenbewegung wurde, im weitesten Sinne Intellektuelle tonangebend. Sie formulierten die Programmatik der Bürgerbewegung, ihr Nahziel waren zunächst Reformen und die Demokratisierung der Gesellschaft. Daher auch das Wort „Wende" - eine demokratische Wende im System, nicht seine Auflösung war das Ziel. Daß das Wort „Wende" dennoch seine Gültigkeit behielt, liegt am Verlauf der zweiten, nationaldemokratischen Phase dieser „Revolution" und ihrem Auftakt: dem Fall der Mauer. Der West-Schock, den die millionenfache Begegnung mit der Wohlstandsgesellschaft Bundesrepublik hinterließ, führte dazu, daß die bislang schweigende Mehrheit, allen voran die Arbeiter, sich zu Wort meldete. Der Soziologe Hartmut Zwahr beschreibt, daß der Schock, der den Wunschbildwandel - von den anfanglichen Reformforderungen zur Forderung nach dem Ende der DDR - bewirkte, zugleich einen Tabubruch auslöste: den Ruf nach „Deutschland". „Wir sind das Volk" wendete sich zu: „Wir sind ein Volk" und „Deutschland einig Vaterland". Unter den Bedingungen des beschleunigten Selbstzerfalls und der rasanten materiellen und geistigen Entwertung des „Experiments DDR" wurde diese nationale Vision letztlich zum einzigen Programm, das eine Legitimation besaß (daß auch die Ostdeutschen „Deutsche" waren, war unbestreitbar) und einen schnellen Ausweg aus der plötzlichen, eigenen Deklassierung versprach. Die Mehrheit verabschiedete sich daher von den Reformideen angesichts der Realutopie Sozialstaat, der in seiner luxuriösesten Ausformung nun direkt vor der Haustür lag. Die Grenze sollte, nachdem sie gefallen war, auch verschwinden. Nationale Einheit meinte in dieser Situation vor allem die verläßliche Wirtschaftseinheit, war im Kern apolitisch, ein Gründerzeithoffen. Wie Adenauer hat dann auch Helmut Kohl seine Wahl durch das Versprechen: „Keine Experimente" gewonnen. Statt der Experimente geschah die rasante Ersetzung alter DDR-Strukturen durch alte westdeutsche. Vereinigt wurde Deutschland dabei weniger durch den Einheits-Vertrag, als durch die D-Mark als EinheitsWährung. Sie machte aus den DDR-Bürgern jene „Deutschen", die mit dem Ruf „Deutschland einig Vaterland" gemeint waren. 3. Die einzige, wirklich tiefgreifende Rückwirkung dieses Prozesses auf die alte Bundesrepublik blieb im Grunde das Problem der Nation, der intuitive Vereinigungstrick der Ostdeutschen.

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„Nation" - das war für sie kaum mehr als ein Name auf dem Fahrschein ins erhoffte Wirtschaftswunderland. Auf dem Markt von Szeged wäre ich in diesem Sinne schon 1986 lieber „Deutscher" gewesen. Zugleich ergab sich aber bei einem Besuch in Warschau oder Prag mit dem Rückzug auf die Staatsbürgerschaft DDR auch eine bequeme Distanz zum schuldhaften Deutschland. Denn beide Hälften des Landes blieben seit ihrer Trennung vor ihrer eigenen Vorgeschichte wirkungsvoll geschützt durch ihre rudimentäre Form und den Gegensinn ihrer Existenz. Erst durch die Vereinigung entstand „Deutschland" für die Deutschen und das Ausland wieder als ein Land jenseits der Bedeutung der DMark, als Nationalstaat. Seither sucht das provisorische Selbstbewußtsein der ehemaligen Halbstaaten nach einem neuen, bedroht durch ihr gemeinsames altes. Diese Suche hat sich mit der ostdeutschen Wende auf die Straße verlagert. Nach 1989 demonstrierten auch in Westdeutschland Tausende für ein „anderes Deutschland", bildeten Lichterketten gegen Ausländerhaß - die dunklen, chorischen Rufe: „Deutschland! - Deutschland!", mit denen die Demonstranten in Leipzig und Dresden zunächst das D-Mark-Glück herbeisangen, hatten auch in Westdeutschland längst die Fußballstadien verlassen. Es war die Initialwirkung des Essays „Anschwellender Bocksgesang" von Botho Strauß, ein Jugendalter nach 1968, die diesen Prozeß von der Straße in eine intellektuelle Grundsatz-Debatte über das Nach-Wende-Bewußtsein der Bundesrepublik überführte. Das zentrale Thema der Gedanken des Dichters über das, was den furchtbaren Geschehnissen in Deutschland nach 1989 die Dimension des Tragischen gibt, ist die Frage der Schuld: Schuld am Entwicklungsweg, den die „eigenen Kinder" nahmen, und am Geschehen auf den Straßen, als Reaktion auf die „Entsorgung" von Schuld. In einer Gesellschaft, die (anders als bei der Idee des Sozialismus, der die unerfüllte Gegenwart durch Zukunft legitimiert - Heiner Müllers Dramen spiegeln in diesem Sinne Tragödien in der Kluft zwischen heute und morgen) aus ihrer inneren Struktur keine verpflichtenden Bindungen zur Vergangenheit und Zukunft hervorbringt oder zuläßt, sondern ihre Hauptanstrengung darauf verwendet, absolute Gegenwärtigkeit zu erlangen, über Gegenwart tendenziell in Echtzeit zu verfügen, und deren entsprechende Leitbegriffe Funktionalität und Effizienz sind, hat das Tragische keinen Platz. Scheitern bleibt in diesem Zusammenhang Mißgeschick, Unglück oder Pech. „Die westdeutsche Gesellschaft", so der Politikwissenschaftler Michael Weck, „ist bis heute eine Gesellschaft ohne sonderlich entwickelten Sinnhorizont geblieben, deren Identität sich wesentlich aus dem Konsum der produ-

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zierten Güter und einem antiidealistischen Affekt herstellt."1 Das Problem des Sinnhorizonts oder Ethos löst der Kapitalismus vielmehr pragmatisch mittels seiner Verfahrensrationalität, durch die für das Machbare die Grenzen des Erlaubten ermittelt oder ausgehandelt werden. An den Rändern dieser Rationalität ereignet sich aber dennoch im persönlichen wie öffentlichen Leben das Tragische. Die Katastrophen schärfen den Sinn fürs „Verhängnis", der die Jetztzeit und ihre vertraglichen Formen, mit denen sie das Unkontrollierte einhegt, sprengt. Der Sinn fürs „Verhängnis", im plastischen Sinne des Wortes, als Voraussetzung der Tragik, läßt sich nicht im Sinne des bürgerlichen Rechts auflösen. Botho Strauß reagiert auf diese gesellschaftliche Situation nun als Tragiker, mit dem idealistischen Entwurf des „Rechten". Verhängnisvoll ist für diesen das Ignorieren von geschichtlichem Gewordensein, von Transzendenz, Tradition und daraus entstehender Verpflichtung. Auch Alexander Kluge und Heiner Müller bewegte dieses ethische Problem in einem ihrer letzten Gespräche. Heiner Müller erinnert an Hegels Gedanken, daß Ödipus nach bürgerlichen Rechtsbegriffen nicht schuldig ist. „Er wußte nicht, daß es sein Vater ist. Er wußte nicht, daß es seine Mutter ist. Er ist unschuldig nach unseren Rechtsbegriffen. Diese Formulierung ist merkwürdig. Aber der Grieche als plastischer Mensch, also ein Allroundmensch, der nach allen Seiten verantwortlich ist, nimmt die Schuld auf sich." Die Vorstellung, daß ein Anwalt für Ödipus vor Gericht einen Freispruch erlangt hätte, macht für Heiner Müller „das Leben eigentlich uninteressant. Das Leben wird obszön mit diesem Rechtsbegriff."2 Eine der deutschen Vereinigungs-Folgen ist, daß die Kluft zwischen dem Recht der Verfahrensrationalität und der individuellen Erfahrung des Machbaren und Erlaubten sich in einer Weise vertieft hat, die die beiden Halbstaaten zuvor nicht gekannt haben. Die rechtsradikalen Überfalle haben ebenso wie die Prozesse gegen ehemalige DDR-Bürger verdeutlicht, daß die Rechtsprechung mit Formen von Schuld konfrontiert ist, die ihr Maß übersteigt. In diesem Sinne konnte aus dem Rechtsanwalt Dr. Vogel eine tragische Gestalt werden. 4.

Die ostdeutsche Bürger-Bewegung führte von Beginn an in die gleiche Richtung wie die Ausreisewelle: nach Westen. Nur wollte sie den „Westen" zu Hause, und nicht von Beginn an in Gestalt der Bundesrepublik. Die Intellektuellen, die das Profil der Protestbewegung und ihre Reformideen bestimmt hatten, tra1

Weck, Michael: „Der ironische Westen und der tragische Osten." In: Kursbuch, Heft 109 (1992) S. 137.

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Kluge, Alexander; Müller, Heiner: Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche. Hamburg 1995, S. 105.

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ten zum letzten Mal auf der Berliner Demonstration vom 4. November in Erscheinung. Auf die Pfiffe für Heiner Müller folgte wenig später der „versehentliche" Fall der Mauer, das Ende der Reformwilligkeit, die Öffentlichkeit (ge)hörte nun den Terminatoren. Hatten sich die überraschten ostdeutschen Intellektuellen beim Aufstand 1953 erst nach seinem Ende zu Wort gemeldet, so verloren sie jetzt, nach dem Fall der Mauer, ihre Stimme im nachhinein. Doch warum verlief dieser Übergang von der ersten, demokratischen Phase der Revolution zur zweiten, nationaldemokratischen so gleitend und fast widerstandslos? Warum war trotz „runder Tische" und Mahnwachen von der DDR nicht mehr zu vererben als das Stasiarchiv, Ulbrichts Sandmännchen und der grüne Pfeil für Rechtsabbieger? Der Kampf gegen die Macht führte nach 1989 nicht zu einem Kampf um die Macht. Denn die Bürger-Bewegung, die in der ersten Phase der „Revolution" von 1989 um die Einführung der bürgerlichen Rechte von 1789 ins staatssozialistische System kämpfte, hatte im Grunde keine utopischen Reserven, die ihr unmittelbares Feindbild überstiegen, und konnte sich demzufolge recht mühelos in die verwirklichten Formen bürgerlicher Herrschaft, wie sie die zweite Phase der Wende den Ostdeutschen bescherte, einfügen. Es ging um Bürger-Rechte, und die garantierte auch die Leitidee der nationalen Vereinigung, die nun, nach dem Übergang der Programmatik an den Mehrheits-Willen, die ursprünglichen Reformideen der Minderheit ablöste. Das Credo der nationalen Vereinigung war ein Wohlstandsversprechen auf der Basis: „Vierzig Jahre Experimente sind genug." Nach dem Fall der Mauer und der plötzlichen Entwertung der bisherigen Lebenswelt konnten die wachgerufenen Defizitgefühle am schnellsten durch eine schleunige Angleichung an das, was sie hervorgerufen hatte, beseitigt werden. Allenfalls faire Bedingungen für die Synchronisation beider Lebenswelten waren Aufschubgründe. Aber das war schon ein Kampf mit der Macht. Nach dem Vorgeschmack des Begrüßungsgeldes mochten nur noch wenige Entbehrungen beim Begehen eines „Dritten Weges" auf sich nehmen, und so mehrheitsfahig war keine Idee mehr, daß sie diese „Wartezeit" mit Sinn erfüllt hätte - zu wohltuend war es, endlich aus der Sinndeterminierten Welt der DDR in eine der Sinne (im doppelten Wortsinn) zu entkommen. Das utopische Restpotential der Bürgerbewegung, das sich noch aus den Aufbruchshoffnungen der frühen DDR-Opposition nährte und auf Experimente drängte, auf Zeitgewinn und Selbstbestimmung, gerann entweder im Kampf um die Macht in den demokratischen Folgestrukturen der 68er (z.B. das Bündnis von Bündnis 90/Grünen), oder repräsentiert in Ostdeutschland weiterhin, durch

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die Autorität des frühen Mutes, das gleiche schlechte (bzw. gute) Gewissen der Macht, das es vor der Wende war. 5. Vor den 68er-Ereignissen demonstrierte seit Anfang der 60er Jahre eine Autoren-Vorhut im Theater ein neues Bewußtsein. Autoren wie Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt, Martin Walser und Peter Weiss griffen eine sich selbstgefällig abschließende Gesellschaft („Keine Experimente") mit Stücken an, die im Gewand des Dokumentarischen durch die Betrachtung der Verhaltensweisen Einzelner zur indirekten Diskussion über gesellschaftliche Strukturen provozierten und über ihre Verdrängungen und moralischen Probleme aufklären wollten. Nach der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die 1966 ein Machtkartell fast ohne politische Kontrolle bildete, ging diese politische Kraft auf die außerparlamentarische Opposition, die Studentenbewegung über. In ihrem Geleit entstanden das Straßentheater und freie Aktionsgruppen. Performances schufen ein Übergangsfeld zwischen darstellender und bildender Kunst, happenings radikalisierten den experimentellen Teil der Theaterarbeit und befreiten die theatrale „Vorstellung" von der „Auffuhrung". Das machte als Kunstform Mut, Extreme und Unwägbarkeiten zuzulassen, lockerte und zerstörte Verhaltensschranken, zielte auf die Verschmelzung von Machern und Zuschauern und verstand sich als Vorwegnahme künftiger Lebensformen. So entstand, ganz dem Lebensgefiihl entsprechend, ein Generator reiner Gegenwart, der eine gruppendynamische Jetztwelt erzeugte, in der man frech und fröhlich einen permanenten Abschied vom Gestern nahm. Zugleich versuchten die kollektiven Theaterlaboratorien Jerzy Grotowskis und Peter Brooks die Erlebnis-Dimension mit einer Bedeutungsebene zu verbinden, die sich zu einem bewußten, d.h. erprobten „Theater der Erfahrung" verdichten. „Das Theater als gesellschaftliche Einrichtung" erschien Peter Handke damals, angesichts der aktionistischen Nebenformen, „unbrauchbar für eine Änderung gesellschaftlicher Einrichtungen."3 Erst auf die Notstandsgesetze vom Mai 1968, mit denen der Staat dem „Revolution macht Spaß"-Gefiihl eine Grenze setzte, reagierte das „Theater der festen Häuser", indem es vielerorts demonstrativ aufhörte zu spielen, sich als Diskussionsforum zur Verfügung stellte, Vorstellungen abgebrochen und Resolutionen verlesen wurden, die das Publikum zur Diskussion aufforderten. Unter dem politischen Ereignisdruck kam es zugleich zur verstärkten Wahr-

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Handke, Peter: „Brecht, Spiel, Theater, Agitation." In: Theater im Umbruch. München 1970, S. 66.

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nehmung der Differenz zwischen ästhetischen und politischen Wirkungsmöglichkeiten. Den aktionistischen Protestformen, die auf eine Überwindung des bisherigen Staates und Theaters zielten, folgten nun Versuche, sie zu reformieren. Die Reflexion der eigenen Bürgerlichkeit führte auf der institutionellen Ebene des Theaters zur innerbetrieblichen Demokratisierung und Mitbestimmungsversuchen wie dem „Frankfurter Experiment" von 1972 oder der „Schaubühne" und im Hinblick auf die künstlerische Arbeitsweise zum verstärkten Interesse an Bewußtseinsprozessen, d.h. dem Versuch, den Blick des Theaters auf die Gesellschaft für die „revolutionären" und z.T. neuen Wissenschaften zu öffnen. Die Innovationskraft der Studentenbewegung währte dabei ungefähr so lange, wie sie kollektive Bindekräfte, auch in Projekten, die sich längst nicht mehr als politisches Intentions- und Entlarvungstheater verstanden, hervorbrachte. Zuletzt wirkten sie an der „Schaubühne". Deren Rückzug auf die Attraktionskraft der Solisten und Beschränkung aufs hohe Handwerks-Ethos markiert dieses Ende vielleicht am deutlichsten. 6.

In gewisser Hinsicht läßt sich die ostdeutsche Wende 1989 als komprimierte Parallelerfahrung der 68er-Bewegung beschreiben. Für das Theater bedeutet das, daß sie ähnlich begann und in die inzwischen nivellierten Erfahrungsstrukturen der 68er mündete. Auch im DDR-Theater hatten vor dem öffentlichen Beginn des Bürger-Protests die Stücke von Volker Braun, Christoph Hein, Ulrich Plenzdorf und Heiner Müller das politische Krisenbewußtsein geschärft und die gerontologische Selbstgefälligkeit des Machtkartells mit Erneuerungshoffnungen konfrontiert. Wußten bis zum Oktober '89 Frank Castorf oder Heiner Müller in der Als-obWelt der Bühne Spannenderes zum Hier und Jetzt zu zeigen, als sich draußen, vor der Theaterkasse, entdecken ließ, so kehrte sich diese Relation mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig um. Nach der langen Zeit des Kalten Krieges gab es im Herbst 1989 einen kurzen, heißen Frieden. Die historische Stunde Null, mit ihren anarchischen Freiräumen und abenteuerlichen Möglichkeiten, machte nun das alltägliche Leben sensationell und bewußtseinserweiternd. Bald gab es Performances in jedem Demonstrationszug und konkrete Poesie auf Plakaten. Das Staatstheater reagierte auf seine plötzliche Schattenlage erst, als sich die Konfrontation zwischen Bürgerbewegung und Staat zuspitzte. Die Schauspieler suchten unter dem Ereignisdruck der gesellschaftlichen Veränderungen jetzt direktere Formen des politischen Engagements, öffneten das Theater für den Disput mit Funktionären, organisierten Demonstrationen und verwandelten

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die Häuser in Foren öffentlicher Diskussion. Walter Janka gab Matineen in Leipzig und Wolfgang Harich in Berlin. Ähnlich wie 1968 setzte sich das Theater (der festen Häuser) nicht mit ästhetischen Mitteln ins Verhältnis zur Situation, sondern reagierte mit politischen Mitteln situativ auf die sich schnell wandelnden Verhältnisse. Dieses Unvermögen des Theaters, in der schnell vergehenden Zeit mit künstlerischen Mitteln auf die Höhe der eigenen Aktualität zu gelangen, verdeutlichte 1968 wie 1989 ein Paradox in der Arbeitsstruktur des aufklärerischen Theaters. Sein konstitutives Moment ist die Probe. Auf der Probe entsteht jene Gedächtnisstruktur, die das Geschehen einer Vorstellung allabendlich wiederholbar macht. Was sich auf den Proben im Zusammentreffen des Textes mit den Künstlern und der Technik an Einfallen, Zufallen und Varianten ergibt, sind spontane Ereignisse, die reflektiert, ausgewählt und zu Informationen verwandelt werden - zu einer erinnerbaren Struktur. Mit der Probe hat das Theater die einmalige Chance, Geschehnisse zwischen Menschen und in ihnen dem Fluß der Zeit zu entreißen, sie in ihrer Wiederholung auf einen verborgenen Sinn zu prüfen und ihr vertieftes Empfinden zu ermöglichen. Für diesen ästhetisch erworbenen und vermittelten Vorsprung an Lebensklugheit und Geformtheit belohnt es der Zuschauer mit Aufmerksamkeit. Dieser „Vorsprung" basiert zugleich auf der genuinen Gedächtnisstruktur des Theaters, seinem Vermögen, die Ereignisse des Probenprozesses durch ein Konzept als Wissen zu erinnern, das in die sinnlichen Erscheinungen, Bewegungen und Konstellationen der theatralen „Vorstellung" übersetzt ist. Je komplexer dieses Konzept ist, desto reicher werden diese „Vorstellungen". Die Bedeutungen, die den Ereignissen der Proben zugemessen werden, und die die Ereignisse in erinnerbare Form bringen, sind aber in der Regel keine, die das Theater aus sich selbst hervorbringt. Das Theater reflektiert die Probenereignisse durch Anleihen bei Konzepten anderer Gedächtnisstrukturen: der Psychoanalyse, politischen Ideologien, der Soziologie, Religion oder dem flüchtigen Meinungskonsens der Medien. Sie strukturieren den Blick auf die Ereignisse und strukturieren somit ihre geronnene Form, die „Vorstellung" - in ihr ist ein Wissen geronnen, das aufklärerisch wirken kann, d.h. es ermöglicht präventives Handeln. Das Theater „funktioniert" daher einerseits als Ereignisvernichtungsmaschine, andererseits aber steht es vor der Herausforderung, daß die Erklärungsmuster, mit denen sich die Akteure auf der Probe das Geschehen verständlich machen und als „erinnerungswert" beurteilen, so komplex wie möglich sind, d.h. im Ergebnis ein an vielschichtigem Sinn und sinnlich vermitteltem Weltverständnis möglichst „reiches" Bild entwerfen,

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in dem das, was abends auf der Bühne geschieht, nicht banal agitatorisch und vorhersehbar passiert, sondern wiederum als „Ereignis". Was sich in einer Situation wie dem Herbst 1989 ereignet, ist zweierlei: Angesichts der Plötzlichkeit und erwartungslosen Ankunft des Neuen verliert der Kontext der Texte seine gewohnten Deutungsmuster - sie taugen nicht, die Ereignisse auf den Proben zu bannen, denn sie stehen durch den ungeheuren Ereignisdruck „draußen" z.T. selbst in Auflösung. Das Publikum spürte, daß die Ereignisse vor dem Theater (spätestens mit dem Fall der Mauer) bewegender waren und mehr an Lust und Aufschlüssen bewirkten, als es im Theater zu erwarten war. Dessen „Vorstellungen" der Wirklichkeit blieben hinter der bewegten Realität zurück, bzw. - wer wollte sie sehen? Für eine kurze Zeit ging es dem Theater fast so elend wie dem Kabarett, denn es hatte neben seinem Vorsprung an unterhaltsamer Einsicht auch seinen Feind verloren. Und damit seine Freunde. 7. Die Konfrontation mit der eingeschränkten Wirkungsmacht der eigenen Arbeitsweise und dem Zuschauerschwund führte nach 1989 an den ostdeutschen Theatern nicht zu den Ergebnissen, die dieser Situation 1968 im Westen folgten. Die Experimente des anarchischen Aufbruchs, das unsichtbare und Dokumentar-Theater der Studenten im BAT, die Inszenierungen freier Gruppen und der Umbau der „festen Häuser" zur Arena politischer Diskussion blieben Episode, allenfalls die Satyrspiele an Frank Castorfs Volks-Bühne geben noch einen Nachgeschmack. Wie im Gesellschaftsganzen ging es nach dem Fall der Mauer auch im Theater nicht um wesentlich mehr, als durch die Vollendung der Bürger-Bewegung mit der Ankunft im Westen bereits erreicht war. „Bürgerlichkeit" war in diesem Zusammenhang keine Krisenerfahrung. Hierin liegt der Unterschied zu den Veränderungen, die im Kontext der idealistisch vitaleren, da in ihren Ursprungsmomenten auch antikapitalistischen Studentenbewegung in der alten Bundesrepublik einst entstanden: konkrete Reformen der Theaterstruktur, Mitbestimmungsversuche und eine „Dramaturgische Wissenschaft", die die wissenschaftlichen Konzepte der intellektuellen Jugend auf den Text- und Methodenbestand des alten Theaters projizierte. Das Erlöschen der Innovationskraft dieses Ursprungsmoments und der kollektiven Identität, die es zeugte, in den Folgejahren der Studentenbewegung, vollzog sich in der NochDDR im Zeitraffertempo. Wollte man am Anfang des Bürgerprotests noch kollektiv gut sein, so markiert sein Ende, daß man nun individuell besser sein wollte. Der Demonstrationsslo-

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gan „Wir sind das Volk. Ich bin Volker" antizipierte diese Entwicklung schon im Sinne einer „westlichen" Grundhaltung, die auf ironische Distanz zum idealistischen Entwurf geht. Die mentalen Bindekräfte, die Kollektive zeugen, waren nun pragmatischer Natur. „Wir vom Theater...", diese Phrase bekam den selbstmitleidigen Touch des Kollektivs der Subventionsverlierer. Energien konzentrierten sich fortan auf das individuelle „Überleben" als Intendant, Schauspieler oder Regisseur in den administrativ neu verwalteten Strukturen. Die „Wende" war am Theater, wie im Ganzen auch, vor allem eine betriebstechnische Umstellung und haushaltsorientierte Spielplananpassung. Das ist auch der Hintergrund der dezenten Enttäuschung bei Freunden und Bekannten aus England, die den Fall der Mauer als revolutionäre Selbstbefreiung begriffen, als „change" im Sinne eines radikalen Wandels, wo die Deutschen doch eher dem Wortsinn von „turn" zuneigen. Unter dem Eindruck der späten Margaret-Thatcher-Ära nahm man in England großen Anteil an den Ereignissen des Jahres 1989 und war/ist verwundert, daß nach der „Befreiung Ostdeutschlands vom kommunistischen System" so wenig Befreites ans Licht kommt. Wo bleiben die in Schubladen versteckten Manuskripte, wo sind die jungen Regisseure, die nun die Theater erobern, endlich meinungsfrei und unbehindert? Ketzerisch ließe sich antworten: Alles ist gesagt. Wenn es in diesem Land nicht mehr ging, dann im anderen. Vielen Werken blieb dabei ihr Weg zum Publikum verengt; sie wurden ihrer Zeit beraubt. Die Schubladen aber geben heute nichts mehr her. Das Leben der Gegenwart ist in Ostdeutschland inzwischen westdeutsch. Dennoch wird - mindestens für die Dauer einer Generation - die Schwerkraft einer anderen Sozialisation dafür sorgen, daß die fünf hinzugekommenen Bundesländer die „neuen" bleiben. Nach dem Fall der Mauer sind die Deutschen heute so getrennt, wie sie es seit dem Bau der Mauer wirklich waren. Was sie verbunden hat, war die Trennung. Leistete die Mauer noch einer gegenseitigen Sympathie Vorschub, die auf Distanz, interessanter Fremdheit und Verklärung beruhte, so werden die Beziehungen nun zunehmend wirklicher. Die unsentimentale Verwirklichung von Bekanntschaften und Familienbeziehungen ist ein positiver Effekt der plötzlichen Angleichung der Lebenssituation. 8.

Die ostdeutsche Wende war ein Aufbruch aus der Enge des staatssozialistischen Dogmas und seiner kleinbürgerlichen Wirklichkeit. Die Ankunft in der Bürgerlichkeit steht Ostdeutschland (auch als Krisenerfahrung) noch bevor. Die Stücke von Botho Strauß oder Rainer Werner Fassbinder waren für mich nach 1989 in

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dieser Hinsicht eine einfuhrende Mentalitätskunde ins Kommende, wirklich begreifbar erst, als es im Grunde schon da war. Den utopischen Ruf „Paradise now" der 68er verstand ich dann durch den Werbeslogan für Suzuki-Motorräder 1991: „Don't dream. Buy it!" Die Richtung dieses Kulturtransfers (Filme, Bücher, Themen der Leitartikel) wird vorerst eine Einbahnstraße bleiben. Dem „Paradise now" folgte nach 1968 auf den westdeutschen Theatern das kritische Gewahrwerden der eigenen Bürgerlichkeit, der brüchigen Konstitution des bürgerlichen Subjekts, seiner Sehnsüchte und Abgründe, die aus Stücken von Labiche bis Tschechow sorgfaltig und mit einem gewissen Selbstbefremden herauspräpariert wurden. Den Gegenmodellen folgten damals die Selbstversuche. Ostdeutschland wird nun vielleicht denselben Weg gehen. Zum Provinzporträt der „kleinen Leute" und der Traditionslinie von Fleißer und Horvath, die auch in Ostdeutschland ihre Erben hat, werden sich Stücke gesellen, die die gebrochene Bürgerlichkeit jener Schicht reflektieren, die unter den Vorzeichen neuen Wohlstands und neuer Freizügigkeit wieder Anschluß an die Kontinuität bürgerlicher Tradition und ihrer kulturellen Hegemonie sucht, einer Hegemonie, die der Sozialismus kurzfristig kappen konnte. Die materielle Basis der „neuen" Bürgerlichkeit akkumuliert sich dabei bislang schneller als ihre intellektuelle, die noch vom Abwehraffekt gegen das Kleinbürgerliche oder von Antibürgerlichkeit geprägt ist. Für Stücke, die heute in Ostdeutschland spielen und geschrieben werden, gilt nun als Prüfstein, daß sie schon jetzt ein Teil auch der westdeutschen Erfahrungswelt sind, denn auch das Publikum im Osten ist heute „westlich". Der „Osten" interessiert trotz aller Beteuerungen niemanden - „Osten" wurde zum Synonym für „ein Land vor unserer Zeit". Im übrigen erscheint er eher als erweitertes Feld der eigenen Un- oder Antibürgerlichkeit - „westlich" vor allem in diesem Sinne. Das Verständniskürzel von „hier" und „drüben", das seit dem Bau der Mauer ganz selbstverständlich die andere „Hälfte" Deutschlands meinte, ist inzwischen aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Wer heute von Leipzig nach Bochum reist, und umgekehrt, fahrt nicht mehr „rüber". In diesem Sinne sind wir eins geworden: als Grauzone Neuland. 9. Das nationale Neuland, dem die Verständniskürzel des alten Selbstbewußtseins zunehmend abhanden kommen, (das „hier" und „drüben", die BegriffsSicherheit von „rechts" und „links", deren moralische Kontur), und in dem dennoch die alten Prägungen als Phantom in den Köpfen auf der Suche nach der entschwundenen Wirklichkeit weiterspuken, dieses schwer zu fassende Neuland

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bescherte der Reportage- und Porträtkunst von Autoren wie Alexander Osang oder Christoph Dieckmann ihre große Stunde. Noch vor den literarischen Großformen trainierten sie in ihren Expeditionen zu Zeitzeugen und Prominenz den ideologiefreien Blick aufs Biographische. Durch die Aufmerksamkeit für das Eigenwillige der Lebensgeschichten entstand ein Mosaik der Zeitgeschichte auf dem Erfahrungsgrund ihrer „Helden". Diese Autoren vermitteln Nachrichten aus der Wirklichkeit ohne Botschaften - außer vielleicht, daß diese duldsame Aufmerksamkeit eine Art praktizierter Nächstenliebe ist, Wirklichkeitsaufschluß, eine Konfrontation mit der Komplexität von Gründen und Hintergründen in der Bilanz eines Lebens, die das allgemein Menschliche im menschlich Einmaligen zeigt. Eine ähnliche Sozialanamnese geschieht nun auf dem Theater. Franz Xaver Kroetz leistet sie mit seinem Stück Ich bin das Volk. Nicht: „Wir sind das Volk" - vom Kollektiv ist (wie im westlichen Osten) nicht mehr die Rede, sondern vom „Ich" und persönlichen Gedanken, die sich ungewollt zum Kollektivgeist aufaddieren. Der politische Impuls, zum Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland Stellung zu beziehen und die stumme Nazischaft im „gesunden Menschenverstand" herauszupräparieren, äußert sich in einem Panorama rechtsextremer Gesinnungsformen, das seine Provokation gerade dadurch entfaltet, daß Unbesprochenes zur Rede kommt, die Phänomene - von ihrer Latenz befreit - nun „wirklich" werden, und daß die porträtierten Glatzköpfe, Reporter, Volksvertreter und Richter durch das Kenntlichmachen nicht denunziert sind, sondern Unbehagen einsetzt angesichts der Erscheinung des Mitmenschen Nazi, der „netten Scheißer." Die politische Dimension des Stükkes liegt darin, daß es jene, die sich ins Abseits zur Gesellschaft stellen und gestellt werden, zurückholt in die Gemeinschaft. Eine andere Reise in „das", was nun dazugehört, unternahm Klaus Pohl mit Wartesaal Deutschland Stimmen Reich. Sein Stück ist ebenfalls ein Expeditionsprotokoll, ein bunter Reigen von Übergangsbiographien - Einzelschicksale in Großaufnahme. Es mobilisiert Neugier und versammelt den O-Ton eines SPIEGELbilds ostdeutscher Provinz, als begegne der Autor jetzt erst dem Land, in das sein Karate Billi ein paar Jahre zuvor zurückgekehrt ist. Wieder dominiert die Bestandsaufnahme von Innenwelten, Komplexität entsteht - nach dem Verlust der Klischees - durch den Facettenreichtum in der Revue des Einmaligen, nicht durch die Übersetzung in eine komplexe Handlung. Statt Handlung gibt es statische Episoden individueller Offenbarung, die der biographische Widerschein historischen Geschehens sind. Es ist, als gäbe es nach dem Bankrott des politisch Glaubbaren angesichts der plötzlichen Geschehnisse keine andere

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Wahl, als über Politik aus der Perspektive des Allzumenschlichen zu sprechen. So gibt auch der jugendliche Neonazi in Tankred Dorsts Stück Schattenlinie keineswegs politische statements von sich, der Autor zeigt den Bürgersohn nicht als Nazi infolge von Gesinnung, sondern eher infolge eines „energetischen" Instinkts. Dem Jungen „ist egal", ob der Schwarze, den er töten wird, die Schattenlinie „rechts oder links" überschreitet. Seine Aggressionen erscheinen, so paradox es klingt, politisch unspezifisch: Ich sage Ihnen, der Mensch ist 'ne Fehlentwicklung! Der muß wieder aus dem Programm! Du auch, du Arsch! (...) Ich habe Wut auf alles. Weg mit dem Abschaum! Wegputzen! Dazu braucht man andere Geräte, Herr Direktor, damit diese Mißgestalten verschwinden, nicht bloß eine Schippe und eine Kalaschnikow. Die H-Bombe, hab ich gehört, die soll das Beste sein, löst den Menschen in Schleim auf, und so tropft er in den Gully. Ende! Das apokalyptische Verlangen bleibt diffuse Reaktion auf die Unbehaustheit der Gefühle, ihre Verdünnung durch die Sublimierungsstrategien der Wohlstandsgesellschaft. Und den, der aus ihnen herausfallt, überkommt (wie den Taxi Driver Scorseses, an den der Monolog des Jungen erinnert) mit der Einsamkeit der Haß auf Sinnentzug und die praktische Welt der falschen Versprechen, die ihn nicht braucht. Erziehungsversagen - das ist nicht das Thema des Stükkes, sondern die Ankunft neuer Realitäten, das Scheitern des Vaters an der eigenen Idealismus-Ernüchterung, dem Weglaufen der Frauen und Zug ins Asoziale. Auch in Christoph Heins Stück Randow kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den Generationen - der merkwürdigen Dialektik folgend, daß 1968 und '89 Revolten gegen den Herrschaftsgeist der Großväter waren und zur Gewissensprüfung und modernisierten Herrschaftsform der Väter führten.4 So ist, gut zwanzig Jahre nach '68, die wohl spannendste Stelle in Randow jene, in der die Kritik der nächstjüngeren Generation an den 68em wiederkehrt als der Blick einer jüngeren ostdeutschen auf die Aktivisten der DDR-Opposition. Als die Mutter auf die Frage ihrer Tochter, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen habe, konsterniert nach Luft schnappt und sich dergleichen verbietet, resümiert das Mädchen:

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1968 waren die Großväter Adenauer - Jahrgang 1876; Erhard 1897; Eisenhower 1890; Chruschtschow 1894; Macmillan 1894; Charles de Gaulle 1890; fUr die Wende 1989: Honnecker - Jahrgang 1912; Sindemiann 1915; Stoph 1914.

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Du bist verklemmt, du bist rettungslos verklemmt. Deine ganze Generation ist so. Ihr habt euch alle für irgendeinen Scheiß interessiert. Ihr habt euch für irgendwelche heroischen Ziele eingesetzt, Widerstand und diesen ganzen politischen Quatsch, den in Wahrheit keiner braucht. Ihr habt in den Kirchen gesessen und diskutiert, Mahnwachen abgehalten mit Kerzen, habt Manifeste fabriziert, selbstgedruckte Blätter, die kaum zu lesen waren. Ihr wart politisch bewußte Leute, ich weiß, aber dabei habt ihr euch irgendwie verstümmelt. Eine degenerierte Generation, kann es sein, daß es so etwas gibt? Es ist die Abrechnung mit dem rebellischen Geist eines unfrohen Lebens, auf den Rolf Hochhuth in seinen Szenen aus einem besetzten Land gesetzt hat. Als er seine Wessis in Weimar schrieb, hat er sicher nicht geahnt, daß die ExBürgerrechtlerin aus Randow eigentlich mit ihrem kleinen Glück im Landhaus inmitten des Naturparks voll und ganz zum Aufbruchs-Ziel gelangt ist - selbst die Intrigen der Beamten und Makler können am Ende, wenn die nun „freie" Künstlerin ihr Rückzugsidyll aufgibt, nicht dazu führen, daß sie - mit Ernst Jünger gerüstet - den Kampf erneut beginnt. Auch Rolf Hochhuth hat für seinen Aufruf zur Revolte die Faktenmacht des „Authentischen" in einer Szenenfolge komprimiert - allerdings mit klarer Botschaft. Selbst drei Jahre nach dem Erscheinen des Stückes entsteht angesichts seiner korrekten Unrechtsbilanz die Frage: Warum rührt das keinen? Etwa deshalb, weil das Gros der Zuschauer eben keine Wende-Verlierer sind? Wirkt deshalb das Unrechtsgrollen so hypothetisch? Weil die Tendenz des Stückes aus der Mobilisierung des Marginalen entsteht, weil sie am zufriedenen Einsinken ins Westliche und am Spagat der Gefühle, den das Hirn nicht ganz bewältigt, vorbeizielt? Es ist in gewissem Sinne eine Ironie des Schicksals, daß Rolf Hochhuth, der sich mit diesem Stück zum Anwalt des enteigneten Ostens machte und zum großen „Experiment" aufrief, nachdem es schon in die Systemstabilität des Westens gemündet war, und der sich im besten Einvernehmen mit Heiner Müller wußte, zu dessen Beerdigung vom Grab ferngehalten werden sollte, da er nun selbst als Enteigner eines der letzten Identitätssymbole des Ostens erschien. Der Einspruch gegen Unrecht im bürgerlichen Rechtsstaat legitimiert sich bei Rolf Hochhuth nicht zuletzt durch konservative Werte, die auf Vorstellungen von Recht und Pflichten jenseits der Definitionen des Grundgesetzes basieren. Damit kommt er den Gedankengängen von Botho Strauß sehr nahe, allerdings verbindet dieser die Rekonstruktion konservativen Denkens mit dem Versuch, dieses Denken und modernste Wissenschaftstheorien in ein avanciertes Kunstkonzept zu überführen. Den „Versuch, politische und ästhetische Ereignisse zu-

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sammenzudenken", setzt Botho Strauß in einem Essay wie „Aufstand gegen die sekundäre Welt" oder seinem Buch Beginnlosigkeit unter neuen Prämissen fort. Den politischen Zusammenbruch des Ostblocks, die versehentliche Öffnung der Mauer und den abrupten Erscheinungswandel aller Verhältnisse in deren Folge reflektiert Botho Strauß aus der Perspektive von Chaosforschung und moderner Biologie: Obgleich in diesem Zusammenhang kein Partikel häufiger verwendet wurde als die Vorsilbe 'wieder', ging es doch am allerwenigsten um die Wiederherstellung oder Wiederkehr. Was geschah, besaß vielmehr etwas von jener Ereigniskraft, die man in den biologischen Wissenschaften mit dem Ausdruck 'Emergenz' bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das 'Systemganze', in diesem Fall die Welt.5 In seinen Stücken Schlußchor und Gleichgewicht hat Botho Strauß sein KunstKonzept in komplexe, von Bernhard Greiner hervorragend beschriebene Dramaturgien übersetzt, die die Ereigniskraft des Plötzlichen zum Bühnen-Ereignis wandeln. Teil dieser beginnlosen Welt, in der es jäh „Deutschland" brüllt, der Welt des Versehens, des Ringens um ein Gleichgewicht ist auch die Anwesenheit mythischer Konstellationen und der Schuld nach ihrem Maßstab. Aber es scheint, daß das Theater diese Stücke, die zugleich die Grundsätze seiner eigenen Gedächtnisarbeit modernisieren, jenseits des aktuellen historischen Anlasses kaum als Herausforderung annimmt. 10.

Die DDR ist verendet. Das läßt sie nach ihrem Untergang ungleich harmloser erscheinen als den Faschismus, der besiegt werden mußte. Ihre Ruinen zeugen davon, daß die DDR mit der Aufzehrung der ihr gegebenen ökonomischen, ideellen und ökologischen Substanz endete. Ostdeutschland besitzt keinen Zeitspeicher, keine Substanz aus den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren, die in Form einer sanierten Infrastruktur das Leben noch jetzt komfortabel und flüssig machen, keine Kontinuität der Institutionen, kaum Bindungen an etwas als dauerhaft Empfundenes. Das beinahe freundliche Ende der DDR befördert zwar nicht die Erinnerung an ihr utopisches Projekt, aber an ihre strukturelle „Gemütlichkeit". Im Kontrast zu ihr stehen die nun verstärkten Unverbindlich5

Strauß, Botho: „Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkung zu einer Ästhetik der Anwesenheit." (Nachwort.) In: Georg Steiner (Hrsg.): Von realer Gegenwart. München 1990, S. 305.

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keitsgefuhle gegenüber Institutionen, Ideen, Nachbarn, die Entwertung von Dauer und Alter. Im Theater besteht für ein Gegenwartsstück daher die Gefahr, daß es von sentimentalem Verlangen geplündert wird oder einer neuen Gemütlichkeit zum Opfer fallt, die sich im angeblich Wichtigen und Gefalligen erschöpft. Das humane Interesse am Einzelnen wirkt angesichts der vorherrschenden Interessenlage des Theaters anachronistisch - es sucht mehrheitlich nach Anschluß an die Betroffenheitsthemen der Nachrichten, will dazu „Beiträge" leisten, als vermittle sich dieser durch Thema und Trend. Zeitgenössisch - das Wort bekommt vor diesem Hintergrund den Beigeschmack schlechter Komplizenschaft. Der Import von Oberfläche soll dem Theater die Jugend von Pulp Fiction verleihen, auf die vermißte Tiefe antwortet ein Hoffen auf Zeitgeist. „Jugend" wird dabei zum Zauberwort - ein Erfolg im Zeichen der Jugendlichkeit reicht zur Inthronisierung, und die an Erfahrungsvorsprung plötzlich verarmten „Alten" hoffen, im Vorvertrauen auf das Unbewußte des In-derZeit-Seins der Jugend, das Haus wird voll. Es bleibt die Frage, inwieweit sich das mit der inneren Funktionsstruktur des Theaters vereinbart, die doch vom Bewußtseins-Aufschluß des Geprobten lebt und an ihm gemessen wird. Siehe Katarakt von Rainald Goetz, ein Chandos-Brief am Ende des Jahrhunderts, ein Stück, das das In-der-Zeit-Sein ins Bewußtsein bringt, aber: nichts zu AIDS, zu Bosnien, Kindesmißbrauch, Frauenmördern oder „Deutschland", keine Bukolik für den Ensembleglanz - zwei Auffuhrungen und: tot. Es könnte eine schöne Zeit sein fürs Theater. Im Übergangsfeld zwischen Ost und West, entschlackt von menschenbezwingenden Großentwürfen, könnte der Mensch (und sein Verhältnis zu Abschied und Ankunft, zu „Schuld", der Tiefenwirkung gesellschaftlicher Bewegungen) deutlicher werden, könnte anthropologische Neugier herrschen. Gesucht wird dort von den Verkaufsstrategen der Theater und Verlage aber allzuoft nur nach „Ost" und „West", als seien dies Markenzeichen mit Verkaufsgarantie. Die tendenziell wertungsfreie Sozialanamnese in einigen neueren deutschen Dramen, deren Versuch einer Existenzerhellung auf dem Erfahrungsgrund des Einzelnen, signalisiert einen Perspektivenwandel. Er reagiert auf Motive und Entscheidungsgründe, die sich privater sanktionieren, sich tiefer in den Verantwortungsbereich der Innenwelt senken, und obgleich die Entscheidungen und Haltungen des Einzelnen gesellschaftlich unverbürgter sind, muß der Einzelne Bürgschaft übernehmen. Daher die „neue" Aufgeschlossenheit für die Komplexität des „Innen", in der sich die Offenheit des „Außen" spiegelt und zugleich die (auch für den „neuen deutschen Film") symptomatische Sehnsucht nach dem „Authentischen", „Echten", dem Verbürgten - wodurch?

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Vielleicht ist es die Suche nach einer „ungesetzlichen Notwendigkeit", die im Spiel des Zufalls als kollektive Erfahrung aufscheint. Ein Roman wie Der Vorleser von Bernhard Schlink zeigt diesen neuen Mut zum unrepräsentativ Allgemeingültigen. Seine Helden sind keine repräsentativen Charaktere, nicht „typisch" in ihrer Rolle als Frau, Mann, Anwalt - was auch immer. Es ist eine Liebesgeschichte der unwahrscheinlichsten Konstellationen. Doch nichts ist wahrscheinlicher als jenes Echo der Empfindungen und Verhaltensweisen, das sie hervorrufen. Lakonisch summiert Bernhard Schlink in diesem Roman Erinnerungen, Details und Gedanken, die das Ineinandergreifen zweier Lebensläufe nachzeichnen. Das Fühlbare jeder ihrer irritierenden Stationen verdichtet sich am Ende zu einer Empfindung der Zwangsläufigkeit ihres Weges. Und plötzlich offenbaren sich im Schicksal dieses Liebeslaufs die zeitgeschichtlichen Tätowierungen der Helden, die Prägungen der Umstände wie mit Nadeln tief unter die Haut gestochen, die Nazi-Zeit und '68, die „Wir-Form" des Ich. Vielleicht ist die Perspektive der anthropologischen Neugier ein Luxusphänomen, das Erbe vergleichsweise zwangloser Umstände, ihrer vagabundierenden Ideen und Muße zur Innenschau, die auf der Unbetroffenheit von zwingenderen Umständen - Wirtschaftskrise, Staatsaffären, Bürgerkrieg - beruht. Aber in dieser Erbfolge ist sie auch gekennzeichnet vom Verlust dieser relativen Ungezwungenheit. Der Blick auf den Einzelnen erinnert wieder an Jean Renoir und Roberto Rossellini, an deren Gespür für „ein individuelles Drama, das dem kollektiven entspricht und in ihm seine fühlbare Erklärung findet" (Pierre Marcabru). Luxuriös erscheint die Verlangsamung, die Vertiefung des Einzelfalls, die eine konsensgesicherte Auffassung vom „Menschen" und der „Geschichte" vermeidet und statt dessen emotionale Zwangslagen schildert, in denen er sich zwar als Kind seiner Zeit verhält und kenntlich wird, zugleich aber erwachsen genug ist für die mögliche Anwesenheit eines spontanen Humanismus.

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Literatur Handke, Peter: „Brecht, Spiel, Theater, Agitation." In: Theater im Umbruch. München 1970. Kluge, Alexander; Müller, Heiner: Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche. Hamburg 1995. Strauß, Botho: ,Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit." (Nachwort.) In: Georg Steiner: Von realer Gegenwart. München 1990. Weck, Michael: „Der ironische Westen und der tragische Osten." In: Kursbuch, Heft 109 (1992).

María de la Luz Hurtado Das chilenische Theater der 90er Jahre: Von den Utopien zur Selbstreflexion

Das chilenische und das deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts und die Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika haben uns zu einem Dialog über „Das Theater im Schutt der Systeme" eingeladen. Den Anstoß zu diesem Thema gab die Welle von Erschütterungen gesellschaftspolitischer Systeme, die zu Beginn der 90er Jahre gleichzeitig Deutschland, Osteuropa und einige lateinamerikanische Länder besonders im Cono Sur, dem südlichen Zipfel Lateinamerikas, erfaßt hat. Das symbolische Epizentrum ist Berlin, denn der Fall der Mauer versinnbildlicht den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, die denn Ostblock angehörten. Parallel dazu symbolisiert Chile in den 90er Jahren das Ende (oder zumindest den demokratischen Übergang) der Militärdiktaturen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Natürlich sind diese Umbrüche nur der Höhepunkt eines langen Prozesses der Veränderung von Werten, Idealen, Lebenssystemen, Organisationsformen und gesellschaftlichen Praktiken, die von der Alltagswelt und der bürgerlichen Gesellschaft als Entwurf an den sich neu bildenden Staat herangetragen werden. Das chilenische Theater hat sich sehr eingehend mit seinem Umfeld auseinandergesetzt umd entsprechend die theatralischen Ausdrucksformen wie auch die Reflexion der sich verändernden Sozialgeschichte und ihrer Subjekte neu formuliert.

Die Spann ung zwischen Dramatik und Inszenierung Die Veränderungen der 90er Jahre in Chile lösten zunächst Ausgelassenheit und Vertrauen in die wirtschaftliche und politische Zukunft aus. La alegría ya viene, , jetzt kommt Freude a u f , lautete der Slogan, mit dem Schauspieler und Schauspielerinnen im Fernsehen für die neue Regierung warben. Durch die zunehmende Neuorganisation von Politik und freier Presse war das Theater nicht mehr gezwungen, diese gesellschaftlichen Funktionen zu übernehmen, und gewann die Autonomie zurück, die es bislang hinter das teatro de urgencia, das

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unmittelbar auf die politische Situation reagierende Theater, zurückgestellt hatte. Die wenigen Stücke, die sich in einer realistisch-dokumentarischen Sprache mit der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzten - sei es als Anklage oder als Erinnerung -, wurden jedoch ein künstlerischer und kommerzieller Mißerfolg (einschließlich des international so erfolgreichen Stückes Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfmann, das 1991 in Santiago de Chile erstaufgeführt wurde). Manche Kritiker erklären dieses Phänomen mit der Unfähigkeit, die schmerzliche Erinnerung an die Diktatur zuzulassen und zu ertragen, bzw. mit dem Desinteresse, die konfliktreichen Themen der jüngsten Vergangenheit wieder zur Sprache zu bringen. Ich habe dazu eine andere Meinung. Einige Theatermacher, die in den Anfangsjahren der Militärregierung mit ihrer Arbeit begannen, keine Verbindung zu den herkömmlichen Theaterschulen und den Universitätstheatern hatten und deren Motiv für die Theaterarbeit damals im Widerstand gegen die Diktatur lag, hatten Schwierigkeiten, ihre Arbeit unter den neuen Bedingungen fortzusetzen. Ramón Griffero z.B. bekennt, daß er fünf Jahre lang, von 1988 bis 1993, dem Jahr der Uraufführung von Éxtasis o la senda de la santidadverstummt war. Der Dramatiker Juan Radrigán verweist anläßlich der Uraufführung von El encuentramiento 1996 auf eine ähnliche Erfahrung: Diese Wesen, die in der Verzweiflung aufwuchsen, kommen nicht aus dem Nichts, denn hier geschah etwas Schreckliches. Auch wenn keine Handlung, kein Versöhnungsgebet, keine Strafe und kein Schuldeingeständnis ihnen das Verlorene zurückgeben kann, erwarten sie - endlich wieder zu Menschen geworden - ein Wort. (...) Und was soll man nun tun, und was soll man nun sagen? (...) Es ist ein Jahr vergangen, in dem ich mit mir selbst darüber Zwiesprache gehalten habe, dann zwei weitere lange, sehr lange Jahre, und ich stand vor einem viertem, als ich eine Legende entdeckte, die mich mit mitfühlenden Augen anblickte und mir dabei half, die Worte wieder zusammenzufügen.2 Denjenigen Theatermachern, deren professionelle Aktivitäten breiter gefächert waren (in Lehre, Regie, Schauspiel, Dramaturgie) und die entweder vor dem Militärputsch von 1973 schon intensiv künstlerisch tätig waren, oder die ihre Ausbildung innerhalb der Universität durchlaufen hatten und auf ein Netz von 1

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Griffero, Ramón: „La senda de una pasión." In: Revista Apuntes de la Universidad Católica de Chile 108 Santiago (1994) 78. Radrigán, Juan: „Encuentro con la palabra." In: Apuntes 111 (1996) 52.

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Beziehungen in ihrer eigenen Generation zurückgreifen konnten, fiel es leichter, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Die Motivationen waren ganz unterschiedlich. Der Mangel an Theaterlehrern durch Exil oder Amtsenthebung von Professoren war z.B. für einige junge Theaterleute ein Anreiz dazu, dieses Vakuum zu füllen und selbst eine Alternative auf dem Theater anzubieten. 3 Bei denen, die sich aufgrund dieser Erfahrung selbst dem Bereich der Dramatik, der Regie oder des Bühnenbilds zuwandten, handelte es sich vorwiegend um Schauspieler, besonders aus der Generation nach 1970. Daher gründen alle diese Bereiche auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Möglichkeiten des Schauspielers auf der Bühne. So wurde das Spielerische zur fundamentalen Antriebskraft des Theaters, und die expressiven Zeichensysteme erweiterten sich. Da diese Theaterleute einer Generation angehören, die im Medienzeitalter geboren wurde und mit dem Mißtrauen gegenüber dem Wort und den totalitären Ideologien aufgewachsen ist, tendieren sie dazu, diese Lebensweise und Weltsicht in ihrer Kunst zu verarbeiten. Die Vielfalt der verwendeten Zeichensysteme läßt sehr bilderreiche Auffuhrungen entstehen, die durch die Diskontinuität der Diskurse charakterisiert sind. Diese Generation, deren Erfahrungen enger mit dem Audiovisuellen (Fernsehen, Kino, Comics, Musik) verbunden sind als mit dem Literarischen, veranschaulicht mit Hilfe von visuellen und klanglichen Elementen plastisch ihre Wahrnehmung der Umwelt. Die Dynamik auf der Bühne steht auch im Zusammenhang mit dem Verlust der Utopien und der paradigmatischen Modelle für die Erklärung der Wirklichkeit. Da es keine These mehr gibt, die es zu beweisen gilt, wird das aristotelische Erzählmuster aufgegeben, das im Sinne eines rationalen, deduktiven und beweisenden Denkens eine letzte Wahrheit enthalten und vermitteln will. Es entsteht eine Dramatik, die den Diskurs fragmentiert, die Erzählung dekonstruiert, den Personen eine feste sozioökonomische Identität bzw. feste Verhaltensmuster vorenthält und die sich vertikal durch Zeit und Raum bewegt. Wie mittlerweile fast überall im westlichen Theater am Ende unseres Jahrhunderts sind in Chile Auffuhrungen zu sehen, die wie in einem Kaleidoskop durch das widersprüchliche Zusammenspiel von Licht, Farbe, Bewegung, Geste, Wort, Klang, Musik, bühnenbildnerischen Elementen, Requisiten und Kostümen einen vielschichtigen Zugang zum Dramatischen gewähren, der Raum für das Subjektive, für das Atmosphärische, für die expressionistische Charakterzeichnung läßt. Die theatralische Umsetzung von Texten gehört daher zu der grundlegenden Arbeit einer Gruppe und ihres Regisseurs, der die Ästhetik im Endergebnis

3

Vgl. Juan C. Zagall, zit. ¡n: Hurtado, M.L.: „Reconido a través de La Troppa." In: Apuntes

109 (1995) 58 f.

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stark prägt. Selbst wenn mit einem Text gearbeitet wird, der schon eine dramatische Struktur aufweist, wird in diese vom Regisseur und den Schauspielern stark eingegriffen. Tatsächlich haben jedoch Texte Vorrang, die keine theatralische, sondern eine narrative Struktur haben. Es wird von der Intensität, der Lebensnähe, den Schicksalen und Weltentwürfen des Erzählten profitiert, seien es nun Briefe, Reden, Gedichte, Romane, Erzählungen, Interviews oder sogar historische Texte. Das Niveau an Reife und Tradition des Theaters, das in Chile 50 Jahre nach Gründung der Universitätstheater erreicht wurde, ermöglicht schließlich eine Synthese zwischen Dramatik und Bühne, zwischen Regisseuren und Schauspielern. Das Theater besitzt die Fähigkeit, eigene Sprachen zu erschaffen, die nicht mechanisch die internationalen Vorbilder kopieren, sondern die mit den eigenen künstlerischen Vorstellungen verbunden sind.

Die Verlagerung der Bedeutungen Drei Grundbefindlichkeiten bewegen heute das Theater, einige Auffuhrungen zeigen diese sehr deutlich, andere vermischen sie: das Fest, der Schmerz und die Verzweiflung. Das Spielerische des Festes, das man in Gruppen findet wie El Gran Circo Teatro unter der Leitung von Andrés Pérez, in Produktionen von La Troppa oder des Teatro Circo Imaginario unter Leitung von Andrés del Bosque oder in Auffuhrungen des Teatro Provisorio unter Leitung von Horacio Videla, ist Ausdruck von Lebensbejahung. Das Fest hat seinen Widerpart in der Trauer. Der Schmerz ist ein zentrales Gefühl in der zeitgenössischen Dramatik und im Theater Chiles. Theater wie La Memoria unter Leitung von Alfredo Castro, Fin de Siglo unter Leitung von Ramón Griffero, La Magdalena mit der Autorin Inés Stranger und der Regisseurin Claudia Echenique und Imagen mit dem Autor und Regisseur Gustavo Meza arbeiten in diese Richtung. Die Verzweiflung hingegen erscheint als ein Gefühl der Schutzlosigkeit angesichts der Gewalt, der Unbarmherzigkeit, des Verlusts der Bindungen in Liebesbeziehungen und auch angesichts der Gleichgültigkeit gegenüber den Entwürfen einer schöpferischen Phantasie, die den Menschen auf seine gedemütigte Körperlichkeit zurückwirft. Das letzte Stück von Marco Antonio de la Parra, einige Inszenierungen vom Teatro Camino unter der Leitung von Héctor Noguera, die Stücke der newcomer Pablo Álvarez und Juan C. Burgos stehen in

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dieser Tradition. Die ganz Jungen hingegen meiden die Zurschaustellung von Gefühlen und bevorzugen die Ironie des esperpento, um sich mit der Gewalt und den erbarmungslosen Manipulationen im Umgang miteinander auseinanderzusetzen: zum Beispiel in dem Stück Mala leche von Verónica Duarte. Hinter den Produktionen der letzten Jahre steckt das tiefe Bewußtsein über den moralischen und institutionellen Schaden, den die chilenische und lateinamerikanische Kultur in vielen Bereichen erlitten hat, wie auch über die Nutzlosigkeit der Utopien, vormals Triebkraft unserer Kämpfe, denen jetzt nur noch Desinteresse und Unglauben entgegengebracht werden. Demgegenüber scheint die Frage nach der eigenen Identität lebenswichtig. Es besteht das Bedürfnis, das Subjekt an seinen Grundkoordinaten neu zu orten, wo die Zufälligkeiten aufbrechen und man zu den ursprünglichen Faktoren zurückkehrt, die von solch emotionaler und psychischer Subtilität sind, daß sie nur im Rückgriff auf den Mythos und Ritus faßbar erscheinen. Eben diese Art Sprache ist in der Lage, gleichzeitig die Tiefenschichten der Psyche wie auch die uralten anthropologischen und kulturellen Fundamente auszuleuchten. Die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit bleibt nicht im Verborgenen oder wird umgangen, sondern es findet eine Übertragung der Wirklichkeit in einen metaphorischen Bereich statt, der diese Debatte reflektiert und in Raum und Zeit projiziert.

Die Qual des Ödipus und das Problem der Abstammung Während in den 60er und 70er Jahren die Betonung auf dem Sozialen und auf der Transparenz in der Kommunikation lag sowie auf dem Versuch, die symbolhafte Ausdrucksweise zu entmythologisieren und die dunklen Bereiche des rational nicht Erklärbaren zu meiden, wird in den 90er Jahren die Subjektivität zum Ausgangspunkt von Wirklichkeitswahrnehmung und -erfahrung.4 Nach dem Verlust des Vertrauens in die Erklärungsmodelle und in den Fortschritt der Geschichte besteht nun die Tendenz, die Welt des Seins, der Innenschau, der Weisheit der Dichter und Visionäre, die der menschlichen Erfahrung in Mythen und universellen Stoffen Gestalt verliehen, zu erforschen. Shakespeare, die griechischen Mythen, besonders der Ödipus-Mythos und traditionelle Gattun-

4

Vgl. Muguercia, Magaly: „Lo antropológico en el discurso escénico latinoamericano." In: Apuntes 101 (1991)88-100.

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gen wie das Melodrama halten Erzählstrukturen bereit, auf die heutzutage immer wieder zurückgegriffen wird. Themen wie Abstammung, Zugehörigkeit, sexuelle Bestimmung und Liebesleidenschaft bringen die Wurzeln von Verlust, Schuld, Eifersucht, Habgier, Trennung und Tod an den Tag. In den Dramen geht es darum, wieder zu sich selbst zu finden und Gefühle, Selbstbilder und gesellschaftliche Praktiken neu aufzuarbeiten. Ein Beispiel für diese Problematik finden wir in dem Stück Cartas a Jenny, das Gustavo Meza 1990 geschrieben hat.5 Es handelt von der besitzergreifenden Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn und von den Spannungen, die entstehen, als dieser heiratet. Die Mutter ist eine nach Chile emigrierte Europäerin. Der dramatische Prozeß, den sie durchläuft, wird in Briefen entfaltet, die sie an ihre in Europa lebende Schwester schreibt. Wegen ihrer Schwierigkeiten, sich in Chile einzuleben, klammert sie sich um so stärker an ihren Sohn. Unbewußt treibt sie ihn lieber in den Tod, als daß sie bereit ist mit anzusehen, wie er in der Fremde eine eigene Familie gründet.6 Consuelo Morel hat nachgewiesen, daß die Problematik des Dreiecksverhältnisses, das auf einer verzehrenden Liebe zwischen Mutter-Sohn, Vater-Tochter oder Mann-Frau gründet,7 ein Topos ist, der die chilenische Dramatik seit ihren Anfängen durchzieht. Nach leidvollen Erfahrungen unter autoritärer Herrschaft und der Aufsplitterung des gesellschaftlichen Kollektivs in eine Vielzahl von Lebensentwürfen stellt sich uns heute die Frage: Wie können wir mit jemandem eine Beziehung eingehen, der eine eigene Identität und ein eigenes Lebensprojekt aufweist und nach Unabhängigkeit strebt? Die starke Figur des Diktators, des autoritären Vaters, der während der Militärregierung herrschte, hat nach Ansicht mancher die chilenische Gesellschaft in eine kindliche Regression getrieben. Da sie unter einer äußeren Kontrolle stand, die das Leben aller über Schuldzuweisungen oder Lob, Strafe oder Belohnung regulierte, konnten die Chilenen ihre Rechte und Lebensmöglichkeiten nicht voll ausschöpfen. Dieser existentielle Mangel wird in einigen Stücken thematisch verschärft, während andere Stücke das positive Gegenteil postulieren: Die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, der Mut, eine Neuordnung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen und dabei die eigenen Ängste und Abhängigkeiten zu überwinden, werden als 5

Meza, Gustavo: Carlas a Jenny. In: Apuntes 99 (1990).

6

Ein weiteres Beispiel fllr diese Art Dramatik ist das Stück Cariño Malo von Inés Stranger, das 1990 entstanden ist. Vgl. hierzu den Beitrag von Maria de la Luz Hurtado: „Frauen gestalten Theater. Die Entwicklung einer weiblichen Sprache im Theater Chiles" im vorliegenden Buch.

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Morel, Consuelo: Identidadfemenina

en el teatro chileno. Santiago 1996.

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persönliche Voraussetzungen formuliert, um einen Beitrag zur Humanisierung und Pluralisierung der Gesellschaft zu leisten. Eine der wichtigsten Gruppen des chilenischen Theaters am Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, die Theatergnippe La Troppa, ließ sich von dieser Idee leiten. Ihre Stücke und Adaptationen von Romanen und Erzählungen wie Don Quijote, Pinocchio, Le Loup-Garou (Boris Vian), Reise zum Mittelpunkt der Erde (Jules Verne) sind wie initiatische Reisen von Figuren in die moderne Gesellschaft, wo sie das Spiel mit dem Abenteuer wagen, um menschliche und persönliche Reife zu erlangen, jedoch inneren und äußeren Kräften ausgeliefert sind, die zu ihrer Vernichtung und ihrem Tod führen. Das Teatro La Memoria unter Leitung von Alfredo Castro zählt hingegen zu den Theatergruppen, die über die zuerst genannte Problematik arbeiten, d.h. über den Schmerz, die Welt als einen konstanten Gefühls- und Identitätsverlust erfahren zu müssen. Diese Welterfahrung verweist die Figuren der Stücke an den Rand der Gesellschaft, denn ihre Unzufriedenheit treibt sie zu ständigen Übergriffen, zum Tabubruch, zu Handlungen bzw. Lebenswegen, die zu einem mehr oder weniger gewaltsamen Zusammenstoß mit den von ihnen geliebten/gehaßten Wesen und der Umwelt fuhren. So treffen wir in La manzana de Adán (1990) auf Stricher und Travestiten und in Historia de la sangre (1992) auf Triebtäter. Die Figuren beider Stücke orientieren sich an realen Personen. Die Stücke skizzieren Bruchstücke ihrer Biographien, die von obsessiven und unbefriedigten Affekten beherrscht werden und an ihnen zerbrechen. Die Affekte dieser Menschen werden immer wieder zu den Auslösern von Schmerz und Gewalt, als sei es ein unausweichliches, tragisches Schicksal, das sich in tausend verschiedenen metaphorischen Arten und Formen in allen Chilenen wiederholt. Die Lebensgeschichten sind voller historischer, geographischer und mythischer Verweise auf Chile und werden parallel zum Verlauf der Nationalgeschichte gesetzt. Das letzte Stück der Gruppe, Hombres oscuros, pies de mármol (1995) handelt vom Anderssein, von der conditio humana als tragischem Schicksal, das manche Menschen dazu fuhrt, mit den gesellschaftlich sakrosankten Normen zu brechen und eine Identität anzunehmen, die von der Gesellschaft mit Schrecken zurückgewiesen wird. Das Stück, das von Alfredo Castro geschrieben und inszeniert wurde, verbindet König Ödipus von Sophokles mit dem Lebensbericht und der Selbstverteidigung des deutschen Richters Schreber, der in einer psychiatrischen Anstalt zwangsinterniert war. In seinem Tagebuch berichtet Schreber über den ständigen Druck und die extreme Grausamkeit, die sein Vater in seiner Kindheit gegen ihn ausübte. Der von Ödipus begangene Vatermord

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wird mit der Unterdrückung dieser Tat im Fall des im Irrenhaus eingesperrten Mannes konfrontiert, der nun mit Ödipus darüber diskutiert, welche der zwei Alternativen, die beide mit persönlicher und gesellschaftlicher Tragik behaftet sind, die befreiendere oder die schmerzlichere ist.

Leidenschaft und Verlust im volkstümlichen Melodrama Das Melodrama ist zutiefst in der chilenischen und lateinamerikanischen Kultur verankert und wird im Theater jeder Epoche wieder aufgegriffen, wie auch in den 90er Jahren.8 Aufgrund seines volkstümlichen Charakters zieht das Melodrama breite Publikumsschichten an, was durch die Ästhetik der 90er Jahre noch verstärkt wird, durch die es sich als großes Spektakel präsentiert. Typisch sind der Rückgriff auf Archetypen der volkstümlichen Vorstellungswelt und eine mit Redewendungen und umgangssprachlichen Begriffen versetzte Sprache, die dem Publikum vertraut ist. Treue und Verrat gegenüber Mutter und Vater, Unterdrückung durch wirtschaftliche Macht und Fortschritt, durch Materialismus bedingte Entwürdigung, Schuld und Sühne bestimmen den Schicksalsverlauf der Protagonisten. La Negra Ester von Roberto Parra in der Inszenierung von Andrés Pérez und dem Gran Circo Teatro (1988) steht genau in dieser Linie und brachte neuen Wind in das chilenische Theater. Mit der Bearbeitung eines in traditionellen Zehnzeilern verfaßten autobiographischen Gedichts von Roberto Parra, das von der tragischen Liebe zu einer Prostituierten im Hafen von San Antonio erzählt, schufen der Regisseur und die Gruppe eine spielerische Auffuhrung mit üppigen Bildern und einer volkstümlichen, expressionistischen Ästhetik, die dem Genre des Zirkus oder des Grand Guignol nahesteht. Diese Synthese von Tradition und Modernität gab ihnen die Möglichkeit, alle nationalen Subkulturen zu integrieren. Während das Stück auf den ersten Blick eher persönliche Themen anschneidet wie die Blindheit der Liebe, Freundschaft und Verrat, Freude und Schmerz, erhält es bei näherem Hinsehen eine weiterreichende metaphorische Bedeutung. La Negra Ester stellt einen Außenseiter auf die Bühne, der das Chilenische repräsentiert. Das Movens dieser Figur ist die Eroberung einer vollkommenen Liebe - seine Utopie, deren leidenschaftlicher, emotionaler und physischer Ano

Vgl. Hurtado, M.L.: „El melodrama, género matriz de la dramaturgia chilena." In: Gestos 1, Irvine, Cal./USA (1985) 121-130.

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spruch ihn an die Grenzen von Zerrüttung und Tod führt. Er kehrt zu seinem Ausgangsort zurück, zu seiner Mutter und seiner Familie, findet dort wieder zu sich und ist geläutert. Er versucht einen ähnlichen Weg für seine Geliebte zu finden, die er einem anderen Mann zur Frau gibt. Sie stirbt durch die Lieblosigkeit dieser Beziehung und sühnt für ihre Vergangenheit, während der Protagonist der untröstlichen Verzweiflung anheimfallt, weil er den Tod der Frau, die er am meisten geliebt hat, herbeigeführt hat, anstatt sich selbst auf diesem tragischen Kreuzweg zu opfern. An vielen Stellen wird die Wirklichkeit des Landes in Metaphern, d.h. in übertragener Weise und nicht unmittelbar dargestellt. Die Übertragung findet vielmehr auf der Ebene des kollektiven Unterbewußtseins statt. Anhand des subjektiven Erlebens eines anderen Menschen werden die Einzelschicksale in Erinnerung gerufen, werden wiedererkennbar und fugen sich zu einem allgemeinen gesellschaftlichen, historischen und anthropologischen Phänomen zusammen. Einige Jahre später entsteht mit El Desquite (1995), ebenfalls von Roberto Parra und Andrés Pérez und mit einem ähnlichen Ensemble wie in La Negra Ester, wiederum ein Melodrama und Gesellschaftsstück über die Liebe. Es rankt sich um die Figur eines gewalttätigen und gleichzeitig erotisch anziehenden Gutsherrn, der seine Pflegetochter, ein junges Waisenkind unter seiner Vormundschaft, mit „Gauchosöhnen" schwängert. Interessant an diesem Stück ist, daß es eine grundlegende Struktur des Melodramas durchbricht, nämlich die traditionelle Passivität der Frau. In El Desquite ergreift die Frau, nachdem sie vergewaltigt worden ist, die sexuelle Initiative und durchkreuzt die Machtpläne und das Vorhaben des Patrons und des zweiten Adoptivvaters, sich wirtschaftlich zu bereichern. Zu der tragischen Auflösung, in der die beiden väterlichen Symbolfiguren sterben, kommt es, weil sie in ihren Gefühlen verstrickt ist und den Gutsherrn/Liebhaber nicht nur haßt, sondern auch liebt. Auch in El zorzal ya no canta más von Gustavo Meza, in einer Inszenierung des Teatro Nacional de la Universidad de Chile von 1996, zerbricht die Dreiecksbeziehung zwischen Mutter, Tochter und Stiefvater nach zahlreichen Schikanen, Streitigkeiten und Zornesausbrüchen, unten denen die Frauen gelitten haben, indem sie gegen den Unterdrücker/Liebhaber aufbegehren und ihn ermorden. Die anderen Frauen, Zeuginnen dieser Ereignisse und Schicksalsgenossinnen, decken die beiden vor der Justiz. Interessanterweise verfolgen auch Mitglieder der ganz jungen Generation (die heute Anfang zwanzig ist) diese Linie, schreiben aber in einer weniger opulenten Sprache, sondern in einer klareren Prosa: Nemesio pelao von Cristián Soto handelt von einem Kind mit zwei Vätern, was soviel bedeutet wie kein Vater,

Teatro Sombrero Verde: El Desquite. Regie: Andrés Pérez

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Teatro Sombrero Verde: El Desquite. Regie: Andrés Pérez

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denn seine Mutter kann sich nicht entscheiden, welchem der zwei Liebhaber sie nun die Vaterschaft für ihren Sohn zusprechen soll. Als Erwachsener wiederholt der Junge diese Geschichte, als er mit einer verheirateten Frau ein Kind zeugt. Lucía de la Maza stellt anläßlich des Dramatikertreffens des Staatlichen Kultursekretariats 1997 mit Que nunca se te olvide que no es tu casa ein ähnliches Thema vor: Wieder geht es um die Ungewißheit der Abstammung, das Verlassenwerden durch Mutter und Vater, die Verletzung des Inzestverbots. Auch Ramón GrifFero nähert sich 1995 mit Río abajo, inszeniert vom Teatro Nacional de la Universidad de Chile, in einer sehr bildhaften und vielschichtigen Inszenierung9 der dramatischen Struktur des Melodramas an. Er nimmt die brisanten und gesellschaftspolitisch virulenten Themen ins Visier, die der Übergang zur Demokratie ausgelöst hat: Einige junge Siedler verfallen dem Profitdenken und den moralischen Ausschweifungen der modernen Konsumgesellschaft und verkaufen die Erinnerungen ihrer Eltern, wie der Verrat eines Sohnes an seinem während der Diktatur verschwundenen Vater zeigt.

Der Aufschwung des Populären und die Verschiebung der Volkskultur Im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Melodramen, in denen die Figuren oder die Umwelt am Ende immer in eine moralische oder seelische Ordnung zurückfinden, sind andere Stücke von Gesellschaftsentwürfen geprägt, in denen die materielle und familiäre Entwurzelung mit einem Gefühl der Befreiung von bürgerlicher Moral erlebt wird. Paradigmatisches Beispiel dafür ist Consagración de la pobreza nach der gleichnamigen Vorlage des chilenischen Dichters und Schriftstellers Alfonso Alcalde, 1995 inszeniert von Andrés Pérez. Es ist ein ungeschliffenes Theater, das dem Facettenreichtum und dem Abenteuerlichen jener Existenzen nachspürt, die in der Armut leben und tausend erfindungsreiche, ja geradezu perverse und wenig ehrerbietige Tricks kennen, um Liebesaffaren, Lustbarkeiten und Überleben zu meistern. Es wimmelt von Liebhabern, Kindern, Eifersüchteleien, Liebschaften; Zärtlichkeit und Vergnügen sind im Spiel, aber auch eine Menge Alkohol, Gewalt, auf dem Müll ergatterte Besitztümer und nur gelegentlich Geld, untermalt von respektlosem Humor und turbulenten Szenen. Es zeigt eine 9

Vgl. Hurtado, M.L.: „El teatro de Ramón Griffero: del grotesco al melodrama." In: Apuntes 54.

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Seite der chilenischen Gesellschaft und Kultur, die im Diskurs der Moderne nicht vorkommt, da sie angesichts der hohen Quote von Schulbildung und Alphabetisierung als überwunden angesehen wird. Es handelt sich um jene Armut, die noch häufig von der Sensationspresse ausgeschlachtet wird oder manchmal in den reality shows des Fernsehens zu erspähen ist. Doch während sie in diesen Shows moralisierend oder skandalträchtig dargestellt wird, betont das Theater die spielerische Komponente, ja verherrlicht sie geradezu.

Die Schlüssel zur Identität in der (veränderten) Darstellung von Geschichte und Welt Die Rückkehr zur Geschichte ist in diesen Jahren eine weitere fruchtbare Quelle für die Suche nach Identität und Verständnis der psychischen und gesellschaftlichen Kräfte, die im Augenblick Chile, Amerika und die Welt bewegen. Die Fünfhundertjahrfeier der Eroberung Amerikas 1992 führte erneut zu einer Diskussion über die spanische Eroberung, die Rassenvermischung, die Begegnung bzw. den gewaltsamen Zusammenstoß der Völker.10 Die Stücke von Mauricio Celedón und seinem Mimentheater Teatro del Silencio versuchen dieses Ereignis zu beleuchten, indem sie für die Besitzlosen, die Geschändeten und für die Menschen, die darum kämpfen, die Geschichte und sich selbst zu verändern, Partei ergreifen. Das Theater von Celedón betont einerseits die Dynamik der Macht der Unterdrücker und andererseits die der visionären und heldenhaften Menschen, die mit ihrem Werk oder Opfer die Geschichte verändert haben. Celedón schafft sehr plastische Bühnenräume, die das Gesamtkonzept des Stückes widerspiegeln. Es handelt sich um symbolische Räume, in denen Personen aufeinandertreffen, die die kollektive Vorstellungswelt der Chilenen und/oder der westlichen Welt bevölkern. Celedón bewegt seine Figuren entlang großer gestischer, visueller und rhythmischer Grundlinien, die gleichzeitig eine elementare Handlung und ein elementares Gefühl darstellen. So fungiert in Transfusion (1990) der als Krankenhaus gestaltete Raum mit den dazugehörigen Requisiten und Kostümen als Bedeutungsträger, der den epischen Gestus der Figuren aus Europa und Amerika verbindet. Sie bewegen sich 10

Vgl. dazu das Stück Malinche von Inés Stranger, das im vorliegenden Buch in Maria de la Luz Hurtados Beitrag „Frauen gestalten Theater. Die Entwicklung einer weiblichen Sprache im Theater Chiles" (3. Kapitel) vorgestellt wird.

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auf der Bühne in Autoskootern, die gezogen werden und sich je nach Handhabung in unterschiedliche Vehikel verwandeln lassen, wodurch jeweils bestimmte Epochen und Situationen von Macht und Gewalt gekennzeichnet werden. Die Skooter symbolisieren mit ihrem volkstümlichen Bedeutungsgehalt, daß die soziale Unterschicht buchstäblich der Grund und die tragende Kraft der Geschichte gewesen ist, auch wenn sie nur in sehr seltenen Fällen auf dem Wagen stand und seine Richtung bestimmte. Aber auch Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien, die Päpste, Kolumbus, Cortés und die Malinche, Moctezuma, Pedro de Valdivia, Lautaro, Tegualda, Arturo Prat, Balmaceda und Recabarren nehmen teil an dem schwindelerregenden Rennen um die europäisch-indianische Bluttransfusion in Amerika. In Taca Taca mon amour (1993) wird die Welt zu einer metallischen, von Achsen durchzogenen Sphäre, die an Leonardo da Vincis Entwürfe erinnert und von der Energie der Schlüsselfiguren mal spielerisch, mal zerstörerisch bewegt und in Drehung versetzt wird. Dieses Bild ergänzen der Bühnenraum und die Motorik der Figuren. Die Bühne ist ein überdimensionales Tischfußballspiel (lautmalerisch im chilenischen Volksmund taca taca genannt), in dem die Spielfiguren Menschen darstellen, die alle unter dem gleichen Joch stehen und deren einzige Bewegungsmöglichkeit darin besteht, den Ball (die Welt) nur in die Richtung und mit der Kraft zu treten, die ihnen ihre feste Position auf der jeweiligen Spielstange erlaubt. Alles ist in Primärfarben (rot, schwarz, grün und blau) gehalten, die Gesichter sind als Masken geschminkt. Die zirzensische Livemusik mit Trompeten, weiteren Blasinstrumenten und Perkussion, gibt durchdringend den Rhythmus an und spielt die leitmotivischen Melodien zu jeder Figur. Die Figuren der Masse stellen Soldaten im Krieg dar, das Volk in der Revolution, die Juden im Holocaust. Die Spieler, die die menschlichen Spielfiguren bewegen, sind die politischen Führer und Ideologen des 20. Jahrhunderts: Lenin und seine revolutionäre Utopie, die repressive Militarisierung der Revolution unter Stalin und sein Pakt mit Hitler. Letzterer ist die ausgefeilteste Figur des Stücks, die sich mit der starren Technik eines von einer einzigen Geste besessenen Roboters bewegt, an seiner Seite Eva, ihm gegenüber Denker wie Einstein und Freud, die die Grenzen der Bewegung von Mensch und Welt durchbrechen. Dieses Kräftespiel endet in der atomaren Massenvernichtung, aber vielleicht auch mit der Befreiung nach dem Schrecken. Als Gegenentwurf zu den politischen und wissenschaftlichen Exzessen der Moderne, die Taca Taca aufzeigt, steht die Vision von der Entstehung des Kosmos, des Lebendigen, des Heiligen, der Mächte des Guten und Bösen und des darin

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enthaltenen Menschlichen in dem Stück Popol-Vuh, das Andrés Pérez 1992 erarbeitet hat. Auf der Grundlage des heiligen Buches der zentralamerikanischen Quiché-Indianer (heute Guatemala) belebt er den Mythos und seine rituellen, sinnlichen und magischen Bestandteile neu. Das Libretto und die Inszenierung von Pérez und seiner Gruppe versuchen weder den Rhythmus oder die Abfolge der ursprünglichen Erzählung zu verändern, noch sie in die westlichen dramatischen Strukturen zu pressen. Erneut finden wir hier den Versuch, die Erkenntnisstrukturen des Kosmos und der Menschen, die in den ursprünglichen Kulturen Amerikas vorhanden waren und immer noch darin weiterleben, kennenzulernen und zu interpretieren. Dabei verfahrt die Inszenierung mit einer sinnlichen und geistigen Offenheit, durch die es gelingt, die verborgenen Vorstellungswelten jener Kulturen zu artikulieren.

Das Unbehagen an der Moderne Neben der Auseinandersetzung des chilenischen Theaters der 90er Jahre mit der eigenen Identität und der eigenen Einordnung in die großen Koordinatensysteme von Raum und Zeit, Subjektivität und Wirklichkeit, kommt es in der Zeit der zweiten Regierung des Übergangs (ab 1995) trotz Demokratie zu dem schon erwähnten Illusionsverlust und einer Distanzierung vom politischen und wirtschaftlichen System und den herrschenden Lebensformen. Die Macht des Neoliberalismus, die Konsenspolitik und die parteipolitischen Machenschaften, der Bankrott der Justiz, die mangelnde Konsistenz zwischen den öffentlichen Diskursen und Lebensformen, schließlich die Gewalt und die problematische städtische Entwicklung - all diese Faktoren erschweren die menschlichen Beziehungen und die Kommunikation untereinander, die außerdem vom technologischen Primat der Medien und von den Globalisierungstendenzen bestimmt werden. Skepsis und Enttäuschung bestimmen die Haltung der künstlerischen und intellektuellen Subkultur Chiles immer mehr, zu der auch das Theater zählt. Die Stücke, die heute von den Gruppen für ihre Inszenierungen ausgewählt werden, thematisieren Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen, das Gefühl von Bedrohung und Schutzlosigkeit in Liebe und Freundschaften, Einsamkeit, Verlassenheit, materielle und emotionale Hilflosigkeit als Erfahrungen, die seit der Kindheit mitgeschleppt werden: das Fehlen von Erinnerungen an Momente des Beschütztwerdens, den Mangel an Vorbildern, die die Persönlichkeit prägen, die Abwesenheit eines Gottes. Auf den Bühnen erscheinen Philosophen wie Camus (Le malentendu in der Inszenierung von Rodrigo Pe-

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rez) und Nietzsche (Also sprach Zarathusträ), Stücke, die Erfahrungen von Heimatlosigkeit artikulieren und deren verbale Kraft im Vordergrund steht. Europäische Dramatiker wie Koltés (El ejecutor, Regie V. Carrasco) oder Heiner Müller (Quartett, Regie R. Pérez; Medeamaterial, Regie V. Steiner) werden inszeniert oder auch junge Autoren wie der Spanier Rodrigo García (Notas de Cocina, Regie R. Pérez) und der Katalane Sergi Belbel (Carícies, Teatro del Cancerbero). Das vor kurzem nach der Filmvorlage von Brad Fräser inszenierte Stück Restos humanos o la verdadera naturaleza del amor verlegt die gewaltsame Auflösung der Identität und Lebensläufe in den städtischen Alltag. Weiterhin thematisieren die zuvor erwähnten Stücke und auch Mala Leche, 1996 von der chilenischen Newcomerin Verónica Duarte geschrieben, die durch wirtschaftlichen Wettbewerb und gesellschaftliche Machtverhältnisse erzeugte Gewalt am Beispiel von sexuellen Triebtätern, die andere verletzen, zerstückeln, ermorden und zerstören. Der Dramatiker Benjamin Galemiri bevorzugt seinerseits die spielerische Ironie, um die kybernetischen Machtstrukturen in der Gesellschaft zu entlarven (El coordinador, 1993), um den Don-Juan-Mythos satirisch darzustellen (El seductor, 1996) oder um mit der Metapher des free climbing (Dulce aire canalla, 1995) die Machtmechanismen in der heutigen Mann-Frau-Beziehung zu enthüllen, nämlich gegenseitige Kontrolle, Verfuhrung, Konkurrenz, Schuld, Eifersucht, Erotik und die raffinierte intellektuelle Aufarbeitung all dessen. Die kulturellen Mikroweiten des Großraums Santiago zeigt La cocinita, 1996 geschrieben und inszeniert von Fernando Villalobos und der Compañía Mutabor. Die Fernsehserien, die Welt des Boulevardspektakels und die Darstellung des Tagesgeschehens in Fernsehen und Radio gehen grotesk in die Sprache und das Verhalten der Menschen ein, die an der Peripherie der Großstadt Santiago leben. Vor der Armut, dem Überdruß und den fehlenden Perspektiven der Bevölkerung flüchten die Figuren in ausschweifende Feste, deren Höhepunkt eine Travestie-Revue ist. Die Familienmutter, die zunächst noch versucht, die Jugend im Zaum zu halten, nimmt am Ende teil an dieser Ersatzlösung für die üppigen Spektakel des internationalen Showbiz.

Allegorien der Trostlosigkeit Schließlich sind noch die Dramatiker zu nennen, die in großangelegten Textkompositionen mit spektakulären Entwürfen dafür optieren, eine fast apokalyptische Endzeitstimmung allegorisch darzustellen. Für Marco Antonio de la Parra steht in

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La pequeña historia de Chile11 (1995) angesichts des Gedächtnis- und Werteverlustes der jungen Republik das Überleben der chilenischen Nation auf dem Spiel, denn ihre Werte werden von einer nur gegenwartsbezogenen Konsum- und Wettbewerbshaltung, die in einer gesichtslosen Globalisierung eingebettet ist, verdrängt. Das Szenario von Pablo Álvarez in La catedral de la luz12 (1995) ist nicht weniger apokalyptisch, es fehlt ihm jedoch die Wehmut des Parra-Stücks. In dem Stück verirrt sich eine Gruppe Jugendlicher in der nordchilenischen Wüste und findet keinen Ausweg mehr. Sie begegnen und verlieren einander, benutzen und mißbrauchen sich gegenseitig und können ihre Bindungen von Liebe und Kameradschaft und selbst die Erinnerungen aneinander nicht aufrechterhalten. Alles wird austauschbar, die Tabus sind aufgehoben, selbst die Achtung vor den Toten. Rache und Habgier, das eigene Überleben, all dies verknüpft mit Gewalt, sind die primitiven Impulse dieser Wesen, die sich in dem riesigen Raum ohne kulturelle, geschichtliche oder moralische Grenzen bewegen, in dem uralte Vorstellungen neben modernster (und nutzloser) Technik stehen. Zusammenfassend läßt sich eine große Vielfalt an Ausdrucksmitteln und Themen im chilenischen Theater der 90er Jahre konstatieren. Verschiebung, Metaphorisierung, Dekonstruktion und ein freier Umgang mit schon vorhandenen Stoffen und Bedeutungsstrukturen sind zu beobachten, die kulturell und theatralisch auf ganz eigene Weise in bezug auf die historische Realität und die von ihr aufgeworfenen Fragestellungen verdichtet werden. Die aktuelle Szene beherbergt viele unterschiedliche Persönlichkeiten und Bewegungen, die mit theatralischen Sprachen künstlerisch arbeiten. Es handelt sich um Zeichensysteme, die oftmals recht hermetisch sind. Ihre Doppeldeutigkeit und Symbolhaftigkeit erfordern viel Feingefühl, um die unterschwelligen Strömungen zu erfassen. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß sich im aktuellen Kultur- und Theaterleben Chiles nichts bewegt (und es wird dem Chile des Übergangs zur Demokratie immer vorgehalten, es sei langweilig). Doch in Wirklichkeit passiert sehr viel, wenn man nur bereit ist, auf das Verborgene und die untergründigen Strömungen einer künstlerischen Ausdrucksform zu achten, die sich nicht in Dogmen oder gesellschaftspolitische Erklärungsmuster zwängen lassen will, die aber sehr wohl jene kulturellen Strukturen verarbeitet, die den Mythen und den von der nahen und fernen Vergangenheit geprägten kollektiven Obsessionen entstammen.

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De la Parra, Marco Antonio: „La pequefia historia de Chile." In: Apuntes 109(1995) 17-38.

12

Álvarez, Pablo: „La catedral de la luz." In: Apuntes 110 (1995) 55-102.

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Literatur Álvarez, Pablo: „La catedral de la luz." In: Revista Apuntes de ¡a Universidad Católica de Chile 110 (1995) 55-102. Griffero, Ramón: „La senda de una pasión." In: Apuntes 108 (1994). Hurtado, María de la Luz: „El melodrama, género matriz de la dramaturgia chilena." In: Gestos 1, Irvine, Cal./USA (1985) 121-130. Dies.: „Recorrido a través de La Troppa." In: Apuntes 109 (1995). Dies.: „El teatro de Ramón Griffero: del grotesco al melodrama." In: Apuntes 110 (1996) 37-54. Meza, Gustavo: „Cartas a Jenny." In: Apuntes 99 (1990). Morel, Consuelo: „Identidad femenina en el teatro chileno." Santiago 1996. Muguercia, Magaly: „Lo antropológico en el discurso escénico latinoamericano." In: Apuntes 101 (1991) 88-100. De la Parra, Marco Antonio: „La pequeña historia de Chile." In: Apuntes 109 (1995) 17-38. Radrigán, Juan: „Encuentro con la palabra." In: Apuntes 111 (1996).

Chile gehörte in gewisser Hinsicht auch zum Ostblock. Wir hatten unseren Genossen, den Präsidenten, einen Arbeiterminister und Vietcong-Delegationen, wir standen Schlange, die Lebensmittel waren rationiert, und wir sahen russische Filme; aber wir teilten auch die Begeisterung dieses historischen Augenblicks und den aus heutiger Sicht vielleicht naiven Glauben an eine neue Gesellschaft. Der Staatsstreich ist ein Ereignis, das zweifellos stark meine Arbeit geprägt hat, denn das Zerbrechen der Utopien, das ich 1973 erlebte, durchzieht mein gesamtes Werk wie ein roter Faden und bleibt bis heute mein Alptraum. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls hier in Berlin standen wir am Ende einer Diktatur. Pinochet war noch an der Macht, denn die chilenische Diktatur sollte noch bis 1990 dauern. Der Fall der Mauer versetzte uns einen Schlag, da wir immer noch gehofft hatten, nach dem Sturz Pinochets würde die neue utopische Gesellschaft entstehen. Uns Künstlern, die wir aus dieser Utopie heraus geschrieben haben, stellt sich heute die große Frage, von welchem Standpunkt aus wir schreiben sollen. Mein Theater hat diese zwei bedeutenden Etappen durchlebt, zuerst die Diktatur, dann parallel zum Mauerfall die Rückkehr zur Demokratie, und ich habe vier Jahre lang geschwiegen, bis ich wieder einen neuen Ausgangspunkt zum Schreiben gefunden hatte. Ich war zehn Jahre im Exil und leitete das Universitätstheater in Louvain, Belgien, wo ich meine ersten Stücke schrieb. Aber eigentlich wollte ich, daß meine Stücke in Chile aufgeführt wurden. Nach Chile kehrte ich 1982 zurück. Grob gesagt war die Situation des chilenischen Theaters so, daß alle staatlichen Bühnen und Universitätstheater ganz offenkundig unter dem Einfluß der Militärführung standen. Diese Theater konnten kein Sprachrohr der Theaterkultur sein. Andererseits gab es das Teatro Independiente, das Freie Theater, das unter großem Einsatz von linksgerichteten Theaterleuten gemacht wurde, dessen ästhetische Modelle jedoch dem Theater der 70er Jahre verhaftet geblieben waren. Mir wurde klar, daß keines der vorhandenen Theatermodelle der Stimme entsprach, mit der ich in meinen Stücken sprechen wollte. Ich gründete das Theaterhaus El Trolley, das zum Geburtsort des autonomen Theaters wurde, unabhängig vom offiziellen Dissidententum

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und unabhängig von der Bürokratie der Diktatur. An diesem Ort formierte sich ein Zentrum des kulturellen Widerstands. Alle jungen Leute, die ins Trolley kamen, waren schon unter der Diktatur geboren und hatten daher keine Angst vor ihr. Das Trolley finanzierte sich anfangs nicht durch große Kunstfeste, sondern wir machten die ersten Kunstaktionen. Die Rockgruppen hießen nicht mehr Quilapayún oder Inti-Illimani, die Klassiker der Linken, sondern Pinochet Boys, Prisioneros, Fiscales Adhoc. Der Umgang mit der Diktatur wurde spielerischer. Alfredo Castro und Rodrigo Pérez vom Teatro La Memoria waren damals auch mit dabei. Wir machten Kunstaktionen, szenische performances, um Stimmung in die Feste zu bringen. Als Beispiel dafür, wie anders unser Umgang mit der Diktatur war, möchte ich folgende kurze performance beschreiben: Mehrere Schauspieler sitzen lesend vor Fernsehapparaten, in denen Pinochet redet. Währenddessen singen wir „o, o, oonly you" von Elvis Presley. Es entstand eine ganz neue Lesart, die auch anders war als jene dritte Lesart, die Alfonso de Toro später als den Ursprung eines postmodernen Ansatzes im lateinamerikanischen Theater gewertet hat. Hinzufügen möchte ich noch, daß vieles von dem, was in dieser Zeit im Trolley als Ort des Widerstands stattfand, ganz abgesehen von den Inszenierungen, die ich dort erarbeitete, seit Wiedereinführung der Demokratie heutzutage zur anerkannten Kultur zählt. Dazu gehören Maler, die damals dort ihre Bilder zeigten, genauso wie Theaterleute, Tänzer und Musiker. Ich möchte Teile eines Manifestes aus dem Jahr 1984 vorlesen, in dem ich meine Auffassung von Theater zu Papier gebracht habe. Sein Titel lautet „Manifest wie in alten Zeiten für ein autonomes Theater". Dort heißt es: „Wir müssen die Codes und die Bilder des Theaters verändern, um nicht so zu sprechen, wie sie sprechen, um die Dinge nicht so zu sehen, wie sie sie sehen, um sie nicht so darzustellen, wie sie sie darstellen. Wir wollen zum ABC zurückkehren, die Vokale des Theaters neu bestimmen, seinen Raum, das Bühnenbild und vor allem die Schauspielkunst. Den Schauspielern nützt es nichts, wenn sie [die Machthaber, d. Hrsg.] eine neue Schule fiir ein Neues Theater gründen; ihre Aufführungsräume brauchen wir nicht, ihr Publikum um so mehr. Die Inszenierung ist das Alphabet, die plastische und graphische Gestalt, und der Schauspieler bewegt sich in diesem Raum, im kollektiven Raum. Die sogenannte cinematographische Montage entsteht auf der Bühne und ist ein fortlaufendes Assoziieren von vergangenen und gegenwärtigen Situationen, von Wirklichem und Eingebildetem." Und an anderer Stelle heißt es: „Gegen das Unbeschreibliche und die Gewalt wagen wir nun, die szenische Kraft zu setzen. Keine Klagen mehr und auch keine Komödien. Und für einen Augenblick vergessen wir unsere ewige willfährige, harmoniesüchtige und konkubinenhafte

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Passivität. Autonom sind wir, weil wir nichts besitzen und von keinem etwas bekommen haben. Autonom, weil wir uns selbst hervorgebracht haben und uns selbst bestimmen." Wir fühlten uns unabhängig von der herrschenden Ideologie der Parteien. Daraus entstand eine Vielzahl von Stücken. Meine ersten Stücke Historia de un galpön abandonado (Geschichte eines verlassenen Schuppens), Cinema Utoppia und 99 La Morgue (99 Das Leichenschauhaus) sind Metaphern für die Befindlichkeit des Landes. Zuerst waren wir die Bewohner eines verlassenen Schuppens, wo uns ein riesiger Kleiderschrank beherrschte, in dessen Innerem die Elite lebte. Dann waren wir im Kino und sahen einen Film, ohne ihn zu verstehen, dann in einem Leichenschauhaus, eine Metapher für die Gesellschaft unter der Diktatur. Die Inszenierung von Cinema Utoppia zeigte ein altes Kino, in das Menschen aus den 50er Jahren kommen. Oben auf der Leinwand sah man einen Zukunftsfilm, der in den 80er Jahren spielte, in dem das gezeigt wurde, was wirklich in Chile geschah, das Exil, die Verschwundenen. Damit eröffnete das Stück zwei Zeitebenen, und dessen Situation glich ein wenig unserer eigenen Situation, denn wir erlebten damals eine Wirklichkeit, die wir nicht verstehen konnten. Mein Stil steht in direkter Verbindung zum Raum, und daher bezeichne ich mein Theater auch als eine „Dramatik des Raums". Wenn Sie das Stück lesen, wird es sicherlich etwas schwierig für Sie sein, sich diese Ebenen bildlich vorzustellen. Aber sobald der Text auf die Bühne kommt, entwikkeln sich die Situationen und Verbindungen automatisch, denn die Struktur des Textes ist mit der poetischen Struktur des Raums verbunden. Ein Regisseur kann sich nicht einfach hinstellen und mit den Monologen arbeiten, sondern er muß diesen Raum erschaffen. Der Inhalt dient der Bühne als Schema. Ich verspürte die Notwendigkeit einer Dramatik, die es mir möglich machte, die gleichen Inhalte wie bisher, also Liebe, Tyrannei, Diktatur mit Hilfe der Überlagerung all dieser Elemente und einer neuen Struktur zu übermitteln. Mein Ziel war es, daß sich die Wahrnehmung der Menschen, die das Stück sahen und wußten, daß es Repression und Verschwundene gab, verändern konnte. Denn nach 17 Jahren der Diktatur haben die Menschen die Fähigkeit verloren, dies zu sehen. Die Aufgabe des Theaters bestand damals für mich nicht nur in der Anklage, sondern auch darin, im Publikum wieder Gefühle zu wecken, es wieder das fühlen zu lassen, was uns schon ganz alltäglich erschien. Egal, ob in einer Diktatur, in der Liebe oder in bezug auf ganz simple Dinge, ist es uns Dramatikern ein ständiges Anliegen, die Menschen zu lehren, die Dinge wieder zu sehen. Das ist unser Beruf. In bezug auf den Inhalt war es in Cinema Utoppia das erste Mal, daß Pinochet unmittelbar von der Bühne aus bedroht und beleidigt wurde. „Tyrann der Utopie!" wurde ihm zugerufen, und ein flashback zeigte die ewig

Cinema Utoppia.Text und Regie: Ramón Griffero

Río abajo. Text und Regie: Ramón Griffero

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lebenden Verschwundenen. Man fragt sich, warum die Diktatur damals nicht eingriff. Es gab zwar Drohungen und Leute, die verfolgt wurden, aber die Existenz dieses autonomen Theaters wurde nicht angetastet. Das Wichtigste im Trolley war, daß es dort keine Zensur gab, man sprechen konnte, eine Stimme sein konnte. Das Theater war zu dieser Zeit das einzig vorhandene Kommunikationsmedium. In manchen Zeitungen war es verboten, Fotos abzudrucken. Daher kündigte ein Teil der Zeitungen die Premiere von 99 La Morgue an, indem statt eines Fotos ein weißer Fleck gezeigt wurde. In allen anderen Häusern wurde Theater gespielt, das ich als „kulturelles" Theater bezeichne. Man spielte Tschechow, klassische Stücke, Opern - Pinochet liebte die Oper. Einer der Gründe, die von den Machthabern herablassend für ihre „tolerante" Haltung genannt wurde, war, daß sie fragten, wieviele Leute können das Stück sehen? 10.000? 20.000? Was macht das schon, es sind doch sowieso die gleichen Kommunisten, die sich dort selbst sehen. Zum jetzigen Zeitpunkt erlebt das chilenische Theater einen ungeheuren Aufschwung. Im Januar standen 60 Produktionen auf den Spielplänen und die Theater sind ausverkauft. Mein Stück Rio abajo lief besser als Pocahontas, 400 Personen paßten in den Saal und noch 150 weitere standen vor der Tür. Die Erklärung dafür ist, glaube ich, daß das Theater wie eine Art Antikörper funktioniert. Während es unter der Diktatur die Stimme eines Protestmediums war, ist es heute die Stimme, um uns selbst zu begegnen. Unter diesen 60 Inszenierungen ist kein einziger Klassiker, kein Shakespeare, kein Molière; alle Stücke sind entweder Adaptionen oder chilenische und auch lateinamerikanische Stücke. In den letzten zwei Jahren hat mein Theater, das ich seit 17 Jahren schreibe und inszeniere, Anerkennung gefunden, spät, aber immerhin. Es ging plötzlich sehr schnell, denn ich erhielt viele Preise. Die Anerkennung, die ich in 17 Arbeitsjahren nicht erfahren hatte, häufte sich in den letzten zwei Jahren. Ich sage dies auch, weil wir dies weniger den Institutionen als dem Publikum verdanken, das vom Theater fordert, Stellung zu beziehen. Unser Theater kann keinen Ibsen mehr gebrauchen. Es ist ein Bedürfnis der Zuschauer, die eine nationale Dramatik sehen wollen.

Heidrun Adler, César Campodónico, Alfredo Goldstein, Roger Mirza, Valeria Risi Das Theater der 90er Jahre in Uruguay

In den 90er Jahren präsentiert sich auf dem Theater in Uruguay eine neue Spielart des Absurden und der existentiellen Leere, die die Kultur des Landes seit Beginn dieses Jahrhunderts bestimmten. Die Ideologen haben ausgedient, die Utopien sind tot, die Technik, vor allem im Bereich der Kommunikationsmedien, erfährt eine schwindelerregende Entwicklung. Und was in der Literatur zur Fragmentierung der Erzählung, zur Auflösung der Figur des Helden in einer bedrohlichen und unverständlichen Welt führt, bewirkt auf dem Theater eine Annäherung des Autochtonen an das Importierte, des Kultivierten an das Volkstümliche, des Privaten an das Öffentliche, des Alten an das Neue, Bach und Rockmusik, Tango und Bolero. Das Theater in Uruguay zeigt in den 90er Jahren eine Vielzahl von Stilen und Einflüssen. Im wesentlichen erklärt sich dies aus der Gleichzeitigkeit mehrerer Generationen von Autoren, Regisseuren und Schauspielern. Und dies wiederum ist eine Folge der politischen Ereignisse. Während der langen Jahre der Militärdiktatur waren die meisten Theaterleute verfolgt, eingesperrt oder umgebracht worden oder waren ins Exil gegangen. Die verbleibenden Künstler hatten sich auf „unverfängliche", realistische Inszenierungen klassischer Texte und uruguayischer Stücke zurückgezogen. Wie auch in Argentinien zu beobachten, lebte das kostumbristische Theater unter dem äußeren Druck wieder auf, und die Tradition des grotesco criollo bildete Formen aus, die die Satire soweit als möglich nutzten, um die Grausamkeit des Regimes zu denunzieren. Das Aufbrechen des absurden Theaters, das im argentinischen Theater für die härter werdende Diktatur typisch ist, vollzog sich auch in Uruguay. Mit der Demokratie kehrten dann die ins Exil gegangenen Theaterleute nach Uruguay zurück und brachten das moderne Theater der Welt mit nach Hause. Regisseure wie Héctor Manuel Vidal, Nelly Goitiño, César Campodónico, Juan Carlos Moretti und Jorge Curi brachten neue Ideen und Inszenierungskonzepte und vor allem neue Vorstellungen über die Ausbildung von Schauspielern und Bühnentechnikern mit. Die Theatergruppe El Galpón kehrte zurück, und es gab neben der traditionellen Comedia Nacional von einem Tag auf den anderen wieder ein ganz mo-

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dernes Theater. El Galpón ist das älteste und erfolgreichste Ensemble Uruguays. 1949 in Montevideo gegründet, gehören heute die Escuela de Arte Dramática, die Escuela de Títeres und ein Seminario Permanente de Autores zu dem aus rund 40 Schauspielern und der entsprechenden Anzahl technischer Mitarbeiter bestehenden Theater. Sein Repertoire reicht von den Klassikern der Antike über die großen Stücke des Welttheaters bis zu den zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas. El Galpón ist ein unabhängiges Theater und wird aus Beiträgen und Spenden finanziert. Es unterscheidet sich von anderen Theatern Uruguays nicht nur durch seine lange Arbeitstradition, sondern vor allem dadurch, daß es fest in der Tradition des epischen Theaters steht und darüber hinaus nahezu alle zeitgenössischen Stilrichtungen in seiner Arbeit repräsentiert. Der Regisseur César Campodónico beschreibt die Arbeit seines Theaters am Beispiel einer Inszenierung des Lazarillo de Tormes (El Galpón, 1995): Daß dieser Text aus dem spanischen Mittelalter noch Gültigkeit hat, prädestiniert ihn geradezu für eine Theateradaption in Lateinamerika. Der Roman ist eine kleine Chronik des menschlichen Lebens. Ein neuer Mensch wird hier gezeigt, der die gewohnte soziale Ordnung verändert: Die christlichen Tugenden werden von Schlauheit und Heuchelei abgelöst. Die Gesellschaft wird hier nicht so dargestellt, wie sie sich oberflächlich zeigt, sondern wie sie ist, als Gesellschaft im Niedergang; nicht die unmittelbare Realität, sondern ein bedrückendes Vorgefühl. Wir haben 1994 mit der Arbeit an diesem Text begonnen. Für mich war es das erste Mal, daß ich bei einem Monolog Regie führte, mit nur einem Schauspieler arbeitete. Aus den sieben Geschichten, die der Lazarillo de Tormes erzählt, wählte ich drei: die des Blinden, des Priesters und des Hidalgos und für den Schluß die kurze Geschichte des Arcipreste. Wir modernisierten die Sprache, haben aber an keiner Stelle Texte erfunden, die nicht im Original vorhanden sind. Hier und da ließen wir altertümliche Wendungen stehen, damit das Publikum sich erinnert, daß diese Geschichten sich zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort abgespielt haben. Denn im Theater hilft die Distanz dem Publikum, freier zu denken und seine Schlüsse aus dem Gehörten und dem Gesehenen zu ziehen. Um die Aufmerksamkeit des Publikums festzuhalten, haben wir lange berichtende Passagen gestrichen, uns aber sonst strikt an das Original gehalten. Die Geschichte beginnt mit der Vorstellung des Helden. Der Schauspieler benutzt hier verschiedene stimmliche Elemente, um seine Geschichte vorzutragen. Zuerst spricht er mit wirrer Stimme, die von abrupten Gesten begleitet wird und uns ein Wesen vorführt, das geprügelt wurde, fast verblödet ist, ein Geschöpf aus einer miserablen Umwelt. Dann berichtet er ohne Übergang: Jetzt ist er der Schauspieler, der die Geschichte erzählt.

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Dann zeigt er sich als das Kind, das sich erinnert mit infantilen Ticks. Auf diese Weise gelangen wir in die Episode mit dem Blinden. Dieser ist erkennbar blind, mit leeren Augen und einer typischen Stimme, die mit der Mutter des Lazarillo dialogisiert. Der Schauspieler wechselt ohne Übergang von der Stimme des einen zur Stimme des anderen. Der Blinde behandelt Lazarillo grausam, und dieser rächt sich mit Streichen und verläßt ihn schließlich. Aber er erinnert sich stets seiner als seines Meisters, der ihn gelehrt hat, die Härten des Lebens zu überstehen. In der Beschreibung, die Lazarillo von seinen Herren gibt, dominiert der Widerspruch. Alle haben sie positive und negative Züge. Die Episode des Blinden wirft brutal das Thema des Hungers auf. Der Blinde gibt Lazarillo kaum etwas zu essen, und Lázaro muß sich etwas einfallen lassen, um ihm Brot und sogar den Wein zu stehlen. Wein und Brot werden im Verlauf des Spiels zu rituellen Elementen. Der Schauspieler hat die Art zu essen der verschiedenen Personen gründlich studiert: die Nüchternheit des Blinden, den Genuß des Lazarillo, die Brutalität des Priesters und die Noblesse des Hidalgo. Wenn Lázaro bereits bei dem Blinden hungern mußte, so noch mehr bei dem Priester, den er nicht so leicht betrügen kann wie den Blinden. In dieser Geschichte des Priesters wechselt der Schauspieler ständig aus einer Rolle in die andere und deutet auch die Geräusche des Regens und das Geflüster der Nachbarn an. Die Wechsel in der Darstellung gehen rasch und ohne Übergang vor sich. Mit Hidalgo hat Lázaro auch nicht mehr Glück, doch er beginnt ihn zu mögen und versorgt ihn seinerseits mit Nahrung und Wein, bis der Herr schließlich verschwindet und Lázaro bei dem Arcipreste seine Frau findet, offensichtlich die Geliebte des Arcipreste. Lazarillo jedoch akzeptiert die Situation und hat damit seinen Frieden und sein Auskommen. Während der Inszenierung wurde dieser anonyme Roman des 16. Jahrhunderts zu einem zeitgenössischen Text, wie die begeisterte Reaktion des Publikums uns immer wieder zeigte. Aus unserer Sicht hat die Technik Brechts, die Geschichte zu leben, um sie unmittelbar zu erzählen, die Distanz, die der Zuschauer zu den Schlüssen gewinnt, die die Figur aus dem Erlebten zieht, gezeigt, wie stark El Galpón in der Tradition Brechts steht. Unser Theater ist inzwischen Brechtsches Theater, ohne daß es uns bewußt wird. Autoren wie Carlos Maggi und Jacobo Langsner zeigen in düsteren und bissigen Allegorien des Landes und der materiellen und moralischen Misere seiner Bewohner die ganze Überlebenskraft des grotesco criollo; Ricardo Prieto, Luis Vidal, Ricardo Grasso stellen das absurde Theater oder die Neo-Avantgarde ohne illusionistische Szenentechnik vor: Zeit und Ort sind unbestimmt, das Bühnenbild antinaturalistisch, Dialog, Symbole und eine bedrohliche, metaphysi-

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sehe Bedrängnis betonende Atmosphäre beherrschen die Szene. Oder die Bühne wird in einen Raum verwandelt, in dem Töne, Bilder und Personen sich in einem seltsamen Maskentanz bewegen. Das sogenannte neue Theater weist einerseits Einflüsse des Living Theatre, Odin, Peter Brook, Kantor, Mnouchkine, Pina Bausch auf, andererseits übernimmt es traditionelle Elemente wie Zirkus, Tanz, Karneval und Cabaret oder ganz neue wie Video-Clip, Rockmusik, Mittel der Werbung und des Comicstrip. Das wirklich interessante junge und neue Theater repräsentieren zwei Autoren, die beide auch Regisseure sind: Alvaro Ahunchaín ist zweiunddreißig Jahre alt und Roberto Suárez fünfundzwanzig. Ahunchaín ist Literaturprofessor und hat sich der Werbung verschrieben; Suárez kommt aus einer Theaterschule in Montevideo, ist weitgehend Autodidakt und liebt die Science-Fiction-Literatur. Ahunchaín hat mit dem Komiker Roberto Barry in populären Komödien gespielt und ist dann in die Gruppe Teatro de Todos eingetreten, die sich mit zwei Stücken in den letzten Jahren der Diktatur an die Spitze der Theaterbewegung setzte. In beiden hatte die Regisseurin Stella Santos mit expressionistischen Elementen versucht, direkte oder indirekte Anspielungen auf die Situation des Landes zu machen. Das erste Stück war Una libra de carne von Agustín Cuzzani, in dem die Justiz in Frage gestellt wird, das zweite war La república de la calle des Uruguayers Washington Barale, das ein historisches Ereignis aufgreift, nämlich den Selbstmord eines Expräsidenten, als ein Diktator die Macht ergreift. Ahunchaín hat an der Bearbeitung des Textes aus den 70er Jahren mitgearbeitet und spielte eine der Hauptrollen. Seine Arbeit als Autor begann er erst in dem heute nicht mehr existierenden Theater Tablas mit dem Stück El séptimo domingo, ein sichtlich vom absurden Theater Ionescos beeinflußtes Stück über einen Mann, der langsam von einem Ungeheuer verschluckt wird. Dieser Einfluß zeigt sich auch noch in seinem zweiten Stück Nuestra amante, das dritte, La felicidad está en las cosas simples ist dann eine Satire auf die Spielshows im Fernsehen. Anerkannt als Autor wurde Ahunchaín erst mit Como vestir a un adolescente, 1985, das er selbst „Blätterteiggebäck in einem Akt" nennt. Nach einer etwas schematischen, aber äußerst wirksamen Einleitung stellt der Autor einen Jugendlichen verschiedenen Frauen gegenüber: der Mutter, der Großmutter, der Lehrerin, der Schulfreundin, der Prostituierten, der Psychologin. Alle diese Frauen ziehen den jungen Mann an. Dabei sitzen sie in Rollstühlen, die von einem Mann mit dem Namen Anders geschoben werden, der im ganzen Stück kein Wort sagt. Das Spiel in Schwarz-Weiß wird in einem leeren Raum durch die ständige Bewegung von Annäherung und Entfernung der

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Frauen zu dem jungen Mann bestimmt. Mit schwarzem Humor zeigt Ahunchain die Vorstellung des jungen Mannes von seiner Welt. Der Naturalismus des konventionellen Theaters wird radikal aufgebrochen, die Figuren sprechen in kurzen Sätzen mit Wiederholungen, die einen bestimmten, gebrochenen Rhythmus herstellen. Die verschiedenen Altersstufen mit ihren typischen Problemen werden durchlaufen. Das Blätterteiggebäck, auf das der Untertitel anspielt, ist von Ameisen heimgesucht, die es verschwinden lassen - sprich: den jungen Mann zerstören - und in den formellen, verheirateten Mann mit Kindern verwandeln, der er nie hat werden wollen. Ahunchain inszeniert neben seinen eigenen Stücken die klassischen Stücke der Theaterliteratur mit neuen Experimenten. Sein Macbeth beginnt zum Beispiel damit, daß die Zuschauer durch schmale Gänge gehen müssen, in denen sich ihnen die Hexen an die Füße krallen, um auf die Bühne zu gelangen, auf der bei geschlossenem Vorhang Lady Macbeth ihren Mann zum Mord überredet. Dann hebt sich der Vorhang, aus dem Saal applaudieren die Schauspieler dem auf der Bühne stehenden Publikum und fordern es auf, im Saal Platz zu nehmen. In seiner Inszenierung des Don Juan von Molière steht ein riesiges Bett in der Mitte der Bühne, und während Don Juan sich seinen orgiastischen Vergnügungen hingibt, greifen von unten viele Hände nach den Personen im Bett. In La Celestina von Fernando de Roja werden die Figuren inmitten eines gewaltigen Spinnennetzes mit Puppen vertauscht. All that Tango, eine uruguayische Version von All that Jazz (Teatro Espejo, 1988) berichtet von der Begegnung eines Künstlers mit dem Tod, eingerahmt von Tangoambiente, monströsen Puppen und Theaterkritikern. Das Stück hat stark autobiographische Züge wie auch Como vestir a un adolescente und Hijo de rigor, ein Stück, das er nicht selbst inszeniert hat. Es ist ein Boxkampf zwischen zwei Männern und einer Frau, in dem Kampfrunden und dramatische Szenen abwechseln. Julio ist vom Leben zerstört, geprügelt, unterdrückt und verraten. Cross ist der Sieger, der Verräter, der Dominante. Beide boxen um die Macht. Dazwischen steht eine Frau; sie gibt den Beginn der Kampfrunden an und zieht sich im Verlauf des Stückes immer weiter aus. Wenn Julio am Ende zu Boden geht, hat Cross einen Orgasmus. Deutlich ist in diesem Stück das „Markenzeichen" des Autors zu erkennen: der schwarze Humor und ein unglücklicher Ausgang „ohne ein Fünkchen Hoffnung, das man von ihm erwartet". Einen neuen Arbeitsabschnitt beginnt Ahunchain mit Miss Mártir (1989) in der Comedia Nacional, das ihm den Premio Florencio als bestes Schauspiel des Jahres einträgt. Hier sind Schauspieler beim Proben. Dabei entstehen unerwar-

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tete, ungewöhnliche Szenen in einem Laden für Dummköpfe, wo es Anzüge für reaktionäre Dummköpfe, postmoderne Dummköpfe oder progressive Dummköpfe gibt; oder ein Wettbewerb für Märtyrer, den niemand gewinnen kann. Eine Hebebrücke geht im Handlungsverlauf hoch und die Schauspieler verschwinden in der Tiefe. Der letzte hängt schließlich an der vertikal aufgerichteten Brücke wie ein Christus am Kreuz, und ein Schwall Abwässer ergießt sich über ihn, da Gott die Kette gezogen hat. Ahunchain sagt, er habe nach Miss Mártir geglaubt, den Tiefpunkt des Negativen erreicht zu haben, und müßte mit seinem nächsten Stück diesen Kreis sprengen. Doch dieses nächste Stück nannte er Se deshace más fácil el país de un hombre que el de un pájaro („Man zerstört leichter das Land eines Menschen als das eines Vogels") nach einem Satz aus der Schlußszene von Barranco abajo von Florencio Sánchez, wo der Protagonist Don Zoilo meint: „Se deshace más fácil el nido de un hombre que el de un pájaro" („Man zerstört leichter das Nest eines Menschen als das eines Vogels"), bevor er sich umbringt. Die Handlung spielt in einem öffentlichen Bad, wo ein junger Werbetexter und ein Regisseur des experimentellen Theaters zusammentreffen. Sie verkörpern zwei entgegengesetzte Weltanschauungen; der eine zeigt sich dem Abenteuer, dem Experiment aufgeschlossen, der andere glaubt alles zu wissen und in stupiden Slogans ausdrücken zu können. Der eine tendiert zur progressiven Linken, der andere zur neoliberalen Rechten. Ahunchain macht sich über beide lustig. Sie befinden sich in einem Raum, einem öffentlichen Raum, aus dem sie nicht heraus können. „Vor zwanzig Jahren hätten wir uns gegenseitig umgebracht", sagt der Theatermann, „heute stehen wir da wie mit einem Etikett um den Hals, das unsere politische Position bezeichnet, aber ohne jede Aggression." Ahunchains jüngstes Stück ¿Dónde estaba Usted el 27 de junio? ist bisher nicht aufgeführt worden. Der 27. Juni markiert formal den Beginn der Militärdiktatur in Uruguay. Ahunchain stellt die Vorbereitung dafür auf die Bühne, die Jahre, in denen die Menschenrechte verlorengingen, die Streitkräfte immer mehr staatliche Macht ergriffen und eine ultralinke Guerilla die Sicherheit und den Bürgersinn zersetzte. Mit Elementen eines Musicals entwickelt er am Beispiel eines Paares, das vom Lande in die Hauptstadt kommt, dort heiratet und sich aus Gründen höherer Gewalt wieder scheiden läßt, das Klima des Landes. Der berühmte Tango Cambalache fuhrt die Handlung, während aus den Koffern der jungen Leute Personen, Sänger und Tänzer steigen. Sehr wunde Punkte der uruguayischen Gesellschaft werden hier berührt: die Kollaboration der Kirche mit der Diktatur, die Exekution der Tupamaros etc. Der Wechsel von Öffentlichem und Privatem, schwarzem Humor und

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Pathos, schafft dem Stück ein gewaltiges Potential an Theatralität. Doch kein Theater wagt eine Auffuhrung. Innerhalb der verschiedenen Theaterstile, die heute in Uruguay zu sehen sind, zeigen sich die Spuren der Diktatur und des wirtschaftlichen und sozialen Verfalls des Landes im Verlust zahlreicher nationaler Mythen, die sich auf irgendeine Weise in den Symbolen dieser Gesellschaft ausdrücken. Wir beobachten einen radikalen Wandel in der Form des Theaterspiels, eine Abwendung vom Naturalismus, von der Politik, vom Dialog-Theater hin zu unfertigen Produktionen, einer ironischen Revision der Geschichte, zur Parodie, Burleske, der Pastiche, zum Kitsch als entwertende, lächerlich machende Formen der Darstellung, die mit der Gebrochenheit des kollektiven Bewußtseins in direktem Zusammenhang stehen. Zusammenfassend sind drei wesentliche Merkmale dieses Theaters hervorzuheben: 1. Die Suche nach einer neuen Körpersprache. Seit Beginn der 80er Jahre gibt es Inszenierungen, die deutlich nach neuen Paradigmen ausgerichtet sind, aber erst seit Mitte der 80er Jahre kann von einer neuen Theaterform gesprochen werden. 2. Die Suche nach einer neuen Szenensprache. Aufführungen gestalten sich in Anlehnung an das Modell von Ariane Mnouchkine, mit simultanen Szenen, um die sich kleine Gruppen von Zuschauern formieren, im ganzen Saal und im Foyer. Die Logik der Handlung wird zugunsten von Traumbildern verworfen, die Gefühle und Gedanken verweben und die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers hervorheben. Das neue Theater sucht Darstellungsräume mit beweglichen Grenzen zwischen Zuschauer und Bühne; man spielt auf einem Kinderspielplatz Richard III., im Salon eines Museums das Leben von Tschaikowsky, oder in einem durch die Stadt fahrenden Autobus eine Liebesgeschichte. 3. Die Einbeziehung von Elementen der populären Farce und des Karnevals in das literarische Theater. Echte Straßenkapellen entfalten ihre Choreographie auf der Bühne und zeigen den Kontrast ihrer prachtvollen Aufmachung zur Welt der Armen mit ihren Lumpen, ihrem Hunger, ihren Hoffnungen und Träumen. Realistische Szenen verschmelzen mit dem Gesang und dem Tanz der Straßenmusikanten, die überall im Saal auftauchen und auf diese Weise eine doppelte Ebene von Fiktion und Aufführungsstil schaffen, die mit gro-

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tesken, surrealistischen und poetischen Situationen und Dialogen, in keineswegs willkürlichen Brüchen der Konventionen kontrastieren, sondern gestützt ist auf die Tradition des uruguayischen Karnevals. Allen Inszenierungen des zeitgenössischen Theaters in Uruguay, ob sie besondere Schauspieltechniken oder Auffuhrungsräume suchen oder sich in traditionellen Bahnen bewegen, ist nicht nur ein starker Synkretismus gemeinsam, sondern vor allem der grundsätzlich intuitive Charakter, der sich über Doktrinen, Schulen und Theorien hinwegsetzt. Themen, Stilmittel und Instrumente aus der indianischen Vergangenheit des Landes, des Gaucho- und des Gardel-Mythos stehen heute neben Klassikern und Modernen des Welttheaters, Werken nationaler Zeitgenossen und Adaptionen nicht-dramatischer Texte durch Kollektivtheater. Tanz, Zirkus, Karneval, Multimedia, Video-Clip und immer wieder Brecht in den verschiedensten Produktionstechniken eines weniger elaborierten Theaters vervollständigen das Panorama der Heterogenität.

Francisco Javier, Halima Tahän Das Theater der 90er Jahre in Argentinien Ein Bericht

Francisco Javier: In den letzten Jahren hat das Theater in Buenos Aires wie auch im Landesinneren eine spürbare Neubelebung erfahren. Die Theaterstatistiken des Jahres 1995 weisen weit höhere Besucherzahlen in den Theatern von Buenos Aires aus als die der Jahre zuvor. Diese Zahlen überraschten uns alle, denn eigentlich war immer von einem Publikumsschwund die Rede, da das Theater in Argentinien nicht mehr die gleiche finanzielle Unterstützung wie früher bekommt. Orientiert man sich an den Zahlen der Außenhandelsbilanz, so hat sich die wirtschaftliche Situation unseres Landes verbessert. Leider hat sie sich aber für den einzelnen Bürger sichtlich verschlechtert. Es ist offensichtlich, daß die unteren Schichten immer mehr verarmen, die wirtschaftliche Stabilität des Mittelstands bedroht ist und nur eine Minderheit vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Das Theater ist wirtschaftlich gesehen nicht interessant, da es kein Geld abwirft. Wie zu allen Zeiten bieten kommerzielle Veranstalter Theaterauffiihrungen mit Ensembles, die mit bekannten Fernsehschauspielern besetzt werden. Daneben gibt es die Inszenierungen der Altemativtheater, in denen Regisseure, Schauspieler und Autoren aus reiner Freude am Theater arbeiten, jedoch keiner etwas verdient und manch einer Verluste macht. Mangels einer echten Theaterpolitik halten sich die staatlichen Theater so gut sie können Uber Wasser und zahlen schlecht, wenn sie überhaupt zahlen. In Buenos Aires gibt es zwei große staatliche Bühnen, das Teatro Nacional Cervantes und das Teatro Municipal General San Martin. Das Cervantes ist schon vor längerer Zeit ins Wanken geraten und war eine Weile ohne Leitung. Sein Hauptproblem ist jedoch, daß ihm das nötige Geld fehlt, um über die Saison zu kommen. Dies soll die Instabilität des Theaters in Buenos Aires deutlich machen. Dennoch gibt es überraschenderweise eine große Aktivität in der Theaterszene. Besucht ein Ausländer Buenos Aires, so wird er angesichts der allgemeinen Situation und der finanziellen Probleme erstaunt sein, wenn er in die auflagenstarke Tageszeitung El Clarin schaut und auf der Veranstaltungsseite mindestens siebzig verschiedene Theaterauffiihrungen für ein Wochenende angekündigt findet. Diese widersprüchliche Si-

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tuation weiß sich keiner zu erklären. Große Veränderung finden statt. Zur Belebung des Theaters in den Provinzen hat der Staatliche Kulturrat ein Festival ins Leben gerufen, die Fiesta National de Teatro, das jeweils zu Jahresende in einer anderen Provinz stattfindet. Besonders wichtig war das Festival im November letzten Jahres, als jede Provinz eine in einem internen Wettbewerb zuvor ausgewählte Inszenierung entsandte, die besonders gelungen und interessant war. In der Folge möchten wir einige Inszenierungen vorstellen, die uns repräsentativ für das Panorama des argentinischen Theaters der 90er Jahre erscheinen.

Realistisches Theater Die Mehrzahl der Inszenierungen, die das Publikum in einer Saison zur Auswahl hat, zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine lineare dramatische Geschichte erzählen und Personen zeigen, die den menschlichen Typen, denen wir in unserer Alltagswelt begegnen, sehr nahe sind. Die Worte dieser Figuren könnten von jedermann stammen und ihre Konflikte untereinander sind für den Zuschauer leicht als die eigenen wiederzuerkennen. Die „vierte Wand" wird im allgemeinen in diesen Inszenierungen beibehalten. Auch den fiktionalen Raum kann der Zuschauer mühelos wiedererkennen, denn das Bühnenbild bildet in der Regel einen für das Leben des durchschnittlichen Argentiniers typischen Raum nach, als Innenraum oder Straßenszene. Wird Musik eingesetzt und ist die Inszenierung aus Buenos Aires, so werden Tangos, Milongas oder Neukompositionen, die in dieser Tradition stehen, gespielt. Der Durchschnittszuschauer fühlt sich angesichts dieser Art von Theater wohl und sicher, denn es entspricht unserer als „realistisch" bezeichneten Theatertradition. Sie bildet das Rückgrat unseres Theaters. Es gibt zwar eine ungeheure Vielfalt, aber ich bin davon überzeugt, daß das argentinische Theater besser verständlich wird, wenn man weiß, daß der Realismus sein Rückgrat ist. Davon ausgehend lassen sich die unterschiedlichen Theatertypen entweder als Varianten oder Abweichungen von dieser Grundtendenz beschreiben. Eine dieser Varianten, von der immer die Rede ist und die eine lange Tradition in unserem Theater hat, ist das groteske Theater, das Anfang dieses Jahrhunderts von dem Dramatiker und Regisseur Armando Discépolo geschaffen wurde. Die anerkannten Dramatiker meiner Generation und sogar noch einige jüngere fühlen sich dieser Konzeption von

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Theater verpflichtet. Seit Discépolo und in allen möglichen nur erdenklichen Varianten, die in seiner Nachfolge entstanden sind, fühlt sich der Zuschauer von jener Figur wiedergegeben, die, mit den Worten von Discépolo ausgedrückt, „über das Drama zum Lachen gelangt". Letztlich ist es mehr oder weniger die gleiche realistische Figur des traditionellen Theaters, allerdings karikiert und parodiert. In den 90er Jahren waren in Buenos Aires zum Beispiel die Stücke El patio de atrás von Carlos Gorostiza und Viejos conocidos von Roberto Cossa zu sehen. Es handelt sich um zwei für das argentinische Theater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr repräsentative Autoren, die - so könnte man sagen zum Kanon gehören. El patio de atrás war ein großer Erfolg; es wurde erst eine Saison in Buenos Aires, dann in Mar del Plata und dann wieder in Buenos Aires gespielt, erhielt Preise, sehr gute Kritiken und fand großen Zulauf vom Publikum. Der Autor/Regisseur Gorostiza und seine Schauspieler führen auf brillante Weise die Ticks, Sprachgesten, Reaktionen und unüberwindlichen Konflikte von vier Brüdern um die fünfzig vor, die, allesamt gescheitert, im Innenhof des väterlichen Hauses in freiwilliger Verbannung leben. Das Publikum biegt sich vor Lachen und hat gleichzeitig Mitleid mit den Figuren und vielleicht auch mit sich selbst. Wir bemitleiden uns selbst, weil es uns möglich erscheint, daß wir alle in Argentinien im Hinterhof eingesperrt leben und nicht auf die Straße gehen und die eigentlichen Konflikte in Angriff nehmen. Diese Inszenierung scheint mir das beste Beispiel für diese Art Theater in den letzten Jahren zu sein.

Alternatives Theater Halima T a h a n : Neben dem kanonischen, realistischen Theater gibt es in Buenos Aires eine große Gruppe von Theatermachern, die sich dem Experiment verschreiben. Sie orientieren sich u.a. an ausländischen Modellen, die sie aufbereiten und übertragen. Die bekanntesten Vorbilder sind Tadeusz Kantor, Eugenio Barba, Tadashi Suzuki, La Fura dels Baus, Pina Bausch. Diese Einflüsse haben bewirkt, daß die Gruppen des alternativen Theaters die Theaterpraktiken von ganz unterschiedlichen Standorten aus neu aufgenommen, aufbereitet und in ihre Theaterarbeit integriert haben, wobei betont werden muß, daß auch sie einen anderen Umgang mit dem Text haben (als das realistische Theater) und normalerweise während der Arbeit an der Inszenierung ihre eigenen Texte schaffen. Sowohl ihr Verhältnis zur Sprache als auch zum Körper ist ein anderes; sie entfernen

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sich von den sozialen Rastern, die vorschreiben, wie der Umgang mit dem Körper zu sein hat. Die Antwort dieser Gruppen ist ein Zugang, der Raum für die Umsetzung von Symbolen, von Schwingungen läßt. Manchmal verzichten sie sogar ganz auf den Text. Francisco Javier: Für die jungen Schauspieler ist die Figur des Narren, des Clowns zu einer wichtigen Quelle der Inspiration und Erkundung in den Inszenierungen geworden. Die Gruppe El Clu del Claun hat beispielsweise sehr interessante Arbeiten in dieser Richtung gemacht. Ich selbst habe vor drei Jahren mit einem der Schauspieler von La Banda de la Risa, Tony Lestingi, und mit einem weiteren Schauspieler, Mauricio Dayub, eine Inszenierung gemacht, für die das Stück Voulez-vous jouer avec moi? von Marcel Achard den Anstoß gab, das die Geschichte zweier Clowns erzählt. Wir machten eine sehr eigenwillige Interpretation der Beziehung dieser zwei Figuren zueinander. Weiterhin finden wir in dieser Linie des „anderen" Theaters eine Ausrichtung, die - der Einfachheit halber - als „Bildertheater" bezeichnet werden könnte. Diese Tendenz, alles Bildhañe zu betonen, häufig zu Lasten der anderen Sprachen einer Inszenierung, ist mehr oder weniger Uberall auf der Welt die gleiche. Aufgrund ihrer spektakulären Inszenierungen und ihres starken Einflusses auf die argentinische Jugend ist La Organización Negra eine der wichtigsten Gruppen dieser Ausrichtung. Persönlich hatte ich sehr viel mit den Mitgliedern dieser Gruppe zu tun, da ich am Ende der Diktatur übergangsweise zum Direktor der Schauspielschule ernannt wurde. Die Theaterleute, die sich später zu dieser Gruppe zusammenschließen sollten, waren damals unsere Schüler und machten uns das Leben schwer. Sie bereiteten uns große Kopfschmerzen. Man mußte sich wirklich fragen, warum sie die Schauspielschule besuchten, wenn das, was sie eigentlich wollten, etwas völlig anderes war als das, was an der Schule unterrichtet wurde. Sie fanden dort nicht, was sie suchten. Sie fanden es erst, als sie im selben Jahr, 1984, zum ersten Festival nach Córdoba fuhren, diesem großen Theaterfestival, das allen Theaterleuten über mehrere Jahre hinweg soviel gegeben hat. Dort lernten sie La Fura deis Baus aus Katalonien kennen. Es entstand ein sehr wichtiger Kontakt, der großen Einfluß auf alle ihre Inszenierungen haben sollte. Es entstand eine ganz außerordentliche Inszenierung, La Tirolesa, die zweimal in Buenos Aires im Bereich des Obelisken, der sich an der Kreuzung der Avenida 9 de Julio mit der Avenida Corriente befindet, aufgeführt wurde. Sie schufen etwas, das wirklich die Grenzen des Vorstellungsvermögens in bezug auf das Machbare bei der Organisation ei-

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ner Aufführung überstieg. Natürlich gab es in der Inszenierung theatralische Elemente; eine größere Rolle spielte jedoch die Akrobatik. Meiner Meinung nach sind die Schauspieler vor allem gute Akrobaten, Leute, die in vielen Metern Höhe Kunststücke machen, bei denen es einem schon vom Hinschauen schwindelig wird. Sie standen auf der Spitze des Obelisken und seilten sich von dort aus ab. Dadurch erzeugten sie ein sehr irreales Gefühl beim Zuschauer. Ich glaube, durch diese Aufführung hat sich die Wahrnehmungsfähigkeit des Zuschauers völlig gewandelt. Es gab dort oben so viel zu sehen, und als Zuschauer mußte man eine ganz ungewohnte Haltung einnehmen. Normalerweise geht man ins Theater, setzt sich hin und sieht ganz bequem die Aufführung vor den Augen ablaufen. Im Gegensatz dazu mußte man bei La Tirolesa ständig verfolgen, was Uber einem geschah. Irgendwann verlor man das Gefühl für den Raum. Verfolgte man die Dinge, die passierten, und die Schauspieler, entstand eine vollkommene Verzerrung des Raums, in dem man sich selbst befand. Die Gruppe spaltete sich und einige Mitglieder von La Organización Negra gründeten daraufhin die Gruppe De la Guarda, der andere Teil begann mit dem Projekt La línea histórica. Vor kurzem hat De la Guarda in dem Kulturzentrum Recoleta eine sehr spannende und interessante Inszenierung Periodo Villa Villa gezeigt, wieder auf der Grundlage dieses Spiels mit den Bildern, die in den Raum projiziert werden.1 Einer der interessantesten Einfälle der Inszenierung ist, daß der Zuschauer in einen völlig leeren Raum mit einer ziemlich niedrigen Decke kommt: Untermalt von Musik und Licht tauchen an der Decke, die durchsichtig wird, eine Reihe von Bildern auf. Bewegliche Schatten und Objekte werden sichtbar. Man weiß nicht genau, was es ist. All dies geschieht im ersten Drittel der Inszenierung und wirkt sehr anziehend. Es schafft eine Atmosphäre des Unbestimmten, die jedoch sehr suggestiv und stimulierend auf den Zuschauer wirkt. Plötzlich bekommt die Decke, von der man nicht genau weiß, aus was sie gemacht ist, an einer Stelle Risse und beginnt dann, ganz aufzureißen. Das erste Mal, als ich die Aufführung gesehen habe, dachte ich, die Decke sei unter zu großem Druck gerissen, aber dann rissen noch mehr Löcher auf, bis am Ende die ganzen Decke herunterkam. Dadurch wird alles, was man oberhalb der transparenten Dekke wahrzunehmen glaubte, Wirklichkeit. Man entdeckt, daß die Akteure an Seilen hängen und sich in diesem Luft-Raum im Kreis bewegen und mit höchster Geschwindigkeit über die Köpfe des Publikums hinwegsau1

Diese Inszenierung war im Sommer 1997 auch in München und Osnabrück zu sehen.

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sen. Es entsteht ein Spiel mit wunderschönen Bildern. Folgendes Bild ist mir am stärksten in Erinnerung geblieben: Eine Schauspielerin, die ebenfalls angeseilt ist, schlägt mit ihrem Körper gegen eine Wand, die zunächst wie aus einem roten Material gemacht scheint. Erst dann bemerkt man, daß es sich um eine Art Hochglanzfolie aus Plastik handelt, die sehr gut die Farbe annimmt und die beim Zusammenstoß mit dem Körper nachgibt. Die Schläge werden immer heftiger, und es entsteht langsam eine Art enger Durchbruch. Der gegen die vertikale Oberfläche schlagende Frauenkörper erzeugt wirklich einen sehr merkwürdigen und höchst anziehenden, plastischen Eindruck. Diese Inszenierung ist im Augenblick ungeheuer erfolgreich. Premiere war im Oktober 1995. Ich glaube, meine große Bewunderung für diese Gruppen deutlich gemacht zu haben, und wiederhole noch einmal, daß La Tirolesa für mich ein Meilenstein in der argentinischen Theatergeschichte ist. Es war wirklich eine ganz außergewöhnliche Inszenierung. Und meine Bewunderung gilt nicht nur dem Resultat der Inszenierung, sondern auch der Art und Weise, wie die Künstler es geschafft haben, sie auf die Beine zu stellen. Kein Theaterwissenschaftler hat sich bisher darüber Gedanken gemacht. Aber ich werde jemandem vorschlagen, Nachforschungen anzustellen, wie es ihnen gelungen ist, die Stadtverwaltung davon zu überzeugen, die beiden Male, die La Tirolesa gespielt wurde, die großen Straßen zu sperren. Wie konnten sie die Ämter dazu überreden, einen komplizierten Aufbau zu genehmigen, von dem aus großer Höhe Wasser hinunterregnet? Es war wie eine Art Wasserfall. Wie überzeugten sie die Ämter, ihnen die Erlaubnis für ein Gerüst mit Feuer zu erteilen? Dies ist ein sehr interessantes Kapitel, Uber das ich gern mehr wüßte. Ich kann mir gar nicht vorstellen, woher sie die Kraft, den Einfluß, die Geduld nahmen, ganz zu schweigen von der Arbeit, die die körperliche Vorbereitung erforderte, um diese Aufstiege machen zu können, denn es war so wie Hochgebirgsklettern. Wie haben sie die Durchführung geschafft? Im Vergleich dazu habe ich in meinem Leben nur einige winzige Dinge zuwege gebracht. Ich finde, es ist eine Heldentat, ganz abgesehen von dem, was ästhetisch erreicht wurde. H a l i m a T a h ä n : Alle diese Inszenierungen stehen im Kontext einer Kultur der Vermischung. Gerade bei De la Guarda wird die Aneignung von fremden Einflüssen deutlich, die sich mit dem Eigenen mischen oder manchmal ganz neue Formen hervorbringen. Dies ist möglich, weil wir in einer Kultur der Peripherie leben, einer Kultur der Vermischung, einer Kultur, in der schon Bezeichnetes neu gedeutet wird. Wir eignen uns fremdes

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Material an und geben ihm eine neue Bedeutung. Dies ist ein Schlüssel zum Verständnis unserer Kultur. Der Vorgang der Aneignung ist eine der konstanten Bewegungen, die in Abhängigkeit vom kulturellen Horizont des Augenblicks in jeder Epoche zum Tragen kommen.

Theater als Metapher oder Tribunal Gesprächsausschnitt Moderation: Klaus Völker Teilnehmer/innen: Volker Braun (Deutschland), Ramón Griffero (Chile), Kerstin Specht (Deutschland), Halima Tahán (Argentinien)

K l a u s V ö l k e r : Hat sich durch Mauerfall und Wende die Stellung des politischen Theaters verändert, hat das Theater jetzt eine andere Aufgabe? Verändert sich fílr den Autor etwas ganz Entscheidendes oder hat sich nur die Situation des Theaters verändert? R a m ó n G r i f f e r o : Sowohl in Chile als auch in Lateinamerika und in Deutschland haben die Begriffe „politisches Theater" und „Volkstheater" hinsichtlich des Diskurses, auf den der Begriff „politisches Theater" damals noch rekurrierte, und hinsichtlich der Ästhetik, auf die sich der Begriff „Volkstheater" bezog, an Wahrhaftigkeit verloren. Das muß nicht heißen, daß diese Konzepte nicht in anderer Form weiterexistieren. Sie sprachen über die Metapher im Theater. Die Metapher ist immer ein Zeichen, das der Dramatiker für seine Zeit erschafft. Während der Diktatur oder in der DDR war das kollektive Unterbewußtsein deutlich beschreibbar. Zur Zeit des Kalten Krieges, des Vietnam-Krieges, war uns dies ganz klar. Von diesem Punkt aus konnten die Künstler über politisches und künstlerisches Engagement reden, denn alle bezogen sich auf das gleiche Konzept. Nach dem Zerfall der Modelle und Systeme gibt es das politische Engagement so, wie es damals verstanden wurde, nicht mehr, denn es existiert auch nicht mehr der Bezug zum Politischen. Als das Konzept des Politischen und des Populären scheiterte, stellte sich den Theaterautoren und Künstlern in Chile und anderswo die Frage, für wen und von wo aus schreibe ich? Das kollektive Unterbewußte ist nicht mehr einheitlich, sondern es ist zerstückelt und hat sich vervielfacht. Im Theater gibt es nicht mehr nur eine Wahrheit, sondern nur noch Schizophrenie. Das Theater in Lateinamerika kann sich anhand dieser Konzepte nicht mehr definieren. Das politische Theater kann es nicht mehr geben, weil es keine Diktatur mehr gibt, keine Guerilla, keine Mauer, etc. Diese Paradigmen gibt es nicht mehr. Wir sind in ein neues Paradigma eingetre-

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ten, und der Theaterautor muß nun herausfinden, von wo aus er reden will. V o l k e r B r a u n : Wenn wir feststellen, daß so vieles zu Ende geht, daß die Utopien und Hoffnungen, ganze Geschichtsetappen abbrechen oder gar die Geschichte am Ende ist, muß man natürlich sehen, daß das Drama in der Welt weitergeht, ohne sich um unsere Konzeptionen zu kümmern. Diese alte Frage stellte sich noch bei einem Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris, wo sich Ionesco und Brecht darüber unterhielten, ob die Welt veränderbar sei. Ionesco verneinte. Brecht fragte daraufhin, woher er das wisse ... Wir sehen natürlich, daß die Welt sich auch ohne Kunst ändert, sozusagen kunstlos ändert und die Probleme sich heute in viel stärkerem Maße selbst dramatisieren. Im Grunde entsteht eine Art kunstlosen Welttheaters, das die Politik immer stärker in den Zugzwang bringt, die Probleme zu lösen oder die Welt zu retten. Das sagte Rüdiger Safranski neulich. Die Politiker sind aufgefordert, rasch grundlegende Lösungen zu finden. Es ist aber immer sehr gefährlich, wenn die Politik anfangt, allein und selbstgewiß zu handeln. Da muß man doch fragen, ob nicht eine andere Instanz nötig ist, um dieses Welttheater auf eine naive und nüchterne Weise überhaupt begreiflich zu machen, d.h. es zu buchstabieren, was ja die Ideologien nicht tun, die ihre festen Denkschablonen haben. Daraus entsteht die merkwürdige Freiheit der Kunst, sich all diesen politischen Denkweisen zu verweigern. Natürlich kann das Theater immer nur Zeichen zur Erklärung dieser Erfahrung geben. Das ganze Theaterstück kann so ein Zeichen sein, ein drastisches Zeichen, aber wir merken ja schon, auch alte Stücke, die bewährt sind und die man kennt, die funktionieren nicht mehr, wenn man sie auf dem Erfahrungsstand ihrer Entstehungszeit beläßt. Es gab in den 80er Jahren einen interessanten Vorgang im deutschen Theater, als Alexander Lang Iphigenie von Goethe inszenierte, diesen großen Vorschlag Goethes mit der humanistischen Schlußwendung: Man versöhnt sich, reicht einander die Hand und verabschiedet die Barbarei durch einen Handschlag. Jeder weiß heute, das ist eine Lösung für diesen Tag, am nächsten geht das Morden weiter, am nächsten Tag fließt Blut. Was macht man mit so einem Stück? Damals hatte Lang eine grandiose Idee: Iphigenie begann einen merkwürdigen, verzweifelten Tanz, einen Tanz, der ausdrückte, daß ihr Körper das nicht mitvollzog, daß sie in sich spürte, es geht nicht gut. Mit diesem merkwürdigen, das ganze Stück irritierenden Tanz endete das Stück. D.h. Lang hatte ein Mehrwissen hineingebracht, ohne das Stück zu beschädigen, ohne von dem großen Vorschlag Goethes etwas wegzunehmen. Es

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war seine Stärke, solche Schlüsse zu finden, die alles noch einmal in ein ganz anderes Licht brachten. Wenn man heute Inszenierungen sieht, egal welcher rabiaten oder sanften Handschrift, hat man ja das Gefühl, daß vieles, was der Regisseur einbringt, eigentlich genau die Mittel sind, die man heute beim Schreiben brauchte. Diese Fragmentarisierung, dieses Hineinnehmen von irritierenden Einschüben, Versprecher - natürlich werden die Versprecher beibehalten, das sind doch Funde auf der Probe, die man nicht preisgibt, wenn sie lustig oder verrückt sind - das geht heute auch in den Text ein, heute macht der Text diese Späße oder diese Verrücktheit, diese Wüstheit. Trotzdem ist in diesen Mitteln eine andere Erfahrung deponiert, und vielleicht sind diese Erfahrungen wirklich etwas Unersetzliches. Kerstin Specht: Meine ersten zwei Stücke waren Volkstheater, kritisches Volkstheater, wie man 1968 sagte, z.B. Lila, ein Stück über eine Philippinin, die nach Deutschland kommt und in einem Dorf die ganze Dorfstruktur auflöst. Das Stück wurde gespielt, als Solingen und die ganze Fremdenfeindlichkeit aktuell wurden. Das hatte ich gar nicht intendiert, als ich das Stück geschrieben habe, da gab es das noch gar nicht. Es war einfach ein Vorfall in meinem Dorf, den ich irgendwie weitergedacht habe. Ich fragte mich, was kann denn Theater eigentlich bei uns leisten? Das ist doch sehr wenig. Die Leute, die in ein solches Theater gehen, die sind sowieso schon der Meinung des Stücks. Sie sind schon auf der aufgeklärten Seite, und ein Skinhead würde ein Theater wie die Kammerspiele in München gar nicht betreten. Also bedient es immer nur die Leute, die sowieso schon einer Meinung sind. Deswegen habe ich den Eindruck, als wäre Theater bei uns nicht in der Weise als politisches möglich wie in Südamerika oder wie überhaupt in einer Diktatur. Wenn Achternbusch in einem Stück sagt, Franz-Josef Strauß ist eine LeberkäsSemmel, dann lachen sich alle kaputt, aber es tut auch niemandem was, und dem Achternbusch tut es auch nichts. Es riskiert auch niemand etwas. Meine neuen Stücke sind sehr viel poetischer und verdichteter. Ich wollte mehr zu der lyrischen Form übergehen, ich wollte nicht mehr dieses Direkte des Volkstheaters, wo man ein „Tribunal" noch eher auf die Bühne bringen kann. Die neuen Stücke gehen mehr in Richtung Metapher. Ich hatte das nicht geplant, man schreibt nicht nach einem Programm, sondern man schreibt spontan, und hinterher kann man sich eine Struktur dazu überlegen. Ich habe einen südamerikanischen Freund, der meinte, das Althusser-Stück (Carceri), das in der Psychiatrie spielt, sei eine Metapher für Europa. Ich erwiderte, das sei mir völlig unverständ-

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lieh; ob Südamerika keine Psychiatrie sei? Er meinte, schon, aber keine geschlossene. Carceri ist diese geschlossene Welt, diese Gefängniswelt, in der ich mich auch bewege. Ich als Autor interessiere mich eigentlich für mich, das hat Heiner Müller bereits sehr schön gesagt: Als man ihn fragte, warum er Mommsen-Block geschrieben habe, antwortete er: Ich interessiere mich eigentlich für Heiner Müller, und ich brauche eine Maske, und die Maske ist Mommsen. So sind auch in diesem AlthusserStück sehr viele Masken meiner Biographie enthalten. Insofern ist ein solches Stück sehr viel privater und sehr viel weniger politisch, obwohl es natürlich auch politisch gemeint ist, im Sinne der Verantwortung der linken Intellektuellen für Osteuropa. Auch in dem Sinne, daß die Utopien nun zu Ende sind und daß Althusser das Scheitern seiner privaten Welt und seiner politischen und philosophischen Ideen erlebt hat. Eigentlich bin ich kein politischer Autor, aber es steckt auch mit drin. Klaus Völker: Es gibt ja ganz verschiedene Möglichkeiten, sich zu äußern, oder auch etwas wiederzuerkennen. Ich halte die Antwort des Südamerikaners für sehr typisch, der eine Metapher sieht, die man hier nicht sieht. Halima Tahán: Tatsächlich ist ein politisches Theater in Lateinamerika auch nicht mehr möglich. Wenn wir über das Politische in den 70er Jahren sprechen, dann meinen wir damit, daß es damals eine Symmetrie zwischen den Texten und ihren Kontexten gab, eine Linearität. Diese Symmetrie ist zerbrochen, sie funktioniert nicht mehr. Wir gehen diese Beziehungen heute viel komplizierter an, nicht mehr so eindeutig. Vielleicht hängt dies auch mit dem Bild zusammen, das darüber besteht, wie in Lateinamerika gearbeitet wird. In bezug auf das Thema der Realität und der Surrealität bzw. auf unsere Leichtigkeit im Umgang mit dieser Surrealität ist es richtig, daß wir aufgrund unserer Eigenschaften und der Stelle, die wir innerhalb des internationalen Netzes einnehmen, mit Fragmenten arbeiten, die wir neu zur Sprache bringen. Wir arbeiten mit kulturellen Fragmenten, Textfragmenten, Informationsfragmenten. Wir sind sehr geschickt darin, diese Fragmente wieder zusammenzusetzen, und kreativ im Umgang mit den grenzüberschreitenden Materialien. Diese Verfahrensweisen sind verbunden mit einer Vermischung der Elemente, einer Art bricolage. Sie stehen sicherlich auch mit surrealistischen Aspekten in Zusammenhang. Allerdings sind die Dinge, die bei uns passieren, oft auch sehr surrealistisch. Insgesamt gesehen gibt es, glaube ich, besondere Rezeptionsbedingungen, die mit den kulturellen Horizonten zusammenhängen und mit dem, was wir, nicht immer ganz freiwillig, von den anderen erwarten, sowohl wir von Ihnen als auch umgekehrt. Ich glaube, daß

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die Kreativität, die ich nicht anzweifle, die geheimnisvoll und vielgestaltig ist, notwendigerweise zuweilen ins Stocken gerät. Auch dies hat uns etwas zu sagen, und wir könnten darüber mit den anderen hier anwesenden Schriftstellern einen Dialog beginnen. Es geht genau darum, mit diesen anderen „Stimmen" den Dialog aufzunehmen.

Sprachkrise und Körpertext

Johannes Odenthal An den Grenzen der Worte beginnen Sprachen des Körpers Die Aktualität von Tanztheater in den internationalen Tanzprojekten

Betrachten wir die Theaterentwicklung der letzten Jahre jenseits nationaler Kulturräume, dann wird die starke Präsenz von zeitgenössischem Tanztheater und Bildertheater deutlich. In der international orientierten Theaterlandschaft hat das textorientierte Theater dem Tanz das Feld geräumt. Allzuschnell wird hierfür das Argument angeführt, daß Tanz und Musik in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen im Gegensatz zur Sprache ohne Übersetzung auskommen. Übersehen wird dabei der jeweilige kulturelle Kontext einer Produktion, überschätzt wird insbesondere die Lesbarkeit klassischer Tanz- und Bewegungsformen in der ganzen Welt. Das Argument, daß der Tanz eine universelle Sprache sei, versperrt den Blick für die Notwendigkeit einer genaueren kontextgebundenen Analyse der zeitgenössischen Theaterentwicklung. In fünf Thesen möchte ich hier Aspekte für eine mögliche Analyse ansprechen. 1. Durch die Internationalisierung der Theaterszene wurden europäische Traditionen mit Theaterentwürfen anderer Hochkulturen wie denen Indiens oder Ostasiens konfrontiert. Nicht nur diese Entwürfe haben das europäische Theater im 20. Jahrhundert beeinflußt und verändert. Erst die Begegnungen mit dem postkolonialen Theater in den letzten Jahren haben deutlich gemacht, daß Theatertraditionen in zeitgenössischen Formen weiter existieren,

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in denen die Schauspieler Musikinstrumente ebenso beherrschen wie Tanzoder Bewegungstechniken. Körperliche und musikalische Sprachen, welche die europäische Theateravantgarde „neu" entdeckt hat, generieren sich in anderen Theater- und Tanzkulturen aus der Tradition fort bis in die Gegenwart. Aus einer nichteuropäischen Perspektive auf das Theater ist die Dominanz des Wortes deshalb nicht haltbar. Diese Konfrontation mit der neuen „postkolonialen" Situation hat die monolithischen Diskurse von Klassik und Moderne europäischer Provenienz unhaltbar gemacht. 2. In der europäisch-amerikanischen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts existiert eine Verbindung zur Bildenden Kunst, die entscheidende Akzente innerhalb der Theatermoderne gesetzt hat. Allein eine Aufzählung großer Erneuerer des Theaters von Peter Behrens über Oskar Schlemmer bis hin zu Bob Wilson, Jan Fabre oder Achim Freyer macht deutlich, wie sehr die Bildende Kunst das Theater durch ein Neudenken der Bühnenästhetik geprägt hat. In den Theaterkonzepten des 20. Jahrhunderts werden Raum, Licht, Körper, Bewegung, Ton oder Wort zu selbständigen Kategorien der Inszenierung. Das Bühnengeschehen wird in seine Bestandteile zerlegt, um neu zusammengesetzt zu werden. Die Unterordnung von Raum, Ton und Körper unter das Wort wird aufgehoben. Die Reflexion der eigenen Mittel stellt den Körper und den Raum ins Zentrum der Entwicklung, um von dort aus eine moderne Sprache des Theaters zu entwerfen. Das Theater und die Moderne, so die etwas verkürzte These, ist eine Geschichte des zeitgenössischen Tanzes. Die ästhetische Dimension des modernen Theaters basiert auf der Abstraktion, die ihrerseits dem Text eine Grenze setzt. 3. Peter Szondi beschreibt in der Theorie des modernen Dramas (1963) die Krise des dialogischen Prinzips. Sie zieht sich von Ibsen bis Beckett und Heiner Müller durch das moderne Drama und verankert dort das Konfliktpotential der Moderne im Individuum - als psychologische Situation, als soziale Isolierung, als Fragmentierung kommunikativer Verbindlichkeit. So gelangen die späten Werke von Samuel Beckett an einen Punkt, an dem nicht nur der Dialog versagt, sondern die Sprache überhaupt. Neue Dramenstrukturen werden nicht nur in der Fragmentierung von Texten entwickelt, sondern auch im choreographischen Theater eines Johann Kresnik oder Christoph Marthaler, dem Bildertheater von Bob Wilson oder Jan Lauwers und vor allem - Heiner Müller hat das sehr präzise benannt - im Tanztheater der Pina Bausch.

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4. Die zeitgenössische Tanzszene ist nicht national gebunden. Und obwohl kulturelle Traditionen für viele Choreographen eine bedeutende Rolle spielen, wie der Ausdruckstanz für das Tanztheater, hat sich die aktuelle Tanzszene gerade in der Überschreitung kultureller Grenzen und Traditionen herausgebildet. Der zeitgenössische Tanz hat keinen Ort, er befindet sich in der Migration, auf der Wanderung zwischen Städten, Ländern und Kontinenten. So steht das Konzept der Nation ganz im Gegensatz zur zeitgenössischen Tanzszene. Die Tänzer gehören zu den Migranten der modernen Gesellschaft. Sie besitzen kein Territorium außerhalb ihres Körpers, und sie stellen ihren Raum immer neu her, in den Studios oder auf den Bühnen der Theater. Sie experimentieren mit Fremd- oder Grenzerfahrungen, die heute weltweit zur Lebensrealität von Millionen von Menschen geworden sind. Ich möchte das Beispiel Deutschland erwähnen: 1992 war die deutsche Tanzszene durch den Portugiesen Rue Horta, 1994 durch die Nordamerikanerin Amanda Miller beim internationalen Choreographenwettbewerb in Bagnolet vertreten. Sie repräsentieren die deutsche Tanzszene ebenso wie William Forsythe oder John Neumeier. Während die Theaterstruktur in Deutschland kulturpolitisch im Nationalstaat verankert ist, sind die Tanzbühnen an diesen Häusern zu wirklichen Foren des Kulturdialogs geworden. Die zeitgenössische Tanzszene sucht den offenen Dialog zwischen Menschen jenseits kultureller, sozialer oder politischer Abgrenzungen und gewinnt darin ihre Aktualität im Europa der 80er und 90er Jahre. 5. Der zeitgenössische Tanz in Europa entsteht zu einer Zeit, in der die Ideologien - und zwar nicht nur in der Theaterarbeit - im Zerfall begriffen sind. Das ist in zweifacher Weise von Bedeutung. Erstens gibt es im zeitgenössischen Tanz keine moralischen Konstrukte. Die Bühne als moralische Anstalt, als Ort der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, ist dem zeitgenössischen Tanz fremd. Vielmehr handelt es sich hier um phänomenologische Zustandsbeschreibungen mit dem Körper und nicht um Bewertungen. Zweitens gibt es eine Gruppe von Choreographen, die an der Dekonstruktion nicht nur ästhetischer Formen, sondern gesellschaftlicher Muster, kultureller Codes oder Geschlechterrollen arbeiten. Nach Pina Bausch sind hier exemplarisch die Arbeiten von Lloyd Newson mit der Kompanie DV8 oder Meg Stuart hervorzuheben. Die Aufdeckung von Neurosen und Schizophrenien als Konfliktfeldern der modernen Zivilisation richtet sich radikal auf das Individuum, indem es nicht als Entwurf von Idealen konzipiert wird, sondern sich im Kern seiner Spaltung behauptet. Die Anstrengung einer Emanzipationsbewegung wird

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sichtbar, die den modernen Tanz von seinen Anfangen her begleitet. Befreiung von gesellschaftlichen Normen, Befreiung von ästhetischen Dogmen, von Herrschaftsstrukturen, Befreiung von ... Die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes kann als Versuch beschrieben werden, eine Aufklärung zu betreiben, die den Körper nicht ausschließt. Resümierend möchte ich festhalten, daß die starke Präsenz von zeitgenössischem Tanztheater bei internationalen Theaterprojekten nicht auf die Grenzen von Sprachen zurückzufuhren ist oder durch den Mythos einer universellen Sprache zu erklären ist. Einerseits hat sich das Gefuge der Kulturen in der Welt geändert. Diskurse, die vom europäischen wortdominierten Theaterdiskurs abweichen, sind nicht mehr als Exotismus zu klassifizieren. Andererseits gibt es Entwicklungen innerhalb der westlichen Moderne, die das Theater neu, vom Körper, vom Raum, von den Bildern her zu verstehen versuchen.

Manfred Beilharz Die deutsche Szene im europäischen Blick

Ich fühle mich außerstande, die deutsche Szene oder das deutsche Theater auch nur einigermaßen ausreichend und umfassend zu beschreiben oder Utopien zu schildern. Jeder weiß, und darüber ist in den vergangenen Tagen sicher ausgiebig geredet worden, daß das deutsche Theater neben den vielen freien Gruppen im Prinzip öffentlich finanziertes Theater ist. Das hat Auswirkungen auf seine Strukturen (Repertoiretheater), seinen Spielplan (8 bis 14 neue Stücke im Schauspiel pro Saison), auf seine Ästhetik. Wenn an 150 öffentlich finanzierten Theatern im Lauf eines Jahres etwa 2.000 verschiedene Werke gespielt werden, die nicht nur dem Sprechtheater zugehören, sondern auch der Oper, der Operette, dem Tanz, dem Musical und Kindertheater, dann ist klar, daß die Vielfalt äußerst verwirrend und sicher nicht auf einen generellen Begriff zu bringen ist. Insgesamt 90.000 Vorstellungen in einer Saison, an denen 60.000 professionelle Theaterleute - vom Schauspieler bis zum Techniker, vom Orchestermusiker bis zum Tänzer - mitgewirkt haben, müssen notwendigerweise die unterschiedlichsten Eindrücke erzeugen. Und selbst wenn ich mich auf das Schauspiel beschränke, ist die Angelegenheit vielfaltig genug. Sie merken das selbst, wenn Sie das Theater in Berlin sehen; und dabei ist Berlin nur ein kleiner Teil des wichtigen deutschen Theaterangebots. Man kann jetzt natürlich den Trick anwenden und die theatralische Vielfalt mit räumlichem Abstand betrachten. Je weiter weg man ist, desto mehr vereinfachen sich die Dinge. Von Südamerika aus ist das deutsche Theater möglicherweise identisch mit Pina Bausch, Bertolt Brecht (der ist tot) und Heiner Müller (der ist nun leider auch gestorben). Doch wie erscheint das deutsche Theater im europäischen Blick? Wenn man viel in Europa reist, dann wird einem im Ausland meist folgendes als typisch für deutschsprachiges Theater beschrieben: • •

die Existenz vieler stehender Theater mit eigenem Theatergebäude und eigenem Personal, das feste Ensemble, fest engagierte Schauspieler oder Sänger,

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die volle Finanzierung durch Kommunen und Länder, der Repertoire-Spielbetrieb, d.h. in einer Woche werden mehrere Stücke angeboten, die hohe Theaterdichte (alle 50 km findet sich im Schnitt ein öffentlich finanziertes Schauspielhaus in Deutschland), und: daß das deutsche Stadttheater neben dem Schauspiel auch oft noch Oper und Ballett unter einem Dach beherbergt.

Es darf nicht übersehen werden, daß diese Merkmale für Theater auch auf das Theater in anderen europäischen Ländern, z.B. in Skandinavien, Mittel- und Osteuropa zutreffen. Es gibt sogar noch besser versorgte Theaterlandschaften als die deutsche, z.B. in Island: Der isländische Staat finanziert insgesamt 56 professionelle und halbprofessionelle Theater für nur 300.000 Einwohner. Dagegen ist die öffentliche stehende Bühne mit eigenem Ensemble in Westeuropa (England, Frankreich, Spanien) und in Südeuropa eine zu vernachlässigende Größe. Mit der Beschreibung der äußeren Merkmale ist jedoch für eine Standortbestimmung wenig gewonnen. Das deutsche Gemeinwesen ist im Gegensatz zu vielen anderen, zum Teil auch reichen Staaten wie z.B. den USA (noch) bereit, eine beachtliche Geldmenge für Theater zur Verfügung zu stellen (3,5 Mrd. DM). Das führt dazu, daß eine Reihe von Theatermachern, die innovativ und gleichzeitig ökonomisch anspruchsvoll arbeiten, wie z.B. der Amerikaner Bob Wilson, zum Teil nur noch in Deutschland die ökonomischen Voraussetzungen für ihre Inszenierungsarbeit finden. Die Existenz der öffentlichen Finanzierung führt auch dazu, daß das deutsche Theater, zumindest das öffentlich finanzierte, überwiegend ein literarisches Theater ist. 40 % der gespielten Stücke sind Klassiker zwischen Shakespeare, Büchner, Lope de Vega, Molière und Goethe - und weitere 40 % sind zeitgenössische Autoren. Die deutschsprachigen Bühnen (unter Einschluß von Österreich und der Schweiz) haben für diese Spielzeit allein 264 ganz neue SprechWerke angekündigt, wovon rund 180 Uraufführungen meist deutscher Stücke und etwa 80 deutschsprachige Erstaufführungen von ausländischen Stücken zu finden sind. Will man es positiv sehen, dann kann man sagen: Das deutsche Theater ist noch in der Lage, große Ensemblestücke zu produzieren und über eine längere Zeit, manchmal über Jahre hinweg, im Repertoire zu behalten.

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Ein Freund von mir, ein französischer Theaterleiter, sagte kürzlich: Ein Stück wie Merlin von Tankred Dorst - ein Stück über den Verfall einer Utopie, das ungestrichen neun Stunden dauert, etwa 120 Rollen hat und mindestens 40 Schauspielerinnen benötigt - wird derzeit in Europa nur noch in Deutschland (und ich fuge hinzu: vielleicht in Skandinavien, Osteuropa) geschrieben. Kein englischer, französischer, spanischer, italienischer Autor ist so selbstmörderisch, ein Stück für einen solch großen Theaterapparat zu schreiben, da er gewiß sein kann, daß er niemals zu Lebzeiten einen Produzenten dafür finden wird. Vielleicht stimmt diese Beschreibung nicht ganz (immerhin wurde auch schon in Bahia/Brasilien der Merlin von Dorst - übrigens glänzend - aufgeführt). Aber vielleicht zeigt diese Aussage doch eine Tendenz. Das deutsche Theatersystem ist recht teuer. Nicht allein deswegen ist es einem enormen Legitimationsdruck ausgesetzt. Da nicht nur McDonalds und Coca Cola, sondern auch der amerikanische Film, die Medien, kurz: die kapitalistische Produktionsweise weltweit vordringen, ist auch der Kulturbereich davon betroffen. Deshalb hören wir Theaterleute in letzter Zeit immer öfter, daß das deutsche öffentlich finanzierte Theatersystem überflüssig geworden sei und daß wir uns gefalligst dem amerikanischen System (keine Subventionen für Theater, allenfalls Sponsorengelder) anzupassen hätten. Ich brauche wohl nicht zu betonen, was das bedeutet. In einer Pressemeldung habe ich jüngst gelesen, daß am Broadway im Jahre 1927 jährlich 187 Sprechtheaterstücke aufgeführt wurden; im Jahre 1980 waren es noch etwa 50, in der letzten Saison nur noch drei. Aber auch die Anzahl der Musicals sinkt. Wenige Stücke werden über einen langen Zeitraum hinweg aufgeführt. Die Firma Webber kontrolliert fast 30 % des Marktes. Der Legitimationsdruck kommt in Deutschland u.a. auch durch die überall aus dem Boden schießenden, überwiegend privat finanzierten Musicalhäuser, die enormen Publikumszulauf haben, der Oper und dem Schauspiel jedoch erstaunlicherweise kaum Publikum wegnehmen. An der mir etwas aus der Luft gegriffen erscheinenden Behauptung, das Theater - anders als das Fernsehen oder der Film - eigne sich nicht mehr so sehr zur Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft und ihrer kollektiven und individuellen Bedürfnisse, scheint mir nur richtig zu sein, daß die anderen Medien selbst mit einem einzelnen Werk eine größere Anzahl von Menschen erreichen als das Theater insgesamt, dieses jedoch oft zum Preis der größeren Allgemeinheit oder Versimplifizierung des Dargestellten.

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In dieser Zeit, die uns in sprunghafte, unvermutete politische und gesellschaftliche Veränderungen zieht, die uns zwischen Krieg, Elend, überraschenden Chancen und gewaltigen Demokratisierungsbewegungen in Atem hält, die das vereinigte Deutschland und das zusammenwachsende Europa zu großen Aufgaben macht, möchte ich das Theater als Spielraum des Innehaltens, der Sensibilisierung und des Wechsels der inneren Optik verstehen. Hier wird literarisch durchleuchtete Geschichte sichtbar und die Imagination der Utopie. Hier ist ein Forum für neue Ideen und Sehweisen, ein Spielplatz der kontroversen Lebensauffassungen, ein Ort des gegenseitigen Begreifens, aber auch der Darstellung des Fremden, Unerklärlichen, ein „Laboratorium sozialer Phantasie". In Zeiten der Krise ist das Theater unverzichtbar. Legitimationskrise und Subventionsabbau im Theater fallen in Deutschland mit der gesamtpolitischen Wende, speziell der deutschen Wiedervereinigung, zusammen. Die Position des Theaters war in der Bundesrepublik und der DDR vorher unbestritten. Theater hatte in beiden Teilen Deutschlands einen hohen Stellenwert. Doch jetzt, sieben Jahre nach dem Fall der Mauer, kann man den Eindruck bekommen, als sei das Theater nur eine Bastion kultureller Hochrüstung im Kampf der Ideologien gewesen. Überspitzt gefragt: Verdankte die Theaterkunst das Wohlwollen der Mächtigen auf beiden Seiten der Mauer nicht einer wirklichen Überzeugung, sondern nur ihrem Propagandawert? Der Philosoph Max Weber meinte am Anfang unseres Jahrhunderts: „Wenn der Kapitalismus einmal gesiegt hat, braucht er den Beistand des Geistes nicht mehr." Es sei die Frage erlaubt: Sind wir jetzt soweit? Eine Standortbestimmung des deutschen Theaters, seiner Ziele, seiner wesentlichen Inhalte, seiner Ästhetik will mir also mitnichten gelingen. Das deutsche Theater befindet sich in derselben Situation, in der sich die fuhrenden Denker befinden. Eine aus einem Überbau heraus resultierende Gesamtschau fehlt. Wir leben in einer postmodernen und - in einem Teil unseres Landes - in einer postsozialistischen Gesellschaft. Das deutsche Theater ist so vielfaltig und widersprüchlich wie seine Autoren, so unterschiedlich wie Botho Strauß, Heiner Müller, Tankred Dorst, Pina Bausch und Franz Xaver Kroetz - die jüngeren nicht mit eingerechnet. Wie habe ich mich in diesem Wirrwarr entschieden? Ich bin der Überzeugung, daß in Zeiten, in denen das Bekenntnis zum Theater in Deutschland nicht mehr so selbstverständlich erscheint, man mit besonderer Sorgfalt darüber nachdenken muß, wie man dieser Tendenz begegnet. Meiner Meinung nach liegt die Lösung nicht im Stillhalten, sondern in einer theatralischen Offensive. Das

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Theater muß seinen Ort nicht nur verteidigen, es muß sich ausbreiten, im wahrsten Sinne des Wortes „wichtig machen". Wo das Theater die Kraft und Fähigkeit zur gesellschaftlichen Bündelung verloren hat, muß es energisch versuchen, diese Position wieder zurückzuerobern. Das bedeutet an meinem Theater in Bonn, daß ich zu zwei Dritteln zeitgenössische Autoren spiele. Unsere Spezialität ist nicht nur, deutsche Autoren neu vorzustellen; viele ausländische Autoren haben in Bonn ihre Stücke überhaupt erst uraufgeführt: Das Erbe des Franzosen Koltés, Alice im Bett von Susan Sontag, Stücke der Holländerin Judith Herzberg, Leonora Carringtons Fest des Lamms, Anastasia und ich des Finnen Paavo Haavikko, Blätterschatten des Schweden Lars Norén - diese Stücke haben am Schauspiel Bonn ihre Welturaufführung erlebt, obwohl sie nicht auf deutsch geschrieben sind. Auch deutsche Erstaufführungen, z.B. Stücke von José Ignacio Cabrujas aus Venezuela wie Un Americano Ilustrado oder sein Stück über Carlos Gardel, Der Tag an dem du mich lieben wirst, wurden an meinem Theater produziert. Eine weitere Entscheidung in dieser Spielzeit ist, daß wir z.B. drei Stücke vom deutschen Aufklärer Lessing spielen. Drei wichtige Regisseure unterschiedlicher Generationen (Harald Ciernen, Uwe Eric Laufenberg, Dietrich Hilsdorf) wollen anhand von Nathan der Weise, Emilia Galotti und Minna von Barnhelm darlegen, daß der Abschied von der Moderne nicht gleichzeitig auch einen Abschied von der Aufklärung bedeuten muß. Für mich ist sehr wichtig, daß das deutsche Theater nicht in Problemen wie der Frage erstickt, was die Wiedervereinigung für uns bedeutet, sich nicht in der eigenen Nabelschau erschöpft, sondern daß es lernt, über seine Grenzen hinauszublicken. Das ist meiner Meinung nach entscheidend, wenn Europa und die Welt mehr zusammenwachsen sollen. Dazu habe ich ein eigenes Festival an meinem Bonner Theater geschaffen. Ich wende mich also dem zweiten Teil meines Themas zu: „Das europäische Theater im deutschen Blick", etwas bescheidener: in meinem Blick. Dazu möchte ich ein Festival beschreiben, das ich 1992 neu ins Leben gerufen habe. Festivals gibt es viele. Die meisten befassen sich mit dem Theater: den Inszenierungen, den Schauspielern, neuen Ansichten von klassischen Texten (Tschechow, die Antike, Shakespeare). Oder es sind internationale Festivals, dann spielen Bilder, die Bewegung, der Tanz eine große Rolle. Selten erinnert man sich daran, daß am Anfang des Theaters, bevor Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner ins Spiel kommen, jemand anders schon vorgedacht, gearbeitet, gedichtet hat: der Autor.

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Die Bonner Biennale, die ich hier vorstellen möchte, ist ein reines Autorenfestival. Sie ist ein Schauspielfestival, bei dem ausschließlich zeitgenössische Stükke von lebenden Autoren aus ganz Europa in der Originalsprache aufgeführt werden. Leiter des Festivals ist außer mir der Büchnerpreisträger Tankred Dorst, ein Theaterautor. Im Rahmen dieses Festivals werden innerhalb von elf Tagen ca. 45 Vorstellungen von Stücken aus ca. 22 europäischen Ländern aufgeführt - nicht nur aus Rußland, England, Frankreich, Spanien, sondern auch aus kleineren Sprachgemeinschaften, wie z.B. Island, Letzebuerg (gemeinhin besser bekannt als Luxemburg), Litauen, Finnland, Portugal oder der Slowakei Stücke, die nie in Deutschland gespielt wurden. Obwohl die Bonner Biennale ein reines Autorenfestival ist, haben wir keinen engen Autorenbegriff. In zwei, drei prägnanten Fällen waren die Autoren auch die Regisseure, wie z. B. bei Simon McBurney vom Théâtre de Complicité aus London. Es werden nicht nur ausschließlich zeitgenössische Autoren aufgeführt, die zeitgenössischen Autoren bilden auch quasi die Jury. Wir haben in jedem europäischen Land einen Dramatiker, etwas mafios „Pate" oder „Patin" genannt, 39 an der Zahl, deren Namen sich wie ein Baedecker der zeitgenössischen Dramatik lesen: Christopher Hampton (Großbritannien), Viktor Slawkin (Rußland), Hélène Cixous (Frankreich), Vaclav Havel (Tschechien), Istvan Eörsi (Ungarn), Slobodan Snajder (Kroatien), Elfriede Jelinek (Österreich) und andere. Aus den subjektiven Vorschlägen dieser „Paten" wählen Tankred Dorst und ich die Festivalbeiträge aus. Die beratenden Autoren - ähnlich wie die aufgeführten - sind Gäste des Festivals. Sie vertreten in Statements ihre Vorauswahl vor dem Publikum und den Medien. Dieses Paten-System verschafft einen größeren Überblick. Niemand kann von sich behaupten, er wisse, was überall in Europa theatralisch vor sich geht. Die Bonner Biennale ist ein Festival der Begegnungen. 65 Autoren waren bei der letzten Biennale anwesend. Es ist ein Werkstattfestival für Autoren und ein Begegnungsort zwischen Autoren, Publikum und Medien. Die Beschränkung auf Europa ist bestimmt kein Ausdruck von Eurozentrismus. Es ist eher Selbstbescheidung: Europa ist für uns überschaubarer als die große weite Welt. Aber die Beschränkung auf Europa hat auch einen politischen Grund. Ich habe das Festival im Europajahr 1992 gegründet. Damals spukten in der ersten Vereinigungseuphorie allerlei unausgegorene Gedanken in den Köpfen der Politiker herum. Ich wollte mit diesem Festival, wenn man so etwas mit Theater überhaupt kann, u.a. eine Tatsache beweisen: daß es nämlich kein europäisches Theater gibt, sondern allenfalls die europäischen Theater, und daß es sich nicht vereinheitlichen oder planen läßt. Ganz wie unser ehemaliger

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Biennale-Pate Havel sagte: „Kultur ist eine Pflanze. Sie wächst von unten. Sie wird nicht schneller wachsen, wenn man oben zieht." Europa wird auch nach dem Wegfall aller Grenzen niemals nach dem Modell eines Nationalstaats funktionieren, der sich ja bekanntlich nicht nur durch ein einheitliches Hoheitsgebiet und eine zentrale Gewalt, sondern auch durch eine mehr oder weniger gemeinsame Überzeugung einer gemeinsamen Kultur, Sprache, sowie durch das Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte ausweist. Auch wenn alle Grenzen gefallen sein werden, und wenn alle nur noch Englisch sprechen und die deutsche Sprache nur noch den Rang eines regionalen Dialekts haben wird, wird es gerade an dieser Überzeugung von einer gemeinsamen Kultur und Geschichte in Europa fehlen. Artikel 128, Abs. I der Maastrichter Verträge formuliert (wie ähnlich schon die UNESCO-Deklaration in Mexico City von 1982): „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung einer regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes." Und so spricht man auch heute über die europäische Kultur realistischer von einer „Einheit in der Vielfalt". Ich weiß, daß es in Südamerika hochinteressante Festivals gibt; beim 1. IberoAmerikanischen Festival in Bogotá, bei dem ich zu Gast war und mir auf so nachdrückliche Weise die Bekanntschaft mit den Stücken Cabrujas (in einer argentinischen Auffuhrung) vermittelt wurde, habe ich das gesehen. Ich bin immer noch beeindruckt von dem gewaltigen Ereignis, als viele Tausende - angefeuert von Theaterleuten - durch die Straßen Bogotás zogen und in einem großen Fest die ganze Nacht durch „teatro si, bomba no" (Theater ja - Bomben nein) skandierten. Oder wie die Mitglieder der gastierenden Truppen am Tag nach dem Bombenattentat mit Schippen das zerstörte Theater oberflächlich aufräumten, damit die abgebrochene Auffuhrung vom Vortag in der halben Ruine wiederholt werden konnte. Obwohl die Umstände dieses Festivals auf kein anderes übertragbar sind, scheinen sie doch nach einem ähnlichen Ansatz wie bei uns strukturiert zu sein: Das Festival in Bogotá wurde auch als ein Akt des Widerstands gegründet. Als Selbstvergewisserung der lateinamerikanischen Kulturidentität, als Widerstand gegen die Dominanz von Nordamerika und Europa. Und hier ist die Bonner Biennale in gewisser Weise ähnlich: Auch sie widersetzt sich dem Herrschenden und zeigt das Besondere. Trotzdem kann sich der ganze Kontinent sprachlich und damit auch kulturell verständigen. Wenn wir das in Europa tun wollen, ohne auf das Lateinische oder ein schlecht gespro-

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chenes Englisch zurückzugreifen, dann geschieht das in vielen Sprachen. Isländisch oder Letzebuergisch sprechen jeweils nur 300.000 Menschen als Muttersprache, und trotzdem haben diese Länder ein spannendes Theater. Dies gilt es zu bewahren. Wenn man, wie mit unserem Festival, einen demokratischen Ansatz verfolgt, wenn es die Lust auf das Andere und Unbekannte in Europa befriedigen will, wenn es auch Erkenntnisse über Leben und Denken in anderen Ländern vermitteln soll, dann muß man dafür Sorge tragen, daß der Hauptsinnträger, die Sprache, vermittelt wird. Ich kehre zum Anfang meines Aufsatzes zurück und zur Hauptfrage: Theater im Schutt der Systeme: Aufbruch oder Absturz? Für Deutschland und für Europa möchte ich für Aufbruch aus dem Schutt der Systeme plädieren. Die Weltöffentlichkeit hat nach dem Krieg die Bundesrepublik als einen Ort erlebt, wo man nicht nur Geschäfte zu machen verstand, sondern wo Kultur und Weltoffenheit einen Stellenwert hatten. Verabschiedet man sich aus dieser Tradition, hat das verheerende Folgen, nicht nur für die Kultur. Wenn es die Überzeugung für die Notwendigkeit von Kunst nicht mehr gibt, wenn man sagt, alles, womit man Gewinne erzielen kann, ist unterstützenswert, alles andere nicht, dann wird das Klima in diesem Land sehr eisig. Und es wäre ein Rückschlag für ein wesentliches Element dieses Staates, der ja speziell auf dem Gebiet der Kulturförderung beispielhaft in Europa und in der Welt geworden ist. Das hat uns nach dem Krieg viel Vertrauen gebracht. Wir haben es heute wieder nötig. Das Theater, das ich meine, spielt gegen das Vergessen, für die Erinnerung; gegen die Oberflächlichkeit, für die Erkenntnis; gegen die Langeweile, für den Genuß. In einer Zeit, in der zum ersten Mal weltumfassend eine Zivilisation ohne den künstlichen Gegensatz feindlicher Blöcke besteht, muß das Theater umso mehr als individueller Ort der Einrede gegen die computergesteuerte Megagesellschaft verteidigt werden. Wir brauchen das Theater als das Medium, das den Menschen als eigenverantwortliches Individuum aufwertet und Verständnis für Denkweisen in anderen Kulturen schafft.

Perla Zayas de Lima Das argentinische Theater und die Krise des dramatischen Textes

Die Geschichte unseres Landes ist von einem ständigen Kampf zwischen unvereinbaren Gegensätzen geprägt: Zivilisation und Barbarei, Unitarismus und Föderalismus, Peronisten und Anti-Peronisten, Exilierte und im Land Gebliebene, Rechte und Linke usw. Die Auffassung, daß derjenige, der sich nicht auf die eine Seite schlägt, automatisch zur anderen gehört, durchzieht alle Schichten unserer Gesellschaft und betrifft auch das Theater. In den 60er Jahren brach ein Streit zwischen den Anhängern des Realismus1 und den Künstlern der Avantgarde (insbesondere dem heute legendären Instituto di Telia) aus. Seit den 80er Jahren wird sowohl die Theaterpraxis wie die Kritik von einem weiteren Gegensatz polarisiert: dem zwischen Texttheater und Bilder- bzw. Körpertheater. Zwei Ereignisse haben in jüngster Zeit dazu beigetragen, diese leider fast immer als unvereinbar empfundene Opposition noch zu verstärken. Das erste war der Aufenthalt von Arthur Miller in Argentinien. Bei verschiedenen Treffen mit unseren bekanntesten Theaterautoren machte er die Theaterleute, die sich dem Experiment verschreiben, selbst für das beklagte Ausbleiben des Publikums verantwortlich. Sein Vorschlag zur Neubelebung des Theaters hieß: die Rückkehr zum Wort. „Das einzige unsterbliche Element des Theaters ist der Text, denn alles übrige, wie das Schauspiel, die Choreographie, die Regie und auch das Publikum, verflüchtigt sich. Der Text war schon immer das Zentrum und muß es bleiben. Und wer kann dafür sorgen? Der Autor."2 Freilich stellt sich die Frage, was die Rede vom Zentrum in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat. Denn so betrachtet werden Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner und, in noch stärkerem Maße, das Publikum an die Peripherie des Theaterereignisses gedrängt. Miller greift nicht nur eine Auffassung von Theater an, in der Schauspieler und Publikum als grundlegende Faktoren gelten, sondern er siedelt den Autor als „Retter" des Theaters in einem mythisch über-

Es handelt sich um die sogenannte realistische Generation, zu der Schriftsteller wie Ricardo Halac, Germán Rozenmacher, Roberto Cossa, Ricardo Talesnik, Sergio A. de Cecco und Carlos Somigliana gehören. „Panorama desde el drama. El diálogo de Arthur Miller con los teatristas argentinos." In: Página 12 9 (1993).

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höhten Raum an, weil er sich von ihm als einzigem die wundersame Vermehrung der Zuschauerzahl verspricht. Nach dieser Intervention von Miller sahen Autoren wie Carlos Gorostiza, Roberto Cossa und Carlos Gene ihre Hoffnung auf eine Rettung des Theaters durch die Dramatiker bestätigt. Gorostiza meinte dazu: ... die wichtigste Wurzel des Theaters war und wird immer der Text sein, d.h. die Kommunikation, die über den Text zwischen Schauspieler und Zuschauer hergestellt wird. Dieser Text wird am Ende bleiben. Gerade deshalb hat der dramatische Autor, heute vielleicht mehr als je zuvor, eine besondere Verantwortung.3 Gorostiza wie Miller nehmen eine willkürliche Haltung ein, die an zwei Urmythen gekoppelt ist: an den Mythos vom Ursprung und den Mythos von der Ewigkeit. Am Anfang war der Text, und der Text wird immer sein. Das zweite Ereignis fand 1993 auf dem Festival der Nationen in Santiago de Chile statt. Bei einer Diskussionsveranstaltung des Dramatikerforums betonte der chilenische Dramatiker Egon Wolff, daß das Verbale und das Non-verbale zwei antagonistische und unvereinbare Pole der szenischen Kreativität darstellten. Die sogenannte Generation der „50er", der er sich zugehörig fühlt, sei der letzte Exponent eines Theaters des Wortes, das in einer langen westlichen Tradition wurzelt, angefangen bei der klassischen Tragödie, über das Renaissanceund Barocktheater, die Romantik und den Realismus bis hin zu den innovativen Ausdrucksformen der historischen Avantgarden und der Poetik des Absurden. Wolff behauptete weiterhin, daß die Jugend „zu einem total anderen, nicht textuellen Theater ohne dramatische Figuren, ohne Geschichte, ohne Autor, ohne geschriebenen Text"4 tendiere, denn ihre Ungeduld wie auch ihre Faszination für die Gewalt mache ihnen „das Gemessene, Subtile, Andeutende, Atmosphärische" des Wortes unerträglich. Wolff formulierte seinen Ansatz sogar noch radikaler und sagte, daß „dieser fehlende Glauben an die Verbalität des Menschen, der in der Suche nach non-verbalen theatralischen Ausdrucksformen zutage tritt, sich verdächtigerweise mit einem fehlenden Glauben an den Menschen selbst verbindet"5 und fragt:

3

Ebenda.

4

Egon Wolff. „Teatro no textual en Chile". In: Apunles 107 (1994) I I I .

5

Ebenda, 113.

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Sind wir also dazu bereit, nur noch Zeichen abzusondern und den Menschen zu einem primitiven Wesen zu machen, das nicht spricht, sondern gestikuliert? Zu einem Tänzer und nicht zu einem Dichter? Zu einem Stelzenläufer und nicht zu einem, der geht? Zu einem gelenkigen Affen hinter einer starren Maske? Was hier verwundert, ist die Vehemenz, mit der Wolff das logozentrische Denken verteidigt. Er scheint die Momente in der Geschichte des Theaters im Okzident, im Orient und in Afrika vergessen zu haben, in denen der Körper als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium bevorzugt wurde. Ebenso scheint er zu vergessen, wie der erratische Wortschwall der absurden Texte das Versagen der Sprache als Kommunikationsmittel in jüngerer Zeit zu belegen sucht. Als Argument führt Wolff an, daß es den nonverbalen Zeichen auf der Bühne an Bedeutung mangelt. Für den Dramatiker scheinen die Bewegungen des Tanzes, die androgyne Ausrichtung gewisser Theatermasken und Kostüme sowie die Musik einer Aufführung nichts auszudrücken. Roberto Cossa wies weniger apokalyptisch und eher versöhnlich in dem gleichen Forum darauf hin, daß das Theater diese spaltenden Dichotomien überwinden müsse. Das rein Visuelle könnte doch von der gleichen Rhetorik verdorben sein wie das Sprechtheater. Im Unterschied zu Wolff glaubt er nicht, daß der Publikumsschwund eine Folge des Hermetismus der Flut nonverbaler Zeichen im Bildertheater sei, sondern daß er auf die Irrtümer der Dramatiker, auch aus der Alten Schule, zurückgeführt werden müsse. Nur wenn sich die Dramatiker wieder die Fähigkeit aneignen würden, eine Geschichte gut zu erzählen, könnten Langeweile und Verwirrung des Publikums behoben werden. Der Beitrag von Cossa zielte einerseits auf die Neuformulierung der Funktion des Schauspielers - seine Aufgabe sei nicht mehr nur die Reproduktion eines fertigen Textes, vielmehr solle auch er zum Dichter werden andererseits auf die Veränderung der Funktion des Dramatikers, der über seine eigenen Stücke Regie fuhren solle. Angesichts dieser Vorschläge bleibt allerdings eine Frage offen: Verdeckt dieser Rollentausch nicht letztlich doch das kompromißlose Beharren auf dem Wort, das dann in der szenischen Gestaltung, in die die Interpretation des Regisseurs einfließt, entfaltet werden würde? Weit weg von trockenen Diskussionen und reduktionistischen Haltungen macht ein großer Teil unserer Künstler ein Theater, das aus der Kombination von ver-

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schiedenen verbalen und non-verbalen Sprachen besteht, ohne daß dabei die Rede von einer „Krise" ist6. Der argentinische Dramatiker Ricardo Monti z.B. äußerte sich 1989 in seinem Artikel „Das Theater, ein literarischer Raum"7 folgendermaßen über die Beziehungen zwischen dem Verbalen und dem Non-verbalen, zwischen dem Skript, dem dramatischen Text und der Inszenierung: - Das Theater ist „eine der ältesten und ehrwürdigsten literarischen Gattungen." - „Die Publikation eines Stücks beschäftigt mich genauso viel oder mehr noch als seine Aufführung." - „Ein guter Dramatiker sollte gründlich die Regeln der Gattung kennen, in der er arbeitet." • „Die Qualität eines dramatischen Textes kann an der Vielzahl der Inszenierungen gemessen werden, die er hervorzubringen vermag, ohne sich in einer zu erschöpfen." - Das Geheimnis liegt nicht im Dialog, sondern in dem Umfeld, in dem er sich ereignet, im „szenischen Raum ... im Umgang mit den Bildern." - „Das Bild (jenes, das fiir den Schriftsteller der Übersetzung in Worte vorangeht) ist der Kern des kreativen Prozesses." - Der Schriftsteller verwandelt seine Bilder, „indem er einige vergrößert und andere verwirft", während der Regisseur - den Monti als einen spezialisierten Leser betrachtet - die Fähigkeit besitzen muß, „das im Text verborgene Bild spürbar zu machen". Diese Aussagen treffen zweifellos auf die Stücke Una noche con el señor Magnus e hijos (1970), Historia tendenciosa de la clase media argentina (1971), Visita (1977), Marathon (1980) und La cortina de abalorios (1981) zu. Aber merkwürdigerweise schreibt Monti in dem Erscheinungsjahr des oben erwähnten Artikels mit Una pasión sudamericana ein ganz anderes Stück. Neben den Veränderungen auf der strukturellen Ebene (die Verbindung von mythischen und historischen Strukturen, die minutiöse Aufarbeitung der Dichtung der Renaissance und des Neoklassizismus) scheint in ihm erneut das Interesse an der Theateraufführung zu erwachen, und er übernimmt aufgrund von Unstimmigkeiten mit dem Regisseur selbst die Regie. Der geschriebene Text genügt 6

Für Marco de Marinis hat der Text heute seine Autoreferentialität verloren und entsteht erst während der Aufführung. Aufgabe der Regisseure sei es, dafür zu sorgen, daß dieser szenische Text einen höchstmöglichen Grad an Perfektion erhalt.

7

Erschienen in: Espacio de critica e investigación teatral 3 (1989).

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ihm nicht mehr. Zur gleichen Zeit entdeckt er die Rolle, die die Musik nicht nur auf der Bühne, sondern auch für die Komposition des Textes spielt; daraus entstehen die Opernlibretti von Marathon und La oscuridad de la razón (1995), die beide Bearbeitungen der zuvor aufgeführten Theaterstücke sind. Seine Haltung gegenüber dem dramatischen Schreiben verändert und bereichert sich durch die musikalischen Bilder entscheidend. Im Theater Daniel Veroneses läßt sich ebenfalls keine „Krise" des Textes feststellen. Seine Arbeit als Dramatiker, die mit Crónica de la caída de uno de los hombres de ella beginnt, findet ihre Fortsetzung in einer Trilogie, die aus Los corderos, Conversación Nocturna und einem dritten noch in Arbeit befindlichem Stück besteht. Über das zweite Stück sagt der Autor: Einerseits umkreist Conversación Nocturna eine Thematik, auf die ich schon häufig beim Schreiben gestoßen bin, den kreativen Prozeß und die Wechselwirkungen zwischen dem erschaffenen Objekt und seinem Schöpfer, zwischen der Welt der künstlerischen Schöpfung und der Wirklichkeit, die sich nicht immer als solche darstellt. Aber andererseits tritt vor allem das Interesse (und ich glaube, dies gilt für mein gesamtes Theater) an den Wesen in den Vordergrund, die auf einer dürren und der Hoffnung auf Rettung beraubten Erde zusammenleben.8 Daß Veronese auf die schriftstellerische Arbeit und seine Stellung als Dramatiker viel Wert legt, bestätigen die Veröffentlichungen seiner Stücke und seine ausdrückliche Forderung, daß sie mit einem kritischen Vorwort versehen werden. Als Leiter der Theatergruppe El Periférico de Objetos erklärt Veronese seine Beziehung zum Text folgendermaßen: „Wir wählen das Objekt als etwas in höchstem Maße Visuelles aus, das mehr dem Plastischen als dem Wort entspricht" (...) „Beim Schreiben lasse ich mich lieber von den Formen als von den Ideen leiten. Ich gehe von plastischen Bildern aus, die ich dann weiterentwikkele, um die Situationen formal aufzubauen."9 Allerdings darf man nicht vergessen, daß er für die unterschiedlichen von ihm erarbeiteten Inszenierungen Texte von Beckett, Poe, Hoffmann, Freud und Müller heranzog, auf deren Basis er ganz neue Texte wie Movitud Beckett, El hombre de arena oder Máquina Hamlet schuf.

o 9

Aussagen von Daniel Veronese in El Cronista, zusammengestellt in: Información Celcit 9 ( 1995). Aus einem Interview mit Beatriz Trastoy, erschienen in: El Menú de Artes y Letras 3/36 (1995).

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Auch die Theatergruppe La Organización Negra (die sich nach acht Jahren Theaterarbeit trennte) weigert sich - trotz anderer künstlerischer Prämissen -, von einer Krise zu sprechen. Zu Beginn ihrer Theaterarbeit bezeichneten sich die Mitglieder aufgrund ihrer ausschließlich körperlichen Theatersprache als „lebende Modelle"; in der zweiten Phase begannen sie, sich selbst nicht nur als Akrobaten, sondern auch als Schauspieler zu verstehen. Manuel Hermelo äußert sich diesbezüglich sehr deutlich: Wir wollten Theater machen, aber nicht aus der Perspektive des Theaters. Wir fragten uns, wie wir Theatralität herstellen könnten. Wir haben uns nie für die Diskussion interessiert, die über uns geführt wurde: ob das, was wir machten, Theater sei oder nicht. Dies sind willkürliche Definitionen, aber wie alle Worte rufen sie in dir eine gewisse Verführbarkeit fiir das, was sie evozieren, hervor. Auf jeden Fall war es nicht unser Anliegen, einen Bruch hinsichtlich des Linguistischen zu vollziehen.10 Der Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist nicht der geschriebene Text, sondern die Erforschung der körperlichen Möglichkeiten, um zu einer Reflexion über die Kunst und den Künstler, über die mit der Produktion und Rezeption von Kunst verbundenen Phänomene, über die Prozesse der Raum- und Zeitwahrnehmung, über die Entstehung dieser Prozesse sowie über die Umwelt und das Verhältnis der Figuren zu ihr zu kommen." Zusammenfassend würde ich nicht behaupten, daß das zeitgenössische argentinische Theater in einer Krise des Textes steckt, sondern daß neue Grenzen aus verschiedenen Perspektiven ausgelotet werden, innerhalb derer sich der theatralische Text zwischen der Rückkehr des Wortes und der Zerstückelung des Diskurses, zwischen der Eingliederung von rituellen Elementen und der Dramaturgie des Schauspielers bewegen könnte.

10

„La Organización Negra." In: La cuarta pared, Veröffentlichung von FM La Tribu, o.J.

"

Aufgrund dieser Charakteristika können die Stücke von La Organización Negra der sogenannten vierten Varietät der performance zugeordnet werden, wie sie Tadeusz Pawlowski in El Perfomance beschreibt. Vgl. dazu: Criterios 21-24 (1987/1988) 154-179.

Manuel Hermelo La Línea Histórica Selbstporträt

La Línea Histórica ist ein Projekt aus den Jahren 1994 und 1995 von Alfredo Visciglio und Manuel Hermelo (Mitglieder der ehemaligen Theaterkompanie La Organización Negra). Folgende Institute haben dieses Projekt unterstützt: Goethe-Institut Buenos Aires, Teatro General San Martín, Centro Cultural Recoleta, Fundación Antorchas, Sociedad Hebraica Argentina. Zur Erläuterung des Projekts folgender Auszug aus dem Programmheft: Unsere Arbeit läßt sich eher als Prozeß denn als Kunstobjekt charakterisieren, als Navigationsmodell, als Reise in der Zeit, die wir Die Historische Linie nennen. Es erschien uns interessant, mit etwas zu beginnen, von dem wir nicht wußten, womit es enden würden. Wir wollten eine Verbindung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem oder zwischen „dem, was von uns abhängt" (ta eph hemin) und „dem, was nicht von uns abhängt" (ta ouk eph hemin). Unter dieser Vorgabe legten wir zwei Prämissen fest: I) Die Suche nach theoretischen Bezugspunkten, die außerhalb des Theaters liegen. So begannen wir, uns mit verschiedenen Konzepten der theoretischen Physik und der modernen Mathematik auseinanderzusetzen. Wir ließen uns von der Idee verführen, abstrakte Modelle zu benutzen, die wir später in einen kreativen Prozeß einfügen wollten. Zunächst stützten wir uns auf bestimmte Elemente aus der „Theorie der Singularitäten" von H. Whitney und auf die Arbeiten von René Thom, insbesondere seine „Theorie der elementaren Katastrophen". Uns interessierte vor allem der Begriff K (oder die katastrophische Verbindung) der theoretischen Punkte, von denen aus „die Dinge sich ändern". Wir dachten, dieses Konzept könnte auch auf das künstlerische Material angewandt werden als Teil des Entstehungsprozesses eines Kunstwerks. Auf jeden Fall möchten wir betonen, daß das Projekt nicht beabsichtigt, eine pseudowissenschaftliche Erklärung für den künstlerischen Akt zu formulieren, sondern im Gegenteil, mit bestimmten, bereits existierenden Modellen zu spielen. Mit ihnen zu spielen bedeutet nicht, sie als Objekt zu betrachten, sondern einfach nur, sie zu benutzen.

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Der erste Leitfaden der Aufführung drückte sich in der folgenden Formel aus: S=(E+I) k Wo (S) das Element (S) ist, ist (E) exterior und (I) interior; und (k) ist der Punkt der Katastrophe. II) Ein zweiter wichtiger Punkt für die Entwicklung des Projekts war die Vorgabe, es in bestimmten Etappen zu realisieren. Es interessierte uns überhaupt nicht, ein fertiges Produkt vorzufuhren, sondern es als eine Idee zu zeigen, die sich im Lauf der Zeit verändert. Auf diese Weise wurde La Línea Histórica also konzipiert, um es in verschiedenen Etappen (oder Ebenen) ähnlich wie Videospiele vorzuführen. Die Etappen 1 und 2 waren schon fertig, während die dritte immer noch in der Entstehungsphase war: 1. Theoretisch-praktische Präsentation unserer Experimente: La Línea Histórica. Bifurcaciones y aprobación de un proceso creativo (Aufteilung und Erprobung eines kreativen Prozesses): Goethe-Institut Buenos Aires im Juni 1994. 2. Präsentation einer Aufführung. La Línea Histórica: Centro Cultural Recoleta, Juni-Juli 1995. 3. Konfrontation der Etappen 1 und 2 mit deutschen Künstlern. Jede Etappe stellt den Perimeter provisorischer Strecken dar, einen Zustand des Überflugs. Der Pfeil der Zeit etabliert die Richtung des Wissens, die Oberfläche, auf der die Zeit Inferiorität wird, ein Vorgang mit drei Komponenten: Sukzession, Simultanität und Permanenz.

M a n u e l H e r m e l o : Wir betrachten uns nicht als Theatertheoretiker. Wir identifizieren uns eher mit dem Wort „Theatermacher", das uns viel besser beschreibt. Auch wenn unser Theater als Bildertheater klassifiziert werden könnte, haben wir es nie so genannt. Wir haben es einfach nur Theater genannt. Die Gegenüberstellung von Bildertheater versus Texttheater interessiert uns nicht. Wir haben Dinge ausprobiert und mit ihnen experimentiert, soweit unsere Produktionsmöglichkeiten dies zuließen und es uns interessierte. Wir sind vor allem eine experimentelle Theatergruppe.

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Ich möchte eine Produktion erwähnen, die in starkem Maße ein eigenes Profil der Gruppe widerspiegelt. Es handelt sich um La Tirolesa. Die erste Aufführung von La Tirolesa fand in dem Kulturzentrum Recoleta statt. Durch die Inszenierung veränderten sich die Materialien und die Ästhetik, mit denen wir bis dahin gearbeitet hatten. Das Interessante an der Produktion war, daß es sich um eine Auftragsarbeit handelte. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Auftrag fiir eine Produktion bekommen. Was als Abstieg in einen Innenhof begann, in den sogenannten Lindenhof, der sich in dem erwähnten Kulturzentrum befindet, wurde später zu der viel größeren Produktion La Tirolesa - Obelisco, die wir 1989 aufführten. La Tirolesa - Obelisco haben wir in Mexiko und in Brasilien gespielt. In Brasilien kamen sehr viele Leute, man sprach von etwa 20.000 Menschen. Wir machten dort zwei Auflührungen, in Mexiko spielten wir viermal. Vorher gab es ein erste Fassung von La Tirolesa, die wir in dem Innenhof des Kulturzentrums aufführten. In dieser ersten Fassung geschah etwas sehr Witziges: Die Schauspieler trugen bei einem der Abstiege lebendige Schweine auf dem Rücken. Dies nahmen wir danach aus dem Stück heraus. Die Geschichte mit den Schweinen ist sehr lustig. Es entstand ein erkenntnistheoretisches Problem, als wir zwei lebende Schweine in einem Kulturzentrum unterbringen wollten, denn die Leute dort wußten nicht, ob sie die Tiere nun wie Schweine oder wie Kunstwerke behandeln sollten. Außerdem sind die Argentinier süchtig nach Fleisch. Als wir die Schweine dorthin brachten, bemerkten wir, daß ihre Aufpasser sie eigentlich essen wollten. Um die Tiere am Leben zu erhalten und um zu verhindern, daß sie gegessen wurden, stellten wir sie so dar, als seien sie Kunstobjekte. Am Ende der letzten Aufführung kam die Polizei, um die Schweine zu beschlagnahmen, denn es lag ihnen eine Anzeige wegen Tierquälerei vor. Meiner Meinung nach war diese Anzeige ungerechtfertigt, denn wir hatten speziell entworfene Tragegurte angefertigt, um die Schweine so bequem wie möglich auf dem Rücken der Schauspieler zu befestigen. Vielleicht lag es daran, daß die Leute nicht gewohnt waren, Schweine auf dem Rücken eines Schauspielers zu sehen. Also wurden die Schweine zur Polizeiwache gebracht. Da die Schweine laut quiekten, dachten die Leute, die an der Wache vorübergingen, daß dort jemand gefoltert würde. Daher wurden die Schweine in eine Zelle gesteckt. So kam es, daß die Schweine zwei Tage lang Gefangene waren und auf den Richterspruch warteten, der entscheiden sollte, was nun mit ihnen geschähe. Der Richterspruch war exemplarisch. Er entschied, daß

La Línea Histórica Regie: Manuel Hermelo und Alfredo Visciglio

IIS

Alfredo Visciglio, Mitbegründer des Projekts La Línea Histórica

die Schweine nicht mißhandelt worden waren, daß man sie jedoch einer Streßsituation ausgesetzt habe. Das Ergebnis des Ganzen war, daß die Schweine zu demjenigen in Pflege gegeben wurden, der die Anzeige erstattet hatte. Viele Jahre später sprach ich mit einem Rechtsanwalt, der mir erzählte, daß in einer juristischen Zeitschrift dieser Fall erschienen war und die Rechtsprechung verändert hatte, da durch ihn anerkannt worden war, daß Schweine eine Psyche haben. Ich finde die Geschichte dieser zwei Tiere, die ein Kunstwerk waren, die Schauspieler waren, die Gefangene waren, die psychische Subjekte waren und zuletzt glücklich auf dem Land gelebt haben, immer wieder sehr witzig. Solche Dinge passieren einfach. Entschuldigen Sie, daß ich vom Thema abgekommen bin. Ich mußte daran denken, als ich über La Tirolesa gesprochen habe. Ich möchte jetzt auf das Projekt La Línea Histórica eingehen. Als La Organización Negra sich als Gruppe auflöste, begannen Alfredo Visciglio und ich nicht mit einer neuen Produktion, aber wir redeten viel miteinander. Eigentlich hatten wir zu diesem Zeitpunkt gar keine Lust, ein neues Stück zu machen. Das waren sozusagen die psychologischen Beweggründe für unser Projekt. Wir begannen, systematisch Treffen abzuhalten, ohne genau zu wissen, worüber wir eigentlich sprachen. Es war ein ziemlich freier Dialog. Daraus entstand der erste Ideenentwurf zu einer Produktion. Uns gefiel die Maxime eines Philosophen, der die Welt in von uns abhängige und von uns unabhängige Dinge einteilte, in Gewißheit und Ungewißheit. Da wir nicht genau wußten, was wir eigentlich machen wollten, beschlossen wir, klare Spielregeln aufzustellen, um zu sehen, wohin diese uns führen würden. Wir dachten an drei große Abschnitte: Den ersten Abschnitt nannten wir „Gespräch", den zweiten „Präsentation des Arbeitsergebnisses", den dritten „Auseinandersetzung". Es fiel uns schwer, das Projekt zu Papier zu bringen, da wir nicht genau wußten, was wir wollten. Aber etwas wußten wir schon. Wir systematisierten das Ganze anhand einer mathematischen Formel, um einerseits das Projekt zu präsentieren und uns auf diese Weise nicht genau festzulegen. Andererseits half uns die Formel, unseren Ideen eine Form zu geben. Als Ausgangspunkt hatten wir eine Reihe mathematischer Texte ausgewählt, die wir lasen. Eigentlich geht es um Topologie. Wir beschäftigten uns besonders mit dem Buch eines französischen Mathematikers, René Thom, der eigentlich der Erfinder der sogenannten „Chaostheorie" ist. Im Grunde ist das Buch von Thom eine Untersuchung der Formen: Warum erhalten sich die Formen und warum verändern sie sich? Es ist ein sehr komplexes Buch. Wir wollten das Buch nicht analysieren, sondern es für den Anfang als Leitidee benutzen. Wir präsentier-

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ten das Projekt dem Goethe-Institut, das es befürwortete. So begann unsere Arbeit. Das Goethe-Institut stellte uns das Gebäude der ehemaligen Botschaft der DDR in Buenos Aires zur Verfügung. Der Ort war sehr angenehm, um dort zu arbeiten. Noch nie hatten wir an einem Ort mit Tageslicht und mit Garten gearbeitet. Dorthin konnten wir die anderen Künstler einladen, die an dem Projekt teilnehmen sollten. Wir trafen eine Textauswahl bzw. eine Auswahl der mathematischen Ansätze und diskutierten darüber in der Gruppe. Alfredo und ich waren schon daran gewöhnt, aber die anderen fühlten sich ein wenig unwohl, weil sie nicht genau wußten, worauf wir hinauswollten. Wir wußten es auch nicht. Daher stellten wir unsere Idee anhand eines Modells bildlich dar. Es sollte uns verstehen helfen, was wir machen konnten. Die Idee dazu war eine Art Black Box, die Sie sich wie einen Schuhkarton oder eine Schachtel dieser Größe vorstellen können, ein völlig hermetischer und geschlossener Kasten. Wir wissen, besser gesagt, sehen nicht, was in ihm steckt. Wir stellten uns vor, daß in dieser Schachtel ein Dämon steckt, der folgende Eigenschaft hat: Wenn wir ein Loch in die Schachtel machen und etwas hineinstecken, bohrt der Dämon ein zweites Loch und befördert es in veränderter Form wieder hinaus. Dann interpretierten wir das, was der Dämon getan hatte. So konnten wir etwas freier arbeiten, denn die anderen spürten, daß sie durch das Modell miteinbezogen wurden. Wir hatten diesen Einfall, um einen Ansatz für unsere Arbeit zu finden. Und es funktionierte. Für den Namen La línea histórica habe ich zwei Erklärungen. Es ist ein komplexer Begriff. Eigentlich ist es ein Adjektiv, das sich auf etwas anderes bezieht. Normalerweise verwendet man den Ausdruck historische Linie innerhalb der Gewerkschaftsbewegung und er bedeutet, daß diese Bewegung die historische Ausrichtung bestimmt, da sie eine Verbindung zur Vergangenheit herstellt und von daher authentisch ist. Zuerst dachten wir, daß die historische Linie wie ein Strich sei, der nach hinten, aber nicht nach vorne gerichtet sei. Daher mochten wir den Namen. Eigentlich ist er ziemlich abstrakt und mehrdeutig. Die erste Bedeutung war für uns das, was außerhalb, abseits unseres Blickfelds bzw. dahinter liegt. Wir arbeiteten fast drei Monate praktisch ohne Ergebnis. Wir wußten nicht, ob wir einen Vortrag machen wollten oder eine Aufführung, wir wollten einfach sehen, wohin uns das ganze Material führte. Wir hatten mit dem Goethe-Institut vereinbart, ihnen das Arbeitsergebnis zu präsentieren, und plötzlich, es fehlten noch zwei Monate bis zum vereinbarten Datum, forderten sie uns auf, unsere Arbeitsergebnisse vorzustellen.

Unsere Aufführungen sind schwer zu realisieren, sie sind sehr kostspielig, und es ist viel Erfindungsreichtum nötig. Ein weiterer Punkt ist, daß es jedesmal, wenn man eine Arbeit abschließt, so scheint, als würde man wieder bei Null beginnen. Das kostet viel Energie. Es wird nicht einfacher, Subventionen zu bekommen. Man fängt wieder an, eine Strategie auszuklügeln, von wem man Geld bekommen kann, wie man die Produktion auf die Beine stellen kann. Diese Produktionen decken normalerweise nie die Lohnkosten fiir die Künstler. Es sind unvollständige Produktionen, denn wir können uns gerade so erlauben, die Stücke und ihre Umsetzung zu finanzieren. Aber ich glaube, wir haben es bisher ganz gut geschafft.

Bekannte Gesichter - Gemischte Gefühle Gesprächsausschnitt Moderator: Peter B. Schumann Teilnehmer/innen: Manfred Beilharz (Deutschland), Ramón GrifFero (Chile), Manuel Hermelo (Argentinien), Ricardo Monti (Argentinien), Johannes Odenthal (Deutschland), Andrés Pérez (Chile), Diana Raznovich (Argentinien)

R a m ó n G r i f f e r o : Sie haben über das Bildertheater und das Texttheater gesprochen. Ich sehe das Aufkommen des nonverbalen Theaters in Chile als einen Übergangsprozeß, der ein Theater definiert hat, das auch die anderen Buhnensprachen miteinbezieht und so die Verbindung zum Bildertheater schafft. Ich betrachte das Bildertheater als einen notwendigen Schritt, der das Schreiben von Theater wieder möglich macht. Speziell in Chile handelte es sich um den Übergang von einem extrem literarischen Theater hin zu einem Theater der Regisseure, die mit der Tradition des literarischen Theaters gebrochen haben, um andere Zeichen, andere Codes zu suchen, die das Wort nicht bereitstellt. Unsere Rolle als Dramatiker ist es nun, die Symbiose wiederherzustellen, die Poetik des Raums und des Bildes mit der Poetik unserer Texte zu vereinen. Mich würde interessieren, ob hier in Deutschland das gleiche Phänomen aufgetreten ist. Darüber hinaus haben mich in den vorangegangenen Beiträgen von Johannes Odenthal und Manfred Beilharz zwei Punkte erstaunt: Die theoretischen und die künstlerischen Probleme des Theaters, mit denen wir uns auseinandersetzen, sind aufgrund des herrschenden „Zeitgeistes" im Augenblick recht ähnlich. Den großen Unterschied sehe ich darin, wo und wie produziert wird. Folgten wir der Theorie der klassischen Marxisten, daß die Basis den Überbau bedingt, könnte man sagen, daß die Produktionsweise des deutschen Theaters einen völlig anderen Überbau bedingt als unsere Produktionsweise. Diese Begriffe werden zweifellos heute nicht mehr verwendet. Allerdings wurde ich gefragt, wie ich es schaffe, daß Theaterintendanten sich für meine Stücke interessieren und sie inszenieren. Hier lautet die Rückfrage zweifellos, welcher Intendant in welchem chilenischen Theater? Ich muß mich selbst um die Inszenierung meiner Texte kümmern, ich produziere sie selbst, völlig selbständig. Von den 60 Produktionen, die im Januar in Santiago vor großem Publi-

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kum aufgeführt worden sind, stammen nur vier von Theatern, die staatliche Subventionen erhalten, alle übrigen sind Inszenierungen von Privattheatern bzw. unabhängigen Theatern. Und unter den 60 Theatern sind keine kommerziellen Theater, es handelt sich um rein kulturell und künstlerisch ausgerichtete Produktionen. An dieser Stelle frage ich mich, wie es um die Unabhängigkeit des Theaterautors in Deutschland bestellt ist. Wird er von den ästhetischen, politischen oder moralischen Launen bzw. vom ästhetischen Konzept des Theaterintendanten regiert? Ich denke aber auch, daß in Wirklichkeit noch nicht von einer Krise die Rede sein kann, wenn von den 118 Theatern zwei, drei oder auch zehn geschlossen werden, denn der Autor und die Leute, die Theater spielen wollen, werden mit oder ohne die Existenz dieser Theater weiterspielen. Und die zweite Frage, die damit im Zusammenhang steht, stellt sich mir, wenn von der kulturellen Institution und von der Kultur die Rede ist. In den Redebeiträgen sprechen Sie von der Kultur und dem kulturellen Fortschritt. Für mich besteht ein großer Unterschied zwischen Kultur und Kunst. Daher ist mir nicht klar geworden, wann Sie über Kunst und wann über Kultur sprechen. Dies sind begriffliche Codes, denn das Theater äußert sich immer als Kultur. Wann ist dieses Theater dann Kunst? In einer ziemlich persönlichen Definition ist für mich in Chile die Kultur das, was von der Gesellschaft schon als kulturelles Erbe angenommen worden ist. Dies kann von der präkolumbischen Kultur bis zur Malerei von Matta, bis zu Neruda etc. reichen und ist die Kultur, die reproduziert werden soll. Die Kunst hingegen ist eine neue Sichtweise, die noch nicht Teil des Kulturerbes geworden ist. Diese Definition erscheint mir wichtig, denn in der Zeit des Übergangs zur Demokratie habe ich den Standpunkt vertreten, daß die Demokratie die Kultur bewunderte, jedoch die Kunst fürchtete. Die Demokratie verehrte und förderte die Kultur, die Dichtung und alles, was Teil unseres Kulturerbes war, und fürchtete die Kunst, denn sie impliziert neue Ausdrucksformen angesichts einer Politik, die immer noch den Konsens, die Versöhnung suchte.

Manfred Beilharz: Der Hinweis auf den Zusammenhang mit den nonverbalen Theaterformen, die sozusagen das verbale Theater anreichern, scheint mir ein wichtiger Gesichtspunkt zu sein. Ich glaube auch, daß nicht nur die Anregung, die das zirzensische oder das Fooltheater für das deutsche etwas erstarrte Stadttheater gegeben hat, sondern auch die Beschäftigung mit der Optik im Theater dazu führten, daß wir nicht mehr in den Stand der Unschuld zurückfallen können, mit der man das Texttheater in den

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50er Jahren verstanden hat, wenn wir heute Theaterstücke schreiben, dechiffrieren oder darstellen. Bezogen auf die Situation in Deutschland habe ich doch ein etwas optimistischeres Bild, weil sie hier relativ pluralistisch ist. Die Struktur, die verschiedenen Regisseure und Theaterleiter, die darüber entscheiden, ob ein Text auf die Bühne kommt und in welcher Form er auf die Bühne kommt, läßt viele Möglichkeiten offen. Richtig ist, daß es hier die klassische Arbeitsteilung zwischen dem Textfabrikanten, also dem Schriftsteller, dem Autor, gibt und den Theaterleuten, die ihn umsetzen, es sei denn, es handelt sich um die berühmten Fälle der freien Gruppen, wo Regisseur und Autor identisch sind, oder wo der Text aus der Gruppe heraus entwickelt wird, es sich also um eine kollektive Theaterarbeit handelt. Trotz alledem glaube ich, daß vom Ansatz her doch eher versucht wird, den wesentlichen Punkten des Textes zu Geltung zu verhelfen. J o h a n n e s O d e n t h a l : Ramón Griffero, Sie sagten, das Körpertheater oder die Etablierung von anderen Elementen als der Sprache auf der Bühne ist ein Übergang. Das kann ein Übergang sein, ist es aber natürlich nicht, denn es wird immer ein Theater weiterexistieren, das mit Bildern, mit Körperlichkeit arbeitet, und das ein Territorium der Kommunikation unabhängig von jeder verbalen Entwicklung aufrecht erhält. Ich finde es zu einfach zu sagen, das Schauspiel soll regeneriert werden. Das ist ein wichtiger Aspekt, aber genauso wichtig ist, daß zumindest in den letzten 100 Jahren eine Entwicklung, eine Explosion von Formen stattgefunden hat, von Bewegungsformen im Tanz, die historisch einzigartig ist und die sich immer interkulturell geäußert hat. Mit den ballets rttsses in Paris, mit Isadora Duncan in Europa, mit Cunningham, der sich nur in Europa durchsetzen konnte, mit Pina Bausch, die sich in Frankreich durchgesetzt hat usw., immer im interkulturellen Rahmen. Dort hat eine Explosion von Kommunikationsformen stattgefunden, die in ihrer Wertigkeit überhaupt noch nicht richtig positioniert wurde. Daß sich Arbeiten bis hin zu Forsythe, bis hin zu Cunningham gegen die Diktatur der perspektivischen Bühne entwickelt haben, darin sehe ich auch eine Bewegung gegen das Theater als Ort. Es ist immer eine Umkehrung dieser Raumordnung. Es ist sozusagen das kreative Arbeiten oder Gegenarbeiten oder Umkehren oder Aufarbeiten bestimmter Motive, und ich sehe darin etwas, was genauso wichtig ist wie die Rekonstruktion oder wie die Präsenz einer starken Dramatik. Ich sehe Theater als Raum, als eine Maschine, mit der man auch kreativ umgehen kann, die man sozusagen auf die Straße bringt, wie das Manuel Hermelo gemacht hat mit La Organización Negra

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beispielsweise. Ich sehe hier einen äußerst produktiven Prozeß der Dekonstruktion, der notwendig ist, der natürlich auch wieder ein Ende haben wird, aber der fiir mich genauso wichtig ist, genauso eine Wertstellung hat in unserer Gegenwartskunst wie die Entwicklung der Dramatik. R a m ó n G r i f l e r o : Im Jahr 1990 stellte sich uns die Frage, von wo aus schreibe ich, fiir wen schreibe ich und warum mache ich Theater. Da ich keinen kulturellen Beweggrund für meine Theaterarbeit hatte, hätte ich nie zu einem Regisseur gesagt, ich würde gerne einen Koltés inszenieren. Weder Koltés noch Müller konnten interessant fiir mich sein, nicht weil sie keine interessanten Autoren wären, sondern weil mein Wunsch, eine Stimme zu sein, mit dem direkten dramatischen Schreiben in Zusammenhang stand und nicht mit einer Theaterkultur. So empfand ich es damals. Dies war ganz deutlich nicht nur mein Problem, sondern betraf viele Künstler und ihr jahrelanges Schaffen, eigentlich schon seit Anfang des Jahrhunderts. Seit Beginn des Jahrhunderts weist Chile eine politische Kultur auf, die synchron zur europäischen verlief, es gab Sozialutopisten, Anarchisten, 1938 die Volksfront, Neonazismus und schließlich den Sozialismus Allendes. So gesehen war es eine Kultur der Sozialutopien seit dem vorherigen Jahrhundert. In dieser Kultur der sozialen Utopie war das Selbstverständnis des Künstlers immer mit seinem Engagement für die Utopie verbunden. Eine ganze Generation von Künstlern war fiir die Utopie, für das Volk und fiir all die mit der Utopie verbundenen Konzepte eingetreten, und mit dem Verlust dieser Utopie ist auch innerhalb unserer Tradition und unserer Mentalität der Bezug der Kunst verlorengegangen. Denn wir verfügten nicht über die Tradition der nordamerikanischen Kunst, die plötzlich „Kunst für die Kunst" ohne externen Bezugspunkt produzierte. Durch den Verlust des externen Bezugspunkts kommt es zur Krise, durch die in Frage steht, von wo schreibe ich, was male ich, was photographiere ich. So erging es beispielsweise einem befreundeten Photographen, der Aufnahmen von den Protestkundgebungen der Bevölkerung gemacht hatte und durch den politischen Wandel plötzlich keine Motive mehr hatte. In einem Aufsatz bezeichne ich dies als „Die Schizophrenie der szenischen Wahrheit" und beziehe mich auf die Schizophrenie mehrerer Wahrheiten, mit der sich der Künstler konfrontiert sieht. Diese Schizophrenie der szenischen Wahrheit, d.h. diese Unmöglichkeit, organisch zu erfühlen, wo die Wahrheit ist, möchte ich in meinem Theater darstellen: die subjektive, gefühlsbestimmte Wahrheit. Diese Schizophrenie führte zu einer Art Autismus, besonders bei den Theaterautoren, weniger bei den Regisseuren. Aber man sieht auch, daß die Regie in dieser Zeit des Übergangs zu den Klassikern zurückkehrte

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(Andrés Pérez, Alfredo Castro und auch ich inszenierten Stücke von Shakespeare), während in der folgenden, jetzigen Zeit die nationale Dramatik wieder auflebt. Als die Mauer fiel, begann bei uns die Demokratie. Es besteht eine Kontinuität. Und das Ergebnis davon ist - um die Idee zu Ende zu führen, daß in Chile nach dem Theater der Diktatur, das es eigentlich nicht gab, ein Theater für die Mittelschicht entstanden ist - , daß das aktuell erfolgreiche Theater durchweg von chilenischen Autoren geschrieben worden ist. Zur Zeit wird in Santiago mit großem Erfolg ein Stück gespielt, das schon 20.000 Zuschauer gesehen haben. Es handelt sich um das Stück El Desquite, das Andrés Pérez inszeniert hat und das im ländlichen Chile spielt. Ich will darauf hinaus, daß in diesem neuen Staat, in dieser neuen Zeit, das Theater auch zu einem Bedürfnis geworden ist. Der Unterschied zwischen einem zu 100 % subventionierten Theater und einem nicht subventionierten Theater ist ein wichtiger Punkt. Wichtig in dem Sinn, daß wir Künstler, wenn wir nicht die Vorstellungswelt unseres Umfelds umsetzen, weder Zuschauer haben, noch überleben können. Wir müssen uns mit unserem Publikum abstimmen, damit das Theater existieren kann. Denn wenn das Publikum nicht mehr ins Theater geht, ist nicht das Theater in der Krise, sondern der Künstler. Zur Zeit verstehen wir uns als eine Art Radar, Echo. Angesichts der großen Formenvielfalt stimmen sich die chilenischen Theaterkünstler auch wieder untereinander ab. Es gibt einerseits verschiedene Gattungen, Zirkustheater, Bildertheater, Konzepttheater, erzählendes Theater, verschiedene Erzählformen, und andererseits das Bedürfnis des Publikums, sich zu sehen, sich wiederzusehen, sich auseinanderzusetzen. Wichtig ist auch, daß während der Diktatur das Theater keinen Marktregeln unterworfen war, d.h. es war egal, ob das Stück im Fernsehen gezeigt wurde oder ob etwas darüber in den Zeitungen stand oder nicht, es gehorchte inneren Regeln. Die Marktwirtschaft ist ein neues Element im chilenischen Theater. In den letzten zehn Jahren hat die Gesellschaft ein acht- bis neunprozentiges Wachstum verzeichnet, die Marktwirtschaft und die Amerikanisierung haben Einzug gehalten. Das Theater ist zum Antikörper geworden und hat die Funktion übernommen, unsere Identität und unser Selbstbild zu erhalten, das wir weder im Fernsehen noch im Kino sehen können, da es den chilenischen Film nicht gibt. Es werden sehr wenige lateinamerikanische und chilenische Filme in den Kinos gezeigt, eigentlich fast gar keine. Das Theater ist hingegen heute ein Bedürfnis, denn angesichts der Internationalisierung der Medien, der Ernährung, der Kleidung, der Gegenstände bedeutet es die Materialisierung unserer Vorstellungswelt.

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Peter B. Schumann: Andrés Pérez, Johannes Odenthal sprach gerade von einer Bewegung gegen das Theater als Ort. Ich weiß nicht, was Du zuletzt gemacht hast, möchte Dich aber fragen, ob Du es als Deine Konzeption bezeichnen würdest, das Theater als Ort zu verlassen? A n d r é s Pérez: Im Augenblick ja, doch anfangs war es eher, wie so vieles in Chile, das Produkt einer Notwendigkeit. Ich hatte kein eigenes Theater. Ich war ein Schauspieler, der gerade von der Universität kam. Gemeinsam mit einigen Freunden meines Jahrgangs begannen wir, ein Stück zu proben, wobei wir, wie Ramón Griffero schon sagte, unsere Arbeit selbst „subventionierten". Ich spreche vom Ende der 80er Jahre. Es gab damals keine Subventionen, und wir konnten nicht lange proben. Dann brach sich die Hauptdarstellerin das Bein, und wir konnten das Stück nicht mehr spielen. Die ganze Arbeit war umsonst. Dennoch gab es ein Ensemble von Schauspielern, und es gab unsere Arbeit, die sich verändern ließ oder auch nicht. Wir hatten kein Geld, denn die Vereinbarungen galten nur für dieses eine Theaterstück. Eine Reihe von Fragen taten sich auf, die uns zur einzig möglichen Antwort führten: Wo finden wir einen Theaterraum, der kein Geld kostet? Wo brauchen wir kein Bühnenlicht? Wo verfugen wir über die größtmögliche Beweglichkeit? Und woher können wir sofort Geld herbekommen, um zu überleben? Die Antwort war: auf der Straße. Diese Überlegungen entstanden in den Gesprächen mit der Gruppe. Einige Schauspieler wollten nicht mitmachen, da es zu jener Zeit gefährlich war, denn das Innenministerium hatte ein Versammlungsverbot auf der Straße erlassen. Wir übrigen entschlossen uns, es zu machen. Unser erster Auftritt war an einem 24. Dezember. Diesbezüglich werden viele Anekdoten erzählt. Auf jeden Fall hat diese erste Begegnung mit der Straße eine Reihe ästhetischer Leitlinien geprägt, an denen wir in der folgenden Zeit bis heute weiterarbeiteten. Einer dieser Grundgedanken betraf damals die Veränderung der theatralischen Räume. Uns gefiel es, die Leute auf der Straße zu sehen, uns gefiel, daß wir ihre Aufmerksamkeit fesseln mußten, denn wenn sie weitergingen, bekamen wir kein Geld. Uns gefiel, daß wir ihnen in die Augen schauen und direkt mit ihnen reden konnten. Daraus entstand, daß der Schauspieler direkt zum Publikum spricht, auch wenn wir in Theatersälen spielen. Die Wandelbarkeit dieses theatralischen Raums gefiel uns. Wir fanden zwei Arten, damit umzugehen: Entweder fügten wir uns in den Raum ein und nahmen so Besitz von ihm, oder wir überfluteten den Raum mit unserer Ästhetik. Daraus haben sich zwei Arten der Aneignung des Raumes ergeben: Entweder integrieren wir ihn in das Stück, oder wir zerstören ihn, mischen ihn auf. Die Mobilität des Straßentheaters brachte uns in

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Kontakt mit den Leuten vom Zirkus. Sie waren sehr solidarisch mit uns. Am Tag unseres ersten Straßenauftritts kam es zu einer zufälligen Begegnung in dem Raum, wo wir probten. Dort trat ein Herr mit seinen Puppen auf. Wir wollten gerade mit unseren Puppen zum Auftritt gehen. Er fragte uns, wohin wir gingen, und wir antworteten ihm, daß wir Straßentheater machen wollten. Er fragte uns, ob wir ein Fahrzeug hätten, um zu dem Spielort zu kommen, und wir verneinten es. Er lieh uns seinen Wagen. Daraus entstand ein enger Kontakt, und er wurde zu unserem Paten. Er war ein ungeheuer erfahrener Mann, der von der alten Zirkustradition herkam, ein Zeremonienmeister des Zirkus. Dadurch kamen wir zum Zelttheater. Und mittlerweile arbeiten wir meistens im Zelt, denn dadurch sind wir in der Stadt beweglich. Einer der Grundsätze meiner Gruppe, den wir auch jetzt nicht aufgeben wollen, auch wenn dies schwierig ist, ist, daß wir ein Theater machen wollen, das die chilenische Bevölkerung erreichen soll. Ich glaube, daß 80 % der Leute nie ins Theater gehen. Nur 20 % der Bevölkerung von Santiago gehen ins Theater. Daher verleiht uns das Zelt Mobilität und die Fähigkeit, den Raum zu verändern. Beispielsweise hat das Zelt im Sommer manchmal kein Dach, es ist unkompliziert und billig. Peter B. Schumann: Manuel Hermelo, Ihr habt eine andere Wurzel des Straßentheaters gefunden. Was aber war der Grund, Straßentheater in Argentinien zu machen, den Obelisk zu besteigen und dort geradezu akrobatische Kunststücke zu vollführen [gemeint ist die Produktion La Tirolesa, Anm. d. Red.], bevor Ihr dann wieder an den klassischen Ort des Theaters zurückgegangen seid? War es das Mißtrauen gegen den dramatischen Text? Manuel Hermelo: Offen gesagt bin ich überhaupt nicht mißtrauisch, doch als das Gespräch auf die Krise des dramatischen Textes kam, habe ich bei mir gedacht, daß diese Krise mir vollkommen egal ist. Ich denke darüber gar nicht nach und bin überzeugt, daß diese Diskussion absolut nichts mit Kunst zu tun hat. Allerdings werden häufig Dinge über das Theater gesagt, die sich eigentlich auf die Literatur beziehen. Daher ist es manchmal schwer zu verstehen, wovon überhaupt die Rede ist. Meiner Meinung nach gibt es keine Krise des dramatischen Textes, und dabei verstehe ich unter Text nicht nur den geschriebenen Text, sondern den gesamten lesbaren Text, den Körpertext, den Bildtext. Ich habe mich nie mit dem Begriff des Bildertheaters identifiziert, diese Begrifflichkeiten stammen von anderen. Ich glaube, die Dinge sind viel einfacher. Man macht kein Bildertheater aus Opposition zum Texttheater, man macht

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nicht eine Sache, weil man nicht die andere tut, sondern weil man sich dafür entschieden hat. Ausgehend von dieser Entscheidung entsteht der dramatische Text (mir ist dies aufgefallen, als ich neulich alle Videos wieder gesehen habe, in denen zehn Jahre unserer Arbeit festgehalten sind, noch nie habe ich sie mir auf diese Weise angeschaut). Man sieht plötzlich, welche Verflechtungen entstanden sind, und meistens ist der Ausgangspunkt dazu völlig zufällig und willkürlich. D i a n a R a z n o v i c h : Mir geht es genauso wie Manuel Hermelo. Die Krise des Textes ist mir egal. Das ist kein Thema, das mich beschäftigt, denn ich befasse mich damit, meine Stücke zu schreiben. Ich sehe hier keinen Widerspruch und glaube nicht, daß man sich für das eine oder andere entscheiden muß. Mich fasziniert die Arbeit von La Organización Negra. Als ich die Arbeit an dem Obelisken sah, mußte ich weinen und fand es wunderbar. Ich hatte den Eindruck, daß es einen Text gab, einen Körpertext. Wenn ich Potestad von Pavlovsky sehe, interessiert mich der Text und das, was mit den Körpern passiert. Wenn ich einen Theaterautor lese, ohne das Stück im Theater zu sehen, kann ich es auch interessant finden. Wenn ich eine Aufführung von Pina Bausch sehe, ist es für mich auch ein Text. Daher macht es keinen Sinn, das Gefühl von einer Krise des Textes heraufzubeschwören. Denn dadurch wird der Eindruck vermittelt, daß uns die Ideen ausgegangen sind, daß sich unsere Möglichkeiten des Schreibens erschöpft haben, sei es mit dem Körper, mit dem Stift, mit dem Computer oder mit sonst etwas. Ich glaube, jeder tut das, was er kann. Ich fände es toll, wenn ich den Obelisk besteigen könnte, aber ich komme von der Literatur her. Daher ist meine Beziehung zum Wort sehr stark. Auch meine Beziehung zum Text ist sehr stark und übermächtig, aber ich habe mich für das Theater entschieden, das eine ganz eigene Art der Literatur darstellt. Es ist keine Literatur, die beim Wort stehenbleibt. Sie muß Fleisch werden. Für mich ist es sehr wichtig, daß die Dinge, die wirklich passieren, umgesetzt werden. Das Problem der Krise könnte nur damit zu tun haben, daß ich selbst mich in einer Krise befinde und daß ich angesichts dessen, was ich schreibe, nicht mehr weiß, wo ich selbst stehe. Ich erlebe genau das Gegenteil. Die ganze Zeit über mache ich mir Notizen. Das heißt nicht, daß das Ergebnis gut oder schlecht sein wird. Ich bin mir nicht sicher, ob das Gerede über die Krise ein Werturteil ist oder das Zeichen einer persönlichen Krise, ob es uns beängstigen muß. Ich weiß nicht, worauf es sich bezieht, wenn von der Krise gesprochen wird. Mir scheint, daß das Theater in der ganzen Welt viele Erscheinungsformen hat. Wenn man heutzutage in Deutschland ein Stück von Brecht sieht, einen Text, der wie Arturo Ui in der Hitlerzeit entstanden ist

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und immer noch von so starker Wirkung ist, heißt das, daß dieser Text nicht in der Krise war. Er ging von einer wirklichen Krise aus, nämlich daß dieses Land eine der schrecklichsten Diktaturen durchlebte, die die Geschichte unseres Jahrhunderts gesehen hat. Daher weiß ich nicht, was Du, Peter Schumann, als Krise des Textes bezeichnest. Peter B. Schumann: Ich habe diese Formulierung nicht erfunden. Ich versuche ja hier nur, ein bißchen den Provokateur zu spielen. Aber es gibt eine Krise des argentinischen Theaters. Nein, es gibt überhaupt keine Krise des Theaters, haben wir in den letzten Tagen gehört. Wenn es eine Krise gibt, dann gibt es eine Krise der Autoren, der Regisseure oder der Orientierung; oder auch des Publikums. Das wäre jetzt einmal eine Frage, die vielleicht dieses Problem der Krise etwas verdeutlicht, denn es gibt tatsächlich in Argentinien eine Krise, weil relativ wenig Leute, und vor allem die Jugend nicht, so hieß es, ins Theater gehen. Das muß ja einen Grund haben. Diese jungen Leute gehen in jene Vorstellungen, die eine, sagen wir, gewisse Avantgarde darstellen. Sie gehen aber nicht in die Vorstellungen, in denen das traditionelle Schauspiel im Mittelpunkt der Inszenierung steht. Kann es sein, Ricardo Monti, daß es eine Reihe von Theaterautoren gibt, die weder den Nerv der Zeit noch Uberhaupt den Nerv des Publikums heute in Argentinien treffen? Daß es deswegen einen starken Publikumsschwund von 3 Millionen auf 2 Millionen, wie Roberto Cossa mir vor einiger Zeit erzählt hat, gibt? Ricardo Monti: Mir liegen andere Zahlen vor. Die Zahl der Theaterzuschauer ist im vergangenen Jahr um 20 % gestiegen. Ein weiterer, ebenso völlig objektiver Tatbestand ist, daß, bevor ich nach Deutschland gefahren bin, das Stück mit den höchsten Zuschauerzahlen pro Woche oder Monat, das weiß ich nicht mehr genau, Scherben von Arthur Miller war. Sie waren höher als die Besucherzahlen der Revuetheater und sogar der ganz kommerziellen Stücke, die schon seit fünf Jahren erfolgreich gespielt werden und viel Publikum anziehen. Zu Beginn möchte ich mich bedanken, denn es war für mich ein geistiger Genuß und eine Beruhigung, dem Beitrag von Manfred Beilharz und seiner Aufwertung des dramatischen Textes zuzuhören. Es macht mir Hoffnung. Ich bin Theaterautor und meine Berufung ist eine literarische. Ich verteidige um jeden Preis die Existenz der Dramatik als literarische Gattung. Es ist unsinnig, dies zu verneinen, denn dann müßten wir aus der Literaturgeschichte ihre wichtigsten Vertreter streichen, einschließlich

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der griechischen Klassiker, Shakespeare, Molière und Tschechow. Es handelt sich um eine literarische Gattung, die eine Besonderheit aufweist, denn sie ist dazu bestimmt, gesprochen zu werden, von einem lebendigen Wesen verkörpert zu werden. In Argentinien würde es einer Revolution gleichkommen, einmal eine vollständige Fassung des Hamlet, überhaupt einen kompletten Shakespeare zu sehen, aber dies ist nie geschehen. Es wurden immer nur Stücke, Fragmente gezeigt, eine Art ShakespeareReader's Digest. Aus sehr verschiedenen Gründen ist bei uns ein Konflikt entstanden, der nicht so sehr mit der Kunst, als vielmehr mit den Machtsphären zusammenhing. Es hat einen Streit über den dem Theaterautor angestammten und eigenen Raum und das Vordringen der Regisseure in diesen Bereich gegeben. Ich weiß nicht, wie dies auf internationaler Ebene aussieht, aber ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie sich diese Tendenz im Laufe unseres Jahrhunderts entwickelt hat. Mir ist bewußt, daß diese Entwicklung in Argentinien leider stark mit der Krise und dem großen Bruch zusammenhängt, der im intellektuellen Bewußtsein stattgefunden hat. Es ermüdet mich ein wenig, wieder auf das Thema der Diktatur zurückzukommen. Wir erleben weltweit so tiefgreifende Veränderungen, und vielleicht führt uns das Thema der Diktatur zu schon dagewesenen Fragestellungen zurück. Es ist jedoch beinah unvermeidlich, das Thema anzusprechen. In Argentinien hat ein tiefer Bruch im intellektuellen Bewußtsein stattgefunden. Die große Generation der 70er Jahre, der die hervorragendsten Persönlichkeiten Argentiniens angehörten, ist gescheitert. Das Debakel dieser idealistischen, außergewöhnlichen, brillanten, revolutionären und sehr politischen Generation, die zuviel revolutionäre Naivität besaß, war viel zu lautstark. Was war geschehen? Die Kinder dieser Generation sahen, wie ihre Eltern die Bücher, die sie verehrten, ins Feuer warfen, denn das Militär konnte in ihre Häuser eindringen, und wenn eines dieser Bücher gefunden worden wäre, wären die Eltern verhaftet worden oder sie wären verschwunden, einfach nur weil sie im Besitz dieser Bücher waren. Die Kinder dieser Generation erlebten das Wort und das Intellektuelle als eine Gefahr, eine Lebensgefahr. Dies war der Grund für den Bruch mit dem intellektuellen Bewußtsein und sogar fìir den Bruch mit dem Kontakt zum Wort. A n d r é s P é r e z : Ich würde gerne zu dem Thema der Theaterkrise zwei Anmerkungen hinzufügen, die sich auf die Geschehnisse in Chile und meine eigene Erfahrung beziehen. Ich glaube, daß hier nicht von der Krise des Theaters als Form gesprochen wird, zumindest war dies in Chile so, auch wenn man der Form nicht unbedingt trauen sollte. Zweifellos ging es in unserem Land nicht um das Wie, sondern um das Was, um das, was durch

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den Text ausgesagt wurde. Dies veranlaßte uns dazu, neue Formen zu suchen, auch wenn wir dies nicht programmatisch taten. Wir kamen immer mehr zu der Überzeugung, daß es eine Krise des Theaters gab, jedoch nicht in bezug auf die literarische Gattung, sondern in bezug auf das, was durch den Text ausgesagt wurde. Wir lebten auch unter einer Diktatur. Ich stimme mit dem Uberein, was Ricardo Monti Uber die Generation gesagt hat, die ihre BUcher verbrennen mußte, weil diese gefahrlich waren. Jedoch war es nicht an sich gefährlich, sondern es wurde zur Gefahr, weil andere es dazu machten. Es gab, ganz im Gegenteil, eine Generation, zu der ich mich auch zähle, die darauf hinwirkte, daß die Intellektuellen andere Formen suchten, um das zu sagen, was uns wichtig war. Daraus entstand das Theater, das mit Bildern, mit Symbolen arbeitete, denn da der Feind die Schrift verachtete, konnten wir vielleicht mit Hilfe anderer, intelligenterer Formen dieselben Utopien zum Ausdruck bringen. Das waren unsere Kämpfe. Diana R a z n o v i c h : Ich möchte noch etwas hinzufügen. Ich denke an ein Bild, von dem Susana Evans, eine argentinische Schauspielerin, oft spricht: das globale Dorf. Mir ist gerade etwas sehr Wichtiges zu diesem Problem eingefallen, das nicht in erster Linie ein argentinisches, chilenisches oder deutsches ist. Zudem finde ich es interessant, im Rahmen unserer Begegnung darüber nachzudenken, wohin uns all dies in Zukunft führen wird. Ist der Text tot oder wird er überleben, ist das Theater tot oder lebt es, sind wir Tote oder täuschen wir vor, lebendig zu sein? In einem so dramatischen Jahrhundert mit mehreren furchtbaren Kriegen (der letzte in Jugoslawien kam völlig unerwartet) glaube ich nicht, daß man noch von dem einen oder dem anderen Ort sprechen kann. Wir haben kein Recht mehr dazu, sondern mUssen viel globaler denken. Ich glaube, daß seit dem Zerfall der Systeme weltweit die Tendenz zu einer allgemeinen Verarmung der Bevölkerung besteht, was das Lesen und die Bildung angeht. Ich höre, wie die Jugend fast ausschließlich in einem primitiven Slang kommuniziert. Andererseits gründet mein Glaube an die Zukunft des Theaters, an die Zukunft der Literatur, an die Zukunft der Künste, die sich über den Körper ausdrücken, auf dem Gefühl, daß für das, was auf diesem Wege ausgesagt wird, noch keinerlei Ersatz gefunden wurde. Man kann es nicht anders ausdrücken. Ich glaube nicht, daß die Digitalisierung, die CDs, die Videos, die Technologie den Platz dieses Spezifikums einnehmen können, das die Literatur bzw. der Körper im Theater oder die Dimension des Bühnenraums charakterisiert, die Poetik des Raums und des Textes, wie Bachelard es nennen würde. Hier geht es um die Zukunft, d.h. um die Frage, ob dies alles überleben wird oder wir ei-

nem Begräbnis beiwohnen. Ich bin sehr optimistisch, denn noch mit den geringsten Mitteln, die wir der Gehirnwäsche durch diese vorprogrammierte Dekadenz entgegensetzen, wird es irgendeine Gegenantwort geben. Hier findet für mich der eigentliche Kampf statt, und zwar nicht zwischen den Leuten, die Körper- oder Texttheater machen wollen, sondern zwischen der Entleerung unserer Köpfe und dem kreativen Arbeiten.

Gibt es ein Theater der Frauen?

María de la Luz Hurtado Das Theater der Frauen in Chile'

Chile ist ein Land, das nicht ohne Selbstgefälligkeit gerne von sich behauptet, die lateinamerikanische Avantgarde für eine Reihe von Phänomenen der Moderne zu bilden. In diesem Klima bin ich nicht die einzige, die ein Opfer des weitverbreiteten Mythos über die aktive Beteiligung der Frau im chilenischen Theater geworden ist. Chile war eine Zeitlang der Vorkämpfer der Demokratie, dann der freiheitlichen Revolution und schließlich des Sozialismus. Heute sind wir die „Jaguare" der Marktwirtschaft und als erstes Land in Südamerika bereit, der vierte Bündnispartner in der NAFTA (North Atlantic Free Trade Area) zu werden. Die Frauen haben in Erziehung und Kultur einiges erreicht. Sie bilden die Mehrheit der Studierenden an den Universitäten, alle Studiengänge stehen ihnen offen; auch machen sie inzwischen einen hohen Prozentsatz (über 30%) der Arbeitnehmer aus. Im Laufe unseres Jahrhunderts sind einige Frauen in verschiedenen Bereichen der Kunst berühmt geworden: Violeta Parra in der Musik; Gabriela Mistral, Isabel Allende und Maria Luisa Bombal in der Literatur; Rebecca Matte in der Malerei und Bildhauerei. Auch hierin schienen wir beispielhaft zu sein. Doch die Facetten der Diskriminierung, die unsere Kultur und unsere Institutionen durchdringen, treten an ganz unerwarteten Rissen zutage und stellen das Gerede über unseren Respekt vor der Differenz und den Ausdrucksmöglichkeiten des „Anderen" in Frage. Obwohl ich meine, eine gewissenhafte Erforscherin Dieser Text wurde in einer anderen Fassung auch auf dem Symposium „Spanish, Latin American and U.S. Latin Women in the Theatre: A Stage of Their Own" an der University of Cincinnati, USA, im Oktober 1994 als Vortrag vorgestellt.

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des Theaters meines Landes zu sein und eine besondere Sensibilität für das Thema der GeschlechterdifFerenz zu besitzen, wurde mir erst jetzt - als ich mich für diesen Kongreß direkt mit der Frage nach der Mitwirkung der Frauen im chilenischen Theaterleben befaßte - bewußt, wie verspätet diese Mitwirkung historisch gesehen eingesetzt hat. Während die Produktionen „von" Frauen quantitativ geringfügig geblieben sind, wurde hingegen der (männliche) Diskurs „über" die Frau in vielfaltiger und kontinuierlicher Weise fortgesetzt, grenzte den Aktionsradius der Frauen ein und legte ihn fest. Erst seit Beginn der 90er Jahre änderte sich dieses Mißverhältnis zugunsten der Frauen, wodurch eine neue Etappe in unserem kulturellen Leben eröffnet wurde. Um mir das Phänomen der Ausgrenzung zu erklären, begann ich - nicht zuletzt von meiner soziologischen Ausbildung veranlaßt -, die historische Entwicklung unseres Theaters im Hinblick auf Institutionalisierung, soziokulturelles Umfeld und Theaterpraxis neu aufzurollen, um die Schlüssel zu diesem Rätsel zu finden.2 Dazu muß ich sagen, daß Theater für mich nicht nur der dramatische Text ist, sondern auch seine szenische Umsetzung, die Aufführung. Was mich in erster Linie interessierte, war die Frage, ob es den Frauen in allen Berufssparten des Theaters (als Schauspielerinnen, Theaterautorinnen, Bühnenbildnerinnen, Produzentinnen, Regisseurinnen, Theaterleiterinnen usw.) durch ihre Präsenz gelungen ist, in verschiedenen historischen Zeitabschnitten die bestehenden künstlerischen Genres neu zu bestimmen und einen Beitrag zu leisten, der allein ihrer Stellung und Arbeit als Frau zugeschrieben werden kann. Dazu möchte ich folgende Hypothese aufstellen: In Chile ist die Eroberung neuer Bereiche der Theaterarbeit und die Begründung eigener Traditionen vorrangig von Männern geleistet worden. Erst im 20. Jahrhundert fassen Frauen hauptberuflich im Theater Fuß, und dies geschieht immer mit Verspätung: Erst wenn sich ein Berufsbild im Theater etabliert hat und ein neuer Bereich das männliche Interesse auf sich zieht, rücken die Frauen in die „alte" Disziplin nach. Die Bedingungen zur Durchbrechung dieser Konstante entstehen erst Ende der 80er Jahre im Zusammenhang mit den tiefgehenden Veränderungen der theatralischen Produktionsprozesse, und sie manifestieren sich in den Arbeitsbeziehungen sowie in den Bereichen der spezialisierten Berufsausbildung.

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Diese Neubewertung basiert hauptsächlich auf der erneuten LektUre von zwei Forschungsarbeiten, die ich f&r den Forschungsschwerpunkt „Chilenische Theatergeschichte" im Fachbereich Theaterwissenschaft der Theaterschule der Universidad Católica de Chile erstellt habe: „Un siglo de teatro en Chile, 1890-1990" mit der Unterstützung von DIUC und Fondecyt und „Teatro chileno y modernidad: identidad y crisis social" mit Unterstatzung der Fundación Andes. Beide Publikationen werden demnächst veröffentlicht.

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Demzufolge haben die Frauen im Theater immer schon sprachlich, schöpferisch und organisatorisch besetztes und festgeschriebenes Terrain betreten. In ihren Arbeiten läßt sich keine besondere Reflexion über die Geschlechterproblematik erkennen, auch wenn in der weiblichen Dramatik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige gemeinsame Anliegen auszumachen sind, die sich aus der besonderen Bedeutung, die dem Weiblichen innerhalb der lateinamerikanischen Kultur zugeschrieben wird, erklären lassen. Erst in den jüngsten Generationen wird aufgrund der Präsenz der Frauen in mittlerweile allen Bereichen des Theaters eine programmatische Suche nach einer Sprache erkennbar, die es vermag, der Differenz Ausdruck zu verleihen.

Zwischen den beiden Weltkriegen: Die Frage nach dem Weiblichen und dem Männlichen auf der Bühne Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts können sich Frauen Zugang zur Dramatik verschaffen: Drei oder vier Autorinnen schreiben in den ersten zwei Jahrzehnten Theaterstücke.3 Diese Dramatikerinnen zählen weder zu den bekanntesten ihres Berufsstandes, noch werden ihre Stücke häufig aufgeführt. Außer Elvira Santa Cruz de Ossa, die um 1917 aktiv ist, beenden die meisten vorzeitig ihre Karriere. In der „Generation des Übergangs" zwischen den 30er und den 40er Jahren tauchen mehr weibliche Namen auf, allerdings handelt es sich immer noch um Schriftstellerinnen, die nur gelegentliche Abstecher in die Dramatik machen (Magdalena Petit, Gloria Moreno, Teresa León, Patricia Morgan, Deyanira Urzúa de Calvo). Ebenso wie die Dramatiker des 19. Jahrhunderts arbeiten diese Frauen auf ganz unterschiedlichen künstlerischen Gebieten; das Theater stellt nichts weiter als eine intellektuelle, künstlerische und gesellschaftliche Liebhaberei dar, der sie sich nur gelegentlich widmen.4 In den 40em und 50em schreiben die Dramatikerinnen hauptsächlich melodramatische Hörspiele (Olga Cáceres, Blanca Arce). Diese Handvoll Schriftstellerinnen geht aber in der qualitativ und quantitativ wahrhaft explosionsartigen Entwicklung der chilenischen Dramatik dieser Zeit völlig unter. Den männlichen Dramatikern hingegen gelingt es, ihre Kunst zum Beruf zu machen. Ihre Stücke entste-

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Das erste Stück, dessen Text uns erhalten geblieben ist und von mir dokumentiert wurde, ist das Lustspiel Epidemia de amor von Raquel Echaurren (1906). Vgl. Rojas, B./Pinto, P. (Hrsg.): Escritoras chilenas: teatro y ensayo. Santiago 1994.

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hen auch nicht mehr nur unter rein literarischen Gesichtspunkten, sondern mit Blick auf deren Aufführung. Das zentrale Thema in der vorwiegend männlichen Dramatik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist neben der „sozialen Frage" und der Modernität die Veränderung der Geschlechterrollen. Deren Bestimmung gerät allseits in die Krise: Die Männer fühlen sich in ihrer Rolle als Versorger ihrer konsumsüchtigen Frauen, die ihnen die Luft abschnüren, ausgebeutet. Die Frauen fordern ihrerseits mehr Wertschätzung ihrer intellektuellen und emotionalen Interessen und verlangen den Zugang zur Öffentlichkeit, zur Arbeitswelt und zum Studium. Die Männer konzentrieren sich einerseits ausschließlich auf ihre Arbeit bzw. auf die Erlangung politischer oder wirtschaftlicher Macht, andererseits aber versuchen manche, ihre „weiblichen Seiten" zu entfalten, indem sie den Künstler oder Gefühlsmenschen in sich entdecken und nach einer tiefen geistigen Freundschaft mit Frauen suchen. Dadurch entsteht eine interessante Allianz zwischen dem „modernistischen" Künstler und der Frau. Beide fordern von der Gesellschaft, das Modell eines Menschen zu akzeptieren, der die traditionell dem anderen Geschlecht zugeschriebenen Eigenschaften verkörpert.

Die Generation der 50er Jahre: Die Universitätstheater In den 40er Jahren erhält Chile mit dem Modell der „Entwicklung nach innen", das auf Importbeschränkungen beruht und dem Staat eine aktive Rolle zuweist, einen wichtigen Impuls für die Modernisierung des Landes. Die Schlagworte der Epoche wie „Regieren ist Erziehen" oder „Brot, Haus und Kleidung" machen deutlich, daß der Versorgungsstaat die Kultur zu den Grundbedürfnissen der Bevölkerung zählt. Die Künste werden in die Universitäten integriert, das gilt auch für das Theater. Die Universitätstheater (das Teatro Experimental der Universidad de Chile und das Teatro de Ensayo der Universidad Católica), die eine Modernisierung der Bühne und des Repertoires vornehmen, finden Unterstützung beim Mittelstand und der Oberschicht und rechtfertigen ihre Arbeit mit diesem gesellschaftlichen und intellektuellen Rückhalt. In diesem Zusammenhang treten erstmals im chilenischen Theater Schauspielerinnen mit einer interessanten künstlerischen Persönlichkeit hervor (eine Ausnahme zuvor war Ana González), denen es gelingt, sich einen ihren Schauspielkollegen vergleichbaren Namen zu machen: María Cánepa, Bélgica Castro, Marés González, Silvia Piñeiro, María Maluenda. Zu diesem Zeitpunkt aber stehen die Regisseure als Schöpfer der Aufführung im Mittelpunkt der Auf-

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merksamkeit; dieser Beruf ist erst kurze Zeit zuvor in unserem Land eingeführt worden. Die Spielpläne, die Schauspielstile, die Bühnenästhetik und die Theaterschulen haben sich durch Impulse der großen Theaterlehrer entwickelt: Pedro de la Barra, Agustín Siré, Pedro Mortheiru, Eugenio Dittborn, Eugenio Guzmán. Während in den inzwischen 45 Jahren des Bestehens der Funktion des Regisseurs in Chile keine Frau in wichtigen Produktionen diese Aufgabe übernommen hat, sind das Bühnenbild und der Ausstattungsentwurf hingegen Bereiche, zu denen die Frauen der zweiten Generation professioneller Theatermacher gegen Ende der 50er und in den 60er Jahren Zugang erhalten: Neben Bernardo Trumper und Oscar Navarro sind hier u.a. Amaya Clunes, Bruna Contreras und Edith del Campo hervorzuheben. In die lange Reihe von professionellen Theaterautoren, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, fügt sich schließlich in den 50er Jahren eine Gruppe von Autorinnen, die in jeder Hinsicht unter den gleichen Bedingungen wie ihre männlichen Kollegen arbeiten. Sie behandeln ähnliche Themen und Ideen, sie bevorzugen gleichermaßen die von den europäischen und nordamerikanischen Avantgarden entwickelten Gattungen, ihre Stücke werden veröffentlicht und in den wichtigen Theatern des Landes in Zusammenarbeit mit den besten Theatermachern aufgeführt. So gesehen befinden sich die Theaterautorinnen auf dem gleichen Terrain wie die männlichen Dramatiker. In der Vielzahl der Dramatikwettbewerbe, die in diesen Jahren durchgeführt werden, fallt es schwer, zwischen einem Theaterautor und einer -autorin zu unterscheiden, da eine Bewerbung die Anonymität eines nicht geschlechtsspezifischen Pseudonyms erfordert. Die Tatsache, Theaterautorin zu sein, bedeutet seit dieser Zeit nicht mehr a priori ein Handikap innerhalb der nationalen Theaterszene. Wir verdanken dies den überragenden Werken von Isidora Aguirre, María Asunción Requeña und Gabriela Roepke, doch offengestanden sind nicht viel mehr Autorinnen zu nennen (Isabel Allende, Dinka Ilic de Villarroel und Gloria Cordero teilten die Bühne mit Egon Wolff, Alejandro Sieveking, Jorge Díaz, Luis A. Heiremans, Fernando Debesa und Fernando Cuadra u.a.). Eine Dramatikerin erhält indes den ungeteilten Applaus und die Gunst des Publikums: Isidora Aguirre ist die Autorin des erfolgreichsten Stücks des chilenischen Theaters.3 In den 60er Jahren dominieren sozialpolitische Themen, alle übrigen Interessen werden zweitrangig. Im Blick einer feministischen Wissenschaftlerin der heutigen Zeit wirken die damals als progressiv und kritisch beurteilten Stücke auf-

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La pérgola de las flores, inszeniert 1960 vom Teatro de Ensayo der Universidad Católica.

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grund der schematischen Rollen, die den Frauen darin zugeteilt werden, ultrakonservativ. Melodramatische Modelle verbannen die weiblichen Figuren in die Intimität der Familie, wo sie als Garanten bedingungsloser Liebe und tradierter Wertvorstellungen6 fungieren. Nach einer etwas ausführlicheren Analyse lassen sich allerdings in dem Werk von Isidora Aguirre und Maria Asunciön Requena Konstanten ausmachen, die mit ihrer Rolle als Frau in Zusammenhang gebracht werden können. Mit besonderem Nachdruck stellen sie in ihren Stücken die geschichtliche und gesellschaftliche Erinnerung an die Vergangenheit, die in Mythen, Legenden, Ritualen, Liedern und volkstümlichen Traditionen bewahrt ist, in den Mittelpunkt. Auch die indianische Kultur übt eine große Anziehungskraft auf die Autorinnen aus, die u.a. in ihre Texte Passagen in indigenen Sprachen mit all ihrer Klangfülle und Eigenständigkeit einfügen. Mutter Erde - la Pachamama - verbindet die indianischen Charaktere in den Stücken mit einem magischen Naturverständnis. Isidora Aguirre greift auf historische Tatsachen zurück, um auf dieser Basis die großen Probleme der Gegenwart zu thematisieren: Die kulturelle und gesellschaftliche Textur wird in ihrer zeitlichen Dimension durchlässig, so daß sie uns einen neuen Zugang zu unserem Leben und unseren Kämpfen vermittelt. In Las tres Pascualas, Los que van quedando en el Camino und La pergola de las flores fließen die Ergebnisse ihrer anthropologischen und geschichtlichen Untersuchungen in eine Theatersprache ein, die sich durch Anmut und Leichtigkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel auszeichnet, unterstützt von Aguirres souveränem Umgang mit szenischen Mitteln. Ihre Anweisungen für Bühnenbild, Beleuchtung und Requisite, die Musik, Lieder und Tänze sind von der Volkskunst inspiriert, deren grundlegend theatralischen Charakter sie betont. Maria Asunciön Requena führt uns ebenfalls in eine indianische Welt insbesondere der Alakaluf, Ona und Chilote, sowie zu den spanischen Kolonisatoren, zu trostlosen und unwirtlichen Orten von erdrückender Schönheit, dorthin, wo aus der Begegnung und dem Aufeinanderprallen der amerikanischen Kulturen das Beste und das Schlechteste entstanden ist. Ich möchte die These aufstellen, daß sich diese Interessen in einen Zusammenhang mit der Bedeutung des Weiblichen in Lateinamerika bringen lassen. Sandra Cypess erwähnte in ihrem Vortrag „A Stage(d) Convention: Gendering the Dramatist"7, daß die englische Definition des Wortes tradition „das vom Vater auf den Sohn übertragene Wissen" bedeute. In Lateinamerika übernimmt zwei6

Vgl. beispielsweise Deja que los perros ladren von Sergio Vodanovic oder einige Stücke von Egon Wolff.

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Gehalten auf dem oben erwähnten Symposium „A Stage of Their Own".

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felsohne die Frau die Aufgabe, dieses Wissen weiterzugeben. Angesichts der Abwesenheit des Vaters in der Familie, eine für unsere Gesellschaften charakteristische soziologische Gegebenheit,8 gilt die Mutter und Frau im allgemeinen als Vermittlerin der Tradition.

Veränderungen durch die creación colectiva: die 70er Jahre Ein wichtiger Grund für das Aufbrechen der Hierarchien im Theater ist die Einführung der creación colectiva als neues Modell der Autorschaft und Inszenierung, das sich in Windeseile in der chilenischen Theaterszene durchgesetzt hat. Das heißt nicht, daß ich die auf diese Weise entstandenen Stücke für ästhetisch überlegen halte; ganz im Gegenteil, in der Regel sind sie schwächer und kurzlebiger. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß diese Arbeitsweise zu tiefgreifenden Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat, die bis heute die Theaterszene prägen, indem sie die Mitwirkung und die Entfaltung von differenzierten Persönlichkeiten begünstigt. Im Ergebnis ist eine creación colectiva zumeist ein Kompromiß, entstanden aus der Gegenüberstellung subjektiver Standpunkte, Erfahrungen und Überzeugungen. Insbesondere die Frauen sind in die unterschiedlichen Produktionsetappen und Funktionen der creación colectiva einbezogen, das gilt für das Schauspielen, die Dramaturgie und die Inszenierung. Trotzdem hört die weibliche Mitwirkung in dem Moment auf, in dem es darum geht, den erarbeiteten Text schriftlich zu fixieren. Ein Beispiel dafür ist ICTUS, die wichtigste kollektive Theatergruppe in Chile: Delfina Guzmán, ein tragendes Mitglied, überläßt dieses Feld Nissim Sharim oder irgendeinem der anderen männlichen Gruppenmitglieder, die anscheinend den Alleinanspruch auf das geschriebene Wort haben.

Die Zeit der Militärdiktatur von 1973 bis 1989 Während der Militärregierung von 1973 bis 1989 gehen viele Theaterfrauen und -männer ins Exil und verstreuen sich über die ganze Welt. Dies bedeutet für die Die Erbfolge in der indianischen Familie verläuft mütterlicherseits.

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Dramatikerin María Asunción Requena ebenso das „Aus" wie für Gabriela Roepke, die inzwischen schon seit Jahren in den USA lebt und aufgehört hat, für das Theater zu schreiben. Daher bleibt in diesen schwierigen Jahren mit Isidora Aguirre die einzige professionelle Dramatikerin im Land, die der Frau auf der Bühne eine kritische Stimme verleiht. Mit Stücken, die in unterschiedlichem Maß auf die chilenische Wirklichkeit anspielen, greift sie wiederum auf die Geschichte zurück, so z.B. in ihrem allseits gefeierten Stück Lautaro (1981) oder in Diálogo de fin de siglo (1988). Noch vor dem Ende des Regimes behandelt sie in Retablo de Yumbel ganz unverhohlen das Thema der desaparecidos (Verschwundenen) auf der Basis von volkstümlichen Riten und Legenden. Trotz des Exils vieler Theatermacher gibt es in Santiago in dieser Zeit vielfaltige Theateraktivitäten, während sie in den Provinzen spürbar abgenommen haben. Das Theater der Universidad Católica arbeitet weiterhin mit den Studierenden, und die freien Theater schaffen einen Raum für Kreativität. Viele Schauspielerinnen gründen Theatergruppen und können sie dank ihrer organisatorischen Fähigkeiten am Leben erhalten. Andere werden aktive Mitglieder von Theaterkompanien. Dazu zählen u.a. Ana González, Luz M. Sotomayor, Ana M. Palma, Paz Yrarrázaval, M. Elena Duvauchelle, Yael Unger, Delfina Guzmán, Susana Bomchil, Alicia Quiroga, Liliana Ross, Carla Cristi. Die institutionelle Basis bildet vorwiegend das Gruppentheater. Auch wenn nicht mehr mit der creación colectiva in ihrer reinsten Form gearbeitet wird, so bestimmt dennoch die Mitwirkung der Schauspieler und Schauspielerinnen vorrangig die Erarbeitung des dramatischen Textes und der Inszenierung. Die chilenischen Schauspielerinnen zeigen gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen Tag für Tag Flagge auf der Bühne und fordern so Zensur und Repressionen heraus. Sie schaffen eine enge Beziehung zum Publikum, das ihr Komplize werden soll, denn ihre Stücke handeln hauptsächlich von der Bindung an demokratische Werte und von der Verteidigung des menschlichen Lebens. Während der Beitrag der Frauen als Bühnenbildnerinnen sehr beachtlich ist (S. Bomchil, L. Sotomayor) und sie auch aktiv an den Inszenierungen teilhaben, gibt es immer noch keine Frau, die Regie über eine gesamte Inszenierung fuhrt. Erst 1987 zerbricht das historisch gewachsene männliche Regiemonopol, als Ana Reeves Los hermanos queridos von dem Argentinier Carlos Gorostiza im Teatro Nacional de la Universidad de Chile und M. Elena Duvauchelle La secreta obscenidad de cada día von Marco Antonio de la Parra mit dem Ensemble Nuevo Grupo inszenieren. Beide sind Schauspielerinnen, die ihre Ausbildung in den 60er Jahren in den Universitätstheatern absolviert haben und die intensiv an den creaciones colectivas Ende der 60er und in den 70er Jahren be-

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teiligt gewesen sind. Auch andere Schauspielerinnen, die eine ähnliche oder noch längere Theatererfahrung nachweisen können, wenden sich ab jetzt der Regie zu: Delfina Guzmán, Silvia Santelices, Yael Unger, Carla Cristi u.a. Dazu zählt auch Alejandra Gutiérrez, die als einzige eine Regieausbildung erhalten hat.9 Diese Gruppe von Frauen hat eine interessante Gemeinsamkeit: Alle außer Delfina Guzmán waren im Exil, wo sie unter den schweren Bedingungen nur durch viel Mut und Aufbietung ihres ganzen künstlerischen Könnens bestehen konnten. Vielleicht erleichterten ihnen die anderen Gesellschaften sogar die berufliche Profilierung, die ihnen in Chile nicht zugestanden wurde.

Der Durchbruch der Frauen in den 90er Jahren Nicht als Folge des Übergangs zur Demokratie, sondern eher durch die Erfahrungen in einem über Generationen hinweg männlich geprägten Theater wird meiner Ansicht nach das Feld für den Durchbruch der weiblichen Dramatik frei. 1990 ereignet sich ein in unserer professionellen Theaterentwicklung bisher nie dagewesenes Phänomen. Das Stück Cariño Malo von der jungen Autorin Inés Stranger wird von einer Frau (Claudia Echenique) inszeniert, alle Figuren werden von Frauen dargestellt, die gegebenenfalls Männerrollen spielen, so wie auch alle übrigen Funktionen von Frauen besetzt sind: von einer Komponistin, einer Musikerin, einer Bühnenbildnerin, einer Produzentin. Das Stück wird im Theater der Universidad Católica, dem renommiertesten Theater des Landes, uraufgeführt und hat nachhaltigen Erfolg, und zwar gerade weil (und nicht obwohl) es von Frauen gemacht wurde.10 Das vorrangige Ziel dieser Gruppe ist die Erforschung ihrer Weiblichkeit und die Suche nach spezifischen Sprachen, die diese zum Ausdruck zu bringen vermögen. Sie arbeiten mit einer Methode, die keine Grenze zwischen Text und Aufführung zieht, ohne daß die einzelnen Aufgabengebiete der Künstlerinnen angetastet werden. In diesem Prozeß des gegenseitigen Austauschs sind das Klima der Freundschaft, der Intimität, des Vertrauens und Respekts, das in der Gruppe herrscht, von entscheidender Bedeutung. Sie erproben Rituale und Übungen, um ihre Gefühle, Erinnerungen, unbewußte Bilder und Symbole freizusetzen, ohne Tabus zu berücksichtigen und ohne das Gefühl, daß „Voyeure" 9 10

Ihre Ausbildung erhielt sie in der damaligen UdSSR. Anschließend arbeitete sie in Mexiko. In der Zeitschrift Apuntes, 101 (Escuela de Teatro de la Universidad Católica) ist 1990 der vollständige Text von Cariño Malo zusammen mit verschiedenen kritischen Aufsätzen veröffentlicht worden.

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an ihren Erfahrungen teilhaben. Sie arbeiten mit der Bereitschaft, diese Prozesse des Suchens und der persönlichen, künstlerischen Entwicklung als Frauen miteinander zu teilen. Dies geschieht mit großer Selbstdisziplin und Ehrlichkeit, ohne von vornherein Resultate vor Augen zu haben. Sie unterliegen keinen wirtschaftlichen Zwängen. Die Universität, an der sie später Aufnahme finden, gibt ihnen die materielle und wirtschaftliche Basis zum Experimentieren, ohne Rückzahlungen aus den Kasseneinnahmen zu fordern. Das Resultat ist gleichzeitig gewagt und raffiniert, rituell und ohne Schnörkel. Zwischen der Sprache der Aufführung und der Sprache des Textes besteht eine Spannung, die das Ergebnis bereichert. Mit Carino Malo identifizieren sich nicht nur Frauen, sondern alle, die offen sind für die problematischen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Das Stück beschreibt den Heilungsprozeß nach einer unglücklichen Liebe, indem es die weiblichen Rollenzuschreibungen in der Gesellschaft kritisiert: die Bilder von Mütterlichkeit, den Widerspruch zwischen erlebten Impulsen und angestrebten Modellen, die Einsamkeit mit sich selbst und anderen, schließlich die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem. Thema der Produktion sind die Gefühle nach einer Trennung: der Schmerz darüber, nicht geliebt zu werden, die Überwindung des erlebten Verrats, die Auseinandersetzung mit Einsamkeit und Schuldgefühlen und die Trauer. Der innere Kampf der Frau findet auf verschiedenen dramatischen Ebenen statt, der emotionalen, der intellektuellen und der leidenschaftlichen. Sie werden von drei Figuren repräsentiert, die als Vervielfachung ein und derselben Frau fungieren. Die Fragmentierung ist Ausdruck der Identitätskrise, der Gleichzeitigkeit von Gedanken, Gefühlen, Träumen und Erinnerungen, die darauf drängen, ausgesprochen und ausgetrieben zu werden und das Erlebte in einer tastenden Sinnsuche sprachlich zu erfassen. Dies ist ganz offensichtlich kein realistisches Theater. Vom Text her ist es eher Konzepttheater, auf der Bühne dominiert das rituelle Moment in Form von poetischen und plastischen Symbolen, die für kollektive Erinnerungen wie auch persönliche Schlüsselerlebnisse stehen. Die sparsame Anwendung von Bühnenelementen trägt zur Verfremdung des gesprochenen Textes bei. Es scheint sich hier in vielerlei Hinsicht um ein postmodernes Theater zu handeln, aber mehr noch ist es vom Post-Utopismus und Post-Pinochetismus geprägt. Es schafft Raum zur Erforschung von Geschlechteridentitäten, will ein Einverständnis herstellen, das auf einer anderen Ebene als der politischen beruht und will ganz besondere Publikumsschichten ansprechen. 1993 inszeniert dieselbe Kerngruppe (zusammen mit einigen Schauspielern und einem Bühnenbildner/Bildhauer) das Stück Malinche im Theater der Universi-

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dad Católica. Es wird nicht der gleiche Publikumserfolg wie das vorhergehende Stück, bedeutet aber meiner Ansicht nach eine wichtige ästhetische und schriftstellerische Entwicklung." Mit Malinche beschreitet Inés M. Stranger den Weg ihrer Vorgängerinnen Aguirre und Requena, denn wie diese begibt sie sich auf dem Kreuzungspunkt zwischen dem Indianischen und Hispanischen auf die Suche nach den ursprünglichen Quellen der Erinnerung und der Erfahrung der amerikanischen Frau. Die Figur der Malinche ist jenseits der mythischen Bedeutung angelegt, die sie im mexikanischen Kontext hat. Die chilenische Malinche ist der Vergewaltigung und der Bedrohung durch den Fremden ausgesetzt, der die alte Welt unwiderruflich zerstört und seine Spuren im amerikanischen, mit dem Weiblichen gleichgesetzten Unbewußten hinterläßt. Eine Mapuche-Mutter (aus dem Süden Chiles) widersetzt sich in ihrem Haus der Belagerung der spanischen Eroberer. Der Fremde, der in ihr Land und ihre intime Welt eindringt, vergewaltigt bzw. verfuhrt auf ganz unterschiedliche und widersprüchliche Weise die Mutter und ihre vier Töchter und damit auch ihre Körper, ihre Seelen, ihre religiösen Gefühle, ihren Intellekt und ihre Empfindungen. Mit stockendem Atem harren die Frauen dessen, was aus dieser Konfrontation entstehen mag: Es mischen sich Schrecken und Verlangen, Liebe und Vergewaltigung, Glaube und Entwurzelung. Jede Tochter eröffnet einen anderen Weg für die Zukunft der Mestizen, an deren Beginn ihre Körper und Seelen stehen. Indessen stirbt die Mutter, deren verloren gemeinte kulturelle Wurzeln durch die Anerkennung und gleichzeitige Entfremdung von ihren Töchtern neu gestärkt worden sind. Zum Schluß des Stücks verspricht die mestizische Tochter, deren Vater ein spanischer Vergewaltiger ist, daß sie in der Sprache und Schrift, die sie von ihm ererbt hat, das Andenken an ihre Mutter, „an die Frau, die sie war", erhalten will. Die Szenenanweisungen wie auch die literarisch-poetische Sprache des Stücks regen dazu an, Szenen über die Textvorgabe hinaus zu entwickeln, sie schaffen einen Raum für die ästhetische Gestaltung mit klanglichen, plastischen und gestischen Sprachen. Die Regie von Claudia Echenique schöpft aus den Ritualen, Masken, Klängen, der Musik, den Körpersprachen, Stoffen und Sprachen der Indianer des südlichen Chile. Der Text der Schauspielerinnen, welche die Trägerinnen der dramatischen Handlung sind, wird von der szenischen Atmosphäre und Dynamik ergänzt, widerlegt und in Spannung versetzt.

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' In der Zeitschrift Apuntes (Escuela de Teatro Universidad Católica), 101 (1990) erschienen eine Reihe kritischer Aufsätze zu Malinche. Das Stück ist in der Zeitschrift Primer Ado 2S0 (1993) abgedruckt.

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In Madrid inszenierte die Gruppe La Cuarta Pared dasselbe Stück unter den Vorzeichen des ethnisch, territorial, religiös und politisch-kulturell motivierten Krieges, den Serben gegen Kroaten in Ex-Jugoslawien führten. Auch wenn die Allianz von Autorin, Regisseurin und Schauspielerin innerhalb des chilenischen Theaters bei der Suche nach einer spezifisch weiblichen Sprache ungebrochen ist, schaffen in den 90er Jahren immer mehr junge Schauspielerinnen, die auch Regiearbeit leisten, den Durchbruch im Theater. Beispielsweise inszeniert die Regisseurin María Paz Vial 1994 am Theater der Universidad Católica Cicatrices, das letzte Stück von Egon Wolff, und verursacht damit einen interessanten künstlerischen „Skandal". Das Stück, das man gewöhnlich der realistisch-psychologischen Richtung zuordnet, wird unter Verwendung ganz anderer szenischer Codes mit ungewöhnlich sparsam eingesetzten Mitteln sehr puristisch inszeniert und sucht mittels der symbolischen - und niemals unmittelbar illustrativen - Geste die intimen Gefühlszustände der Figuren sowie die Koloraturen ihrer Empfindungen, ihrer Ängste, Phantasien und Wagnisse darzustellen. Die Regisseurin Vial bleibt der Linie ihrer vorherigen Inszenierungen (Iphigenie, Fräulein Julie) treu, in denen die Frau sich selbst als Liebesopfer darbringt und von der Gesellschaft als Sühneopfer benutzt wird. Vial findet eine mögliche Lesart des Dramatikers und eine Bühnensprache, die weder aus dem geschriebenen Text noch aus den gängigen Werkinterpretationen der Kritiker hervorgehen.12 Ebenfalls 1994 debütiert die Schauspielerin Paulina Garcia als Regisseurin des Stücks El continente negro von Marco Antonio de la Parra, einem weiteren hervorragenden Autor unserer Theaterszene. Luz Berríos, Paula Leoncini und viele andere erhalten das Vertrauen von Autoren und Ensembles. Wichtiges institutionelles Rückgrat für diese Bewegung ist zweifelsohne die Theaterschule der Universidad Católica und ihr postgraduierter Studiengang für Theaterregie, der 1990 ins Leben gerufen wurde. Die Präsenz der Frauen in diesem Studiengang ist beträchtlich und zeigt, daß die Frauen den Schritt in diesen Bereich lieber zunächst über eine spezielle Ausbildung vollziehen, in der sie ihre Talente und Neigungen entwickeln können. Alle Regisseurinnen dieser Generation, die hier erwähnt wurden, nahmen an dem Studiengang teil. 12

Nicht zum ersten Mal geschieht dies bei einem StUck von Wolff. In dem Stück Espejismos (I97S), das ebenfalls von einem älteren Mann handelt, der sich in die Nichte seiner Ehefrau verliebt, spielt die Schauspielerin Silvia Pifleiro sehr einfühlsam die Ehefrau, die ihrem Ehemann in seinem Liebestaumel mit Weisheit, Schmerz, Verständnis, Unterstützung und Schweigen zur Seite steht. Obwohl die Figur fast keinen Text hat, schafft es die Schauspielerin, die Aufmerksamkeit des Publikums so auf sich zu lenken, daß sie zum Erstaunen von Wolff, der seine gesamte Energie gewiß in die Gestaltung des Ehemanns gesteckt hatte, zur Protagonistin des Stücks wird. Die Arbeit an Cicatrices stellen E. Wolff und M.P. Vial dar in: Apuntes 108 (1994).

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Wege zu neuen Erfahrungen In Chile muß die jüngst erfolgte Überwindung des Defizits weiblicher Mitwirkung in strategischen Funktionen des Theaters als eine entscheidende Weiterentwicklung institutioneller Art gesehen werden, die sich hoffentlich festigt. Natürlich wird auch diese neue Generation gegen die Gespenster der Vergangenheit ankämpfen müssen, die sich in ihre eigenen Körper und Vorstellungen genauso eingeschrieben haben wie in die der Zuschauer, die nicht immer bereit sein werden, ihre Anschauungen zu ändern. Denn die eigentliche Herausforderung liegt nicht im Geschlecht, sondern in der Gattung, und von daher sollte deren Erforschung und Umsetzung nicht inhaltlich oder thematisch, sondern mittels der künstlerischen Sprache erfolgen. Gewöhnlich beziehen wir uns auf die Gegenwart unter Verwendung der Codes der Vergangenheit; die Fähigkeit, das Erreichte benennen zu können, impliziert einen hohen Grad künstlerischen Könnens, was vielleicht eine größere Herausforderung bedeutet als die Veränderung der eigenen Routine und Beziehungen im Alltag, durch die unsere Identität geprägt wird. Wir wissen beispielsweise, daß die größte Errungenschaft der Psychoanalyse letztlich eine linguistische ist: die sprachliche Darstellung jener Traumata, Blockaden, Erlebnisse und Gefühle, die unser Unbewußtes und unsere Einbildung überschwemmen und die wir nicht herauslassen und wirklich benennen wollen. Die Theaterarbeit steht vor der gleichen Herausforderung. Das Engagement der Frau als Schöpferin von theatralischen Sprachen - körperlichen, verbalen, plastischen, musikalischen muß im Zusammenhang mit ihrem gesamten widersprüchlichen „Hier und Jetzt" erfolgen. Das bedeutet, nicht nur mit der Welt, sondern mit der eigenen Zerbrechlichkeit und den eigenen Träumen den Kampf aufzunehmen.

Kati Röttger Schreiben die Frauen Lateinamerikas ein anderes Theater?

Die Frage, die meinem Beitrag vorangeht, birgt eine gewisse Verfuhrung. Denn wer kennt sie nicht, die Lust am Unterschied? Die Konstruktion des Anderen als Utopie oder als Garantie zur Sicherstellung der eigenen Identität fuhrt nicht selten zur Ausgrenzung und Verzerrung dessen, was uns nicht vertraut ist. Und dennoch verschafft es immer wieder eine gewisse Befriedigung, in klaren Gegensätzen festzustellen, wer wir und wer die anderen sind. In diesem Sinne wäre das Thema schnell abgehandelt, denn in einem Vergleich des Theaters der lateinamerikanischen Frauen mit dem der deutschen liegt es nahe zu behaupten: Die lateinamerikanischen Frauen schreiben in erster Linie ein politisches, gesellschaftskritisches Theater, den deutschen Theaterautorinnen hingegen ist gemeinsam, daß sie „imaginierte Weiblichkeit in ihrer verzerrten männlichen Projektion inszenieren" (Wilke, TSZ 33/34, 181). Zum Beleg dieser These ließen sich zahllose Beispiele anfuhren. So schreibt Ane-Grete 0stergaard 1991 in ihrem Aufsatz über „Autorinnen des lateinamerikanischen Theaters", daß es sich bei den meisten Theaterstücken um Anklagen der gegenwärtigen oder historischen politischen Situationen in den lateinamerikanischen Länder handelt. Ob man nun z.B. La paz ficticia (1974) von der Mexikanerin Luisa Josefina Hernández über die Vernichtung der Yanqui-Indianer unter Porfirio Díaz oder Vida con mamá (1981) von der Venezolanerin Elisa Lerner über das Leben unter dem Diktator Juan Vicente Gómez als Beispiel heranzieht, Griselda Gambaros Morgan (1989) über das Vergessen nach der Diktatur, Josefina Plás (Paraguay) Historia de un número (1969) über die Entmenschlichung in einer bürokratisierten Gesellschaft, Fanny Buitragos Hombre de paja (1964) über den kolumbianischen Bürgerkrieg oder Rompecabezas (1981)' von der Mexikanerin Sabina Berman über den Mord an Trotzki und die ethische Frage nach der Täterschaft ... nicht nur bei diesen willkürlich herausgegriffenen, sondern auch in vielen weiteren Stücken fallt auf, daß die Frage nach der Position bzw. der Unterdrückung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft gar nicht oder nur im Hintergrund gestellt wird zugunsten einer kriti1

Vgl. die deutsche Übersetzung mit dem Titel Suchbild. Hunzinger Bahnenverlag, Bad Homburg 1989.

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sehen Analyse gesellschaftspolitischer Machtverhältnisse. Diese Tendenz bestätigen lateinamerikanische Autorinnen in eigenen Aussagen. Die mexikanische Autorin Elena Garro hat in verschiedenen Interviews ihre Distanz zum Feminismus betont und den politischen Wert ihrer Stücke hervorgehoben (0stergaard: 61). Und Griselda Gambaro schrieb 1980: „Ich glaube nicht, daß Frauen ein besonderes Theater für oder über Frauen schreiben sollten. Sie sollten ein besonderes Theater schreiben und einen besonderen Beitrag zum Theater leisten." (Gambaro 1980: 21 *).2 Die Chilenin Isidora Aguirre schließlich bestätigte in einem Interview 1990 noch einmal, was sie bereits 1966 formuliert hatte: Die wichtigste Aufgabe des Theaters besteht für sie darin, „nachdenklich zu machen, Zeugnis abzulegen und in einer klaren Kritik am Regime andere gesellschaftliche Lösungen zu suchen" (in Duran Cerdo: 53*). Ist dieses anscheinende Desinteresse an „weiblichen Themen" und am „weiblichen Schreiben" auf die Generation der genannten Autorinnen zurückzuführen, die sich ihren Platz im Theater noch vor dem internationalen Aufkommen der großen feministischen Bewegungen erkämpft hatten? Oder sollte es tatsächlich so sein, daß sich die Notwendigkeit eines „Theaters der Frauen" für lateinamerikanische Autorinnen als weniger dringend erweist als für deutsche Dramatikerinnen, deren Blick, so Yvonne Spielmann 1984 in ihren „Überlegungen zu feministischer Theaterästhetik", „bedingt durch die Sozialisation, auf das nähere Umfeld, den zwischenmenschlichen Bereich ausgerichtet ist" und „seltener auf Staatsgeschäfte, Machtkämpfe zwischen Herrschenden und kriegerische Auseinandersetzungen" (82)? Folgt hieraus womöglich, daß die deutschen Dramatikerinnen eher den Weg der „vorsichtigen Ausformulierung einer weiblichen oder feministischen Theaterästhetik" (Wilke: 185) beschreiten, der vor allem gegen die Herrschaft der sogenannten phallogozentrischen Diskurse auf dem Theater und in der Gesellschaft gerichtet ist? Wilke weist anhand der dramatischen Werke von Elfriede Jelinek, Ginka Steinwachs und Gisela von Wysocki nach, daß sie „die Blickdramaturgie der Verfremdung, der Analyse, die eine Veränderung durch denkerische Durchdringung ermöglichen will" ins Feld führen, um in „der Inszenierung der Bühne als Zerrspiegel imaginierter Weiblichkeit die mythische Kraft dieser Bilder (...)" abzutragen (Wilke: 201). Anke Roeder stellt darüber hinaus in ihrer 1989 erschienenen Buchpublikation über deutsche Theaterautorinnen neben den drei genannten zusätzlich die Arbeiten von Gundi Ellert, Ria Endres, Ursula Krechel, Gerlind Reinshagen und Friederike Roth explizit in den Kontext der Textpraxis „des weiblichen dramati2

Alle ursprünglich spanischen Zitate sind von der Verfasserin vorliegenden Beitrags ins Deutsche Ubertragen worden. Sie sind mit einem * gekennzeichnet.

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sehen Schreibens und seine Herausforderungen an das Theater" (Roeder: 10). Sie zeigt auf, wie die genannten Dramatikerinnen in dichterischer Form neue Theaterästhetiken des „anderen Blicks" entwerfen, die sie programmatisch folgendermaßen umschreibt: Die Dramen der genannten Autorinnen seien analytische Texte, die „statt der Identifikation des Zuschauers mit dem dramatischen Geschehen seine koproduzierende Phantasie herausfordern. Sie entziehen sich weitgehend einer klassischen Dramaturgie oder fuhren die geschlossene Form zu ihrem Ende. (...) Sie lösen Geschichten in Geschichten auf (...), sprengen durchgehende Handlungsfolgen durch Fragmente und szenische Variationen (...). An die Stelle dialogisch gegliederter Handlungen treten Prosatexte, die szenische Visionen in Sprachbildern aufscheinen lassen (...), Wirklichkeit in Spielfigurationen auflösen (...), die Einheit der Person sprengen (...), das Ich depersonalisieren (...). Die Rollen werden aufgehoben (...), die Darstellungsmittel vorgeführt und in kleinste Atome zerlegt. (...) In dieser antiaristotelischen Dramaturgie wird das Abendland als Zivilisationsgebilde in seinen Schichten, Zergliederungen, Spaltungen sichtbar" (Roeder: 10-11). Eine Programmatik des postmodernen Theaters? Spätestens an dieser Stelle kommt Unruhe auf, die genüßliche Genugtuung über die Sicherstellung des Unterschieds wird empfindlich gestört. Denn betrachten wir uns die aufgezählten Stilelemente der anti-aristotelischen Dramaturgie, die charakteristisch sein sollen für das Theater der deutschen Dramatikerinnen, müssen wir erneut fragen: Schreiben die lateinamerikanischen Frauen wirklich ein anderes Theater? Und wenn wir schon einmal anfangen, genauer zu fragen, kommt eine ganze Sturzflut von Fragen hinterher: Anders als wer eigentlich? Tatsächlich anders als die deutschen Dramatikerinnen? Oder gar anders als die Männer? Anders als die lateinamerikanischen Männer? Und wer ist gemeint mit den lateinamerikanischen Frauen? Zunächst gilt es also die Frage einzugrenzen. Das Motto unseres Symposiums legt nahe, sich auf das Theater der Frauen aus dem Cono Sur zu beschränken, wobei Ausflüge in andere Regionen unternommen werden, sobald die Parallelen evident sind. Kommen wir nun auf den Vergleich mit den deutschen Dramatikerinnen zurück, so stechen auf der Ebene der Theaterästhetik und der Repräsentation in der Sprache in erster Linie die auffallenden Gemeinsamkeiten zwischen den Stücken der lateinamerikanischen Autorinnen und denen ihrer deutschen Kolleginnen ins Auge: Brüche, Risse, Enthierarchisierungen des Blicks gegen eine Perspektive hermetischer, historisch-dominanter Rationalisationen; kaum kohä-

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rente dramatische Strukturelemente, keine Einheitlichkeit. Muß man deshalb denjenigen französischen postmodernen Theoretikern recht geben, die behaupten, die Tatsache, daß die Position des Weiblichen strukturell in die Bereiche der Abwesenheit, des Randes, des Anderen eingeschrieben sei, würde den weiblichen Diskurs zum paradigmatischen politischen Diskurs des Postmodernismus machen? Jean Franco bestätigt, daß viele lateinamerikanische Autorinnen ihre Position ähnlich wie die französischen Feministinnen nicht so sehr in der Konfrontation einer neuen weiblichen Position mit der des dominanten patriarchalischen System sehen, sondern in der Unterwanderung dieses Systems auf der Ebene der sprachlichen Repräsentation: „Diese Erschütterung ist von einer großen Vielfalt an Mitteln geprägt: Parodie und Pastiche, die Vermischung der Genres und die Konstruktion subversiver Mythologien" (Franco: 74/75*). Vergleichen wir die von Franco genannten Techniken mit denjenigen, die Anke Roeder für das Theater der deutschen Dramatikerinnen aufzählt, drängt sich die These des weiblichen Diskurses als Paradigma der Postmodernität geradezu in den Vordergrund. Sollte dies der Grund sein, warum gerade von Seiten nordamerikanischer, aber in jüngerer Zeit auch lateinamerikanischer Theaterkritikerinnen so unermüdlich versucht wird, den postmodernen Gehalt des Theaters der lateinamerikanischen Dramatikerinnen in einer globalisierenden Geste heraufzubeschwören? Sieht man sich deren Theaterstücke etwas genauer auf ihre formal-ästhetischen Aspekte hin an, fallt als erste Gemeinsamkeit auf, daß das lineare, mimetischreferentielle Theater, das die Einheit von Ort, Zeit und Handlung reproduziert, eher eine Ausnahmeerscheinung als die Regel ist. In der Mehrzahl der Stücke läßt sich in auffallender Häufigkeit die Aufbrechung linearer Strukturen und einheitlichen Handelns beobachten. Eines der am häufigsten angewandten Mittel ist das Spiel oder auch die Metapher des Spiels als prägendes Element zur Gestaltung der dramatischen und theatralischen Struktur: Spiel mit den Rollen und (auch geschlechtlichen) Identitäten, Spiel mit dem Publikum oder auch das Spiel mit der Vermischung von Genres wie Film, Reklame, religiöse Texte und Popmusik. Alle diese Elemente bezeichnet Roselyn Costantino in ihrem Aufsatz „Postmodemism and Feminism in Mexican Theatre" (1995: 55-71) als prototypisch für u.a. das häretische Theater der Mexikanerin Carmen Boullosa und sieht darin einen Beweis für die Postmodernität dieses Theaters. Eine Meisterin des Theaters als Spiel mit seinen Mitteln ist Diana Raznovich. Ihr gelingt es mit Parodie und Ironie sowie durch die verfremdende Betonung des Theatralitätsgehalts ihrer Stücke, die Aufmerksamkeit des Publikums auf

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die Mechanismen der Repräsentation zu lenken. Eines von vielen Beispielen hierfür ist Casa Matriz3. In diesem Stück dekonstruiert sie die in Argentinien nahezu mythisch besetzte Mutterfigur, indem sie die Mutterrolle durch das Angebot unterschiedlicher Idealtypen vervielfältigt und entmystifiziert. Stücke, in denen das Spiel als Metapher (teilweise bereits im Titel) und gleichzeitig als konstitutives Strukturelement der Dramaturgie eingesetzt wird, sind u.a. El juego (1977) von der Venezolanerin Mariela Romero, in dem Ana I und Ana II einen aggressiven Schlagabtausch von Unterwerfung und Macht inszenieren, wie auch Extraño Juguete (1978) von der argentinischen Dramatikerin Susana Torres Molina: Zwei Schwestern laden einen Seemann zu sich ein, der einen Koffer mit allerlei Gegenständen wie Lingerie und einen ausgestopften Papagei mitbringt, die sich im Verlauf des Stückes als Requisiten erweisen. Auch hier werden die Rollen von Macht und Ohmacht, Unterdrückung und Unterwerfung spielerisch ausgetauscht. Entsteht zunächst der Eindruck, die Schwestern trieben ihr grausames Spiel bis zur totalen Erniedrigung des Mannes, gewinnt er schließlich die Oberhand. Als er sie dann zwingt, sich auszuziehen, um sie zu schlagen, wird die Handlung unerwartet unterbrochen. Es stellt sich heraus, daß die beiden Frauen den Mann einmal in der Woche zu ihrer Unterhaltung mieten. Ein anderes Stück von Torres Molina,.... Y otra cosa mariposa, 1981 von ihr verfaßt, stellt das Rollenspiel der Geschlechter in den Vordergrund: Hier besteht der performative Kniff darin, daß die vier männlichen Protagonisten des Stückes von Frauen gespielt werden. Als weitere Beispiele der noch lange weiterzuführenden Liste seien Juegos a la hora de siesta aus dem Jahr 1976 von der argentinischen Dramatikerin Roma Mahieu und Uno más uno (Teil des Zyklus Suplicio del placer)4 von der mexikanischen Dramatikerin Sabina Berman aus dem Jahr 1980 genannt. Während Berman mittels eines Schnurrbarts, der zwischen der weiblichen Protagonistin und dem männlichen Protagonisten ausgetauscht wird, ebenfalls ein Spiel der Geschlechteridentitäten inszeniert, zeigt Mahieu die grausame Welt der Gewalt und Unterdrückung in der Form eines Kinderspiels. Der spielerische Einsatz szenischer Mittel betrifft nicht nur die Strukturebene der Stücke. Auch die Vervielfältigung räumlicher und zeitlicher Dimensionen ist ein häufig angewandtes Mittel. Als Beispiel sei hier Cariño Malo von Inés Stranger genannt, ein Stück, in dem die Szenenfolge weder durch logische Kau3

Vgl. die deutsche Übersetzung desselben Titels, die bei der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. (Stuttgart) vorliegt.

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Vgl. die deutsche Übersetzung mit dem Titel Quälende Leidenschaft (1. Akt). In: Heidrun Adler, Victor Rascón Banda (Hrsg.): Theaterstücke aus Mexiko. Berlin 1993, S. 169-177.

ISO

salität noch durch zeitliche Chronologie konstruiert ist, sondern eher ein bildnerisches Kaleidoskop von Handlungs- und Motivsplittern bildet, die den imaginären BUhnenablauf bestimmen; ähnliche Verfahren werden u.a. auch in Retablo de Yumbel (1987) von Isidora Aguirre, in El eterno femenino (1977) von der Mexikanerin Rosario Castellanos sowie in dem bereits genannten Hombre de paja von Buitraigo angewandt. Auf der semantischen Ebene schließlich fuhren Wortspiele und polysemische Wortwahl in Stücken wie Esta noche amándonos juntos (1970) von der Mexikanerin Maruxa Viaita (vgl. Magnarelli 1989) oder Del sol naciente (1983) von Griselda Gambaro (vgl. de Moor 1989) auf subtile Weise zur Auflösung von eindeutigen Identitäten. Catherine Larson weist in ihrem Aufsatz „Playwrights on Passage: Women and Game-Playing on Stage" (1991: 76-89) nach, daß die Spiel-Metapher weitaus häufiger in den Theaterstücken der Dramatikerinnen vorkommt als in denen der männlichen Kollegen. Dabei betont sie, daß das Spiel bewußt in die dramatische Struktur der Stücke eingebaut wird, um aus der Perspektive der Frau darauf aufmerksam zu machen, „daß das Leben ebenso wie das Theater ein Spiel ist" (Larson 77*)5, um somit essentialistische Begriffe von Natur oder Identität als monolithische zu unterwandern; ganz dem postmodernen Paradigma gemäß, das da heißt: „Es gibt keine Realität, sondern nur Repräsentationen" (Butler 1993: 33). Aber reichen diese Argumente aus, um das Theater der Frauen Lateinamerikas mit dem anscheinend bodenlosen Paradigma der Postmodernität zu erklären? Beteiligen wir uns auf diese Weise nicht vielmehr am freien Spiel der Unterschiede, wie es als charakteristisches Verfahren postmoderner Strategien vor allem von postkolonialen Kritikern bemängelt wurde? Ist dies nicht wieder ein Akt der Begriffsherrschaft, der die Einordnung der Positionen unter der Rubrik Postmoderne vornimmt? Kritische Stimmen dieser Art sind in jüngster Zeit vor allem von feministischen Theoretikerinnen der sog. Dritten Welt laut geworden, die vor diesem Hintergrund die Materialisierung des feministischen Ansatzes einklagen. Aber nicht nur diese Kritik, sondern mindestens zwei weitere Aspekte müßten Bedenken über die These des weiblichen Diskurses als Paradigma der Postmodernität in bezug auf das Theater lateinamerikanischer Frauen aufwerfen: 1. Wie ist es zu erklären, daß die oben beschriebenen Charakteristika der dramatischen Struktur nicht nur in den Theaterstücken vorzufinden sind, die in der

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Vgl. auch Bixler, J.: „Games and Reality on the Latin American Stage" (LALR 12, 22-35).

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angewiesenen Periode des postmodernen Theaters verfaßt wurden, sondern einen großen Teil der gesamten Dramatik von lateinamerikanischen Frauen seit Sor Juana Inés de la Cruz durchziehen? Sor Juana arbeitete in ihrem bekanntesten Theaterstück Los empeños de una casa (schon im Titel klingt die Parodie auf Calderóns Los empeños de un acaso an) bereits mit der performativen Technik des Transvestismus, um die Protagonistin des Stücks, Leonor, als mehrheitliche Figur zu konstruieren. Der Kritiker Weimer (1992: 91) nennt das Stück in diesem Zusammenhang sogar eine „Golden Age versión of a presentday 'drag-performance'." Weitere Beispiele sind u.a. die tragisch-komische Satire Un actor en busca de representación der Chilenin Magdalena Petit aus dem Jahr 1936, das „von der Weigerung" gekennzeichnet ist, „die dramatische Situation als perfektete Kohärenz, als Einheit" darzustellen (Francisco Molina B. Concepción 1994: 179), sowie ein Stück aus dem Jahr 1957 von einer weiteren Chilenin, Gabriela Roepke, mit dem Titel Una mariposa blanca, das von räumlich-zeitlicher Dissoziation und der damit verbundenen Sprengung dramatischer Einheiten geprägt ist. Schließlich sind weiterhin Elena Garros La señora en su balcón (1959), Marcela del Ríos Teatro Relativista und natürlich Griselda Gambaros Anfang der 60er Jahre geschriebene Stücke zu nennen, in denen sie sich bereits als Meisterin des Zitats und des subtilen Spiels mit der Zelebration von Theatralität zu erkennen gibt. Diese (und andere) Beispiele wecken zumindest Zweifel daran, daß dem Einsatz der genannten Techniken in den Theaterstücken der lateinamerikanischen Dramatikerinnen eine feministisch oder poststrukturalistisch begründete Absicht zugrundeliegt, die Pluriformität der Diskurse und ihrer Subjekte zu belegen. Oder handelt es sich bei den oben genannten Autorinnen gar um postmoderne Feministinnen avant la lettre? (Vgl. Yudice 1992, 1.) 2. Wie läßt es sich des weiteren erklären, daß viele lateinamerikanische männliche Autoren wie u.a. die auf diesem Symposium anwesenden Castro, Monti oder auch Pavlovsky in ihren Stücken zu vergleichbaren Stilmitteln greifen wie die Autorinnen? Schreiben die lateinamerikanischen Frauen demnach doch kein anderes Theater als die lateinamerikanischen Männer oder müßte man diesen männlichen Autoren - wie Nelly Richard (1993a) vorschlägt - ein feminisiertes Schreiben bescheinigen, da auch sie nach kontrainstitutionellen Praktiken suchen, die sich gegen die offiziellen, hermetischen Diskurse richten? Gemeint ist hier insbesondere die Terminologie zur Rechtfertigung diktatorischer Systeme, die den Versuch darstellt, mit aufgezwungenen Symbolen und Zeichen gewaltsam gesellschaftliche Sinnstiftung zu leisten. Die Antwort vieler Autorinnen und Autoren ist die Formulierung einer Sprache der Unterwanderung, der Un-

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eindeutigkeit, welche die rigiden Dichotomien, die insbesondere die Sprache der militärischen Systeme hervorbringt, aufbricht. Spätestens an dieser Stelle stellt sich eine Frage, die in den letzten Jahren die Debatte der postkolonialen Theoretiker über die Gültigkeit der Postmodernität in Lateinamerika bestimmt: „Wie interveniert der Diskurs der Postmodernität, der das Scheitern der zentrierten Modernität theoretisiert, in die Vorstellungen, die Lateinamerika sich von sich selbst in Abhängigkeit von der Modernität gemacht hat?" (Richard 1993b: 157*) Das heißt, über Postmodernität zu sprechen in bezug auf gesellschaftliche Formationen, die die Phase der Modernität nicht so wie die westeuropäischen Gesellschaften durchlaufen haben, wirft Probleme auf, die sich in einem eklatanten Konflikt zwischen der Gültigkeit poststrukturalistischen Denkens und Schreibens einerseits und der historischen materiellen Entwicklung der lateinamerikanischen Länder andererseits abzeichnen. Dieser Konflikt betrifft in vieler Hinsicht besonders die Einschätzung der Stellung der Frauen in den lateinamerikanischen Gesellschaften. Die Feministin Raquel Olea brachte ihn 1990 auf einem Seminar in Buenos Aires über „Modemidad/Postmodernidad: una encrucijada latinoamericana" folgendermaßen auf den Punkt: „Die Auseinandersetzung über Modernität oder Postmodemität kann niemals das Thema unserer lateinamerikanischen feministischen Debatten sein. (...) Denn wir Frauen sind weder Subjekte des Projekts der Moderne noch der Krise dieses Projekts gewesen."* In Fortführung dieser Problematik insistiert Nelly Richard (1993a) darauf, daß die Frauen in den lateinamerikanischen Gesellschaften im Gegensatz zu den Frauen in den westeuropäischen Gesellschaften eine doppelte Position einnehmen. Denn hier haben die Dichotomien, wie sie für das moderne europäische Denken als relevant erachtet werden (Mann-Frau, Geist-Körper, Subjekt-Objekt, Ordnung-Chaos) nicht dieselbe Gültigkeit und führen entsprechend auch nicht im gleichen Maße zur Ausklammerung des sogenannten Anderen. Richard behauptet für die lateinamerikanische Moderne vielmehr die Koexistenz in einer Art anachronistischer Gleichzeitigkeit, die sich einerseits in der Adaption rationaler zentristischer (männlicher) Diskurse, andererseits aber in der materiellen Historizität des peripheren Anderen niederschlägt. Diese Gleichzeitigkeit führt zu einer Ungleichzeitigkeit der Zeichen, deren Bedeutungen nicht in linearen Referenzketten zu lesen sind, sondern eher als Diskontinuität einer Collage. Die Diskontinuitäten führen unter anderem zu dem Nebeneinander von nur scheinbaren Gegensätzen wie Mythos-Fortschritt, Oralität-Informationstechnik, FolkloreIndustrie, Tradition-Wettbewerb, Riten-Simulakrum. Von der so gearteten Collagierung des Wissens und der Geschichte ist die doppelte Position der Frau

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geprägt. Sie besteht Richard zufolge in ihrer Rolle des Frau-Subjekts wie auch der kolonialisierten Sprecherin. Diese doppelte Eigenschaft befähigt sie, diejenigen Zwischenräume spielerisch zu nutzen, die frei werden, wenn der weiße, männliche, zentristische (Macht-)diskurs in einer peripheren Gesellschaft zwar übernommen, aber durch die Übernahme gleichzeitig verändert wird. Frauen konnten auf diesem Wege doppelte Strategien textualer Operationen entwikkeln, um die hegemonialen eurozentrischen Kategorien zu überwinden. Indem sie eigene Begriffe mit uneigenen (den fremden) verknüpften, waren sie z.B. in der Lage, das kolonialistische Dogma der Originalität des Quellentextes zu unterwandern. Darin könnte eine Erklärung für den aus heutiger Sicht radikalen Feminismus einer Sor Juana liegen, die mit beißender Ironie und auf äußerst subversive Weise vorgegebene Normen und Identitäten in kritischen Retextualisierungen unterwanderte. Vor diesem Hintergrund spricht Richard an den lateinamerikanischen Feminismus die eindringliche Warnung aus, sich davor zu hüten, das Motiv „des Anderen" vom euroamerikanischen Feminismus als internationales Privileg einfordern zu lassen, um dem anderen „Anderen" (in der Peripherie) nicht die Position des Subjekts, sondern die des Objekts zu erteilen. Amy Kaminsky denkt in ihrem Buch „Reading the Body Politic" diese Warnung weiter und faßt mit folgenden Worten die Kritik vieler lateinamerikanischer Frauen am europäischen Feminismus zusammen: „Linken Feministinnen in Europa, von denen viele dazu tendieren, alle Frauen in den Entwicklungsländern als unterdrückte Opfer zu sehen, kann die lateinamerikanische feministische Arbeit den Widerstand und die Tatkraft (agency) der Frauen zeigen - Frauen, die nicht Objekt des männlichen neokolonialistischen Blickes sind und eine Schöpfung des kapitalistischen patriarchalischen Geistes, sondern Subjekte ihres eigenen Lebens." (1993: 20*) Wie Richard, Franco und andere feministische Theoretikerinnen der Dritten Welt meint sie, daß die These des sogenannten weiblichen Mangels und die daraus entwickelten Strategien der dekonstruktivistischen feministischen Kritik auf der Ebene der Repräsentation für die Erfassung der Situation der Frauen in Lateinamerika nicht ausreicht. Vielmehr plädiert sie für eigene weibliche Strategien unter Berücksichtigung der besonderen Positionen der unterschiedlichen Frauen in den lateinamerikanischen Gesellschaften. Wenn man das Theater der lateinamerikanischen Frauen vor diesem theoretischen Hintergrund betrachtet, ist eine notwendige Voraussetzung geschaffen, um die besondere Stellung der Frauen im lateinamerikanischen Theater zu erfassen, ohne die Widersprüche, die aus den verschiedenen Einschätzungen ihrer

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Positionen aufscheinen, zu vernachlässigen. Dann wird es vielleicht auch möglich, sich von jüngeren, hauptsächlich nordamerikanischen Rezeptionen des Theaters der lateinamerikanischen Frauen zu lösen, die immer wieder betonen, wie „abwesend", „unterdrückt", „stumm" oder „unbeachtet" die Frauen in den einzelnen Entwicklungsetappen des Theaters in den lateinamerikanischen Ländern gewesen seien.6 Denn löst man die Analyse des Theaterschaffens von Frauen in vielen lateinamerikanischen Ländern aus dem analytischen Kontext der westlichen feministischen und poststrukturalistischen Theorie und betrachtet zunächst die Position der Theatermacherinnen unter Einbezug ihrer spezifischen historischen materiellen Entwicklung - wie von Richard vorgeschlagen - dann zeigt sich die Situation der Theaterfrauen in den verschiedenen Ländern in einem anderen Licht, ist sie nicht ohne weiteres unter dem vereinheitlichenden Nenner des Schweigens und der Unterdrückung der Frauen zu fassen. Vielmehr läßt sich beobachten, daß in vielen lateinamerikanischen Ländern auffallend viele Frauen, zumindest im Vergleich zum Theater in Westeuropa, wichtige Positionen nicht nur als Dramatikerinnen, sondern auch als Erneuerinnen, Lehrerinnen, Theatergründerinnen und Regisseurinnen einnehmen. Diese Behauptung muß allerdings in zweierlei Hinsicht eingeschränkt werden. Denn sie bedeutet erstens nicht, daß das Theater nicht trotzdem in den meisten Fällen von Männern dominiert wird. Und zweitens gilt die Behauptung in geringerem Maße für das Theater in Chile und Uruguay. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre mit Jean Franco, daß bürgerliche Frauen in diesen Ländern, die sich mehr als andere in die Richtung eines Wohlfahrtsstaates entwickelt haben, eher in eine reproduktive Rolle gedrängt wurden. Abgesehen von diesen beiden Einschränkungen möchte ich die Bedeutung der Frauen für das Theater in Lateinamerika in folgenden Punkten feststellen: 1. Eine sehr auffallende Erscheinung ist das, was ich die „Muttergeneration" der Dramatikerinnen nennen möchte. Damit meine ich die Theaterautorinnen, die ca. Ende der 20er Jahre geboren wurden, deren Werke einen wichtigen Bestandteil des Dramenkanons der jeweiligen Länder bilden und die bis heute eine gewisse Vorbildfunktion nicht nur für weibliche Autoren haben. Gemeint sind u.a. die Mexikanerinnen Josefina Hernández und Elena Garro, die Argentinierin Griselda Gambaro, die Chilenin Isidora Aguirre, die Paraguayerin Josefina Plá, die Venezolanerin Elisa Lerner u.a.m. In vielen Fällen haben sich diese Frauen nicht nur als Dramatikerinnen hervorgetan, sondern sie haben auch wichtige 6

Initialtext zu diesem Thema war: Cypess, Sandra: „La dramaturgia femenina y su contexto socio-cultural." In: Latin American Theaire Review (Summer 1980) 63-68.

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Impulse für die Theaterentwicklung in den jeweiligen Ländern gegeben. Das gilt wiederum für Isidora Aguirre und Josefina Plá, aber auch für die Peruanerin Sarah Joffré oder die Mexikanerin Marcela del Río. Schließlich müssen auch die Frauen genannt werden, die neue Stilelemente in das Theater eingeführt haben, wie z.B. die Argentinierin Alfonsina Storni, von der Dauster schreibt: „Bevor man das absurde Theater erfunden hatte, kultivierte es Alfonsina Storni bereits" (1973: 37). Über innovative Kapazitäten verfügten auch María Luisa Ocampo, die in Mexiko bereits episches Theater schrieb, als Brecht dort noch gar nicht bekannt war, sowie selbstverständlich Griselda Gambaro oder auch Josefina Hernández, die mit ihrem Stück Danza del urogallo multiple durch die Einführung der Stilelemente des „armen Theaters" 1971 eine neue Etappe in der mexikanischen Geschichte des Theaters einläutete. 2. Auch die zahlreichen Förderinnen, Lehrerinnen und Begründerinnen von Theatergruppen oder Bewegungen müssen an dieser Stelle genannt werden, wie z. B. die Brasilianerin Nina Moscovichi, die im Kolumbien der 50er Jahre das moderne experimentelle Theater einführte, die Argentinierin Alejandra Boero als Mitbegründerin des Nuevo Teatro in Argentinien, die bedeutende argentinische Regisseurin Maria Escudero und die Schauspieldirektorin Hedy Crilla und schießlich auch die Kubanerinnen Hermina Sánchez und Flora Lauten als Mitbegründerinnen des teatro popular. Diesen Wegbereiterinnen des Theaters folgen heute zahlreiche Autorinnen, Regisseurinnen und Schauspielerinnen nach. Beatriz Seibel bestätigt: „Seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts haben Frauen fast jede Stellung innerhalb des Theaters inne: Autorinnen, Regisseurinnen, Bühnenbildnerinnen, Choreographinnen. Auf den Bühnen Argentiniens sind sie ständig und überall präsent." (1992: 188) Die Präsenz der Frauen ebenso wie ihre oben bereits erwähnte Tatkraft schlagen sich in auffallender Weise in den Theaterstücken nieder. Ich könnte einen abendfüllenden Vortrag über starke Frauenfiguren in den Stücken lateinamerikanischer Dramatikerinnen halten, möchte aber für heute bei einem exemplarischen Beispiel bleiben: Die Theaterstücke der chilenischen Dramatikerin Maria Asunción Requena (1915-1986). Sie schrieb hauptsächlich sozialkritische Stükke wie 1958 Pan Caliente über das Schicksal von vier Wäscherinnen, El camino más largo aus demselben Jahr über den Existenzkampf der ersten weiblichen Ärztin in Chile gegen die gesellschaftlichen Vorurteile zu Beginn des 20. Jahrhunderts, oder auch Oceánica y dulce Patagonia (1986), das den Konflikt zwischen dem männlichen Conquistador und einer Frauenfigur, die sich seinem Machtanspruch verweigert, aufzeigt. „So", kommentiert Pamela Luzanto Requenas Werk, „zeigt sich die Frau als Subjekt ihres eigenen Diskurses, sie ist

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die Schriftstellerin ihrer eigenen Gesellschaft, und die Sprache, die sie hätte unterwerfen sollen, wird zum wirkungsvollsten Instrument ihrer Befreiung." (1994: 193) Worin könnten die möglichen Gründe für die behauptete Präsenz der Frauen im Theater liegen? Im vorgegebenen Rahmen dieses Beitrags kann keine hinreichende Analyse der Gründe geleistet werden, zumal zum Thema noch so gut wie keine Forschungsergebnisse vorliegen. Aber ich möchte einige Erklärungsansätze anreißen, um die Bandbreite der unbeantworteten Fragen aufzuzeigen und um deutlich zu machen, wie notwendig es ist, neue Perspektiven auch jenseits der feministischen euroamerikanischen Erklärungsmuster zu suchen. Einen vorsichtigen Erklärungsversuch unternimmt Maria de la Luz Hurtado in ihrem Aufsatz über die Frau im chilenischen Theater mit folgenden Worten: „Sandra Cypess sagte, daß eine Definition des englischen Wortes tradition das Wissen sei, das vom Vater auf den Sohn übertragen wird. In Lateinamerika findet diese Übertragung zweifelsohne durch die Frau statt." (1994: 9*) Diese Auffassung über die wichtige Position der Frau in Lateinamerika in bezug auf die Übertragung von Traditionen auf die nachfolgenden Generationen wird von diversen Untersuchungen unterschiedlicher Fachrichtungen bestätigt. So wird z. B. in soziologischen und kulturpsychologischen Studien über die Position der Frauen in Lateinamerika der Begriff der „vaterlosen Gesellschaften" geprägt, in denen die familiäre Verantwortung und Macht nahezu ausschließlich und in allen Bereichen von den Frauen übernommen wird. Die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, die für viele westeuropäischen Gesellschaften konstitutiv ist und hier in vielen Fällen zum Ausschluß der Frauen aus dem öffentlichen Leben führt, sei dadurch eher fließend (vgl. Jelin 1991). Den Begriff der „vaterlosen Gesellschaft" zur Erklärung für die besonderen Positionen der Frauen fuhrt auch eine religionsgeschichtliche Studie von Elisabeth Rohr ein, in der sie zusammenfassend konstatiert: „Die Geschichte der indianischen Völker des lateinamerikanischen Kontinents ist ebensowenig eine Geschichte der Unterdrückung, der Ausbeutung und der Verelendung, wie die Geschichte der Frauen lediglich eine der Unterwerfung, der sexuellen Erniedrigung und der Demütigung ist (...) Meine These ist, daß an Frauen das kollektive Ansinnen delegiert wurde, stellvertretend die Wünsche nach kultureller Identitätswahrung durch ihren Widerstand zu sichern (...) Frauen wurden, weil sie weniger in Berührung kamen mit den kolonialen Institutionen, zu Symbolen des Widerstandes. (...) Daß aber Frauen zu Symbolen des Widerstandes werden konnten, hatte zweifellos auch seine Kehrseite, was ich mit dem Phänomen der „vaterlosen Gesellschaft" umschreiben möchte. Denn in

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dem Maße, wie Frauen in die Rolle der Widerstandsträgerinnen gedrängt wurden, konnten sich Männer aus ihrer kulturellen und sozialen Verantwortung verabschieden." (1991: 314) Ich denke, daß die zahlreichen Stücke über die starken Frauenfiguren ein Zeugnis von dieser These ablegen würden. Eines von vielen Beispielen ist das Stück Malinche von Inés Stranger, das den von Roth beschriebenen Konflikt anhand des Schicksals einer weiblichen Familie (Mutter mit vier Töchtern), die dem Angriff der spanischen Eroberer ausgesetzt ist, thematisiert. Untersuchungsergebnisse aus Fachgebieten jenseits der Theaterwissenschaft sind bisher viel zu wenig in die Theateranalysen eingeflossen, als daß hätte erhellt werden können, welche genauen Zusammenhänge zwischen den Positionen der Frauen im Theater Lateinamerikas und dem spezifischen gesellschaftlichen Kontext bestehen, aus dem sie sich gerieren.7 Genauso wenig aber ist bisher ein Zusammenhang zwischen der besonderen Entwicklungsgeschichte der Theaterbewegungen in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und der Position der Frauen darin hergestellt worden. Daher kann bisher nur spekuliert werden, müssen zunächst Fragen formuliert werden. Eine letzte Hypothese in diesem Zusammenhang: Vergleicht man die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters in Lateinamerika mit der des deutschen Theaters, so stellt man fest, daß die gesellschaftliche Anerkennung des Theaters in Deutschland wesentlich größer ist; entsprechend stellt es einen (männlichen) privilegierten Ort dar. Theatermachen in Lateinamerika verspricht kaum ein Privileg, garantiert wenig gesellschaftliche Anerkennung und ist eher auf einer unscharfen Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Raum angesiedelt. Wäre es nicht möglich, daß den Frauen auch darum der Zugang zum Theater weniger verschlossen bleibt, als es in Deutschland immer noch der Fall ist?

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Eine der ganz wenigen Ausnahmen bildet ein Aufsatz über Frauen im karibischen Theater: Elaine Savory Fido: „Freeing Up: Politics, Gender and Theatrical Form in the Anglo Carribean". In: L. Senelick (Hg ): Gender in Performance. New England 1992.

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Inés Stranger - Diana Raznovich Doppelporträt

Diana Raznovich

Inés Stranger

I n é s S t r a n g e r : Wir sollten nicht auf Analysekriterien zurückgreifen, die außerhalb unserer Reichweite liegen. Jeder kann nur für sich selbst und die eigene Arbeit einstehen. Wenn meine Arbeit mit der von Diana Raznovich in Zusammenhang gebracht wird, obwohl sie in Buenos Aires lebt, eine andere Konzeption hat und über ein anderes Thema arbeitet, dann frage ich mich: Warum sollten Lateinamerikanerinnen, die so unterschiedlich schreiben, etwas gemeinsam haben? Lateinamerika ist sehr groß, und uns trennen zudem die immensen Kordilleren. Unsere Herangehensweise an das Theater ist völlig unterschiedlich. Ich möchte hier ganz unabhängig von Diana Uber meine Arbeit reden, obwohl wir einander mögen und uns schon von früher kennen. Ich hatte die Idee und den Wunsch, mit einer Gruppe von Frauen, von Schauspielerinnen, Regisseurinnen, Musikerinnen und Bühnenbildnerinnen aus Chile zusammenzuarbeiten und den Versuch zu machen, unsere Wurzeln, eine Art Gründungsmythos, theatralisch umzusetzen. Ich wollte über historische Figuren meines Landes arbeiten, um für die Situation, in der wir uns befanden und über die ich mir nicht wirklich im klaren war, einen Sinn zu finden. Ich begann, über Figuren der Unabhängigkeitsbewegung zu arbeiten, doch wurde mir schnell klar, daß der republikanische Mythos, der Mythos des Kampfes für die Unabhängigkeit von der Spanischen Krone, nicht dem entsprach, was ich eigentlich zum Ausdruck bringen wollte. Es hat nicht lang gedauert, bis mir bewußt wurde, daß es bei uns in Lateinamerika tatsächlich einen „Gründungsmythos" gibt. Auch wenn ich verstehe, daß Sie diesen Mythos jeder Kultur zuschreiben würden, da es überall Kriege, Völkerwanderungen und Eroberungen gegeben hat, ist er für uns genau datierbar. Er entstand mit der Ankunft der Spanier, die ohne ihre Frauen reisten und einen ganzen Erd-

teil eroberten. Dieser Mythos ist nicht genügend erforscht worden, obwohl es ziemlich viele Untersuchungen dazu gibt. Diana Raznovich hat Octavio Paz zitiert, und es gibt auch eine chilenische Anthropologin, die einen sehr interessanten Ansatz dazu entwickelt hat. Dieser Mythos ist mit ganz wesentlichen und zutiefst im Anthropologischen verankerten kulturellen Paradigmen verbunden, die in dem Gefühl gründen, daß wir Frauen im Laufe unserer Geschichte ein zu eroberndes Territorium waren. Dies war für mich eine wichtige Erkenntnis, denn die Spanier kamen tatsächlich allein nach Lateinamerika, ganz anders als die Engländer, die mit ihren Frauen und Familien nach Nordamerika reisten. Lateinamerika ist unauflöslich mit einer Geschichte verbunden, die auch die Geschichte einer Leidenschaft, einer Liebe, einer Tradition und eines pulsierenden Verlangens ist. Ich wollte wirklich sehr gerne darüber arbeiten. Außerdem ärgerte mich, auf welche Art und Weise die Festlichkeiten zum 500. Jahrestag der Eroberung begangen wurden. Es war beschämend. Wir begannen mit unserer Arbeit, und ich schrieb in kurzer Zeit diesen Text, das Stück Malinche. Das Schreiben fiel mir leicht, denn ich fand problemlos eine symbolische Anordnung, die sehr rituellen Charakter hatte. Es fiel mir leicht, die einzelnen Figuren in ihrem weiblichen Sein zu gestalten. Damals war mir alles ganz klar. Mittlerweile ist es mir nicht mehr so klar, besonders von Berlin aus gesehen. Es gab ein Territorium, das es zu erobern galt, und jeder Spanier kam mit seiner Waffe, der Waffe der Religion, der Sprache, des Verlangens, der Gewalt oder der Liebe. Die Eroberung war also ganz einfach, denn jeder verfügte über seine besondere Waffe. Uns ist weiterhin aufgefallen, daß gerade Chile das einzige Gebiet war, das sich nie der Spanischen Krone ergeben hat, so daß der Krieg noch lange nach der Eroberung weiterging. Die indigenen Völker in Chile befanden sich über lange Zeit im Krieg. Es gab eine Grenze, an der die Männer Krieg führten, während ihre Frauen allein blieben. Auf der Grundlage dieser Metapher begann ich mein Stück zu gestalten. Natürlich fiel mir während des Schreibens auf, daß ich über mehr als das sprach und sich das Stück auf Kroatien übertragen ließ. In Madrid wurde Malinche so inszeniert, als würde das Stück in Ex-Jugoslawien spielen, d.h. alle Figuren des Stückes konnten auch dort vorkommen, es gab das religiöse Problem, das Problem der Volksgruppen untereinander, das Sprachenproblem. Ich war sehr dankbar für diese Inszenierung, denn es war eine Herangehensweise, die das Stück aktualisierte. Mir war diese Verbindung bewußt, denn in der Zeit, in der ich das Stück schrieb, wütete dort der Krieg. Dennoch war dies nicht mein Bezugspunkt, ich bezog mich auf die andere Eroberung. Ich suchte für mein Theater nach einem mythischen Raum, in dem die Figuren wie die Wiederkehr eines Arche-

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typs erscheinen, z.B. als Mutter, als der Fremde. Ich suchte einen rituellen, kreisförmigen Raum, in dem die Erzählung eines GrUndungsmythos stattfinden konnte. Von dieser Idee ging ich aus. Ich hatte weiterhin einige Probleme, die spanische Sprache und die Religion, die die Spanier mitbrachten und die von der Urbevölkerung angenommen wurden, in meinen Text einzufügen. Vielen hätte es besser gefallen, wenn es keine katholische Tochter in meinem Text gegeben hätte, noch dazu eine Tochter, die Spanisch sprechen wollte. Ich sehe mich jedoch als Mestizin, fühle mich meiner Sprache verpflichtet und liebe sie. Es ist die Sprache, in der ich lebe, und die eine geistige Tradition der westlichen Welt in sich trägt, die für uns der Schlüssel zum Verständnis ist. Es handelt sich um ein religiöses Empfinden, das mit einer Einstellung zum Theater zusammenhängt, von der meine Arbeit zum größten Teil inspiriert ist. Insgesamt ist es ein sehr konfliktreiches Stück. Diana Raznovich: Als Autorin finde ich es im allgemeinen sehr schwierig, meine Texte und die Gründe, warum ich es so und nicht anders mache, kritisch zu betrachten. Ich kann aber sagen, welche Vorbilder ich habe, worauf ich hinaus will, welche ästhetische Richtung ich vertrete, was mich interessiert. Das soll nicht heißen, daß ich mich beim Schreiben dann auch daran halte, aber ich versuche es. Ganz grundsätzlich interessiere ich mich mehr für verletzliche Wesen als für unverletzliche. Mich interessieren die Antihelden mehr als die Helden. Ich interessiere mich mehr für Personen, die Risse aufweisen, als für Personen ohne Brüche. Sollte dies mit Argentinien in Zusammenhang stehen, wird es seinen Grund haben. Im Moment, glaube ich, hängt es vorwiegend mit dem Menschen an sich zusammen. Ich kann Menschen ohne Brüche nicht ertragen. Den Menschen, der ohne Brüche durch die Welt geht, finde ich außerdem lächerlich. Ich finde es naiv, wenn sich jemand als gefestigt, vertrauenswürdig, mächtig, reich und unverletzlich darstellt. Denn in meinem Land, aber auch im Chile Pinochets, im Deutschland Hitlers, im Rußland Stalins hat es so viele Beispiele für anscheinend unverletzliche Personen gegeben, und diese Unverletzlichkeit, die einen Menschen völlig verschlossen macht, finde ich dramatisch uninteressant. Anläßlich der Inszenierung von Jardin de Otono („Herbstzeitlose") in Konstanz stand in dem Programmheft ein Satz aus einem Interview, das die Dramaturgin mit mir gemacht hatte. Ich sagte dort: „Wir Menschen haben weniger Furcht vor dem Tode als vor dem Leben". Eine Konstante meiner Frauengestalten sowohl in Jardin de Otono als auch in Casa Matriz, Efectos Personales („Persönliche Sachen") und Desconcierto („Konzert des Schweigens") ist, daß diese Figuren einen Prozeß der Bewußtwerdung durchlaufen und

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bemerken, daß sie leben, ohne all das gelebt zu haben, was sie leben wollten. Es handelt sich um eine Art Tragödie des Nicht-Gelebten, des Unerfüllten, des Unbefriedigten, der angesammelten Frustrationen. Von diesem Problem der angehäuften Frustrationen hört man oft, nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern. Ein vor allem in den Großstädten verbreitetes Problem ist, daß die Menschen viel Zeit ihres Lebens mit Dingen verbringen müssen, die sie nicht interessieren, und nur wenige Sekunden für die Dinge Zeit haben, die sie wirklich interessieren. Vielleicht schieben sie die Dinge, die sie wirklich interessieren, immer wieder auf und werden vom Tod überrascht, ohne sie jemals getan zu haben, ohne sich überhaupt darüber bewußt zu werden. In Jardin de Otoho haben die zwei Frauen ihr Leben vor dem Femseher verbracht. Sie sind nicht dumm, aber vielleicht verdummt. Sie haben keine wirkliche Liebesbeziehung mit einer wirklichen Person erleben dürfen. Sie haben sich in eine fiktive Gestalt verliebt. Vielleicht ist es eine Art Nabelschau, denn wir alle verlieben uns ständig in fiktive Wesen, die die Werbung oder das Kino uns verkaufen. Die Cosa Matriz in dem gleichnamigen Stück ist die Hauptstelle einer Agentur mit Filialen auf der ganzen Welt, die nicht Prostituierte, sondern Mütter an Leute vermittelt, die die Erfahrung machen möchten, sechs, sieben oder acht Mütter zu haben, die anders sind als die eigene. Man kann sich an diese Agentur wenden, sich dort registrieren lassen und in dem Katalog unter 1.200 Mutterprototypen acht oder zehn auswählen, z.B. eine sehr unterwürfige Mutter oder eine ganz aktive, eine Mutter, die uns erniedrigt oder die uns lobt, oder eine Mutter, die genauso sein will wie unsere eigene. Man schreibt sich ein, zahlt $ 1.000 vor dem Besuch der Mutter und $ 1.000, wenn sie kommt, und dann spielt sie die verschiedenen Muttertypen für uns, und wir mimen den entsprechenden Sohn oder die Tochter. Wenn man diesen Mütterservice in Anspruch nimmt - ich beziehe mich hier auf die zunehmende Effizienz unserer Konsumgesellschaft - , zahlt man für die Gefühle, nicht für sexuelle Lust, sondern für Gefühle. Ich spreche hier über den Verlust von Gefühlen. Dieses Stück habe ich ausgehend von meinen Erfahrungen in Europa geschrieben. Wenn mir während meines Europaaufenthaltes etwas aus Lateinamerika gefehlt hat, dann war es, daß wir in Lateinamerika noch nicht für Gefühle bezahlen müssen, oder zumindest werden sie dort nicht so stark unterdrückt. Damit möchte ich weder sagen, daß Sie keine Gefühle haben, noch Sie verletzen, aber ich finde, daß es Ihnen viel schwerer fällt, Gefühle einzugestehen, und daß Küssen oder Sich-Anfassen von Ihnen beinah als eine Zeitverschwendung empfunden wird.

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R a m ó n Griffero (aus dem Publikum): Gibt es in Ihren Theaterstücken einen ästhetischen Ansatz, der eine andere Sichtweise auf das Theater eröffnet? Bisher wurde Theater immer noch als Literatur geschrieben. Gehen Sie neue Wege? Inés Stranger: Ich hatte gehofft, diese Frage beantwortet zu haben. Ich habe einen Text geschrieben, der für eine Interpretation und szenische Bearbeitung sehr offen ist. Bei der Arbeit auf der Bühne müssen die Symbole, die zwar nicht direkt im Text enthalten sind, aber aus ihm hervorgehen, genau wie beim Schreiben erschaffen werden, denn darin steckt die Aussagekraft, die mit ihm erreicht werden soll. Mein Text enthält eine Arbeitsmethode, nicht ein vorgegebenes Endergebnis, denn das Ergebnis kann nicht vor der Inszenierung da sein. Er enthält jedoch die Möglichkeit, eine Welt als einen möglichen Raum zu gestalten, als eine fiktive Ordnung, deren Struktur eher einem Traum gleicht, im Fall von Malinche einem fortschreitenden Alptraum. Der Text der Szenenanweisungen ist genauso wichtig wie der übrige Text. In den Szenenanweisungen steckt die Aufforderung der Autorin an die Leute, die das Stück inszenieren, der Verpflichtung und Notwendigkeit Rechnung zu tragen, das Stück in Gesten zu übertragen. Man kann, um über diesen Text zu arbeiten, eine Methode nebeneinanderstehender Übungen anwenden, durch die sich die Schauspieler dem Ritual annähern. Wie die Schauspieler dorthin gelangen, kann ich als Autorin nicht wissen. Ich kann schreiben, eine mögliche Vorstellung von der Inszenierung und eine Arbeitsmethode vorgeben, aber ich führe nicht Regie und bin nicht die Regisseurin. Ich habe großes Vertrauen in die Schauspieler. Ich weiß, daß sie noch viel mehr aus dem Text herausholen können. An diesem Punkt hört meine Arbeit auf. In Hinblick auf ein globaleres Theaterverständnis und meine ästhetische Auffassung habe ich zur Zeit verschiedene Definitionen. Ich glaube, das Theater ist ein heiliger Ort, eine spirituelle Reserve, die der Menschheit bleibt. Ich habe das Gefühl, solange wir weiterhin alles daran setzen, im Theater etwas für alle Kulturen und Orte Gültiges zu suchen, werden wir eine Menschlichkeit bewahren, die wir nicht verlieren können. Ich empfinde es als einen Schutzort der Spiritualität. Ich habe die Hoffnung, daß das Theater zurückkehrt, da wir in der Öffentlichkeit rituelle Orte brauchen. Daher gehen viele Leute ins Theater, denn es ist ein wirklicher Kommunikationsort. Ich nehme meine Arbeit äußerst ernst. Es fällt mir schwer zu schreiben, denn ich bin mir der Verantwortung als Autorin und als öffentliche Stimme bewußt. Es ist auch eine lange Liebesgeschichte.

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D i a n a R a z n o v i c h : Diese Frage, so stelle ich mir vor, trägt die Antwort schon in sich. Sowohl Ramón Griffero als auch Inés Stranger haben eine Scheinfrage formuliert, denn ich bin sicher, daß ihre Arbeit irgendeiner Theaterrichtung folgt. Dies ist mein Eindruck, den ich jedoch laut ausspreche, eine Art freier Assoziation. Ich bin überhaupt nicht offen, weder in bezug auf meine Texte noch dafür, daß ein Regisseur damit macht, was ihm einfällt. Das soll nicht heißen, daß am Ende der Regisseur nicht doch das tut, was ihm gefällt. In meinen Theaterstücken ist von Anfang an alles genau festgelegt, von der violetten Farbe des Kleides bis zum Ultramarinblau des Bodens. Ich lasse der Regie keine Freiräume, denn ich glaube, daß der Text abgeschlossen sein muß. Der Regisseur, der diesen Text auswählt, gestaltet ihn oder zerstört ihn. Ich habe Inszenierungen meiner Stücke in verschiedenen Sprachen gesehen und bin logischerweise darauf gestoßen, daß der Text vom Regisseur neu geschrieben worden ist, denn es gibt immer eine Regiearbeit, die gemacht werden muß. Ich arbeite selbst nicht mit einer bestimmten Schauspielergruppe zusammen. In meiner Jugend habe ich Schauspielunterricht gehabt, um bessere Theaterstücke schreiben zu können. Aber ich brauche keine Gruppe von Schauspielern, die das spielen, was ich schreibe. Meine Stücke werden aufgeführt, wenn sie fertig sind. Ich verbringe eine lange Zeit ganz allein mit dem Stück und lese es Leuten vor, denen ich vertraue. Den fertigen Text gebe ich einem Regisseur oder einer Regisseurin, an den oder die ich glaube und mit denen ich mich ästhetisch verbunden fühle. Der Text wird einmal in dieser ästhetischen Übereinstimmung inszeniert. Wenn er dann um die Welt geht und ins Italienische, Deutsche, Englische oder Französische übersetzt wird, ist der Autor tot. Ich fühle mich nicht an das Theater gebunden und habe kein Interesse daran, es zu erneuern oder zu revolutionieren, sondern will gute Stücke schreiben. Ich gehe eigene Wege. Und hoffentlich erlaubt Gott, der Unendliche, der Gott Becketts, daß meine Stücke noch inszeniert werden, wenn ich tot bin.

Theaterfrauen am Runden Tisch: Gesprächsausschnitt Moderatorinnen: Renate Klett (Deutschland), Gladys Ravalle (Argentinien) Teilnehmerinnen: Birgid Gysi (Deutschland), Valeria Risi (Uruguay), Maria Schüller (Deutschland), Inés Stranger (Chile), Halima Tahän (Argentinien)

Renate Klett: Inés Stranger, Sie haben heute diesen sehr interessanten Ansatz mit einer Theorie des, man traut es sich kaum auszusprechen, „Weiblichen Schreibens" gemacht, die ja doch immer ganz schnell in einem Klischee versackt. Das habe ich - als kleine Zwischenbemerkung - vorhin bei dem Vortrag gedacht. Zu dem dort angeführten Zitat von Anke Roeder über die Kriterien für weibliches Schreiben kann ich nur sagen, man müßte jetzt Herrn Müller exhumieren, um festzustellen, ob er eine Frau ist. Es tut mir schrecklich leid, ich finde das wirklich sehr klischeehaft. Alles das, was dort als Kriterium genannt wurde, trifft doch auch auf Heiner Müller zu. Jetzt wollte ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, wie sich das für Sie darstellt.

Inés Stranger: Ich habe diese Bemerkung heute morgen folgendermaßen gemeint: Wenn jemand wie ich professionell schreibt, bedeutet es nicht, daß ich immer aus der Perspektive der Frau schreibe. Mich verwirren diese Diskussionen, bei denen der Anschein entsteht, wir schreiben aus der Perspektive der Frau, nur weil wir Frauen sind. Meine Fähigkeit zu schreiben wird ausschließlich von meinem Beruf als Dramatikerin bestimmt. Ich habe den Eindruck, daß auch von Männern Theater geschrieben wird, in dem es psychische Strukturen gibt, die weiblich erscheinen, da sie mehr mit dem kabbalistischen Denken, dem Rituellen, Symbolischen oder Magischen zusammenhängen. Diese Merkmale empfinde ich als weiblich. Die Begriffe werden immer durcheinandergebracht, und es ist kompliziert, die Dinge wirklich auf den Punkt zu bringen. Ich sage dies, weil ich bemerkt habe, daß ich auf zweierlei Art schreibe. Einerseits kann ich aus der Perspektive der dramatischen Handlung schreiben und mich von ihr leiten lassen, andererseits kann das Ritual Ausgangspunkt sein, wodurch mein Schreiben abgerundeter wird. Sie müßten meine Texte lesen, um zu verstehen, wie ich das meine. Es ist schwer zu erklären.

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Renate Klett: Direkt neben Inés Stranger sitzt ebenfalls eine Dramatikerin, Halima Tahän, die hier bisher in ihrer anderen Funktion als Herausgeberin der argentinischen Theaterzeitschrift Teatro al Sur aufgetreten ist. Vielleicht können Sie noch etwas dazu sagen, wie denn in Lateinamerika, im Cono Sur, der Weg vom Text zur Bühne ist. Das ist sicherlich ein anderer als bei uns. Wie sind die einzelnen Etappen? Gibt es einen solchen Weg, der für alle gleich ist oder sind es Schleichwege, die jedesmal anders sind? Halima Tahan: Es gibt unterschiedliche Wege, die jeweils mit den einzelnen Etappen der Entstehung eines Textes verbunden sind. Ich habe lange Zeit in Cordoba gearbeitet, meiner Heimatstadt. Da dies eine Stadt ist, in der nicht nur die Gruppenkultur eine große Rolle spielt, sondern wo auch wegen der völlig anderen Produktionsbedingungen Theaterkooperativen entstanden sind, konnte ich dort ein Stück schreiben, das ganz frei von der realistischen Tradition des sainete (Schwank) war, wie sie in Buenos Aires vorherrscht. Im Landesinneren gibt es diese Tradition nicht, man kann viel freier arbeiten, und der Kontakt zu den Menschen auf der Bühne ist viel enger. Er ergibt sich unmittelbar. Mein erstes Stück, El Entierro - Conferendo Ilustrada (Das Begräbnis - Konferenz der Gebildeten), habe ich 1992 geschrieben. Ich würde es als ein „Regiestück" bezeichnen, denn der Text war für ein konkretes Auffiihrungsprojekt bestimmt. Danach habe ich für die Gruppe Los siete caballetes, die am GoetheInstitut arbeitete, das Stück El viaje de Gilgamesh (Die Reise von Gilgamesch) geschrieben, für das ich auch mit einem Musiker gearbeitet habe. Das Stück sollte von Anfang an in einer ganz bestimmten Form aufgeführt werden. Mit Gilgamesh versuche ich, das Epos neu zu schreiben. Mein letztes Stück, La muerte viva (Der lebendige Tod), habe ich zuerst in Buenos Aires vorgestellt. Es beginnt mit einem Ritual. Meine Auffassung des Rituals unterscheidet sich von Inés Strangers Konzeption. Ich verwende für das Stück ein Todesritual aus dem Nordwesten unseres Landes, wo es Begräbnisfeiern gibt, bei denen sich Tod und Leben, Trauer und Freude vermischen, im Sinne einer Karnevalisierung. Auf der Bühne vollzogen wir dieses Ritual aus einem künstlerischen Blickwinkel. Bei dieser Arbeit, die ich mit einem Regisseur machte, tauchten Schwierigkeiten auf, denn die Schauspieler wollten eine Textvorlage, und ich wollte direkt in den Proben mit ihnen arbeiten. Ich mußte ihnen erklären, daß ich nicht nach aristotelischem Muster vorgehe. Diese Dinge, die anscheinend überall vorkommen, sind auch von dem jeweiligen Ort und der dort gewachsenen Arbeitsweise abhängig. Wir sind in Cordoba daran gewöhnt, auf der Bühne mitzuarbeiten, während sich andere vielleicht mehr als Autoren verstehen. Dies sind einige der Probleme, die bei der

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Inszenierung der Texte entstehen können, und die nichts damit zu tun haben, ob ich eine Frau bin oder nicht. G l a d y s R a v a l l e : In Mendoza, am Fuß der argentinischen Anden, habe ich eine Reihe von Theatersälen aufgebaut, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, die von der Militärdiktatur wieder zerstört worden sind und in Lesesäle oder Cafés umgewandelt wurden. Für den Aufbau dieser Theater brauchten wir viele Jahre. Ich sage wir, weil wir Frauen in diesen Ländern nicht allein dastehen. Die Kinder und die Alten arbeiten mit uns. Wir genießen noch den Luxus, in einer Gemeinschaft leben zu dürfen. Die Art, wie wir Theater machen, ist Ihnen vielleicht ganz fremd. Wir haben keinerlei technische Ausstattung. Als ich diesen Saal (den Konferenzraum im Haus der Kulturen der Welt, Anm. d. Red.) betreten habe, sah ich mir zuallererst die technische Kabine dort oben und alle Scheinwerfer an, die ich einzeln abgezählt habe. Denn in Mendoza steige ich auf die Leiter und hänge mit Hilfe meiner Kolleginnen die Scheinwerfer auf. Wenn man bei uns ein Theaterstück aufführt, dann ist man nicht nur Schauspielerin, sondern hat zuvor auch die Beleuchtung eingerichtet, den Boden gefegt, die Eintrittskarten verkauft und sich erst dann umgezogen und auf die Bühne gestellt. Bei meinen ersten Besuchen in Deutschland sagte ich mir, du kannst das hier nicht erzählen, keiner wird dir glauben, alle werden sagen, das kann nicht sein. Für uns ist es mühsam und schwierig, Theater zu machen, aber es gibt dennoch wieder, was wir empfinden. Aus unserer Perspektive, aus dem Landesinneren, 1.200 km von Buenos Aires entfernt, sehe ich das als eine große Leistung. Ein Stück mit vierzehn Personen kann ich nur in einzelnen Abschnitten proben. Wir treffen uns höchstens ein- bis zweimal pro Woche, um gemeinsam an dieser kniffligen Aufgabe, ein Theaterstück zu inszenieren, zu arbeiten. Wenn der erste einschläft oder der letzte Bus fahrt, endet für alle die Probe. So machen wir Theater. Was spielen wir? Das Repertoire im Landesinneren unterscheidet sich ziemlich stark von dem, was in Buenos Aires gespielt wird. Das Theater in Buenos Aires spiegelt die Wirklichkeit dieser Stadt wider, hat mit uns jedoch wenig zu tun. Wir identifizieren uns nicht mit diesem Theater, und ich finde es traurig, dies sagen zu müssen. Im Landesinneren sind hingegen sehr viele kollektive Theaterproduktionen entstanden, in denen die Jugend und wir alle das zum Ausdruck bringen können, was wir über eine bestimmte Sache denken. Wir schreiben einen Text, gestalten die Bilder, und das Ergebnis hat keinerlei Ähnlichkeit mit den Aufführungen, die hier von den Theaterleuten aus dem Cono Sur gezeigt werden. Bei uns gibt es viele Stücke,

die wie die Röcke aussehen, die gerade modern sind. Sie sind aus allen möglichen Stoffstücken zusammengenäht, die gerade irgend jemand übrig hatte. Ein Stückchen von einem Video über Susanne Linke, das zufällig in unsere Hände geraten ist, ein Fetzen von einem Stück, das irgend jemand gesehen hat, der uns über die darin verwendete Theatersprache berichtet. Ein anderer wiederum ist nach Europa gefahren, wo er an einem Kurs Uber Theater auf Stelzen teilgenommen hat, und folglich taucht im nächsten Stück jemand auf Stelzen auf. Unser Stil ist ein einziges Durcheinander. Wovon nähren wir uns? Von unserer Wirklichkeit. Von dem, was mit unseren Bergen geschieht, daß unser Hafen austrocknet, von der Situation der Frauen in Argentinien, daß wir die Kinder nirgends lassen können, wenn wir arbeiten gehen. Wir proben, und unsere Kinder liegen im Körbchen daneben. Die älteren Kinder müssen auf die Kleinen aufpassen. Unsere Kinder kommen und gehen während der Proben, ohne daß sie stören, denn oft wissen wir nicht, bei wem wir sie lassen könnten. Bei uns gibt es viele Frauen, die Familie haben. Diese Situation müssen wir immer mitbedenken. Unsere Arbeit wird stets von Angst und Unsicherheit begleitet. Fünf Jahre lang durfte ich nicht öffentlich auftreten. Ich stand auf allen schwarzen Listen. Wir machten damals ein Theater im Geheimen, gemeinsam mit unseren Freunden. Irgend jemand, der ein einigermaßen großes Zimmer hatte, stellte es uns zur Verfügung, und wir spielten dort ein Stück von Ricardo Monti, Visita (Besuch), ein Stück für vier Personen. Unser Theater im Landesinneren handelt immer von unseren Problemen: warum die Wälder abgeholzt werden, wie man öffentliche Speisungen für Kinder organisieren könnte. Unser Theater geht auch zu den Frauen in den Vierteln, die wir callampas, Slums, nennen und wo die Lebensbedingungen ziemlich unmenschlich sind. Dort organisieren diese Frauen öffentliche Speisesäle. Was glauben Sie, soll ich diesen Frauen sagen? Was für Theater sollen wir in einem Raum spielen, in dem es oft noch nicht einmal einen Ofen oder einen Ventilator gibt? Was sollen wir diesen Frauen sagen? Ich würde gerne hier in Berlin ein Stück aussuchen und es für diese Menschen spielen, die oft noch nicht einmal die 3 Dollar bezahlen können, die die Eintrittskarte kostet. In der letzten Zeit lassen wir meistens den Hut herumgehen, denn wir haben festgestellt, daß wir auf diese Weise mehr verdienen, als wenn wir Eintritt nehmen würden. Ich will hier kein Mitleid erwecken, denn wir haben viel Freude an unserer Arbeit. Wer bei uns Theater macht, hat sich dafür entschieden. Wir ernähren uns von einer anderen Arbeit, leben aber vom Theater, von unserem Vermögen als Frauen, unsere Umwelt zu erotisieren, davon, daß wir unsere Kinder großziehen, mit unseren Freunden und unseren Männern die gleiche Arbeit und die gleichen Ziele teilen.

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Valeria Risi: Ich habe über Vergleiche nachgedacht, die man über die Schauspielarbeit in Deutschland und in Uruguay anstellen könnte. Mir widerstrebt es, Diskussionsrunden für Frauen oder über Frauentheater abzuhalten, denn auf der anderen Seite gibt es ja auch keine Männerpodien oder Männertheater, sondern es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen und nicht betont, daß Männer dort mitmachen. R e n a t e Klett: Die meisten Podien sind automatisch Männerpodien, von daher erübrigt es sich. Valeria Risi: Ich finde, daß wir uns unterordnen, indem wir Frauenpodien abhalten oder Orte schaffen, die ausschließlich für Frauen sind. Ich mag diese Abgrenzung nicht, denn ich habe den Eindruck, daß wir uns dadurch im negativen Sinn differenzieren, d.h. selbst diskriminieren. Zwischen den wenigen Schauspielerinnen, die ich hier in Deutschland persönlich kennengelernt habe und den Schauspielerinnen aus Uruguay habe ich einen Unterschied bemerkt, der mit ihrem Selbstbild als Frau zusammenhängt. Kati Röttger hat in ihrem Vortrag den Satz zitiert, daß in Lateinamerika die Traditionen von den Müttern an die Kinder weitergegeben werden. Diese Aussage finde ich sehr richtig und glaube, daß wir dadurch als Frauen geprägt worden sind, denn wir sind die Töchter starker Mütter. Ich möchte nicht kitschig werden, bin jedoch davon überzeugt, daß die Mutterschaft unauflöslich mit unserem Frausein verbunden ist und daß sich dies auch auf unsere Arbeit auswirkt. Als ich Gladys Ravalle zuhörte, ist mir aufgefallen, daß gerade in unseren Ländern, in denen nicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind, um bequem arbeiten zu können, es eigentlich völlig absurd ist, überhaupt daran zu denken, Theater zu machen und gleichzeitig Kinder zu haben. Dennoch haben die Frauen Kinder, und es ist notwendig, wichtig. Hier in Deutschland, wo es diese wirtschaftlichen Probleme nicht in dem Maße gibt - vielleicht gibt es andere, aber sie sind nicht so schwerwiegend -, habe ich hingegen den Eindruck, daß viele Frauen die Mutterschaft als eine Art Rückschritt empfinden. Es ist so, als fühlten sie sich emanzipierter, wenn sie keine Mütter sind, als lehnten sie diesen Teil der Weiblichkeit ab. Sie entscheiden sich für ihre Karriere, obwohl sie in Wirklichkeit kein Hindernis sein müßte und beides vereinbar sein könnte. Bei uns, wo es eigentlich unvereinbar ist, wird es einfach gemacht. Dies ist meine Meinung. Davon wird die Arbeit beeinflußt. Ein anderer Unterschied besteht darin, daß wir, da wir weniger Zeit zur Verfügung haben,

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umso intensiver arbeiten. Jede freie Minute ist Gold wert und muß ausgenutzt werden. Andererseits fehlt uns die nötige Zeit, eine Figur wirklich zu entwickeln. Der Unterschied liegt für mich in der Art, wie hier und dort Theater gemacht wird, aber nicht zwischen Männern und Frauen. R e n a t e Klett: Daran möchte ich direkt anschließen und Frau Gysi fragen, wie ihre Erfahrung ist. Sie ist Dramaturgin im Theater im Palais. Wie kommen Sie zu Ihren Texten? Wie kommen Sie zu Ihrem Spielplan? Lesen Sie Texte von Frauen anders als Texte von Männern, lesen Sie neutral, lesen Sie sozusagen wohlwollend indifferent?

Birgid Gysi: Vielleicht muß ich noch etwas vorausschicken, bevor ich diese Frage beantworten kann. Ich bin eine Dramaturgin, die aus dem Ostteil Deutschlands kommt. Ich habe eine Zeit von etwa 30 Jahren als Theaterfrau hinter mir, und davon war der Hauptteil im Osten und ich war 13 Jahre an einer renommierten städtischen Bühne wie der Volksbühne Dramaturgin. Für mich war „Frau sein im Theater" damals überhaupt kein Problem. Nun will ich nicht auf die sozialpolitischen Verhältnisse von damals kommen. Fakt war trotz allem, daß in der Theaterhierarchie ganz alte männliche Strukturen wirkten, die dominierenden Leute waren die Männer. Ich habe mich aber damals nie gefragt, warum hast du eigentlich noch nie mit einer Frau zusammengearbeitet. Ich habe immer mit Männern gearbeitet, Regisseuren und Intendanten. Mir fiel es aber auch nicht auf. Ich habe immer gedacht, der Beruf des Dramaturgen sei eher weiblich besetzt, und ich habe die Grenzen, an die ich gestoßen bin im Rahmen dieses Berufes, nie als Grenzen des Frauseins im Theater empfunden, sondern immer als Grenzen des Berufes Dramaturg. Deshalb bin ich dann in die Wissenschaft gegangen, um diese Grenzen zu erweitern. Mit der Wende 1989 bin ich plötzlich in eine Situation gekommen, in der ich völlig neu um eine soziale Existenz kämpfen mußte. Ich habe mich zurückbesonnen auf meinen Urberuf, die Dramaturgie. Da habe ich interessanterweise einen solchen Ausgangspunkt wie Gladys Ravalle gehabt, d.h. ich stand da als Dramaturgin ohne Theater, aber mit dem Willen zu arbeiten, und glücklicherweise fand ich eine Frau, die das gleiche wollte, die gerade auch frei wurde, weil das Theater im Palast als erstes Theater in Berlin geschlossen worden war. Nun waren es die Frauen, die sich zusammentaten und versuchten, eine neue Existenzmöglichkeit zu finden, indem wir einfach arbeiteten und ein Theater gründeten durch Inszenierungsarbeit, indem wir einfach etwas gemacht haben und uns nebenbei unseren Lebensunterhalt verdient haben, so ähnlich wie Gladys

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das geschildert hat. Ich habe plötzlich gemerkt, da wir Frauen waren, daß man eigentlich auch anders arbeitet als Frau mit Frauen. Das war für mich die Entdeckung, die aus der neuen Zwangssituation gekommen ist. Renate Klett: Da war die Wende doch für etwas gut. BirgidGysi: Die Wende war in diesem Fall sehr gut. Uns ist gelungen - und das war der Ausgangspunkt - demokratischere Strukturen in unserer kleinen Gruppe herzustellen, d.h. diese ganze männliche Hierarchie abzubauen. Es gibt das Gremium aller elf Teilnehmerinnen, die Uber alles Wesentliche entscheiden. Das betrifft auch den Spielplan und die Frage nach Autoren und Stücken. Bei uns wird nichts gespielt, was nicht auch die Mehrheit will. Das ist eine Entscheidung von uns Frauen in dieser Gruppe: die Regisseurin, die Dramaturgin, eine Btihnenbildnerin, die freie Mitarbeiterin ist. Wir versuchen, ein Thema zu finden, das mit uns als Frauen zu tun hat und auch mit der Situation damals in der DDR: Wieso haben wir uns bestimmte Fragen nicht gestellt, warum haben wir uns in bestimmten Punkten angepaßt? Das sind Fragen, meine ich, die für viele Frauen gelten. Man braucht nur die Weltliteratur auf ihre Frauengestalten hin durchzuschauen. Warum finden sie sich in bestimmte Verhältnisse hinein, warum rebellieren sie nicht oder warum sind es nur so wenige, die rebellieren oder Strukturen durchbrechen? Wir haben uns überlegt, daß wir uns solche Literatur suchen, und dabei haben wir nicht darauf geschaut, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben ist, sondern ob sie von einem Künstler ist, der diese Frage behandelt, die den Zusammenhang von unbewußten, unterbewußten und bewußten Momenten im menschlichen Verhalten versucht herauszukristallisieren. Das ist für uns wichtig, weil es sowohl die Ebene des Frauseins betrifft wie auch unser Verhalten in der Gesellschaft der DDR. Ich muß dazu sagen, daß wir uns angepaßt haben, weil es uns eine Lebensmöglichkeit gab. Erst wenn man an bestimmte, ganz harte Existenzgrenzen stößt, kommt man zum Infragestellen, zum Rebellieren. Wir wollten auf dieser Ebene etwas suchen, und da griffen wir zu E f f i Briest von Theodor Fontane, zu Esther Vilars Tristan und Isolde. Stundenplan einer Rache, eine Autorin, die den Mythos von Tristan und Isolde von einer feministischen Fragestellung her völlig neu untersucht. Renate Klett: Esther Vilar als Feministin, da muß ich aber Einspruch erheben.

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Birgid Gysi: In diesem Stück löst sie dies in bezug auf die Figur der Isolde ein. Wir entwickeln eigene Fassungen und suchen uns vor allem Romanliteratur, Gegenwarts- oder Vergangenheitsliteratur danach aus, wie sie diese Fragestellung bedient. Auch hier spielt der Versuch eine wichtige Rolle, Frauen mehr einzubringen. Ich habe die Inszenierung eines Ein-Frau-Stückes gemacht (Dramaturgen inszenieren an unserem kleinen Theater auch ab und zu), von dem alle immer gesagt haben, das müsse doch eigentlich ein Mann spielen. Grundlage ist der Roman Jakob der Lügner von Jurek Becker. Ich habe eine Erzählstruktur gefunden, eine Bearbeitung gemacht und sie dann mit einer unserer bekannten Schauspielerinnen hier in Berlin, Marion Wannekamp, und mit einem Klarinettisten inszeniert. Und dabei kam zum Ausdruck, daß Frauen doch eine andere Haltung zu einem bestimmten Stoff einbringen können, eine Distanz zu solchen Figuren, die mir in diesem Fall für die Eroberung des Stoffes nützlich war. Wir sind jetzt fünf Jahre alt und haben uns von einer freien Gruppe zu einer Art Privattheater etabliert, wir werden nicht subventioniert, d.h. wir müssen alles selbst erarbeiten. Die Bestimmungen machen wir Theaterfrauen. Das ist in der freien Theaterszene, in der man nicht von vornherein die traditionellen Strukturen bedienen muß, möglich. Maria Schüller: Ich bin so beeindruckt von unseren Unterschieden, daß ich das Bedürfiiis habe, etwas dazu zu sagen. Ich bin überwiegend im subventionierten Theater groß geworden und von meinem Verständnis her eher in den 70er Jahren verankert als in den 90em. Ein Aspekt ist hier ganz wichtig: Wir Frauen hier in Deutschland halten uns in Institutionen auf, die durch die Geschichte von den Männern bestimmt sind und in denen - und das halte ich für ein gemeinsames Thema gerade mit den chilenischen Kollegen - der Kalte Krieg zwar längst nicht mehr existiert, aber in die eine ganz neue Art von Kälte Einzug hält, eine Ellenbogenmentalität. Das betrifft nicht nur die schweinischen Männer, das betrifft auch die Frauen. Wir pflegen einen ganz anderen Umgang miteinander, solange wir uns in subventionierten Theatern aufhalten, weil wir dort immer auch in städtischen oder staatlichen Organisationen tätig sind. Ich habe manchmal den Eindruck, daß bei uns ein riesiger Überbau nötig ist, um auf den Grund der Frage zu kommen, warum wir Theater machen. Ich bin als deutsche Regisseurin mit einem Stück deutscher Vergangenheit nach Chile gegangen. Ich habe mich für Die Kannibalen entschieden, das erste Stück in George Taboris Werkchronologie. Wir sind uns bei den Kanni-

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balen in der Frage begegnet, wie verbindet sich deutsche Geschichte mit chilenischer, wie nähern wir uns in der Spielweise an. Diese ganz einfachen kreatürlichen Beweggründe zu spielen, wirklich mit einer Unschuld zu spielen, das war für mich in Chile eine wunderbare Erfahrung, und seitdem sehe ich unseren auch bei mir intemalisierten Zynismus in den Betrieben tagtäglich einfach deutlicher. Das ist so, als wenn man nach Berlin kommt und die ersten drei Tage das Kohlenmonoxid in der Luft ziemlich deutlich riecht, und nach einer Zeit riecht man es nicht mehr so deutlich. Gott sei Dank, ich rieche es noch ein bißchen. Renate Klett: Aber was diesen Zynismus anbelangt, sehen Sie da einen Unterschied zwischen Männern und Frauen oder zwischen bestimmten Männern und bestimmten Frauen? Oder ist das etwas, das querbeet durchgeht? Sind es alle Machthaber, egal ob weiblich oder männlich, die zynisch sind, und die Nicht-Machthaber nicht? Maria Schüller: Ich denke, daß ich in einem ganz pragmatischen Sinn schon tatkräftig mit Feminismus zu tun habe, aber ich glaube, daß die Probleme, die wir im Moment haben, über feministische Fragestellungen wirklich hinausgehen. Es gibt auch für mich Kontakt mit Kolleginnen, die ich als Macho erlebe, und es gibt für mich Kontakt mit Theatermännern, mit denen ich mich stellenweise besser verstehen kann als mit Frauen. Die Orientierungslosigkeit oder, das sagte schon ein Kollege, nicht Orientierungslosigkeit, sondern das, was Ideologiefreiheit genannt wird, ist im Grunde der Einzug von knallhartem Überlebenskampf. Ganz einfache Prinzipien, Funktionalität, Ellenbogenmentalität, das Gesetz des Stärkeren, ziehen doch bei uns spürbar in alle Institutionen ein. Das ist keine Frage von Frauen gegen Männer oder umgekehrt, sondern das ist wirklich eine Frage von uns allen. Wenngleich ich es für mich und vielleicht auch für viele Kolleginnen reklamieren möchte, daß wir doch etwas sensibler dafür sind und vielleicht, soweit wir uns feministisch oder sozial verankern, eine größere Verantwortung für die Strukturierungen von Arbeit fühlen, zumindest kann ich das für mich sagen. Ich kann das, habe es lernen müssen. Wenn bestimmte Strukturen gefragt sind, die etwas mit Durchsetzungsvermögen zu tun haben, könnte ich das auch, wenn ich wollte. Es geht dann aber etwas für mich verloren und macht mir keinen Spaß mehr. Aber der mir wirklich wichtige Punkt in bezug auf Theater ist, daß wir verdammt darüber nachdenken müssen, wo unsere Begeisterungsfähigkeit geblieben ist. (Applaus) Renate Klett: Da unten bricht sie gerade aus.

Theater gegen das Vergessen

Alfonso de Toro Das postmoderne Theater von Eduardo Pavlovsky

Einleitung Schauspieler, Regisseur, Autor und Psychiater, all dies macht den Menschen Eduardo Pavlovsky aus, den hier zu behandelnden Autor. Nicht nur innerhalb des argentinischen Theaters hat er Geschichte geschrieben, sondern er ist einer der wenigen lateinamerikanischen Dramatiker, die internationales Renommee über den Kontinent hinaus genießen - ein Fakt freilich, der nicht immer die entsprechende Anerkennung im argentinischen Umfeld gefunden hat. So scheint sich das Wort vom „Propheten" zu erfüllen, der „nichts gilt im eigenen Land". Pavlovsky kann bereits auf eine lange Theaterlaufbahn verweisen (seine Aktivitäten im Theater gehen bis ins Jahr 1957 zurück, als Autor begann er spätestens 1961 mit Somos und La espera trägica), seine Erfolge sind insbesondere außerhalb Argentiniens, aber auch im Land selbst gut bekannt, weshalb es zumindest merkwürdig anmutet, daß sein Werk bislang weder im Umfeld des Theaters (von einigen Ausnahmen in jüngster Vergangenheit abgesehen), noch in der Welt der Kritik den ihm gebührenden Platz einnimmt.1

Die vorliegende Arbeit wurde bereits auf Deutsch und Spanisch in voller Länge, d.h. unter der Berücksichtigung aller Werke Pavlovskys mit der Ausnahme von Rojos, globos, rojos, ein Werk, das zum Zeitpunkt der Abgabe des Beitrags noch nicht entstanden war, veröffentlicht in: Maske und Kothurn I, (1996) 69-94 und in: A. de Toro und K. Pörtl (Hrsg.): Variaciones sobre el teatro latinoamericano. Tendencias y perspectivas, Frankfurt am Main 1996, S. 59-84. In jüngster Zeit gab der berühmte französische Schauspieler L. Trintignant mit Potestad sein Debüt als Theaterschauspieler in den USA.

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In einem der letzten Interviews2 betont Pavlovsky seine Situation als Theatermacher „am Rande" des etablierten Theaterbetriebes, wobei er gleichzeitig auf ein jüngst erschienenes Buch mit dem suggestiven Titel den anos de teatro argentino Bezug nimmt, in welchem nur La espera trägica beiläufig erwähnt wird.3 Daher hat Pavlovsky wohl recht, wenn er feststellt: Ein Kritiker muß über seine persönlichen Vorlieben hinaussehen, denn was geschieht ist, daß jemand intellektuell und künstlerisch verschwindet. Die Verschwundenen in Lateinamerika sind nicht nur diejenigen, die physisch verschwinden, sondern auch diejenigen, die intellektuell verschwinden, wobei es in dem genannten Fall noch emster ist, da die Eliminierung von einem Kritiker [...] ausgeht, der sich dem Theater in Theorie und Praxis widmet.4 Das Grundproblem, das Pavlovsky in der gegenwärtigen Kritik sieht, ist ein zweifaches:

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S. mein Interview: „Entre teatro kinésico y teatro deconstruccionista: Eduardo Pavlovsky." „El teatro del goce y los nuevos territorios existenciales." In: La Escena Latinoamericana 7 (1991) 42-45.

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Das Buch von Osvaldo Pellettieri bleibt hinter seinem Anspruch zurück, da es sich keineswegs um ein Panorama (ebensowenig um eine systematische Darstellung) der Geschichte des argentinischen Theaters, sondern um eine schlichte Sammlung bereits publizierter Artikel zu verschiedenen Autoren handelt. Daher ist die Zusammenstellung willkürlich und zufallsbedingt, so daß Pavlovsky und weitere wichtige Autoren nicht berücksichtigt bzw. nur am Rande erwähnt werden. Neuerdings widmet Pellettieri in seinem neuen Buch Teatro argentino contemporáneo (1980-1990). Crisis, transición y cambio. Buenos Aires 1994, Paso de dos einige wenigen Seiten (S. 62-73), um dieses Stück mit einem vielmehr journalistischen als wissenschaftlichen Gestus einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Auffallend ist hier nicht nur, wie fremd Pellettieri das Werk Pavlovskys ist, sondern auch, daß er offensichtlich wenig von der internationalen Theaterentwicklung der letzten fünfzehn Jahre weiß. Paso de dos in einer „traditionell-konventionalisierenden Mentalität im Kontext der Ideale des unabhängig-historischen argentinischen Theaters und des Realismus der 60er Jahre" (S. 66), bzw. als Kampfstück „realistischer Thesen", als „epigonales Stück" eines „mittelmäßigen Autors" zu betrachten, verrät eine starke Abneigung gegen den Autor und eine Interpretationsblindheit der besonderen Art. Pellettieri geht femer mit in der Forschung längst wissenschaftlich abgesicherten Termini auf eine derartig dilettantische Weise (reflexiver Realismus) um und gerät in so eklatante Widersprüche (Die Figur „Sie I" soll gleichzeitig „symbolisch", „expressionistisch", „entwirklicht", „und dennoch stark referenzialisiert" sein, wobei diese Termini sich diachron und synchron ausschließen), daß seine Publikation sich selbst disqualifiziert - von den zahlreichen Orthographiefehlem und sonstigen Mängeln möchte ich erst gar nicht reden. Derartig in Hast verfaßte Publikationen schaden eher den ohnenhin nicht sehr angesehenen Theaterwissenschaften lateinamerikanischer Provenienz.

4

„Un crítico debe ir más allá de los gustos personales, ya que lo que sucede es que uno desaparece intelectual y artísticamente. Los desaparecidos en Latinoamérica no son sólo aquéllos que desaparecen físicamente, sino intelectualmente y lo que es más serio, en el ejemplo mencionado, es que esta eliminación venga de un crítico [...] que se dedica al teatro en teoría y práctica"; zitiert in: Eduardo Pavlovsky/Alfonso de Toro. a.a.O. 1991, S. 42.

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Auf der einen Seite gibt es eine gewisse Zahl von Kritikern, die nicht auf dem laufenden sind über das, was heute in der Welt passiert, und nicht Uber das Instrumentarium zur Analyse des Theaters verfügen, andererseits sind die informierten Kritiker von der Schnelligkeit und Verschiedenartigkeit des gegenwärtigen Theaters Uberwältigt worden: Wir benötigen neue, junge Kritiker, die diese Avantgarden begleiten.3 Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Werk Pavlovskys widmet, ist jenes Teatro argentino hoy, das den Bezugspunkt für jedwede Einführung in das Theater des argentinischen Autors setzt6. Ausgehend von dieser Arbeit, von der Lektüre einer größeren Anzahl von Werken Pavlovskys7, von zwei Inszenierungen, Potestad und Paso de dos*, sowie Interviewmaterial und theoretischszenischen Darlegungen von Pavlovsky selbst wie auch von den Regisseuren seiner Werke9, möchten wir versuchen, innerhalb des engen Rahmens eines Artikels ein Panorama seines Theates zu zeichnen, indem wir die Merkmale beschreiben, die uns als die grundlegenden erscheinen, wobei wir in einigen Fällen insbesondere auf das Moment der Inszenierung eingehen werden.

Geschichte und Merkmale des Theaters Pavlovskys Einerseits ist das Theater Pavlovskys von seinen Anfangen an und noch in den siebziger Jahren in den politisch-sozialen Utopien verwurzelt, welche die damalige Zeit kennzeichneten. Gleichermaßen beginnt sich aber vom ersten Augenblick an die Tendenz zur Neutralisierung der referentiellen Mimesis herauszukristalliBrief von E. Pavlovsky an den Autor dieses Artikels: „[...] por una parte existe una cierta cantidad de críticos que no están al tanto de lo que sucede hoy en el mundo y no poseen los instrumentos analíticos para tratar el teatro y por otra los críticos informados han sido avasallados por la rapidez y variedad del teatro actual: necesitamos nuevos críticos jóvenes que acompañen estas vanguardias". 6

Buenos Aires 1981, mit Arbeiten von G.O. Schanzer, Ch.B. Driskell, D.W. Foster und W.l. Oliver, die detaillierte Informationen Uber das Werk von Pavlovsky bieten.

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Die Werke sind folgende: Último Match (1967); La mueca (1971); El señor Galindez (1973); Telarañas (1976); Cámara lenta. Historia de una cara (1978); Pablo (1980); El señor Laforgue (1982); Potestad (1986); Cerca (1988); Paso de Dos (1989); El Cardenal/La ley de la vida/Alguna vez (1992).

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Potestad betreffend, beziehe ich mich auf eine Videoaufzeichnung vom Festival in Mexiko, auf die Aufführungen in Ottawa (August 1991), Santiago de Chile (August 1992) und Augsburg (März 1993). Für Paso de Dos lege ich eine Videoaufzeichnung vom Festival in Essen (Juli 1991) zugrunde. Pavlovskys Äußerungen befinden sich in Vor- und Nachworten zu seinen Werken verstreut; vid. außerdem A. de Toro: „Entre el teatro kinésico y el deconstruccionista. Potestad de Eduardo Pavlovsky." In: La Escena Latinoamericana 7 (1991) 1-3; und Eduardo Pavlovsky/Alfonso de Toro, a.a.O. 1991, S. 42-45.

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sieren, wobei diese durch etwas ersetzt wird, das wir als eine schwache (débole) Struktur und als einen „räumlich-zeitlichen Null"-Zustand bezeichnen könnten, die/der sowohl die Handlung als auch die Figuren erfaßt. Innerhalb dieser offensichtlichen Abstraktion verwandelt sich das Gezeigte nicht in etwas semantisch Neutrales, sondern es erlangt eine Universalität, die Pavlovsky Raum zur theoretischen Reflexion und zum Experimentieren gibt. Diese neue Theaterformel in Lateinamerika fuhrt dazu, daß ebenso die direkte Anwendung dessen vermieden wird, was Pavlovsky als die „Linie einer harten, politischen Botschaft" oder „den Imperialismus der Identität: dort wurde er geboren, von da kommt er, sie trinken Mate, wie im allgemeinen im Rioplatenser Theater zu finden" ist, bezeichnet, so daß sein Theater nun als eine „Reise durch neue Fragestellungen" verstanden wird, die zur Schaffung „neuer Bereiche der Existenz, neuer Identitäten, neuer ästhetischer Körperformen" fuhrt.10 Diese Orientierung seines Theaters stellt sich im Verlauf der 80er Jahre schließlich als eine Neukodifizierung einiger Aspekte des Theaters von Beckett und von Pinter dar, was Pavlovsky „Theater des Genusses" (teatro del goce) nennt. Hier kommt eine Reihe von Elementen aus dem Volkstheater, dem politischen, dem grotesken Theater, dem Puppenspiel (mit klarem Bezug zu Dario Fo) zur Anwendung, ein Theater also von hoher semantischer Ambiguität, in dem der Versuch unternommen wird, das Gefühl der Beklemmung, der Einsamkeit und Gewalt zu Ubermitteln - alles paradigmatische Themen im Theater Pavlovskys, die insbesondere in La Mueca, Cerca, El señor Galíndez, El señor Laforgue, Pablo, Potestad und Paso de dos einen dramatischen Ausdruck finden. Das Theater Pavlovskys stellt sich als eine radikale Subversion der Darstellung im Rahmen einer „Verwindung" der Theatertraditionen dar", indem es das Politische behan10

„La l'nea dura polftico-mensajista" [...], „ese imperialismo de la identidad aca nació, de allá viene, están tomando mate, como es por lo general el teatro rfoplatense", [...] „un viaje de nuevos planteamientos" que lleva a la creación de „nuevos territorios existenciales, nuevas identidades, nuevas formas corporales estéticas". In: A. de Toro/ Pavlovsky, a.a.O. 1991, S. 43.

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Zum Begriff „Verwindung" im allgemeinen und im Theater, s. A. de Toro: „El productor rizomórfico y el lector como detective literario. La aventura de los signos o la postmodemidad del discurso borgesiano (intertextualidad-palimpsesto-rizoma-deconstrucción)." In: K.A. Blüher/A. de Toro (Hrsg.): Jorge Luis Borges: Procedimientos literarios y bases epistemológicas. Frankfurt a.M. 1992, S. 145-184; wiederabgedruckt in: Studi di Litteratura Ispano-Americana 23 (1992) 63-102; Cambio de paradigma: el 'nuevo' teatro latinoamericano o la constitución de la postmodernidad espectacular. In: Iberoamericana 43/44, Jg. 15, 2-3 (1991) 70-92; wiederabgedruckt in: Espacio, aflo 5, N°9 (1991) 111-133; auch Uberarbeitet erschienen unter dem Titel: „Postmodemidad en cuatro dramaturgos latinoamericanos", in: M. Rojas (Hrsg.): De la colonia a la postmodernidad: teoría teatral y critica sobre teatro latinoamericano. Buenos Aires/Ottawa 1992, S. 157176; „Gli itinerari del teatro attuale: verso la plurimedialità postmoderna dello spettacolo o la fine del teatro mimetico-referenziale?", in: Massimo Canevaci/Alfonso de Toro (Hrsg.): La communicazione teatrale. Un approccio transdisciplinare. Roma 1993, S. 53-110, auch auf Deutsch: „Die Wege des zeitgenössischen

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delt, ohne politisch zu sein, das Soziale zum Thema macht, ohne sozial zu sein, oder das Ethische zum Gegenstand hat, ohne moralisierend zu sein, indem es die Geschichte in Erinnerung ruft, ohne historisches Theater zu sein usw. Die Verwendung wurzelt darin, daß nicht „schwarz/weiß gemalt" wird, sondern daß die ganze Komplexität einer Figur gezeigt wird, anstatt sie anzuklagen und zu bekämpfen - und dies seit Ultimo Match, wo beispielsweise in der Figur des Boxers oder des Folterknechtes Mechanismen offengelegt werden, die in der Tiefe des Unbewußten oder in Tabuzonen begründet liegen. In diesem Aspekt besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem postmodemen Theater eines Pavlovsky und gewissen Formen des nordamerikanischen oder europäischen postmodernen Theaters, das eine starke ästhetizistische Last und eine spielerische Komponente aufweist. Pavlovsky stellt einer reinen Ästhetik des Vergnügens, der hohen Kultur und der Schönheit seine Ästhetik des Genusses als Rührung des Zuschauers entgegen, die in einer absoluten Zwiespältigkeit, in einem konstanten Kampf gegen ethische Parteinahme begründet liegt. Seine Werke sind „a-ethisch" in dem Sinne, daß sie keine bestimmte Perspektive präjudizieren; daher provozieren sie. Seine ästhetische Intention ließe sich sogar auf der Basis der klassischen Termini admiratio, terror und perturbatio definieren, allerdings nicht mehr ausgehend von der Basis vorgegebener ethischer oder ästhetischer Kodizes ausgehend, sondern von der Negierung des Zentrums, auf dem solche Postulate beruhen. Die Leere, die vom impliziten Leser/Zuschauer „gefüllt" werden muß, ist die Quelle der Erschütterung.12 Ein so konzipiertes Theater öffnet ein neues Paradigma im Kontext des lateinamerikanischen Theaters - neben Dramatikern wie Ramön Griffero, Antunes Filho, Gerald Thomas, Luis de Tavira und anderen -, in dem das mit Botschaft überladene lateinamerikanische Theater der harten Linie, der harten Denkweise, der Augenfälligkeit und des geringen Bewußtseins über sein künstlerisches Instrumentarium abgelöst wird. Die Struktur der Theaterarbeit Pavlovskys weist einen oxymoronischen Status auf, insbesondere in den 80er Jahren. Einerseits ist der Text eine schlichte Grundlage für die Entstehung von szenischen Bildern, d.h. ein Ausgangspunkt, um Theater zu produzieren, andererseits weist er eine starke, entpragmatisierte, semantisch offene Implikation auf, die für Regisseur und Publikum zur Disposition steht. Von hier aus leitet sich sein postmoderner, entterritorialisierter, unbe-

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Theaters - zu einem postmodemen Multimedia-Theater oder: das Ende des mimetisch-referentiellen Theaters?', in: Forum Modernes Theater, Heft 2 (1995), Bd. 10/2, S. 135-182. Im Hinblick auf La mueca vgl. W.-I. Oliver: La mueca. In: La mueca und Cerca. Buenos Aires 1988, S. 4851.

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stimmter und antiautoritärer Charakter ab. Der Text ist Ausgangspunkt für Debatte, Reflexion, Rekodifizierung. So existieren z.B. Werke wie La mueca, Potestad, Pablo und insbesondere Paso de dos bereits vor dem Text, bzw. gründen sich auf eine Interaktion zwischen Text und Handlung, sie sind Produkte einer umfassenden schauspielerischen Arbeit; es handelt sich nicht um Inszenierungen, sondern um Theaterimprovisationen, die einen Grad von Akzeptanz erreichen, der es ihnen ermöglicht, sich schließlich als Text und Stück zu kristallisieren.13 Seit Último Match sind die dramatischen Texte Pavlovskys durch die Ökonomie ihrer Sprache gekennzeichnet, durch ihren Collagen-Charakter (und damit durch den Verzicht auf räumlich-zeitliche Kausalität), durch das Groteske, das Puppenspielhafte. Der Text wird als „Material" im Dienst der Schauspieler und des Regisseurs, d.h. für die Inszenierung betrachtet; er ist offen, ein reiner Prä-Text, der seine Legitimation nur in dem Moment erhält, in dem er Theater wird.14 Diese Charakteristik ergibt sich daraus, daß Pavlovsky keine autoritäre Autorschaft beansprucht, sondern sein Theater als kollektiven Prozeß betrachtet, an dem Autor, Schauspieler, Regisseur und Publikum teilhaben.15 In exemplarischer Form erfahren wir, wie dieser Prozeß des dramatischen Textes als Aufführungstext in Ultimo Match umgesetzt wird, dank der wertvollen Anmerkungen des Regisseurs C. Ramonet, der eine ähnliche Methode anwendet wie Bob Wilson, indem er seine Arbeit mit den Schauspielern ausgehend von einer Grundidee des Textes beginnt, die durch Improvisation und Handlung ihre dramatische Form annimmt, und dann, nach und nach, den dramatischen Text einbezieht. Als sich Ramonet am Ende seines Essays nach der Autorschaft fragt, nennt er die vierundsiebzig Schauspieler und den Regisseur. Seit Ultimo Match präsentiert sich das Theater Pavlovskys als Körperlichkeit, im Sinne des totalen Zeichens. Der Körper ist nicht mehr nur ein Träger, eine Krücke für das Wort, er stellt sich als Quelle von vielfaltiger Bedeutung dar, so daß sich das Problem der Bedeutung selbst als Frage stellt. Schließlich bleibt noch ein letztes Charakteristikum zu nennen, und zwar die beständige Entpragmatisierung des Diskurses, d.h. seine Situationslosigkeit, das 13

S. Ferrigno, O.: „Prölogo." In: La mueca. Caracas 1980, S. 25ff. und E. Pavlovsky. „Balbuceo del proceso creativo". In: Potestad. Buenos Aires 1987, S. 15-17.

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S. Pavlovsky, E./Hermes, J.C.: „Notas." In: Ultimo Match. Buenos Aires 1970, S. 3 und C. Ramonet (Ebd.: 5-9).

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Im Gegensatz zu einem anderen postmodernen Theaterautor, Jean-Marie Koltis, der in Hamburg eine große Diskussion auslöste (die im Spiegel und in Theater Heute dokumentiert wurde), da er - nicht einverstanden mit der Inszenierung seines Werks La solitude dans les champs de coton - alle Aufführungen in Deutschland verbot und festlegte, daß Patrice Ch£reau der einzige fllr die Aufführung seiner Werke autorisierte Regisseur sei.

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Fehlen eines offensichtlichen kontextuellen Ursprungs. Er ist immanent rhizomatisch, hochgradig auf den Autor bezogen und selbstgenügend, wodurch es möglich wird, die Theatersprache, ihren semantischen Aspekt, ihre Syntagmatik und somit das Artefakt des Diskurses zu rekodifizieren.

Ultimo Match - eine szenische Collage des individuellen und kollektiven Bewußtseins Ultimo Match16, das traditionellerweise als „expressionistisch" bezeichnet wird, muß eher als ein tiefes Eindringen in die Psychologie und die Gefuhlsbewegung des Individuums im Hinblick auf den sinnlichen und intellektuellen Genuß der Gewalt gesehen werden. Dabei werden Tabuzonen aufgedeckt, jedoch nicht in anklagender, moralisierender Weise, sondern als starke ethische Provokation. Sie wird durch die Selbst-Opferung des Champions ausgelöst, nachdem er seinen Gegner im Kampf getötet hat - eine Konsequenz aus seiner inneren Ablehnung des Berufs oder Sports, den er ausübt. Sein Suizid kommt der Befreiung von Gewalt gleich, ein Triumph über das Publikum, das - dieser Tat gegenüber gleichgültig - einen anderen Champion fordert. Das Stück ist in neunzehn Szenen gegliedert, die ohne kausale Raum-ZeitRelation wechseln. Diese Verflechtung der Szenen, voller Brüche, Fragmentierungen und schroffer Wechsel, die einer psychischen Abfolge-Struktur gehorcht, verhindert - zumindest auf textueller Ebene - eine Identifikation des Publikums mit dem Dargestellten, d.h. sie verursacht eine Distanzierung, die die Aufmerksamkeit vom rein Anekdotischen auf die innere Perspektive des Champions lenkt, die uns diese Gewaltmaschine als eine labile, sensible Figur voller Widersprüche zeigt. Eines der von Pavlovsky eingesetzten Distanzierungsverfahren ist das der rekurrenten Wiederholungen: seitens des Publikums das Verlangen nach einem Champion und seitens des Champions der Wunsch, nicht mehr zu kämpfen. Auf diese Weise produzieren Pavlovsky/Hermes kein „realistisches", „expressionistisches" oder anekdotisches, eine Botschaft transportierendes Werk. Es geht vielmehr darum, die Abgründe der Gewalt zu thematisieren, die dem menschlichen Wesen innewohnen und es schließlich bis zur kriminellen Energie fuhren, wie die Manager, die den Champion versklaven, und das Publikum, das zum Lynchmord fähig ist, wenn es seine Agressionen nicht ausleben kann.

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Pavlovsky, Eduardo: Último Match. Buenos Aires 1970.

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La mueca: die Ästhetik der Folter als Mittel der Enthüllung und Cerca. Melodia inconclusa de una pareja: Einsamkeit und die Folter der Liebe La mueca behandelt das Problem der Scheinheiligkeit und der Korruption der großbürgerlichen Klassen, das Problem des ästhetisch-revolutionären Fanatismus, das Problem der Liebe, der Sexualität, der Grausamkeit, des Sadomasochismus und der Folter. Ein Filmteam bricht in das Haus eines gutsituierten Paares ein, setzt die beiden unter Drogen und läßt sie „live" agieren. Man erniedrigt sie (die Ehefrau wird geschlagen, der Ehemann wird gezwungen, dem Schweden, einem der Verbrecher, die Füße zu küssen). Schließlich erlaubt man ihnen, ihre Würde zurückzugewinnen, indem man ihnen die Möglichkeit einräumt, zu protestieren und Gewalt anzuwenden (die Ehefrau, das Opfer also, spuckt und greift ihre Peiniger an, der Ehemann schlägt den Schweden lang und hart), aber letztlich kehren beide zu ihrer Opferrolle zurück. Unter Folter und Erpressung enthüllen die beiden Eheleute ihre Perversionen und Niederungen (er masturbiert im Büro, wenn er nervös ist, sie hat einen Geliebten usw.). Als das Filmteam mit seinen Aufzeichnungen, Aufnahmen und Notizen fertig ist, verabschiedet es sich höflich und entschuldigt sich „für die schlechte Behandlung". Das Paar, dessen Innenleben bloßgelegt wurde und das inzwischen eine emotionale Beziehung gegenüber seinen Folterern aufgebaut hatte, bleibt am Boden zerstört zurück, ohne zu wissen, wie wieder eine Beziehung zueinander aufgebaut werden könnte. Um eine direkte Identifikation mit der einen oder der anderen Gruppe zu verhindern, gibt Pavlovsky - ohne die Moral oder den Diskurs der Eheleute zu relativieren - vor, daß das Paar seine Folterer bittet zu bleiben. Ein solcher Schluß zwingt den Zuschauer, seine ästhetisch passive Rolle (die im Werk beständig thematisiert wird) aufzugeben. Cerca ist das andere Gesicht von La mueca, es ist dessen sanfte Seite, es ist ein knapper und ökonomischer Dialog, eher ein dialogisierter Monolog zwischen zwei Figuren, Ihm und Ihr, der den Verlust der Liebe behandelt, die Abnutzung von Worten, von Gesten, letztlich den Verlust der eigenen Identität. Als letzte Anstrengung, um der Beziehung Sinn zu geben, versuchen die beiden zu spielen, indem sie auf Erinnerungen zurückgreifen, um eine Beziehung herzustellen. Aber das Unterfangen scheitert. Am Ende bleiben Beklemmung und Leere. Cerca ist die Ankündigung von Paso de dos.

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Telarañas oder die Gewalt in den Verwandtschaftsbeziehungen Sowie Último Match und Cámara lenta kollektive und individuelle Gewalt behandelten, wie La mueca versuchte, die Scheinheiligkeit der Bourgeoisie und die Gewalt militanter Gruppen offenzulegen, so offenbart Telarañas die „Gewalt in den familiären Beziehungen" und „macht die unsichtbare ideologische Struktur sichtbar, die jeder familiären Beziehung zugrunde liegt".17 Trotz dieses Zieles, das Pavlovsky als eine Option von seinem Standpunkt als Autor aus betrachtet, akzentuiert der argentinische Dramatiker das rein Theatralische des Werkes, in dem die Figuren nicht „Ideen aussprechen" sollen, d.h. zu Trägern von Botschaften werden, sondern zu Erlebnissen im hic et nunc der Vorstellung transformiert werden. Telaraña dreht sich um drei Figuren: den Vater, die Mutter und Pibe, in deren Beziehung in einem Moment zwei Mitglieder des Geheimdienstes einbrechen, Beto und Pepe.18 Die Beziehung des Familien-Trios können wir als pervers ansehen: Der Sohn Pibe, der in seiner Persönlichkeit große Defizite aufweist, wenn er nicht überhaupt geistig zurückgeblieben ist, unterhält sexuelle Beziehungen zu seiner Mutter; diese verhätschelt ihn und füllt ihn bis zum Erbrechen mit Püree, und das mit sadistischem Vergnügen; sie ihrerseits ist masochistisch veranlagt und läßt sich von El Pibe mit Peitschenhieben auf den Rücken bestrafen; der Vater ist roulettebesessen und ein Sadist, der den Sohn fast zu Tode mißhandelt (er zerschneidet ihm das Gesicht und entstellt es so bis zur Unkenntlichkeit). Die Eltern sind nur zu sexueller Beziehung fähig, während sie Pibe foltern, ohne sich allerdings ihres sado-masochistischen Verhaltens bewußt zu sein; sie sind im Gegenteil davon überzeugt, perfekte Eltern zu sein. Am Ende des Stückes schenken sie Pibe ein Seil, mit welchem sie ihn dann erhängen. Pibe stirbt nach heftigen Zuckungen, wobei er den Spiegel zerstört, in dem er sich narzißtisch beobachtet hatte, und dabei Sprünge in Form eines Spinnennetzes im Spiegel hinterläßt. Die Sprache ist reduziert in ihrer Thematik, aber ausgesprochen heftig. Die Dialoge beziehen sich auf das Roulette, auf die Art von Nahrung, die Pibe erhält (ausschließlich Brei), auf sein Dasein als Homosexueller und auf seine Pflicht, auf dem Gebiet des Sports zum Mann zu werden.

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18

S. Pavlovsky, E.: „Prólogo". In: Telarañas. Buenos Aires 1980, S. 125. Hier haben wir eine eindeutige Reminiszenz an Potestad.

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El señor Galindez und Pablo oder die zwei Seiten einer Medaille El señor Galindez und Pablo sind zwei Seiten einer Medaille. Das eine Stück repräsentiert die Gegenwart, das andere die Vergangenheit. El señor Galindez ist vielleicht eines der bekanntesten, erfolgreichsten (neben Potestad) und sicher exponiertesten Werke von Pavlovsky.19 Nachdem es 1973 in einem großen Teil des Landes aufgeführt wurde und einen terroristischen Anschlag erlebte, wurde es 1975 als Vertreter des argentinischen Theaters für das X. Theaterfestival von Nancy ausgewählt. Es folgten Einladungen aus mehreren europäischen Hauptstädten, z.B. Paris und Rom. Das Werk gewinnt 1976 den Preis für die beste Inszenierung auf dem Internationalen Theaterfestival Caracas, 1984 kommt es in Spanien in die Kinos, und 1986 wird es in New York aufgeführt. Einmal mehr setzt sich Pavlovsky mit dem Problem der Beklemmung, der Unterdrückung, der Folter und der anonymen und unbarmherzigen Macht der Diktatur auseinander. El señor Galindez bringt uns 1984 von George Orwell in Erinnerung, denn Galindez ist nur eine Stimme, die aus dem Telefon kommt und bei der sich seine Komplizen oder Folterknechte, Pepe und Beto, nicht sicher sind, ob es immer dieselbe ist. Seine Anhänger leben in der Ungewißheit, die Teil des Systems der Unterdrückung und Beklemmung ist, und warten auf seinen Anruf, um eine neue „Arbeit" zu bekommen oder ein neues „Paket", Menschen, die sich gegen das System aufgelehnt haben und wieder „zur Ordnung gerufen" werden sollen. Der Herr Galindez hat sogar ein „Traktat" über die Folter geschrieben, das als Ausbildungsgrundlage für Neulinge dient. Die Struktur von El señor Galindez ist eine „Verwindung" von En attendant Godot von Beckett, in der sich die Anonymität, die Entpersonalisierung, die Beklemmung unter totalitärer Macht und Folter konkretisieren, einer Macht, die auch über die Folterer hereinbricht, die gleichzeitig Opfer des Systems werden, das sie repräsentieren. Als einer ihrer Anhänger, Ahumada, seine Aufgaben nicht gut erfüllt, begeht er Selbstmord oder wird von den Männern des Herrn Galindez umgebracht. Herausfordernd ist die rohe, teilnahmslose, indifferente und neutrale Weise, in der die Tabuzonen von Masochismus, Sadomasochismus und Sadismus bei der Beschreibung der Beziehung zwischen Pepe und seiner Frau behandelt werden; die beiden können nur über die Gewalt zu sexueller Erfüllung kommen. So verwandelt sich auch das Geschenk, das der Herr Galindez seinen beiden Anhängern schickt, zwei Prostituierte (Negra und Coca), von einem Bacchanal in eine FolterOrgie. Die Gleichgültigkeit wird in der Vorstellung von Sara verkörpert, die das 19

Pavlovsky, Eduardo: El señor Galindez, Buenos Aires 1986.

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Zimmer säubert, während die anderen Figuren sich ihrer Orgie hingeben. Den Schritt von der Erotik zur Folter löst eine Tätowierung aus, die Coca von Perön macht. Auf diese Weise bringt Pavlovsky das politische Element ein und zeigt, ohne es zu sagen, daß die Gruppe des Herrn Galindez von totalitärem Zuschnitt ist. In diesem Augenblick verwandelt sich das normal möblierte Zimmer in eine Folterkammer, die Gegenstände und Möbel in Folterinstrumente, die Folterer in Chirurgen der Folter. Dort soll Eduardo, ein neuer Komplize, seine erste praktische Unterweisung erhalten. Die Folterszene wird nicht materialisiert, sie wird nur durch die Transformation des Zimmers heraufbeschworen, denn ein neuerlicher Anruf des Herrn Galindez setzt die geplante Folter aufgrund der sehr gefährlichen allgemeinen Situation ab. Herausfordernd ist, daß die Folterer ihre Arbeit als einen „Beruf' betrachten. Beto ist verheiratet, hat Kinder und zeigt eine übermäßige Sorge um ihren Gesundheitszustand (die von einer Grippe angegriffene Stimme seiner Kleinen beunruhigt ihn, nicht aber die Folterungen, die er durchführt). Eduardo, der Neue, sieht seine Aufgabe als große Berufung und Ehre. Sie ist festgeschrieben im Traktat des Herrn Galindez, in dem dieser die „Ethik" der Folter darlegt.20 Pablo wird von Pavlovsky als „nicht geschriebener [...] Schlußbuchstabe" betrachtet, wobei der Schlußbuchstabe zum Punkt des Einsatzes wird. Der Buchstabe ist „das Bild, das einen anderen Diskurs schafft, wenn es betrachtet wird" und das „Raum schafft für andere Szenen, die nur als Möglichkeit im Text angelegt sind". Er nennt sein Konzept des dramatischen Textes eine „Suche", die sich von der traditionellen Strenge löst und bezüglich der Struktur den Eindruck von Anarchie hinterläßt. Aber für Pavlovsky ist die Struktur „eine Masche vom Gewebe des geschriebenen Textes", d.h. eine angelegte Struktur, die sich im Bühnentext konkretisiert. Es ist ein Text mit „Leerstellen", ein Text, der übertreten werden muß. Es handelt sich nicht um eine Rekodifizierung des Textes, sondern um eine Verwindung, in der Sprache Pavlovskys um ein „erneutes Hineinschreiben von vielfaltigen Sinnelementen, die im Originaltext eingesperrt waren".21 Die Figur des Pablo ist eine einfache Nennung, ein Graphem ohne Gesicht, ohne erklärte Vergangenheit, ohne Identität und ohne Funktion, ebenso wie bei den anderen beiden Figuren, L. und V. genannt. Pablo scheint drei Figuren zu vereinen, die beiden erwähnten sowie Irina, die offenbar eine vage Beziehung zu V. hat. Wenn die Frage nach dem Thema dieses Werks gestellt wird, müssen wir

20

Ebenda, S. 50f.

21

Pavlovsky, Eduardo: „Apuntes para una obra de teatro." In: Pablo. Buenos Aires 1986, S. 54f.

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antworten, wir wissen es nicht. Es fehlt jegliche pragmatische Organisation der Dialoge, wie die folgende Passage zeigt: L.- ¿Usted? V.- No yo... L.- Le digo que ... V.- Tal vez si, pero... L.- Sólo si... V.- Bueno, pero.(66)22 Wir wissen, daß V. eines schönen Tages L. besucht, sagt, daß er von Pablo käme und einen Brief ausstreckt, den er neben einem Handkoffer und einer Rauchpatrone mit sich führt. Der Ort, an dem L. sich befindet, ist anonym. Unbekannt ist ebenso, woher V. kommt, und man erfahrt auch nicht, ob L. tatsächlich ein Freund Pablos war, wie V. behauptet. Das einzige, was wir herauslesen, sind die folgenden Punkte: - Das Erwähnen des Überflusses und daß „dort alles verschlungen wird, wenn Hunger besteht" verursacht Grauen bei L., die Erwähnung der Vergangenheit ängstigt ihn. L. will nur ohne Erinnerung überleben. - L. beobachtet eine gespannte Szene, eine Eifersuchtsszene zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau, die aber ohne ein Wort, mit einfachen Gesten, wie im Stummfilm und in Zeitlupe abläuft. Dann sieht V., wie plötzlich zwei Männer in das Zimmer des Paares eindringen und den Alten schlagen, bis ihm das Blut aus den Augen rinnt, die ihm herausgerissen werden; die Frau wird vergewaltigt. L. bittet V., sich nicht zum „Zeugen" zu machen. V. weist gegenüber den versammelten Nachbarn, die glauben, daß es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt, darauf hin, daß „dort solche Dinge normal seien ... notwendiger Zeitvertreib. Ein wenig Blut bekommt niemandem schlecht" (S. 76). Auf der Wand liest man einen mit Blut geschriebenen Text: „Vergiß mich nicht". Der Alte und die Frau sterben Hand in Hand. Was V. beeindruckt, ist das gewaltige „poetische Ende", und die Nachbarn applaudieren. V. fügt hinzu, daß „dort" die Leute, die von der Linie abweichen, so behandelt werden, um sie zur Normalität zurückzuführen. An diesem Punkt setzt sich diese Beobachtung in Beziehung zu einem beiläufig gesagten Satz, daß nämlich die Männer, die in das Zimmer eindringen, „etwas suchen wollen"; mit den Kom-

22

„L.: Sie?/ V.: N i c h t ich./ L.: Ich sagen Ihnen, d a ß .../ V.: Vielleicht j a , aber ... IL.: N u r wenn ... / V.: Gut, aber..." (Übers.: K . R . )

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mentaren V.s bezüglich Macht und Ordnung und deren Notwendigkeit ergibt sich eine Anspielung auf ein politisches Verbrechen. - Irina tritt überraschend herein. Sie ist offenbar die Geliebte Pablos und die Ehefrau von V. Später liebt sie sich mit L., wobei der Rhythmus begleitet wird von Erinnerungen V.s an Pablo. - Die drei Figuren scheinen in eine undurchsichtige Vergangenheit verwickelt zu sein, die Irina als „eine schwierige Welt" charakterisiert, weshalb sie „nicht schuldig seien". Es wird vage angespielt auf das spätere Problem des Grades an Verwicklung oder Militanz bzw. Mittäterschaft in einem totalitären System, und auf das Problem, den Glauben an Werte verloren zu haben. Von hier aus erklärt sich das Bedürfnis L.s, einfach nur zu überleben, und dies, ohne daß davon etwas in expliziter Form erwähnt würde, sondern nur als schlichte Andeutung (wir haben hier eine Reminiszenz an Paso de dos). - Am Ende kristallisiert sich eine Beziehung zwischen Pablo und L. heraus: L. hat Pablo auf einen Befehl hin getötet, Pablo hat sich durch einen Befehl töten lassen und V. kommt, um L. auf seinen eigenen Befehl hin zu töten - er vergast ihn. Von zentraler Bedeutung sind die Passagen mit metatextueller Funktion, in denen, z.B. auf L.s Frage hin, reflektiert wird: „Und was geschieht jetzt?" (die Szene zwischen dem Alten und der jungen Frau beobachtend)". V. antwortet: „Nichts; was Sie wollen, soll passieren. Sie beobachten sich. Sie wollen konkrete Dinge. Sichtbare Ereignisse. Kräftige Spuren. Sie sind die Generation der starken Spuren. Wir sehen das Unsichtbare. Wir haben uns an das Unmerkliche gewöhnt. Das Kräftige ist überflüssig. Wir müssen alles neu ausgestalten". (73) Diese Passage nimmt Bezug auf die Form: hier soll nicht ein Theater zum Ausdruck kommen, das Botschaften transportiert, ein Theater der harten Linie (respektive der dogmatischen Aussagen), der dramatische Diskurs soll sich vielmehr in ein motivierendes, herausforderndes Gefuge voller Leerstellen verwandeln, in dem die Geste zur Hauptfigur wird.

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Potestad oder die „schwache Leere": Zwischen kinetischem und dekonstruktivistischem Theater Dieses Werk Pavlovskys verkörpert ein sehr aktuelles Theater innerhalb jener Strömung, die wir als historisierende dekonstruktivistische Postmoderne bezeichnen.23 Auf den ersten Blick erscheint Potestad ebenso schwer verständlich wie Pablo. Mancher wird sagen, es sei hochgradig politisch, andere lehnen diese Möglichkeit ab, da es an Ideologie oder an pamphletartigen Tiraden fehlt, wieder andere klassifizieren es als „Psychodrama" etc. Aber dieses Werk erreicht die Grenzen der Sprachlichkeit und der Aufführbarkeit als solches: Es schafft eine Pragmatik, Semantik und Syntagmatik, die eine Leere produziert, die des Nicht-Gesagten oder Nicht-Vollständig-Gesagten, eine „Parasprache", die ihre historische Referenz herauslöst. Es ist engagiertes Theater, Theater mit politischer Anklage, aber in einer allusiven, intertextuellen, bivalenten, fragmentarischen und universellen Form neu kodifiziert. Potestad ist eine Mischform innerhalb des Modells, das wir für das postmoderne Theater entwickelt haben.24 Das Dargelegte wollen wir nun näher erläutern. Potestad, das in der Sala del Teatro del Viejo Palermo25 inszeniert wurde, besteht nur aus zwei Personen, besser gesagt aus einer: der männlichen Figur, genannt „Der Mann". Die zweite Figur, eine Frau mit dem Namen Tita, ist eine Art Phantasma, das sich wie versteinert auf der Bühne befindet, allerdings eine unabdingbare dramaturgische Funktion besitzt: Sie verkörpert die erbarmungsloseste Einsamkeit, die grausamste Kommunikationslosigkeit, die Kälte, das Da-Sein, aber nicht das Sein; sie markiert den Abgrund; sie ist ein Bild des „lebendigen Todes".

Der dramatische Text Der dramatische Text wird von Dem Mann konstituiert, er bildet die physische und sprachliche Bühnenwelt. Sowohl die Objekte im Raum (wir beobachten, daß 23

24 25

S. A. de Toro: „Semiosis teatral postmodema: intento de un modelo." In: Gestos, Jahrgang 5, 9 (1990), 2352; wiederabgedruckt in: F. de Toro (Hrsg.): Semioticay Teatro Latinoamericano. Buenos Aires 1990, S. 1342; Revista la Torre V, 19 (1991) 341 -367. Vgl. meine Arbeit „Semiosis teatral postmodema: intento de un modelo", a.a.O. 1990, S. 23-32. Pavlovsky, E.: Potestad. Buenos Aires 1987. Dieses Werk wurde zusammen mit Paso de Dos in Theater der Welt/Essen 27 vom 6. bis 14.7.1991 aufgeführt, die Theaterversion, die wir miterlebten, ist die im Alumni Theatre/Carleton University Ottawa am 2.8.1991 während des II. Internationalen Kolloquiums der I1CTL.

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sich auf der Bühne lediglich zwei Stühle und ein großer Vorhang im Hintergrund befinden) als auch die anderen Figuren, seine Tochter Adriana und seine Frau Ana Maria (sie werden, wie wir im Verlauf des Werkes feststellen, nur in dem rückblickenden Monolog, einer Art Delirium, aufgerufen) und ihre diversen Bewegungen und Stellungen beim Sich-Setzen usw.. Der Monolog, die Halluzinationen Des Mannes lassen sich gleichermaßen semantisch, syntagmatisch und zeitlich in der folgenden Form synthetisieren: Der Mann spricht, nachdem er die Präsenz seiner Frau und seiner Tochter in der Gegenwart heraufbeschworen hat, von seiner Jugend als Sportler (er macht sich über sich selbst lustig), seiner gegenwärtigen gewohnheitsmäßigen Beziehung zu seiner Frau und den Studien seiner Tochter. Plötzlich wechselt er zur Vergangenheit und beschreibt, wie eines Sonnabends ein Mann seine Tochter abholt und diese nie wieder zurückkehrt. In einem zweiten Teil tritt Tita hinzu, die Der Mann teilhaben läßt am Schmerz und an der Entfremdung von seiner Frau, die in einen Zustand von Schwachsinn verfallen ist. Schließlich haben wir einen dritten Abschnitt, in dem Der Mann, der bisher augenscheinlich ein Opfer der Repression verkörpert, in seiner doppelten Identität als Opfer und Missetäter entdeckt wird: Er war ein Arzt des Geheimdienstes, der den Tod der ermordeten Eltern Adrianas bestätigt. Das Mädchen, noch sehr klein, befand sich im Nebenraum und wird von dem Arzt, dessen Ehe kinderlos geblieben war, „adoptiert". Der historische Intertext geht auf die bekannte Tatsache zurück, daß Kinder, die aufgrund der Ermordung ihrer kämpfenden Eltern zu Waisen geworden waren, von der Diktatur geraubt wurden. Hier nimmt das neue System dem Usurpator seinerseits das inzwischen ziemlich erwachsene Mädchen.

Die räumlich-zeitliche Dimension

Der zeitliche Aspekt (unabhängig vom pragmatischen und kinetischen, auf den wir noch zurückkommen werden) ist grundlegend, denn er löst den Dialog/das Handeln aus der räumlich-zeitlichen Determinierung. Alles wird in retrospektiver Form gesagt, aber handelt hier und jetzt, was sich in einer ambivalenten wörtlichzeitlichen Deixis manifestiert, die zwischen der unmittelbaren Gegenwart und der Vergangenheit schwankt und so den Verlauf des Monologs und die Gemütswechsel Des Mannes kennzeichnet: Die Körperhaltung meiner Frau an diesem Samstag ist folgende: Sie stellt das rechte Bein in spitzem Winkel. (...) Adrianas Körperhaltung ist folgen-

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de. Mal sehen ... Ja. Sie lernt Geschichte (...). Sonntag, halb vier Uhr nachmittags (...). Ungefähr viertel nach vier klingelt es an meiner Haustür (...). Ana Maria sitzt hier, ein Meter zwanzig, ein Meter dreißig entfernt. 26 Mit diesem Verfahren löst Pavlovsky die dargestellte Thematik aus ihrer rein lokalen und historischen Determinierung und läßt sie in die Zwiespältigkeit des Individuums im allgemeinen transzendieren, indem er dessen Fähigkeit zu zerstören, zu lieben, zu foltern und zu leiden zeigt. So sind die folgenden Worte Des Mannes grundlegend: „Ich bin recht ungebildet, ich verliere das Gefühl fiir Zeit und Raum ..." (269), denn sie lösen das Gezeigte und Gesagte aus Zeit und Raum heraus und belassen es in einer „labilen" Situation, völlig offen.

Die pragmatische Dimension Der Zuschauer/Leser befindet sich fast während der gesamten Vorstellung/Lektüre in einer „leeren" und „schwachen" Pragmatik, denn der Monolog oder vorgespielte Dialog ist weder introduktiv noch mimetisch, sondern er bezieht sich auf sich selbst oder auf das System „Theater". Der Dialog steht weder im Dienst der Vermittlung einer Handlung noch einer Botschaft, er ist rein sprachliche Materie und hermetisch. Im besten Falle ist er deskriptiv, allerdings ohne situatives Ziel: Meine Haltung an diesem Samstag um halb vier Uhr nachmittags (...). Das rechte Bein in spitzem Winkel, das linke Bein in rechtem Winkel, der Abstand des linken Schuhabsatzes (...). Ich war Sportler, Rugbyspieler (...): Das war, als ich 25 Jahre alt war. (Pause) Jetzt bin ich 53 ... und dieser Blick funktioniert nicht mehr mit der Intensität und Sinnlichkeit wie damals (...). (265) Der gesamte Dialog zwischen dem Mann, der kommt, um das Mädchen abzuholen, und Dem Mann (ihrem „Vater") bleibt ohne Erklärung, denn das Mädchen geht mit ersterem, als wäre er ein Bekannter, der kommt und sie abholt, um auszugehen. Man versteht nicht, warum die Eltern sich nicht dagegen wehren, daß das Mädchen hinausgeht. Was deutlich wird, ist, daß Der Mann sich außerstande fühlt zu verhindern, daß das Mädchen geht, nachdem die anonyme Figur ihm 26

Dt. Obersetzung von Potestad: Heidrun Adler. In: Hedda Kage und Halima Tahän (Hrsg.). Theaterstücke aus Argentinien. Berlin 1993, S. 263-276, hier S. 265,266,267,268,270.

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sagt: „(...) die Zeiten sind vorbei!" (269). Die Situation beginnt sich lediglich während des Monologs mit Tita etwas aufzuklären, als Der Mann ihr darlegt, daß man ihm Adriana „geraubt" habe (271). Die Erklärung dieser Leerstellen kommt in gewisser Weise nur ans Licht, als Der Mann seine wirkliche Identität offenbart. Sein Diskurs ist jetzt der eines Aggressors, Peinigers und Menschenverächters gleichzeitig, der technisch und kalt die vom Kugelhagel völlig entstellten Körper von Adrianas Eltern beschreibt („Außerdem hatte er ein Loch im Backenzahn, in der rechten Augenhöhle und einen Riß in der Lippe (...) sie hatte keine Visage mehr (...)." (275) Andererseits kristallisiert sich das andere Gesicht des Missetäters heraus, das des Schmerzen-Fühlens, Weinens. Pavlovsky ergreift nicht Partei, sondern er klagt aus der schmerzlichen Perspektive des Geheimdienstarztes an, indem er die Abgründe der menschlichen Natur zeigt.

Die kinetische Dimension Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Stück die physisch-gestische Arbeit. Pavlovsky macht seine linguistische Geste durch eine mimische Sprache zugänglich, er verwandelt das sprachliche Zeichen in ein gestisch-körperliches Zeichen. Von besonderem Interesse sind die Szenen mit Tita, in denen es der von Schmerz, Beklemmung, Einsamkeit erfüllte Mensch trotz seiner Rhetorik weder schafft, die unerschütterliche Tita, die von der Erzählung ihres Freundes zugeschüttet zu sein scheint, zu bewegen, noch sich ihr zu nähern. Die Hände, der Körper Des Mannes umkreisen die Frau. Er liebkost sie, Millimeter von ihrer Haut entfernt, man nimmt beinahe die Reibung zwischen Händen und Gesicht wahr, aber es erfüllt sich nicht. Es gibt eine Art von Energiesperre, die die Annäherung verhindert. So drückt Pavlovsky die grenzenloseste Isolation und Einsamkeit aus, nicht mit den Worten, sondern mit diesem Körperspiel. Darüber hinaus reproduzieren seine verschiedenen mimischen Haltungen verschiedene Figuren, in verschiedenen Zeitabschnitten und verschiedenen Situationen.

Die Meta-Theatralität Schließlich sind zwei weitere Aspekte zu nennen: die Komik und die MetaTheatralität. Pavlovsky bezieht die Komik, sowohl die physisch-gestische als auch die semantische, in zweifacher Funktion ein: Sie wirkt als Mittel, das Publikum zu

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fesseln und reizt mit billigen, ungezwungenen Kostumbrismen, andererseits entfaltet sich die Komik innerhalb des Lebenszusammenhangs der Figuren und ihrer Handlungen als eine Waffe des Zynismus im Kontrast zu der von Dem Mann erzählten und beklagten Situation. Die Meta-Theatralität spiegelt sich darin, daß Der Mann ständig über seine Worte, Gesten und Handlungen, wie über die der anderen Figuren nachdenkt. Auf diese Weise schafft Pavlovsky gleichzeitig ein antimimetisches Theater, eine Art von subtil in den Diskurs selbst eingebetteter Verfremdung, ohne eine Brechtsche Ästhetik nachzuempfinden, aber auch ohne es in einen distanzierenden psychoanalytischen Diskurs in der Tradition Ionescos zu verwandeln. Als Verwindung verstanden, handelt es sich es eher um eine Rekodifizierung des Beckettschen Diskurses, d.h. eine Dekonstruktion der Bühne, eine Derepräsentation, eine Nicht-Realisierung des traditionell Theatralischen, ohne allerdings wie Beckett die Grenze der Zerstörung des dramatischen Zeichens zu erreichen: Wir haben hier eine Pavlovskysche Verwindung des Theaters von Beckett für ein rein argentinisches Anliegen, aber durch diese Verwindung erlangt es universalen Charakter. Hier liegt die Größe des Theaters Pavlovskys begründet. Potestad von Pavlovsky entfaltet sich als eine der großen Formen postmodernen, kinetischen und dekonstruktivistischen Theaters, das die politische Botschaft im Nicht-Gesagten läßt, im zwiespältigen Subtext, insofern es die Tragödie des Missetäters vom Standpunkt des Missetäters aus darstellt. Pavlovsky löst das engagierte Theater und das Theater des Absurden aus dem gewohnten Umfeld und bietet so eine neue Formel. Potestad ist eine Erneuerung des Sprechtheaters, dessen also, was das traditionelle Theater war. Der Text verfällt weder in „Zirkus-Mimik" und „Zirkus-Rhetorik", was in diesem Werk leicht hätte passieren können, noch in ideologische Debatten, Analysen sozialer Pathologie, politische Anklage oder Gleichgültigkeit. Er verwendet die diversen Kodizes und Intertexte innerhalb einer ahierarchischen Spannung immer mit einer Tendenz zur Entpragmatisierung, was dem Bedeutungsgefüge zu Beginn eine augenscheinliche Gleichgültigkeit verleiht, die sein Engagement verbirgt und zu dessen Entdeckung einlädt. Es ist klar, daß es grundlegend von der Inszenierung abhängt, ob sich das hier Beschriebene erfüllt.

Paso de dos oder die rhizomatische Erzeugung des Auffuhrungstextes Als Aufführungstext und als Theater bildet Paso de dos das vielleicht kühnste Werk Pavlovskys, das 1990 auf dem Festival de Teatro Iberoamericano in Cädiz, im gleichen Jahr in Buenos Aires und 1991 auch beim Theater der Welt, Essen,

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aufgeführt wurde.27 Obgleich weder der dramatische Text, noch der Auffiihrungstext das Problem militärischer Unterdrückung durchscheinen lassen, verweist die Kritik von Klaus Albrecht in der NRZ (vom 6. Juni 1991) auf etwas Grundlegendes im gesamten Werk von Pavlovsky: Die Folter, die militärische Unterdrükkung wird anhand zweier anonymer Individuen allegorisch gezeigt. Damit geht Pavlovsky vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Besonderen zum Universellen: von der Gewalt in der Beziehung Mann-Frau zum Verhältnis HerrscherOpfer. Aber dieses Werk geht noch weiter, wie uns die Erklärungen von Laura Yusem, Eduardo Pavlovsky, Susana Evans und Stella Galazzi über die Entstehung des Aufführungstextes und des Videos belegen. Gerade die im ersten Moment augenfällige völlige Diskrepanz zwischen dramatischem Text und Aufführungstext gibt uns ein Maß für das vor, was Pavlovsky über die reine Virtualität des dramatischen Textes sagt, über die Geheimnisse, die dieser enthält und die während der Inszenierung ans Licht geholt werden. Erst die Vorgänge auf der Bühne führen dazu, den Vorschlag des Autors zu multiplizieren, neu zu schaffen. Die Opposition „Wort" vs. „Handeln" offenbart sich im Sinne von Körperlichkeit. Der Aufführungstext entsteht aus dem, was aus dem dramatischen Text als körperliche Substanz extrahiert wird, als physisches und seelisches Erleben. Nicht der dramatische Text wird aufgeführt, sondern vielmehr bleibt er nur eine suggestive Möglichkeit. Das Werk wird zum reinen Schauspiel in dem Moment, in dem sich die Schauspieler bewegen (und ich sage nicht, daß sie darstellen). Das heißt, in diesem Theater wird nicht nur die Grenze der Mimesis erreicht, sondern sie wird ersetzt durch das Erlebnis. Es handelt sich um ein postmodernes „happening". Ich möchte es nicht versäumen, meine Verwunderung in dem Augenblick zu erwähnen, in dem ich das Stück sah, nachdem ich zuvor den Text gelesen hatte; ich glaubte, daß es sich um verschiedene Werke handele. Es ist nicht der Text, der uns zu einer Annäherung an das Werk führt, sondern die Inszenierung selbst führt uns zum Verständnis dessen, was im Text verborgen, im Schweigen liegt, potentiell aber immer vorhanden ist.

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Pavlovsky Eduardo: Paso de dos. Buenos Aires 1989. Außerdem benutzen wir das Video vom Festival in Essen.

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Der dramatische Text Es gibt nur zwei Personen, einen Er und eine Sie. Es geht darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren, einige grundlegende Erfahrungen eines Paares Wiederaufleben zu lassen, dessen Beziehung versiegt; Erinnerungen an Eifersuchtsszenen, Liebe, Beklemmung machen den Dialog aus. Dieser ist gespickt mit Tiraden über Leichen im Schmutz, über Gewalt. Die sexuelle Gewalt des Mannes und seine physische und intellektuelle Abhängigkeit von der Frau werden offensichtlich, ebenso die psychische Kraft der Frau als einziges Refugium in ihrer Opfersituation. Während der Mann alles besetzt, sich ihrer bemächtigt, rächt sie sich, indem sie ihn innerlich zurückweist, ihn nicht bei seinem Namen nennt, d.h. ihn nicht wahrnimmt. Das Opfer wird physisch zerstört, aber es gelingt dem Folterer nicht, sich ihrer Worte und noch weniger ihrer Gedanken zu bemächtigen. Das Schweigen (das Nicht-Erkennen/Wahrnehmen) ist die Form, in der das Opfer den Folterer foltert.

Die rhizomatische Entstehung des Aufführungstextes Während der Proben entdeckt Pavlovsky mit seinen Mitarbeitern, daß Paso de dos die Beziehung zweier Körper von der Liebe bis zum Tod sei, eine Beziehung, die sich als „Schlüssel zum Werk" („la clave de la obra") aufdrängt. Für Laura entfaltet sich der Diskurs als „Bild von der Problematik der sexuellen Beziehung". Das Bett wird zum „Universum", zum „metaphysischen" Ort, an dem die Figuren beginnen, das im dramatischen Text Ausgedrückte zu visualisieren, wie im Tanz, wo die körperliche Beziehung die Sprache bestimmt. Ausgehend vom köiperlichen Kontakt kristallisiert sich die physische Beziehung als Kern des gesamten Aufuhrungstextes heraus, die Handhabung des Körpers einer Sterbenden, eine Handhabung, bei der das Opfer stumm bleibt. Seine Sprache ist völlig körperlich. Ihm gesprochenen Text in den Mund zu legen, hätte diese körperliche Konkretisierung zerstört. Deshalb geht es darum, daß die Figur Er auch den Diskurs von Ihr übernimmt, indem er das Opfer nach dessen Verlust verinnerlicht. Die Inszenierung zeigt eine „Szenographie der Folter" mit Momenten höchsten Überschwangs und mit großen Abgründen bis in die Leere des Alltäglichen. In dieser Situation, in der Er die Leere und die Zwiespältigkeit des Alltags nicht erträgt, der sich ihm als Scheitern in der Liebe darstellt, schlägt er sie zu Tode. Nach Pavlovsky ist dies genau der Moment, in dem der Aufführungstext beginnt und sich materialisiert. Angesichts des leblosen Körpers seines Opfers versucht Er verzweifelt, „Momente großer Intensität zurückzugewinnen" („recuperar momentos de grandes intensidades"). An dieser

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Stelle eröffnet der Auffiihrungstext die Möglichkeit, ausgehend von der physischen Beziehung verschiedene Geschichten zu erzählen, auf deren Grundlage der dramatische Text eingebunden wird, indem er nicht als Auffiihrungstext adaptiert wird oder in diesen übergeht, sondern sich von diesem ableitet. Man könnte insofern von einem rhizomatischen Theater des „gelenkten Zufalls" sprechen, als die Sprache und der Zusammenhang körperlicher Empfindungen mit bestimmten Syntagmen am Ende eine Entscheidung erfordern. Eine nächste Etappe entwickelt sich nach dem Tod des Opfers. Im Auffiihrungstext erscheint nun eine zweite Frau, die im Publikum sitzt und das Bewußtsein der weiblichen Stimme verkörpert. Die andere Sie läßt die Vergangenheit der toten Sie durch die Beobachtung der Körper von Ihm und Ihr Wiederaufleben, allerdings aus einer zukünftigen Perspektive. So haben wir eine räumlich-zeitliche Gesamtheit von Diskurs der Vergangenheit, körperlicher Beziehung in der Gegenwart und Diskurs der anderen Sie aus zukünftiger Perspektive. Die andere Sie spricht, empfindet, deutet aus einer Perspektive, in der alles Gegenwärtige bereits vergangen ist. Das Bühnenbild ist einfach, aber mit Bedeutung überfrachtet, eine weitere Figur des Auffiihrungstextes. Es handelt sich um einen eingefaßten, mit Sand gefüllten Kreis, in dem Er und Sie sich treffen. Die Zuschauer befinden sich auf einer Tribüne und sehen das Schauspiel in vertikaler Form. Es wird dargelegt, was im allgemeinen in der Stille bleibt: zwei Körper in einer öffentlichen Zurschaustellung des Rituals der sexuellen Intimität, wobei das Publikum über das Schamgefühl zum Komplizen gemacht wird, da es etwas in der Öffentlichkeit Verbotenes anschaut. Der Kreis ist eine Allegorie der „Folterkammer und des Präpariersaales der Anatomie", des „Fanals der menschlichen Beziehungen", des „alltäglichen, sozialen Mikrofaschismus", von dem Pavlovsky, übertragen auf eine ästhetische Ebene, spricht. Die vorläufig letzten Werke von Pavlovsky sind El Cardenal und Rojos globos rojos. Man darf gespannt darauf sein, was der Schauspieler, Dramatiker und Psychiater Pavlovsky, diese Mischung zwischen einem Beckett, Dario Fo und Hamlet des lateinamerikanischen Gegenwartstheaters, uns in der nahen Zukunft bieten wird. Wird er diese ars combinatoria beibehalten und weiter im gewohnten pluralen Reichtum schaffen oder werden wir in Inhalt und Form eine Wende erleben? Wenn die von Enttäuschung geprägten Worte des Cardenal als jene des „impliziten Autors" und damit als eine mögliche Hypothese des realen verstanden werden können, dann befindet sich das Theater Pavlovskys an einer existentiellen Grenze und steht vor einer großen Herausforderung.

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Literatur Pavlovsky, Eduardo; Hermes, J.C.: „Notas." In: Eduardo Pavlovsky: Ultimo Match. Buenos Aires 1970. Pavlovsky, Eduardo: Último Match. Buenos Aires 1970. Ders.: „Prólogo." In: Ders.: Telarañas. Buenos Aires 1980. Ders.:,Apuntes para una obra de teatro." In: Ders.: Pablo. Buenos Aires 1986. Ders.: El señor Galindez. Buenos Aires 1986. Ders.: „Balbuceo del proceso creativo." In: Ders.: Potestad. Buenos Aires 1987. Ders.: Potestad. Buenos Aires 1987, deutsche Übersetzung: Adler, Heidrun. In: Hedda Kage, Halima Tahán (Hrsg.): Theaterstücke in Argentinien. Berlin 1993, S. 263-276. Ders.: Paso de dos. Buenos Aires 1989. Pellettieri, Osvaldo: Teatro argentino contemporáneo (1980-1990). Crisis, transición y cambio. Buenos Aires 1994. Toro de, Alfonso: „Semiosis teatral postmoderna: intento de un modelo." In: Gestos. Jahrgang 5,9(1990) 23-52. Ders.: „Entre teatro kinésico y teatro deconstruccionista: Eduardo Pavlovsky." „El teatro de goce y los nuevos territorios existenciales." In: La Escena Latinoamericana 7 (1991), 42-45. Ders.: „El productor rizomórfico y el lector como detective literario: la adventura de dos signos o la postmodernidad del discurso borgesiano." In: K.A. Blüher, Alfonso de Toro (Hrsg.): Jorge Luis Borges: Procedimientos literarios y bases epistemológicas. Frankfurt a. M. 1992, S. 145-184. Ders.: „Die Wege des zeitgenössischen Theaters - zu einem postmodernen Multimedia-Theater oder: das Ende des mimetisch-referentiellen Theaters?", in: Forum Modernes Theater, Heft 2 (1995), Bd. 10/2, S. 135-182.

Laura Yusem über Eduardo Pavlovsky Porträt

Laura Yusem: Die Welt von Pavlovsky ist sehr männlich. Seine Erkundungen, zumindest während der Inszenierungen, bei denen ich Regie geführt habe, stehen mit sehr düsteren Aspekten eines Mannes in Zusammenhang, der sich im Kriegszustand befindet. Insgesamt ist es eine sehr tiefgehende Erforschung, die er zu dem Denken, den Gefühlen und dem Leben der Unterdrücker und Folterer angestellt hat. Es ist eine Erkundung der Konsequenzen aus der Arbeit des Folterns, des Tötens, des Vernichtens und der Folgen, die dies für den Unterdrücker selbst hat. Sein Schreiben ist fragmentarisch. Als Dieter Welke heute über Heiner Müller sprach, dachte ich, daß es Berührungspunkte zwischen Pavlovsky und Müller gibt, auch wenn es weit hergeholt erscheint. Er ist ein Autor der Fragmente. Außer in den ganz frühen Stücken gibt es in fast keinem seiner Stücke eine konventionelle dramatische Struktur. Es wird keine Geschichte entwickelt, es gibt kaum Personen, und die Dialoge lassen sich sogar abwandeln. In Hinblick auf den argentinischen Sprachgebrauch und die Sprache im Theater verdichtet er theoretische Gedanken und sehr konkrete Überlegungen zu ganz alltäglichen, fast banalen Sachverhalten. Diese Verdichtung verläuft ganz anders als bei Griselda Gambaro. Andererseits ist das Spezifische an der Arbeit mit Pavlovsky und seinen Stücken, daß man mit ihm als Schauspieler arbeitet. Das ist äußerst spannend, denn Pavlovsky ist meiner Meinung nach ein beeindruckender Schauspieler, der zu Probenbeginn völlig vergißt, daß er auch der Autor des Stückes ist. Er radiert das Stück aus und beginnt mit dem Ensemble im gleichen Stand der Unschuld zu arbeiten, als hätte ein anderer das Stück geschrieben. Am besten an ihm gefällt mir eine Einstellung, die ich als eine Haltung der Ratlosigkeit bezeichnen würde: nicht zu wissen, wohin es geht, alle möglichen Verknüpfungen und Assoziationen zulassen zu können, eine Haltung der Offenheit, um sich in einer Sache gänzlich zu verlieren. So können wir das Stück völlig frei, offen und in einer für uns alle bereichernden Weise erarbeiten. 1987 ist das Stück Pablo von Pavlovsky uraufgeführt worden. Dieses Stück weist schon die typische Struktur seiner späten Stücke auf. Es ist

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höchst fragmentarisch, offen, ohne erzählbare Geschichte, parodistisch und auch sehr beängstigend. Pablo ist erneut ein Stück über das Thema des Vergessens, auf das Pavlovsky immer wieder zurückgekommen ist wie wir alle. Zentrales Thema war für uns, mit diesem Stück über all das zu reden, was vergessen wird, über den Schrecken, der vergessen und nur noch zerfasert faßbar wird. Abgesehen davon wollten wir über etwas reden, was wir alle erlebt hatten: nicht über die Grausamkeiten des Militärs gegen die Guerilleros oder umgekehrt, sondern die Grausamkeit, mit der die militanten Guerilleros im eigenen Kreis verfuhren. Sie war fürchterlich, denn es war Krieg. Es gab Denunziationen, schreckliche Kontaktsperren aus Sicherheitsgründen. Einer mußte verraten werden, denn wenn es ihn nicht traf, mußten zehn andere dafür sterben. Ich habe das hautnah miterlebt, und es hat mich immer sehr erschüttert. Daran dachten wir in dem Stück. Pavlovsky spielte den militanten Guerillero. Es wurde an keiner Stelle gesagt, daß er es war, der aus Gründen, die nicht erklärt wurden, getötet werden sollte. Dieses Stück hatte großen Erfolg und ist um die Welt gereist. Zudem machte Ricardo Bartis bei der Inszenierung mit, den ich heute für den besten argentinischen Regisseur halte und der außerdem ein guter Schauspieler ist. Für mich war die Zusammenarbeit mit diesen beiden Monstren und einer Schauspielerin ein großer Genuß. Außerdem hat Pavlovsky viel Zeit zum Proben, so wie ich auch, denn keiner von uns beiden lebt von dieser Arbeit. Deshalb können wir uns den Luxus erlauben, ein Jahr lang zu proben, so wie die Leute von Periferico. Dagegen muß ich andere Stücke, bei denen ich Regie führe, innerhalb eines professionellen Zeitplans fertigstellen und habe nicht diese wunderbare Möglichkeit, so lange zu proben, wie es nötig ist, also zwei Monate, sechs, ein Jahr, anderthalb Jahre... 1990 wurde Paso de dos von Eduardo Pavlovsky uraufgeführt. Paso de dos ist ein Stück, das ich sehr mag und in dem etwas erzählt wird, das sehr oft geschehen ist. Alle werden das Phänomen kennen. Es geht um die Leidenschaft, die zwischen dem Folterer und der Frau, die von ihm gefoltert wird, entsteht. Diese fürchterliche Situation untersucht Pavlovsky in seinem Stück. Anfangs war es ein Stück für zwei Personen, Er und Sie. Ich hatte dann die Idee, die Figur der Sie zu verdoppeln, in einen Körper und eine Stimme. In der Inszenierung gab es zwei Körper. Einer war in direktem Kontakt mit Pavlovsky, der andere mischte sich unter das Publikum. Dieses Stück hatte große Wirkung und ging ebenfalls oft auf Tournee.

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Hedda Kage: Wir hatten die Inszenierung 1991 zum Festival Theater der Welt nach Essen eingeladen. Auch dort war es sehr umstritten und hat die Leute polarisiert. Die eine Seite hat Pavlovsky eine anti-feministische Haltung vorgeworfen, die andere hielt ihn politisch für unmöglich, weil er eine sehr provozierende Position in der Diskussion um Vergangenheitsbewältigung einnahm. L a u r a Y u s e m : Bei unseren Proben und Gesprächen ging es nie um das Thema Feminismus. Gerade diese Feminismus-Diskussion interessiert mich offengestanden überhaupt nicht. Ich glaube, daß diese Dinge passiert sind und weiterhin passieren. Sie sind Teil von Liebesbeziehungen, von Situationen der Unterwerfung. Für mich ist das kein Diskussionsthema. Wenn die Feministinnen sich darüber aufregen, ärgere ich mich manchmal, und manchmal finde ich es lustig, es interessiert mich einfach nicht.

Hedda Kage: Ich wollte eigentlich auch nicht auf diese Diskussion zu sprechen kommen, sondern auf die Gewalttätigkeit, Gewalttätigkeit gegen den weiblichen Körper. L a u r a Y u s e m : Das ist interessant, denn auf der Pressekonferenz in Essen, zu der eine Menge verärgerter Leute, fast ausschließlich Frauen, gekommen waren, wurde mir gesagt, daß solche Dinge nicht vorkommen. Es war zum Verrücktwerden. Ich war zum zweiten Mal in Deutschland, das erste Mal mit einer Inszenierung, und ich konnte einfach nicht glauben, daß es in Deutschland diese Dinge nicht gibt, wie mir gesagt wurde. Ich konnte es nicht glauben. Ich sagte ihnen während der Pressekonferenz: Sie sind unsere Lehrer, wir ihre besten Schüler. Es stimmt, wir sind diejenigen, die ihre Lektion am besten gelernt haben, aber die Lehrer sind Sie. Wie können Sie mir sagen, daß es das nicht gibt? Nun gut. Die Pressekonferenz ging zu Ende, und die Leute grüßten mich nicht mehr. Ich wiederhole es hier, es ist so, wir sind die besten Schüler der Deutschen.

Hedda Kage: Wie verlief die Diskussion in Argentinien? L a u r a Y u s e m : Die Inszenierung war filr ein ganz kleines Publikum gedacht. Es paßten 50 Personen in den Theaterraum. Wir gingen davon aus, daß das breite Publikum, das Durchschnittspublikum, es weder verstehen noch sich dafür interessieren würde. Es gibt Inszenierungen, die einem kleinen Publikum vorbehalten sein müssen. Doch die Zuschauer, die bis zu die-

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sem Ort kamen, den Francisco Javier heute morgen beschrieben hat, eine unwirtliche ehemalige Bananenlagerhalle in der Nähe des Schlachthofs, wußten, daß dort Pavlovsky spielte, daß ich Regie geführt hatte, und sie wußten, was sie erwartete. Es gab nicht viele Diskussionen. Die Leute verließen sehr bestürzt das Theater, sie diskutierten nicht mit uns und sagten auch nicht wie hier in Deutschland, daß dies nicht wahr sei, daß es nicht sein könne, daß alles Lüge sei. Das sagte keiner. Diejenigen, die es gesagt haben könnten, sind nicht gekommen. Z u h ö r e r i n : Es geht hier nicht um Wahrheit oder Lüge. Es geht auch nicht um die Frage, ob das Stück sich gegen die Frauen richtet oder ob die Inszenierung schlecht ist. Allerdings könnte man vielleicht die Rolle der Frau im Werk von Pavlovsky untersuchen. Ich finde, daß einer der interessanten Punkte des Stückes die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der männlichen und der weiblichen Figur ist. Auch wenn die weibliche Figur am Ende stirbt, kommt der Mann nicht gut aus der Sache heraus. Ich glaube, in dem Leben, das dieser Mann führt, ist dies fast schlimmer als der Tod. L a u r a Y u s e m : Außerdem ist es eine Liebesbeziehung, deren Grundlage der Verlust ist. Z u h ö r e r : Ich würde gerne mehr über diese Poetik der Folter wissen, über Pavlovskys besonderen Umgang damit. Wodurch werden diese Figuren der Folterer wirklich und glaubwürdig? Folterknechte, die wie alle ihre Kinder lieben und mit ihren Enkeln zum Marktplatz gehen. Wie arbeiten Sie damit und welche Schwierigkeiten ergeben sich Ihrer Meinung nach in Argentinien durch die Konfrontation dieser Dinge mit anderen Intellektuellen und Künstlern? L a u r a Y u s e m : Es gibt Leute, die es nicht mögen. Mich interessiert es, und ich finde es zudem sehr originell. Nicht viele Leute sind dieses Thema von der Kunst aus angegangen und haben sich in die Köpfe der Folterer hineinversetzt, andererseits ist Folterer nicht nur ein Beruf. Wir sind alle Folterer. Das ist Teil der Conditio humana. Diesen Aspekt finde ich interessant. Pavlovsky geht das Thema mit einer erstaunlichen Tiefe an. Wir haben darüber ganz ungezwungen gearbeitet, ohne damit ein Problem zu haben. Es ist einfach so. Es handelt sich um jemanden, der so denkt, so handelt.

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Eduardo Pavlovsky: Ich erkläre nicht gerne das, was ich schreibe: Das Moment des Schreibens liegt auch in den Reaktionen der Leser. Ich glaube an die Theorie von Umberto Eco, an das offene Kunstwerk. Der Autor schreibt viel mehr, als er glaubt zu schreiben. Es gibt eine Vielfalt der Bedeutungen. Mich interessiert an diesem Stück hauptsächlich die Liebesbeziehung in einer Situation höchster Intensität, die Liebe zwischen einem Folterer und seinem Opfer, die Grenzsituation. Vielleicht funktioniert der Humor in der Liebe, die Intensität der Liebe nur in einer Situation der Folter, so wie wir zwei es untersucht haben. Wir haben Improvisationen darüber gemacht, daß der Mann die Frau aus dem Gefängnis herausholt und an einen schönen Ort bringt, doch als er sich den Pyjama anzieht, ist er impotent. Das heißt, daß die Liebesbeziehung nur in der Foltersituation diese Intensität hatte. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach passiert. Ich möchte noch etwas zu dem Unterdrücker sagen, auch wenn ich nicht gerne über mein Theater spreche. Aus meiner psychoanalytischen Sicht, die eine Sichtweise ist, die Deutsche, Argentinier und alle anderen teilen, haben die Unterdrücker nie extreme Krankheitsbilder aufgewiesen. Beispielsweise wurden griechische Folterknechte psychiatrisch untersucht, und es stellte sich heraus, daß sie an sehr einfachen Schizophrenien litten, ähnlich dem, was man auch bei uns feststellen könnte. Sie waren grundlegend ideologisch infiltriert. Dadurch bekam ihre Ideologie messianischen Charakter, und Folter und Vernichtung des anderen wurden zur Rettung des Landes. Daher scheint mir der Gedanke, daß der Folterer eher eine sadomasochistische Struktur hat, nicht neu. Die neuesten psychiatrischen Untersuchungen Uber Folterer unterscheiden sie kaum von uns. Was den Feminismus angeht, ist mir nie klargeworden, ob ich ein Anti-Feminist bin. Die Frauen haben mich schon immer fasziniert. Es kann sein, daß ich ein Problem damit habe, die weiblichen Figuren zu entwickeln, aber ich glaube nicht, daß ich mit der Frau in Konflikt stehe. Ich finde sie wunderbar und wunderschön. Es stimmt, wenn ich schreibe, ist mir das Männliche näher als das Weibliche. Das finde ich keinesfalls schlecht, es liegt in meiner Natur. Laura Yusem: Dem möchte ich noch hinzufügen, daß es in meiner Natur liegt, Eduardo Pavlovsky bei seinen Erkundungen des Männlichen zu begleiten. Ich mag es, und es interessiert mich.

Eduardo Pavlovsky

Eduardo Pavlovsky

Kati Röttger Erinnerungen an eine Nation. Die Geschichte des Blutes vom Teatro La Memoria

Da war der Körper von Aguila, auf dem Wachstischtuch, zerteilt in grauenvoll tote Stücke. Sein Rumpf, seine Beine, sein Schä, sein de, sein 1. Wirr zitternd, das ganze Blut verströmend. Das linke Bein, den Brustkasten, da wo das Herz war, warf ich in den Mapocho. Den Rest verteilte ich in der Stadt. [...] Ich tötete Aguila ganz allein, niemand half mir dabei. Ich will schlafen, lieber schlafen als leben, einen Schlaf so tief wie der Tod. Dort werde ich meine Küsse lassen. Ohne Reue, auf deinem Körper. Meine Liebe, mein Gott, mein Leben, mein Zuhälter, Zeitungsverkäufer.1 Die Geschichte der Rosa Faündez, Zeitungsverkäuferin, füllte in den 20er Jahren die Mordchroniken der Stadt Santiago de Chile: Rosa tötete ihren Geliebten Aguila aus Eifersucht, schnitt seinen Körper mit dem Messer in kleine Stücke und verteilte sie in der ganzen Stadt. Die chilenische Theatergruppe La Memoria (Die Erinnerung) nahm die Zeitungsberichte über die Bluttat zum Anlaß ihrer Theaterproduktion Historia de la sangre (Geschichte des Blutes). Die Inszenierung bildet den zweiten Teil der Trilogia Testimonial de Chile, welche die Dieser Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel „Zerstückelte Körper: Die Materialisierung sprachloser Erinnerung auf der BUhne. Zur Historia de la sangre der chilenischen Theatergruppe La Memoria." In: Claudia Öhlschläger, Birgit Wiens (Hrsg.): Körper-Gedächtnis-Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Reihe Geschlechterdifferenz & Literatur, Bd. 7. Berlin 1996, S. 38-56. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Erich-Schmidt-Verlags. 1

Aus der Textvorlage des Theaterstücks Historia de la sangre. Alle Übersetzungen aus dem Spanischen hat die Verfasserin vorliegenden Aufsatzes angefertigt. Sie sind im Text mit K.R. gekennzeichnet.

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Gruppe zwischen 1990 und 1993, unmittelbar nach dem Ende der 16jährigen Diktatur unter Pinochet, im Chile der sogenannten Redemokratisierung auf die Bühne gebracht hat.2 Das „Zeugnis von Chile" versteht sich als Trilogie der Erinnerung an die Grausamkeiten der Diktatur, eine „Trilogie gegen das Vergessen", wie der Regisseur der Truppe, Alfredo Castro, sagt3. Die drei Teile der Trilogie4 basieren auf testimonios (authentische Berichte, autobiographische Aussagen) von Menschen, die einer in Chile marginalisierten Bevölkerungsgruppe angehören. Das authentische Material bildet die Grundlage für die Entwicklung eines Theaters, das den traditionellen Begriff der Nation entmystifizieren will und eine Definition nationaler Identität sucht, die nicht von einem hegemonialen Machtdiskurs vorgegeben wird, sondern sich aus dem geriert, was dieser Diskurs ausläßt, aus dem Randbereich der Gesellschaft, „einem Gebiet, das vom nationalen Selbstverständnis negiert wird."5 Am Beginn der Produktion Historia de la sangre stand die empirische Untersuchung von zwei Gruppenmitgliedern über das Schicksal von Insassen aus psychiatrischen Anstalten und Gefangnissen. Ausgehend von den Zeitungsberichten über den Fall Rosa Faúndez sammelten sie dort testimonios von Mördern aus Leidenschaft, von „Bluttätern", sexuell Geschändeten. Die Theateraufführung entstand mittels intensiver Improvisationen zu den ausgewählten authentischen Texten. Aus dem schauspielerisch entwickelten Körpermaterial und den von Alfredo Castro und der Dramaturgin Francesca Lombardi poetisch bearbeiteten Berichten gingen die sieben Figuren des Stückes hervor. Die Texte, die die sieben Figuren sprechen, sind nicht dialogisch angelegt, sondern monologisch, nahezu rezitativ, wie Versatzstücke einer Poetik der Zerstückelung, die jede Kohärenz unterminiert. Sie fungierten in den Probenarbeiten als wichtige Stütze zur Entwicklung einer Bühnensprache des Körpers, einer „Körperschrift für die Bühne" (Castro), mit der die inoffizielle Geschichte, die unerzählt gebliebene Geschichte Chiles, die „Geschichte des Blutes" über das „Blut der Geschichte" erzählt werden soll. Die Inszenierung knüpft in ihrem Versuch, nicht-repräsentierte und möglicherweise sogar nicht-repräsentierbare Geschichte(n) in einer „Literatur des Kör2

An dieser Stelle möchte ich insbesondere meiner Kollegin Soledad Lagos de Kassai dafür danken, daß sie mich mit der Arbeit vom Teatro La Memoria vertraut gemacht hat und in langen Gesprächen dazu beitrug, die Arbeit der Gruppe besser zu verstehen.

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Siehe den Programmzettel zur genannten Aufführung in Berlin.

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1. Teil: La Manzana de Adán (Der Adamsapfel), 1990. 2. Teil: Los días tuertos (Die einäugigen Tage), 1993. Lagos de Kassai, Soledad: „Imagen y gestualidad - La búsqueda de una nueva estética." In: Teatro al Sur I (1994), S. 31-42.

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pers" auf die Bühne zu bringen, verschiedene Themenkomplexe zu einem außerordentlich komplizierten Knoten zusammen, in dem verschiedene mögliche Dimensionen der Erinnerung aufscheinen: 1. die historische Dimension von Erinnerung: die Thematik des kollektiven Unbewußten und die Frage nach der Möglichkeit des Erinnerns an die versteckte oder verdeckte Vergangenheit eines Volkes (metaphorisch von Castro als „versteckter Kreislauf des Blutes" beschrieben). 2. die politische Dimension der Erinnerung: die Infragestellung der traditionellen Konstruktion von nationaler Identität und die Aufdeckung dieser Konstruktion als Maskerade, um sich gegen das Verschweigen der unerwünschten Aspekte der gemeinsamen Vergangenheit aufzulehnen. 3. die dramaturgische Dimension der Erinnerung: die Verwendung von testimonios als subversives geschichtliches Material für die Inszenierung. 4. die ästhetische Dimension der Erinnerung: die Suche nach einer Sprache des Körpers als Träger des Erinnerungsmaterials. 5. die geschlechtsspezifische Dimension der Erinnerung: die Auseinandersetzung mit der Konstruktion der nationalen Geschichte im Sinne des ödipalen Dramas und die Frage nach der Funktion des Mütterlichen und des Väterlichen bei der Konstruktion der nationalen Identität. Die zentrale Frage, die sich angesichts dieser Thematik aufdrängt, lautet: Gelingt es dem Teatro La Memoria mit diesem komplexen Gebilde, das in der symbolischen Verbindung von Blut und nationaler Identität einen Topos aufgreift, der von der Geschichte des Faschismus auf fatale Weise besetzt ist6, einen Gegenentwurf zu den offiziellen nationalen Diskursen (zugespitzt unter der Diktatur) zu entwerfen, oder reproduziert es letztlich die Mythen, die in diesen Diskursen erschaffen werden?

Die politisch-historische Dimension der Erinnerung Chilenito Bueno (der gute Chilene): Sie ist schön, meine Fahne. Ich bin Chilene, ein guter Chilene. Ich bin Chilene, durch mein Blut. Du, mein Blut, von meiner Mutter. Weil ich ein Bastard bin [...] 6

Vgl. dazu Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd 1: Der Wille zu Wissen. Frankfurt a. M. 1983: „[...] eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe ständiger Eingriffe in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das Alltagsleben haben ihre Färbung und ihre Rechtfertigung aus der mythischen Sorge um die Reinheit des Blutes und den Triumph der Rasse empfangen. Der Nazismus war zweifellos die naivste und eben deshalb heimtückischste Verquickung der Phantasmen des Blutes und der Paroxysmen der Disziplinarmacht." S. 178.

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Nach dem zweiten Weltkrieg lag Chile in Asche. Wie der Olivenbaum im Innenhof. Oder vielleicht... Wenn B. O'Higgins schon über 150 Jahre tot ist... Oder vielleicht... wenn es so wäre, daß wir Chilenen einfach überflüssig sind. Wenn dieses Land einfach den Spaniern gehört. Die erste Fahne, die hierherkam, war die von Don Diego de Almagro ... Oder vielleicht sind wir Chilenen ganz einfach allein. (K.R.) Dieser kurze Text des „Chilenito Bueno" umspannt in der assoziativen Aneinanderreihung von Fakten und Phantasmen die ambivalente Problematik von Kolonisation und Nationalisierung nach der Unabhängigkeit. Inwiefern diese Problematik für die Inszenierung relevant ist, möchte ich im folgenden kurz erläutern. Die Geschichte der Kolonisation in Lateinamerika ist bis heute nicht abgeschlossen. Obwohl die meisten lateinamerikanischen Länder bereits vor mehr als 150 Jahren ihre Unabhängigkeit von Spanien erlangten, sind die Gesellschaften noch immer von den Folgen der gewaltsamen Akkulturation, die mit der Conquista einsetzte, geprägt: Bürgerkriege, Diktaturen, Foltern, Morde scheinen als Kontinuum einer geschichtlichen Vergangenheit auf, deren Gewalttaten in den offiziellen Darstellungen der Geschichte entweder verschwiegen oder heroisiert wurden. Die Strategie des Verschweigens begleitet die politische und soziale Entwicklung der lateinamerikanischen Länder bis heute auf komplizierte Weise. Denn die strukturelle Einschreibung von Gewalt und Vernichtung in die Geschichte der lateinamerikanischen Gesellschaften hat sie nicht daran gehindert, sich vom Ideal des europäischen Humanismus und der Aufklärung leiten zu lassen und die Gesellschaften verfassungsrechtlich entsprechend zu ordnen. Der „demokratische Vertrag" hat aber in den meisten Fällen nur für die Elite funktioniert, und das Versprechen der Moderne ist für den größten Teil der Bevölkerung bis heute nicht eingelöst worden. Einem enormen Druck „von unten" ausgesetzt, manifestiert sich der nationalstaatliche Diskurs als ein totalisierender und homogenisierender und erzwingt somit eine Logik der Linearität und Kontinuität, die als solche in den lateinamerikanischen Gesellschaften nicht existiert. Strukturelle Bedingung für die Aufrechterhaltung und Verteidigung des idealisierten nationalstaatlichen Diskurses ist die Ausgrenzung, das Verschweigen, das Nicht-Mit-Denken, bzw. der Ausschluß der Kräfte, die sich allein schon durch ihr Vorhandensein diesem Diskurs entgegenstellen und damit seine Gültigkeit entkräften: die indigenen Bevölkerungsgruppen, die Armen und Besitzlosen (die den größten Teil der Bevölkerung ausmachen) sowie die politischen Widersacher. Insofern fungieren die am weißen, männlichen, logozentrischen, monolithischen Diskurs orientierten Konstruktio-

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nen der nationalen Identität lediglich als eine Maskerade, die je nach Konjunktur mehr oder weniger prägnante Formen der gewaltsamen Auferlegung annimmt. Nach dem Zusammenbruch der letzten Diktaturen und zusätzlich bedingt durch die Krise der Moderne, wird heute zum ersten Mal vehement die Frage nach der lateinamerikanischen Identität7 jenseits des modernen (europäischen) Ideals gestellt: Wenn es jetzt notwendig geworden ist, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der lateinamerikanischen Gesellschaften aus kultureller Perspektive neu zu Uberdenken, dann geschieht dies nicht aus einem erneuten Versuch der Totalisierung. Im Gegenteil, er widersteht jeder Totalisierung. Damit will ich sagen, daß die kulturwissenschaftliche Forschung die Gebiete auszumachen versucht, die der Staat, Vater und Mutter der Totalisationen, bis jetzt noch nicht in Kontinuitäten und Homogenitäten umwandeln konnte.8 Während lateinamerikanische Soziologen heute verschiedene Lösungsvorschläge zur Definition der lateinamerikanischen Gesellschaften als „hybride", „pluralistische", „heterogene" diskutieren,9 sehen es vor allem Künstler, Schriftsteller und Theatermacher als eine wesentliche Aufgabe an, die kollektive Vergangenheit aus der Perspektive der Heterogenität neu zu schreiben.

Die symbolische Dimension der Erinnerung David Viñas fragte sich in seinem Buch Indios, ejército y frontera, was passiert, wenn die größte Kontinuität der Geschichte im „Verschwundenen" liegt, d.h. im Verschwinden von Körpern ebenso wie im Verschwinden der Erinnerung an diese Körper, und was passiert, wenn es der Staat ist, der als Protagonist der Amnesie auftritt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß der Begriff der „lateinamerikanischen Identität" nur bedingt Gültigkeit hat, zumal immer eindringlicher diskutiert wird, inwieweit es gerechtfertigt sei, die lateinamerikanischen Kulturen unter diesem einheitlichen Nenner zu subsumieren und die bestehenden Differenzen zwischen den einzelnen Ländern, Kulturen, sozialen Gruppen zu verwischen. Vgl. dazu u.a.: Albó, Xavier: „Our Identity starting from pluralism in the base". In: boundary 2, 20.3. (1993) S. 18-33. 8

9

Rowe, William: „La crítica cultural: problemas y perspectivas." Nuevo Texto Crítico, VII. 14/15 (1994) S. 37-47 (Übers, d. Zitats: K.R.). Vgl. dazu die Aufsätze in der oben angegebenen Nummer der Zeitschrift boundary 2.

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Der Lateinamerikaspezialist William Rowe sieht eine mögliche Antwort darin, das Verschwinden kulturell zu denken, d.h. das Netz von Drohungen, Schweigen und anderen verschleierten Folgen der Gewalt in der Form von symbolischer Produktion darzustellen. Seiner Meinung nach sind die Toten die Erinnerung, und „ohne das Zusammentragen der Erinnerung besitzen wir keine Kultur."10 Vor allem Theatermacher11 betrachten es gewissermaßen in Anlehnung an diese Aussage als ihre Aufgabe, gegen die Strategie des Verschweigens und Vergessens ein „Theater der Erinnerung" zu setzen, das tabuisierte Themen wie Mord, Folter, Exil oder Kollaboration in das Gedächtnis zurückruft, um nicht in der allgemeinen Lethargie der Redemokratisierung zu verharren. In Anbetracht des Bedeutungsvakuums, das mit und nach den Diktaturen entstanden ist, weil sich durch den Versuch der Juntas, mit aufgezwungenen Zeichen und Symbolen gesellschaftliche Sinnstiftung zu leisten, ein eklatanter Bedeutungsverlust der offiziellen Sprache einstellte12, stehen die kritischen Theatermacher vor der Frage, welche Sprache, welche Symbole überhaupt noch Bedeutungen hervorbringen können, die nicht im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Maskerade stehen und die erhoffte Wirkung der angestrebten Erinnerungsarbeit erzielen. Ein Konzept, das in der lateinamerikanischen Terminologie des Widerstands eine zentrale Funktion erhalten hat, ist das der „Präsenz" als Gegenentwurf zur Strategie des Verschwindens. Der Begriff der Präsenz hat eine körperliche, materielle sowie eine symbolische Komponente, denn er resultiert aus der Weigerung, das Verschwinden von Personen und das Verschweigen der Toten hinzunehmen. Er manifestiert sich am deutlichsten in den Rufen „¡presente!", die jeweils skandiert werden, wenn der Opfer der Diktatur namentlich gedacht wird. „Präsenz" bedeutet die symbolische Verkörperung der Abwesenden durch die Anwesenden, die einen markanten Eingriff in die symbolische Ordnung (das Nennen der Namen) wie auch in die materielle Realität (der Ruf der anwesenden Person) bedeutet. Indem der verschwundene Körper durch den präsenten Körper für präsent erklärt wird, wird dem diktatorischen Diskurs die Macht der durch Amnesie erzwungenen Kohärenz entzogen. „Presence is a political claim", führt Amy Kaminsky in ihrem Buch Reading the Body Politic aus, 10

Rowe, „La critica," S. 37. (K. R.)

"

Hier könnten zahllose Beispiele aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern angeführt werden. Für das zeitgenössische chilenische Theater sind in diesem Zusammenhang u.a. Ramón GrifTero, Inés Stranger oder auch Andrés Pérez relevant.

12

Vgl. dazu: Richard, Nelly: Masculino/Femenino. de Chile 1993.

Prácticas de la diferencia y cultura democrática. Santiago

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„which declares the existence of the individual not as a coherent psychological subject, but rather as a potent political subject" (25), und zwar durch die körperliche Anwesenheit. Presence — the making visible of the invisible, the continued life of those who have been murdered, the appearance of the disappeared, the testimony who makes whole the body of the tortured — [...] is the presence in the face of erasure and silencing. (25) Das Theater greift die Potentialität, die in der Präsenz des Körpers liegt, auf und verdoppelt die performative Strategie, die dem Konzept inhärent ist, indem es die szenische Präsenz des Schauspielers bewußt als ästhetisches wie politisches Mittel einsetzt. Daß er da ist, genügt schon, um sich dem Verschweigen zu widersetzen. Aber was passiert, wenn der Körper nicht nur als „präsent" gezeigt wird, sondern gleichzeitig in seiner memorisierenden Funktion als ästhetisches Mittel dient? Was passiert im konkreten Fall von Teatro La Memoria, wenn die testimonios von gesellschaftlichen Außenseitern durch die Präsenz der Schauspieler, den Einsatz ihrer Körper, eine materielle und visuelle Gestalt erhalten? Was passiert, wenn das Schweigen, das sich über diese Menschen gelegt hat, durch den Eingriff der Schauspieler gebrochen wird und die Zeugnisse der Anwesenden in das Gedächtnis der Zuschauer gerufen werden, ohne daß ihre eigenen Stimmen zu hören sind?

Das testimonio als Form der Erinnerung Die Erinnerung, die La Memoria mittels der testimonios auf der Bühne vergegenwärtigt, ist die Erinnerung von und an Rechtlose(n), Menschen ohne Existenzberechtigung in einer Gesellschaft, die sich auf die „offizielle" Geschichte beruft: die Mapuche-Indianerin, das Inzest-Opfer, der Vergewaltiger, der Bastard, der Sodomit. Sie alle sind durch eine Un-Tat mit Gewalt in die staatliche Ordung eingetreten, denn sie wurden juristisch erfaßt, unter Berufung auf staatliche Gewalt zum „offiziellen" Außenseitertum verurteilt. Sie haben sich ihre Existenz vor dem Staat blutig ermordet. Laut Jean Franco ist das testimonio: [...] a life story usually related by a member of the subaltern class to a transcriber who is a member of the intelligentsia. It is a genre that uses the

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'referential' to authenticate the collective memory of the uprooted, the homeless, and the tortured, and that most clearly registers the emergence of a new class of participants in the public sphere. The testimonial covers a spectrum between autobiography and oral history, but the word testimony has both legal and religious connotations and implies a subject as witness to and participant in public events." Im Falle von Historia de la sangre werden die Lebensgeschichten der Befragten mittels der Körper der Schauspieler in die Öffentlichkeit des Publikums getragen. Aus den einzelnen Lebensgeschichten hat die Theatergruppe sechs Figuren konstruiert, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß ihr Außenseitertum an Formen sexueller „Perversion" geknüpft wird, entweder als Täter oder als Opfer sexueller Gewalt. Auf narrativer Ebene vermitteln sich ihre Geschichten über Textfragmente aus den autobiographischen Berichten, wie z.B. im testimonio der Chica del Peral (das Mädchen aus der psychiatrischen Anstalt Peral in Santiago de Chile), die Prostituierte ihres Vaters wie ihres Bruders, Mutter eines Kindes von ihrem Vater und schwanger von ihrem Bruder ist: Sehen Sie, ich will es Ihnen erzählen. Dieses Mädchen, das hat mir mein Bruder geschenkt. Ist von meinem Bruder. Ich habe eine Tochter von zwei Jahren, eine. Sie ist von mir. Püppchen von zwei Jahren, eine. Und mein Papa ist mein Bruder, der mir das Mädchen geschenkt hat, mein Bruder. Wir sind Geschwister von Papa, aber kein Sohn, ich. (Übers.: K.R.) El Boxeador, Fliegengewicht mit dem Dritte-Welt-Körper, 150 cm groß, ist Vergewaltiger, Ankläger seines Bruders, Verleugner seiner Tat, läßt sich aber als symbolische Strafe seinen Finger „kastrieren". Schließlich sind da, neben El Chilenito Bueno und Rosa Faündez noch La Gran Bestia, der Sodomit und Brudermörder sowie Isabel La Mapuche, die ihre indianische Herkunft verleugnet, davon träumt, Präsidentin von Chile zu werden und sich als Prostituierte verkauft:

Franco, Jean: „Reinhabiting the private". In: Ort Edge. Hrsg. von George Yudice/ J. Franco/ J. Flores, Minnesota 1992. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Soledad Lagos de Kassai zum Begriff der Marginalität. Da sich Lagos de Kassai in ihrem Aufsatz ausführlich mit dieser Problematik im Hinblick auf das gegenwärtige chilenische Theater und die Arbeit der Gruppe la Memoria befaßt, werde ich im folgenden nicht gleichermaßen ausführlich darauf eingehen. Siehe: Lagos de Kassai, Soledad. „Teatro la Memoria: Hacia una poitica de la marginalidad en el teatro chileno de los 90." UnveröfTentl. Vortrag 1996. Wird voraussichtlich in deutscher Übersetzung in der Theaterzeitschrift Forum Modernes Thealer (1, 1998) erscheinen.

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Wenn ich verrückt bin, dann nicht, weil ich mich wie eine Mapuche fühle, sondern weil ich mich wie eine Chilenin fühle. Als Kind mochte ich die Mapuche-YAziAzx nicht, ich wollte nicht festgelegt sein. [...] Ich werde meinen Nachnamen ändern, ich mag ihn nicht. Mein Onkel heißt Morales, ich will Torales. Du bist klein und schwarz, sagten sie zu mir, und ich weinte, weinte, weinte viel. (K.R.) Welche Bedeutung erhalten diese testimonios im Kontext der Aufführung? Erhalten sie gar den Charakter von Geständnissen über (sexuelle) Abweichungen im Sinne Foucaults? Unsere Zivilisation ist [...] die einzige, die eine scientia sexualis betreibt. Beziehungsweise die einzige, die im Lauf von Jahrhunderten, um die Wahrheit des Sexes zu sagen, Prozeduren entwickelt hat, die sich im wesentlichen einer Form von Macht-Wissen unterwerfen, die der Kunst der Initiation und dem Geheimnis des Meisters streng entgegengesetzt ist: es handelt sich um das Geständnis. Spätestens seit dem Mittelalter haben abendländische Gesellschaften das Geständnis unter die Hauptrituale eingereiht, von denen man sich die Produktion von Wahrheit verspricht [...] all das hat dazu beigetragen, dem Geständnis eine zentrale Rolle in der Ordnung der zivilen und religiösen Mächte zuzuweisen.14 Nun ist vor allem unter Diktaturen eine Form des Geständnisses praktiziert worden, die auf greuliche Weise an den Körper und an den Schmerz gebunden ist; ein konstitutives Element der „Kultur der Angst" (Richard), die Historia de la sangre sich zum Thema macht, ist die Folter. Dazu noch einmal Foucault: Wenn das Geständnis nicht spontan oder von irgendeinem inneren Imperativ diktiert ist, wird es erpreßt; man spürt es in der Seele auf oder entreißt es dem Körper. Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Geständnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbrüder. Die waffenloseste Zärtlichkeit wie die blutigsten Mächte sind auf das

14 Foucault, Sexualität

und Wahrheit I, S. 75. Ebenso wie Franco weist Foucault auf die zivilrechtliche wie auch religiöse Komponente des Geständnisses hin. Aber im Unterschied zu Franco betont Foucault vor allem die Funktion zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, während Franco sich vielmehr auf den Akt des Eintretens (marginalisierter Gruppen) in die symbolische und damit auch gesellschaftliche Ordnung durch das Erlangen einer Zuhörerschaft bezieht.

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Bekenntnis angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.15 Wird die Erinnerung, da sich ihr die Folterer in Chile verweigern, auf dem gegenwärtigen Theater etwa gar stellvertretend von den Machtlosen erpreßt? Ist Historia de la sangre in diesem Sinne das Produkt eines zweifachen Geständnisrituals, welches auf das Bekenntnis einer sexuellen Abweichung einerseits und auf das einer scheinbar notwendig daraus resultierenden Bluttat andererseits abzielt? Ist die Theaterproduktion also nichts weiter als ein Nachkömmling der Kultur der Angst, kleiner Zwillingsbruder der Folterpraktiken unter der Militärdiktatur, wenn sie in der redemokratisierten Kultur des Vergessens zu „einer der höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion übergeht, [...] um die Taten unter die nimmermüde Herrschaft des Geständnisses" 16 zu stellen? Und schließlich: dient diese Technik dazu, Analogien zwischen den Taten der Militärs und denen der „Mörder aus Leidenschaft" herzustellen, um die Produktion von Wahrheit voranzutreiben? Denn die Aufführung scheint doch dem Gebot zu unterliegen, „ [...] sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat [...] " I 7 So würde sie die zwei tabuisierten Bereiche Sexualität und Gewalt (der Herrschenden) durch ihre bekenntnishafte Verbalisierung und Verknüpfung genau dem Diskursritual unterziehen, das die Taktik der Macht auszeichnet. Teatro La Memoria will, wie oben bereits gesagt, das Unausgesprochene der Geschichte, das Verdrängte und Unterdrückte aussprechen, um dem idealisierten nationalen Diskurs seine Schattenseiten vor Augen zu fuhren, um eine andere Realität zu zeigen als die der Repräsentation normalerweise für würdig befundene, es will zu diesem Zweck den Ausgestoßenen, Marginalisierten eine Stimme verleihen. Es beansprucht, einen Angriff gegen den Diskurs der Macht zu inszenieren. Lagos de Kassai bestätigt: Die testimonios der Figuren aus den Inszenierungen, aus denen sich die Trilogia Testimonial zusammensetzt, sind in den Mikrokosmos einer Art referentieller Marginalität eingebunden, die die (latente) Existenz von dunklen oder negierten Facetten eines Makrokosmos evident macht, den wir Gesellschaft nennen.18 (K.R.) 15

Foucault, Sexualität und Wahrheit I, S. 76f.

16

Foucault, Sexualität und Wahrheit I, S. 76 und 79.

17

Foucault, Sexualität und Wahrheit I, S. 78.

18

Lagos de Kassai, Teatro La Memoria, S. 5.

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Aber tritt die Gruppe auf diese Weise nicht in die unsichtbare Falle der Macht, die uns Foucault in Sexualität und Wahrheit so eindringlich nahebringen will? Deshalb in eine Falle, weil: [...] die Verpflichtung zum Geständnis [...] uns mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt (wird), sie ist uns so tief in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie uns gar nicht mehr als Wirkung irgendeiner Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen ,.Anspruch" hege als den, an den Tag zu treten; daß es, wenn ihr das nicht gelingt, nur daran liegen kann, daß ein Zwang sie fesselt oder die Gewalt einer Macht auf ihr lastet, woraus folgt, daß sie sich letzten Endes nur um den Preis einer Befreiung wird äußern können. Das Geständnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen.19 Um welche Wahrheit geht es in Historia de la sangrel Geht es tatsächlich nur um ein banales outing, und wen soll das Geständnis dann befreien? Die Täter, die Schauspieler, die Gesellschaft? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es sinnvoll, sich die Art der Repräsentation der testimonios auf der Bühne genauer anzusehen.

Die ästhetische Dimension der Erinnerung: die Suche nach einer Sprache des Körpers Wie bereits bemerkt, erarbeiteten sich die Schauspieler die testimonios hauptsächlich mit körperlichen Mitteln. Der Vergleich mit dem Geständnis, das durch Folter erpreßt wird, drängt sich insofern auf, als die Erinnerung, die die Befragten in ihren testimonios äußern, mit äußerstem Schmerz verbunden sind und die Annäherung der Schauspieler an diese Zeugnisse über die Produktion von psychischem und körperlichem Schmerz und dessen Umsetzung in Gesten und Klänge erfolgt. Diese Arbeit - und das ist ganz wesentlich - zielt jedoch nicht auf die Produktion von Wahrheit ab, sondern auf die Reproduktion eines Gefühls, des Schreckens. Gerade um mimetische Nachahmung und damit die Gefahr der Produktion einer einzigen Wahrheit zu vermeiden, verlassen sich die Theatermacher auf die Diskontinuitäten des Körpers. Sie erlauben es den Schauspielern, auf kohärente Aussagen, auf Erklärungen zu verzichten und ohne die psychologische Einfühlung auszukommen. Vielmehr bringen sie den 19

Foucault, Sexualität und Wahrheit /, S. 77f.

220

Körper als Oberflächendepot ins Spiel, in das sich Ereignisse, die sich der Erklärbarkeit entziehen, eingeschrieben haben und daher abrufen lassen. Auch in der poetischen Bearbeitung der oralen, authentischen Texte wird die autobiographische Rekapitulation der Tat (man erfährt konsequenterweise nicht, wie sie sich im Original artikuliert) der logischen Kausalität linearer Sätze entkleidet. So, wie die Aussagen von den Schauspielern gesprochen werden, läßt sich in vielen Fällen kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einzelnen Sätzen erkennen. Vielmehr handelt es sich um eine Komposition von Worten oder Sätzen, deren Fluß oftmals ins Stocken gerät, entweder weil sie, wie bei einer zerkratzten Schallplatte, mehrmals wiederholt werden oder auch, weil stimmtechnisch erarbeitete Unterbrechungen (wie z.B. eine Art Schluckauf) eingebaut werden. Diese Störungen des Sprachflusses führen zu einer Zerstükkelung der einzelnen Aussagen, in denen das Leitmotiv der Aufführung, die Zerstückelung des Körpers von Aguila, ihren semantischen und klanglichen Widerhall findet. Als Beispiel sei ein Auszug aus dem „Geständnis" des Boxeador zitiert: Boxeador: Sie vergewaltigten ein kleines Mädchen ... Ich wußte nicht, was eine Vergewaltigung war, jetzt weiß ich, was eine Vergewaltigung ist... Ich wußte nicht, was eine Vergewaltigung war, jetzt weiß ich, was eine Vergewaltigung ist ... Ich wußte nicht, was eine Vergewaltigung war, jetzt weiß ich, was eine Vergewaltigung ist... Ich sagte meiner Mami, daß mein Bruder dieses Bauernmädchen vergewaltigt hat. Armes Mädchen. Ich gab meinem Bruder die Schuld. Armen, armes Mädchen, mein Schätzchen, mein Schätzchen, mein Schätzchen. (K.R.) Die fragmentierten, im Stakkato-Rhythmus vorgetragenen testimonios widersetzen sich im Zuge der Bühnenpräsentation einer Ordnung der Macht, denn sie werden ohne rationale Bezugsgröße dargeboten und entziehen sich somit dem kontrollierenden Blick (und Ohr) der Zuschauer, zumal nicht nur die Worte, sondern auch die Gesten der Schauspieler einer „Ästhetik der Zerstückelung" gehorchen. Was sich aber sehr wohl vermittelt, ist der Gefühlswert der Erinnerung an eine Leidenschaft ohne Sühne, mit der zugleich die Erinnerung an den Schrecken einhergeht. Ein Gefühlswert, der sich über eine rhythmische Abfolge stimmlicher Klänge und wiederholter minimalistischer Bewegungen, die unmittelbar an die Artikulationsformen des Körpers gebunden sind, vermittelt: an die Stimme und an die Bewegung im Raum - in ihrer Wirkung der Musik ähnli-

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eher als der gesprochenen Sprache. Um diesen Gefühlswert zu produzieren, hat es die Theatergruppe vermieden, in ihren Improvisationen über die Figuren mit Identifikationen oder Einfühlungsmustern zu arbeiten. Ihre Art der Annäherung, so Castro, erfolgte über die Simulation. „Nichts ist mehr Körper als der Körper, der an der Simulation von Körpern arbeitet",20 lautet sein Credo. Schauspielen definiert er als „tödlichen K a m p f , einen Kampf, der sich auf der Oberfläche des Körpers abzeichnet. Castro begreift den Körper als Struktur, nicht als psychologisch zu interpretierendes Inneres. Somit wird der Körper zum Ort des Dramas und gleichzeitig Spektakel. Historia de la sangre vermittelt Erinnerung in all ihren beschriebenen Dimensionen über den Körper, den man im Kontext der Inszenierung genauer als sich selbst inszenierende Maschine bezeichnen könnte. Denn da Körperlichkeit auf dem Theater laut Castro „auf nichts anderes verweist als auf sich selbst und Originalität ohne Original ist",21 entzieht sich die Körperschrift, die die Schauspieler entwickeln, der Repräsentativität. Sie drückt vielmehr das NichtRepräsentierte der Geschichte als Nicht-Repräsentierbares aus. Sie erhebt keinerlei Anspruch auf Wahrheit. Die Körper leisten „die Nicht-Imitation des Nichts" (Castro), ohne Original. Um diese Wirkung hervorzubringen, sind die Figuren (Maschinen) nicht als Abbilder der Befragten konstruiert, sondern als puppenartige Reproduktionen von Stereotypen der chilenischen Gesellschaft, leere Hüllen, die mit nichts gefüllt werden, sondern vielmehr als Koordinatensystem für das Bewegungsrepertoire der Schauspieler dienen: Chilenito Bueno ist als Kellner konstruiert, die Chica del Peral als Schlagersängerin aus den 50er Jahren, Isabel la Mapuche als Varietetänzerin, der Vergewaltiger Peso Hoja Mosca Junior als Boxer. Die sich selbst generierende und immer wieder selbst unterbrechende Körperschrift, die Präsenz des Körpers auf der Bühne als inszenierte Oberfläche - das sind Faktoren, durch die nicht das abweichende sexuelle Begehren (und damit die Notwendigkeit des Geständnisses) thematisiert wird, sondern der Körper selbst als Ausstellungsfläche (unerwünschter) Erinnerung. Er ist als solcher der Schlüssel zum Gegenangriff gegen das Sexualitätsdispositiv und die Zugriffe der Macht.

20

Vgl. Castros Manifest „La puesta en cuerpo", unveröfftl. Typoskript.

21

Castro, "La puesta en Cuerpo".

222

Das Geschlecht der Nation Teatro La Memoria versucht mit Historia de la sangre den nationalistischen Machtdiskurs aufzubrechen, indem es mit den ästhetischen Mitteln, die es für eine Präsention der Körper im Gegenzug zum strukturellen Vergessen und Verschweigen ihrer Anwesenheit einsetzt, jede Sinnstiftung oder eindeutige Bedeutungszuweisung unterbindet. Das testimonio in seiner Darstellung auf der Bühne erhält auf diese Weise nicht die Bedeutung des Geständnisses, das den Machtdiskurs unbemerkt untermauert, sondert zersetzt jede auf die Konstruktion von Wahrheit ausgerichtete Diskursivität. Damit behauptet die Inszenierung 1. auf der Ebene des dramatischen Textes metaphorisch die Anwesenheit von Gewalt/Blut als strukturelles, aber verborgenes Element (Castro: „verborgener Kreislauf) chilenischer Vergangenheit und Gegenwart22 und schafft damit eine Ahnung von den Rissen in der heroisch konstruierten Geschichte; 2. auf der Ebene des theatralischen Aufführungstextes visuell die Unmöglichkeit, eine kohärente Präsentation der Erinnerung an die Gewalt zu leisten. Abgesehen von diesen beiden Ebenen thematisiert die Inszenierung noch eine dritte, denn sie verknüpft die Auseinandersetzung mit der nationalen Identität mit der Frage nach genealogischen Zusammenhängen und der Bedeutung von Vater und Mutter. Das Thema der Genealogie wird zunächst visuell durch die Präsenz einer weiteren Figur in die Inszenierung eingebracht, die ich bisher noch nicht erwähnt habe: Laika, la perra. Laika, die Hündin, ist nicht zufallig namensverwandt mit der ersten Hündin, die in den Weltraum flog. Mit ihren über ein Mikrophon verstärkten Sätzen beginnt die Aufführung. Ihre Stimme klingt aus der Ferne, als ob die Mutter von „dort oben" zu ihren Kindern spräche: Ich bin die Mutter, unzivilisiert und schrecklich, Schwester der Sirenen, Seele und Schmerz. Mein Blick liegt auf euch, als Faszination, meine Schläge, meine Liebkosungen in Todespein oder Angst. Ich bin die Mami. Die Tote. Von Wölfen und Stuten begleitet, führe ich die Geistererscheinungen an. (K.R.) Viel mehr Text hat Laika nicht, aber sie ist allgegenwärtig, indem sie, in der Gestalt einer ausgestopften Hündin, auf einer plastifizierten transparenten Säule über der Bühne thront. Durch ihre Haltung und ihren Hinweis, sie sei die Schwester der Sirenen, ruft diese „tote Mutter" unwillkürlich Assoziationen an 22

Bis auf einmaliges Nasenbluten der mannlichen Darsteller kommt in der Inszenierung kein Blut vor.

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eine Figur aus der griechischen Mythologie hervor; denn Laika verharrt auf ihrem Platz wie eine erstarrte Sphinx, Tochter von Sirius, dem Hundsstern.23 Dieser mythologischen Bedeutung fugt sich eine weitere linguistische hinzu, welche die Figur der toten anwesenden Mutter noch komplexer macht. La perra ist ein abwertender Ausdruck für Frauen, die als Huren bezeichnet werden, für Frauen, die Bastarde gebären. Wie ordnet sich nun diese Figur in das komplizierte Geflecht der Aufführung ein? Um diese Frage beantworten zu können, muß zunächst erläutert werden, wie die Militärjunta zur Legitimation ihrer Gewaltherrschaft ihren nationalstaatlichen Diskurs mit mütterlichen und väterlichen Konnotationen besetzte. Die Rede und Schrift - ob politisch oder poetisch - über den lateinamerikanischen Kontinent oder la patria (wohlgemerkt mit weiblichem Artikel) ist in sehr auffalliger Weise durch Geschlechtszuordnungen organisiert. Der lateinamerikanische Subkontinent wird in unzähligen Texten mit der „Mutter Erde" Heimstätte präkolumbianischer Generationen, symbolischer Ort unberührter Tradition - gleichgesetzt, und zwar als ein mütterlicher Boden, der von den männlichen, spanischen, weißen Eindringlingen auf brutale Weise überwältigt und vergewaltigt wurde.24 Die ambivalente Figur der Mutter von Kindern unreinen Blutes, aber auch Zufluchtsort der Sehnsucht nach dem nicht vorhandenen Ursprung - Zentrum der Familie, Hüterin der alten Traditionen - ist ein zentraler Topos in vielen literarischen Abhandlungen, die sich mit Fragen der lateinamerikanischen Identität befassen.25

Vgl. dazu: von Ranke-Graves, Robert: Griechische Mythologie. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 115: „Orthros, der mit Echidne die Chimaira, die Sphinx, die Hydra und und den Nemeischen Löwen zeugte, war Sirius, der Hundsstern, der das Neujahr Athens verkündete." Die Sphinx spielte nach der griechischen mythologischen Überlieferung eine entscheidende Rolle bei der Ablösung der mutterlichen durch die väterliche Erbfolge. Sie wurde von ödipus ihrer Macht beraubt, indem er ihr Rätsel löste. Dadurch wurde die Voraussetzung zu seiner Heirat mit lokaste geschaffen. Vgl. dazu Grant, Michael und Hazel, John. Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1980, S. 306. "Sphinx (...) hatte bisher jeden Einwohner gefressen, der ihr Rätsel nicht zu lösen vermochte: ,Was läuft am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen und ist am schwächsten, wenn es auf den meisten läuft?' (...) Nach dem Tode des Laios bot Kreon jedem den Thron und die Hand seiner Schwester lokaste an (der Witwe des Laios), der Theben von dieser Plage befreite. Das gelang Ödipus, denn er fand für das Rätsel die richtige Anrwort: der Mensch, denn er geht als Säugling auf allen vieren, und im Alter auf den Stock gestutzt." Nach dieser Antwort stürzte sich die Sphinx in den Tod. 24

Vgl. z.B. Stranger, Inés: Malinche, Primer Acto, 250 (1993) oder auch Neruda, Pablo. „El canto general". In: Selected Poems. Hrsg. von Bly, Robert. Boston 1971.

25

Vgl. u.a. Oktavio Paz: „Man sollte mich nicht der WillkUr bezichtigen, wenn ich die Chingada, die geschändete Mutter, mit der Conquista in Verbindung bringe, die ebenso Schändung war, und zwar nicht nur eine historische, sondern eine fleischliche Schändung der Indianerin." Paz, Octavio: Das Labyrinth der Einsamkeit. Obers, von Carl Heupel, Frankfurt a.M. 1990.

224

Der Metapher des Mütterlich-Weiblichen für den vergewaltigten Kontinent steht das Bild des männlichen Eroberers gegenüber, des Weißen, des Herrschers, der in den Kontinent eingedrungen ist, ihn sich angeeignet hat. Der Eroberer wird nicht selten mit der patriarchalischen, zentralistischen Form europäischen Denkens in Zusammenhang gebracht, welches vor allem in Ländern wie Argentinien oder Chile, die einen hohen Prozentsatz europäischer Immigranten zu verzeichnen haben, u.a. in Form eines strengen Katholizismus das gesellschaftliche Leben bestimmt. Diese geschlechtlich konnotierte Divergenz hat sich während der Diktaturen, in den demagogischen Argumentationen zur Rechtfertigung der Militärherrschaft, noch zugespitzt. Die Lateinamerikanistin Diana Taylor veröffentlichte 1994 eine sehr interessante Analyse26 der Inszenierungsstrategien, die die argentinische Junta anwandte, um ihre autoritaristische Politik als Militärmacht zu legitimieren. Hierin weist sie nach, daß die Junta ihre „Mission zur Rettung des Vaterlandes", wie sie ihren gewaltsamen Eingriff in die gesellschaftliche Ordnung selbst bezeichnete, als ödipales Drama inszenierte, in dem sie sich selbst die Rolle des Retters der madre patria erteilte. In öffentlichen Deklarationen und Medienberichten wurde laut Taylor das argentinische Mutterland häufig als verwundeter und blutender Körper dargestellt. Die Rolle der Täter erhielten in diesem Drama ihre eigenen subversiven, abtrünnigen Kinder, vor denen nur der heroische militärische Apparat das/die verwundete Land/Mutter retten könnte. Indem die dominanten Narrative der Militärs den „schwachen" gesellschaftlichen Körper in einen passiven, femininen transformierten, wurde die sogenannte soziale Gewalt symbolisch im Inneren des Mutterleibes angesiedelt: La madre patria sei totgeblutet, so hieß es; und ihre Kinder, anstatt ihr zu helfen, hätten sich in ihrem Blut gebadet. Auf diese Weise bahnte die Junta dem Auftritt des männlichen (militärischen) Retters in ihrem konstruierten Drama den Weg. Im Gegenzug zu dem Entwurf mütterlicher blutiger Leiblichkeit präsentierte sich das Militär als sauber, blutlos, maskulin, als sichtbare, wohlformierte, stilisierte, einheitliche glatte Oberfläche, was z.B. in den Uniformen und Paraden zum Ausdruck kam. La guerra es limpia, „der Krieg ist sauber", so lautete eine viel zitierte Parole. Die politische Autorität spielte das ödipale Drama männlicher Individuation, indem sie Szenarien individuellen Heldentums gegen den 26

Diana Taylor: „Performing Gender: Las Madres de la Plaza de Mayo." In: Negotiating Performance. Hrsg. von Taylor, D.; Villegas, J., Duke Univ. 1994, S. 275-305.

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Feind darbot, der mit dem Ort des Blutes, der bedrohlichen Dunkelheit gleichgesetzt wurde. Die Mutterfigur wurde somit ambivalent besetzt. Zum einen wurde sie als gefahrlicher, feindlicher Ort der Dunkelheit und des Schmutzes beschrieben, zum anderen aber bot gerade die patriarchalische Konstruktion von Weiblichkeit als in Aussicht gestellte gerettete und gereinigte Mutter - in Analogie zur „gesäuberten" Gesellschaft - den Anlaß zur „reinigenden" männlichen Tat, d.h. zur Rechtfertigung der militärischen Übergriffe. Die Junta beanspruchte gleichsam Geburtsfahigkeit durch die Überwältigung der Mutter als Brutstätte des Bösen, um das „Gesetz des Blutes" in patrilinearer Genealogie zu etablieren. Thus, individual and collective fantasy of control and domination played out against castraited, feminized, and penetrable bodies (literally and/or metaphorically) meshed into a highly organized system of terror in which hatred of the feminine was not only the consequence, but, simultaneously, its very reason for being.27 Welche Antwort Historia de la sangre auf die Inszenierung des ödipalen Dramas männlicher Individuation gibt, die sich während der chilenischen Diktatur von Pinochet unter ähnlichen Vorzeichen abspielte wie unter der argentinischen Militärherrschaft, ist eine der schwierigsten Fragen hinsichtlich der Aufführung. Unübersehbar ist, das legt bereits der Titel der Aufführung nahe, daß die Blutmetapher hinsichtlich der Frage nach der Genealogie und der Erinnerung an den (verlorenen) Ursprung eine zentrale Bedeutung innerhalb der Inszenierung erhält. Soll das „Gesetz des Blutes" als ödipales Drama fortgeschrieben werden? Und wenn ja, auf welche Weise? Wiederholt sich lediglich das Drama, das die Militärs bereits inszenierten, indem die Welt der Bluttaten, die Welt des Bedrohlichen, die in der dunklen Unterwelt des verwundeten Leibes der schrecklichen Mutter angesiedelt wurde, auf ihre Erlösung durch den männlichen Helden wartet? Wird hier ein Szenario vorgeführt, das nach der rettenden Hand des starken Vaters verlangt, der Ordnung in das inzestuöse Treiben bringt? Sieht man sich an, wie in der Aufführung Männlichkeit inszeniert wird, so fallt angesichts der thronenden Präsenz der Mutter-Hündin die leibliche Abwesenheit einer Vaterfigur auf der Bühne auf. Sie bleibt lediglich ein Objekt der Sehnsucht, die hauptsächlich aus den Textfragmenten des Chilenito Bueno hervorgeht. Seine Verehrung des chilenischen Unabhängigkeitskämpfers und „Vaters des Vaterlandes", Bemardo O'Higgins, nimmt regelrecht zwanghaften Charakter an, 27

Taylor, „Performing Gender", S. 285.

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wenn er die Gemeinsamkeiten, die er mit ihm zu teilen meint, ständig wiederholt: beide waren unehelich geboren, Bastarde, beide haben sich an einem Mord vergangen, O'Higgins am Selbstmord, El Chilenito am Mord an Frau und Kindern. Der Wunsch nach Identifikation unterminiert aber zugleich das Idealbild des väterlichen Unabhängigkeitskämpfers, wie es in den chilenischen Geschichtsbüchern gezeigt wird, wo diese unerwünschten Aspekte der Vergangenheit von O'Higgins unerwähnt bleiben. Führt man die Analogie von starker, heldenhafter Vaterfigur und idealisiertem Nationalstaat, wie sie von der Aufführung suggeriert wird, fort, dann müßte die Dekonstruktion des Helden, wie sie durch die Figur des Chilenito Bueno geleistet wird, gleichzeitig die Entlarvung der Hypokrisie der offiziellen Konstruktion des chilenischen Nationalstaates bedeuten. Will die Auffuhrung damit nahelegen, daß die Misere des Nationalstaates mit dem Fehlen des starken Vaters zu erklären oder unmittelbar mit ihm verbunden ist? Auch die anderen männlichen Figuren, die auftreten, entsprechen in keiner Weise dem konventionellen Vaterbild, geschweige denn einem heroischen Ideal: weder der Vater, der ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Tochter hat, sie vergewaltigt und schwängert; noch der Vater des Boxers, der einen Sohn nach dem anderen in die Welt setzt, um sie verwahrlosen zu lassen. Der Vater: untauglich oder abwesend, die Mutter: eine mythische Hündin. Steht Ödipus im heutigen Chile immer noch vor dem Rätsel der Sphinx? Zerstörte Körper - zerstückelt, ermordet, verschwunden, angetastet in ihrer menschlichen Integrität; eingeschlossen, abgesondert. Anwesend in Form von testimonios, deren Träger die Körper der Schauspieler sind: Materialisierung einer Erinnerung, für die es keine Worte gibt. Oder gelten die testimonios als Zeugnisse gesellschaftlicher Befindlichkeit jenseits der idealisierten Konstruktion? Wenn es sich bei dieser Aufführung der Theatergruppe La Memoria um ein Zeugnis gesellschaftlicher Befindlichkeit handelt, dann ist von einer Gesellschaft die Rede, in der das Inzestverbot nicht in Kraft gesetzt worden ist, von einer Gesellschaft, die ihren Ursprung im ödipalen Drama sucht, noch bevor Freud dies für die bürgerliche Familienstruktur geltend machen konnte. Sollte es also sein können, daß die „Geschichte des Blutes" ein Klagelied auf den vermißten Vater und die Allmacht der Mutter anstimmt? Oder ist Historia de la sangre vielmehr als performativer Gegenangriff auf die Inszenierung des ödipalen Dramas unter der Militärherrschaft zu verstehen, indem sie Themen, Figuren und Stilmittel auf die Bühne bringt, die in diesem Drama verschwiegen werden, überdeckt vom großen Schweigen und schließlich Vergessen?

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Angesichts der komplexen Struktur und des provozierenden Gestus der Aufführung wäre eine positive Antwort auf die erste suggestive Frage zu eindimensional und melodramatisch. Sie würde der Theatergruppe unterstellen, mit der Anwendung des Ödipus-Modells eine Meta-Erzählung zu reproduzieren, die in ihrer geschlossenen Form nur bedingt auf die heterogenen Gesellschaftstrukturen anwendbar ist, welche für die lateinamerikanischen Länder kennzeichnend sind. Viel näher liegt die Vermutung, daß gerade die Problematisierung der Auferlegung dieses Modells wie ein unterschwelliges Leitmotiv (quasi als „versteckter Kreislauf der Aufführung) in die gesamte Inszenierung eingewoben ist. Denn Historia de la sangre unterläuft in jeder Beziehung die Kohärenz des ödipalen Dramas, wie sie zur Legitimation der Militärdiktatur konstruiert wurde. Die Aufführung verweigert nicht nur die kathartische (erlösende) Wirkung, die das Drama der Militärs mit dem Versprechen der Rettung scheinbar bereithält, sondern schreibt den Hauptfiguren des Dramas auch keine eindeutige Identität zu. Geschlechterstereotypen, die in den militärischen Diskursen festgelegt wurden, sind für die Theatermacher Anlaß zur Dekonstruktion. Die männlichen Figuren sind nicht heldisch, die weiblichen Figuren weder bedrohlich noch rein konstruiert, vielmehr entziehen sie sich, wie oben bereits erläutert wurde, jeder Identifikation. Vater- und Mutterkonstruktionen stehen nicht zur Verfügung, um die Geschichte linear zu strukturieren, denn der Vater ist abwesend und die Mutter tot. Geblieben ist sie als Stimme und als mythische Figur, die voller Ambivalenzen ist und deren wesentliche Eigenschaft darin besteht, weder dem typischen Ideal noch dem Feinbild der Mutter zu entsprechen. Die Militärdiktatur inszenierte das ödipale Drama, um zu verschleiern, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die sie einklagte, mit äußerster, brutaler Gewalt erzwungen wurde. Sie reaktivierte daher die Struktur dieses Dramas nach den Geboten der bürgerlichen Familie: Begehre deine Mutter nicht (in Analogie zum Schmutz der Gesellschaft), und ehre deinen Vater (in Analogie zum starken Staat). Diese Struktur wird von der Theatergruppe La Memoria mit ihrer Aufführung unterlaufen. Sie spielt vielmehr die Rolle des „Revolutionärs" im Sinne des „Anti-Ödipus". Schließlich ist „(...) der Revolutionär (...) der erste, dem es gegeben ist zu sagen: Ödipus, kenne ich nicht - denn die abgetrennten Stücke bleiben an allen Ecken des historisch-gesellschaftlichen Feldes, das einem Schlachtfeld und keiner bürgerlichen Theateraufführung gleicht, kleben."28 Historia de la sangre zitiert das ödipale Drama an, um es in Stücke zu schneiden. In den einzelnen Figuren sind nur Teile der psychoanalytischen Ödipuser-

28

Deleuze, G.; Guattari, F.. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M. 1992, S. 125.

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Zählung thematisiert (so wie Inzest, Kastration), als schlüssige Figur oder Schlüsselmotiv bleibt Ödipus selbst tatsächlich unbekannt. Ebenso ist es um die mütterliche und die väterliche Position bestellt: „(...) nur als Stücke existieren Vater und Mutter, und sie organisieren sich weder in einer Figur noch in einer Struktur, die beide in der Lage wären, das Unbewußte zu repräsentieren, vielmehr zerbrechen jene stets in Fragmente ..."29 Dieses Anliegen wird am genauesten in dem Bild des zerstückelten Körpers von Aguila, aus dessen abgetrennten Teilen das Blut in den großen Strom Santiagos, den Mapocho fließt, erfaßt. Das Bild dient als große metaphorische Umklammerung für den Versuch der Theatergruppe, die kollektive Erinnerung an das Unausgesprochene der Geschichte, an das gemeinsame Unbewußte zu problematisieren. Durch die Fragmentierungen der Klang- und Körperbilder, die die Ästhetik der Auffuhrung bestimmen und den Gestus der Zerstückelung auf der Ebene der Zeichen wiederholen, gibt sich die Unrepräsentierbarkeit der Erinnerung zu erkennen. Damit wird gleichzeitig die Unmöglichkeit eines eindeutigen Ursprungs konstatiert. Am Ende kehrt sich denn auch der Wunsch nach dem väterlichen Ahnen der Nation, wie er in der Figur des Chilenito Bueno thematisiert wird, gar in sein Gegenteil. Der letzte Teil dessen „Geständnisses" lautet, diesmal sogar im Diktus den (vertraulichen) Charakter eines Geständnisses hervorrufend: Ich will das Leben ändern, wissen Sie. Mein Papi sagte mir, ich würde glücklich werden, wissen Sie. Ich will mich nicht mehr an den Vater des Vaterlandes erinnern, wissen Sie. Weil ich seinetwegen, weil ich sehr viel gelitten habe, wissen Sie, sehr viel, sehr viel. (K.R.) Da die Erinnerung an den Ursprung (der Nation, der Identität, der Herkunft im Sinne des reinen Blutes) nicht möglich ist, kann es auch kein Ende geben. Im Gegensatz zur ödipalen Logik der Erzählung vom reinen Ursprung und dem väterlichen Helden, die für die idealisierenden nationalstaatlichen Diskurse als Rechtfertigung dient, setzt Historia de la sangre keinen Anfang und auch kein Ende. Vielmehr persifliert sie das happy end, das dem demagogischen Mythos, den die Militäijunta konstruiert, inhärent ist. Eines der letzten Bilder der Aufführung zeigt die drei männlichen Figuren El Chilenito Bueno, La Gran Bestia und El Boxeador dicht nebeneinander frontal zum Publikum aufgestellt. Sie drehen sich ruckartig, in der Art eines Fersehballetts, nach rechts, dann dann links, während sie sich mit pantomimischen synchronen Bewegungen das Gesicht pu29

Deleuze; Guattari. Anti-Ödipus, 125.

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dem und es anschließend zu einer lachenden Grimasse verziehen. Diese Sequenz wiederholt sich mehere Male. Gleichzeitig sprechen die Figuren im Chor: Merken Sie mir an, daß ich was habe? Man merkt mir nichts an. Man merkt, daß ich was habe, weiter nichts. Jetzt bin ich glücklich, glücklich, glücklich, weil ich nicht(s) habe. (K.R.)30 Danach folgt ein sentimental klingendes Lied, das alle Figuren gemeinsam singen und mit grotesken Bewegungen, als schwebten sie in den Wolken, begleiten. Rosa Faündez, die während der ganzen Vorstellung ihren Platz innerhalb der bereits erwähnten Plastiksäule nicht verlassen hat, spricht durch das Mikrophon, gekleidet in ein graues Kostüm, als säße sie auf der Anklagebank vor Gericht, ihr oben bereits zitiertes Geständnis: Da war der Körper von Aguila, auf dem Wachstischtuch, zerteilt in grauenvoll tote Stücke. Sein Rumpf, seine Beine, sein Schä, sein de, sein 1. (...). Danach folgen die Worte, mit denen die Auffuhrung ausklingt, gesprochen von der Chica del Peral, leise wiederholt von Rosa Faündez: Etcetera, etcetera...

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Im spanischen Originaltext ist der Ausdruck „que t e n g o T doppeldeutig als Form des Besitzes (haben) und der Befindlichkeit (etwa wie „hast du w a s ? ' ) zu verstehen. Diese Doppeldeutigkeit kann in der deutschen Übersetzung nur bedingt wiedergegeben werden.

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Teatro La Memoria: Historia de la sangre (El Boxeador)

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Teatro La Memoria: Historia de la sangre (El Sodomita)

Teatro La Memoria: Historia de la sangre (Rosa Faúndez)

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Literatur Castro, Alfredo: La puesta en cuerpo. Unveröff. Manuskript. Castro, A.; Lombardi, F.: La Historia de la sangre. Unveröff. Manuskript. Deleuze, Gilles; Guattari, F.: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers, von Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1992 (6. Aufl.). Grant, Michael; Hazel, J.: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Übers, von Holger Fließbach, München 1986 (4. Aufl.). Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Übers, von Raul ff, U. ; Seitter, W„ Frankfurt a.M. 1983. Franco, Jean: „Reinhabiting the Private." In: Yudice, George; Franco, J.; Flores, J.: On Edge, Minnesota 1992. Kaminsky, Amy: Reading the Body Politic. Minnesota 1993. Lagos de Kassai, Soledad: „Imagen en gestualidad - La búsqueda de una nueva estética." In: Teatro del Sur 1 (1994), S. 31-42. Lagos de Kassai, Soledad: „Teatro La Memoria. Hacia una poética de la marginalidad en el teatro chileno de los 90." Unveröff. Vortrag 1996. Richard, Nelly: Masculino/Femenino. ca. Santiago de Chile 1993.

Prácticas de la diferencia y cultura

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Paz, Octavio: Das Labyrinth der Einsamkeit. Übers, von Carl Heupel, Frankfurt a.M. 1990 (9. Aufl.). Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Übers, von Hugo Seinfeld. Reinbek bei Hamburg 1984 (Neuausgabe). Rowe, William: „La crítica cultural: problemas y perspectivas." In: Nuevo Texto Crítico 14-15 (1994) S. 37-47. Taylor, Diana: „Performing Gender: Las Madres de la Plaza de Mayo." In: Taylor, D.; Villegas, J.: Negotiating Performance, Duke University 1994, S. 275-305. Viñas, David: Indios, ejército y frontera. Mexiko 1982.

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Gedächtnis und Ethik des Körpers Gesprächsausschnitt Gesprächsleitung: Jorge Dubatti (Argentinien), Hedda Kage (Deutschland) Teilnehmer/innen: Alfredo Castro (Chile), Eduardo Pavlovsky (Argentinien), Alexander Stillmark (Deutschland), Laura Yusem (Argentinien).

H e d d a K a g e : Was heißt für euch Erinnerung? A l f r e d o C a s t r o (liest folgenden von ihm verfaßten Text): Der Körper ist Spektakel, Fiktion, Fälschung. Das Theater ist eine unaufhörliche Suche des Körpers nach der Darstellung dessen, was dem Bereich des Nicht-Körperlichen angehört: die Anrufung des Vergangenen, der Zeitfluß, die Erinnerung, das Gedächtnis, die Geschichte, die Biographie, um den Bildern einen Ort zu geben. Der Körper des Schauspielers ist ein Ort, ein Ort des Zeigens, an dessen Oberfläche die Verwirrung und der Wahnsinn dramatisiert werden. Die Organe werden in ihren Funktionen nicht als das Eine, sondern als das Viele, das Unzusammenhängende, das Verschiedenartige, das Plurale gezeigt. Ein Puzzle-Körper, ein Montage-Körper, der sich genau in das einschreibt, was dem Körper fehlt, den Raum. Es gibt im Schauspieler nicht, wie allgemein angenommen, einen Austausch von Außen und Innen. Er wird nicht von den Geistern der „Anderen" in Besitz genommen, die einen Körper suchen, um in ihm Fleisch zu werden. In Wirklichkeit sind sie, die Schauspieler, von sich selbst besessen. Man muß nur näher hinschauen, wenn die Schauspieler in ihrem Geruch arbeiten und ihre Körper über sie klagen, sie klagen, sie knarren, sie wollen nicht, daß ein anderer in sie eindringt und doch können sie dem Körper nicht entfliehen. Ein Körper ist eine von einer Oberfläche begrenzte Wirklichkeit, deren größte Tiefe die Haut ist. Alle Wirklichkeit ist körperlich, und das Körperliche bietet in der Auffuhrung diese Wirklichkeit dar. Der Körper ist nicht abhängig von unserer Einbildungskraft, er existiert durch sich selbst. Bergson sagt treffend: „Man kennt ihn von außen durch die Wahrnehmungen und von innen durch die Affekte." Das ist der Körper. In gewisser Weise machen wir Theater als Körperinszenierung. Die Schauspieler setzen sich den Dämonen und Gei-

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stem aus und landen mit ihren Nerven und ihren Knochen auf dem Bühnenboden. Diese Chaoten kennen den Paroxysmus des Wahnsinns und der Verzweiflung genauso wie den Genuß, die Schönheit, die Poesie und den Irrsinn des Bildes. Diese fleischgewordenen Schauspielmaschinen erteilen eine Lektion, die in aller Deutlichkeit verstanden werden muß. Alle Freude ist flüchtig, alles Fleisch sterblich. Auf der Bühne wird der Körper zum Ort des Dramas, er ist das große Spektakel. Die Schauspieler präsentieren sich dem Publikum, herausgeputzt in ihren besten Anzügen wie für eine Beerdigung, prachtvoll, bereit zu Schrecken und Lust, auf der Suche nach dem Körperkontakt, nach dem fleischgewordenen Trugbild. In diesem öffentlich geschundenen Körper will Artaud die Lider im Takt mit den Ellbogen, den Kniegelenken, den Schenkelknochen und den Zehen tanzen lassen. Und es soll für alle sichtbar sein. Mit ihrem Körper schreiben sich die Schauspieler wie Hieroglyphen in Raum und Zeit ein. Die größte Verletzung, die ein Körper erleiden kann, ist der Blick des Anderen. Ich möchte mit einem Satz von Artaud schließen, der mich zutiefst bewegt, denn ich fühle, daß er in Einklang mit unserer Arbeit steht: „Die einzige Revolution ist der wiederhergestellte Körper, der Körper, der ohne Organe wieder entsteht, denn Organe sind nicht unschuldig." Wir arbeiten mit sogenannten testimonios, authentischen Berichten, die dem wirklichen Leben entstammen, denn der Konflikt, der zwischen Fiktion und Wirklichkeit entsteht, interessiert uns zutiefst. Dabei verlieren wir nicht die Diskussion aus dem Blick, die über die Quellen des Theaters stattgefunden hat. Uns interessiert diese Problematik, der Konflikt, der entsteht, wenn ein der Wirklichkeit entnommener Text inszeniert wird. Auf der körperlichen Ebene arbeiten die Schauspieler mit dem Abfall dieser Sprache, d.h. mit ihrem Mehrwert, dem Überschuß der Worte und dieser Wirklichkeit. Laura Yusem: Was mein chilenischer Kollege gerade vorgelesen hat, finde ich hervorragend. Ich stimme völlig mit ihm Uberein, auch wenn er sicherlich ganz anders arbeitet als ich. Aber als Reflexionsgrundlage und Ansatz erscheinen mir seine Überlegungen vollkommen zutreffend. Die Grundlage und Arbeitshypothese für die Inszenierung von Pablo war, daß die Schauspieler keine Erinnerung mehr an die Handlungen hatten, die sie darstellen sollten. Die Inszenierung basierte auf einer schmerzlichen, tastenden, sich ständig wiederholenden und von Zweifeln begleiteten Rekonstruktion dieser Handlungen. Es ging um ganz einfache Handlungen, z.B. das Binden von Schnürsenkeln, das Öffnen eines Koffers, das Ausbreiten einer Decke über einem Bett, den Vollzug eines Liebesakts. Die

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Schauspieler erinnerten sich nicht einmal daran, wie man miteinander schläft. Ein Paar versuchte es und erinnerte sich an nichts mehr; am Ende hatten sie sich gänzlich in ihren Kleidern verwickelt. Das gleiche geschah mit ihren Beziehungen. Sie wußten nicht mehr, warum sie sich kannten, wie sie sich kennengelernt hatten, wer sie waren. Wir inszenierten den Text ausgehend von diesem Umgang mit dem szenischen Moment. Trotz allem Schrecklichen war es eine Inszenierung mit viel Humor.

Jorge Dubatti: Eduardo Pavlosky, an einer Stelle von Potestad sprichst du über die Besessenheit und die Formen, diesem Beziehungsgeflecht ist selt". Ich möchte Dich bitten, Körper auf der Bühne näher zu

die die Körper annehmen, und sagst: „In das Körpersystem der Familie verschlüsdie Beziehung zwischen Gedächtnis und erläutern.

E d u a r d o P a v l o v s k y : Ich kann nicht über dieses Thema reden, ohne meine Theaterkonzeption heranzuziehen, die keine deutsche, sondern eine argentinische ist. Sie ist anders. Mich erstaunt, daß meine Stücke Paso de dos und Potestad, die in Deutschland aufgeführt worden sind, im allgemeinen von den Deutschen kritisiert wurden, allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen. Einmal, weil es darin um Frauen geht, ein andermal, weil es von der Folter handelt, allerdings mit den Mitteln der Übertreibung. Andererseits bin ich wirklich geschmeichelt, denn ich fühle mich heute wie Samuel Beckett. Nirgendwo sonst wird so viel über mich geredet. So gesehen besteht eine Ambivalenz zwischen der Kritik, dem Applaus für die Aufführung und dem Interesse, das sie geweckt hat. Anderswo habe ich diese Kritik nie erfahren, weder in Lateinamerika noch an anderen Orten, an denen ich gespielt habe. Für mich ist das Theater ein dramatischer und ein geschriebener Text. So wie ich das Theater erlebe, ist es das, was der Philosoph Deleuze als „Herrschaft der Verbindungen" bezeichnen würde, oder was Spinoza das „Handlungsvermögen des Handelns" nennt. Für mich muß der Text zunächst in Schriftform vorliegen. Danach wird er von der Gruppe erforscht. Daraus entstehen dann die Momente der Intensität, die Brüche, Risse, Zeitebenen. Und wenn der Schauspieler die Zeitebenen seines Gedächtnisses festlegt, die Geschichte seines Lebens, die soziale Geschichte, dann bricht damit auch die Einheit des Textes auf. Auch ich könnte den geschriebenen Text von Potestad vorlesen. Ich fand es hervorragend, wie der deutsche Schauspieler ihn vorbereitet und gelesen hat, denn er hat den Text wirklich vorbereitet, um ihn vorzulesen. Doch mir ist wichtig, was auf der Bühne zu sehen ist, auch wenn die Bühne zur Übertreibung neigt. Das sagte auch Trintignant, als er Potestad in Los Angeles inszenierte. Seine Inszenierung war sehr korrekt.

Hinterher bat er mich um meine Version und sagte mir dann, daß ich die Figur ganz anders sähe. Ich gab ihm folgende Antwort: Der Unterschied zu Dir und den Europäern besteht darin, daß ich auf der Bühne die ganze Zeit kurz vor dem Selbstmord stehe. Jeden Augenblick kann ich mich umbringen und den Selbstmord erreiche ich nur mit dieser Intensität. Was ist Selbstmord? Der Selbstmord ist das, was die Figur aus Verzweiflung empfindet. Wie gelangt man zu dieser Verzweiflung? Auf der Bühne, mit dem Regisseur, mit Hilfe des Körpers der Schauspielerin. Dies ist der dramatische Text. Sollte sich das Theater auf den geschriebenen Text beschränken, dann mache ich kein Theater mehr. Ich habe dieses gesunde Empfinden. Dann mache ich kein Theater mehr, so viel die Deutschen auch reden mögen. Ich mache dann kein Theater mehr, weil der geschriebene Text in seinem Verhältnis zur Gruppe vielschichtig sein muß. Wir inszenierten Paso de dos und veränderten das Bühnenbild drei Wochen vor der Premiere. Das Bühnenbild hatte als bedeutungstragendes Element eine Hauptrolle in der Inszenierung. Aber dies ist meine Sichtweise des Theaters, und ich empfehle keinem, es mir nachzumachen. Für mich ist das Theater Leben, es ist das System Spinozas, die Herrschaft der Affekte, das Handlungsvermögen, die Entgrenzung des Körpers. Wenn ich in meine eigene Geschichte vordringe, vergesse ich den Text und vergesse mich selbst. Dies ist eine annähernde Definition. Ich verstehe das Theater nicht dahingehend, daß der Autor bestimmt, was es ist. Der Autor kann eine Sinndeutung haben, so wie man einen Traum interpretiert. Wie interpretiert man einen Traum? Ein Traum ist vielfach determiniert. Was ich auf der Bühne mache, ist vielschichtig oder, mit den Worten von Umberto Eco, ein offenes Kunstwerk, die Bedeutungsvielfalt des Textes. Manche Leute mögen es sehr, andere überhaupt nicht. Darin liegt, glaube ich, der Schlüssel. Das heißt nicht, daß diejenigen, die es nicht mögen, es nicht verstehen. Es gefällt ihnen nicht, wie einem eine Frau nicht gefällt. Und wer es mag, der mag es. Ich versuche, eine Vorgehensweise zu finden. Für mich besteht diese Vorgehensweise im Theater darin, daß ich mit Laura Yusem eins wurde, als sie Paso de dos inszenierte, daß ich mit dem Ensemble eins werde und mit Hilfe meines Körpers erstaunt die Bedeutungen entdecke, die in dem Text enthalten sind. Bedeutungen, von denen ich nichts wußte, als ich den Text schrieb. Ich erläutere dies zum besseren Verständnis. Wenn ich mich hinstelle und Körperbewegungen mache, vergesse ich manchmal die Zeit, die ich auf der Bühne dafür brauche. Ich brauche länger oder kürzer, je nachdem was ich empfinde, ich erkunde es. Für mich ist das Theater eine Entdekkungsreise. Meiner Ansicht nach haben sich die hegemonialen Diskurse des Westens überlebt. Es gibt sie nicht mehr. Ich habe mir viele marxisti-

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sehe und psychoanalytische Vorträge angehört, die in der konkreten Praxis zum Scheitern verurteilt waren. Wir können nur stammeln. Jeder auf seine Weise. Allerdings sollten wir das Gestotter der anderen nicht zu scharf kritisieren, denn es ist das einzige, was wir tun können. Wir müssen bescheidener werden. Jeder inszeniert oder spielt so, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich ist. Dies ist mein Verständnis vom Theater. Der deutsche Kollege hat es neulich schon gesagt: Uns stehen nicht allzu viele Sprachen zur Verfügung, um die Wirklichkeit zu erklären, es ist ein Gestammel, eine Suche. Europa steckt in einer Depression. Es ist deprimiert über die Menschen, Uber den Bruch mit den Idealen und den Freiheitsbezügen. Und Lateinamerika stirbt vor Hunger. Dies ist unsere Position. Früher habe ich alles Europäische sehr stark idealisiert, heute immer weniger. Ich glaube, so bin ich, so mache ich Theater. Alfredo Castro: Die Frage, warum Theater gemacht wird, finde ich interessant und für uns fundamental. Zumindest beschäftigen sich die Theaterleute in meinem Land grundlegend mit der Geschichte, mit der Geschichte des Landes, mit unserer ganz persönlichen Geschichte und mit der Form, wie die Gewalt auf der Bühne gezeigt werden kann. Ich möchte mich hier nicht allein auf unsere Theatergruppe beschränken und den Eindruck erwecken, daß nur weil sie diesen Namen (Teatro La Memoria) trägt, sie die einzige Gruppe ist, die sich damit auseinandersetzt. In Chile gibt es zahlreiche Gruppen, die sich dafür interessieren. An dieser Stelle möchte ich auf die Erinnerung eingehen. Mich beschäftigt sehr, was in unseren Ländern geschieht. Im allgemeinen sind unsere Länder im Vergleich zu den europäischen Ländern sehr jung und haben eine sehr kurze und gewaltsame Geschichte. Im Grunde gleicht das, was daraus entstanden ist, einer Zusammenfassung der Geschichte: Wie sollen wir Theater machen und welches Theater? Fiktion oder Realität? Welche Geschichten sollen erzählt werden, und wie soll die Geschichte erzählt werden? In meinen Augen ist dies ein spannendes Thema. Denn uns, der Dritten Welt, bleibt meiner Ansicht nach nichts anderes übrig, als uns gewaltsam der Geschichte der Ersten Welt anzuschließen. Und dies muß schnell geschehen, wenn wir nicht untergehen wollen. Denn die Dritte Welt stirbt, wie Pavlovsky sagte, den Hungertod, ja, sie stirbt vor Hunger. Auf der anderen Seite gibt es auch die europäischen Paradigmen, die Paradigmen des europäischen Theaters, die festlegen, wie gespielt werden soll. Wer stellt diese Regeln auf, was passiert hier? Ich habe hier in Deutschland sehr viel Theater gesehen, und ich fände es spannend zu diskutieren, wie sich die deutschen Schauspieler auf der Bühne darstellen und wie die Lateinamerikaner. Ohne dies bewerten zu wollen, denn beide Seiten sind pro-

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fessionelle Schauspieler, beide versuchen, ihr Leben, ihre Leidenschaft auf die Bühne zu bringen. Sie unterscheidet offenbar, auf welche Weise diese Leidenschaft ausgelöst wird. Es handelt sich um einen kulturellen Unterschied. So wie alle Inszenierungen, die man hier in Deutschland zu sehen bekommt, das Chaos behandeln, berühren, streifen, und es darum geht, wie man das Chaos bewältigt. Der Umgang damit ist ganz anders als in Lateinamerika. Verschiedene Arten des Chaos müssen bewältigt werden. Für mich ist es eine interessante Erfahrung, deutsches Theater auf der Bühne zu sehen. Bezüglich der Diskussion, die hier über Textbzw. Nicht-Text-Theater stattfindet, fallen mir mehrere Brecht-Inszenierungen von großen Regisseuren wie Heiner Müller, Roberto Ciulli ein, die ich gesehen habe. Mich hat beeindruckt, wie hier die Brecht-Texte dekonstruiert werden. Ein dogmatischer Ansatz wird unmöglich, denn die Texte werden mit dem Ziel, in der Inszenierung einen dritten Weg zu schaffen, zerstückelt, zerstört. Dies ist nicht ausschließlich ein Merkmal der europäischen und nordamerikanischen Dramatik, sondern bei uns wird auch so gearbeitet, z.B. von Ramón Griffero und anderen chilenischen Regisseuren. Ich arbeite auch mit Brüchen, mit der Dekonstruktion. Was also ist wem zuzuschreiben? Hedda Kage: Alexander Stillmark, der mit Thomas Neumann eine so extreme Figur erarbeitet hat wie den Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt, würde ich an dieser Stelle gerne folgendes fragen: Ist Eichmann als Vergleichsbasis denkbar? Denn Kipphardt arbeitet doch auch mit dokumentarischem Material, den Prozeßakten, den Verhörakten von Eichmann. Wie kommt man als Schauspieler, in diesem Fall als deutscher Schauspieler, mit so einem Material zurecht? Alexander Stillmark hat in Chile die Produktion Historia de la sangre gesehen, der auch ein Textmaterial zugrundeliegt, das rein dokumentarisch ist. Vielleicht könntest du, Alexander, zu dem Unterschied und zu dem, was eben auch behauptet worden ist, daß der lateinamerikanische Schauspieler anders arbeite als der deutsche, aus deiner Beobachtung etwas sagen. Alexander Stillmark: Ich will versuchen, mich ganz kurz zu fassen, obwohl die Arbeit am Bruder Eichmann über zehn Jahre dauerte. Ich begann 1984 dieses Stück zu erarbeiten in einer Situation der gespaltenen Welt und eines großen antifaschistischen Schulddrucks, der angenommenerweise und realiter auf der DDR lag. Wir hatten daher eine enorme Ehrfurcht vor diesem Tondokument und waren zuerst wie erschlagen, aber etwas zog uns an. Wir merkten, da haben wir etwas gemein, wir müssen uns stellen. In der Arbeit entstand sehr schnell die Idee von dem Selbstversuch; wir

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versuchen es an uns selbst. Und zwar war das explizit dadurch ausgedrückt, daß Thomas Neumann damals 37 Jahre alt war; er war in demselben Alter wie Eichmann auf der Höhe seiner Karriere. Er war damals der jüngste Eichmann-Darsteller in Deutschland, und uns interessierte, wie kommt dieser Text in einen jungen Menschen hinein. Wir hatten eine Museumssituation gebaut, durch die es uns möglich war, in den Text einzusteigen, und Neumann war sehr vorsichtig. Er öffnete sich dem Text, ohne ihn in irgendeiner Weise zu bewerten. Ich erinnere mich noch sehr deutlich. Das erste, was er ausprobierte, war eine sehr sorgfältige, in ihrer Sorgfalt aber auch sehr unsichere Körpersprache. Aber nur so konnte er diese Sätze überhaupt sprechen. Über den Körper entstand der Text. Das war ganz augenfällig. Es wurde mit geschlossenen Knien gearbeitet: wie er auf dem Stuhl saß, wie er eine Zigarette hielt, wie er eine Geste machte, wie er sprach. Die Sprache kam dazwischen, es gab viele Zwischenräume, und der einzige Halt, den er bei diesem Selbstversuch hatte, war sein eigener Körper, durch den er diese Sprache hereinließ. Und für mich war faszinierend, wie er sich mehr und mehr diesem EichmannText öffnete. Es wurde immer schwerer, diesem Eichmann zu widersprechen, weil der Mann in vielem recht hatte. Das beängstigte uns und war gleichzeitig genau das, was uns interessierte: Warum hat der Mann so verdammt recht? Wir konnten uns kaum dagegen wehren. Im Spiel selber wurde die Körpersprache immer sicherer, und sie wuchs langsam zu einer Maske, zur Maske des funktionalen Menschen. Neumann wurde immer präziser, immer sicherer, er konnte immer lebensfähiger in dieser Körpersprache agieren, am Ende war er voll da: als er mit Zaratius über eine mögliche Rückkehr nach Deutschland spricht usw. Er bekam richtig Leben und es wurde immer schwerer, sich seiner zu erwehren. Neumann ging jeder einzelnen Verunsicherung nach, und daraus entstand diese Lebensfähigkeit, es wurde ein modernes Geplapper von uns. Ich sah in Chile das Theater der Gruppe Teatro La Memoria. Ich habe die Aufführung unvorbereitet gesehen. Ich saß mit sehr vielen jungen Leuten im Saal, und was mich überraschte und beeindruckte, war diese enorme Freisetzung von Energie, die bei diesem Spiel stattfand, einer Energie, die ich nicht zu deuten wußte, die mich aber erreichte und irgendetwas mit mir machte: Ich wußte nur nicht genau was. Ich sah, daß die jungen Leute genauso ergriffen, angerührt und gepackt waren. Mich faszinierten die Spieler, wie sie das machten, wie sie etwas nicht Sagbares plötzlich zum Leben brachten, etwas mitteilten. Die Reaktion der jungen Leute war frappierend. Sie sagten, ja, das ist genau unsere Sprache. Das sind wir, das ist das chilenische Stück. Sie haben darin gelesen wie in einem

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offenen Buch, sie fanden sich darin wieder. Es hat mich so erstaunt, daß die Sprache des Unbewußten plötzlich über alle Sprachen des Argumentativen hinweg eine solche Klarheit und Größe bekommt.

Eduardo Pavlovsky: Ist Eichmann derselbe Nazi, an den ich denke? Geht es um die Probleme, die es einem Schauspieler ideologisch bereiten könnte, sich in das Leben eines Folterers hineinzudenken, in eine Person, die politisch auf der entgegengesetzten Seite steht? Ich bin Spezialist für Folterknechte, für Kindesentführer, und im Film spiele ich immer den Rechtsextremen. Ich bin bekannt dafür, daß ich den Rechten spiele. Wichtig bei Deleuze erscheint mir, daß er sagt, daß die Person, die zum Folterer wird, sich in die „Logik der Affekte" begeben muß. Der bösartigste Folterer hat eine Logik. Diese Logik kann, wenn man ihn spielen will, nicht in Frage gestellt werden, der Schauspieler muß sie begreifen. Zunächst sträubt man sich etwas dagegen, aber dann versteht man die Logik. Wenn man diese Logik als Schauspieler begreift, dann wird man Aspekte dieser Logik lieben können, und das heißt dann Logik der Affekte. Wie sieht die Welt eines Folterers aus, wie denkt er, wie fühlt er, wie ist seine Familie? Diese Annäherung muß der Schauspieler, nicht die Kritik vollziehen. An dieser Stelle wird es spannend, denn in bestimmten Augenblicken fühlt man wie der Feind. Das ist das große Mysterium des Theaters.

Heiner Müller in Lateinamerika

Daniel Veronese und Dieter Welke La Máquina Hamlet vom Teatro £1 Periférico de Objetos Moderation: Francisco Javier. Teilnehmer: Daniel Veronese, Dieter Welke

Zur Erläuterung des Projekts Die Mitglieder der Gruppe Teatro El Periferico de Objetos1 kommen aus dem Marionettenensemble des Teatro Municipal General San Martin in Buenos Aires. 1989 gründeten sie über diese Arbeit hinaus ihre eigene Kompanie Teatro El Periferico de Objetos und stellten ihre erste Produktion König Ubu von Alfred Jarry (Regie Emilio Garcia Wehbi) vor. Wehbi und Daniel Veronese schreiben eigene Bühnentexte und inszenieren sie mit dem Ensemble. Kennzeichnend für die Stücke des Teatro El Periferico de Objetos sind die Anlehnungen an literarische Vorlagen und für die Inszenierungen das Zusammenspiel von Schauspielern und Figuren sowie Objekten unterschiedlicher Größe. Mit dem Namen, den die Mitglieder von Teatro El Periferico de Objetos ihrer Gruppe gaben, beziehen sie sich auf die Randstellung, die sie im ästhetischen, ideologischen und sozialen Kontext des argentinischen Theaters einnehmen. Auf der Basis innovativer Techniken der Manipulation und Interpretation erforscht die Gruppe seit ihren Anfängen die Beziehung zwischen Objekt und Spieler. Mit Variaciones sobre B. ... brach die Gruppe mit dem traditionellen Marionettentheater. Die Objekte erwachten zum Leben, die Einheit zwischen Spieler und Objekt wurde aufgebrochen. Die Puppen erreichten menschliche 1

Die bisherigen Produktionen der Gruppe: 1989: Ubu Rey von Alfred Jarry; 1990: Variaciones sobre B. ... von Daniel Veronese nach Motiven von Samuel Beckett; 1992: El hombre de arena von Daniel Veronese und Emilio Garcia Wehbi nach E.T.A. Hoffmann: 1994: Cámara Gesell von Daniel Veronese; 1995: Máquina Hamlet von Heiner Mililer; 1996: Circonegro von Daniel Veronese.

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Dimensionen. Die Figurenspieler übernahmen eine eigenständige Rolle, was bisher in diesem Genre noch nicht vorgekommen war. „In unserem Theater sind die Puppen die Protagonisten", sagt das Ensemble. La Máquina Hamlet ist die fünfte Produktion von El Periférico de Objetos. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts arbeitete die Gruppe sechs Wochen mit dem deutschen Dramaturgen Dieter Welke zusammen. Gemeinsam entwickelten sie eine Bühnenfassung, die dem Originaltext treu bleibt und darüber hinaus den argentinischen Kontext miteinbezieht. Der Text wird über Lautsprecher in die Produktion eingesprochen. In der Dissoziation von Text und Spiel lassen die Figuren und Schauspieler eindrucksvolle und beängstigende Szenarien entstehen, die der Hamletmaschine neue Dimensionen eröffnen und überraschende Anspielungen einblenden. Ein komplexer, mehrfach gebrochener Spiegel unserer Gesellschaft wird entworfen, der sowohl Assoziationen an die Militärdiktatur in Argentinien als auch an die deutsche Geschichte freisetzt. Die Figuren werden geschlagen und gequält, erniedrigt, ermordet... Die Ensemblemitglieder entwickeln das offene Spiel so weit, daß die Beziehung von Spieler und Figur die Grenzen von Manipulation und Manipulator, von Opfer und Täter auslöscht und die Schauspieler selbst zu Puppen in einer entfremdeten Welt werden.2 Daniel Veronese: In Variaciones sobre B. ... - der ersten Annäherung an unsere Ästhe-tik - verwendeten wir ein sehr einfaches Element, das sich jedoch in der dramatischen Umsetzung als besonders wirkungsvoll erwies: Es gelang uns, die Körperlichkeit des Puppenspielers mit der Körperlichkeit des Objektes zu verschmelzen. Der Schauspieler, der die Objekte bewegte, verlagerte seine Energie auf das Objekt, das sich 30 oder 40 Zentimeter über, neben oder vor ihm befand, aber immer außerhalb seines Körpers. Unsere folgende Arbeit (Cámara Gesell) war auf den Ort ausgerichtet, an dem diese zwei körperlichen Räume aufeinandertrafen. So wurde der Puppenspieler als ein auf der Bühne latent vorhandener Schauspieler eingesetzt. Dadurch eröffnete sich, zumindest für uns, ein Bereich der gestischen Kommunikation, der völlig neu war. Die Aufführung bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil bewegte ein Puppenspieler, der vom Publikum gesehen werden konnte und Teil der Szene war, sein Objekt, eine von uns angefertigte Puppe. Es ist die letzte Puppe, die wir selbst angefertigt haben. Sie war etwa 40 Zentimeter groß und wurde auf einem Tisch bewegt. Wir probierten in dieser ersten Arbeit die Möglichkeit aus, eine Situation zu schaffen, in der das Objekt bewegt wurde, ohne dies zu 2

Für die Zusammenstellung der Informationen Uber Teatro El Perifirico de Objetos danken wir insbesondere der Agentin der Gruppe, Maria Zagar, Alba Kulturaktionen, Köln.

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verbergen. Der Spieler und die Puppe waren durch nichts getrennt. Die Puppe wurde am Kopf gehalten und ihre Hände von den Händen des Puppenspielers, der keine Handschuhe trug. Wir versuchten auf diese Weise, den Zauber des Verborgenen zu brechen. Mit Hilfe von Dissoziationstechniken, die nicht nur mechanischer Art waren, sondern auch dramatischen und emotionalen Charakter hatten, erzeugten wir einen ganz speziellen Eindruck: Die Zuschauer sahen ein Objekt in Bewegung, gleichzeitig aber die Mörder, die es verfolgten und die Experimente, die sie mit ihm machten. Sie nahmen es dadurch nicht als ein Objekt wahr, das von einem Puppenspieler geführt wurde, sondern als Opfer und dessen Verfolger. Im zweiten Teil der Aufführung zeigten wir eine Art „peripheren Blickwinkel", d.h. einen Blick von außen auf das Leben. Einige Puppenspieler bespielten ein kleines Marionettentheater, ohne jedoch sehen zu können, was sie dort spielten, weil sie ein Tuch vor die Augen gebunden hatten. Es war ein Weg, die Einsatzmöglichkeit von Erzählorten zu erproben, die ich als „periphere Orte" bezeichne, Orte, die uns erlauben, für kurze Augenblicke untergründige Bereiche zu erforschen. Nicht so sehr das Bild und sein Inhalt waren in diesen Momenten von Bedeutung, sondern die Herangehensweise, durch die diese Ästhetik erst möglich wurde. Nach Cámara Gesell versuchten wir verschiedene Elemente zusammenzuführen, die aus dieser „peripheren" Arbeitsweise hervorgegangen und zu einer Art Code in den Gesprächen der Gruppe geworden waren. Wir benutzen ein bestimmtes Vokabular, das Außenstehenden ungewöhnlich erscheinen mag, jedoch Teil unserer künstlerischen Konzeption ist. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit. Wir beschlossen, einen klassischen Text zu suchen, der uns auf irgendeine Weise ermöglichte, unser „peripheres Alphabet" in Bilder umzusetzen. Wir wollten mit einem klassischen Text arbeiten, damit das Publikum aufgrund der schon vorhandenen Kenntnis der Geschichte in einen Dialog mit unserem Alphabet treten konnte. Natürlich dachten wir zuerst an Shakespeare, an Hamlet, wir kamen immer wieder auf diese Idee zurück und sahen uns unterschiedliche //am/er-Versionen an. Aber nie stellte uns das Ausgangsmaterial zufrieden, denn es sollte so beschaffen sein, daß wir es neu formen und gestalten konnten; bis schließlich Die Hamletmaschine in unsere Hände gelangte. Ich hatte schon seit langem eine Fassung von Die Hamletmaschine zu Hause liegen, kannte das Stück und fand es sehr düster. Meine erste Begegnung mit dem Text war eher negativ, er stieß mich ab. Irgendwie zog er mich auch an, die Abwehr gegen ihn überwog jedoch. Ich hatte ihn sogar gelesen, bevor es El Periférico de Objetos

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überhaupt gab. Sechs Jahre nach der ersten Begegnung mit dem Text las ich ihn wieder und fand Affinitäten, die vorher nicht da waren. Ich gab das Material an die Gruppe weiter. Wir stellten fest, daß es den „peripheren Text", den wir über einen Klassiker erarbeiten wollten, schon gab, daß Müller ihn geschrieben hatte. Aufgrund der anfänglichen Schwierigkeiten, die uns den direkten Zugang zu dem Text verwehrten, nahmen wir Kontakt mit dem Goethe-Institut auf. Das Goethe-Institut schlug uns die Zusammenarbeit mit einem deutschen Dramaturgen vor, und so entstand der Kontakt zu Dieter Welke. Dafür bin ich dem GoetheInstitut sehr dankbar, alle Mitglieder von El Periférico de Objetos werden dafür ewig dankbar sein, denn es war für uns eine außergewöhnliche Erfahrung. Wir haben Dieter Welke in unser Herz geschlossen und schätzen ihn als einen Künstler und Intellektuellen unserer Zeit. Dieter Welke: Eines der grundlegenden Themen, über die wir im Stück von Müller gearbeitet haben, ist die Zerstörung des Theaters. Warum nun diese Zerstörung des theatralischen Raums und warum die Zerstörung des Theaters? Sie ist das eigentliche Anliegen von Hamletmaschine, denn ausgehend von Shakespeares Hamlet-Drama behandelt das Stück den Einbruch der Geschichte in das Theater. Aus diesem Grund reproduzieren wir in der ersten Szene z.B. die Zerstörung des theatralischen Raums mit Hilfe der „Geschichtsmaschine". Müller hebt hervor, daß wir eine historische Situation leben, in der die Geschichte an sich stärker ist als das Theater, denn wir befinden uns an einem Punkt, an dem sich die unauflösbaren Gegensätze so extrem zugespitzt haben, daß die einzige Möglichkeit, Wirklichkeit darzustellen, laut Müller in ihrer Fragmentierung liegt. Daher spielt die Ästhetik der Fragmente, die Ästhetik der Zerstörung eine wichtige Rolle. Mit der Gruppe El Periférico de Objetos konnte ich sie viel radikaler umsetzen als in Europa. Dafür werde ich ihnen immer dankbar sein, denn für mich war dies eine der glücklichsten Begebenheiten, gerade weil es eine Suche war, von der wir nicht genau wußten, wohin sie uns führen würde. Bei diesem Text von Müller kann man nicht wissen, wohin man gelangt, denn in ihm, der selbst ein aus HamletProben entstandener Arbeitstext ist, wird definiert, was Theater in einer solchen Situation bedeutet. Das Theater definiert und erschafft sich selbst in dem Text und demonstriert gleichzeitig seine geschichtliche Unmöglichkeit. Diese Situation, die wir meiner Meinung nach am Jahrhundertende erleben, geht in ihrer ganzen Radikalität - ich bedauere, dies sagen zu müssen - weder in die Köpfe der deutschen Theatermacher noch in die des Publikums. Immer wird vom Spielplan geredet. Ich war dafür lange Zeit in einem großen Haus in Deutschland zuständig. Immer ist von der

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Ausgewogenheit des Spielplans die Rede, aber in unausgewogenen Zeiten gibt es keine ausgewogenen Spielpläne, und es kann sie nicht geben, wenn uns das Theater etwas zu sagen haben will. Ich kämpfte dafür, war jedoch in der Minderheit. Als ich Deutschland verließ, nahm ich einen sehr europäisch konnotierten und von der europäischen Geschichte ungeheuer belasteten Text mit, der den Fall des Stalinismus vor dem Stalinismus beschreibt. Aber selbst das Gespenst von Stalin ist in diesem Text austauschbar; es könnte genausogut die Deutsche Bank sein, ein amerikanischer Diktator, eine Militärjunta. Wir leisteten sehr eingehende Vorarbeit, wir diskutierten viel und suchten besonders nach verschiedenen Sinnebenen, denn nach der ersten Lektüre dachte die Gruppe, der Text sei hermetisch. Er ist aber nicht hermetisch, sondern es handelt sich um einen höchst präzisen und dichten Text. Diese Verdichtung macht ihn schwierig. Er ist aber nicht schwierig, weil er in sich schwierig sein will, sondern weil das, was er behandelt, schwierig ist. Man muß sich auf diesen schwierigen Gegenstand des Textes einlassen und von dort aus eine Form finden. Ich hatte ziemliche Angst vor dem Text, weil wir vor ihm soviel Respekt haben, viele Inszenierungen gescheitert und nur wenige wirklich gelungen sind. Wir waren uns von Anfang an über einen Punkt einig: Wir wollten die Bilder des Textes nicht als solche darstellen, sondern unsere Grundidee lag im Gegenteil in der Verzerrung des Textes, des Schauspiels bzw. der szenischen Form. Diese Verzerrung ist das Thema der Hamletmaschine. Der Weg, den Bob Wilson in seiner Inszenierung eingeschlagen hatte, beinhaltete dies zwar auch, aber wir suchten nach einem anderen Weg als er. Mit Hilfe der Verzerrung stellten wir nicht die Bilder des Textes dar, sondern zeigten andere. Die Bilder Müllers sind europäische Bilder, die weder mich noch die Gruppe interessierten. Wir suchten einen anderen Weg. Die Puppen, von der jede einzelne eine Geschichte hat, haben uns viel dabei geholfen. Für mich sind es Personen, wie z.B. La Vocha, die mit mir spricht und über die ich mir tausend Geschichten ausdenken kann. Aber ich erfinde diese Geschichten nicht, sondern die Puppe erzählt sie mir. Dies ist die außergewöhnliche Erfahrung, die ich machte. Um anfangs in die Struktur des Stückes hineinzukommen, verbanden wir den Müller-Text mit dem Shakespeare-Text so, daß der HamletSchauspieler in der ersten Szene ein mögliches Ende der HamletTragödie beschwört, das nicht mehr Shakespeares Ende ist. Dieser

Schluß scheitert. Er bleibt mit schlechtem Gewissen zurück. Seine Haltung ist von Anfang an falsch, er hat sich geirrt, denn hinter ihm stehen die Ruinen Europas. Diesen Teil, in dem der Geist erscheint und in dem an die Tragödie Hamlets und sein Ende erinnert wird, haben wir wiederum direkt mit Szenen aus Shakespeares Hamlet verbunden. Die Szenen, die mit Puppen gespielt werden, sind die Szenen des dritten Akts, die Schauspieler-Episode. Also spielten wir Schauspieler. Außerdem gibt es in dem Shakespeare-Text eine Art dumb show, einen Teil ohne Text, der uns sehr geholfen hat. Auch hier arbeiteten wir mit Verzerrung der Stimme und des Schauspiels, denn die Stimme kommt aus dem o f f . Für mich war es ein pädagogischer Trick, um einen Anfang zu finden, denn sonst wird der Text tatsächlich hermetisch. Im zweiten Teil, schon mit Ophelia, beginnt eine andere Geschichte, in der eine Art Demontage stattfindet. Hier hat El Periferico de Objetos die Zerstörung der eigenen Ästhetik und Arbeitsweise zum Thema gemacht. Dies gehört zu den wunderbarsten Dingen, die ich je gesehen habe. Normalerweise arbeitet die Gruppe an einem Tisch, um die Puppen führen zu können. Außerdem taucht an dieser Stelle das szenische Element auf, das das Familienalbum darstellt. Am Tisch kommt die Familie zusammen. Der Tisch ist auch der Ort des Begräbnisses, denn die kleine Kiste, die man sieht, ist der Sarg von Hamlets Vater. Der Raum, den sie benutzten, bevor sie den Tisch brauchten, wird zerstört und dann erfolgt ein Sprung, eine Art Katastrophe. Und dann wird mit anderen Puppen weitergearbeitet. Das passiert in der zweiten Phase der Inszenierung systematisch. Ab dem Scherzo hört im Grunde das Theater auf, denn in dem Augenblick, in dem Ophelia zur Hure wird und alles durcheinander gerät, alles umgewälzt wird, machen wir das Saallicht an und sehen einen Kinofilm, denn das Kino ersetzt längst das Theater. Und das Kino ist viel aussagekräftiger in bezug auf diesen Ausdruck von Passivität, den wir gegenüber den Ereignissen einnehmen. An dieser Stelle beginnt eine weitere Phase, die Phase der Zerstörung der Puppen. Während der Projektion der Horrorbilder, die den Text untermalen, werden die großen Puppen des Stücks kaputt gemacht. Dies ist ein weiterer Zerstörungsprozeß, der am Ende abläuft, wenn die Maschine schon in Gang gesetzt ist, die Figur nicht mehr aus dem Teufelskreis der Gewaltkette heraus kann und selbst zur Maschine wird. Dies ist doppeldeutig und wird von Angst und auch Lust der HamletSchauspieler bestimmt, denn der Dekonstruktionsprozeß des Theaters wird endgültig, da die Maschinerie in einer Miniaturausgabe des Theaters wiederholt wird. Es ist, als würden wir uns entfernen, als würden wir zu einem anderen Planeten fliegen. Unser Theater erscheint uns sehr klein, denn es ist klein. Aber durch die Verkleinerung wird es auch größer,

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denn es entfernt sich. Auch dies hat eine doppelte Bedeutung. Außerdem ermöglicht es, die Globalität des Prozesses zu erfassen: Der von Shakespeare und seiner Geschichte in Gang gesetzte Motor führt uns zur Zerstörung. Das revolutionäre Element des Stücks, Ophelia, brennt zum Schluß das Theater nieder. Die endgültige Antwort ist die Zerstörung des Theaters und der Sieg einer anderen Sache, vielleicht einer Hoffnung, aber wir wissen nicht, warum Ophelia gestorben ist. An einer Stelle wird Hölderlin zitiert, ein Zitat, das Müller aufgegriffen hat: „WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE." Wieviel Zeit werden wir, Menschen des barbarischen Theaters, noch in der Rüstung verharren, in der Shakespeare sein ganzes Leben steckte? Wir wissen es nicht, und auch wenn wir es wüßten, würden wir es niemals zugeben.

Francisco Javier: Ich möchte Sie bitten, etwas über die Methode zu sagen, mit der die Mitglieder von El Periferico de Objetos und der Dramaturg gearbeitet haben. D i e t e r W e l k e : Die Arbeit von El Periferico de Objetos ist eine kollektive Arbeit von großer Präzision und Ernsthaftigkeit. Dies ist nicht oft im Theater zu finden. Der kreative Prozeß, die Diskussion und die Entstehung verlaufen kollektiv. Ich hatte anfangs das Problem, mich einzufügen. Die Gruppe hatte eine Dynamik, die in ihrer Arbeit gründet. Von Anfang an hatten wir viele Gemeinsamkeiten. Diese Erfahrung habe ich immer gemacht, wenn es positive Dinge in meiner Theaterarbeit gab. Eines Tages treffen Leute auf einer Straßenkreuzung zusammen, und die Chemie stimmt. Ich kann es nicht beschreiben, da so viele Faktoren, auch subjektive, zusammenkommen. Von uns allen sind subjektive Dinge eingeflossen, doch im nachhinein lassen sie sich nicht mehr den einzelnen zuordnen.

Daniel Veronese: Ich denke, es hängt auch mit unseren Anfängen als Puppenspieler zusammen. Die Arbeit mit den Objekten ermöglichte mir, aus mir herauszutreten und das Objekt der Begierde nach außen, aus dem Körper herauszutragen. Wir sind eine Gruppe, in der jeder je nach Spezialgebiet etwas beiträgt und in der die Entscheidung der Gruppe respektiert wird. Im allgemeinen gibt es Diskussionen, aber es wird auch immer ein Konsens gefunden. Es wird nicht abgestimmt, und es bleibt auch keiner außen vor. Ich bin der Meinung, daß Probleme dazu da sind, gelöst zu werden. Dies ist in einer Gruppe möglich, die seit Jahren zusammenarbeitet,

die gleichen Interessen verfolgt, die gleichen Produktionsschwierigkeiten hat, die gleiche Kraft und das gleiche ästhetische Alphabet. Ich habe mich oft gefragt, worin eigentlich die Aufgabe eines Dramaturgen besteht. Und oft habe ich überlegt, wie schwierig es sein muß, eine negative Rolle im kreativen Prozeß einzunehmen, vor allem da wir alle so individualistisch sind und unsere Sichtweisen durchsetzen wollen. Unsere Erfahrung, ich spreche weiterhin über Dieter und die Arbeit mit ihm als Dramaturgen, wurde jedoch bestimmt von einer ganz besonderen Eigenschaft, die Dieter charakterisiert, nämlich seiner großen Aufnahmefähigkeit und Offenheit. Dies zeigte sich täglich in unseren Gesprächen. Es handelt sich um eine Erfahrung, die wir alle kennen: Wir wollen dem anderen unsere Meinung aufzwingen, nicht, weil wir autoritär sind, sondern weil wir zum Ausdruck bringen wollen, was wir fühlen und was mit uns passiert. Wir versuchen, den anderen zu unterwerfen. Dies macht die Zusammenarbeit sehr schwierig. Bei Dieter sehe ich jedoch eine sehr seltene Eigenschaft, die in eine ganz andere Richtung geht. Er fordert einen ständig auf, sich ihm mitzuteilen. Wenn ich in irgendeinem Augenblick einen Wunsch für unsere Arbeit hatte, so war es der, mit einer Person zusammenzuarbeiten, die Dieters Eigenschaften hat.

Teatro El Periférico de Objetos: Cámara Gesell

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Teatro El Periférico de Objetos: Cámara Gesell (mit Laura Yusem)

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Teatro El Periferico de Objetos: Máquina Hamlet (Heiner Müller)

Teatro El Periférico de Objetos: Máquina Hamlet (Heiner Müller)

Frank Hörnigk Heiner Müller: Seine Liebe heißt Sasportas - und sein Schmerz Im Oktober 1985, fast genau zehn Jahre vor seinem Tod, wurde dem DDRDramatiker Heiner Müller die höchste literarische Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland, der Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst in Darmstadt zuerkannt. Seine Ansprache an die Akademie stellte er unter den Titel „Die Wunde Woyzeck". Gewidmet hatte er den Text dem politischen Gefangenen Nelson Mandela. Einen Tag nach der Festsitzung der Akademie veranstaltete die BüchnerBuchhandlung der Stadt eine Lesung mit Müller. Aus der geplanten Lesung wurde ein Gespräch, das später unter dem Titel „Ich bin ein Neger. Diskussion mit Heiner Müller" veröffentlicht wurde. Mein Vortrag will für einen Moment an dieses Gespräch erinnern und mit ihm vor allem an eine der Grundstrukturen der Dramaturgie Heiner Müllers, die Erfahrung des „doppelten Blicks", mit dem Müller immer Geschichte wahrnahm und in die Sprache seiner Dichtung trieb: Eingeschrieben in sie das Unbewußte des Vorgangs im Bewußten, gleich dem Bewußtsein im bewußtlosen Prozeß, das Unbekannte im Bekannten oder Bekannte im Unbekannten, das immer Gleiche der Erfahrung im immer Ungleichen der Bilder - und so fort - eine endlose Versuchsanordnung der Textreihen eines Werkes. Die Dimension „Dritte Welt" - als Aufbruch wie als Zurücknahme einer Hoffnung - so meine These - ist in diesem Verständnis komplexer poetischer Wirklichkeit insofern immer als lebendiger Widerspruch anwesend in den Texten Heiner Müllers, auch dort, wo diese Liebe und/oder dieser Schmerz nicht unmittelbar als historische Erfahrung aufgerufen oder thematisiert werden. Man kann sagen, sie ist konstitutiv für sein Werk von Beginn an - eingeschrieben schon in jene frühen Texte, in denen die ganze Konsequenz ihrer dramaturgischen Gewalt von Müller selbst noch gar nicht voll wahrgenommen zu werden scheint oder - wie später - nicht mehr in gleicher Weise als das einmal Erkannte, Eigentliche weitergeschrieben werden wird. Auch für ihn selbst gilt in diesem Zusammenhang wohl der Maßstab seiner radikalen Kritik an Brecht: „Der Au-

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tor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor ... Die Angst vor der Metapher ist die Angst vor der Eigenbewegung des Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz der Revolution."1 Das Bild - „Ich bin ein Neger" - kann vor dem Hintergrund solchen Verständnisses des poetischen Textes insofern tatsächlich als eine Metapher gelesen werden, die klüger als ihr Autor ist, die mehr weiß, als er sagt. Das Bild zitiert bewußt die Blindheit einer Erfahrung und gewinnt gerade dadurch ihren Ausweis an Authentizität. Formuliert wird die Gewißheit des lidlosen schmerzenden Blicks von unten in die Sonne, von einem, für den kein Platz mehr am Tisch ist (oder in Wirklichkeit nie war), der vergebens auf das Essen warten wird, wenn er nicht lernt, es sich selbst zu nehmen. Er heißt Sasportas oder Galloudec, ist Woyzeck, der Bruder von Runge (!) oder Herakles, der Befreier und spätere Gaul des Prometheus; er kann auch Ophelia heißen, die der Fluß nicht behalten hat und die die Werkzeuge ihrer Gefangenschaft zu zertrümmern beginnt und Medea wird oder Dascha, die Schwester, die ihr Kind verhungern läßt als Preis ihrer eigenen Befreiung als Frau. Es ist der deutsche Soldat im Kessel von Stalingrad oder der russische Soldat an der Wolokolamsker Chaussee, den sein Kommissar erschießt, weil er mehr Angst vor dem Feind hatte als vor ihm, seinem Vorgesetzten. Für sie alle spricht Müller - in der Haltung der Solidarität für die Unterdrückten und Opfer - und aus Ekel vor ihren Unterdrückern, aber auch mit dem Ekel vor der eigenen Rolle in diesem Gewaltverhältnis, in dem er nur mehr privilegierter Zuschauer dieser Gewalt - und damit selbst zur Schreib-Maschine geworden ist, stehend und schreibend auf beiden Seiten der Front. Genau an diesem Punkt wird der Ausstieg, der Sprung in eine andere Erfahrung vollzogen, die einem Endpunkt gleichkommt, der zugleich das Ende einer anderen Hoffnung formuliert, die früher für ihn - und das für lange Zeit - an die Utopie einer Welt geknüpft war, in der er - zusammen mit vielen - den möglichen Beginn der „eigentlichen" Geschichte der Menschheit zu sehen meinte und damit zugleich das Ende des Schlachthauses als Vorgeschichte beschwor. Dieser Traum ist für ihn 1956 im ungarischen Herbst zu Ende gegangen: „Der Ofen blakt im friedlosen Oktober", die Revolution ist erstickt, das Feuer verloschen. Was bleibt, ist das BLABLA einer Rede in die Brandung des Meeres, „im Rükken die Ruinen von Europa". So beginnt der Text der Hamletmaschine, der da spricht, ist nicht mehr, sondern „war Hamlet", der seine Rolle aufgegeben hat; es ist aber auch die Rede des Autors Müller, der ebenfalls aus seiner Rolle her-

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Müller, Heiner: „Fatzer+/-Keuner." In: Heiner Müller: Material. Leipzig 1989, S. 31.

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austritt in diesem Moment, der sein Bild zerreißen läßt und damit endgültig aufbricht in eine unbekannte Landschaft - in der festen Erwartung des Anderen „mit meinem Gesicht aus Schnee". (Ganz spät, im Oktober des Jahres 1995, es sind noch sechs Wochen bis zu seinem Tod, wird er selbst dieses Bild des „Doppelgängers", des „Antipoden" auflösen und mit seiner letzten Antwort versehen. Ich werde darauf zurückkommen.) Doch davor liegt die andere Erfahrung: Es ist der nun sehr direkt formulierte Aufstand der Dritten Welt in seinem Werk, der Schwarzen Revolution - der Aufstand des Körpers gegen die Sprache, der auch eine weibliche Revolution ist; der zentrale Text heißt Der Auftrag, Sasportas ist seine neue und zugleich seine letzte Hoffnung, seine Liebe und gleichzeitig sein Schmerz. Müllers Stück des Jahres 1979 geht zurück auf die Erzählung „Das Licht auf dem Galgen" von Anna Seghers. Er hatte Seghers' Text schon früh gelesen und 1958 mit einem eigenen Gedicht beantwortet: „Motiv bei A.S." lautete sein Titel. Das ist der Wortlaut: Debuisson auf Jamaika Zwischen schwarzen Brüsten In Paris Robespierre Mit zerbrochenem Kinn. Oder Jeanne d'Arc als der Engel ausblieb Immer bleiben die Engel aus am Ende FLEISCHBERG DANTON KANN DER STRASSE KEIN FLEISCH GEBEN SEHT DOCH DAS FLEISCH AUF DER STRASSE JAGD AUF DAS ROTWILD IN DEN GELBEN SCHUHN Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN: In der Zeit des Verrats Sind die Landschaften schön.2 Beide Texte Müllers, das spätere Stück ebenso wie das frühe Gedicht, beginnen mit der Beschwörung einer Erinnerung. Es ist die Erinnerung an die Große Revolution des Jahres 1789, gebrochen durch die Erfahrung der Niederlage, ihres Scheiterns und gewaltsamen Abbruchs für die altgewordenen Avantgarden. 2

Müller, Heiner: „Motiv bei A.S." In: Heiner Müller: Texte S, Germania Tod in Berlin. Berlin 1984, S. 80.

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Auch in anderen Teilen der Welt hat diese Niederlage die Gestalt eines langanhaltenden, vielleicht endgültigen Bewußtseins von Hoffnungsverlust angenommen - verbunden bleibt es unauslöschlich mit der Erinnerung an eine Zeit des Verrats. Das Gedicht Müllers endet mit der Betonung der irrationalen Gewalt dieses Zusammenhanges: Die Schönheit einer Landschaft und die Macht der „Ersten Liebe" werden zu den unwiderstehlichen Polen solchen Verrats an der Revolution und damit zu den Voraussetzungen des Abschieds des weißen intellektuellen Täters Debuisson von seiner zur „blutverschmierten" Hure herabgesunkenen „Zweiten Liebe" - seiner Revolution. Müller nimmt mit dem Auftrag dieses Bild des Abschieds von einem Ideal revolutionärer Identität nach zwanzig Jahren erneut auf - und erweitert es. In dem Brief, den Müller dem neuen Text geradezu programmatisch voranstellt, läßt er den ehemaligen Gefährten Debuissons, Galloudec, ihrem gemeinsamen Auftraggeber in Paris, eine Botschaft überbringen, die beides ist: Schlußfolgerung und radikalste Grunderfahrung einer erlittenen geschichtlichen Niederlage: Galloudec an Antoine. Ich schreibe diesen Brief auf meinem Totenbett. Ich schreibe in meinem Namen und im Namen des BUrgers Sasportas, der gehängt worden ist im Port Royal. Ich teile Ihnen mit, daß wir den Auftrag zurückgeben müssen, den der Konvent durch Ihre Person uns erteilt hat, da wir ihn nicht erfüllen konnten. Vielleicht richten andere mehr aus. Es ist wohl so, daß die Verräter eine gute Zeit haben, wenn die Völker im Blut gehen.3 Galloudecs Brief gewinnt in seiner Diktion und Anrede die Form eines allgemeinen revolutionären Vermächtnisses. Es ist eine Bitte um die Entlassung aus einem Auftrag und zugleich die Aufforderung an den im Versteck lebenden ehemaligen Kämpfer, ebenfalls sein Gesicht zu zeigen und mit dem zurückgegebenen Auftrag auch seine eigene individuelle Verantwortung wieder zurückzunehmen oder anzunehmen - das heißt zu seiner Geschichte zu stehen und damit zugleich die Zurücknahme bzw. Preisgabe eines bis dahin unverrückbar scheinenden Mythos revolutionärer Disziplin endlich einzulösen: dem Einverständnis mit der Auslöschung seines Gesichts „im Namen und im Dienst an der Revolution", d.h. der Selbstverleugnung des Subjekts in der Revolution. Die von Paris nach Jamaika entsandten Emissäre Debuisson, Sasportas und Galloudec hatten diese Bereitschaft als Tarnung für ihren Auftrag ursprünglich

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Müller, Heiner: Der Auftrag. In: Heiner Müller. Texte 7, Herzstück. Berlin 1983, S. 43.

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selbst bestätigt: „Unser Platz ist der Käfig, wenn unsere Masken reißen vor der Zeit."4 Mit der Erfahrung der Niederlage entsteht jedoch eine andere Lernhaltung - sie ist existentiell, außerhalb jeder bisherigen Theorie. Denn nun wird das Zerreißen der Masken gerade zur Voraussetzung der noch einzig möglich erscheinenden, vielleicht letzten Chance zur Weitergabe eines revolutionären Auftrags an jene begriffen, die den Vorgängern - vielleicht - nachfolgen werden/könnten oder als Nachgeborene eventuell auch nur - wie aus einem alten „Fahrtenbuch" - deren Erzählung hören: einen unter Umständen unauflösbaren Code, unverständlich wie eine fremde Schrift, aber doch ein Zeichen von Leben. (Christa Wolf hat in ihrer Erzählung Kassandra die Frauen des Ida-Berges ihre Hände in Ton drücken lassen. Es wäre möglich, daß die Tonscherben einst anderen Menschen, vielleicht einer anderen Kultur jenseits jeder eigenen Erfahrung, dennoch als eine geheime Botschaft, ein Rätsel - jedenfalls aber als ein Zeugnis anderen Lebens - erscheinen könnten: eine Botschaft, die entschlüsselt werden kann!) Bei Heiner Müller nimmt Antoine in eben diesem Sinne die Botschaft Galloudecs auf - als er sich dem Fremden, der sie ihm überbringt, nach der Nennung des Namens Sasportas, in seiner eigenen, wirklichen Identität zu erkennen gibt sich also auch ausliefert. Sein Gesicht zu zeigen - das ist in Zeiten der Niederlage die einzige Alternative zum Verrat, der sein Gesicht irgendwann immer auch zeigt, der sich dann spreizt in seiner Lust, die aus der eigenen Qual erwächst - und die ihn so mächtig macht. Dieser Gewalt einer Überlegenheit ohne Moral entgegenzutreten mit dem offenen Gesicht der Verzweiflung ist ein Schritt, der die Trauer und Mutlosigkeit nicht verhindert, aber ebenso Erstarrung und Tod aufbrechen kann - im Namen der Opfer, der Lebenden und Toten. Müller greift mit diesem Denkbild - in der mythischen Erscheinung des „Engels der Verzweiflung" schon in der ersten Szene des Stückes - auf ein lange zuvor von ihm selbst weitergetriebenes Motiv des Engels der Geschichte zurück, das er in Antwort auf Walter Benjamins „Angelus Novus" in dessen Thesen zum Begriff der Geschichte bzw. auf Brechts „Reisen des Glücksgotts" schon Ende der 50er Jahre im Bild des „Glücklosen Engels" auferstehen ließ. Ich zitiere: DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabenen 4

Müller, Heiner: Der Auftrag, a.a.O., S. 50.

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Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stem, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn wtlrgt mit seinem Atem. Eine Zeitlang sieht man noch sein Flügelschlägen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter sich niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird: Dann schließt sich Uber ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.3 Mit dem Auftritt des Engels der Verzweiflung wird dieses Bild jetzt qualvoll fortgeschrieben: als Verlusterfahrung jener letzten Hoffnung auf die Bewegung der Steine. Was bleibt, ist nunmehr allein der Rausch des Vergessens - und die „Verheißung" eines umgestürzten, zum Abgrund gewordenen Himmels: Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. Im Schatten meiner Flügel wohnt der Schrecken. Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht. Ich bin das Messer, mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen.6 Danach fangen die Toten an zu sprechen: „Wir waren auf Jamaika angekommen." Ihr Bericht ist die Geschichte einer katastrophischen Erfahrung - als Erinnerungsarbeit durchgespielt. Doch gerade mit diesem Bericht kann der Flug des Engels aufs neue beginnen. Er kommt wieder in Bewegung, wenn er den Toten die Särge aufbricht und sie damit aus ihrer Vergangenheit befreit. Es ist eine explosion of a memory - wenn überhaupt, so die historische Überzeugung Müllers, kann mit ihr das Kontinuum der Geschichte gesprengt werden. Ende der 70er Jahre hat der Ort, von dem aus solche Befreiung allein noch zu denken war, für den Autor nur einen Namen: Er heißt Afrika, heißt Asien und Lateinamerika - die Dritte Welt. Damals noch - als Traum der Befreiung trotz aller Niederlagen - schien allein diese Welt die letzte „große Bedrohung für den Westen und die große Hoffnung für unsere Seite (...)".7 Es war der Traum einer 5

Müller, Heiner: „Der glücklose Engel." In: Heiner Müller: Theaterarbeit Texte 4, Berlin 1975, S. 18. Ebenda.

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Müller, Heiner. „Mauern. Gesprach mit Sylvere Lothringer." In: Heiner Müller Rotwelsch, Berlin 1982, S. 64.

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europäischen Linken, der Traum von Sasportas, Gestalt geworden in einem Bild jenseits des Rationalismus von Aufklärungvorstellungen instrumenteller Vernunft. Seinem ehemaligen Gefährten/Verbündeten Debuisson in diesem anderen „weißen" Projekt, das seines nicht war/sein konnte und das er mit seinem eigenen Tod beenden mußte, hält Müller Sasportas die Naturgewalt seiner eigenen „schwarzen" Revolution entgegen. Sie wird zur Antizipation einer anderen Ordnung und zum Modell eines alternativen Weges dahin. „Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen..."8, läßt ihn Müller sagen und: Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf die Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsere Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika, ich, das ist Asien. Die beiden Amerika sind ich.9 Hier scheint ein Bild auf, das die revolutionären Möglichkeiten der Dritten Welt schon damals weit über ihre realpolitischen Bedingungen setzte, symbolisch wahrgenommen in der Gewalt ihrer Körper, in den Dimensionen einer Landschaft und damit im behaupteten Gegensatz zur für Müller heruntergekommenen Sprache der Aufklärung in der alten Ersten Welt. Diese habe historisch ihre Subjektrolle endgültig verspielt, die neuen Subjekte des Widerstands gegen sie außerhalb der Dritten Welt - seien deshalb auch nicht mehr in den klassisch gewordenen Mustern der als Klassenkampf gedachten Verhältnisse zu suchen, sondern in den Außenseitern, den Randfiguren und Minderheiten der alten Metropolen und ihrer Integration in die diese alte Welt untergrabenden asiatischen, afrikanischen, lateinamerikanischen Stadtlandschaften des alten Kontinents; Furcht und/oder Hoffnung, wenn „RAUBKATZENATEM WEHT IM PARLAMENT / DIE PANTHER SPRINGEN LAUTLOS DURCH DIE BANKEN - HEIMHOLEND IN DAS NICHTS DIE ERSTE WELT."10 Es ist ein Bild voller Subversivität, eine Provokation zugleich, die hier aufgerufen wird, aber sehr bald auch schon ein elegisches Bild der Gewißheit über das Ende eines Traums, über sein notwendiges Scheitern. Müller weiß es längst, als er über Georg Büchner nachdenkt anläßlich seiner Darmstädter Rede vor der 8

MUller, Heiner: Der Auftrag, a.a.O., S. 69.

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Ebenda.

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Müller, Heiner: „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar." In: Heiner Malier: Shakespeare Factory 2 Texte 9. Berlin 1989.S. 140-141.

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Akademie - und dabei zugleich auch über den Riesen Goyas, in der Erinnerung einer ersten Erscheinung als „Vater der Guerilla", „der auf den Bergen sitzend die Stunden der Herrschaft" 11 nur noch zu zählen hatte - so schien es. Jetzt hat ihn die Realität wieder. Und Müllers eigener Schluß? „An einem Wandbild in einer Klosterkirche in Parma habe ich seine abgebrochnen Füße gesehn," notiert er, „riesig in einer arkadischen Landschaft. Irgendwo schwingt vielleicht auf den Händen sein Körper sich weiter, von Lachen geschüttelt vielleicht, in eine unbekannte Zukunft (...) Noch geht er in Afrika seinen Kreuzweg in die Geschichte, die Zeit arbeitet nicht mehr für ihn, auch sein Hunger ist vielleicht kein revolutionäres Element mehr, seit er mit Bomben gestillt werden kann, während die Tambourmajore der Welt den Planeten verwüsten".12 lautet der letzte Befund. In ihn eingeschlossen die Erinnerung an das Schicksal der europäischen Schwestern und Brüder der Guerilla, an Ulrike Meinhof zum Beispiel, Tochter Preußens und spätgeborene Braut eines (neben Büchner) anderen Findlings der deutschen Literatur, der sich am Wannsee begraben hat, Protagonistin im letzten Drama der bürgerlichen Welt (...) seine Schwester mit dem blutigen Halsband der Marie.13 Was danach kommt, ist nur noch „leere Zeit". Müllers Engel hat aufgehört zu fliegen. So lautet der Text: Glückloser Engel 2 Zwischen Stadt und Stadt Nach der Mauer der Abgrund Wind an den Schultern die fremde Hand am einsamen Fleisch Der Engel ich höre ihn noch Aber er hat kein Gesicht mehr als Deines das ich nicht kenne.14 11

Müller, Heiner: „Die Wunde Woyzeck." In: Heiner Malier: Material. Leipzig 1989, S. 114.

12

Ebenda.

13

Ebenda, S. 114/115.

14

Müller, Heiner: „Glückloser Engel 2." In: Heiner Müller: Gedichte. Berlin 1992, S. 100.

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Hier ist der Ausstieg nun endgültig vollzogen. Immer aufs neue, wie unter einem Zwang zur notwendigen Neuinterpretation bzw. Konterkarierung im Lichte radikal anderer Erfahrungen stehend, werden die alten Bilder wieder und wieder - geradezu manisch - aufgerufen, wird ihre Gültigkeit in Frage gestellt. Dabei wächst nach Müllers eigenem Urteil der fatale Eindruck des Scheiterns, das Wissen um den Verlust der Utopie. Ihre Spannweite historischer Dimensionen (Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart) scheint für ihn am Ende in einen Abgrund gefallen zu sein, der nurmehr Raum bedeutet. Der „Glücklose Engel" ist im Bild des „Glücklosen Engel 2" endgültig aus der Zeit herausgeschleudert, sein Platz bleibt jetzt allein noch „der Abgrund zwischen Stadt und Stadt" - eine Orts- und Selbstbestimmung in einem - denn es ist die Berliner Mauer, an die hier erinnert wird: für Heiner Müller von Beginn an immer mehr als lediglich eine „Staatsgrenze"; ihr Symbolwert ist die drastische Realität einer wirklichen Differenzerfahrung in der Welt. Viele der jetzt in seinem Nachlaß auftauchenden Texte sind als „Traumtexte" benannt. Müllers früheres Diktum, nach dem die Geschichte erst analysiert werden muß, damit man sie denunzieren, loswerden kann, hat damit nun auch im individuellsten, intimsten Bereich seine Geltung. Denn in den Träumen erleben wir das ungefilterte Selbst; sich ihnen auszuliefern heißt, sich erkennen zu wollen und sich anzunehmen als der, der man ist. Aber der Traum hat nicht nur diese individuelle Bedeutung. Nicht umsonst hat die Gesellschaft die Selbsterfahrung des Traums bzw. die weiterführende Arbeit an der Traumdeutung mittels der Psychoanalyse institutionalisiert. Ende der 70er Jahre findet sich im Auftrag die Beschreibung einer paradoxen, „traumatisch-traumhaften" Situation: Ein Angestellter, auf dem Weg zum Chef, der mit einem wichtigen Auftrag auf ihn wartet, gerät in einen Fahrstuhl, in dem die gewohnte Raum-Zeit-Erfahrung erschüttert wird. Als der Fahrstuhl zum Stehen kommt, findet sich der Ich-Erzähler auf einer Dorfstraße in Peru wieder. Die Überraschung, deplaziert zu sein, wird nur von der absoluten Gleichgültigkeit der lokalen Bevölkerung ihm gegenüber noch überboten. Die Beschreibung des „Spaziergangs" des Angestellten in der ihm fremden Welt wird mit einer Konfrontation enden: (...) und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an.

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Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.15 1995 schreibt Müller ein Sonett, mit „Traumwald" betitelt, das jenes Erwarten auf die erhoffte/gefurchtete Selbstbegegnung noch einmal aufnimmt - und endlich auflöst: TRAUMWALD Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum Er war voll Grauen. Nach dem Alphabet Mit leeren Augen, die kein Blick versteht Standen die Tiere zwischen Baum und Baum Vom Frost in Stein gehaun. Aus dem Spalier Der Fichten mir entgegen durch den Schnee Trat klirrend, träum ich, seh ich was ich seh Ein Kind in Rüstung, Harnisch und Visier Im Arm die Lanze. Deren Spitze blinkt Im Fichtendunkel, das die Sonne trinkt Die letzte Tagesspur ein goldner Strich Hinter dem Traumwald, der zum Sterben winkt Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.16 Die Wiederaufnahme des Motivs impliziert die Eindringlichkeit, die das Bild des Doppelgängers für Müller gehabt haben muß. Es ist der Versuch, der eigenen Wahrheit ins Antlitz zu blicken, Authentizität mit sich selbst herzustellen. Die neue Begegnung ist eine mit dem Tod in einer Landschaft des Todes. War im Auftrag noch das Vertrauen spürbar, daß eine Landschaft jenseits des Menschen existiert, so findet die Begegnung nunmehr in einer nur vorgestellten Landschaft statt. Die Wahrnehmung ist auf einen Traumwald beschränkt; in diesem sind alle Elemente einer Totenwelt enthalten; Tiere und Bäume sind nur noch Requisiten einer starren, kalten, lichttrinkenden Wirklichkeit. Daß die Begegnung eine Konfrontation sein könnte, die mit dem Tode des Schwächeren enden könnte, läßt den Angestellten im Auftrag nicht davor zurückschrecken, diese Auseinandersetzung (die viel eher auf eine Verschmel15

MUller, Heiner: Der Auftrag, a.a.O., S. 62.

16

Müller, Heiner: Traumwald. Drucksache II. Berlin 1995, S. 469.

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zung hinzufuhren scheint) zu suchen. Die Ineinssetzung von Antipode und Doppelgänger ist mehr als nur dialektische Spielerei. In ihr offenbart sich das Wissen darüber, daß erst das Fremde erkannt sein will vor dem Eigenen. Das Überleben in einer solchen Begegnung wäre weniger Ergebnis erfolgreicher Wehrhaftigkeit als vielmehr die Fähigkeit zur Akzeptanz des Anderen in Einem. Der Auftrag des Angestellten läuft auf die persönliche Vervollkommnung hinaus, der Überlebende hätte die Aspekte des Anderen subsumiert, sich zu eigen gemacht, verinnerlicht. Das Ergebnis einer solchen Verschmelzung wäre eine neue Identität, in der die alte aufgehoben bliebe. Der neue Text bricht gerade mit dieser Hoffnung. Denn diese Begegnung ist eine zum Tode. Nicht mehr steht die produktive Bilanzierung angesichts eines Zusammentreffens mit sich selbst zur Disposition - denn dieser Andere tritt in Rüstung auf, „entgegen"! Der gesucht hatte, wird nun gefunden. Die Annahme scheint berechtigt, daß es sich hier um eine Abrechnung handeln könnte. Die Begegnung mit sich selbst fuhrt zum Mord an sich - zum Selbst-Mord. Im Sterben erst erkennt sich der Sterbende - sein „Ich" als Kind ist der Grund seines Todes. Heiner Müller nähert sich mit diesem kurzen Text einem Trauma, das in nicht zu unterschätzendem Maße Grundimpuls seines Schreibens überhaupt ist. Im Anfang seiner Erinnerungen steht die Erfahrung der Verhaftung seines Vaters durch Gestapo-Männer. Als der Vater noch einmal nach seinem Sohn sehen will, stellt dieser sich schlafend. Der Vater wird abgeführt, ohne den Sohn noch einmal gesprochen zu haben. Müller spricht selbst in dieser Beziehung von seiner Schuld: „Das ist meine Schuld. Ich habe mich schlafend gestellt. Das ist eigentlich die erste Szene meines Theaters."17 Es ist diese verhängnisvolle Verquickung von Schuld und Verrat, die das Kind Müller erfahrt und die der Autor Müller nicht mehr vergißt. Der Erwachsene Müller mißtraut dem Kind. Er weiß, wozu es fähig ist. In der Krise wird es den Vater verraten. Die Stoßrichtung des Textes zielt auf einen traumatischen Befund: Die längst eingestandene Schuld seiner Kindheit ist noch nicht gesühnt. Wenn aber das Kind bis heute tötet, stellt sich die Frage neu, ob der richtige Weg schon gefunden ist. Die Schlußfolgerung, wenn man das Gedicht „Traumwald" mit dem Auftrag kurzschließt, ist eine für den Bilanzierenden, für Müller selbst, verheerende. Sie lautet: Fortsetzung des Verrats durch Schreiben - und in der Begegnung mit dem Anderen der Sieg des gepanzerten, geharnischten Ichs über das offensichtlich wehrlose.

17

Müller, Heiner: „Mauern. Gespräch mit Sylvere Lothringer", a.a.O., S. 68.

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Und doch: der Text weist über diesen Schluß zugleich hinaus, denn allein durch sein Vorhandensein als Textgestalt ist er auch ein Sieg über diese Gewaltgestalt des Kindes. In der Beschreibung des Todes nämlich bewältigt sich seine Schuld, wird der Gestus des Schreibens ein Gestus der Demaskierung einer Erfahrung. Sie wird zum Beweis der Fähigkeit des Autors Müller, seiner eigenen Geschichte „ins Weiße im Auge zu sehen" - entgegen der Verlockung, weiterhin der gewonnenen Klassizität zu vertrauen oder das Maskenspiel einer theatralischen Vorstellung durchzuhalten. Etwa so, wie die Figur des Valmont es in Quartett vorführt, die ihren eigenen Tod noch zelebriert. Das Sterben wird damit zum genußvollen Abgang aus einer ohnehin toten Welt. Tod auf dem Theater! „THEATERTOD"! Auch dieses Bild wiederholt sich noch einmal: THEATERTOD Leeres Theater. Auf der Bühne stirbt Ein Spieler nach den Regeln seiner Kunst Den Dolch im Nacken. Ausgerast die Brunst Ein letztes Solo, das um Beifall wirbt. Und keine Hand. In einer Loge, leer Wie das Theater, ein vergessnes Kleid. Die Seide flüstert, was der Spieler schreit. Die Seide färbt sich rot, das Kleid wird schwer Vom Blut des Spielers, das im Tod entweicht. Im Glanz der Lüster, der die Szene bleicht Trinkt das vergessne Kleid die Adern leer Dem Sterbenden, der nur sich selbst noch gleicht Nicht Lust noch Schrecken der Verwandlung mehr Sein Blut ein Farbfleck ohne Wiederkehr.18 Auf den ersten Blick erinnert die Situation an jene, die Valmont durchlebt. Aber der erste Blick täuscht. Denn dem Gedicht fehlt jene Gespreiztheit, Eitelkeit, die für Valmont noch so prägnant war. Zudem fehlt der Partner, an dem und für den gestorben wird: Er ist nicht mehr da. Überraschend kommt hier dagegen wieder die Figur des Sasportas in Erinnerung, wenn er Debuisson angesichts des von ihm geplanten endgültigen Verrats anklagt. Bitte erinnern Sie sich: „Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. Mit jedem

18

Müller, Heiner: „Theatertod." In: Heiner Müller Kalkfell. Berlin 1996, S. 154.

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Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod."19 Es ist diese Beschwörung der Wiederkehr der Toten, die, wenn die Lebenden ihren Widerstand aufgegeben haben, diese Arbeit übernehmen werden - und müssen. Debuissons Existenz wird in diesem Sinne von Sasportas als bloß noch schändlich abgeführt, die Bitte um die Gnade des Todes, der allein noch den Verrat verhindern könnte, wird zurückgewiesen: „Dein Blut leert unsre Adern" - das ist der Befund und vor allem deshalb wird Debuisson konsequent sein Tod verweigert, nicht gegönnt. Er darf nicht mehr sterben - muß allein bleiben mit seinem Verrat. Stellen wir das Gedicht „Theatertod" in den Zusammenhang dieser früheren „revolutionären Lösung", so läßt sich auch hier wieder und erneut die radikale Infragestellung des späten Heiner Müller wahrnehmen: Denn in seiner früheren Quasi-Identifikation mit Debuisson scheint nämlich die Erfahrung des eigenen Verrats mit auf, verkappt als vermeintlich einziger Ausweg und damit Zwang zum Weiterleben. Das alles ist nun vorbei! Auf einen anderen, weiteren „Traumtext" verweisend, möchte ich zuletzt diesen Gedanken nur verstärken, mit dem Heiner Müller, unmittelbar vor seinem Tod, wie in einem finalen Vermächtnis, die Vollendung seiner Erfahrungswelt als Katastrophe und zugleich (wie ich denke) aber wieder auch als Hoffnung auf die Nachgeborenen ausgeschrieben hat. Sein Prosatext vom Oktober '95 mündet ein und kulminiert im Bild eines Kessels und der einzig verbliebenen möglichen Bewegung in ihm auf schmalem Grat zwischen Kesselwand und bodenlos nasser Tiefe. Im voyeuristischen Blick auf einen Sterbenden verwirrt sich der Schritt des Eingeschlossenen, er stürzt in das Wasserloch, und mit Entsetzen und Erleichterung sieht er seine Tochter oben auf dem Betonrand, vorerst gerettet, doch schon dabei, herauszukriechen aus dem Korb, in dem er sie getragen hatte: „(...) die Augen auf mir, der aus dem Wasser nicht heraus kann, der Betonrand zu hoch, BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN mein einziger Gedanke, während ihr fordernd vertrauender Blick mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt."20 Es könnte nicht eindringlicher vor den Folgen einer naiven, Rettung erwartenden Rezeptionshaltung der Texte Müllers gewarnt werden, als es Müller hier selbst vorgibt. Denn der, der da untergeht, zeigt von sich weg - nicht ich bin es, von dem noch Hoffnung zu erwarten ist. Die alte Verdrängung der Möglichkeit, 19

Müller, Heiner: Der Auftrag, a.a.O., S. 69.

20

Müller, Heiner. „Theatertod", a.a.O., S. 154.

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scheitern zu können durch eine Praxis andauernder erfolgreicher Arbeit, manifestiert sich ein letztes Mal - als Korrektur. Denn nun ist auch diese Probe bestanden. Der Mann hat aufgehört, auf eine andere Geschichte oder den Ausbruch aus dem immer Gleichen zu warten - wie sein Text. Mit dem letzten Bewußtsein, von ihr eingeholt zu sein, verharrt er im Raum seiner Gefangenschaft, wartend auf seinen Tod, über sich noch einmal den kindlichen Blick voller Vertrauen auf Errettung, die von ihm ausgehen könnte - ein einziger Gedanke, der „das Herz zerreißt" - aber sein Wissen um die Endgültigkeit des eigenen Endes nicht mehr rückgängig machen kann. Der „Alptraum der Geschichte", im Bild des ausweglosen Kessels zur letzten Konsequenz aller katastrophischen Erfahrungen seines Lebens getrieben, hat Bestand, bleibt ein monströses Zeichen von einem Kriegszustand ohne Ende. Der Tod Müllers kann dieses Bild nicht tilgen. In einer kritischen Überwindung des „vereisten Kessels" muß der Leser, müssen wir, andere, eigene Strategien entwickeln, diesen Alp loszuwerden. Ohne Analyse keine Denunziation. Die Texte Müllers sind und bleiben in diesem Sinne Garanten für Störung, für Verstörung im produktiven Sinn. Müller wußte es - und wir sollten es lernen in unserer Arbeit: „Wenige sind wert, daß man ihnen widerspricht"; Und: „Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert."21 Mein letzter Satz zitiert Volker Braun, Dramatiker und Freund Müllers - und zwei Sätze aus Brechts Fatzer, mit denen ich schließe, alle die alten und neuen Freunde in Chile grüßend: „Die Erkenntnis kann an einem anderen Ort gebraucht / werden als wo sie gefunden wurde ... alle diese Nächte / schlaf ich nicht mehr aus Furcht es könnte / etwas im Sand verlaufen und vergessen werden."22

21

Heiner Müller im Gesprach mit Peter von Becker. In: Thealer heute, Sondernummer 1995, S. 30.

22

Braun, Volker: „Müllers Abgang." In: Heiner Müller: Kalkfell. Berlin 1996, S. 19.

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Literatur Braun, Volker: „Müllers Abgang." In: Heiner Müller: Kalkfell, Berlin 1996. Müller, Heiner: „Der glücklose Engel." In: Ders.: Theaterarbeit Texte 4. Berlin 1975. Ders.: „Mauern. Gespräch mit Sylvere Lothringer." In: Ders.: Rotwelsch. Berlin 1982. Ders.: Der Auftrag. In: Ders.: Texte 7. Herzstück. Berlin 1983. Ders.: „Motiv bei A.S." In: Ders.: Texte 5. Germania Tod in Berlin. Berlin 1984. Ders.:,.Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar." In: Ders.: Shakespeare Factory 2 Texte 9. Berlin 1989. Ders.: „Fatzer+AKeuner." In: Ders.: Material. Leipzig 1989. Ders.: „Die Wunde Woyzeck." In: Ders.: Material. Leipzig 1989. Ders.: Traumwald. Drucksache 11. Berlin 1995. Ders.: „Theatertod." In: Frank Hörnigk, Martin Linzer, Frank Raddatz, Wolfgang Storch, Holger Teschke: Kalkfell. Berlin 1996.

Uta Atzpodin, Alexander Stillmark Auf der Suche nach Erinnerung Der Auftrag von Heiner Müller: Berlin - Santiago - Berlin

Hat sich ein Kreis geschlossen? Oder fangt das Bild einer Spirale die Eigenheit dieses deutsch-chilenischen Arbeitsprozesses besser ein? Als im Januar/Februar 1996 während des vom ITI veranstalteten Berliner Symposiums Das Theater des Cono Sur - eine Begegnung mit Deutschland ein deutsch-chilenischer Theaterworkshop zu Heiner Müllers Text Der Auftrag stattfand, hatte niemand daran gedacht: Knapp ein Jahr später, am 9.1.97, war die Frucht der gemeinsamen Arbeit unter dem Titel La Misión. Recuerdo de una revolución zum Geburtstag des Autors auf der Probebühne des Berliner Ensembles zu sehen. „Ein erfüllter Auftrag", wie eine chilenische Kritik spielerisch die Inszenierung beschrieb? Oder war La Misión nicht vielmehr eine Suche, ein holpriger Weg voller Widersprüche, Sackgassen und Hindernisse, der durch die Reibung verschiedener Welten spannende Theaterräume eröffnete? Ins Leben gerufen haben das Projekt Hedda Kage, das Internationale Theaterinstitut und der Berliner Regisseur Alexander Stillmark. Mit den Schauspielern der Gruppe Teatro La Memoria, die nach Berlin kamen, um ihr erfolgreiches Stück Historia de la sangre aufzuführen, wollte er für eine Woche an Szenen von Heiner Müllers Der Auftrag arbeiten. Zwischen den ersten Annäherungen an Müllers Text in den sechs Workshoptagen, in denen ich als übersetzende Regie- und Dramaturgiemitarbeiterin in das Projekt hineinwuchs, und dem Probenanfang in Santiago lagen acht lange Monate. Faxe überquerten die Ozeane, das Goethe-Institut in Santiago erklärte sich bereit, das Projekt in Chile zu finanzieren, das ITI übernahm die Reisekosten für alle Beteiligten. Sparmaßnahmen ließen den Traum von einer vollständigen Inszenierung fast zerplatzen. Aber mit viel Energie gingen wir die siebenwöchige Arbeit an, die auf Abendproben beschränkt war, da die Schauspieler tagsüber ihr Brot verdienen oder ihrem Studium nachgehen mußten. Unser Treffpunkt war die Erinnerung. Das Ausgraben von Erinnerung. Das Spiel mit Erinnerung. Erinnerung zu, über, mit dem faszinierenden, so aktuellen Text von Heiner Müller. Es war ein sehr komisches Spiel, trotz vieler tragischer

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Momente. Ein Spiel, das - im Umgang mit der Vergangenheit - fast unwissend den Blick nach vorne gerichtet hatte. Es war eine Begegnung von verschiedenen Kulturen, Generationen und „Befindlichkeiten" in der heutigen Welt, in der viele Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zutage kamen. Spannend waren vor allem die Reibungen. Berlin Anfang 1996. In Eiseskälte laufen wir durch die einer einzigen Baustelle gleichenden Straßen der alten und neuen Hauptstadt; ein Frage- und AntwortSpiel zur deutschen Geschichte und Gegenwart. Neugierig, aber auch verschreckt wirken die chilenischen Schauspieler. Die Frage nach der Ausländerfeindlichkeit im heutigen Deutschland bleibt nicht aus. Ereignis. Über Anekdoten gibt Alexander Einblicke in die deutsche Geschichte und verknüpft diese mit Verweisen auf Texte von Heiner Müller. Der Vergleich mit dem Eigenen: In Chile hat es in der Kunst keine Aufarbeitung der Geschichte gegeben, auch keine theoretische Auseinandersetzung. Die Beschäftigung wird vom Publikum und den Schauspielern umgangen. Sie ist nicht „ in ". Welche Eindrücke hat die erste Lektüre vom Auftrag hervorgerufen? Pancho, Anfang 40: Ich hatte überhaupt kein Ge/uhl und dachte: was für ein uninteressantes Thema. Von Revolutionen zu sprechen ist für mich wie eine Mauer. Das ist etwas, was für mich als Gefühl nicht mehr existiert. Nestor, Anfang 20: Die Geschichte interessiert mich nicht. Viel eher die Art, wie sie erzählt wird. Die politischen Aspekte sprechen mich nicht an. Ich bin in der Diktatur aufgewachsen, doch als sie zu Ende war, hat sich für mich nichts geändert. Amparo, Anfang 30: Ich habe mich vor allem in der Poesie des Textes festgehakt. Es ist ein Blick auf die Illusion, ausgehend von der Desillusion - in einer Struktur, die nicht mehr als Ganzes funktioniert. Die Erinnerungsmaschine setzt sich in Gang. Unterbrochen werden wir von der etwas zu phantasievollen argentinischen Textfassung, die Müller hinter dichten Nebelschwaden von Interpretationen fast verschwinden läßt. In kollektiver Detailarbeit opfern wir einen Tag unserer kostbaren Workshopzeit für die Übersetzung der Erste-Liebe-Zeilen. Müller stellt der Szene Regieanweisungen voran, die mit den biblischen Worten „Heimkehr des Verlorenen Sohnes" beginnen. Die Worte Heimkehr und Rückkehr rufen sofort starke emotionale Reaktionen bei den Schauspielern hervor: eine Kritik an der Ungerechtigkeit der Bibelszene und Aussagen, hinter denen man eine starke Spaltung der chilenischen Gesellschaft zwischen Rückkehrern und Nicht-Rückkehrern vermuten kann. Die Kinder von den Exilanten sprechen anders. Sie kleiden sich anders. Sie sprechen schlecht Spanisch. Es gibt kein Miteinander. Außerdem gibt es ein Rückkehrergesetz, das wirtschaftlich sehr ausgenutzt worden ist. Ich fühle mich

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betrogen. Wir nähern uns spielerisch der Szene, stellen uns einen Schauspieler vor, der seine alte Theatergruppe wegen eines besseren Engagements verlassen hatte und nun wieder zurückkehrt. Die Brücke ist der Text, den vorher alle zusammen gespielt hatten. Santiago de Chile Anfang Oktober 96. „Wie erfüllt man einen fremden Auftrag, was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation?" Auch wenn Santiago in Lateinamerika liegt, ist Müllers „Mann im Fahrstuhl" hier wohl kaum aus dem Aufzug gestiegen. Wie berühren sich Müllers Bild einer „Dorfstraße in Peru" und das Panorama dieser lateinamerikanischen Millionenstadt? Unendlich und schnell scheint sie sich zwischen den beiden Andenkordilleren auszubreiten. Wie Pilze schießen aus den weitläufigen, einstöckigen Wohngebieten hohe Apartmentblocks aus dem Boden. Im reichen Geschäftsviertel Providencia wuchern die Wolkenkratzer. Die nahe Bergkette der Kordilleren kann man hinter der Smogglocke nur erahnen. Die Luft ist trocken. Seit Jahren regnet es zu wenig, so daß schon bei Frühlingsbeginn der Wassernotstand droht. Für wen hat sich das Bild vom Land Allendes, des Canto Nuevo oder Pablo Nerudas, der Terrornachrichten über die Militärdiktatur, nicht aus der Ferne als Bild von Chile eingeprägt? Der erste Eindruck aber ist der eines geschichtslosen Landes im Aufstiegs- und Konsumrausch. Freudestrahlende Menschen vor blauem Himmel verkünden den Fortschritt Chiles. Die Fernsehpropaganda wirkt für uns dubios. Ein Taxifahrer lobt Pinochet über den grünen Klee: „Er hat uns den wirtschaftlichen Wohlstand gebracht". Hinter dem Jubel scheint sich etwas zu stauen: ein merkwürdiges Schweigen, eine Lähmung? Mit dem Volksentscheid sind 1989 die langen Jahre der Militärdiktatur zu Ende gegangen. Aylwin ist zum ersten demokratischen Staatspräsidenten gewählt worden. Die Fäden der Macht hat Pinochet jedoch nicht aus der Hand gegeben: Er ist oberster Befehlshaber der Armee geblieben. Sein auf Lebenszeit ernannter Oberster Gerichtshof ist bis heute höchstes Organ der Rechtsprechung. Die Amnestie des Militärs: eine abgemachte Sache. Wirtschaftlich wird Chile im Ausland als Vorzeigeland Lateinamerikas gehandelt, als Land, in dem der Neoliberalismus Früchte getragen hat und beispielhaft funktioniert. Selten wird dabei erwähnt, daß die sozialen Unterschiede heute größer sind als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Die Wärme, mit der uns die Schauspieler und der Regisseur von La Memoria begrüßen, läßt die Herzen höher schlagen. Da einige der Schauspieler, die in Berlin dabei waren, andere Verpflichtungen haben, wählen wir vor Probenanfang drei junge Schauspielschüler (Julieta Figueroa, Alessandra Guerzoni,

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Claudio González) und einen Bühnenbildstudenten (Rodrigo Bazaes) aus. Eine erste Begegnung mit der Wüste: der junge Bühnenbildner zeigt uns phantastische Skizzen und Arbeitsproben, die er in Erinnerung an seine Heimat Iquique angefertigt hat, eine Stadt in der Wüstenregion im Norden des Landes. Die Wüste trage ich im Herzen. Sie ist Erinnerung, denn alles, was sie verschlingt, gibt sie auch wieder frei. Er erzählt uns auch von der Schule Santa Maria, die er besucht hat, und in der 1907 über 3.000 streikende Arbeiter von den Minenbesitzem und vom Militär umgebracht worden sind. Rodrigo Pérez, Paulina Urrutia und Nestor Cantillana sind uns als Schauspieler von der Memoria-Gruppe erhalten geblieben. Für die Proben und eine spätere Aufführung hat uns das Goethe-Institut einen weißen und quadratischen Konferenzraum zur Verfugung gestellt: ein gesichtsloser, steriler Ort. Es ist ein Neuanfang für die Gruppe: Gespräche über unser Leben in den modernen Großstädten Berlin und Santiago. Ich bin während der Diktatur geboren worden. In meiner Familie wurde Geschichte vertuscht. Sie existierte einfach nicht. Claudio definierte sich wie Nestor als Kind der Diktatur. Den Umgang mit Geschichte setzt Julieta mit der Stadtarchitektur gleich: Alles was dir beigebracht wird, sollst du auch wieder vergessen. Anstatt daß sich das Neue zu dem Alten fugt, wird das Alte ausradiert. Alessandra: Die Diktatur hat eine Generation daran gehindert, ihre Träume und Sehnsüchte auszuleben. Den jungen Menschen von heute hat sie verweigert, überhaupt welche zu haben. Die jungen Theaterleute von heute entdecken Themen wie die Sexualität, die während der Militärdiktatur ein Tabu waren. Es geht aber nie um das Wiedererlangen von Erinnerung. Hängt Erinnerung vom Wollen ab, vom Können, ist sie ein NachDenken? Die Diktatur hat das Denken verboten. Die Kritik, oder einfach eine Meinung zu haben, das existierte nicht. Wir sind nicht daran gewöhnt, offen darüber zu sprechen, was wir denken. Die Palette der Spekulationen in der Gruppe über die Gründe der scheinbaren Geschichtslosigkeit ist breit. Sind die Wunden zu frisch? Die Angst noch zu präsent? Die zeitliche Distanz nicht groß genug? Oder drückt sich einfach der Wunsch aus, die Vergangenheit hinter sich zu lassen? In einer Atmosphäre des Vergessens und der Nicht-Erinnerung wollen wir an einem Text arbeiten, der den Untertitel „Erinnerung an eine Revolution" trägt, uns mit einem Autor beschäftigen, dessen Motivation die Auseinandersetzung mit Geschichte war und von dem die Worte stammen: „Meine Texte sind Texte, die auf Geschichte warten". Die Arbeit am Steinbruch. Gerade der Widerstand zieht an und macht die Suche noch spannender. Auch wenn der Begriff „Französische Revolution" am An-

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fang fast ein Fremdwort ist, bringen die langen Gespräche und die Auseinandersetzung mit den Textpassagen die Figuren der gescheiterten Emissäre, des Matrosen, Antoines und des „Engels der Verzweiflung" näher. Der labyrinthische Weg des Mannes im Fahrstuhl löst viele Assoziationen aus: die Klaustrophobie der Zeit, der Mensch im Dienst der Zeit, der Auftrag, der sich als Halluzination oder Traum entblößt. Immer wieder und überall zeigt sich der Verrat, bis er sich in Müllers Text selbst in der letzten Szene verdichtet und klar zum Vorschein tritt. Dieser letzten Textpassage geben wir den Titel „In den Zeiten des Verrats". Verrat ist eine alltägliche Erfahrung im Umgang mit sich selbst und anderen. Für mich heißt Verrat mit Pinochet Kaffee zu trinken. Die Leute haben politische Reden geschwungen und schütteln ihm jetzt die Hand. Der Redemokratisierungsprozeß wurde von Verrätern vorgeschlagen und durchgefiihrt. Die rechtsprechende Gewalt ist eine große Wunde, der Verrat geht in diese Richtung. In den Zeiten der Diktatur hat man den Verrat am Körper gespürt, weil man mit dem Tod gelebt hat. Heute kann man sich verteidigen. Debuisson ist auf der Seite der Verräter, aber andererseits will er etwas vom Kuchen abhaben. Man kann sich mit ihm identifizieren. Er ist ein menschliches Wesen. Mit der Verratszene starten wir unsere ersten Improvisationen; verschiedenste Spielvariationen, die jedoch alle bald feststecken. Irgend etwas stimmt an der Beziehung Schauspieler-Text nicht. Im l:l-Verhältnis dramatisch ausgespielt, werden die Texte unglaubwürdig, verlieren ihre Kraft; ein entmutigendes Sackgassengefuhl. Als Strategie zur Überwindung der Krise lockern wir die Probe mit einer Theaterübung von Augusto Boal, dem Maschinenspiel, auf. Zu einem bestimmten Thema (Liebe, Haß, etc.) macht ein Schauspieler eine rhythmische, sich wiederholende, möglichst von einem Geräusch begleitete Bewegung. Einer nach dem anderen schließt sich mit einer eigenen Idee an die Maschine an. Unbeschreibliche Szenen, Bilder, Momente entstehen. Anregende Einblicke in das Gesten- und Phantasiepotential der Schauspieler werden freigelegt. Die Textprobe beginnt mit einem kleinen Verrat. Ohne das Wissen der Mitspielerinnen hat Paulina die Anweisung bekommen, Debuisson mit Humor zu spielen. Virtuos kostet sie die gestellte Aufgabe aus. Eiszeit. Der Verrat wird real. Erstmals wird die Szene zu einem Ereignis und nicht zur Imitation einer Atmosphäre. Obwohl uns eine gute Übersetzung ins Kastilische von Jorge Riechmann vorliegt, entscheiden wir uns mit Rodrigo Perez, der ein Jahr in Deutschland gelebt hat, für eine Neuübersetzung ins chilenische Spanisch. Die Unterschiede sind zu

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groß. Unsere Übertragungs-Arbeit, an der wir nach den Proben oft bis spät in die Nacht sitzen, kann nur eine Annäherung sein. Wir versuchen, die Musikalität, den Rhythmus und die Körperlichkeit der Sprache zu übertragen, die provokative Rätselhaftigkeit und zugleich die Klarheit der Sätze beizubehalten. Wir wehren uns gegen die Versuchung, die Sätze im Spanischen in einer Form abzurunden, die dem deutschen Originaltext nicht entspricht. Wort für Wort diskutieren wir über mögliche Übertragungen von Metaphern. Die Übersetzung wird zu einer veränderlichen Größe, die der Prüfung in der Theaterpraxis der Proben standhalten muß und immer wieder getestet wird. Die Übertragung in das chilenische Spanisch und auf den Kontext des Landes eröffnet spannende Räume und Parallelen: „Ich fürchte mich, Sasportas, vor der Schande, auf dieser Welt glücklich zu sein." sagt Debuisson, nachdem ihn Sasportas und Galloudec allein gelassen haben. Schande haben wir mit „ignominia" übersetzt. In der letzten Rede vor seinem Tod warnte Allende immer wieder vor der „ignominia" der Verräter. In unserer theatralen Suche behalten wir das Fragmentarische von Müllers Textmaterial bei und nähern uns jedem Textblock gesondert. Das „Theater der weißen Revolution" streichen wir und integrieren „Herakles 2 oder die Hydra" aus „Zement" in das Spiel. Aus einer Abwandlung der Maschinenübung ist eine beeindruckende, pantomimische Szene entstanden, in der die Schauspieler von Wasserwerfern gegen die Wand geschleudert werden: die Niederlage und das immer wieder neue Aufrichten. Wir spielen den Text der „Hydra" vom Band ein, und Rodrigo legt über den Overheadprojektor die Schwarz-Weiß-Kopie einer Photographie auf die Spieler, die die Umrisse eines Menschen auf einer von Kugeleinschüssen durchsiebten Wand zeigt. Wir spielen mit den Brüchen, der Verbindung von Tragik und Komik. Auch für das Bühnenbild wird der „geschichtslose" Raum zum Leitfaden. Was anfangs ein zufalliges Spiel war, entpuppt sich als Möglichkeit, immaterielle Erinnerungskonstellationen zu schaffen. Es entstehen Lichträume, in denen die Projektionen des Overheadprojektors die Körper der Schauspieler in sich aufnehmen. Der Bühnenbildner Rodrigo Bazaes wird zum aktiven Mitspieler in der kollektiven Erinnerungsarbeit. Im Gegensatz zu den anderen betont er immer wieder, in Iquique mit dem Gedenken an Geschichte aufgewachsen zu sein, nicht zuletzt in seiner Schule, in der die Toten des Massakers immer präsent waren. Im Zuschauerraum will er eine Lampeninstallation aufbauen mit den für chilenische Friedhöfe typischen, elektrischen Kerzenimitationen. Die Materialien für die visuellen Erinnerungsräume verdichten und verknüpfen sich: die

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Erdbeben, die mit ihren Eruptionen den Stillstand durchbrechen; die Wüste, die Erinnerung konserviert, und die Geisterstadt Chacabuco. War es die merkwürdige Faszination, die von Rodrigos Erzählungen über die Wüste ausging, die Alexander auf Chacabuco aufmerksam gemacht hat, oder die Erinnerung an die Volkseigenen Betriebe im Osten Deutschlands? Chacabuco ist eine verlassene Salpeterstadt mitten in der Wüste im Norden Chiles: ein Sammelbecken von Geschichte(n) und Berührungspunkten. Mit der Entdeckung des Salpeters als Düngemittel stand ein Deutscher an der Wiege der chilenischen, lange von den Engländern dominierten Salpeterindustrie. Anfang der 20er Jahre wurde Chacabuco aufgebaut, eine weitgehend autonome Stadt, eher ein Lager, das in Arbeits- und Wohnanlage aufgeteilt und insgesamt nur 14 Jahre in Betrieb war. Jahre später nutzte die Militärdiktatur die verlassene und entlegene Siedlung als KZ. Ehemalige SS-Angehörige hatten die Finger im Spiel und halfen, das Lager strategisch zu perfektionieren. Fast pedantisch genau hat das Militär beim Verlassen Chacabucos alle Inschriften der Gefangenen von den Wänden gekratzt. Heute sind die Gebäude im Verfall begriffen, die Wüste scheint sie wieder aufnehmen zu wollen. Dank der Initiative des GoetheInstituts Santiago wird Chacabuco heute als nationales Denkmal geschützt und soll in die Liste der Weltkulturdenkmäler der UNESCO aufgenommen werden. Die vom Goethe-Institut Santiago initiierte Restaurierung des Theaters und der Philharmonie können nur erste Schritte auf dem langen Weg des Erhalts dieser historischen Gedenkstätte sein. Während unserer Arbeit lernen wir mit dem chilenischen Photographen Ricardo Pereira und seinem Multimediaprojekt Album Wüste. Geschichten des Salpeters einen engagierten Mitstreiter auf der Suche nach Geschichte und Erinnerung kennen. Seinem phantastischen Bildmaterial hat er die Worte „Die Völker, die ihre Geschichte ignorieren, sind dazu verurteilt, ihre Fehler zu wiederholen" vorangestellt. Eins fugt sich zum anderen, verdichtet sich. Den fragmentarischen Charakter des Textes unterstreichen die „Interprojektionen", die wir zwischen die Szenen schieben: Diaprojektionen von Bildmaterial, das, nach und nach in Gesprächen und Proben gesammelt, unsere Assoziationsräume widerspiegelt: Erdbebenansichten, Bilder aus der chilenischen Geschichte, aus dem Heynowski und Scheumann-Film: Ich war. Ich bin. Ich werde sein.1 Herauskopierte Aufnahmen aus dem Stadion 73 in Santiago, den Lagern Chacabuco und Pisaguas, das von Ricardo Pereira aufgenommene heutige Chacabuco und Alexanders BunkerBlock, eine Diasequenz mit Bildern zur deutschen Geschichte, die von Photo1

Ich war. Ich bin. Ich werde sein. Studio H&S Berlin, 1974.

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graphien des Bunkers am Friedrichshain umrahmt wird. Ein verlorener alter Schuh geht in Röntgenaufnahmen über, die das Aufrichten einer verkrümmten Wirbelsäule dokumentieren. In „seiner" Interprojektion läßt Rodrigo Bazaes die eigene Wüsten- und Krankheitserinnerung schmerzhaft erfahrbar werden. Das Erstaunen und das Interesse der jüngeren Schauspieler angesichts dieser Bilder aus der chilenischen Geschichte, die wir dem Schwarzbuch Chile und dem Heynowski und Scheumann-Film entnommen haben, überrascht. Der Zugang zu dem Material scheint nicht selbstverständlich zu sein. Auf der Straße sehen wir, wie eine Gruppe von Leuten vor dem Militär wegläuft. Wir erfahren, daß sie gegen die Festnahme der Leiterin der kommunistischen Partei, Gladys Marín, demonstrieren, die es gewagt hatte, Pinochet öffentlich einen Mörder zu nennen. Aufruhr bei Militär und Presse: Erstmals nach seinem letzten Staatsbesuch 1972 will Fidel Castro nach Chile kommen, um an dem lateinamerikanischen Gipfeltreffen teilzunehmen. Pinochet verweigert Fidel die allen Staatspräsidenten zugesicherte Panzerglaslimousine und verdrückt sich nach Iquique. Blut und Wasser schwitzend lernt Rodrigo Pérez den Fahrstuhltext auf deutsch. Er findet sich schließlich nach einigen Irrwegen in einem chilenischen, von der Wallstreet träumenden Yuppie wieder, der von dem jungen, über die Absurdität dieser Figur staunenden Chilenen, Nestor Cantillana, ins Spanische gedolmetscht wird. Parabel unseres deutsch-chilenischen Auftrags? Befreiend ist vor allem die Komik, die etwas von dem Enthusiasmus und Spaß ausdrückt, den wir bei der Beschäftigung mit dem beängstigend ernst-nagenden Thema des Auftrags haben. „Was die Menschheit eint, sind die Geschäfte. Die Revolution hat keine Heimat mehr." Ja. Wo man sich auch umschaut: Berlin, Santiago, Säo Paulo. Es scheint zu stimmen, keine Frage. Mit einer kaum beschreibbaren Virtuosität und Kraft und bis an die Schmerzgrenze der eigenen Identität läßt sich Paulina Urrutia auf die Figur des Debuisson ein. Sasportas/Rodrigo liest seine letzten Worte, die mehr als ein lächelnd erinnerndes Kopfschütteln hervorrufen: „Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf die Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsere Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerika sind ich." Der Verrat wird real, nicht nur zwischen den Theaterkollegen. Die Sätze, die Müller Debuisson in den Mund gelegt hat, vibrieren im Raum, lösen Wut aus: Wut auf eine Gesellschaft, die ihre Ge-

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schichte, ihre Sehnsüchte, ihre Träume und ihre Toten unter Trümmern vermodern läßt. Ganz vorsichtig legt unser Mann aus der Wüste, Rodrigo, aus dem Sand des Verrats, der die letzte Textpassage bedeckt hat, die Gesichter „seiner" Toten, der Minenarbeiter aus dem Norden frei.

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La Misión (Heiner Müller). Regie: Alexander Stillmark

La Misión (Heiner Müller). Regie: Alexander Stillmark

La Misión (Heiner Müller). Regie: Alexander Stillmark

La Misión (Heiner Müller). Regie: Alexander Stillmark

La Misión (Heiner Müller). Regie: Alexander Stillmark

Autoren

HEIDRUN ADLER, Übersetzerin, Romanistin; Deutschland Vorstandsmitglied der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.; Veröffentlichungen zum Theater, zu Lyrik und Prosa; ab 1990 u.a. Handbuch zum lateinamerikanischem Theater (Hrsg., 1991); Theaterstücke aus Mexiko (Hrsg., 1993), Materialien zum mexikanischen Theater (Hrsg., 1994); Hörspiele nach literarischen Vorlagen aus Spanien, Peru und Mexiko; Übers.: Tagebuch der Frida Kahlo (1995); Kinderbuch: Ich sehe dies, und was siehst du? (1996). UTA ATZPODIEN, Literaturwissenschaftlerin; Deutschland Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Spanische Philologie und Politikwissenschaft (fakultativ: Theaterwissenschaft) an der Universität Mainz. Theaterarbeiten als Dramaturgin, Regieassistentin oder -mitarbeiterin in Deutschland, Kolumbien, Chile und Brasilien. Co-Autorin des Dokumentarfilms „Frida Kresnik Kahlo: Mexiko"; seit 1994 Mitarbeit bei der Vorbereitung des FILO (Festival Internacional de Londrina/ Brasilien) und bei der Gestaltung des künstlerischen Rahmenprogramms; verschiedene Übersetzungsarbeiten, u.a. Co-Übersetzerin mit Rodrigo Pérez von Der Auftrag von Heiner Müller ins chilenische Spanisch. MANFRED BEILHARZ, Dramaturg; Deutschland 1957 Studium (Germanistik, Theaterwissenschaft und Jura, beide Staatsexamen) in Tübingen und München. Schauspielunterricht. 1960 Gründung der Studiobühne der Universität München u.a. mit Peter Stein, Otto Sander. 1961 erste Inszenierungen in München und Düsseldorf. 1964 einjähriger Studienaufenthalt in Paris (u.a. am „Théâtre National Populaire"). 1967 Regieassistenz an den Münchner Kammerspielen bei Hans Schweikart, Volontariat bei Fritz Kortner. 1968 Promotion mit Der Bühnenvertriebsvertrag (C.H. Beck, München, 1968). 1968, 1969 Oberspielleiter und Chefdramaturg am Württembergischen Landestheater-WLT. 1970-1975 Intendant am Landestheater Tübingen-LTT. 1976-1983 Intendant am Stadttheater Freiburg. 1983-1991 Intendant am Staatstheater in Kassel (Oper/Schauspiel/Ballett). Seit August 1991 Intendant am Schauspiel Bonn. 1992, 1994, 1996 Festivalleiter „Bonner Biennale - Neue Stücke aus Europa" (zusammen mit Tankred Dorst). Ab August 1997 Generalintendant von Oper, Schauspiel und Ballett Bonn.

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Vorstandsmitglied des Zentrums Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts (ITI), der Europäischen Theater Konvention, der Akademie für Darstellende Künste, Frankfurt/Main. Künstlerischer Beirat Theater der Welt. VOLKER BRAUN, Dramatiker; Deutschland Nach dem Abitur Druckereiarbeiter, Betonrohrleger und Tagebaumaschinist. Studium der Philosphie in Leipzig. 1965 holt ihn Helene Weigel an das Berliner Ensemble, wo sein erstes Stück, Die Kipper, inszeniert (und verboten) wird. Später Mitarbeiter am Deutschen Theater in Berlin und am Berliner Ensemble (1979-90). Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Gedichtbände: Gegen die symmetrische Welt (1974); Training des aufrechten Gangs (1979); Langsamer, knirschender Morgen (1987); Der Stoff zum Leben (1990). Prosa: Unvollendete Geschichte (1977); Hinze-Kunze-Roman (1985); Bodenloser Satz (1990); Der Wendehals. Eine Unterhaltung (1995). Stücke: Hinze und Kunze (Uraufführung: 1973), Tinka (1976), Guevara oder Der Sonnenstaat (1977), Großer Frieden (Uraufführung: 1979), Lenins Tod (Uraufführung: 1988); Dimitri (Uraufführung 1982); Die Übergangsgesellschaft (Uraufführung: 1987); Transit Europa, Der Ausflug der Toten (Uraufführung 1988); Böhmen am Meer (Uraufführung 1992); Iphigenie in Freiheit (Uraufführung: 1992), Limes, Mark Aurel. Aufsätze: „Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie" (1988). Texte in zeitlicher Folge, Band 1-10, 1989-93. CESAR CAMPODÓNICO, Mitglied und Regisseur der Theatergruppe El Galpón; Uruguay 1949 und 1976 führte die Gruppe mehr als 80 Theaterstücke auf. 1976 ging die Gruppe nach Mexiko ins Exil. 1985 kehrte sie nach Montevideo zurück, wo sie zur Zeit in drei Sälen arbeitet. Viele große Namen sind mit „El Galpón" verbunden, angeführt von dem ihres letzten Leiters, Atahualpa del Cioppo. ALFREDO CASTRO, Regisseur, Schauspieler, Dramatiker, Dozent; Chile 1986 gnlndet er die Theatergruppe Teatro La Memoria und debütiert als Theaterautor mit dem Stück Estación Pajaritos. 1991 und 1994 Trilogía Testimonial {La manzana de Adán, Historia de la sangre, Los días tuertos). Jüngstes Theaterstück: Hombres oscuros, pies de mármol (1995). JORGE DUBATTI, Theaterwissenschaftler; Argentinien Hochschullehrer für argentinische Literatur und europäische Literatur an der Universidad Nacional de Lomas de Zamora. Gründer des Centro de Investigación en Literatura Comparada. Leiter der Área de Teatro Comparado an der Universidad de Buenos Aires. Vizepräsident der Asociación Argentina de Literatura Comparada (1994-1996).

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Veröffentlichungen seit 1990: Otro teatro. Después de Teatro Abierto. (1991); Teatro 90. El nuevo teatro en Buenos Aires (1992); Comparatística. Estudios de literatura y teatro (1992); Así se mira el teatro hoy (1994); La ética del cuerpo. Conversaciones con E. Pavlovsky (1994); Batato Bareayel nuevo teatro argentino (1995). ALFREDO GOLDSTEIN, Theaterkritiker, Regisseur; Uruguay Seit 1981 Journalist bei Tageszeitungen, Wochenzeitschriften und beim Radio. Seit 1993 Sekretär der Asociación de Críticos Teatrales del Uruguay. Mitglied der Organisationskommission des Internationalen Theaterfestivals in Montevideo. Regisseur mit ca. 30 Inszenierungen, u.a.: Sommernachtstraum (William Shakespeare), Nuestro fin de semana (Roberto Cossa), Krinsky (Jorge Goldenberg), Matatangos (Marco Antonio de la Parra). RAMÓN GRIFFERO, Theater- und Filmregisseur, Dramatiker; Chile Gründer von El Trolley, ab 1984 Teatro Fin de Siglo. Theaterstücke und -inszenierungen: 1984 Cinema Utoppia (das Stück wird in der Übersetzung von Bernd Kage in die Anthologie Theaterstücke aus Chile aufgenommen), La Morgue 99; Historia de un Galpón abandonado; Extasis und Río abajo. BIRGID GYSI, Dramaturgin; Deutschland Studium der Theaterwissenschaft an der Theaterschule Hans Otto in Leipzig; 19631976 Dramaturgin an der Volksbühne am Luxemburgplatz, dramaturgische Mitarbeit bei Inszenierungen von Fritz Bornemann (M. Frisch: Andorra, Ottofritz Gaillard (B. Shaw: Cäsar und Cleopatra), Christoph Schroth (U. Plenzdorf: Neue Leiden des jungen W.), Manfred Karge/Matthias Langhoff (Ostrowski: Der Wald) u.a.m. Übersetzungen und Bearbeitungen zahlreicher Theaterstücke. 1976-1990 Theaterwissenschaftlerin an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften; 1981 Promotion Dr. phil., 1990 Promotion Dr. sc. phil., 1991-1996 Geschäftsführerin der dramaturgischen Gesellschaft, seit 1991 Dramaturgin am Theater im Palais. MANUEL HERMELO, Theatermacher, Soziologe; Argentinien Gründer der folgenden Theatertruppen: 1993 Visciglio & Hermelo, 1986/92 La Organización Negra, 1984/85 La Negra, 1984 Huidobro Arte, 1983 En Ablande. Wichtigste Theaterarbeiten und performances: 1988: Text, Inszenierung und Schauspieler von La Tirolesa, 1986: Mitschöpfer und Schauspieler von UORC. Teatro de Operaciones, 1991: Text und Regie von Argumentum Ornithologicum. Seit 1994: Konzeption und Ausführung des Theaterprojekts La Línea Histórica. FRANK HÖRNIGK, Germanist; Deutschland 1984-1990 Hochschuldozent (seit 1988 außerordentlicher Prof.) an der Sektion Germanistik der Humboldt-Universität Berlin, 1993 Professur für das Fachgebiet Neuere

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Deutsche Literatur, 1993 Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums (Ost), praktische Theaterarbeit vor allem am Staatsschauspiel Dresden, Mitbegründer des literarischen Theaters „Dresdner Brettl", Bobrowski-Projekt mit dem Titel,Alles auf Hoffnung...", Premiere 1987 an der Volksbühne Berlin, Gastspielreisen in die Schweiz, u.a. an das Schauspielhaus Zürich sowie an mehrere Theater in der Bundesrepublik; 1989 die literarische Collage „Frauenbilder" (nach Heiner Müller) am Schauspiel Dresden, Einladung zu den Berliner Festwochen, Gastspiel am Berliner Ensemble. Publikationen (Auswahl): Nachdenken über ein Tribunal. Brief an Wolfgang Thierse (1992), Bilder des Organischen in der DDR-Literatur (1995), Am 'Ende der Utopien ' kein Ende der Geschichte - das Theater geht weiter (1995), Herausgeber u.a. von: Heiner-MüllerMaterial ( 1991 ), Kalkfell -für Heiner Müller. Arbeitsbuch ( 1996). FRANCISCO JAVIER, Theaterwissenschaftler; Argentinien Promotion im Fachbereich Theaterwissenschaft an der Universität von Paris VIII. Direktor des Instituto de Investigaciones Teatrales de la Facultad de Filosofìa y Letras de la Universidad de Buenos Aires. Dozent an der Hochschule der Künste, Spezialgebiet Schauspielkunst, mit dem Schwerpunkt Kritik und Analyse des Theaters; seit 1986 an der Facultad de Filosofia y Letras de la UBA. HEDDA KAGE, Dramaturgin; Deutschland 1988 Gründung der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. mit Geschäftsstelle in Stuttgart und einer Theaterpension. Delegierte von CELCIT in Deutschland, Mitglied (z.Zt. im Vorstand) des Zentrums Bundesrepublik des ITI. Seit 1984 freie Mitarbeit als Hörspiellektorin beim WDR mit Schwerpunkt Lateinamerika (Durchführung von Hörspielwettbewerben in 11 Ländern, Organisation von Radiokonferenzen 1992 Quito und 1994 Berlin, Jury-Mitglied bei der 1. Radio-Biennale Lateinamerika, Mexiko 1996). Rundfunkbeiträge für NDR/SFB/WDR und zahlreiche Veröffentlichungen zum Theater Lateinamerikas in Bühnenkunst, Humboldt, Teatro Revista del GATEA, Deutsche Bühne, TheaterZeitSchrift sowie für das Theaterlexikon des Henschel-Verlages, für das Handbuch zum lateinamerikanischen Theater (1991), für Das moderne Theater Lateinamerikas, Frankfurt 1992. MARIA DE LA LUZ HURTADO, Theaterwissenschaftlerin; Chile Vizepräsidentin des chilenischen Zentrums des ITI und Delegierte von CELCIT in Chile; Soziologin mit Schwerpunkt Kultursoziologie, mit umfänglicher Forschungstätigkeit in den Bereichen Theater-, Fernseh- und Filmgeschichte. Direktorin der theaterwissenschaftlichen Forschungsabteilung der Universidad Católica de Chile, Herausgeberin der hier erscheinenden Theaterzeitschrift Apuntes. Publikationen der letzten Jahre: El Melodrama y El Sainete: Transformaciones del Teatro chileno en la Década del 70, Teatro de Juan Radrigàn, Testimonio del Teatro:

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35 Años de Teatro en la Universidad Católica de Chile, Teatro y Sociedad Chilena, La Dramaturgia de la Renovación Universitaria entre 1950 y 1970, El Teatro Chileno durante el Régimen Military Memorias Teatrales. ROGER MIRZA, Theaterwissenschaftler; Uruguay Hochschulprofessor im Fachbereich Neuere Philologie an der Universidad de la República. Mitbegründer des vom Kritikerverband initiierten und organisierten zweijährig stattfindenden internationalen Theaterfestivals in Montevideo, Vertreter Uruguays beim 1. Berliner Symposium über das moderne Theater Lateinamerikas und beim ITI-Symposium im Rahmen des Festivals Theater der Welt, Essen 1991. Publikationen ab 1990: El naturalismo y sus transgresiones, Teatro uruguayo contemporáneo, (1992) "Transformaciones y permanencias en el sistema teatral uruguayo en la decada del 80" (in Hacia una nueva crítica y un nuevo teatro latinoamericano, hrsg. von A. u. F. de Toro, 1993). RICARDO MONTI, Schriftsteller; Argentinien* Veröffentlichungen von Theaterkritiken und literarischen Essays in Zeitungen und Zeitschriften. 1981 Gründungsmitglied von Teatro Abierto. Wichtigste Theaterstücke: Una noche con el Sr. Magnus & Hijos; Visita; Marathon (deutsch in: Theaterstücke aus Argentinien, Berlin 1993), La cortina de abalorios; Una pasión sudamericana (deutsch bei: Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. unter dem Titel: Eine südamerikanische Passion). THOMAS OBERENDER, Autor; Deutschland Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Hochschule der Künste Berlin; 1994 Diplom in Theaterwissenschaft. Veröffentlichte bis 1993 Essays, Literaturund Theaterkritiken in Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften. „Zwischen Mensch und Maschine" (Universität Gesamthochschule Siegen, 1993). Für Steinwald's Preis der Frankfurter Autorenstiftung (Aufführungen 1995 in Leipzig und Bochum). 1994 Summer School am Royal Court Theatre London. 1995 Bearbeitung von Joe Ortons Entertaining Mr. Sloane für die Städtischen Bühnen Chemnitz. Lesung aus Die Rechnung (Drama, 1995) beim Cheltenham Festival of Literature. Lebt in Berlin. JOHANNES ODENTHAL, Kunsthistoriker; Deutschland Bereichsleiter für Musik, Tanz und Theater im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, Gründer der Zeitschrift ballett international/tanz aktuell, Herausgeber und Chefredakteur, heute Berater. Publikationen zur zeitgenössischen Kunst und Kultur. EDUARDO PAVLOVSKY, Autor, Schauspieler, Arzt, Psychoanalytiker; Argentinien Wichtigste Theaterstücke: La cacería (1970), La mueca (1971), El señor Galíndez (1973), Telarañas (1977), Cámara lenta (1981), El señor Laforgue (1983), Potestad

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(1985) (deutsch in: Theaterstücke aus Argentinien. Berlin 1992), Pablo (1987), Paso de dos (Einladung zum Festival Theater der Welt, Essen 1991), El Cardenal (1992) und Rojos globos Rojos (1994). ANDRÉS PÉREZ ARAYA, Schauspieler, Autor, Tänzer, Regisseur; Chile Von 1983 bis 1989 Mitarbeit im Théâtre du Soleil. 1989 ging er zurück nach Chile und inszenierte La Negra Ester, dramatisiert von Roberto Parra und Andrés Pérez Araya. Gründung eines eigenen Theaters in Santiago, das Gran Circo Teatro mit den Produktionen Popol Vuh (1992), El Desquite (1996). GLADYS RAVALLE, Schauspielerin, Regisseurin; Argentinien Gründerin und Leiterin des Teatro Goethe, an dem sie vorrangig Inszenierungen deutschsprachiger Stücke realisiert hat, u.a. Also sprach Zarathustra, Der Besuch der alten Dame, Biberpelz. DIANA RAZNOVICH, Schriftstellerin; Argentinien Wichtigste Theaterstücke: Buscapies-, Plaza hay una sola\ El desconcierto (deutsch unter dem Titel Konzert des Schweigens in: Theaterstücke aus Argentinien. Berlin 1993); Objetos perdidos, Plumas blancas, plumas negras', Jardín de otoño; Casa Matriz; Desde la cintura para abajo. Der Fischer Verlag in Deutschland hat ihre sämtlichen Stücke veröffentlicht. Romane: Para que se cumplan todos tus deseos (1990); Indira Gandhi o el imposible término medio (1990) und Mater Erótica (1992). Casa Matriz wurde in Norwegen, Finnland, Schweden und der Schweiz inszeniert. Diana Raznovich hat ein John-Simon-Guggenheim-Stipendium erhalten. VALERIA RISI, Schauspielerin; Uruguay Exil in Santiago de Chile von 1972 bis 1973, dann in der BRD von 1973 bis 1981 und schließlich in Mexiko-Stadt von 1981 bis 1986. Schauspielausbildung in der Escuela Municipal de Arte Dramático Margarita Xirgú in Montevideo (1989 bis 1992). Von 1992 bis 1995 spielte sie in der Comedia Nacional im Ensemble des Teatro en el Aula, arbeitete in verschiedenen unabhängigen Theatergruppen und in Karnevalstruppen. Teilnahme an zahlreichen Theater,- Tanz- und Pantomimeworkshops in Uruguay, Mexiko und Deutschland. MARTIN ROEDER-ZERNDT, Amerikanist, Theaterwissenschaftler; Deutschland Studium der Anglistik, Romanistik, Philosophie und Pädagogik in Berlin, Theater- und Schauspielstudium an der University of Toronto, Kanada, Promotion 1992; Lehrbeauftragter des John F. Kennedy-Instituts der FU Berlin, 1992 Leiter des Theater- und Konzertbetriebes des Elbeforums Brunsbüttel, seit 1993 Geschäftsführer des Zentrums Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts.

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Publikationen u.a.: Lesen und Zuschauen. David Mamet und das amerikanische Drama und Theater der 70er Jahre (1994), seit 1993 Herausgeber der Schriftenreihe des Internationalen Theaterinstituts. KATI RÖTTGER, Theaterwissenschaftlerin; Deutschland Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie an der FU Berlin, Promotion 1992; Mitbegründerin der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. (Stuttgart), Postdoktorandin im Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz & Literatur" an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Dozentin am Institut fiir Theaterwissenschaft der LMU München. Mitglied des ITI. Publikationen: u.a.: Kollektives Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität. La Candelaria und das neue kolumbianische Theater. (1992), sowie verschiedene Aufsätze und Übersetzungen aus dem Spanischen und Niederländischen; zusammen mit Heidrun Adler Vorbereitung einer Anthologie mit Theaterstücken lateinamerikanischer Dramatikerinnen und eines wissenschaftlichen Begleitbandes. MARIA SCHÜLLER, Autorin, Regisseurin; Deutschland Seit 1985 freie Regisseurin an verschiedenen Theatern, Autorin kabarettistischer Kurzhörspielreihen und Hörspiele beim WDR, 1994 auf Einladung des Goethe-Instituts Gastinszenierung in Santiago de Chile, Auszeichnung mit dem chilenischen Kritikerpreis fiir die beste Inszenierung, 1993-1995 Hausregisseurin am Stadttheater Konstanz, 1997 Lehrauftrag an der Univ. Dortmund, Fakultät Frauenstudien. Inszenierungen seit 1985 in Bruchsal, Luzern, Essen, Neuss, Heilbronn, Wilhelmshaven, Detmold, Rostock, Konstanz, Stuttgart, Dortmund, u.a. Kuß der Spinnenfrau, Liebe und Magie in Mamas Küche, Mein Kampf, Kannibalen, Am Ziel. PETER B. SCHUMANN, Publizist; Deutschland Seit 1968 Publizist mit dem Schwerpunkt Kultur und Kulturpolitik Lateinamerikas, u.a. zahlreiche Beiträge über lateinamerikanisches Theater fiir den Rundfunk und die Deutsche Bühne. Sachbücher u.a. Kino und Kampf in Lateinamerika (1976); Handbuch des lateinamerikanischen Films (1982); Historia del cine latinoamericano (1987). Als Herausgeber: Der Maler Jacobo Borges (1987); Einige Indizien oder Der letzte Ausweg (1994); Der Morgen ist die letzte Flucht, Kubanische Literatur zwischen den Zeiten (zusammen mit Thomas Brovot, 1995). KERSTIN SPECHT, Autorin; Deutschland Besuch der Filmhochschule München. Drei Kurzfilme: Die stille Frau, Afrika, Wilgefort. Bisher sechs Theaterstücke (publiziert und aufgeführt): Lila, Glühend Männla, Amiwisn, Mond auf dem Rücken, Der Flieger, Carceri.

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ALEXANDER STILLMARK, Regisseur; Deutschland 1964-71 Regieassistent und Regisseur am Berliner Ensemble; 1971-86 Regisseur am Deutschen Theater Berlin; 1986-89 Regisseur und Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" Berlin; 1989-92 Schauspieldirektor am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin; seit 1992 freischaffender Regisseur in Berlin. Wichtige Inszenierungen seit 1980: Traktor/Die Schlacht, Müller (Erfurt 1980)«; Draußen vor der Tür, Borchert (Deutsches Theater 1980)*; Legende vom Glück ohne Ende, Plenzdorf (Deutsches Theater 1982; aus politischen Gründen untersagt)*; Das Ende der Welt mit anschließender Diskussion, Kopit (Deutsches Theater 1983); Mann ist Mann, Brecht (Lilla Theater Helsinki)*; Der kaukasische Kreidekreis, Brecht (Cheo-Theater, Hanoi); Teilnahme an den Berliner Festtagen 1985; Bruder Eichmann, Kipphardt (Deutsches Theater 1984); Aide Mémoire, Szenische Aktion zur Musik von G. Katzer; Die Ausnahme und die Regel, Brecht (Dhaka, Bangladesh 1987); Woyzeck, Büchner (Nikosia, Zypern); Roberto Zucco, Koltés (Staatstheater Schwerin 1991); Iphigenie (Oper nach Goethe/V. Braun 1993) komponiert von R. Hoyer und S. Stelzenbach (Hebbeltheater Berlin); Fahrtenbuch (Hebbeltheater Berlin 1995). Regie bei Theaterdokumentationen fiir TV, Hörspielregie, Schallplatten-Regie. *zusammen mit Klaus Erforth INÉS MARGARITA STRANGER, Dramatikerin, Drehbuchautorin für das Fernsehen, Dozentin für szenisches Schreiben; Chile Abgeschlossene Schauspielausbildung an der Universidad Católica de Santiago de Chile. Debütierte als Theaterautorin 1990 mit dem Stück Cariño Malo nach gemeinschaftlicher Produktionsarbeit mit der Regisseurin Claudia Echeñique und den Schauspielerinnen Claudia Celedón, Paulina Garcia und Giselle Demelchiore. Malinche, ihr zweites Stück, wurde 1993 ebenfalls in der Regie von Echeñique uraufgeführt. HALIMA TAHÁN FERREYRA, Schriftstellerin, Kritikerin; Argentinien Herausgeberin der Zeitschrift Teatro al Sur. Leitung einer Forschungsgruppe über weibliche Dramatik in Argentinien von 1960-1990. Autorin der Theaterstücke El viaje de Gilgamesh, Operaciones Divinas, La Muerte Viva und von Teatro y Utopías. Veröffentlichte zahlreiche Artikel in Tageszeitungen, Büchern und Fachzeitschriften. Dozentur für Theatersemiotik an der Escuela de Artes de la Universidad Nacional. Mitglied des Consejo Asesor de la Revista de Estudios und des Programa Multinacional de Artes-Area Teatro der Organización de Estados Americanos. ALFONSO DE TORO, Romanist; Deutschland/Chile Promovierte an der Universität München, habilitierte sich an der Universität Hamburg, lehrte 1978-1992 an den Universitäten Kiel und Hamburg; z.Z. Professor für Romanistik (mit den Schwerpunkten Französistik, Hispanistik, Lateinamerikanistik und Lusitanistik, Semiotik, Theater- und Kulturtheorie) am Institut für Romanische Philologie

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der Universität Leipzig. Mitbegründer und Direktor des interdisziplinären IberoAmerikanischen Forschungsseminars, angesiedelt im gleichen Institut, und Leiter der wissenschaftlichen Reihen Teoría y Crítica de la Cultura y Literatura; Teoría y Práctica del Teatro, Mitherausgeber der wissenschaftlichen Reihe Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft sowie der Theaterzeitschrift La Escena Latinoamericana. Seit 1984 zahlreiche Vortragsreihen in Europa, Nord- und Südamerika und Gastprofessuren. Zu seinen wichtigsten Publikationen in eigener Verantwortung zählen ab 1990: Los laberintos del tiempo (1992); Von den Ähnlichkeiten und Differenzen. Ehre und Drama des 16. und 17. Jahrhunderts in Italien und Spanien (1993); als Herausgeber: Jorge Luis Borges (1992); (mit F. de Toro) Hacia una nueva crítica y un nuevo teatro latinoamericano (1993); (mit M. Canevaci) La communicctzione teatrale. Un approccio transdisciplinare (1993); (mit W. Floeck) Teatro Español Contemporáneo. Autores y Tendencias (1995); (mit D. Ingeschay) La Novela Española Contemporánea. Autores y Tendencias Actuales (1995); (mit F. de Toro) Borders and Margins; Post-Colonialism and Post-Modernism (1995). DANIEL VERONESE, Dramatiker, Marionettenspieler, Regisseur; Argentinien Figurenspieler im Marionettentheater des Teatro Municipal General de San Martin (Buenos Aires), Gründer der Theatergruppe Teatro El Periférico de Objetos (seit 1989), wichtigste Produktionen mit der Gruppe: 1989: Ubu Rey, 1990: Variaciones sobre B. ..., 1992: Hombre de arena, 1994: Cámara Gesell, 1995: Máquina Hamlet, 1996: Circonegro. JORGE ALFREDO VISCIGLIO, Grafiker, Schauspieler; Argentinien Realisation der Bühnenbilder und des Story Board bei den meisten Produktion der Theatergruppe La Organización Negra. Zur Zeit Co-Regie zusammen mit Manuel Hermelo im Projekt La Línea Histórica. KLAUS VÖLKER, Theaterwissenschaftler; Deutschland 1963-1968 freier Theater- und Literaturkritiker, redaktionelle und editorische Arbeit fur verschiedene Verlage und Zeitungen. 1969-1985 Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, Theater am Neumarkt Zürich, Basler Theater, Bremer Theater und an den Staatlichen Bühnen Berlins. 1980-1992 Lehrbeauftragter für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Von 1986 an Leiter des Stückemarkts der Berliner Festspiele. Seit 1992 Professur für Theatergeschichte und Dramaturgie. Seit Februar 1993 Rektor an der Hochschule ftir Schauspielkunst „Ernst Busch" Berlin. Seit 1959 Membre du Collège de Pataphysique in Paris und dessen Dataire détaché à Berlin. Commandeur Exquis de l'„Ordre de la Grande Gidouille". Zahlreiche Buchveröffentlichungen zum Theater, ab 1990 u.a.: „Max Herrmann-Neiße - Künstler, Kneipen, Kabaretts. Schlesien, Berlin, im Exil." (1991). „Schauspiel-

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führer." (Hrsg. 1992). Herausgeber/Übersetzer u.a. von Werken französischer Autoren, Boris Vian, Jean-Paul Sartre, Raymond Roussel, Jean Genet. DIETER WELKE, Dramaturg; Deutschland Von 1975 bis 1992 Hochschullehrer an der Universität Valenciennes (Frankreich). Mitglied des Centre National de la Recherche Scientiflque (C.N.R.S.). Seit dieser Zeit als Autor und literarischer Übersetzer tätig. 1981-83 Autor und Regisseur beim staatlichen französischen Rundfunk (France-Culture). Seit 1981 Dramaturg. Mitglied der Compagnie des Matinaux, Paris. Zahlreiche Arbeitsaufenthalte in Mexiko und Argentinien. Dramaturgische Mitarbeit im Teatro El Periferico de Objetos. Von 1992 bis 1995 Dramaturg am Schauspielhaus Bochum. Zur Zeit Dramaturg an den Städtischen Bühnen Freiburg. LAURA YUSEM, Schauspielerin, Regisseurin; Argentinien Seit 1970 über 30 Inszenierungen klassischer und moderner internationaler Autoren, darunter Peter Weiss: Der Lusitanische Popanz, Tadeusz Roszewisz. Die Weiße Hochzeit, Maxim Gorki/Botho Strauß: Sommergäste, William Shakespeare: König Lear, Maß für Maß, August Strindberg: Totentanz, Thomas Bernhard. Vor dem Ruhestand. Schwerpunkt ihrer argentinischen Regiearbeit bilden Werke von Griselda Gambaro und Eduardo Pavlovsky. PERLA ZAYAS DE LIMA, Theaterwissenschaftlerin; Argentinien Zahlreiche Publikationen, Veröffentlichungen von Kritiken in verschiedenen Tageszeitungen, Mitarbeit bei internationalen Fachzeitschriften.

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Fotonachweis Hans Ludwig Böhme: S. 56, 57 Juanpa Meló: S. 65, 163 (2), 206, 207, 230 (2), 231, 282, 283, 284 Ramón Griffero, Archiv des Autors: S. 68 (2), 69 Organización Negra, Archiv der Theatergruppe: S. 114 (2), 115 Teatro La Memoria, Archiv der Theatergruppe: S. 232 JanaGhersa: S. 114 Magdalena Viggiani: S. 251, 252, 253, 254 Ute Eichel: S.281 (2)