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German Pages 424 Year 2012
Band 43
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel
Hedwig Pompe
Famas Medium Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert
De Gruyter
Dem geduldigen Zuhörer, für den es lange Zeit auch kein anderes Thema gab
ISBN 978-3-11-028371-6 e-ISBN 978-3-11-028951-0 ISSN 0941-1704 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung
Vorliegende Arbeit ist am Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen 2008 als Habilitationsschrift angenommen worden. Gutachter waren Prof. Dr. Ralf Schnell (Siegen), Prof. Dr. Georg Stanitzek (Siegen) und Prof. Dr. Horst Pöttker (Dortmund). Für die Drucklegung haben Eva Bös und Gerd Müller Korrektur gelesen. Allen Genannten gilt mein sehr herzlicher Dank! Hedwig Pompe
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert . . . . . . 7 II.1. Zwischen Text und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II.2. Im Kontext des Gedruckten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II.3. Techniken und Apparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II.4. Zahlensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
III.
Famas Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1. Medien und Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV.
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61 61 76 100
Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . IV.1. Vorbemerkung: Gelehrter Universalismus und die Universalie Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3. Der Zeitunger: Informant und Rhetor . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung . . . . . . . . IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . .
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136 155 176 190
V.
Zeitungskritik als Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1. Vorbemerkung zur Zeitungstheorie im 18. Jahrhundert . . . . V.2. Die Adressierung von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3. Die Zerstreuung im Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4. Zirkulatorische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.5. Versachlichung der Zirkulation: Joachim von Schwarzkopf . .
207 207 211 238 261 288
VI.
Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch. . . . . . . . . . . 307 VI.1. Vorbemerkung: Zeitungstheoretische Schriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 307
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Inhaltsverzeichnis
VIII VI.2. VI.3.
VII.
Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Die Zeitung im Text der Geschichte: Robert Eduard Prutz Geschichte des deutschen Journalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Epilog: Zeitung Lesen mit McLuhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
VIII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.1. Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.3. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Einleitung
Noch, so kann man sagen, ist die gedruckte Zeitung ein Gegenstand alltäglicher Vertrautheit, auch wenn ihr in den libidinös besetzten Konkurrenzverhältnissen in einer mediatisierten Welt die ›digitale Braut‹ mehr denn je zu schaffen macht. 1951 erstellte Marshall McLuhan in seinem Buch The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man die Diagnose, dass sich die Zeitung angesichts des Mediums im elektronischen Zeitalter, des Fernsehens, nur noch schwer würde behaupten können.1 60 Jahre nach McLuhans Buch bewährt sich die Zeitung neben dem Fernsehen immer noch auf dem Markt; dennoch hat ein Zeitungssterben eingesetzt, da heute insbesondere die Netzkommunikation bestimmte Funktionen übernommen hat, die 300 Jahre lang repräsentativ mit der Zeitungspublizistik verbunden werden konnten: die Gewährleistung einer zügigen, relativ große Reichweiten erzielenden Veröffentlichung von Neuigkeiten verschiedener Art und die Versorgung mit Unterhaltung. Information und Unterhaltung stellen, wie beim Fernsehen und im Netz, Anschlussstellen für Produktwerbung bereit, die auch bei Zeitungen und Zeitschriften im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr zur ökonomischen Grundlage ihrer Wirtschaftlichkeit wurden. Auf den ökonomischen Druck, den das Netz mit seinen Werbemöglichkeiten ausübt, reagieren viele Zeitungen mittlerweile mit zusätzlichen online-Veröffentlichungen, die sich an den Bedingungen der weltweiten Netzkommunikation orientieren und Netzkommunikate sind. Die gedruckte Zeitung kann sich demgegenüber auch künftig möglicherweise noch behaupten, wenn es ihr gelingt, ihr vermeintliches Manko im Vergleich zum Netz – langsamer zu sein und nur über eingeschränkte Reichweiten zu verfügen – als ihre alt-neue Stärke zu verkaufen: Zeitungsberichterstattung erlaubt wohl immer noch etwas mehr Recherchezeit für Problemzusammenhänge und ihre Aufbereitung für die lokalisierte kollektive Wahrnehmung. Diese lokale Rahmung von Weltgeschehen und deren konzentrierte Ressourcen vor Ort stehen in digitalisierter, beschleunigter Weltzeit für Information und Unterhaltung weltweit eher nicht oder nur in dezentrierter Form zur Verfügung. Ob dies wiederum ein Manko ist oder gerade die Stärke von Netzkommunikation, ist der neue Streitpunkt zwischen gedruckter und di-
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Marshall McLuhan. The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man. New York 1951.
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I. Einleitung
gitaler Kommunikation. Zeitungen argumentieren im Wettbewerb um Kunden immer noch mit dem Vertrauen eines an seine Zeitung gewöhnten Publikums, dem sie auch die Last der Auswahl aus einem steten zu Viel an Informationen und Produkten abnehmen.2 Die periodisch gedruckte Zeitung hat selbst lange Zeit davon profitiert, dass sie sich, seit Beginn des 17. Jahrhunderts, in der europäischen Druckkultur als neuer Konkurrent von älteren Medien durchsetzen konnte.3 Das Erscheinen der periodischen Zeitungspublizistik wurde, wie schon der Buchdruck, von Diskussionen begleitet, die im Widerstreit die Vor- und Nachteile der Zeitung und die von ihr bewirkten Veränderungen ventilierten. Die vorliegende Studie interessiert sich für diese Geschichte des Zeitungsdisputs, wie er in den ersten 250 Jahren, zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert, in den deutschen Diskussionen geführt wurde.4 Es geht ihr dabei um die Strukturen und Argumente eines Zeitungsdiskurses, der eine vielschichtige Zeitungstheorie hervorbringt, sich mit den Apparaturen, Funktionen, Formen und Mediatoren des Wissenstyp Zeitung auseinandersetzt und die Zeitung als ein Dispositiv für die Erzeugung von Wissen, etwa in der Form von Informationen, erkennt. Die Gegenstücke des historischen Zeitungsdiskurses, die Technikgeschichte und statistische Daten, die den Erfolg der Zeitungskommunikation belegen, sind in der Forschung über zahlreiche Einzelstudien gut erschlossen worden. Hier schließe ich mit einem summarischen Überblick für den behandelten Zeitraum an Rekonstruktionen der historisch arbeitenden Kommunikations- und Publizistikwissenschaft an.5 Anders sieht es mit dem eingangs erwähnten Zeitungsbuch von Marshall McLuhan aus, das in (deutschen) Forschungszusammenhängen eher wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Ihm gilt der Epilog der vorliegenden Studie. McLuhan hat den Fokus von der Analyse der Zeitung als funktionales Medium der modernen Massenkommunikation auf eine medientheoretische Lesart verschoben, die ›Zeitung Lesen‹ und ›Zeitung Sehen‹ als zwei ineinander übergehende Wahrnehmungsmodalitäten begreift, so dass die Form der Zeitung von ihm neu diskutiert werden konnte.6 Das war die Anregung, um den historischen Zeitungsdiskurs auf seine
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Man vergleiche etwa die Serie selbstbezüglicher Hinweise, mit der die Frankfurter Rundschau vom 28. April bis zum 26. Mai 2007 die Einführung ihres neuen Formats begleitet hat. Vgl. Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert: Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Hg. von Volker Bauer und Holger Böning. Bremen 2011. Der Einfachheit halber wird von einer deutschen Diskussion gesprochen, die sich in der komplexen politischen Einheit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation entfaltete. Zur Frage nach der Einheit des Reichs aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive vgl. Maximilian Lanzinner. Kommunikationsraum Region und Reich. Einleitung. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter. München 2005. S. 227–235. Vgl. Kap. II der vorliegenden Studie (Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert). Vgl. dazu Kap. VII der vorliegenden Studie (Epilog: Zeitung Lesen mit McLuhan).
I. Einleitung
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Seh- und Lesarten dieser Form hin erneut zu befragen. Mir ging es nicht um grundsätzlich neue Verhandlungen darüber, wo Kommunikationstheorie ihrem Selbstverständnis nach mit ihren Fragestellungen zum Medium Zeitung aufhören kann und ob und wie Medientheorie mit einem anderen Interesse an den Materialitäten und Formen ansetzt, um alte Gegenstände und Problemzusammenhänge neu zu erforschen.7 Doch interessierte es mich, kommunikations- und medientheoretische Aspekte an den historischen Verlautbarungen zur Zeitung herauszuarbeiten. Denn spannend daran ist, dass die historischen Beobachtungen des neu auftauchenden Phänomens Zeitung dieses nicht nur funktional befragen, sondern höchst differenziert die Form Zeitung beurteilen, was den Zeitungstheoretikern schon des 17. Jahrhunderts Erkenntnisse über die allgemeine Mediatisierung von Kommunikation und Wissen liefert. So gesehen ließe sich von einer ästhetischen Einstellung schon in der Zeit sprechen, wenn es um das Urteil geht, das eine genuine Aufmerksamkeit für Form in ihrer Selbstbezüglichkeit organisiert.8 Zeitungstheorie beginnt mit dieser Aufmerksamkeit und entsteht in verschiedenen Kontexten. ›Erste‹ Zeitungstheorie liefert schon die Flugblattpublizistik, die zwischen Text und Bild den Sinngehalt von als Zeitung bezeichneten zirkulierenden Informationen allegorisch, zumeist als Satire auf allgemeine Kommunikationsverhältnisse vorführt. Schon hier ist deren Bewertung gespalten, insofern ein vielfältiger, heterogener Umsatz von Kommunikaten aller Art mit den offiziellen, politisch kontrollierten Zugriffen auf Kommunikation und Medien konfrontiert wird. Frühe Zeitungstheorie hängt u.a. mit der Wortgeschichte des Begriffes Zeitung selbst zusammen, welcher sich allmählich von der Referenz auf ein Textgenre ablöst und zum Kennwort der kurzfristigen periodischen Nachrichtenpublizistik wird. Darin gewinnt der Begriff Zeitung eine alle späteren Binnendifferenzen übergreifende Kontur, um ein neues Medium in der Druckkultur als solches im Unterschied zu anderen Medien (wie etwa Einblattdruck, Kalender oder Buch) zu bezeichnen. Zeitungstheorie beginnt
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Dies müsste eigenen vergleichenden Studien vorbehalten bleiben, zumal sich hier auch eine Geschichte der wechselseitigen Nichtwahrnehmung zeigt; vgl. zu unterschiedlichen Herangehensweisen Medien vor den Medien. Übertragung, Störung, Speicherung bis 1700. Hg. von Friedrich Kittler und Ana Ofak. München 2007; Kommunikationsgeschichte: Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch. Hg. von Klaus Arnold, Markus Behmer und Bernd Semrad. Münster 2008; eine Studie, die sich für die Verbindung unterschiedlicher Forschungsperspektiven interessiert, ist Uta Egenhoff. Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008. Ein neu geschärfter Blick auf Formen als Folge von intertextuellen und -medialen Fragestellungen kennzeichnet insbesondere die (internationale) Frühneuzeitforschung, vgl. etwa den Forschungsbericht von Daniel Bellingradt. Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Ein kommentierter Tagungsbericht. In: Jb. für Kommunikationsgeschichte 10 (2008). S. 134–149. Umso interessanter erscheint es mir, das historische Wissen über die Form Zeitung zu befragen.
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I. Einleitung
nicht erst dann, wenn gelehrte Abhandlungen im späten 17. Jahrhundert den Begriff Zeitung für die periodischen historisch-politischen Blätter zu reservieren beginnen und davon schon die Journale der Gelehrten und die (politisch-ökonomisch ausgerichteten) Anzeigenblätter unterscheiden. Allerdings ist es dann das Differenzierungsinteresse in der Gelehrtenkultur der Frühaufklärung, dem es gelingt, die Zeitung theoretisch mehr und mehr dingfest machen, indem auf der Gegenstandsebene die Unterschiede zwischen verschiedenen Typen eines Formund Wissenstyp Zeitung ausgemacht werden. Hier könnte es angebracht erscheinen zu behaupten, dass die begriffliche Kontur eines Mediums Zeitung aus den Effekten des Zeitungsdiskurses entsteht; doch geht es auch um die Tatsächlichkeiten einer Form und eines Prinzips Zeitung, da der Diskurs nicht nur seine eigenen Hinsichten hervorbringt, wenn er zum Beispiel über die Anordnung von Textelementen in einer Zeitung spricht. Die Zeitung gewinnt den Status eines Mediums mit eigenen Gesetzmäßigkeiten für die damit zu verbindende Zeitungskommunikation auch, weil sie wie ein Drittes zwischen Blatt(publizistik) und Buch(publizistik) wahrgenommen wird. Dieser Status des Dritten zwischen dem Einen und einem Anderen markiert dabei das Prekäre an dem neuen und erfolgreichen Form-, Wissens- und Medientyp Zeitung, den die historische Zeitungstheorie von vielen Seiten aus und an vielen Orten zwischen Gelehrsamkeit und Zeitungspraxis diskursiv und performativ einkreist. Zeitungstheorie agiert seit ihrer Frühzeit – wie die periodische Zeitung selbst – verteilt, und sie zieht viele Unterscheidungen ihrer Kontexte heran, um den Status der Zeitung und der Zeitungskommunikation auszuloten. Dazu gehört auch die Berufung auf Merkur und Fama in den Zeitungstiteln des 17. Jahrhunderts. Zeitungsnamen und ikonographische Elemente kommunizieren miteinander derart, dass Text und Bild in der Zeitung auf deren Formen und Funktionen anspielen. Die Geschichte von Merkur und Fama reicht ihrerseits bis in die Antike zurück, und es ist bezeichnend, dass beide Figuren für die Zeitung Werbung machen.9 Es sind zwei Kommunikationskonzepte und umfangreiche Motivkomplexe, die im Namen von Merkur und Fama auf Zeitungstiteln aufgerufen werden; sie stehen gemeinsam und in Konkurrenz für die Zeitung ein.10 Mit Merkur und Fama geht es nicht nur um Wissens- und Machtkonstellationen im (neuzeitlichen) Mediengebrauch, nicht nur um Sprache und ihr Verhältnis zum Logos oder ihre gemeine Geschwätzigkeit, nicht nur um die Ökonomien von linear ausgerichteten und zirkulierenden und verstreuten Kommunikaten, sondern Zeitungstheorie des 17. Jahrhunderts verhandelt dabei auch noch einmal die Reibungspotentiale zwischen Kulturen der Mündlich- und Schriftlichkeit. Die These, dass die Zeitung insbe-
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Umfassend zu Merkur als Allegorie und Konzept Wolfgang Behringer. Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Mit 18 Tabellen. Göttingen 2003; für die Geschichte der Fama Hans-Joachim Neubauer. Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Berlin 1998 (Neuauflage: Berlin 2009). Vgl. dazu Kap. III der vorliegenden Studie (Famas Medium).
I. Einleitung
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sondere ein genuines Medium von Fama ist, wird von mir in diesen Zusammenhängen entwickelt. Ich möchte zeigen, dass es mit dem Konzept Fama um ein historisches Wissen über die prinzipiell offene Form Zeitung geht, das in der Folgezeit aber in den Hintergrund tritt. Denn Zeitungstheorie verschreibt sich seit dem 18. Jahrhundert und dann für lange Zeit mehr und mehr einer Medienund Kulturkritik, die sich auf das fokussiert, was an der Kommunikation unbeherrschbar bleibt. Der Wunsch, Zeitungsherrschaft auszuüben, zeichnet sich in den Ge- und Verboten einer Zeitungskritik ab, die weiß, dass Zeitungsperformanz viele Wege einschlägt. Die Angst vor Famas Abschweifungen und Kontingenzeffekten treibt viele Zeitungstheoretiker an, den Kommunikationstyp Zeitung unter strikter politischer und gelehrter Observanz halten zu wollen.11 Damit einher geht die Erkenntnis, dass Zeitungen aller Art an der Generierung von neuem Wissen beteiligt sind und deshalb insbesondere auch für die Gelehrsamkeit und Wissenschaft auf Dauer unverzichtbar sind. Das Neue, das in der Zeitung von vornherein mit einem Verfallsdatum ausgestattet ist, macht alles Wissen zugleich angreifbar durch seine eigene Geschichtlichkeit. Die Öffnung von Wissen und Kommunikation für die Allgemeinheit ist das große Projekt, das sich bekanntermaßen im 18. Jahrhundert mit der Zeitungspublizistik in ihren vielen Spielarten verbindet. Zwar halten auch die Aufklärer an der Ansicht fest, dass nur geeignete Schriftsteller für das allgemeine Publikum in und mit der Zeitung tätig sein sollten, doch tragen sie nachhaltig zur Popularisierung des alltäglichen Umgangs von vielen Menschen mit dem Wissens- und Kommunikationstyp Zeitung bei. Aus der Überkreuzstellung von Gelehrten- als Expertenkultur und dem neuen Selbstverständnis von Popularisatoren der Schrift- und Druckkultur lässt sich ableiten, wie der Universalismus alter Art, der alles Wissen meinte, in den Universalismus neuer Art überführt wird, der Kommunikation als den generellen Operator von Welterzeugung erkennt. Die Zeitung als Form und Prinzip gewinnt in diesen Zusammenhängen in allen ihren Spielarten eine repräsentative Funktion. Das erklärt auch, warum Zeitungsförmigkeit immer mehr zu einem Stein des Anstoßes wird, um allgemeine Entwicklungstendenzen von Medien und Kommunikation kritisch zu bewerten. Die repräsentative Stellvertretung der Zeitung im Hinblick auf ein gesellschaftliches Allgemeines von Medien und Kommunikation führt in der Zeitungstheorie dazu, dass Zeitungskritik gerade auch zum Ort von Kultur- und Modernekritik wird.12 Wie die Zeitung selbst, die Ordnung stiftet und zugleich auf Ungeordnetes verweist, kollektive Zusammenhänge bewirkt und zur Zerstreuung in Vieles beiträgt, Kontinuitäten schafft und Diskontinuitäten ausstellt, so ist auch die Moderne, aus der Sicht ihrer kulturkritischen Beobachter um und nach 1800, von zahlreichen Spaltungen betroffen, die das Projekt Moderne in und mit der 11 12
Vgl. dazu Kap. IV der vorliegenden Studie (Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs). Vgl. dazu Kap. V der vorliegenden Studie (Zeitungskritik als Kulturkritik).
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I. Einleitung
Zeitung im höchsten Maße an seine eigenen Missgeschicke erinnert. Die vorliegende Studie zur Zeitung als Famas Medium und ihrer historischen Theorie endet mit der Lektüre zweier großer geschichtsphilosophischer Systementwürfe für die Presse respektive den Journalismus, die in der Nachfolge der Hegelschule zwei unterschiedliche Spielarten für eine allgemeine Zeitungstheorie und deren diskursive Verfasstheit erstellen.13 Zeitungstheorie wird nun aufgehoben in einer umfassenden Theorie von Moderne. Moderne als die epochale Einheit aller bis dahin verhandelten Differenzen in der Zeitungstheorie beschließt in gewisser Weise den Zeitungsdiskurs, wie er im 17. Jahrhundert mit dem Für und Wider die Zeitung begonnen hatte. Er wird sich selbst historisch im Sinne von geschichtsphilosophischen Narrativen, die bisherige zeitungstheoretische Einsichten nun mit der großzügigen Epochensignatur ›vor‹ und ›nach‹ dem Buchdruck neu sortieren. Damit wird das Medium Zeitung als sekundärer Ableger eines primären Mediums Druck diskutierbar; gleichwohl sind es gerade die historischen Topoi des Zeitungsdiskurses, über die weiterhin das Problem von Moderne mit den Medien verhandelbar bleibt (bis neue Medien wie Photographie, Film, Radio und Fernsehen dazukommen). Wenn man hier weiter erzählen wollte, welche Geschichte eine allgemeine Medientheorie verfolgte und wie es dazu kam, dass irgendwann die Rede von den Medien immer nur die Medien der Massenkommunikation meinte, könnte man an dieser geschichtsphilosophischen Signatur von Moderne vielleicht wieder ansetzen.
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Vgl. dazu Kap. VI der vorliegenden Studie (Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch).
II.
Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
II.1. Zwischen Text und Medium Das Periodikum Zeitung entsteht zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter der medienhistorischen Voraussetzung des Buchdrucks als eine neue Kommunikationstechnologie. Diese erscheint im Kontext eines »Funktionensynkretismus«, der diverse frühneuzeitliche Medien im Spektrum vergleichbarer und auch auseinanderstrebender kommunikativer Aufgaben zeigt.1 Auf unspektakuläre Weise scheint das neue Periodikum bestimmte Möglichkeiten des Buchdrucks kommunikativ nur zu verstärken: Es trägt zur Steigerung von Produktions- und Rezeptionsgeschwindigkeiten von gedrucktem Wissen bei und erschließt mittels zügiger Distribution neue Publikumsschichten. Zeitgenössisch werden Effekte des Buchdrucks dann in der Zeitung wiedererkannt und ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts als medienspezifisch in einer expliziten Zeitungstheorie weiterverfolgt.2 Gegenüber der Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik, Kalendern, Plakaten und anderen gedruckten Kleinformen mehr, ist es das historisch Neuartige der gedruckten Zeitung, einen regelmäßigen Informationstransfer publizistisch zu institutionalisieren: Während die Flugschrift aufgrund ihres potentiell unbegrenzten Umfangs breiter argumentieren, dokumentieren und detailliert informieren konnte, herrschte auf dem Flugblatt im allgemeinen prägnante Kürze vor; die Themen wurden von ihrer Bildfähigkeit bestimmt. Beide Medien bevorzugten abgeschlossene Informationen und tendierten [...] zur Eigenwerbung, die Einfluß auf die Nachrichtenauswahl nahm, indem Sensationsmeldungen eine hohe Priorität erhielten; beide Medien waren für kommentierende und wertende Berichterstattung empfänglich. Demgegenüber ermöglichte die
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Werner Faulstich. Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700). Geschichte der Medien. Bd. 3. Göttingen 1998. S. 226; vgl. a. ders. Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Geschichte der Medien. Bd. 4. Göttingen 2002; Die Entstehung des Zeitungswesens. Vgl. zu den historischen Urteilen über den Buchdruck Michael Giesecke. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991; Leander Scholz/Andrea Schütte. »Heiliger Sokrates, bitte für uns!« – Simulation und Buchdruck. In: Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann. Wien/Köln/Weimar 2005. S. 23– 123.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert Vertriebsform der Abonnements mit ihrer wirtschaftlichen Berechenbarkeit den Zeitungen eine nüchterne, auf das Faktische gerichtete Berichterstattung, in der politische Meldungen dominierten. Die periodische Erscheinungsweise steigerte die Aktualität und machte eine längerfristige, kontinuierliche, sich über mehrere Ausgaben erstreckende Information über ein Geschehen möglich. Die leichte Kontrollierbarkeit der Zeitungen durch die Zensur trug dazu bei, von parteilichen Stellungnahmen abzusehen.3
Doch gewinnt man aus dem Informationsbegriff allein noch nicht die hinreichenden Differenzkriterien für das publizistische Institut Zeitung gegenüber anderen zeitgenössischen Medien, die ebenfalls informieren. Allgemeiner formuliert: Die Teilhabe aller Kommunikationsmittel an einem generalisierten Informationsbegriff (denn welche Kommunikation würde keine Information produzieren?)4 verlangt nach spezifischen Hinsichten auf die mit den neuen Periodika verbundene Aufgabe, Informationen herzustellen und zu verteilen. Die Zeitungen oder, wie sie zeitgenössisch auch genannt werden, Novellae (Neuigkeiten), Avisen (Anzeigen) und Relationen (Berichte) des 17. Jahrhunderts publizieren in der Hauptsache Ereignisberichte, die im frühneuzeitlichen Sinne als Historie verstanden wurden.5 Der Terminus Zeitung ist dabei sehr viel älter als das Periodikum und wird erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts für die genauere Abgrenzung eines Mediums Zeitung von einem Textgenre mit gleichem Namen verwendet.6 Seine Wortgeschichte seit dem späten Mittelalter belegt schon den engen Konnex zwischen Historiographie, neuzeitlichem Warenverkehr und pragmatischem Weltbezug: »Zeitung« ist ein zuerst im gebiet der kölnisch-fl ämischen handelssphäre in der form zîdinge, zîdunge begegnendes wort, das aus diesem grunde als ein lehnwort aus mnd., mnld. tîdinge, f., botschaft, nachricht angesehen wird. die grundbedeutung folgt aus dem verhältnis des ags. tidung, f., nachricht (noch in ne. tidings, plur., nachricht) zu dem ags. verbum tidan sich ereignen, so dasz z. also ursprünglich so viel wie ›bericht von einem ereignis‹ besagt. indessen erweisen einige fälle noch bewahrung der urbedeutung ereignis [...].7
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Michael Schilling. Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen der illustrierten Flugblätter in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990. S. 114. Vgl. zur Generalisierung des Informationsbegriffes in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften des 20. Jahrhunderts Friedrich-Wilhelm Hagemeyer. Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichten-Technik. Eine Fallstudie zur Theoriebildung in Industrie- und Kriegsforschung. Phil. Diss. Berlin 1979. Vgl. zum Historia-Begriff in der Frühen Neuzeit Peter von Moos. Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policratus« Johanns von Salisbury. Hildesheim 21986. Vgl. zum Wandel des Begriffsgebrauchs im Verhältnis von ›Neuen Zeitungen‹ zu den periodischen Zeitungen und der hier üblich werdenden Singularform ›Zeitung‹ Helmut W. Lang. Die Verdrängung: Periodische Zeitung vs. Neue Zeitung. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 79–86. Hier S. 85. Jakob und Wilhelm Grimm. Art. »Zeitung«. In: Dies. Deutsches Wörterbuch. Bd. 31. Leipzig 1956. Sp. 591.
II.1. Zwischen Text und Medium
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Als Botschaft, Nachricht wird eine Zeitung in diesem älteren Wortsinn mündlich oder auch schriftlich, etwa als Anhang in einem Brief, übermittelt, wobei es schon hier darauf ankommt, dass es sich um für den Empfänger unbekannte Nachrichten handelt. Üblich ist die Verwendung des Begriffspaars Neue Zeitung auf Einblattdrucken seit dem frühen 16. Jahrhundert.8 Auch ein Bericht im Periodikum Zeitung erfüllt seinen Zweck, wenn er bis dato unbekanntes Wissen zugänglich macht. In den regelmäßigen Zeitungen, den Novellae, wird nun der Publikationsakt selbst mit einem Tagesdatum versehen, das die Zeitungsveröffentlichung unter einen Zeitindex stellt. Es ist diese Technologie des publizistischen Datums, die dem gegebenen Ereignis, von dem die Berichte erzählen, auf basale Weise den Status seiner Gegenwärtigkeit in einer linearen Zeitstruktur sichert. Regelmäßige Zeitungsveröffentlichungen sind damit auf typische Weise und von Anfang an (wenn vielleicht auch erst subkutan hinsichtlich ihrer Rezeption) von den Polen Neuheit und Veraltung bestimmt. Die zahlreichen Verwendungen des Begriffs Zeitung in politischen, merkantilen, gelehrten, historiographischen, privaten und öffentlichen Zusammenhängen verweisen wie die weiteren zeitungstypischen Kennwörter des 17. Jahrhunderts auf eine pragmatische Grundeinstellung, die für die Produktion und Rezeption von der Tatsächlichkeit der berichteten Ereignisse ausgeht. Zeitungsberichte sind dann auch Dokumente, insofern sie durch das Faktum ihrer öffentlichen Bekanntmachung im (kontrollierten) Druck verbrieft werden.9 Im Ausgang von dem pragmatischen Zuschnitt eines Textgenres Nachricht kann dieses Konzept auf die Funktion der Zeitung, Information zu verbreiten, hochgerechnet werden.10 Historisch gesehen ist das semantische Konzept der Information als Nachricht aus den ersten Zeitungsperiodika, den in der Forschung so bezeichneten historisch-politischen Zeitungen hervorgegangen. Hier wurde der Wissenstyp Zeitung erstmals sinnfällig. In die Wortgeschichte von Nachricht ist
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Die früheste bekannte Verwendung des Wortes »Zeitung« auf einem Einblattdruck stammt aus dem Jahr 1502, der Newen Zeytung von orient und auff gange (so der Zwischentitel). »Aus dem Jahre 1508 stammt das älteste Druckwerk mit dem gleichen Begriff im Haupttitel, die ›Copia der Newen Zeytung auß Presillg Landt‹«. Jürgen Wilke. Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2000. S. 21. Im Folgenden die bibliographischen Nachweise aus Wilke unter der Sigle WGr. Die Periodika als Novellae stehen damit zwischen den Gesetzesnovellen und der zeitgenössischen novellistischen Literatur, die auf ihre Weise vom Faktor des Unbekannten, Überraschenden und Neuen zehren. Vgl. Ursula Kocher. Art. »Novelle«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003. Sp. 352–357. Heute liest sich das so: »Informieren bedeutet ›in Kenntnis setzen, Auskunft geben, berichten, orientieren‹. Gegenstand des Informierens kann prinzipiell alles sein, was der Fall ist.« Erich Straßner. Kommunikative Aufgaben und Leistungen der Zeitung. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hg. von Joachim-Felix Leonhard, Hans-Werner Ludwig, Dietrich Schwarze und Erich Straßner. 1. Teilbd. Berlin/New York 1999. S. 837–851. Hier S. 837.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
dabei ein handlungstheoretisches Konzept eingeschrieben, das die Zeitgerichtetheit des Informationshandelns der Zeitungsperiodika und die kommunikative Verwertung von Mitteilungen als Informationen unterstützt.11 Eine »Nachricht«, so erläutert das Grimm’sche Wörterbuch für den Wortgebrauch seit dem 17. Jahrhundert, ist eine 1) mittheilung zum darnachrichten und die darnachachtung [...] 2) überhaupt mittheilung einer begebenheit u. s. w., zur kenntnisnahme derselben, und allgemeiner: gegebene oder erhaltene mündliche oder schriftliche kunde von einer person oder sache, meldung, anzeige, überlieferung [...].12
Was hier wortgeschichtlich ausgeführt wird, dass man sich nach einer Mitteilung richtet, zeigt, dass die Nachricht als Information behandelt wird. Die zeitliche und räumliche Gerichtetheit der Zeitungsnachricht ist mit ihrer historiographischen Ereignistextur und deren Wirklichkeitsanspruch funktional korreliert: Man liest eine Zeitung, um ihre Mitteilungen als Informationen in eigene Kontexte einzuspeisen. So wäre zumindest die idealtypische Rationalität der Zeitung als Informationsmedium schon in ihrer Frühzeit zu denken. In einer Zeitung und ihren anzeigenden Berichten werden dabei vorgängige Ereignisse, im Sprachverständnis des 17. Jahrhunderts: res, durch den nachfolgenden gedruckten Bericht und dessen verba überlagert. Die verba des Berichts profitieren wiederum von der Wirklichkeitsannahme, die das geschehene Ereignis als ein solches auszeichnet. Zugleich bringen die verba die vergangene Wirklichkeit mit hervor, so dass sie selbst wiederum zur res werden, auf die nachfolgende Berichte sich beziehen können. Dieser Umstand der sprachlichen Verfasstheit von Ereignissen in einem öffentlichen Medium, das Vielen eine gerichtete Rezeptionshaltung vorzugeben scheint, erklärt u.a. die polemischen Einsätze der Zeitungskritik, wie sie sich in der Zeitungssatire und gelehrten Zeitungskritik dann zeigt. Die historisch-politischen Zeitungen bilden eine charakteristische historiographische Ereignistextur aus. Sie übernehmen gerade nicht die vielfältigen Textsorten, die die frühneuzeitlichen Einblattdrucke und Flugschriften auszeichnen (vgl. Abb. 1). Doch erfindet das Periodikum Zeitung sein zunächst konstitutives Textgenre Nachricht nicht neu, sondern die neu entstehende Wochenpresse [konnte] auf zahlreiche verwandte Formen und Muster der Berichterstattung und der Nachrichtendarstellung zurückgreifen [...], die in den Neuen Zeitungen seit langem ausgeprägt und erprobt waren.13
11 12 13
Vgl. zu der Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information Niklas Luhmann. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984. Grimm/Grimm. Art. »Nachricht«. In: Dies. Deutsches Wörterbuch. Bd. 13. Sp. 103. Thomas Schröder. Die ersten Zeitungen. Textgestalt und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995. S. 18. Im Folgenden der bibliographische Nachweis mit der Sigle SZ. Vgl. Daniel Bellingradt. Periodische Zeitung und akzidentielle Flugpublizistik. Zu den intertextuellen, interdependenten und intermedialen Momenten des frühneuzeitlichen Medienverbundes. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 57–78.
II.1. Zwischen Text und Medium
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Abbildung 1: Flugblatt: Belagerung und Eroberung des von den Franzosen besetzten Trier durch die Alliierten vom 9. August bis 6. September 167514
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Flugblatt. o.O. u. o.J.; Reproduktion nach Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Harms. Bd. IV. Die Sammlungen der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. Tübingen. 1987. Nr. 274.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Abbildung 2: Erste Seite eines Aviso, 163215
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Titelblatt eines Aviso. o.O. 1632. Reproduktion nach Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverz. mit histor. und bibliograph. Angaben. Zusammengest. von Else Bogel und Elger Blühm. 3 Bde. Bd. I. Text. Bd. II. Abbildungen.
II.1. Zwischen Text und Medium
13
Ungewöhnlich ist bei diesem frühen Titelblatt des Aviso (Abb. 2) die »Abbildung einer Schlachtszene unter dem Titel, mit der vielleicht nur dieses eine Exemplar, das fast ausschließlich von Lützen handelt, versehen wurde.« (DZ I, 106) In ihrer politisch und historiographisch gerahmten Nüchternheit druckt die periodische Zeitung i.d.R. keine illustrierenden Bilder zu den Berichten ab. Dennoch müsste man für die Rezeption ihrer Nachrichten das von anderen Medien über Bilder stimulierte Vorstellungsvermögen veranschlagen, um zu einer wahrnehmungsgeschichtlichen Einschätzung der von Text- und Bildmedien gemeinsam angeregten Lust auf das Neue, das Erschreckende, das Phantastische und das Wirkliche zu kommen.16 Es gibt im 17. Jahrhundert figurative und ikonische Elemente auf Titelblättern, aber normalerweise keine Illustrationen, die sich auf die Inhalte von Zeitungsnachrichten beziehen würden. Insofern greift das Titelblatt des Aviso von 1632 noch Gestaltungselemente der Einblattdrucke, der Neuen Zeitungen auf, wo Bild und Text sich gemeinsam auf ein Ereignis beziehen können. Der sachliche Ton in den Zeitungsnachrichten, die von einem Ereignis berichten, schreibt sich nicht nur aus ihrer Beziehung zum politischen und kaufmännischen Nachrichtenverkehr her, sondern wird von den Vorschriften der gelehrten Geschichtsschreibung gedeckt. Da die Periodika der Zeitungsdrucker lizensiert werden und der staatlichen Vorzensur unterliegen, gehört es einerseits zur professionellen Vorsicht, auf die Parteilosigkeit einer ›Fakten‹ verkündenden und in diesem Sinne ›nackten‹ Berichterstattung zu achten.17 Diese Haltung betrifft auch die Weitergabe von Kommentaren anderer, gegenüber welchen der Zeitungsdrucker sich selbst ›neutral‹ positioniert.18 Andererseits befolgen die Zeitunger (zumeist in Personalunion als Sammler, Drucker und Herausgeber von Berichten) mit ihren Nachrichten Vorschriften der Textrhetorik, wenn sie für ihr historiographisches Informationshandeln den stilus simplex berücksichtigen. Die publizistische Zeitungshandlung versteht sich sowohl im politischen als auch historiographischen Sinne als eine »Mitteilung, daß das betreffende Ereignis stattgefunden hat«, und »die Vermittlung von Ereignisfakten bildet den Kern der Nachrichtendarstellung.« (SZ 166) Die historisch-politischen Zeitungsperiodika des 17. Jahrhunderts repräsentieren in den vielen Nachrichten die materiale copia der Welt. Formal gesehen installiert dieser frühe Zeitungsuniversalismus auf Anhieb eine Form Zeitung, die von den je und je realisierten späteren Ausdifferenzierungen als genuines Potential präsent gehalten wird: Typisch für die Wissens- und Kommunikationstechnologien der
16 17
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Bd. III. Nachtrag. Bremen/München u.a. 1971–1985. Hier Bd. II. S. 113. Im Folgenden der bibliographische Nachweis mit der Sigle DZ I bzw. DZ II. Das Bild wird für die Zeitung im 19. Jahrhundert wieder neu entdeckt und als Aufmacher, Informationsträger und unterhaltendes Element genutzt. Vgl. dazu Jörg Jochen Berns. Der nackte Monarch und die nackte Wahrheit. Auskünfte der deutschen Zeitungs- und Zeremoniellschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum Verhältnis von Hof und Öffentlichkeit. In: Daphnis 11,1–2 (1982). S. 315–349. Vgl. zur Einhaltung von Neutralität SZ 167.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Zeitung ist die prinzipielle Möglichkeit des Mediums, Texte und Bilder (also andere Medien und Formen als es selbst) aus unterschiedlichen Wissensgebieten für unterschiedliche Adressaten zu publizieren. Zunächst bezieht sich der Zeitungsuniversalismus auf die inhaltlich-thematische Seite einer historisch-politischen Berichterstattung, die stilistisch überaus gleichförmig ausfällt.19 Doch ist das in Anlehnung an die historisch-politischen Zeitungen generalisierbare Informationshandeln auch für die publizistischen Informationsgesten der seit den 1630er Jahren (in Frankreich) aufkommenden Anzeigenblätter und der gelehrten Journale seit Mitte des 17. Jahrhunderts anzusetzen.20 Sie und alle nachfolgenden Zeitungs- und Zeitschriftenblätter partizipieren an den prinzipiellen Möglichkeiten einer Kommunikationsform Zeitung, auch wenn hier auf Dauer zahlreiche andere Textsorten veröffentlicht werden, die unter evolutionären Aspekten zu einer erheblichen Erweiterung des Repertoires im Zeitungshandeln beitragen. Mit dieser These können die ersten (bekannten) Periodika der neuen Art, der in Wolfenbüttel gedruckte Aviso und die in Straßburg gedruckte Relation von 1609, als strukturbildende Paradigmen einer Form Zeitung angesprochen werden. Auf diese Form reagiert die Zeitungstheorie des späteren 17. Jahrhunderts, wenn mit differierender Begrifflichkeit von Zeitungen, Novellae, Relationen, Avisen oder auch Journalen die Rede ist. Thomas Schröder hat in seiner Studie zu den Jahrgängen des Aviso und der Relation von 1609 neben der dominierenden politisch-militärischen Berichterstattung21 vier weitere Gegenstandsbereiche ermittelt: »Handel und Wirtschaft, Hofberichterstattung, Kirche und Religion sowie Alltag und Sensationsberichterstattung.« Bei Handel und Wirtschaft »stehen Aktivitäten von Kaufleuten oder Handelsgesellschaften im Mittelpunkt« (SZ 126), es gibt »Nachrichten über finanzielle Transaktionen« und solche, die das Miteinander von Politik und Handel dokumentieren: »Politische Maßnahmen, in erster Linie Gesetze und Mandate, die sich unmittelbar auf Regelung des Handels, des Münzwesens und der 19
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Thomas Schröder weist die Gleichförmigkeit der Zeitungshistoriographie für Aviso und Relation nach: Geringe Verwendung von Fremdwörtern und fachsprachlichen Ausdrücken, geringer Satzumfang, »Dominanz eines parataktisch geprägten Stils« (SZ 272). Daneben gibt es auch den Abdruck von offi ziellen Dokumenten: »Nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der syntaktischen Struktur sind solche Texte – entsprechend ihrem Ursprung – meist kanzleisprachlich geprägt.« (SZ 273) Typisch sind dafür »Doppelformeln bzw. mehrgliedrige Ausdrücke« (SZ 271). Schröder weist zudem Typologien für Standard-Ereignisse aus, die die in der Forschung geläufige »These von der Stereotypie der Berichterstattung« (SZ 135) in den historisch-politischen Periodika bestätigen. Vgl. zu den Anzeigenblättern, die auf eine Gründung des Pariser Arztes Théophrast Renaudot zurückgehen, u.a. Justin Stagl. Ein vergessener Pionier der Sozialforschung: Théophraste Renaudot im europäischen Kontext. In: Heitere Mimesis. Festschrift für Willi Hirdt zum 65. Geburtstag. Hg. von Birgit Tappert und Willi Jung. Tübingen/ Basel 2003. S. 377–392; zur Etablierung dieses Typus in Deutschland unter der Bezeichnung Intelligenzblatt vgl. besonders die Forschungen von Holger Böning. Beim Aviso ein Anteil von 73 %, bei der Relation von 67 %, vgl. das Schaubild bei SZ 127.
II.1. Zwischen Text und Medium
15
Wirtschaft beziehen« (SZ 128). Die Hofnachrichten verweisen bereits auf die diffus werdenden Grenzverläufe zwischen einer höfisch-repräsentativen Öffentlichkeit und den sogenannten Privat-Handlungen der oberen Stände.22 Zumeist beziehen sich diese Nachrichten auf einzelne Personen und betreffen Erkrankung, Tod, Heirat, Feste, Jagdausflüge, Reisen und »Auseinandersetzungen zwischen Einzelpersonen – das Spektrum reicht vom verbalen Streit bis hin zum Duell«. Den Bereichen Kirche und Religion lassen sich Berichte über kirchliche Festen und Zeremonien zurechnen, »Prozessionen, Pilgerfahrten oder Gebete« (SZ 130) werden erwähnt und die »Besetzung kirchlicher Ämter« wird mitgeteilt. Unter dem Bereich Alltag, »etwa ein Zehntel der Berichterstattung«, erfasst Schröder folgende Schwerpunkte: »Katastrophen / Sensationen, Verbrechen / Rechtsprechung und Alltag / soziale Lage.« Es geht hier um Nachrichten, die »die ›gemeine‹ Bevölkerung« und nicht »hochgestellte Persönlichkeiten« (SZ 131) betreffen, um Naturkatastrophen wie Unwetter oder Erdbeben, Wundererscheinungen wie ein fliegender Drache oder ein Gespensterreiter, Unglücksfälle wie ein Großbrand oder ein Hauseinsturz. Es handelt sich bei diesen Themen um den klassischen Kanon vor allem der Neuen Zeitungen [...]. (SZ 132)23
Diese weniger formal als inhaltlich ansetzende Typologie zeigt, dass die Grenzen und Übergänge zwischen kollektiver, gruppenspezifischer und individueller Relevanz von Zeitungsnachrichten recht unterschiedlich verlaufen. Bei allen Berichten scheint aber die Tatsache der Ereignishaftigkeit selbst das publizistisch eigentümliche Anliegen einer Zeitung zu sein. Eine der Darstellung darüber hinaus anvertraute Deutung von spektakulären oder alltäglichen Geschehnissen, etwa in ihren heilsgeschichtlichen Dimensionen als göttlich verfügte Exempla, wie es in den Neuen Zeitungen bei Einblattdrucken üblich ist, findet in den Avisen, Novellae und Relationen des 17. Jahrhunderts so gut wie gar nicht statt (vgl. Abb. 3).
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Vgl. zum sich verändernden Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Laufe des 17. Jahrhunderts Lucian Hölscher. Art. »Öffentlichkeit«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4. Stuttgart 1978. S. 413–467; mit Blick auf die Zeitungspublizistik des 18. Jahrhunderts Holger Böning. Das Private in der Aufklärung: Unterhaltung, Heirat, Tod in der Hamburger Presse, in den Intelligenzblättern und in der volksaufklärerischen Literatur und Publizistik des 18. Jahrhunderts. In: Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Opladen/Wiesbaden 1998. S. 45–54. Für die Gewichtung dieser Bereiche in späterer Zeit vgl. Jürgen Wilke. Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin/New York 1984.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Abbildung 3: Göttliche Zeichen in einer Neuen Zeitung 24
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Warhaffte vnnd erschröckliche newe Zeytung. Bern (?) 1604. Flugblatt, Typendruck; Reproduktion nach Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. IV. Nr. 288.
II.1. Zwischen Text und Medium
17
Mit der druckschriftlichen Archivierung des Vergangenen rückt die thematisch vielschichtige Zeitungsliteratur an die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung heran. Dabei handelt es sich ausdrücklich um kurzfristig Vergangenes, das über ein Publikationsdatum mit der Gegenwart von Zeitungsproduzenten und -rezipienten verbunden wird. Die Praxis einer genaueren zeitlichen Bestimmung von Ereignissen, in der Zusammenstellung mit Ortsangaben, kennen schon die Neuen Zeitungen, wobei dort die heilsgeschichtliche Ausdeutung die Immanenz auch dieser Angaben transzendiert. Die auf den Publikationsakt bezogene Datierungskunst der Zeitungen trifft im Unterschied zu den Einblattdrucken nun mit einer kurzfristigen Periodizität zusammen. Letzteres Moment schreibt sich in die zyklischen Modelle für Geschichte ein. Zyklische und lineare Zeit- und Geschichtskonzeptionen verbinden sich so in der Zeitung strukturell; damit sind auch Differenzen zu anderem periodischem Schrifttum zu beobachten. Mit Blick auf das medienhistorische Umfeld der Zeitung ist etwa an die Kalender zu denken. Ihre Zeiteinteilung korreliert mit Deutungshinsichten, die die naturalen Zyklen innerhalb des göttlich bestimmten ordo mit der Idee einer sich vollendenden Heilsgeschichte verschränken.25 Und auch die Zeiteinteilung in neuzeitlichen Geschichtschroniken ist in die christliche Auslegung der ›Jahre des Herrn‹ eingelassen. Kalender und Chroniken verweisen auf das göttliche Archiv aller Ereignisse, in dem die vergangene und künftige Geschichte schon beschlossen liegt. An das Neue in seiner Unvergleichlichkeit kann angesichts des göttlichen Wissens noch nicht gedacht werden. Der frühneuzeitliche Nachrichtenverkehr, wie ihn die Zeitungsperiodika betreiben, trägt dann nicht nur zur Säkularisierung der alles übergreifenden Heilsgeschichte bei, sondern bereitet den Gedanken der Immanenz alles Weltwissens und einer zum Neuen ständig fortschreitenden Weltgeschichte mit vor.26 Regelmäßig zirkulierende Informationen über Ereignisse bilden neu erfahrbare Zusammenhänge zwischen dem Wiederkehrenden, dem Bekannten und dem Unbekannten, die gemeinsam für Veränderungen in der Zeit verantwortlich sind. Die Ereignisqualität von Geschichte wird im weltlich orientierten Informationsgebrauch zunehmend entspiritualisiert und die Frage nach dem Sinn des Neuen
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Vgl. zur eschatologischen Überformung antiker zyklischer Zeitvorstellungen Dieter Kartschoke. Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. I, 10. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Christoph Gerhardt, Nigel Palmer und Burghart Wachinger. Tübingen 1985. S. 175–188. Die aus Sicht der Zeitung naheliegende Konzentration auf das Neue deckt natürlich nicht die frühneuzeitlichen Wissensverhältnisse insgesamt ab; vgl. dazu Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich: Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff. In: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Hg. von dens. Berlin 2008. S. 11–44.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
wird in politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Kontexten pragmatisch verengt.27 Die erfolgreiche Organisation von politischem und merkantilem Handeln verlangt nach weitreichenden Folgeabschätzungen von Informationen, die in der Gegenwart der Handelnden und Entscheidungsträger zwischen Vergangenem und Zukünftigem einen Konnex herstellen und sich auf Dauer der Zukunft öffnen. Die technische Implementierung der Zeitungsperiodizität und ihre informativen Nachrichten versachlichen die Ideengeschichte des Neuen; die Zeitung kann dabei das Neue der Information sowohl in eine alltägliche wie in eine spektakuläre Richtung wenden.28 Unterschwellig trägt das Periodikum so zu einem sich allmählich verändernden Geschichtsverständnis und Zeitbewusstsein bei, das im 18. Jahrhundert sich an eine säkular bestimmte, offene Zukunft gewöhnen wird.29 In der historisch-politischen Nachrichtenpublizistik des späten 16. Jahrhunderts gibt es bereits einige Formen, bei denen sich die mit der Verregelmäßigung gedruckter Nachrichten korrelierte Verkürzung von Erscheinungsintervallen abzeichnet: durchnummerierte Serienzeitungen,30 seit 1583 halbjährlich publizierte Messrelationen31 und schließlich Monatsschriften, ebenfalls seit den 1580er Jahren.32 Damit scheint auf der Wende zum 17. Jahrhundert der Weg für den zeitge27
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So wird etwa auch in den Einblattdrucken des 17. Jahrhunderts der Mann »à la mode« zum Gegenstand des Gespötts, weil er das Neue allein für den weltlichen Zugewinn zu instrumentalisieren versucht. Vgl. dazu die Beispiele, die in Deutsche illustrierte Flugblätter unter dem Stichwort »à la mode« zu finden sind. Zu den infrastrukturellen Voraussetzungen, die das Postsystem für die auf das Neue abstellenden kommunikativen Erschließungen von Raum und Zeit etabliert, vgl. Behringer. Im Zeichen des Merkur; zu den ideen- und philosophiegeschichtlichen Kontexten und der veränderten Selbstwahrnehmung als Neuzeit vgl. Hans Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt/M. 21999; zur Konzeption des Neuen im Kontext von Kunst, Ästhetik und Philosophie seit dem 18. Jahrhundert vgl. Boris Groys. Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992. Die Veränderung des Zeitbewusstseins, das nachhaltig von der regelmäßigen Zeitungspublizistik mitbestimmt wurde, hebt auch hervor Jeremy D. Popkin. New Perspectives on the Early Modern European Press. In: News and Politics in Early Modern Europe (1500–1800). Hg. von Joop W. Koopmans. Leuven/Paris/Dudley, MA. 2005. S. 1–28. Hier bes. S. 20ff. Hierbei handelt es sich um Neue Zeitungen, die durchnummeriert wurden, also im Prinzip der Serialität einen »Ansatz zum Übergang in die Periodizität« (WGr 34) zeigen. Die erste Messrelation ist die 1583 bei Michael von Aitzing in Köln erschienene Relatio historica, die zur Frankfurter Herbstmesse aufgelegt wurde. Messrelationen erschienen in der Regel halbjährlich zu den Frühjahrs- und Herbstmessen. Vgl. SZ 19ff.; Johannes Weber. Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. In: »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Wolf Jäger. Göttingen 1997. S. 137–150. Hier S. 140. Zielgruppe der Messrelationen sind vornehmlich Kaufleute. Ihren publizistischen Höhepunkt haben die Messrelationen wohl auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert; sie haben sich bis ins 18. Jahrhundert gehalten (vgl. SZ 21). Nur eine einzige Monatsschrift, Annus Christi, nach dem Publikationsort auch Rorschacher Monatsblatt, ist in einem ganzen Jahrgang von 1597 erhalten (vgl. SZ 24).
II.1. Zwischen Text und Medium
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nössisch kaum registrierten Übergang von den gelegentlichen Flugblättern und -schriften zu den turnusmäßig und kurzfristig publizierten Zeitungsblättern geebnet zu sein.33 Die neuen Periodika erscheinen zunächst wöchentlich, »ordinari«, wie es für die regelmäßige Publikation in Abhängigkeit vom Rhythmus des Postverkehrs heißt.34 Die Verkürzung der Erscheinungsintervalle setzt sich dann fort, »nach dem Dreißigjährigen Krieg [erscheinen] Halbwochenzeitungen und nach 1650 gelegentlich schon Tageszeitungen.«35 Bereits in den in den 1680er Jahren aufkommenden Messrelationen wird mit der gerade erst vergangenen Vergangenheit und der Vergegenwärtigung des räumlich Fernen geworben. So schreibt etwa der gelehrte Herausgeber der ersten halbjährlichen Messrelation, Michael von Aitzing, in der Vorrede seiner Relation für das Jahr 1584, dass seine Berichte, die er »von Teilnehmern an den Begebenheiten« erhalte, nicht Historien von langen Jahren her, sondern erst neulich und jetzt, jetzt sage ich zu unsern Zeiten und, also zu reden, erst gestern geschehen, die dem fern hinweg abwesenden deutschen Leser derhalben desto angenehmer nit unbillig sein werden.36
Die Gegenwartsbezogenheit der Nachrichten in den frühen Zeitungsperiodika ist natürlich relativ zur Datierung des berichteten Ereignisses zu sehen. Beim Wolfenbütteler Aviso von 1609 werden etwa in jeder Korrespondenzüberschrift [...] neben dem Herkunftsort auch das Absendedatum der Nachrichten genannt. [...] Nimmt man den »Stichtag« des Eingangs, wie er im Aviso-Titel für jede Ausgabe genannt wird, als frühestmöglichen Drucktag an, so ergibt sich für die Korrespondenzen bereits ein durchschnittliches Alter von ein bis zwei Wochen. (SZ 135f.)
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Man nimmt an, dass es seit den späten 1580er Jahren Monatsschriften gab. Vgl. dazu auch Frauke Adrians. Journalismus im 30jährigen Krieg. Kommentierung und »Parteylichkeit« in Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Konstanz 1999 (Journalismus und Geschichte 2). S. 61ff. Kritisch zur historischen Ableitung der Zeitung aus anderem periodischen Schrifttum äußert sich aber Lang. Die Verdrängung. S. 81: »Die periodische Zeitung übernimmt zwar Äußerlichkeiten [...] der Neuen Zeitung, doch die wirtschaftlichen und logistischen Voraussetzungen zur Herausgabe periodischer Schriften waren grundsätzlich verschieden. Dass weder die sogenannten Serienzeitungen noch die Monatszeitung oder die Messrelationen zur periodischen Zeitung geführt haben, sollte längst außer Streit sein.« Vgl. Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 303ff.; Martin Welke. Neues zu »Relation« und »Aviso«. Studien zur Nachrichtenbeschaffung der ersten Zeitungen. In: Presse und Geschichte. S. 21–40. Jörg Jochen Berns. Medienkonkurrenz im siebzehnten Jahrhundert. Literaturhistorische Beobachtungen zur Irritationskraft der periodischen Zeitung in deren Frühphase. In: Presse und Geschichte II. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. Hg. von Elger Blühm und Hartwig Gebhardt. München u. a. 1987. S. 185–206. Hier S. 185. Die erste Tageszeitung, die sechsmal in der Woche erscheint, gibt es in Deutschland bereits 1650 (vgl. WGr 57). Zit. n. Karl Schottenloher. Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Jahre 1848. Neu hg., eingel. und erg. von Johannes Binkowski. München 1985. S. 228 (zur Person des österreichischen Adligen Michael von Aitzing ebd. S. 224). »Unlängst« oder »neulich« sind auch die Angaben in den Berichten von Aviso und Relation (vgl. SZ 136).
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Aktualität (ein Begriff, der im 17. Jahrhundert noch gar nicht zur Verfügung steht) entsteht also zunächst in dieser Differenz zwischen Publikationsdatum, Absenderdatum der Korrespondenzen und Zeitindex des Ereignisses als genuiner Effekt des technisch-operativen Modus der Zeitungsperiodika. Ihr Publikationsdatum rahmt den historiographischen Bericht der ihrerseits bereits datierten Korrespondenzen publizistisch. Der Zeitindex der Ereignisse wird erst allmählich an das publizistische Tagesdatum der Zeitung herangeführt.37 Im Modus der Produktion von publizistischer Gegenwart befördern dennoch schon die frühen Periodika die Erfahrung einer sich verstetigenden Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Über deren Beziehung muss angesichts kontinuierlich publizierter Zeitdimensionen von Geschichte wohl verstärkt nachgedacht werden. Periodisch gedruckte Wochenzeitungen können aus gegebenem Anlass auch »Extra-Ordinari«, als Eilpost zusätzlich zum regelmäßigen Erscheinungsdatum, gedruckt werden. Die publizistisch generierte und beschleunigte Sequentialisierung der Ereignisgeschichte, in der das datierte Neue zur Funktion kontinuierlich gedruckter Nachrichten gerinnt, wird aber gerade nicht von solchen Extrablättern getragen (vgl. Abb. 4). In der eher zurückhaltenden Aufmachung ihrer Nachrichten unterscheiden sich die Wochenzeitungen des 17. Jahrhunderts deutlich von Neuen Zeitungen der Flugblattpublizistik, die in Text und Bild die Aufmerksamkeit potentieller Käufer jeweils spontan anregen mussten: Die Neue Zeitung [...] hat viele Entwicklungen im Zeitungswesen vorweggenommen: der »Aufmacher«, die Überschrift, die Illustration, das Impressum, der Straßenverkauf – alles Merkmale der Neuen Zeitung – wurden von der periodischen Presse jahrhundertelang nicht angewandt und mußten im 19. Jahrhundert ein zweites Mal »erfunden« werden.38
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Dies hängt natürlich weniger von dem Willen der Zeitungsmacher ab als von den infrastrukturellen Bedingungen der Post- und Nachrichtenverkehrswege. Nachrichtenstichproben haben für 1622 ergeben, dass etwa drei Viertel der Nachrichten »mehr als zwei Wochen alt« waren, bei Stichproben zum Jahr 1674 war etwa noch die Hälfte zwischen ein und zwei Wochen alt, der Rest jüngeren Datums (WGr 60). Helmut W. Lang. Die Neue Zeitung des 15. bis 17. Jahrhunderts – Entwicklungsgeschichte und Typologie. Unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Neuen Zeitungen. In: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. In Zusammenarb. mit dem Inst. für Österr. Kulturgeschichte hg. von Herbert Zeman. Ihr Profi l von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Teil 2. Hg. unter Mitw. von Fritz Peter Knapp (Mittelalter). Graz 1986. S. 681–690. Hier S. 690.
II.1. Zwischen Text und Medium
Abbildung 4: Ordinari und ExtraOrdinari Zeittung (DZ II, 63)39
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Zeitungstitelblätter, Wien 1648.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Diese Einschätzung ist etwas zu modifizieren, denn Kolportagehandel gab es auch bei den Wochenzeitungen, und typographische Gestaltungsmittel wie Auszeichnungsschriften oder Bildelemente werden bei der Titelgestaltung von Zeitungen, Anzeigenblättern und Journalen im 17. und 18. Jahrhundert durchaus eingesetzt. Grundsätzlich herrscht aber eine Zurückhaltung in der Typographie und den paratextuellen Elementen, von denen Nachrichtentexte gerahmt werden.40 Dies zeigt auch ein Vergleich mit den Messrelationen: Der geringere Aktualitätsdruck eröffnet dabei [den Messrelationen] einen größeren Bearbeitungsspielraum, der sich in Gestaltungselementen zeigt, die [hier] [...] zur Anwendung kommen, während sie in der periodischen Presse des 17. Jahrhunderts nicht zu finden sind. An erster Stelle ist die Verwendung von inhaltlich kennzeichnenden Überschriften zu nennen. (SZ 21)
Im Vergleich der einzig erhaltenen Monatsschrift von 1597 (das Rorschacher Monatsblatt bzw. Annus Christi) mit den Messrelationen des späten 16. Jahrhunderts und den ersten Wochenperiodika von 1609 ist dann auch interessant, wie die interne typographische Auszeichnung und die Anordnung der Nachrichtentexte sich zueinander verhalten: – Primär ist der Gesamttext einer Monatsausgabe [im Rorschacher Monatsblatt] regional geordnet. Im Laufe des Jahres wird dieses Gliederungsprinzip immer konsequenter verfolgt und zunehmend durch entsprechende Überschriften verdeutlicht. Innerhalb der regionalen Blöcke sind die Nachrichten in der Regel chronologisch angeordnet. – Marginalien, die den Charakter von Schlagzeilen haben, gliedern den Fließtext in verschiedene Nachrichten, strukturieren aber auch die oft ausführliche Darstellung von Ereignissen oder die Wiedergabe von Dokumenten. – Stärker als in Meßrelationen und erst recht in der Wochenpresse ist die monatliche Ausgabe des Annus Christi als zusammenhängender Text konzipiert. Der Verfasser greift gliedernd in die Darstellung ein, stellt Querverbindungen zu früheren oder nachfolgenden Informationen her, faßt zusammen. (SZ 25)
Wie die Ordnung des Wissens in den periodischen Zeitungen bei der Anordnung der Textbausteine aussehen sollte, ist gegenüber dem Ordnungswillen in dem erhaltenen Monatsblatt zunächst wohl eine noch offene Frage gewesen. Bild, Zahl und Schrift sind die typographischen Gestaltungselemente im frühen Zeitungsdruck, mittels welcher formale und semantische Einheiten innerhalb von Ausgaben und in Ausgabenserien gebildet werden konnten. Innerhalb einzelner Publikationsreihen eines Periodikums kann sich das Erscheinungsbild dieses Grundbestands immer wieder verändern und auch die Zeitungen variieren darin untereinander. Die nachfolgend kurz erläuterten Beispiele können davon einen Eindruck vermitteln. Zunächst zu den Titelseiten der in Straßburg gedruckten Relation (vgl. Abb. 5). Es handelt sich um die erste Seite vom 8. Januar 1609, ein Exemplar aus
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Vgl. zur Typographiegeschichte der Zeitung von den Anfängen bis zu den 1940er Jahren die ältere Arbeit von Lotte Wölfle. Beiträge zu einer Geschichte der deutschsprachigen Zeitungstypologie von 1609–1938. Phil. Diss. München 1943.
41
Zeitungstitelblätter, Straßburg 1609, 1667 und Jahrestitel von 1624.
Abbildung 5:Bild, Zahl und Schrift (DZ II, 8f.) 41
II.1. Zwischen Text und Medium
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
dem Jahr 1667: NUM. 29. Anno 1667 und den Jahrestitel für den Sammelband von 1624: Relation Aller Fürnemen und Gedenckwürdigen Historien [...]. Anders als bei der in ihren Einzelausgaben titellosen Relation bietet der Wolfenbütteler Aviso Relation oder Zeitung für jede Nummer ein »besondere[s] Titelblatt«, dessen Ikonographie sich allegorisch auf das Post- und Nachrichtenwesen bezieht und ab 1615 gleich bleibt: 42 Über einer Stadt am Meer schwebt Merkur, ein reitender und ein gehender Bote sind auf dem Land unterwegs, ein Segelschiff zu Wasser komplettiert das Ensemble der professionellen Zeitungsausträger (Abb. 6). Die Nachrichten der historisch-politischen Wochenzeitungen können schon auf der ersten Seite beginnen; nur manche dieser Blätter des 17. Jahrhunderts besitzen wie der Aviso eine allein dem Titel vorbehaltene erste Seite. Wie bei der Straßburger Relation und dem Wolfenbütteler Aviso werden auch in den anderen Wochenzeitungen mehrere Nachrichten unter Überschriften, die Herkunftsort und Absenderdatum angeben, chronologisch abgedruckt.43 Es handelt sich bei diesen gebündelten Nachrichten um die druckschriftliche Wiedergabe der den Druckern von ihren Korrespondenten handschriftlich übermittelten Sammelkorrespondenzen: Im Fließtext einer Korrespondenz sind aktuelle Nachrichten zusammengestellt, die im Korrespondenzort verfügbar waren. Diese einzelnen Nachrichten können sich auf ganz unterschiedliche Ereignisse und Themen beziehen, sie können aus unterschiedlichen Orten stammen. (SZ 59)
Die Sammelkorrespondenzen sind nach Thomas Schröder das »primäre Gliederungselement« (SZ 58) der frühen Zeitungen. Schröder verfolgt in seiner Untersuchung zum Aviso und zur Relation von 1609 auch die Frage, ob inhaltliche Beitragsgrenzen der Nachrichten mit typographischen Markierungen wie Satzzeichen und Absätzen korrespondieren und ob innerhalb der Sammelkorrespondenzen einzelne Beiträge als Texteinheiten erkennbar gemacht werden (s. SZ 70ff.). Er kommt zu folgendem Ergebnis: Im Aviso ist durch die Absatzgliederung eine vergleichsweise klare druckgraphische Gliederung vorgegeben. Die so markierten Texteinheiten lassen sich bei vier Fünftel aller Fälle in der weiteren Analyse als Beitragseinheiten bestätigen. In der Relation dagegen liegen etwa drei Viertel aller Beitragsgrenzen innerhalb von Absätzen. Nur teilweise wird diese »Unklarheit« durch die häufigere Verwendung von Spatien – in der Kombination mit der Interpunktion – aufgefangen. (SZ 88)
42 43
Vgl. DZ I. S. 5: zur Gestaltung gehören »Nummerzählung am Titelkopf, 1622–1624 außerdem Buchstabenzählung am Fuß der Titelseite«. Diesem Gliederungsprinzip folgen die historisch-politischen Zeitungen noch im 18. Jahrhundert; vgl. dazu Hedwig Pompe. Im Kalkül der Kommunikation. Die Politik der Nachricht. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat in Verb. mit Ute Pott. Göttingen 2007. S. 111–136.
II.1. Zwischen Text und Medium
Abbildung 6: Aviso vom 21. Juni 1623 (DZ II, 13) 44
44
Zeitungstitelblatt, Wolfenbüttel 1623.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Diese Unentschlossenheit, typographische Einheiten mit möglichen semantischen Einheiten der Sammelkorrespondenzen zu verbinden, ist auch noch bei späteren historisch-politischen Zeitungen (bis ins 18. Jahrhundert) zu bemerken. Insofern gehen bei der Zeitung textuelle und paratextuelle Elemente noch lange ineinander über und differenzieren noch nicht typographisch zwischen Einheiten mit unterschiedlichen Funktionen. Die jeweilige Zeitungsausgabe vereinigt mehrere solcher Sammelkorrespondenzen und kann zu deren Datierungen und Ortsangaben die eigene Zählung, das eigene Publikationsdatum und auch die Angabe des Publikationsorts hinzufügen. Die Periodika bündeln und rahmen so oberhalb der Ebene der Sammelkorrespondenzen die in Raum und Zeit getrennten Ereignisse ein weiteres Mal. Zahl, Schrift und Bild, die auf den Zeitungstiteln zum Einsatz kommen, bilden so einen typographisch-rationalen Verbund aus Zählen, Datieren, Verorten und Summieren. Dieser Verbund führt verschiedene Versprechen der Objektivation mit sich: 1., dass ein publizistisches Zeugnis über die ›wahre Wirklichkeit‹ abgelegt wird; 2., dass vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse (respektive ihre Berichte) in einem zeitlichen Zusammenhang stehen, und dass 3. über diesen Zusammenhang alles Wirklichen ein kontinuierlich sich fortsetzendes Schriftzeugnis abgelegt werden wird.45 Registrierende Archivierungs- und unabschließbare Kommunikationsfunktion werden so schon bei den ersten Zeitungsperiodika hinsichtlich eines angenommenen Zusammenhangs zwischen zeitlich und räumlich getrennten Ereignissen enggeführt. Kann die gedruckte Zeitung mittels Zahl, Schrift und Bild auf die ›vernünftige Ordnung‹ der Welt verweisen, so wirft die Zeitung ihrer Form nach dennoch und gegenläufig zu allen Verweisen auf Zusammenhang ein strukturelles Problem auf: In der synchronistisch kompilierenden Zeitung stehen die unterschiedlichen Berichte gedruckt in einem lückenhaften Neben- und Nacheinander. Auf diesen Aspekt, der das Layout von Zeitungen auszeichnet, reagiert die Zeitungstheorie des späteren 17. Jahrhunderts, wenn sie eindringlich nach dem Sinn dieser dann offensichtlich gewordenen ›unordentlichen Ordnung‹ fragt. Wenn schon vorher etwa ein Zeitungstitel Reklame für den Zusammenhang der Dinge und die räumlich-zeitliche Ordnung der Welt machen soll, so muss er rhetorisch überzeugen. Semantik, Zahlen und Bilder zielen dabei unterschiedlich auf die Aspekte von Regelmäßigkeit und Vollständigkeit.
45
Mit etwas anderer Akzentuierung verfolgt auch Lynn Tatlock. The novel as archive in new times. In: Daphnis 37 (2008). S. 351–373. Hier S. 353f., diese Effekte schon der frühen Zeitungen: »The knowledge that readers acquire through newspapers is incomplete, continually in need of revision, and therefore sometimes dubious, even if in the absolute present created by the newspapers in the moment they are read, these bits of information present a simulacrum of coherence.« Vgl. zu Aspekten der (typographisch gestützten) Kontinuitäts- und Kohärenzstiftung auch Benedict Anderson. Imagined Communities: Reflection on the Origin and Spread of Nationalism. Überarb. Ausg. London 1983. S. 33.
46
Titelseiten der Zeitung Relation dessen/Waß sich ... begeben, Stuttgart 1619.
Abbildung 7: Ordnung nach Raum und Zeit (DZ II, 36f.) 46
II.1. Zwischen Text und Medium
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Die abgebildeten Titelblätter (Abb. 7) verwenden die übliche Zählung des Zeitungsexemplars, Ortsangaben (die Herkunftsorte der Korrespondenzen), Tages-, Monats- und Jahresangaben. Dazu kommt die tabellarisch wirkende Nebeneinanderstellung mit gliedernden Klammern, die wiederum Ort und Zeitangaben betreffen. Hiermit wird den in Zeit und Raum getrennten Ereignisberichten eine visuell adressierende, Überschaubarkeit suggerierende Nebenordnung auf einer Seite vorangestellt. Dieser typographische Kunstgriff eines synchron arrangierten ›Raums der Gegenwart‹ erinnert an die holistisch vernetzte Architektur von enzyklopädischen Stammbäumen des Wissens. Das mit den Lieferungen einer Zeitung chronikartig (zunächst im Wochenrhythmus) aufgerufene ›Jahr des Herrn‹ kann von einem Jahresband, der die Einzellieferungen zusammenfasst, als vollständig bestätigt werden. So heißt es etwa in späteren Jahrestiteln der zuletzt angeführten Zeitung: Zeitungen Deß [soundsovielten] Jahrs Darinnen zufinden / was hin vnd wider an vnderschiedlichen Orten / zu Wasser vnd Land / sonderlich aber in den nechstgelegnen Königreichen / Fürstenthumben / Graf:vnd Herrrschafften / zu disen beschwehrlichen Zeiten / in Sachen / so wol die Religion / als das Weltlich betreffend / sich gedenckwürdigs zugetragen / wie jede Sachen in den ordinari Wochentlichen Zeitungen von einer Wochen zu der andern einkommen / vnd nach vnd nach in den Truck gefertigt worden. Getruckt im Jahr [...]. (DZ I, 38)
Für die Jahresbände von Zeitungsausgaben werden zumeist solche summierenden Titelfassungen gewählt. Sie zeigen, dass die Nachrichten der historiographischen Periodika (wie die der gelehrten Journale) für ein Archiv der Geschichte vorgesehen waren. Dies ist auch nachvollziehbar am Jahrestitel der Relation, der zwischen 1622 und 1624 folgendermaßen lautete: RELATION Aller Fürnemem vnd Gedenckwürdigen Historien / so sich hin vnd wider in Hoch: vnd Nider Teutschland / auch in Frankreich / Jtalien / Schott: vnd Engelland / Hispanien / Hungarn / Oesterreich / Mähren / Böheimb / Ober vnd Niderlaußnitz / Schlesien / Polen / Siebenbürgen / Wallachey / Modlaw / Türckey etc. in diesem [...] Jahr / verlauffen vnd zutragen möchte. Alles auff das trewlichst / wie ich solches bekommen vnd zu wegen bringen mag / geliebts Gott / in Truck verfertigen will. (DZ I, 1)
Der typische Verweis auf die Zusammenstellung »Aller Fürnemem vnd Gedenckwürdigen Historien/so sich hin vnd wider [...] zu[ge]tragen«, in der Kombination mit den Korrespondenzorten und der Jahresangabe, umreißt die ideellen Absichten des Zeitungsarchivs, das sich den universalistischen und selektiven Ansprüchen des gelehrten Wissens seiner Zeit zugleich andienen will. Aber nicht erst ein Jahresband, sondern schon der gegliederte, publizistisch synchronisierte Raum der Gegenwart eines Zeitungsblattes kann die Vollständigkeit des Berichteten behaupten. Zwar besteht dieses je und je herausgegebene Zeitungsarchiv aus einer sichtbar lückenhaften Reihe diskreter Zeiten und Räume, doch wird für die Vergangenheit gegenläufig im Publikationsdatum eine publizistische Abschlussbewegung vollzogen. An die Stelle göttlichen Wissens tritt so mit der Zeitung das
II.1. Zwischen Text und Medium
Abbildung 8: Was sich zugetragen hat (DZ II, 33) 47
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Zeitungstitelblatt der Relation, Hamburg oder Lüneburg (?), 1621.
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immanente Viele, von dem aber ausgesagt werden kann, dass es Alles sei. Die immer wieder behauptete Denkwürdigkeit des Berichteten unterstreicht zugleich den historiographischen Anspruch des gedruckten Zeitungsarchivs auf alles Wissenswerte. Das publizistisch privilegierte Denkwürdige wird so auf paradoxe Weise vorläufig abschließend positioniert gegenüber allen res gestae, die nicht publiziert werden und damit nicht von den sinnstiftenden Effekten gedruckter Memorabilia profitieren können. Der Titel einer Relation von 1621 (Abb. 8) lautet in diesem Sinne etwa: RELATION dessen / Waß sich in Böhemen [... und anderswo] jetzt lauffenden Augusto dieses M.DC.XXI. Jahrs begeben. Insonderheit / Was in jetzigem Bohemischen kriegßwesen dieser Zeit fürgelauffen [...]. (DZ I, 35)
Unter dieser inscriptio mit ihrem generalisierenden Relativsatz: ›das, was sich jetzt laufend ereignet hat‹ und dem zugleich einschränkenden Hinweis (»insonderheit«) übernimmt ein auf der Weltkugel dahineilender Merkur die Mittlerposition zwischen der aktuellen Summe des Tages: »Den 21. Augusti« und der Gesamtheit der aktuellen Referenzorte (»aus«). Das weltliche Wissen von Vielem spielt sich auch hier zur Darbietung von allem Wissenswerten auf. Diese rhetorische Überhöhung gilt auf typische Weise für den auswählenden Universalismus der zeitungsförmigen Informationsweise: Zwar werden von dem, was sich begeben hat, immer nur Ausschnitte nach je und je vollzogener (kontingenter) Entscheidung gegenüber einem jedes Mal größeren, virtuellen Archiv aller Informationen publiziert. Doch sind für den Zeitungsleser, etwa durch vergleichende Querlektüre anderer Zeitungen, die Grenzen der Auswahl kaum zu erschließen. In dem Verweis, hier und jetzt das, was sich begeben hat, zu publizieren, zeichnet sich eine stilbildende Grundhaltung der Zeitungsmacher ab, die je eigene Sammlung auch als die relevante Publikation für die vielen, die sie unbekannterweise lesen, auszugeben. Und so mag sich als Komplement leicht der Eindruck für die Zeitunger einstellen, dass der Schritt von vielen zu allen Lesern nicht allzu groß ist. Die aktuelle Summe, die die Berichterstattung eines Zeitungsblattes für eine unbestimmte Anzahl von Lesern zieht, totalisiert den Anspruch, das kollektiv Wissenswerte zu bringen, selbst dann, wenn ausdrücklich auf ein »hin und wider« des Geschehens an »verschiedenen« Orten hingewiesen wird. Die Totalisierung gelingt, weil der Rahmen für den Ausschnitt, auf den aufmerksam gemacht wird, in der Zeitung keine weitere metareflexive Begründung erhält. Umgekehrt scheinen Orts- und Zeitangaben im Verbund mit dem Hinweis auf das Wissenswerte seit den frühen Zeitungen die Grenzen der Berichterstattung rhetorisch geradezu zu verdunkeln. Was die aktuelle Publikation eines Zeitungsblattes räumlich und zeitlich exkludiert, wird seiner Lesbarkeit entzogen und die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen realisierten Berichten und dem nicht Berichteten, wird darin unsichtbar gehalten. Zusammenfassend lässt sich zu den strukturellen Momenten, die die Zeitungsperiodika ihrer Form nach mit sich bringen, Folgendes sagen. Die Zeitun-
II.1. Zwischen Text und Medium
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gen gliedern mittels Zahl, Schrift und visuell adressierender Gestaltung vieles des in Raum und Zeit Geschiedenen in einem synchronen Neben- und zugleich Nacheinander, ohne die Bezüge dieses Neben- und Miteinander in seiner Auswahl zu klären. Mit der periodischen Fortsetzung und durch fortlaufende Seitenzählung oder Ausgabennummerierung kann dennoch die Fiktion einer continuatio gegenüber diskontinuierlichen Raum- und Zeitbezügen der Zeitungsnachrichten aufrecht erhalten werden. Wird das Neue zunächst noch als das Unbekannte aus anderen Räumen gedacht und verweist dieses auf die Lücken im bestehenden Wissen, so wird in die Vorstellung eines einzigen Weltenraums und seiner endlichen, teils bekannten, teils unbekannten Summe mit den Zeitungen der Faktor Zeit als ebenfalls weltimmanenter Vorgang eingespeist. Zu den räumlich strukturierten Lücken treten damit solche Wissenslöcher, die mit einem Zeitindex versehen sind. Es kann ja sein, dass man bereits publizierte Nachrichten verpasst hat, wenn man nicht kontinuierlich alles liest, was an vielen Orten publiziert wird; der Zusammenhang der Welt in den Ereignissen kann so verloren gehen. Im Hinblick auf diese formgeschichtlichen Eigentümlichkeiten der Zeitungen des 17. Jahrhunderts wäre festzustellen, dass diese Form bereits zwischen den aktuell abschließenden Archivgesten und einer fortgesetzten kommunikativen Verschiebungsleistung typenbildend agiert. Es lässt sich damit allerdings kaum genauer sagen, ab wann die Vorstellung der Begrenztheit menschlichen Wissens gegenüber göttlicher Allwissenheit sich zur Erfahrung immanenter, unhintergehbarer Geschichtlichkeit alles Wissens transformiert. Es ist aber davon auszugehen, dass die Zeitungen, die sich systematisch auf die Verfügbarkeit von aktuellem vielem Wissen einstellen und eine pragmatische Haltung gegenüber einer sich ständig in Vielem verändernden Gegenwart einnehmen, der mentalitätsgeschichtlichen Herausbildung des historischen Bewusstseins, das von der Forschung erst auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert wird, langfristig zugearbeitet haben. Lücken und Löcher im Wissen werden also gleichermaßen von der Zeitung produziert wie sie von Zeitungen geschlossen werden können. Zwischen Einzelbeiträgen, Sammelkorrespondenzen, Einzelausgaben, periodischen Reihen und Jahrespublikationen gibt es zugleich von Beginn an unterschiedliche Möglichkeiten, Einheiten und memoriale Verweisstrukturen herzustellen. Noch in der Zeitungstheorie des späten 17. Jahrhunderts werden die Begriffe Aviso, Relation und Zeitung als Kennwörter für die Wirklichkeit herstellende Zeitungsberichterstattung verwendet. Walter Schöne, der Herausgeber des Faksimiledrucks der Straßburger Relation von 1609, schreibt zum historischen Begriffsgebrauch, der semantische Feinheiten mitdenkt: Bei der großen Zahl der Einzelnachrichten handelt es sich um »Avisa«, d.h. um Nachrichten im eigentlichen Sinne. Offenbar bestand in der damaligen Zeit ein deutliches Gefühl dafür, wo die Nachricht aufhörte, und die ihrem Wesen nach umfänglichere »Relation« begann. Wenn etwa der Pater Spinola, ein Jesuit und Genueser, aus dem Orientalischen Indien nach dreißigjähriger Abwesenheit vom Papst in Audienz empfangen wird, so erstattet er diesem »Relation«. Wenn der Wolfenbüttler Aviso die Bezeichnung »Relation oder Zeitung« an zweiter Stelle seines Titels nennt, so geschieht
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert das wohl in dem Gefühl für die Unmittelbarkeit seines Nachrichteninhalts. Den Herausgeber der Relation mag bei der Abfassung seines Jahrestitels [im Unterschied zur titellosen Einzelausgabe] das Gefühl geleitet haben, daß der Nachrichteninhalt des bevorstehenden Jahrganges als Ganzes mit der gewichtigeren Bezeichnung »Relation« entsprechend gekennzeichnet sei.48
Trotz solcher taxierenden Begrifflichkeiten und vernetzenden Strukturierungsmaßnahmen über Zeit- und Ortsangaben hat in den Augen der expliziten Zeitungskritiker des späteren 17. Jahrhunderts offensichtlich der Eindruck vorgeherrscht, dass das Periodikum Zeitung eher zu einer formtypischen Unordnung als zur Ordnung neige. Zu diesem Eindruck mag auch die erst in Ansätzen vorhandene typographische Normierung beigetragen haben, die die Grenzen zwischen einzelnen Nachrichten und vermischten Berichten noch durchlässig hält. Die Zeitungskritik reaktualisiert dabei Einschätzungen, die schon bei den Messrelationen vorgenommen wurden und deren negative Implikationen sich auch gegen die Konkurrenz in den eigenen Reihen richten. So bemerkt etwa der Herausgeber einer Messrelation von 1602: Obwohl, günstiger lieber Leser, sich ein zeitlang etliche Schreibenten [sic] herfür getan und unterschiedliche Relationes historicas in offnem Druck ausgehen lassen, so beschieht doch solches von vielen dermaßen confuse und ohne Ordnung, daß zu verwundern, daß sie damit ans Licht kommen dürfen; dann der mehrenteil aus ihnen nur die wöchentliche Aviso und Postzeitungen für sich nehmen und dieselben von Wort zu Wort sine delectu und ohn Unterschied dahin setzen, dardurch sich begibt, daß oftermals ein Ding zwei- oder dreimal repetiert und erholet wird, zu geschweigen, daß sich auch die vorige Zeitungen hernacher nit erfolgen, sondern mutiert, corrigiert, ja wohl gar revociert und widerrufen werden.49
So ist die Profession der Zeitunger selbstkritisch und auf Dauer daran interessiert, dass ihre Periodika als seriöse Produkte einer geordneten Schriftkultur erscheinen, in der man sich und seine Korrespondenten wechselseitig als Quellenmedium benutzt. Zeitunger müssen vermeiden, bereits Gemeldetes als ›neu‹ zu publizieren, und wollen nach Eigenbekundung so sorgfältig arbeiten, dass Korrekturen und Widerrufe erst gar nicht nötig werden. Die verbindlichen Anforderungen an eine regelmäßige und in jeder Hinsicht professionell durchgeführte Nachrichtenproduktion lösen aber nicht das Problem der zeitungstypischen Unordnung, entsteht doch dieser Eindruck offensichtlich durch die Aneinanderreihung von vereinzelten Berichten über unterschiedliche Ereignisse. In der periodischen Zeitungspublizistik des 17. Jahrhunderts hat es auch bei den semantischen Bezügen von aufeinander folgenden Einzelnachrichten noch sehr viel hermeneutischen Spielraum gegeben. Zwar sind »[m]ehr als die Hälfte
48 49
Walter Schöne. Nachwort. In: Die Relation des Jahres 1609. Hg. von Walter Schöne. Leipzig 1940. S. 1–28. Hier S. 27. So der Herausgeber einer Messrelation von 1602 im Vorwort zur eigenen Publikation; zit. n. Schottenloher. Flugblatt und Zeitung. S. 232.
II.2. Im Kontext des Gedruckten
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aller Beiträge in Aviso und Relation [...] als Fortsetzung einer früheren Beichterstattung zu sehen« (SZ 279), doch spricht Schröder von der Tendenz zur »Atomisierung« von Nachrichten. Länger andauernde Geschehnisse werden in punktuelle Ereignisse aufgelöst. [...] Die kontinuierliche Berichterstattung präsentiert sich als ein Mosaik von Einzelfakten, deren Zusammenhang der Leser zu einem großen Teil selber herstellen muß. (SZ 229)
So wie es nur ansatzweise zu Formen des Kommentars oder der Bewertung von Ereignissen kommt (s. SZ 161), fehlen zunächst auch »ereignisübergreifende Erläuterungen« (SZ 281). Es stellt sich dabei die Frage, wer etwa im gelehrten oder höfischen Kontext gedruckte Zeitungskommentare benötigt hätte, um Berichte aus historisch-politischen Blättern auf umfänglichere Kontexte interpretatorisch anzuwenden.50 In der Praxis der gedruckten Zeitungskommunikation wurde (gegenläufig zur Rhetorik, alles gerade Wissenswerte in einem Blatt bereitzustellen) von Zeitungsdruckern wohl auch darauf gesetzt, dass die Nachrichten ihrer Periodika nicht isoliert, für sich, standen, sondern sich in einem dichten Feld intermedialer und intertextueller Bezüge innerhalb der Schriftkultur bewegten.51 Und schließlich scheinen darin auch zwei Lesemodelle zu konkurrieren: das vollständige Lesen einer Ausgabe und das von der Zeitungstheorie dann kritisierte sprunghafte Lesen. So taucht das Problem der Schließung von Lücken bei gleichzeitiger Produktion von Wissenslücken auf der Rezeptionsseite wieder auf.
II.2. Im Kontext des Gedruckten Heute werden zur Klärung der Genese des Mediums Zeitung vor allem solche frühneuzeitlichen Medien und Textgattungen herangezogen, deren Merkmale auf konkrete Gebrauchszusammenhänge verweisen: Briefe, Flugblätter, Flugschriften, Messrelationen, Kalender, Plakate und kleinere Druckwerke der öffentlichen Kommunikation, aber auch Chroniken und periodisches Schrifttum in Büchern werden zu den Vorläufern und Umfeldern gezählt, in deren Kontexten
50
51
Vgl. aus sprachhistorischer Sicht zu den Zeitungen des 17. Jahrhunderts Thomas Gloning. Verständlichkeit und Verständnissicherung in den frühen Wochenzeitungen. In: Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerd Fritz und Erich Straßner. Tübingen 1996. S. 315–340. Vgl. Wolfgang Harms. Feindbilder im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit. In: Franz Bosbach (Hg.). Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Köln 1992. S. 141–177. Hier S. 141: Während das Flugblatt im 16. Jahrhundert »noch einen großen Teil der Primärinformation« leistet, »wird diese im 17. Jahrhundert mehr und mehr von der Zeitung übernommen. Die Meinungsbildung, die politische wie religiöse Propaganda, die parteiische Kommentierung der Tagesereignisse werden zur Hauptaufgabe des Flugblatts, das nun einen vorinformierten Leser vorauszusetzen pflegt.«
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
die periodische Zeitung aufkommt.52 Dieses vielfältige Schrifttum ist in einer breiten Spanne zwischen gelehrten und populären Formen situiert. Auch die periodischen Zeitungen stehen von Beginn an in vielfältigen Bezügen zu heterogenen zeitgenössischen Wissensformationen und lassen sich – ähnlich wie Flugblätter und Flugschriften mit ihren Texten und Bildern – nicht reibungslos auf normative gattungs- und medientheoretische Horizonte abbilden.53 Zwischen Text und Medium stellt sich so die Frage nach dem historischen Ort der Zeitung, deren Formen Anschlüsse zu zahlreichen anderen Medien der Druckkultur herstellen. In der Rekonstruktion der Genese der periodisch gedruckten Zeitung geht es zunächst um Übergänge zwischen Handschriftlichkeit und Druckschriftlichkeit: und zwar von den sogenannten geschriebenen Zeitungen, das sind von Hand kopierte Mitteilungen im Briefverkehr, die in Politik und Handel dem internen Nachrichtenaustausch dienen, zu den gedruckten Neuen Zeitungen im 16. Jahrhundert, die zur Publizistik der Einblattdrucke gehören.54 Handschriftliche Mitteilungen von Ereignissen konnten an das Ende von Privatbriefen gestellt werden, dann gab es auch umfangreichere Zusammenstellungen auf losen Zetteln als Briefbeilagen. In solchen »Zeitungsbriefen«, »bei denen die Nachrichtenvermittlung den Hauptzweck der gesamten Sendung ausmacht, sind Weitergabe und Austausch von vorneherein beabsichtigt.« (SZ 10)55 Die Umstellung von der handschriftlichen auf die druckschriftliche Kopie von Nachrichten zitiert die medienhistorische Zäsur, die das gutenbergsche Druckverfahren von der mittelalterlichen Kopistentätigkeit und den Druckverfahren der Inkunabelzeit abgrenzt. Das druckschriftliche Referat von Nachrichten ist eine der technisch-kulturellen Voraussetzung, an die die regelmäßig gedruckten Zeitungen ab dem ersten Jahr52
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Vgl. den Aufriss der »›Medienlandschaft‹ im Jahre 1609«, den Thomas Schröder in seiner Untersuchung zum Aviso und zur Relation erstellt (SZ 10ff.). Kritisch zu der Tendenz, in der Zeitungshistoriographie mit Typologien zu arbeiten, die eine lineare Entwicklungsgeschichte von der Hand- in die Druckschriftlichkeit bei Nachrichten verbreitenden Medien nahe legen, Franz Mauelshagen. Netzwerke des Nachrichtenaustauschs. Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der ›neuen Zeitungen‹. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. S. 409–425. Vgl. zu Medien- und Genreaspekten bei der Flugblattpublizistik Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. I. Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Teil 1. Ethica, Physica. Vgl. Heiko Droste. »Einige Wiener Briefe wollen noch publiciren«. Die Geschriebene Zeitung als öffentliches Nachrichtenmedium. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 1–22; Holger Böning. Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 23–56. Die handschriftlichen Fugger-Relationen des 16. Jahrhunderts stellen eines der bekanntesten und größten erhaltenen Konvolute des frühen Nachrichtenverkehrs im politisch-kaufmännischen Bereich dar; vgl. Michael Schilling. Zwischen Mündlichkeit und Druck: die Fuggerzeitungen. In: Editionsdesiderate in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Gert Roloff und Renate Meinecke. Bd. 2. Amsterdam u. a. 1997. S. 717–727.
II.2. Im Kontext des Gedruckten
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zehnt des 17. Jahrhunderts anschließen können. Die Periodizität der gedruckten Zeitung gilt in einem zweiten Schritt als die wichtigste technisch-operative Neuerung gegenüber der gelegentlichen Blattpublizistik. Die Umstellung auf Periodizität bringt einerseits den »Aspekt des gewerbsmäßigen Handels mit Nachrichten in den Vordergrund.« (SZ 11) Andererseits verstärkt die regelmäßig in kurzen Abständen erscheinende Zeitungspublizistik allgemeine Effekte des Buchdrucks, die die beschleunigte Vermehrung und die erzielten Reichweiten im Wissenstransfer betreffen.56 Die Auswirkungen der Zeitungskommunikation sind von der Forschung vielfach beschrieben worden. In diesen Beschreibungen geht es insbesondere um das politisch und kulturell bedeutsame Konzept von Öffentlichkeit, das immer in Zusammenhang mit der Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion bzw. deren Rezeption gesehen wurde.57 Das mit dem Buchdruck emergierende und durchsetzungsfähige Konzept einer gedruckten Öffentlichkeit trennt gegenüber auditiv-visueller, kopräsentischer Interaktion die Produktions- und Rezeptionsvorgänge zeitlich und räumlich noch stärker voneinander, als dies geschriebene Schrift schon tat. An dieser historischen Zäsur und ihren Auswirkungen interveniert auch die periodische Zeitung, wenn sie es sich gleichsam als ihre genuine Aufgabe aneignet, abwesende Leser über gedruckte Informationen zu Teilnehmern zu machen.58 Betont man dieses publizistische Moment in den Entwicklungslinien der Zeitung, so lassen sich die Periodika gleichermaßen als Indikatoren, Faktoren und Agenten eines Strukturwandels beschreiben, der auf Dauer ›das Publikum‹ und zugleich differente Adressatengruppen hervorgebracht hat.59 Im Faktor Publizität werden in der Zeitungstheorie somit die drucktechnischen Voraussetzungen für eine operativ genutzte Periodizität und die gesellschaftliche Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen, ineinander geführt. Die Kommunikationswissenschaft grenzt üblicherweise die frühe Zeitung über zwei weitere Parameter form- und funktionsgeschichtlich von konkurrierenden Medien ab, wenn sie Aktualität und Universalität der Zeitung 56
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Vgl. zu den generellen Effekten des Buchdrucks, der ein neues mediales Zeitalter begründete, Marshall McLuhan. Understanding Media. The Extension of Man. London 1964; dt.: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Aus dem Amerik. übers. von Max Nänni. Düsseldorf/Wien 1968. Vgl. dazu drei Klassiker der (deutschen) Wissenschaftsgeschichte: Jürgen Habermas. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorw. zur Neuaufl. Frankfurt/M. 1990; Reinhart Koselleck. Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M. 81997 und Niklas Luhmann. Die Realität der Massenmedien. Opladen 1995. Vgl. Holger Böning. Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. S. 105–136. Gegenüber der Einschätzung von Jürgen Habermas, dass es um die Einheit der publizistischen Öffentlichkeit gegangen sei, wird heute in der Forschung stärker auf die zeitgleiche Vielfalt verschiedener Publika verwiesen; vgl. dazu auch Zerstreute Öffentlichkeiten. Zur Programmierung des Gemeinsinns. Hg. von Jürgen Fohrmann und Arno Orzessek. München 2002.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
betont. Zusammen mit der Beachtung von Periodizität und Publizität beginnt das Ensemble dieser vier Kategorien seine wissenschaftshistorische Karriere in der deutschen Zeitungstheorie des frühen 20. Jahrhunderts.60 Und diese Kategorien werden noch heute herangezogen, um die Geburtsstunde der Zeitung medienhistorisch zu erhellen: Im Unterschied zu allen früheren oder konkurrierenden Informationsmedien der Zeit wie geschriebenen Zeitungen, Neuen Zeitungen oder Meßrelationen vereinen die ersten Wochenzeitungen erstmals alle typischen Eigenschaften der modernen Presse in sich: Periodizität, Aktualität, Universalität und Publizität. (SZ 1)
Die genannten Parameter beziehen sich hinsichtlich der Zeitung und ihrer kommunikativen Effekte auf unterschiedliche Ebenen. Es werden darin technischapparative, funktionsgeschichtliche, formalästhetische und semantische Aspekte der Zeitungsproduktion und -rezeption berücksichtigt und in ihren Rückkopplungseffekten beachtet. Dabei dienen diese Kategorien einerseits einer generalisierten Betrachtungsweise der Zeitung; andererseits sollten sie in ihren relativen Dimensionen in konkreten historischen Situationen Beachtung finden. Was sich etwa aus heutiger Sicht über die Idee der Universalität für das 17. Jahrhundert sagen lässt, deckt sich nicht mit dem, was zu der Verbindung von Universalitätskonzepten und Zeitungskommunikation am Ende des 18. Jahrhunderts zu sagen wäre oder mit Einschätzungen, die heutige massenkommunikative Verhältnisse betreffen. Doch sollte man dennoch an einer verallgemeinerbaren Formkonzeption Zeitung und damit einem Prinzip Zeitung festhalten, um das Medium überhaupt als eine erkennbare Einheit von Differenzen adressieren zu können. Dabei geht es um die Kontextuierung der Form Zeitung in zahlreichen intra- und intermedialen Bezügen.61 Die Aktualität der Zeitung lässt sich als Effekt der drucktechnisch basierten, relativ kurzfristigen Periodizität erfassen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit den benachrichtigenden Blättern entsteht. Man hat deshalb auch in der Periodizität das »Kardinalkriterium« des neuen Mediums gesehen, das wiederum Grund legt für weitere Effekte der typischen Zeitungskommunikation: Die Periodizität muß als das Kardinalkriterium gelten. Denn das periodische Erscheinen bestimmter formal gleicher Informationen bewirkt zwei einschneidende Neuerungen: Es macht, zum einen, einen neuen Schreibertypus notwendig, einen Typ Autor, der bereit ist, in bestimmten Intervallen Texte gleicher formaler und inhaltlicher Qualität niederzuschreiben und in die Presse zu liefern. Zum andern bewirkt es auch eine neue Rezeptionsweise. Es schafft einen neuen Lesertyp, der bereit und begierig ist, Informationen gleichen Zuschnitts in bestimmten Abständen entgegenzunehmen.62
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62
Vgl. Hans Bohrmann. Theorien der Zeitung und Zeitschrift. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch. S. 143–148. Hier S. 146. Auch Uta Egenhoff. Berufsschriftstellertum. S. 106, spricht von einem »Prinzip Zeitung«, um die Formeigentümlichkeiten von Eberhard W. Happels Relationes Curiosae zu beschreiben. Jörg Jochen Berns. Zeitung und Historia: Die historiographischen Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 12,1 (1983). S. 87–109. Hier S. 92f.
II.2. Im Kontext des Gedruckten
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Aktualität wird im genaueren Sinne mit der Zeitung zum operationalen Bestandteil von regelmäßiger Informationsausgabe unter einem bestimmten Datum. Die Nachrichten, die in einer Zeitungsausgabe erschienen, konnten ja bei einem schwankend codierten Begriff von Neuheit im 17. Jahrhundert mehrere Wochen alt sein (s. WGr 44). Das Publikationsdatum der Zeitung aber ist der Rahmen, der den Faktor Aktualität hervorbringt. Damit verfügen die Periodika eben auch über die Möglichkeit, länger Vergangenes zu reaktualisieren. Die Neuheiten, die mit der Zeitung auf dem Vormarsch sind, sind zuallererst Effekt der genuinen Medientechnik der Aktualisierbarkeit mittels eines publizistischen Datums.63 Damit profiliert sich die periodisch gedruckte Zeitung im engeren Sinne ihrer eigentümlich kombinierten Medientechniken gegenüber anderen publizistischen Formaten mit vergleichbaren Benachrichtigungsinteressen. Periodika wie die halbjährlichen Messrelationen oder die Monatsschriften des späten 16. Jahrhunderts fallen in dieser neuen Konkurrenzsituation schon hinter die wöchentliche Zeitungspublizistik zurück: Ihre Nachrichten erscheinen angesichts der regelmäßig aktuellen Zeitungen ›verspätet‹.64 Andere auf die zeitnahe Veröffentlichung von Ereignissen bezogene Medien sind die okkasionellen Einblattdrucke, Flugblätter und -schriften. In der durch die Zeitung veränderten Situation kann diese Publizistik wiederum nicht mit der Regelmäßigkeit der Periodika mithalten. Die kontinuierlichen Zeitungen bedienen gegenüber dem gelegentlichen Schrifttum verlässlicher die Erwartung an einen temporal gleichmäßig strukturierten Informationsumlauf. Die Publikation von Ereignisberichten im Tagesrhythmus zeichnet sich in Deutschland schon Mitte des 17. Jahrhunderts ab; ›täglich etwas Neues‹ wird damit etwas Alltägliches. In den zeitungstypischen Produktionskontinua wöchentlicher, täglicher, aber auch monatlicher Ausgaben wird zeitgenössisch bald erkennbar, dass die in ihrer Regelmäßigkeit zugleich beschleunigte Produktion von Informationen ein statistisches Mehr mit sich bringt, hinter das nicht mehr zurückgegangen werden kann. Der Umstand von immer mehr gedruckten Informationen in den Zeitungen führt in die typographische Kultur neue statistische Dimensionen ein, deren Wahrnehmung sich rekursiv mit den Zeitungen verbindet. Die Zeitung wird zu einem publizistischen Institut, das auch selbstbezüglich mit diesem ständigen Mehr umzugehen hat (s. WGr 41). Auch wenn im 17. Jahrhundert noch nicht zu Zwecken der Statistik gezählt wird, so thematisiert man doch schon den selbstbezüglichen Produktionszwang, unter den die Periodika in ihrer Wiederholungsschleife des publizistischen Ereignisses Zeitung geraten. Ein Topos, der sich hier herausbildet, spricht die Ver-
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Vgl. dazu Hedwig Pompe. Die Neuheit der Neuheit. Der Zeitungsdiskurs im späten 17. Jahrhundert. In: Einführung in die Geschichte der Medien. Hg. von Albert Kümmel, Leander Scholz und Eckhard Schumacher. Paderborn 2004. S. 35–64. Vgl. zu den Messrelationen Ulrich Rosseaux. Die Entstehung der Messrelationen. Zur Entwicklung eines frühneuzeitlichen Nachrichtenmediums aus der Zeitgeschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts. In: Historisches Jahrbuch 124 (2004). S. 97–123.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
mutung aus, dass die Zeitungsleute alles Mögliche drucken, bloß um die Seiten ihrer Blätter zu füllen. Die der Zeitung zugeschriebene Universalität lässt sich weniger als direkte Folge von Periodizität und Aktualität, sondern eher als ein metonymisch verschobener Effekt von Publizität beschreiben: Sollte eine Öffentlichkeit erreicht werden, die bereits im 17. Jahrhundert eine heterogene Versammlung realer und potentieller Adressaten und kein einheitliches Publikum vorstellte, musste die Zeitung, um sich zu behaupten, diese Heterogenität berücksichtigen. Von der charakteristischen Universalität schon der frühen Zeitungen zu sprechen meint also (im Vergleich zu Einzeldrucken, Messrelationen oder Monatsschriften) ein »wesentlich breiteres Spektrum an Nachrichten« (SZ 29). Schon die Vielfalt in der historisch-politischen Berichterstattung scheint auf die uneinheitliche Gemengelage der gesellschaftlichen Kommunikation selbst zu verweisen. Mit seiner Universalität bezieht sich dann das Formprinzip Zeitung gleichsam mimetisch auf die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse und deren Komplexität. Die Form machte Letztere symbolisch anschaulich, auch wenn keine Zeitung die gesellschaftliche Kommunikation in ihrer Gesamtheit je abbilden könnte. Pars pro toto tritt die Form Zeitung in ein symbolisch-repräsentatives Verhältnis zur gesellschaftlichen Gesamtkommunikation. Als Teil aus dem Ganzen steht die Zeitung aber auch für die gegenläufige Möglichkeit von Komplexitätsreduktion ein. Und über die je spezifische Auswahl aus virtueller Gesamtkommunikation weisen auch die Zeitungen Ordnungen in den gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnissen aus. Die je konkrete Auswahl diszipliniert die als zeitungstypisch verstandene Universalität. Diese Disziplinierung geschieht im Prinzip bei der Produktion genauso gut wie bei der Rezeption, denn beidseitig werden Entscheidungen getroffen, was aus Kommunikationszusammenhängen als Information behandelt werden soll. So praktiziert die Zeitung ihrer Form nach eine ›relative Universalität‹. Die historische Zeitungskritik wird sich daran abarbeiten, wenn sie die Grenze zwischen zu Viel und zu Wenig an Informationen diskutiert. Die Relativierung der Parameter für die Zeitung wird auch dann vollzogen, wenn Zeitung und Zeitschrift als interne Typen der Kommunikationsform Zeitung unterschieden werden.65 So ist es üblich, die ideellen Leitlinien der vier Parameter für die Zeitschrift abzuschwächen: Eine Zeitschrift ist nicht so aktuell wie eine Zeitung (etwa durch monatliche und nicht tägliche Publikation), und sie ist aufgrund ihrer stärker akzentuierten Auswahl von Texten und Bildern mit einer geringeren Reichweite ausgestattet. Dies schlägt sich wiederum auf die Frage nach der Öffentlichkeit nieder, die eine Zeitschrift hervorbringen kann. Zeitschriften verweisen eher auf die Überschaubarkeit konkreter Publika, während 65
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht sich die Zeitungstheorie hier um eine Klärung, vgl. Bohrmann. Theorien der Zeitung und Zeitschrift. S. 144; zur historischen Einschätzung vgl. Egenhoff. Berufsschriftstellertum. S. 23ff.
II.2. Im Kontext des Gedruckten
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allgemeiner agierende Zeitungen sich kollektiv auf Gesellschaft schlechthin auszurichten scheinen.66 Die vorliegende Arbeit geht demgegenüber von einem Begriff Zeitung aus, der aus formalästhetischen Gründen für die Einheit der Differenz ›Zeitung‹/›Zeitschrift‹ optiert. An beiden Typen und ihren konkreten Realisationen lässt sich ein generalisierbarer Interaktionsrahmen zwischen den Polen Universalität und Spezialisierung diskutieren.67 Auch die in der Forschung entwickelten Zeitungstypologien versprechen, Ordnung in die Kommunikationsverhältnisse zu bringen, die in der Zeitung symbolisch repräsentiert sind bzw. realisiert werden.68 Unter wesentlicher Erweiterung von funktionalen durch inhaltlich-semantische Aspekte lässt sich von heute aus die Anbindung von Zeitungstypen an produktions- und rezeptionshistorisch bestimmbare Kommunikationslagen beschreiben: für die Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts ebenso wie für die sozialen und politischen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts oder die massenkommunikativen Bedürfnisse des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf gruppenspezifische Interessen und Publika kann dann zugeordnet werden: Gelehrte produzieren und lesen andere Zeitungen als der politische Stand, das allgemeine Publikum schätzt die allgemeinen Zeitungen oder der mittlere Stand die unterhaltsamen Journale, literarische Gruppierungen schaffen sich seit dem 18. Jahrhundert ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften. Entlang geschrieben an den Leitlinien evolutionärer Ausdifferenzierung mittels gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse leuchten solche Zuordnungen unmittelbar ein. Diese Versuche, die Ordnung des Vielfältigen erkennbar zu machen, korrelieren mit Anliegen, wie sie in den historischen Diskussionen zu finden sind. Die frühe Zeitungstheorie thematisiert schon, dass sich in der Zeitungskommunikation plurale Sinnbezüge zeigen, deren zeitungsgemäße Darbietung, je nach Standpunkt, ordentlich oder unordentlich ausfallen. Heute ordnet die Zeitungstheorie Zeitungstypen und -formen vielleicht mehr denn je, um historische Ausprägungen zu beschreiben. Schließt man hier an, dann lässt sich die Zeitung als symbolischer Repräsentant von Kommunikation und Wissen schlüssig auf die
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Gestützt wird diese Unterscheidung natürlich auch durch statistische Größen wie Auflagenzahlen; vgl. dazu Kap. II.4 der vorliegenden Studie. Für eine historisch kritische Neureflexion auf den Begriff Zeitschrift und die darin enthaltenen möglichen Gattungsunterschiede zur Zeitung plädiert auch Flemming Schock. Wissen im neuen Takt – Die Zeitung und ihre Bedeutung für die Entstehung erster populärwissenschaftlicher ›Zeitschriften‹. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 281–302. Vgl. analytische Bibliographien wie Jürgen Wilke. Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). 2 Teile. Stuttgart 1978; Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Hg. von Holger Böning. Bd. 1. Hamburg. Teil 1–3. Bearb. von dems. und Emmy Moeps. Stuttgart-Bad Cannstat 1996.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
großen Leitlinien historischer Prozesse beziehen: Im 17. Jahrhundert emergiert die Zeitung unter den Bedingungen absolutistischer Politik und gelehrter Schriftkultur, in deren Diensten sie vordringlich steht; im 18. Jahrhundert ist das Medium Promoter aufklärerischer Kommunikationsziele und trägt zur kommunikativen Dynamisierung des Wissensumlaufs bei; im 19. Jahrhundert interagiert die Zeitung mit den kommunikativen Praktiken einer weitreichend politisierten und zugleich vermehrt auf Unterhaltung ausgerichteten Öffentlichkeit. Doch ist zu sehen, dass die gefundenen Ordnungen der Kommunikation immer wieder durch die zahlreichen Mischformen, die seit dem späten 17. Jahrhundert mit der Erweiterung des Nachrichtenspektrums auftreten, irritiert werden. So wenig die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt einsinnig und linear verläuft, sondern zahlreiche unkontrollierte und überraschende Anschlussstellen produziert, so komplementär produktiv verhalten sich die vielen Versuche, neue Zeitungen und Zeitschriften auf den Markt noch ungekannter und unerprobter Möglichkeiten der Druckkultur zu bringen. Gerade die Zeitung wird immer wieder aufs Neue ausprobieren, was ihr möglich ist, weil, so könnte man sagen, die gesellschaftliche Kommunikation selbst nicht weiß, welche von ihren vielen möglichen Richtungen sie nun einzuschlagen gedenkt. Das wissenschaftlich geordnete Feld der Zeitungskommunikation muss entsprechend immer wieder geöffnet werden, wenn Mischformen und Übergänge als solche gewürdigt werden und nicht nur als randständige Ausnahmen gegenüber form- und funktionsgeschichtlich eindeutigeren Prototypen Erwähnung finden sollen.69 Bei diesen Befunden wäre zu überlegen, ob in gegenwärtiger Zeitungstheorie der Diskurs der ersten 200 Jahre mehr Spuren hinterlassen hat, als die Publizistikwissenschaft – auch bei historischer Selbstbesinnung – noch wahrzunehmen bereit ist. Zwischen der systemischen Zurichtung einer Form und eines Mediums Zeitung und der Beachtung dessen, was historisch variierend als Zeitungspublizistik, deren Öffentlichkeit, Informations- und Unterhaltungsfunktion verstanden wird, liegen zahlreiche Aspekte von strukturbedingtem Widerstreit verborgen, den die Zeitung mit sich bringt. Die frühe Zeitungstheorie hat an diesem Widerstreit angesetzt und viele Argumentationsfiguren, die zum Teil noch aktuell erscheinen, in ihren Aporien bereits durchgespielt. Die Analyse des historischen Diskurses kann deshalb für heutige Hinsichten auf die Zeitung in den Kommunikations- und Medientheorien einmal mehr eine erhellende Rolle spielen. Zunächst aber sollen noch einige technisch-apparative und statistische Hinweise dazu beitragen, einen Hintergrund für manche Einschätzungen des historischen Diskurses zu liefern, der sich ja nicht abgelöst von jeder praktischen Erfahrung mit der Zeitung formiert hat.
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Vgl. etwa WGr 149, zum »miscellany journal« mit seiner besonderen Vielfalt an Themen und Formen, das bei den englischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zu »einem beherrschenden Typus« wurde. Die Erfahrung, dass immer wieder Übergänge und Mischformen zu sehen sind, macht Wilke für zahlreiche Beispiele des 18. und 19. Jahrhunderts geltend.
II.3. Techniken und Apparaturen
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II.3. Techniken und Apparaturen Die Zeitung ist in untereinander verwobene, kulturelle Ensembles eingebunden, die ihrerseits von der Zeitung kommunikativ durchdrungen werden. Leistungen von Druckmaschinen, Auflagenhöhen, verwendete Seitenformate, Textsorten, die typographische Gestaltung und andere zeitungsspezifische Einzelheiten mehr tragen wie Produzenten und Abnehmer von Zeitungen die strukturellen Signaturen auch anderer gesamtgesellschaftlicher Dispositive in sich. Und alle Technologien, die mit der Zeitung zum Zuge kommen, bewegen sich nicht in kontext- und machtfreien Szenarien, sondern verweisen auf Rahmenbedingungen kultureller, ökonomischer oder politischer Art, deren Dimensionen sich je und je unterschiedlich verwirklichen. So stellt etwa Öffentlichkeit sich als ein Effekt der Zeitungskommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten dar, wie umgekehrt Zeitungspublizistik auf den neu entstehenden Anspruch auf eine regelmäßig gedruckte Öffentlichkeit verpflichtet werden kann. Dabei scheint die technische Leistung der Druckerpressen den gesellschaftspolitischen Diskussionen, die im 18. Jahrhundert dann mit aller Deutlichkeit um die Permanenz der öffentlichen Zeitungskommunikation kreisen, hinterher zu hinken. Diese Ungleichzeitigkeit bedeutet für eine Geschichte der Zeitung, dass das Medium zunächst als Institut potentieller Massenkommunikation auftritt. Seine darin begründete Modernität wäre damit nicht nur an den reellen Zahlen von Zeitungsproduktion und -konsumtion oder der technischen Ausstattung zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt festzumachen. Vielmehr wird die Modernität der Zeitung immer auch vom ideellen Prospekt künftiger Möglichkeiten mitbestimmt. Der von Teilen der aufklärerischen Zeitungstheorie spätestens ab dem mittleren 18. Jahrhundert formulierte gesellschaftliche Auftrag der Zeitung: möglichst schnell für alle Wissen produzieren und verbreiten, scheint wiederum erst im späten 19. Jahrhundert mit den industrialisierten Produktionstechniken, die die Voraussetzung einer massenhaften Verbreitung von Druckerzeugnissen sind, zusammenzukommen. Erhalten bleibt aber auch hier die zukunftsoffene Annahme, dass technisch, ökonomisch oder kulturell gesehen ›noch mehr‹ möglich ist, als die aktuellen Statistiken dann bereits dokumentieren. Blickt man zunächst auf die maschinentechnische Rahmung der frühen Periodika durch das Druckverfahren nach Gutenberg, so bleibt das Ensemble technischer Bedingungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast unverändert in Gebrauch.70 Eine Kapazitätserhöhung im Zeitungsdruck gelang seit dem 17. Jahrhundert zunächst durch eine geringfügige technische Innovation, die
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Die folgenden Hinweise zu Druckverfahren, Formaten und Maschinentechniken in diesem und zu Auflagenhöhen, Leserzahlen u.a.m. im nächsten Kapitel dieser Arbeit beziehen sich größtenteils auf Angaben, die Jürgen Wilke in seiner Darstellung Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte aus der umfänglichen Forschung zusammengetragen hat.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
gleichwohl dem Beschleunigungs- und Ausbreitungsbedürfnissen des Mediums Ausdruck verleiht: Während es gewöhnlich zum Bedrucken der Vor- und Rückseite eines Bogens [für den Buchdruck] jeweils eines eigenen Satzes bedurfte, kam man beim Erstellen der Avisen mit einem Satz für beide Bogenseiten aus. Der gesamte Inhalt der Zeitung wurde auf einem Druckstock gesetzt und dabei die einzelnen Seiten mit ihren Köpfen so gegeneinander ausgerichtet, dass nach einem Wenden der bereits gedruckten Vorderseite des Bogens der Druck nur wiederholt zu werden brauchte, um eine richtige Aufeinanderfolge der einzelnen Zeitungsseiten zu ergeben. Nach dem Zerschneiden des Bogens erhielt man zwei in Inhalt und Satzspiegel identische Exemplare eines Nachrichtenblattes.71
Die so gesteigerte Druckleistung greift auf, was mit der Entstehung einer der beiden ersten nachweisbaren gedruckten periodischen Zeitungen, der Straßburger Relation von 1609, aus wissenshistorischer Sicht verbunden wird: die »Chance der Rationalisierung und größere[n] Arbeitsökonomie« (WGr 43). Denn darum ging es dem Drucker der Relation, Johann Carolus, als er den Rat der Stadt Straßburg 1605 darum bat, ihm ein Druckprivileg für das Drucken von »Avisen« zu erteilen. Seine Bitte um das Monopol dokumentiert die Umstellung von der handschriftlichen auf die druckschriftliche Kopiertätigkeit von Neuen Zeitungen, um nun über standardisierte gedruckte Nachrichten Informationen zügiger verbreiten zu können.72 Die Tagesleistung einer Druckerpresse für die (historisch-politischen) Zeitungen betrug im 17. Jahrhundert »in der Regel etwa 300 beidseitig bedruckte Bogen« (WGr 46), die dann durch Zerschneiden in je 600 Exemplare aufgelöst werden konnten.73 Um eine erhöhte Nachfrage an Zeitungsexemplaren zu befriedigen, konnte auch die Zahl der Pressen in einer Druckerei vermehrt werden (s. WGr 46).74 Bis zum späten 18. Jahrhundert wurden hier nur geringfügige
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Martin Welke. Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts (1613– 1689). In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 23 (1976). S. 105–276. Hier S. 144; vgl. zur Technikgeschichte auch Roger Münch. Technische Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften bis ins 20. Jahrhundert. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch. S. 825–830. Hier S. 826; Zeitungsdruck. Die Entwicklung der Technik vom 17. zum 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Martin Welke und Boris Fuchs. München 2000. Vgl. Johannes Weber. »Unterthenige Supplication Johann Caroli / Buchtruckers«. Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38 (1992). S. 257–265. Gemeint ist hier und im Folgenden im Anschluss an Wilke mit dem Begriff »Zeitung« der Typus der historisch-politischen Periodika, der sich als relativ stabil erweist. Die »Zeitschrift« und das »Intelligenzblatt« werden, insofern Unterschiede festzustellen sind, davon abgehoben. Vgl. zur Beschreibung von typologischen Differenzen auch Johannes Weber. Avisen, Relationen, Gazetten. Der Beginn des europäischen Zeitungswesens. Oldenburg 1997. Dazu kommt als weitere Variable die Papierproduktion: im Deutschen Reich existierten »um 1450 neun Papiermühlen, um 1500 bereits 60, und ein Jahrhundert später, um 1600, hatte sich ihre Zahl auf 240 erhöht« (WGr 47). Für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts werden 500 Papiermühlen geschätzt.
II.3. Techniken und Apparaturen
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Steigerungsraten erzielt: »Nach dem Stand der Technik konnte eine Presse Ende des 18. Jahrhunderts täglich [...] maximal 5.000 Zeitungsexemplare drucken.« Die in den ersten 180 Jahren kaum geänderten Druckverfahren bringen auch ein konstantes typographisches Erscheinungsbild der Zeitungen mit sich: Die Zeitungen des 18. Jahrhunderts gleichen in ihrem Erscheinungsbild noch weitgehend denjenigen des 17. Jahrhunderts. Sie unterschieden sich von diesen jedenfalls weit weniger als sich von ihnen später die Zeitungen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sollten. (WGr 82)
Das Standardformat für den Druck von Zeitungen (s. WGr 82) und Intelligenzblättern (s. WGr 122) war auch im 18. Jahrhundert noch das Quartformat. Das kleinere Oktavformat kommt bei den historisch-politischen Zeitungen im 18. Jahrhundert nur noch vereinzelt vor. Da beim Druck von Zeitungen Vorder- und Rückseite des Bogens gegeneinander versetzt mit demselben Satzspiegel bedruckt wurden, hatten Zeitungen i.d.R. im Quartformat vier, im Oktavformat acht Seiten (s. WGr 82).75 »Die Mehrzahl der Zeitungen des 18. Jahrhunderts beschränkte sich auf vier Seiten pro Ausgabe«, Beilagen als »Appendix« zu den Zeitungen erschienen dann bei »starkem Nachrichtenanfall« bereits mit einer »gewisse[n] Kontinuität« (WGr 82f.). Zeitschriften, die gelehrte, galante oder erbauliche Literatur publizieren, treten in Deutschland seit dem Ende des 17. Jahrhunderts neben die (historisch-politischen) Zeitungen; sie hatten im 18. Jahrhundert einen Umfang von einem halben bis zu mehreren Bogen (s. WGr 98). Diese Periodika werden zeitgenössisch als eigener Typus, als Journal angesprochen. Auch die Moralischen Wochenschriften gehören dazu. Journale wurden einmal wöchentlich, monatlich oder auch nur vierteljährlich ausgegeben (s. WGr 97). Viele dieser Zeitschriften des 18. Jahrhunderts erschienen dann auch im kleineren Oktavformat. Wurden sie in Jahresbänden zusammengebundenen, sahen sie in ihrer typographischen Aufmachung anderen Buchpublikationen »sehr ähnlich« (WGr 98). Die private und öffentliche Anzeigen publizierenden Anzeigenblätter kommen zunächst in Frankreich in den 1630er Jahren auf. Als die erste Publikation dieser Art gilt das Feuille d’avis du bureau d’adresser des Arztes Théophraste Renaudot, der einen publizistischen Handel mit Kleinanzeigen ab 1633 in Paris organisierte.76 In Deutschland erscheinen die dann sogenannten Intelligenzblätter
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Von den ersten beiden nachgewiesenen Periodika erscheint die Straßburger Relation im Quartformat mit vier Seiten (wahrscheinlich bereits seit 1605, erhalten ist der Jahrgang von 1609), der in Wolfenbüttel gedruckte Aviso (ebenfalls 1609) im Quartformat mit acht Seiten (vgl. WGr 43); vgl. auch die Schaubilder bei Münch. Technische Herstellung. S. 826. Vgl. dazu Howard M. Solomon. Public Welfare, Science and Propaganda in Seventeenth Century France. The Innovation of Théophraste Renaudot. Princeton 1972; Manfred Rühl. Publizieren. Eine Sinngeschichte der öffentlichen Kommunikation. Opladen 1999. S. 83ff.; Stagl. Ein vergessener Pionier; Gazettes et Information Politique sous l’Ancien Régime. Hg. von Henri Duranton und Pierre Rétat. Saint-Etienne 1999.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
erst seit dem frühen 18. Jahrhundert.77 Sie wurden zunächst einmal wöchentlich aufgelegt; dann verkürzten sich die Erscheinungsintervalle bis zur täglichen Publikation im späten 18. Jahrhundert. Üblich waren hier zunächst vier Seiten pro Exemplar, doch »erhöhte man fortschreitend die Seitenzahl, z. T. durch Beilagen je nach anfallenden Inseraten.« (WGr 122) Die Intelligenzblätter verstehen sich zuerst als Anzeigenblätter, doch kommt es im 18. Jahrhundert auch hier zu Mischformen, wenn gelehrte Artikel und literarische Texte mit aufgenommen werden.78 Die Technik, den Umfang des Wissenstyps Zeitung durch eine größere Bogenzahl oder über Anhänge und Beilagen zu erweitern, und die Verkürzung von Publikationsintervallen belegen die Zunahme an Informationsproduktion und ein damit rückzukoppelndes Leserinteresse, das sich als Nachfrage niederschlägt. Die sozial- und kulturhistorisch bedeutende Binnendifferenzierung der Zeitungskommunikation über neue Zeitungstypen ist mit auch statistisch zu greifenden Effekten verschränkt. Historisch-politische Zeitungen, Intelligenzblätter und Zeitschriften aller Art differenzieren sich aber unter denselben technisch-maschinellen Voraussetzungen des Zeitungsdrucks aus, der eine Zweitverwertung der üblichen Verfahren im Buchdruck darstellt. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt es hier zu einigen Neuerungen, und zwar durch Pressen, die statt aus Holz ganz aus Eisen gefertigt sind. 1787 stellt Charles Stanhope die erste Presse vollständig aus Eisen her. Deren Hebelmechanismus arbeitet mit größerer Kraft und einem entsprechend vergrößerten Drucktiegel, der dann die Größe des Zeitungsformats mit betrifft (s. WGr 157). Aber so wie die technischen Grundprinzipien des Druckens dabei unverändert bleiben, so bleibt auch die Druckkapazität für die Zeitungsmedien zunächst konstant (s. WGr 158). Am Anfang 19. Jahrhundert steht die Erfindung der sogenannten Schnellpresse, einer Zylinderbzw. Flachformdruckmaschine, durch Friedrich Koenig und Andreas Friedrich Bauer. Der »entscheidende Fortschritt [...] bestand darin, die Papierbogen von einem Druckzylinder gegen die sich unter dem Zylinder bewegende Druckform zu pressen«. Damit steigt die Druckkapazität im Zylinderdruckverfahren auf »das Fünffache des alten Systems« (WGr 158): In einer Stunde können 1.000 bis 1.200 Drucke gefertigt werden. Anfänglich werden diese Pressen noch mit einem Schwungrad von Hand angetrieben, dann wird in der Kombination mit Dampfmaschinen der Druckvorgang weiter beschleunigt. 1814 wird die Schnellpresse
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Als erstes deutsches Intelligenzblatt gelten die in Frankfurt am Main in den 1720er Jahren erscheinenden Wochentliche Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, vgl. Holger Böning. Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert. In: »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. S. 151–164. Hier S. 158; vgl. zur Geschichte der deutschen Intelligenzblätter ders. Das Intelligenzblatt als literarisch-publizistische Gattung. In: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. FS für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag. Hg. von Richard Fisher. Frankfurt/M. 1995. S. 121–134. Vgl. Böning. Das Intelligenzblatt.
II.3. Techniken und Apparaturen
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zum ersten Mal im Zeitungsdruck, und zwar in der Druckerei der Londoner Times eingesetzt (s. WGr 158). 1817 gründen Koenig und Bauer bei Würzburg die erste Druckmaschinenfabrik der Welt. 1823 kauft der Verleger der Berlinischen Nachrichten als erster deutscher Verleger für seine Zeitung eine Schnellpresse,79 1824 der publizistisch vielseitige Verleger Johann Friedrich Cotta für seine Augsburger Allgemeine Zeitung, andere Verleger folgen bald nach (s. WGr 158). Unter diesen technischen Voraussetzungen kann auch das im Zeitungsdruck bisher übliche Quartformat überschritten werden, vereinzelt erscheinen Zeitungen auch im Folioformat (s. WGr 197). Auf die technischen Veränderungen reagiert der Zeitungsdiskurs, der die sozio-kulturellen Folgen der gesteigerten Zeitungsproduktion u.a. als eine Dimension der Ware Kommunikation seit dem späten 18. Jahrhundert beobachtet. In der Interaktion zwischen Techniken und Diskursen deutet sich seit etwa dieser Zeit eine Überschreibung der kulturellen Bedeutung des Buchdrucks im Buch durch das Medium Zeitung an, denn vorrangig an der Zeitung, ihrer Form und ihren Effekten, werden positive und negative Seiten des Umgangs mit Wissen diskutiert. Zeitungstheorie ist im 19. Jahrhundert ebenso vor dem Hintergrund manifester technischer Innovationen zu sehen, die dann in schneller Folge eingeführt werden. Diese betreffen das Druckverfahren im Allgemeinen, stehen aber besonders auch in Verbindung mit der Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion und deren Anforderungen, so etwa die Umstellung vom Handsatz auf den schnelleren Maschinensatz mit der Linotype. Es handelt sich bei dieser Zeilensetz- und Gießmaschine um eine Erfindung des deutschstämmigen Auswanderers Ottmar Mergenthaler in Baltimore.80 Produktionssteigerungen hingen aber auch von der Papierherstellung und der Verfügbarkeit der dafür benötigten Rohstoffe Zellulose bzw. Holzschliff ab. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts umfasst der »Papierverbrauch für Zeitungen, Zeitschriften, Kalender mehr als das Dreifache der gesamten Buchproduktion« (WGr 160). Im späten 17. Jahrhundert wurde für Herstellung der Zellulose bereits eine neue, effizientere Maschinentechnik ausprobiert, der Holländer, benannt nach dem Land seiner Erfindung. Diese Technik setzt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch außerhalb Hollands allmählich durch.81 Die Erfindung der ersten Papiermaschine, mit der das Schöpfen des
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Unter dem Titel Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen erschien diese langlebige Zeitung ab 1740 in Berlin zuerst unter dem von Friedrich II. protegierten Verleger Ambrosius Haude, später dann bei Spener; vgl. Hans-Friedrich Meyer. Berlinische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen. Berlin (1740–1874). In: Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1972. S. 103–114. Vgl. Münch. Technische Herstellung. S. 827. Die erste Setzmaschine dieser Art mit einer Leistung von 5.000 Buchstaben in der Stunde wird 1884 beim New York Tribune in Betrieb genommen. Erst mit dem Licht- und Fotosatz wird dieses Verfahren in den 1970er Jahren eingestellt (vgl. WGr 159). Der Holländer ersetzte durch sein Walzprinzip das herkömmliche Stampfprinzip, mit dem der für die Papierherstellung benötigte Zellstoff bis dahin aus den Lumpen
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Papierbreis von Hand sich erübrigen sollte, geht auf den Franzosen Nicolas Louis Robert zurück. 1798 lässt Robert seine Maschine in Frankreich patentieren.82 In England wird diese Technik weiterentwickelt, Deutschland liegt im 19. Jahrhundert im Bau und in der Anwendung von Papiermaschinen weit zurück. So arbeiten dort 1840 nur 25 Papiermaschinen, in England hingegen 250 und in Frankreich 120. Zwar stieg die Zahl in Deutschland bis 1846 auf 117, doch 25 Einheiten davon waren englischer Herkunft.83
Mit den maschinellen Entwicklungen für Druck-, Satz- und Papierherstellung hält schließlich auch die Erschließung neuer Rohstoffe für das Papier Schritt, nämlich die Zubereitung von Holzfasern. 1845 erhält der sächsische Webermeister und Erfinder des Holzschliffs, Friedrich Gottlob Keller, das Privileg, Papier aus Hadern und (zur Hälfte) aus Holzfasern herzustellen.84 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird die Zellulosegewinnung verbessert; Lumpen, Holz und Stroh dienten »zu etwa gleichen Teilen [als] Grundlage der Papierproduktion« (WGr 160) um 1900. Die zunehmende Kapitalisierung und Industrialisierung im Buch- und Zeitungsdruck zieht in der zweiten Jahrhunderthälfte weitere technische Neuerungen nach sich. In den 1850er Jahren gibt es die erste Doppelschnellpresse, 1868 wird die erste Zweifarbendruckmaschine eingesetzt (s. WGr 158). Schließlich findet die Moderne als Veranstaltungsort von regelmäßig publizierter Massenkommunikation einen weiteren Höhepunkt in der technischen Erfindung des Rotationsdrucks in England. Es ist der Verleger der Londoner Times, John Walters III, der sich vorausschauend des zukünftigen Markterfolgs im Zeitungsdruck versichert. Er beauftragt die Ingenieure J.C. MacDonald und John Calverly, die für ihn »zwischen 1862 und 1866 die erste Rollendruckmaschine« (WGr 159), die sogenannte Walterpresse konstruieren.85 Der endlose Fluss der Kommunikation, als dessen repräsentatives Medium die Zeitung gelten kann, wird so technisch abermals auf eine neue Stufe gehoben: Das zu bedruckende Papier wird nun »als endloses Band« (WGr 159) an Druckzylindern vorbeigeführt, auf welche Stereotypieplatten als Druckform montiert sind. Das Prinzip des Rollendrucks wird in England zunächst geheim gehalten, doch nach seinem Export können im späten 19. Jahrhundert auch in Deutschland sich Industriekapital und Ingenieure darüber verständigen, dass die Massenkommunikation ökonomisch
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(Hadern) gewonnen wurde; vgl. dazu Wilhelm Sandermann. Papier. Eine spannende Kulturgeschichte. Berlin u.a. 21992. S. 152f. Ebd. S. 155. Die Leistung der Papiermaschinen der ersten Generation betrug etwa 6–10 m/min (zum Vergleich heute: 2000 m/min.); ebd. S. 160. Ebd. S. 158. 1846 wird die erste Zeitung mit einem verbesserten Holzschliffverfahren, der Schwäbische Merkur in Stuttgart, gedruckt; vgl. ebd. S. 164. Vgl. Münch. Technische Herstellung. S. 828.
II.3. Techniken und Apparaturen
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noch längst nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten in sich birgt. In Deutschland baut M.A.N. 1873 in Augsburg die erste Rotationsdruckmaschine (s. WGr 159). Auf die Verbindung von Technikgeschichte, symbolischem und ökonomischem Kapital verweist auch der Beginn der illustrierten Massenpresse im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Den Anfang macht in Deutschland das PfennigMagazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Es erscheint ab Mai 1833 mit acht Seiten Umfang, und zwar sonnabends (s. WGr 209). Die für die Illustration benötigte technische Innovation bringt der Holzstich, die Xylographie, mit sich. Mit dieser Technik können Text und Bild in einem Arbeitsgang gedruckt werden.86 Vier bis sechs Illustrationen lockerten jede Ausgabe des »Pfennig-Magazins« auf, darunter Veduten, Aufrisse, Ansichten von Gebäuden, technische Konstruktionspläne, szenische Darstellungen und Porträts sowie Kopien berühmter Gemälde. (WGr 210)
Zwar kannte schon der Zeitungshochdruck des 17. Jahrhunderts emblematische Titelbilder, aber noch im 18. Jahrhundert war die Verbindung zwischen Zeitungstext und Bild sparsam und mit aufwendigen Verfahren wie dem Einlegen von bedruckten Einzelblättern (etwa in Jahresbände) verbunden. Da Zeitungen bis ins 20. Jahrhundert im Hochdruck hergestellt wurden, ging es für Bilder um die maschinentechnische Integration von Hochdruckverfahren wie dem Holzstich. So »blieb der Einsatz von Abbildungen, die im Tief- bzw. im Flachdruckverfahren erzeugt wurden, sehr begrenzt.«87 Die Zeitgenossen verfolgen den mit den neuen Drucktechniken verbundenen iconic turn der Massenkommunikation in Buch- und Zeitungspublizistik aufmerksam. Beachtung finden dann auch die veränderten Text-Bild-Beziehungen, denn die Anschaulichkeit, die das Medium Bild gegenüber dem Text leistet, beeinflusst zugleich den Textkörper in der typographischen Klammer neuer Layoutmöglichkeiten.88 Im Hinblick auf neue Formen der Veranschaulichung von Informationen äußert beispielsweise der Verleger Johann Jakob Weber über seine einen Typus ausbildende Leipziger Illustrirte Zeitung, die ab dem 1. Juli 1843 erschien, dass er »die innige Verbindung des Holzschnittes mit der Druckerpresse« benutzen wolle, »um die Tagesgeschichte selbst mit bildlichen Erläuterungen zu 86 87 88
Vgl. Eva-Maria Hanebutt-Benz. Studien zum Deutschen Holzstich im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 24 (1983). Sp. 581–1266. Münch. Technische Herstellung. S. 829. Tiefdruckverfahren waren der Kupferstich und seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts der Stahlstich. Vgl. Jürgen Fohrmann. Versuch über das Illustrative (am Beispiel des 19. Jahrhunderts). In: Schriftlichkeit und Bildlichkeit. Visuelle Kulturen in Europa und Japan. Hg. von Ryozo Maeda, Teruaki Takahashi und Wilhelm Voßkamp. München 2007. S. 133–148; Gerhart von Graevenitz. Memoria und Realismus – Erzählende Literatur in der deutschen ›Bildungspresse‹ des 19. Jahrhunderts. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. München 1993. S. 283–304; Rudolf Helmstetter. Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München 1998.
48
II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
begleiten«. Die »Verschmelzung von Bild und Wort [solle] eine Anschaulichkeit der Gegenwart« (WGr 210f.) hervorrufen. Es wurde von den Mitarbeitern der Leipziger Illustrirten Zeitung erwartet, dass sie von »Begebenheiten, deren Zeuge sie waren, Skizzen als Vorlage für Holzstiche« (WGr 211) lieferten. Diese wurden wegen des großen Bedarfs in eigenen xylographischen Anstalten hergestellt. Vorbilder für die illustrierte Zeitung gab es bereits in London. Dort erschienen ab dem 14. Mai 1842 die Illustrated London News. Ab März 1843 folgte in Paris die Zeitung L’Illustration (s. WGr 211). In der neuen Text-Bild-Relation im Zeitungsdruck profitiert die Anschaulichkeit der Texte von der Bildlichkeit des Bildes wie umgekehrt der dokumentarische Charakter gezeichneter Bilder an der symbolischen Wirklichkeitstextur der Zeitungsnachrichten partizipiert. Zum Austausch von Zeitung und zeitgenössischer Photographie merkt Jürgen Wilke an: Noch bevor Fotografien direkt im Druck wiedergegeben werden konnten, bildeten sie häufig die Vorlagen für Holzstiche, auf die man für die in der Presse massenhaft vervielfältigten Illustrationen bis ins späte 19. Jahrhundert angewiesen war. [...] Erst als Georg Meisenbach 1882 das Autotypie-Verfahren entwickelt hatte, konnten Fotos in klischierter Form direkt im Druck abgebildet werden. (WGr 309)
In der Mediengeschichtsschreibung für das 19. Jahrhundert und dessen Wissensordnungen, die von den Formen der industriell organisierten Informationszirkulation technisch durchdrungen sind, wird immer auch auf die Erfindung der im späten 18. Jahrhundert zunächst optischen, später dann elektrischen Telegraphie hingewiesen.89 Davon können auch die Zeitungen bei der zivilen Nachrichtenproduktion profitieren. Und dass die Schnelligkeit der Telegraphie eine Leitvorstellung für die Zeitungskommunikation abgeben kann, belegen Zeitungstitel wie Telegraph. So heißt es etwa in einem Vorwort des von Julius Campe herausgegebenen und von Karl Gutzkow redigierten Telegraphen 1837 metaphorisch zur Verbindung von Technik und Kommunikation: Den Raum zu besiegen und in einem Nu von Tajo bis zur Newa Geschichte verkünden – das wird man in der Folge vielleicht durch unterirdische Schallröhren noch besser erreichen, als durch Telegraphen. Bis jetzt sind Telegraphen die schnellsten, bestunterrichteten Journale, die man hat; allein nur Könige sind im Stande, sich darauf zu unterzeichnen. Sie sind eine Staatslektüre, erscheinen in zwanglosen Heften, und bleiben oft aus, wenn die Nebel steigen und die Nacht hereinbricht.
89
Die Nutzung der optischen Telegraphie ist auch im Kontext der Französischen Revolution zu sehen. Die elektrische Telegraphie ersetzt später, sobald ihre technische Entwicklung in den 1840er Jahren ausgereift ist, die optische Telegraphie. In Preußen wird am 1. Oktober 1849 die elektrische Telegraphie für die Öffentlichkeit freigegeben (vgl. WGr 162ff.).
II.4. Zahlensinn
49
Unser Telegraph spielt für das Volk, dreimal die Woche, deutlich genug, daß man ihn mit unbewaffnetem Auge verstehen kann, und wird erscheinen, selbst wenn es schneit und regnet, in Sturm und Sonnenschein.90
Noch aber ist die Telegraphie ein Herrschaftsinstrument, das in militärischen und staatspolitisch exklusiven Kommunikationsnetzen (mit verschlüsselten Geheimnachrichten) zum Einsatz kommt. Telekommunikation ist kein integratives Medium für Massenkommunikation; als deren Ausdrucksform kommen die Zeitung und ihre Texte und Bilder in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Zuge. Etwas anders sieht es später für die Datenfernübertragung mit dem Telefon aus: Nach ersten Versuchen seit den 1860er Jahren verbreitet sich dieses »so schnell wie keine andere Kommunikationstechnik bis dahin« (WGr 165). In Deutschland liegt das Telefonnetz in der Zuständigkeit der staatlichen Post, erste Fernsprechanlagen werden in Berlin im Januar 1881 eingeführt. Sie ermöglichen das Telefonieren im Stadtbereich. Für die Presse bleibt die telefonische Übermittlung von Nachrichten nachrangig gegenüber der Telegraphie, und zwar aus dem einfachen Grund, weil mündliche Gespräche erst verschriftlicht werden mussten (s. WGr 165).
II.4. Zahlensinn Der soziale Sinn und das symbolische Kapital der Zeitungstechniken erschließen sich genauer, wenn die auf schnellere und größere Reichweiten zielende apparative Ausstattung mit entsprechenden Produktions- und Absatzzahlen statistisch ergänzt wird. Eine Irritation gezählter Sachverhalte in der historischen Zeitungsforschung besteht allerdings darin, dass die archivarisch-bibliographischen Erhebungen zu den ersten 200 Jahren Zeitungsgeschichte zum Teil noch unabgeschlossen sind.91 Angesichts der noch in den Archiven verborgenen Reste oder auch abzuschätzenden Verluste führen die Aussagen über die Zeitungsproduktion so ihre spekulativen Schattenseiten mit sich. Dies zugestanden ist dennoch zu sehen, dass seit den Anfängen der gedruckten periodischen Zeitung dieser Wissenstyp zahlenmäßig zugenommen hat, was sich auch in der Zahl von 90
91
Im Vorwort der ersten Nummer des Telegraphen von 1837 (ab 1838: Telegraph für Deutschland), zit. n. Alfred Estermann. Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1815– 1850. Bibliographien. Programme. Autoren. Bd. 6. München/London/New York 21991. S. 240. Vgl. zu der Übermittlung von Nachrichten durch die Telegraphie Frank Haase. Stern und Netz. Anmerkungen zur Geschichte der Telegraphie im 19. Jahrhundert. In: Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. Hg. von Jochen Hörisch und Michael Wetzel. München 1990. S. 43–62. Ähnliches gilt für Statistiken der Buchmarkt- und Leseforschung, vgl. Helmuth Kiesel/Paul Münch. Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. München 1977. S. 180; Reinhard Wittmann. Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. von Roger Chartier und Gugliemo Cavallo. Frankfurt/M./New York/Paris 1999. S. 419–454.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
Druckorten, Zeitungsunternehmen, Auflagenhöhen und Leserzahlen spiegelt. Mit Vorsicht gegenüber den Dunkelziffern kann man diesen Statistiken den unaufhaltsamen Erfolg der Zeitung ablesen. Ihre Durchsetzung ist korreliert mit einer in Stagnationen und Sprüngen verlaufenden Geschichte technischer Neuerungen. Die Produktionsverfahren für die Zeitung brauchten doch immerhin noch 200 Jahre, bis in rascher Folge industrielle Fertigungsverfahren dem schon vorher artikulierten Bedürfnis nach allgemeiner Beteiligung am Wissenstransfer entgegenkommen konnten. Die größten Reibungsverluste, die die Erfolgsgeschichte des Kommunikationsmediums Zeitung begleiten, schreiben sich aber von den gesellschaftspolitischen Bedingungen her, in denen die Zeitung ihre historische Aufgabe, ein Medium der Massenkommunikation zu werden, erfüllen sollte. Was die kommunikative, raumgreifende Beweglichkeit der Zeitung stört, sind zunächst nicht veraltete technische Voraussetzungen ihrer Produktion im engeren Sinne, sondern Kriegszustände, Zensurmaßnahmen auch in Friedenszeiten und Arbeitsbedingungen der Zeitungsleute.92 So kommt es im Einzelnen bei individuellen, gemeinschaftlichen, regionalen und überregionalen Zeitungsunternehmungen der ersten 200 Jahre zu einem vielfältigen Auf und Ab, wobei Erfolge und Misserfolge aus den verschiedenen Umständen, die das publizistische Geschehen rahmen, erklärt werden können. Insgesamt gilt aber auch unter dieser Perspektive, dass sich die Zeitungskommunikation im Zusammenspiel aller ausschlaggebenden Faktoren als enorm durchsetzungsfähig erwiesen hat. In den kommunikationshistorischen Rekonstruktionen der Zeitungsgeschichte wird dabei immer wieder darauf hingewiesen, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Vergleich mit den europäischen Nachbarstaaten im 17. Jahrhundert die lokal differenzierteste Zeitungslandschaft gehabt habe.93 Dies scheint ein Effekt des dezentralen politischen Verbundes aus Kleinstaaten und freien Reichsstädten gewesen zu sein, wo auch unterschiedliche Zensurgesetzgebungen griffen.94 Etwa
92
93
94
Vgl. dazu Jörg Requate. Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen 1995. In der Schweiz gibt es 1610 die erste historisch-politische Zeitung; vgl. Faulstich. Medien zwischen Herrschaft und Revolte. S. 231. Für Amsterdam (Vereinigte Generalstaaten), das neben Hamburg »zum wichtigsten Zentrum der Zeitungsproduktion in der Frühzeit der Presse wurde« (WGr 66), ist die älteste Zeitung auf 1618 datiert. In Antwerpen (Spanische Niederlande) erscheint 1620 die erste Zeitung. In Frankreich beginnt Renaudot 1632 mit seiner Gazette als Anzeigenblatt, in England gilt die Oxford Gazette (ab 1665) als älteste Zeitung. In Spanien gibt es Zeitungen seit Anfang der 1640er Jahre, dann in Italien (1643), Schweden (1645), in den englischen Kolonien in Amerika (Boston 1690) und in Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (1703) (vgl. WGr 67). Vgl. dazu Ernst Fischer/Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix. Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. Hg. von dens. München 1999. S. 9–23. Im absolutistischen Frankreich hat dagegen die zentralistische Zensur die Entwicklung einer Zeitungsvielfalt gehemmt (vgl. WGr 143). Noch in den 1750er Jahren gibt es erst fünf, in den 1780er Jahren dann 18
II.4. Zahlensinn
51
80 Druckorte lassen sich für das 17. Jahrhundert nachweisen,95 damit sind ca. 200 (häufig kurzlebige) Zeitungsunternehmungen verbunden.96 Druckorte aller Zeitungstypen (historisch-politische, gelehrte Blätter, Intelligenzzeitungen) sind (wie beim Buchdruck) die Städte, in welchen sich die Aspekte urbaner Kommunikationsverhältnisse verdichten.97 Dabei geht es erstens um regelmäßige Informationen für den Handel, der seine Verkehrsknotenpunkte weiter ausbildet. Den das Land (und über den Fernhandel: die Welt) erschließenden Wegstrecken des Handels folgen die mit Monopolen versehene kaiserliche Reichspost und mit der Reichspost konkurrierende lokale Unternehmungen, die den Post- und Zeitungsverkehr organisieren.98 Zweitens zeigt sich in der Urbanität der Zeitungskommunikation deren Verwobenheit mit den politischen Instanzen. Diese üben ihre Zensur in den Haupt- und Residenzstädten aus und setzen zugleich in der höfisch-politischen Kommunikation auf Zeitungsinformationen.99 Drittens steht die Entwicklung der Zeitung mit den Kommunikationsinteressen der Gelehrten an Universitäten und Akademien in Verbindung.100 Bei den Zeitungsauflagen geht man im Durchschnitt von 350 bis 400 Exemplaren aus.101 Angenommen werden etwa 10 Leser pro Exemplar einer Zeitung, wobei hier die Praxis des Vorlesens vor eine Gruppe mit einbezogen ist. Setzt man für das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts 60 bis 70 unterschiedliche Zeitungen im Reich an, so ergeben sich für die Rezeption der durchschnittlichen Gesamtauflage aller Zeitungen folgende Schätzungen:
95 96 97 98 99
100
101
historisch-politische Zeitungen. Obwohl in den 1630er Jahren hier das erste Anzeigenblatt entsteht, gibt es bis 1750 nur 2 Anzeigenblätter, die sogenannten Affiches; bis 1780 hat sich deren Anzahl dann auf 27 erhöht (vgl. WGr 144). Bei den französischen Zeitschriften, die sich im gelehrten, literarisch-philosophischen Bereich seit dem Journal Sçavans (ab 1665) etablieren, geht man für 1750 von 14 Titeln aus, für 1780 von 28 Titeln (vgl. ebd). Die erste französische Tageszeitung, das Journal de Paris, erscheint erst 1777; vgl. Jean Sgard. Journeaux et Journalisme. In: Dicitionnaire européen des Lumières. Hg. von Michel Delon. Paris 1997. S. 628–631. Hier S. 631. Faulstich. Medien zwischen Herrschaft und Revolte. S. 230. Etwas mehr als 60.000 Zeitungsnummern haben sich aus dem 17. Jahrhundert erhalten (vgl. WGr 52). Vgl. zu Zeitungs- und Buchdruck als einem städtischen Phänomen WGr 54; Faulstich. Medien zwischen Herrschaft und Revolte. S. 252ff. Vgl. dazu Behringer. Im Zeichen des Merkur. Vgl. zur Zensurgesetzgebung im Reich Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Hein-Dietrich Fischer. München 1982; zur höfischen Partizipation an der Zeitungskommunikation Weber. Deutsche Presse im Zeitalter des Barock; Susanne Friedrich. Beobachten und beobachtet werden. Zum wechselseitigen Verhältnis von gedruckter Zeitung und Immerwährendem Reichstag. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 159–178. Vgl. zu allen drei Bereichen die historischen Abrisse von Joachim Kirchner. Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. Teil I. Von den Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik. Wiesbaden 21958; Otto Groth. Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München 1948; Margot Lindemann. Deutsche Presse bis 1815. Berlin 1969. Zwischen 250 Exemplaren Mindestauflage und 1500 Exemplaren Höchstauflage (vgl. WGr 64).
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert [E]s wurden im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bereits zwischen 200.000 und 300.000 Leser von den deutschsprachigen Zeitungen erreicht. [...] Bezogen auf die damalige Gesamtbevölkerung in Deutschland – sie belief sich auf 15 bis 16 Millionen – war das zwar nur ein Bruchteil (2 %). Unter der Annahme aber, nicht mehr als eine Million Menschen seien damals als Zeitungsleser überhaupt in Frage gekommen, [...] lässt sich von einer Reichweite von 20 bis 25 Prozent in denjenigen Kreisen sprechen, die für das politische, kirchliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben in Deutschland maßgeblich waren [...]. (WGr 65)102
Diese Zahlen, wenn man zudem die Preise für Zeitungen berücksichtigt,103 scheinen die im Zeitungsdiskurs im späten 17. Jahrhundert bestehende Meinung, dass doch sehr viele, wenn nicht sogar ›alle‹ Menschen die Zeitungen lesen, erheblich nach unten zu korrigieren. Andererseits mag gelten, dass derjenige, der als Beteiligter der Lese- und Schreibkultur zugleich an der gesellschaftspolitischen Dominanz der oberen Stände partizipierte, dazu neigte, dieses Umfeld leicht mit ›aller Welt‹ zu identifizieren. Im Vergleich mit anderen Druckwerken perspektiviert sich die frühe Zeitungskommunikation aber auch im Nachhinein als herausragend: Von der Bibel und anderem religiösen Schrifttum vielleicht abgesehen, erreichte kein anderes Druckwerk damals schon eine ähnlich hohe Auflage und Verbreitung wie die Zeitungen zusammengenommen. (WGr 64)
Die heute abgeschätzten Reichweiten von Zeitungsproduktion und -rezeption verlaufen dabei im 17. Jahrhundert (und auch später) in diffusen Randzonen. So werden Zeitungen nicht nur über Abonnements vertrieben, sondern liegen in Wirtshäusern, Schenken und seit dem späten 17. Jahrhundert in den in Mode kommenden Kaffeehäusern aus;104 fliegende Händler und Zeitungssänger lassen Zeitungen anders ›im Volk‹ zirkulieren als organisierte Leserkreise,105 und individuelle Abonnenten von Intelligenzblättern oder gelehrten Zeitungen reichen diese ebenfalls weiter. Sozial- und bildungsgeschichtlich ist mit den vielfältigen 102
103
104 105
Für Gesamtschätzungen vor dem 30jährigen Krieg geht die Forschung von 24.000 bis zu 60.000 Zeitungslesern aus und erst für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts von 200.000 bis 300.000. Das entspricht dann etwa 20 % aller Lesefähigen (vgl. SZ 6). Davon abweichende Zahlen gibt Reinhard Wittmann. Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991. S. 105, für die Zeit um 1700 an, er rechnet mit gut 100.000 Personen für das »tatsächlich lesende Publikum Deutschlands«. 2 Reichstaler oder 4 Gulden im Jahresabonnement (vgl. WGr 65). Das Abonnement war die Regel, der Verkauf wurde über Buchhändler und auch die Zeitungsausrufer organisiert (vgl. WGr 64). Die Mode wurde aus England übernommen: seit 1677 gab es ein solches Kaffeehaus in Hamburg, 1683 dann in Wien (vgl. WGr 65). Die erste deutsche Lesegesellschaft ist für die Jahre 1614 bis 1624 in Kitzingen nachgewiesen (vgl. ebd.), Umlaufgesellschaften für Zeitungen und Zeitschriften sind auch im 18. Jahrhundert noch wichtig; vgl. Martin Welke. Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildung im 17. und 18. Jahrhundert: Zeitungslesen in Deutschland. In: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. Hg. von Otto Dann. München 1981. S. 29–53.
II.4. Zahlensinn
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Formen der Zirkulation von Zeitungswissen nicht nur auf Dauer eine »Säkularisierung der Wahrnehmung des Politischen« (WGr 68f.)106 verbunden, sondern die generelle Infragestellung der exklusiven Handhabung von Wissen. Dies bekommen die kulturellen Eliten des 17. Jahrhunderts schon in Ansätzen zu spüren. Diese langfristigen Veränderungen, hervorgerufen durch die vermehrte Publizistik, werden seit den 1960er Jahren unter den Stichworten einer fortschreitenden Verbürgerlichung und Popularisierung des Wissen und der Herausbildung der öffentlichen Meinung verfolgt.107 Es steckt also mehr als genug sozialer, politischer und historischer Sinn der Moderne in den Zahlen, die Auskunft über die Durchsetzung der Zeitungskommunikation geben. Heute nimmt man an, dass sich die Anzahl der historisch-politischen Blätter im Laufe des 18. Jahrhunderts gegenüber dem späten 17. Jahrhundert nahezu vervierfacht hat: »Lassen sich um 1700 etwa 50 bis 60 politische Blätter nachweisen, so waren es hundert Jahre später mehr als 200« (WGr 79).108 An Druckorten sind 200 für das 18. Jahrhundert im Reich nachweisbar. Auch die Auflagenhöhen wurden gesteigert: Die 50 auflagenstärksten Blätter (wie beispielsweise der Hamburgische Correspondent) hatten auf das ganze Jahrhundert gesehen durchschnittliche Auflagen von 4.000 Exemplaren, die kleineren Zeitungen zählten 600 bis 700 Stück pro Auflage (s. WGr 93).109 Nimmt man wiederum 10 Leser pro Zeitungsexemplar an, bei einer wöchentlichen Ausgabe von insgesamt etwa 300.000 Einzelexemplaren gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so ergibt sich, dass zu der Zeit mit der Gesamtauflage der Zeitungen wöchentlich schon etwa drei Millionen Leser in Deutschland erreicht wurden (s. WGr 93). Etwas anders als bei den historisch-politischen Zeitungen sehen die Verhältnisse bei den Zeitschriften aus, deren Spezialisierung als gelehrte Journale oder populäre Wochenschriften für bestimmte Publika mit geringeren Verbreitungsgraden und kleineren Auflagenhöhen verbunden ist. Auch hier gibt es bislang keine vollständige Erfassung der erhaltenen oder in älteren bibliographischen Verzeichnissen aufgeführten Publikationen (s. WGr 94). Auf der Basis von Joachim Kirchners bibliographischen Erhebungen zu den Zeitschriften können bis 1700 insgesamt rund 70 Titel angenommen werden, in den 1780er Jahren erscheinen über 1000 Zeitschriften parallel (s. WGr 95).110 Bei den Mindestauflagen
106 107 108 109
110
Vgl. zur Säkularisierung der politischen Nachrichten und des höfischen Zeremoniells auch Berns. Zeitung und Historia. Vgl. etwa Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs. Hg. von Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart/Weimar 2000. Diese Angaben beruhen auf den erhaltenen Beständen. Für den Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, eine der erfolgreichsten Zeitungen des 18. Jahrhunderts, stellt sich dies bspw. so dar: 1739 erschien dies Blatt in 13.000 Exemplaren, in den 1790er Jahren mit 25.000 bis 30.000 Exemplaren (vgl. WGr 93); vgl. zu dieser Zeitung auch Wilke. Nachrichtenauswahl und Medienrealität. Joachim Kirchner hat von den Anfängen bis 1790 insgesamt 3.500 Titel nachgewiesen, bis 1830 dann noch weitere 6.600 Titel, also eine enorme Zunahme. Joachim
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
geht man hier für das 18. Jahrhundert von 200 bis 250 Exemplaren aus, höhere Auflagen konnten ein- bis zweitausend Exemplare zählen; der durchschnittliche Absatz betrug wohl nicht mehr als 600 bis 700 Stück (s. WGr 98). Der ökonomische Erfolg der Zeitschriften war im Einzelfall eher gering, etwa die Hälfte hat sich bei zumeist kurzer Erscheinungsdauer »am Rande der Existenzfähigkeit bewegt« (WGr 98). Nimmt man wiederum 10 Leser pro Exemplar an, dann haben die Zeitschriften mit ihren Auflagen insgesamt sehr viel weniger Leser erreicht als die Zeitungen (etwa 500.000 am Ende des 18. Jahrhunderts).111 Doch wie die (historisch-politischen) Zeitungen dokumentieren die Zeitschriften und schließlich die dritte Zeitungsform, das Anzeigenblatt, das Durchsetzungsvermögen der Zeitung, die die horizontale Ausbreitung von gedruckten Informationen verstetigt. Die Intelligenzblätter, wie die Zeitungen mit Anzeigen in Deutschland genannt werden, werden hier seit den 1720er Jahren eingeführt, etwa 100 Jahre nach ihrer Entstehung in Frankreich in den 1630er Jahren.112 Die Auflagengrößen differieren hier sehr stark, zwischen unter hundert und mehreren tausend Exemplaren, wobei der letzte Wert sich durch den zum Teil staatlich bestimmten Bezugszwang erklärt. Bei geschätzten 20 Lesern pro Exemplar werden um 1800 bei einer angenommenen Gesamtauflage von 50.000 Exemplaren etwa eine Million Leser von den Intelligenzblättern erreicht (s. WGr 126). Nun lassen sich die über die Gesamtauflagen von Zeitungen (drei Millionen Zeitungsleser), Intelligenzblättern (eine Million) und Zeitschriften (500.000) ermittelten Leserzahlen für das späte 18. Jahrhundert nicht einfach addieren, sondern es ist hinsichtlich des Lesepublikums von Überschneidungen auszugehen. Auch sind diese Zahlen ins Verhältnis zu setzen mit der Anzahl der lesefähigen Teilnehmer, wie sie von der Buchmarktforschung für den Absatz von Büchern im späten 18. Jahrhundert vermutet werden. Auch hier fallen die durchschnittlichen Zahlen wiederum vergleichsweise niedrig gegenüber der Gesamtbevölkerung aus:
111
112
Kirchner. Die Grundlagen des Deutschen Zeitschriftenwesen. Mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis zum Jahre 1790. 2 Teile. Leipzig 1928– 1931; ders. Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900. Bd. 1. Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Stuttgart 1969. Die Deutsche Presseforschung in Bremen hat in ihren Bibliographien allein für Hamburg 600 Titel ermittelt, die Kirchner noch nicht aufführt (vgl. WGr 94); Deutsche Presse. Bd. I.1. Von den Anfängen bis 1765. S. IX. Wilke nennt folgende geschätzte Zahlen für den Gesamtabsatz: 1730: 8.500–10.00 Exemplare, 1750: 10.000–12.000, 1770: 28.000–31.000, 1780: 33.000–38.000, 1795: 43.000–50.000 (vgl. WGr 98f.). Seit den in Frankfurt am Main erscheinenden Wochentliche Frag- und AnzeigungsNachrichten; vgl. Böning. Aufklärung und Presse. S. 158. Auch für die Intelligenzblätter gibt es keine vollständige Bestandserfassung; die Zahlen, die Wilke nennt, folgen den Erhebungen von Friedrich Huneke. Die »Lippischen Intelligenzblätter« (Lemgo 1767–1799). Lektüre und gesellschaftliche Erfahrung. Bielefeld 1989. Huneke geht von einem relativ engen Begriff des Intelligenzblattes aus und kommt zu folgenden Angaben für Deutschland: In den 1720er Jahren gibt es knapp 10 Titel, in den 1750er Jahren mehr als 50, in den 1770er Jahren mehr als 100 (vgl. WGr 121).
II.4. Zahlensinn
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Bei schätzungsweise 25 Millionen Einwohnern in Deutschland und einer durchschnittlichen Erstauflage von 2500 Exemplaren wurde ein Buch von 0,01 % der Bevölkerung gekauft und etwa von 0,1 % gelesen.113
Doch sind die statistischen Angaben zum Lesepublikum bei Büchern und Zeitungen in einen kulturgeschichtlichen Horizont einzugliedern, der die Bedeutung dieser Gruppe nicht allein im objektiven Faktor ihrer zahlenmäßigen Minderheit erschließt: Es wäre jedoch ein Fehler, dem regelmäßig lesenden Publikum in Deutschland von etwa 300 000 Personen, also etwa 1,5 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung, eine nur marginale gesamtgesellschaftliche und kulturelle Rolle zuzuweisen. Denn dieses zunächst so kleine Ferment neuer Leser verursachte folgenreiche kulturelle und auch politische Kettenreaktionen.114
Einerseits sind so die Kernbereiche der regelmäßigen Buch- und Zeitungsleser bei den gelehrten und politischen Eliten zu finden, andererseits sind die oberen Stände nicht erst im späten 18. Jahrhundert in publizistische Prozesse verwickelt, deren Effekte die überkommenen standesbezogenen Grenzen der Lese-, Schreibund Druckkultur auflösen. Die aus sozial- und bildungsgeschichtlichen Gründen in die typographische Kultur dominant Involvierten sind selbst nur Teil von übergreifenden Entwicklungen. Diese Prozesse setzen eine weitere Hinsicht auf die Steigerung aller publizistischen Produkte frei. Denn aus der Korrelation von Spezialisten, Produzenten und Rezipienten in Zentren und Randlagen, in einer Gemengelage von Exklusions- und Inklusionsstrategien, ergeben sich für den Buchmarkt im späteren 18. Jahrhundert dieselben Konturen heterogener Verhältnisse, die auch auf die Zeitungskommunikation zutreffen: Von einem übersichtlich-linearen Prozeß [für Buchproduktion und -rezeption] kann dabei keine Rede sein. Vielmehr ist eine Zersplitterung und Anonymisierung der Leserschaft zu konstatieren, sowohl in sozialer Hinsicht als auch in zeitlicher und geographischer. Verschiedene Entwicklungsstadien verliefen parallel und überschnitten sich. Lesen wurde zu einem sozial indifferenten, individuellen Prozeß. Die Schichtzugehörigkeit regulierte kaum mehr den Zugang zur Lektüre [...].115
Reinhard Wittmann stimmt der Einschätzung von Alberto Martino zu, dass erst mit der Französischen Revolution vieles anders wurde: »Das literarische Publikum der vorrevolutionären Zeit war noch weitgehend elitär, homogen und geschlossen, jenes der Jahre 1789 bis 1815 ist sozial indifferent, heterogen und offen.« Festgemacht wird diese durchaus schwierig zu bestimmende epochale Zäsur an dem Lektüreverhalten besonders auch der unteren Bevölkerungsschichten, die zur breiteren Rezeption politischer Nachrichten beitragen. Dass die Aufmerksamkeit für politisches Geschehen bei den unteren Ständen auf eine heterogene
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Kiesel/Münch. Gesellschaft und Literatur. S. 160. Wittmann. Gibt es eine Leserevolution. S. 427. Ebd. S. 428.
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Weise vorhanden sei, das vermuten aber schon die Zeitungstheoretiker des späten 17. Jahrhunderts. Für die ersten 200 Jahre Zeitungsgeschichte ist also, gleich von welchem Szenario der Ausdifferenzierung alles Gedruckten man dabei ausgeht, im Reich eine zügig um sich greifende Produktivität der Zeitungskommunikation zu sehen. Sie hat das Medium Zeitung am Ende des 18. Jahrhunderts gesellschaftsfähig gemacht. Spätestens mit der Französischen Revolution ist dann das politische Moment gedruckter und deshalb schneller und weitreichender Kommunikationszirkulation in Europa kaum noch distanzierbar. Mit der politischen Revolution konvergiert so die publizistische Kommunikationsrevolution, die nicht mehr nur in den Effekten eines Buchdrucks für Bücher, sondern im Gesamtzusammenhang aller flexiblen Druck-Medien aufgesucht werden kann.116 Die periodische Zeitung nimmt seit ihrer Frühzeit ihre Aufgabe wahr, für den kontinuierlichen Umlauf des Wissens zu sorgen, und zwar zwischen den politischen Polen einer übergreifenden Kontrolle und der möglichen Aufhebung aller Zensur.117 Das Medium ist maßgeblich an der publizistischen Spaltung des Politischen zwischen Oben und Unten beteiligt. Das politische Moment einer konkreten Einmischung mittels Veröffentlichung wird in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer stärker in den Medien der publizistischen Öffentlichkeit selbst reflektiert, so dass die konstitutive Verschränkung von gedruckter Kommunikation und Öffentlichkeit in das diskursive Gedächtnis der Gesellschaft wandert.118 Dabei ist es hinsichtlich aller Medien des Buchdrucks das juristisch und politisch definierte Verhältnis von Zensur und Pressefreiheit, das die Möglichkeiten publizistisch frei agierender Kommunikationen gegenläufig einschränkt.119 Außer von ihren technischen, sozialen und bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen wird gerade auch die Erfolgsgeschichte der Zeitungskommunikation von den machtpolitischen Bedingungen immer wieder eingeholt. Die gegenüber der Durchsetzungsfähigkeit der Zeitung als Wissens- und Kommunikationstyp auffallend rückläufigen Zahlen im Zeitungsgewerbe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts lassen sich deshalb auch mit der napoleonischen
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Zeitungsnachrichten entfalten in der Französischen Revolution ihre Wirksamkeit zusammen mit aktuellen Broschüren und Flugblättern; vgl. Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von Holger Böning. München u.a. 1992. Die Spannung zwischen politischer Kontrolle und staatlichem Kontrollverlust der gesellschaftlichen Kommunikation konnte an den englischen Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts zeitgenössisch mehr oder weniger gut verfolgt werden; vgl. dazu die Darstellungen bei Wilke (WGr 66ff.). Historisch gesehen verarbeitet schon die Publizistik der Reformationszeit diese kollektive Erfahrung, vgl. Manuel Braun. »Wir sehens, das Luther bey aller welt berympt ist« – Popularisierung und Popularität im Kontext von Buchdruck und Religionsstreit. In: Popularisierung und Popularität. Hg. von Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz. Köln 2005. S. 21–42. Vgl. zu den zahlreichen Streitschriften über die Pressereglementierung und -freiheit seit den 1790er Jahren in deutschen Staaten Groth. Die Geschichte. S. 93–120.
II.4. Zahlensinn
57
Herrschaft erklären, deren Zensurmaßnahmen die deutsche Zeitungsproduktion nachhaltig betreffen. Die Bestandsaufnahmen für die Zeit zwischen 1800 und 1819 sind lückenhaft, dennoch spricht alles »für eine eingetretene Schrumpfung der Titelzahl« (WGr 169). Geht man für die Zeit um 1800 heute von 200 Zeitungen aus, so ermittelten die sich selbst einen Überblick verschaffenden französischen Präfekten zwischen 1807 und 1810 17 Zeitungen in den linksrheinischen (besetzten) Departements und 14 Zeitungen in den fünf Hanseatischen Departements. Zumeist muss man dabei geringe Abonnentenzahlen ansetzen (s. WGr 169). Etwas anders sah es in den Hanseatischen Departements mit ihrer starken Zeitungstradition aus. Für Hamburg etwa, das von November 1806 bis Mai 1814 besetzt war, werden höhere Auflagen angenommen (s. WGr 169f.). Hier waren es wiederum die 1811 erfolgte Eingliederung ins Kaiserreich und dessen Zensurbedingungen, die sich »desaströs« (WGr 170) auswirkten. Ablesbar ist dies etwa bei Zeitungen wie dem Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, der zu den auflagenstärksten Zeitungen im 18. Jahrhundert zählte und nun im Jahr 1811 von über 17.000 auf 5.850 Exemplare zurückgeht (s. WGr 170). Ein von den politischen Bedingungen abhängiges Auf und Ab ist auch bei den Zeitschriften zu beobachten: Die Zahl der Neugründungen ist im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts rückläufig, nach der Jahrhundertwende nimmt die Zeitschriftenproduktion zunächst wieder zu, eine erneute Abnahme ist während der Befreiungskriege zu verzeichnen.120 Ungenauer ist die wissenschaftliche Erschließung der Zeitungskommunikation für die Zeit nach den Befreiungskriegen bis zur 1848er Revolution, da hier gegenwärtig noch weniger Bestandsaufnahmen existieren als für frühere Zeiträume (s. WGr 189). 1848 erstellt bereits ein Freiherr von Reden eine der ersten Zeitungsstatistiken.121 Er zählt für 1847 für den Deutschen Bund insgesamt 1012 »politische Zeitungen, Tage-, Wochen- und Intelligenzblätter« (WGr 190). Bei den zahlreichen Übergängen zwischen Zeitungsund Zeitschriftentypen lässt sich diese Zahl aber nicht direkt mit den etwa 200 (historisch-politischen) Zeitungen vom Ende des 18. Jahrhunderts vergleichen. Erreichten diese eine wöchentliche Gesamtauflage von etwa 300.000 Stück, so gibt von Reden 1848 für die Gesamtauflage der von ihm ermittelten Blätter nun die Zahl von 1,039 Millionen Exemplaren an (s. WGr 201). Die Auflagen bei Tageszeitungen lagen zum Ende der Vormärzzeit im Durchschnitt bei etwa 1000 Exemplaren und konnten von »einigen hundert« bis zu »mehreren tausend Exem-
120
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Kirchner. Das deutsche Zeitschriftenwesen, zählt an Neugründungen zwischen 1801 bis 1810 rund 800 Zeitschriften, zwischen 1811 bis 1815 250 Neugründungen. Diese Zahlen sind durch neuere Befunde ergänzt worden; Alfred Estermann hat in seinen Bibliographien für die nachfolgende Zeit zwischen 1815 und 1819 210 neu gegründete Titel nachgewiesen; vgl. Estermann. Die deutschen Literatur-Zeitschriften. Frhr. von Reden. Statistische Ergebnisse der deutschen periodischen Presse. In: Zeitschrift d. Vereins für deutsche Statistik 2 (1848). S. 244–250.
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II. Zur Entstehung eines Dispositivs Zeitung im 17. Jahrhundert
plaren« (WGr 201) zählen.122 Der Druck von solchen auflagenstarken Tageszeitungen ist wiederum mit dem Einsatz der neuen Schnellpressen verbunden.123 Bei den Intelligenzblättern geht man für die Vormärzzeit ebenfalls von einer Expansion aus. Diese spielt sich aber in lokalen Umfeldern ab, und der Erfolg geht hier mit Enthaltsamkeit gegenüber politischen Nachrichten einher (s. WGr 213).124 Setzt man die bei von Reden ermittelten Zahlen (1,039 Millionen Exemplare Gesamtauflage der von ihm berücksichtigten Zeitungen) ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von etwa 30 Millionen in den 1840er Jahren, so ist insgesamt »eine nur bedingte Erhöhung der Leserdichte gegenüber der Situation ein halbes Jahrhundert vorher« (WGr 201) anzunehmen. Für die Zeitschriften liegen verschiedene Erhebungen vor. Joachim Kirchner zählt zwischen 1800 und 1840 insgesamt 2.500 Neugründungen und weitere 1.300 für die Zeit zwischen 1840 und 1850 (s. WGr 203). Alfred Estermann verzeichnet in seinen Bibliographien für die Literaturzeitschriften (bei einem weitgefassten Begriff von literarisch) insgesamt 2.200 Titel für die Zeit von 1815 bis 1850, wobei wiederum viele Zeitschriften von nur kurzer Lebensdauer waren.125 Insgesamt, so Jürgen Wilke anhand der vorliegenden Aufstellungen, muss man für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer »Retardierung der Massenkommunikation« (WGr 190) sprechen, hervorgerufen durch politische Bedingungen (Zeitungsverbote und Berufsverbote für Journalisten, besonders durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819) und wirtschaftliche Faktoren. Blickt man von dieser Feststellung auf die parallelen technischen Fortschritte im Buch- und Zeitungsdruck seit den 1820er Jahren, so gibt es hier ein Potential, das aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für die Sinndimensionen von publizistisch fundierter Kommunikation längst nicht ausgeschöpft werden konnte. Zwar wird die Zeitung seit dem späteren 17. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer raumgreifenden Zirkulationsfähigkeit als Medium für alle angesprochen. Doch vor dem statistischen Hintergrund, den die Zeitungszahlen dann im späten 19. Jahrhundert schreiben, kann das vorher Erreichte immer wieder auf seine noch geringen Ausmaße rückgestuft werden.126 Die zahlenmäßigen Erhebungen der Publizistikwissenschaft und historischen Kommunikationsforschung hinsichtlich der Erfolgsgeschichte, die der Buchdruck mit der Zeitung realisiert, relativieren also zugleich diesen Erfolg. Die historische Relativität des je Erreichten 122 123
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So steigen etwa bei der Vossischen Zeitung in Berlin die Auflagen zwischen 1840 bis 1848 bis auf 20.000 Exemplare (vgl. WGr 201). Vgl. zu den Angaben WGr 201. Damit wurden erstmals wieder Spitzenauflagen erzielt, die bspw. der Hamburgische unpartheyische Correspondent schon Ende des 18. Jahrhunderts aufzuweisen hatte. Auflagen, die sich auf lokale oder etwas größere regionale Einzugsbereiche erstrecken, liegen zwischen wenigen hundert bis zu mehreren tausend Exemplaren, im Durchschnitt um 1850 bei 600 Exemplaren, 3000 in der Zahl sind dann schon Ausnahmen (vgl. WGr 214). Vgl. Estermann. Die deutschen Literatur-Zeitschriften; WGr 203. Vgl. für die weitere Entwicklung nach 1848 WGr 216ff.
II.4. Zahlensinn
59
ermöglicht es wiederum, den zeitgenössischen Diskurs auf seine Realitätshaltigkeit zu überprüfen. Die gezählten Sachverhalte beinhalten immer die Möglichkeit zum wissenschaftlichen Einspruch gegenüber historischen Selbsteinschätzungen. Unbeschadet der gerade von der heutigen historischen Kommunikationsforschung gemachten Beobachtung, dass das späte 18. Jahrhundert von den Ausdifferenzierungs- und Beschleunigungsbewegungen einer publizistischen Moderne gekennzeichnet ist, kann dann genauso gut gegen die zeitgenössische Wahrnehmung dieser Moderne etwa festgestellt werden, dass die zeitgenössischen Klagen über eine in allen Ständen grassierende Lesesucht als »ideologische Fälschung« qualifi ziert [werden können]. Eine tatsächlich numerische Demokratisierung des Lesens wurde erst rund hundert Jahre später mit der »zweiten Leserevolution« erreicht.127
Zugleich verweigert sich eine statistisch aufbereitete Geschichte der Zeitung nicht dem Aspekt, dass seit dem Buchdruck die Moderne als Moderne ihren medialen take-off nahm. Die Relativierung von historischen Ansichten, die die heutige Kommunikationsforschung nicht zuletzt über ihre Zahlen betreibt, gelingt also immer nur halb, weil weder dem historischen Diskurs noch der Zeitungspraxis eine dokumentarische Kraft abgesprochen werden kann. Um diesen historischen Diskurs zwischen dem 17. und mittleren 19. Jahrhundert wird es in den nachfolgenden Darstellungen gehen. Dabei stehen nicht Aspekte seiner Wahrheitsfähigkeit im Vordergrund, sondern das Interesse gilt der Art und Weise, wie hier Zeitung und Zeitungskommunikation beobachtet werden. Der historische Zeitungsdiskurs thematisiert in seinen Hinsichten strukturelle und formalästhetische Momente des Dispositivs Zeitung, schätzt diese moralisch wie funktional ein und bewertet fortgesetzt die Form Zeitung. So erarbeitet sich der Zeitungsdiskurs als Zeitungstheorie Argumentationsrahmen für das Medium Zeitung, beobachtet die Formen von Zeitungskommunikation und überprüft die hier Beteiligten. Die frühe Zeitungstheorie organisiert ihren Diskurs zwischen polemisch und sachlich verfassten Argumenten, zwischen einer positiven und negativen Zeitungskritik an ganz unterschiedlichen Orten. So wie die Zeitung Vielen und Vielem einen Anschluss ermöglicht, so operiert die Kommunikation über die Zeitung zwischen dem 17. und mittleren 19. Jahrhundert ihrerseits von vielen gesellschaftlichen Anschlüssen aus. Einige davon werden im Folgenden diskutiert.
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Wittmann. Geschichte des deutschen Buchhandels. S. 216 (Wittmann bezieht sich hier auf Rudolf Schenda. Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt/M. 1970. S. 88).
III.
Famas Medium
III.1. Medien und Zirkulation Die Durchsetzung periodischer Zeitungskommunikation wird von Beginn an kritisch begleitet.1 Dabei geht es besonders auch um die Beobachtung vermehrter Zirkulation von Wissen, das in gedruckter Form ein neues Allgemeines zu stiften beginnt. Die Zeitungskritik greift dabei Argumentationslinien auf, die seit der Frühzeit des Buchdrucks virulent sind und später, im 18. Jahrhundert, mehr und mehr in die kritischen Einschätzungen von populären Medien insgesamt münden werden.2 Manche Argumente der Zeitungstheorie konstatieren hier Fehler der gedruckten Periodika, wenn diese schlechte Eigenschaften mündlicher Kolportagetechniken, etwa deren Unzuverlässigkeiten gegenüber Wahrheit und Lüge, fortzusetzen scheinen. In solchen Einschätzungen wird implizit gesehen, dass die Zeitung an den Schnittstellen zwischen mündlichen und schriftlichen Austauschprozessen agiert. Der herausragende Topos des 17. Jahrhunderts, von dem die Zeitungskritik beherrscht wird, ist die Neugierde.3 Die Reflexion auf die Neugierde ermöglicht den syllogistischen Kurzschluss zwischen Mensch und Medium: Weil alle Menschen von Natur aus neugierig sind, konsumieren sie die Zeitungen und tragen das Angelesene mündlich oder schriftlich weiter. Auf der Gegenseite gehört es zur positiven Selbsteinscheinschätzung der Zeitungsproduzenten, dem Neuigkeitshunger Nahrung zu geben und ihn regelmäßig zu befriedigen. Die anthropologische Abfederung von Zeitungsproduktion und -rezeption wird dabei mit der Technik kurzfristiger Periodizität in ein rekursives Bedingungsverhältnis gebracht, das moralisch oder sachlich eingeschätzt werden kann.4
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Vgl. dazu die frühen Belege in DZ II; Adrians. Journalismus im 30jährigen Krieg. S. 27ff. Vgl. Colportage et lecture populaire. Imprimés de large circulation en Europe, XVIe – XIXe siècles. Hg. von Roger Chartier und Hans-Jürgen Lüsebrink. Paris 1996. Vgl. zur Geschichte des Topos, den die Zeitungskritik übernimmt, Barbara Vinken. Art. »Curiositas / Neugierde«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2000. S. 794–813. Es handelt sich dabei keineswegs um allein in Deutschland geführte Debatten; vgl. etwa für England Dagmar Freist. Wirtshäuser als Zentren frühneuzeitlicher Öffentlichkeit. London im 17. Jahrhundert. In: Kommunikation und Medien in der Frühen
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III. Famas Medium
So kommentiert etwa der Kanzleirat Ahasver Fritsch 1676 in seinem Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge / hodierno usu et abusu, die aus theologischen wie juristischen Erwägungen heraus ›törichte‹ Zeitungssucht seiner Zeitgenossen: Diese Torheit der Gegenwart [seculi] scheint noch durch die vergangene Zeit des 30jährigen deutschen Krieges eine Zunahme erfahren zu haben, wo täglich über Durchzüge von Soldaten, über Belagerungen und Eroberungen von Städten, über Niederlagen und Siege Neuigkeiten gebracht wurden. Gerüchte wurden ausgestreut und durch andere noch vergrößert [sparsique rumores aliis augebantur]. Die Neugierde der Menschen in dieser Sache erregt ferner und fördert nicht wenig die Buchdruckerkunst, da vermittelst dieser gedruckte Zeitungen leichter unter die Menschen verbreitet werden. Während es nämlich früher nur weniger möglich war, geschriebene Zeitungen zu lesen, können heutzutage bei der großen Zahl gedruckter Exemplare jene in Händen aller sein, besonders da sie heutzutage [hodie] in verschiedenen Sprachen, nämlich der deutschen, französischen, lateinischen, belgischen usw. gedruckt zu werden pflegen.5
Die affektiv besetzten Dispositionen der menschlichen Natur durchkreuzen das pragmatische Verständnis eines ›vernünftigen‹ Umlaufs von Informationen. Die stete Neugierde verbindet sich strukturell mit allen Medien des Neuen. Die regelmäßigen Zeitungen verstärken nun aber die schon bei den okkasionellen Einblattdrucken, den Neuen Zeitungen, verurteilte Unvernunft aller möglichen Menschen, alles Mögliche wissen zu wollen.6 Jede im Umlauf befindliche Nachricht neigt zu einer schwer kontrollierbaren Promiskuität: Jeder will sie haben, alle reichen sie nach Gebrauch weiter. Gedruckte Nachrichten verleihen dieser Grunddisposition in besonderer Weise Anschaulichkeit.7 Die kommunikative Verunreinigung von Nachrichten als Informationen durch die Zirkulation wird einer allegorischen Figur auf einem Flugblatt des 17. Jahrhunderts in den Mund gelegt (Abb. 9). Der Titel ihres Klagelieds lautet: Die New Zeittvng Klagt sie Könn kein Mann bekommen:
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Neuzeit. S. 201–224; für die englischsprachige, französische und niederländische Forschung zu den frühen Zeitungen und Zeitschriften in diesen Ländern siehe News and Politics in Early Modern Europe (1500–1800). Ahasverus Fritsch. Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge / hodierno usu et abusu // Diskurs über den heutigen Gebrauch und Missbrauch der »Neuen Nachrichten«, die man »Neue Zeitunge« nennt. Jena 1676. In: Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Die Urteile des Christophorus Besoldus (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676) und Tobias Peucer (1690) über den Gebrauch und Mißbrauch der Nachrichten. Hg. von Karl Kurth. Brünn/München/Wien 1944. S. 33–44 (dt.) / S. 117–127 (lat.). Hier S. 38 (dt.) / S. 121f. (lat.). Vgl. zur Kritik an der Neugierde im Kontext der Flugblattpublizistik Schilling. Bildpublizistik. S. 125, S. 140; Karina Kellermann. Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Studien zur Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung. Tübingen 2000. Hier S. 285ff. Zur Verschränkung von Wissen und Adressierungsformen in der Flugblattpublizistik vgl. Wolfgang Harms. Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). In: Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. I. S. VII–XXX.
III.1. Medien und Zirkulation
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Abb. 9: Alle wollen sie haben8
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Flugblatt, Kupferstich DIE NEW ZEITTYNG Klagt sie Könn [...] o.O. 17. Jahrhundert; Reproduktion nach Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. III. Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Teil 3. Theologica, Quodlibetica. Bib-
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III. Famas Medium
Die beiden Füllhörner, die Frau »Zeittvng« ausschüttet, konnotieren die ambivalente Produktivität einer wechselvollen Fortuna, die in die Herkunft von Nachrichten hineinregiert: Szepter und Ring (als Zeichen von Herrschaft), Lorbeerkranz, Ölzweig, Sieges- und Friedenspalme, Feldfrüchte, wie Ähre, Traube, Blüten, Äpfel (als Zeichen der Ubertas). In dieser Füllhorn-Ikonographie ist die Darstellung durch die Personifi kation des Überflusses (Ubertas) und in der Ambivalenz der ausgeschütteten Gegenstände von Fortuna geprägt [...]. Auf der Gegenseite fallen konträre Zeichen aus dem Füllhorn, das die linke Hand hält [...]: Fessel, Knochen, Rute, Schlinge, Schwert (für Gericht oder Krieg) und Schlange stehen vor allem für Strafe und Tod. (DiF III, 444)
Im Haar hat die Personifikation der Zeitung Avisen-Zettel mit der Aufschrift: »Zeittung von Paris«, »von Rom«, »von Madrid«, um den Hals einen Zettel: »Zeittung von Prag«, am herabhängenden Gürtel: »Zeittung aus Niderland«, »aus Polen«, »aus Engelland«, »aus India«, »aus Turckey«. Solche angesteckten und angehängten Zeitungs-Zettel, die auch Briefschaften darstellen können, tauchen in der Boten- und Zeitungshändler-Ikonographie des 16. und 17. Jahrhunderts vielfach auf und markieren eine Etappe der medialen Verwirklichung der frühen Zeitungen als Text und Medium.9 Die Vorstellung, dass eine gedruckte Zeitung alle interessiere und für alle zu haben sei, ist keineswegs frei von kulturkritischen Implikationen, die oftmals an die ›Weiblichkeit‹ der Geschwätzigkeit gebunden werden. Die Geschlechterkodierung im Zeitungsdiskurs adaptiert schon im 17. Jahrhundert diese topische Verbindung von Weiblichkeit und Geschwätz.10 Ihren ›männlichen‹ Konterpart findet die Zeitung dann in einer Historiographie, die die Zirkulationsmacht von Nachrichtenkolportage in andere Medien und Narrative einfügt.11 Die mit Geschlechterimplikationen ideologisch aufgeladenen Domestizierungsbemühungen für die Zeitung bleiben konstant. Das zeigt etwa folgende kritische Bemerkung aus dem frühen 20. Jahrhundert gegenüber einer allzu gefügigen und zugleich Einflüsterungen betreibenden Presse: »Nach der Macht zu greifen, ohne politische Verantwortung zu tragen sei die ›Prärogative der Hure‹, [...] urteilte der konservative Premier Baldwin 1931 über die englische Presse.«12
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10 11 12
liographie, Personen- und Sachregister. Nr. 227. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle DiF. Zur Problematisierung der (in meinen Beispielen intramedial gestifteten) Beziehung zwischen Körper und Text und damit verbundenen Körperbildern vgl. Rudolf Schlögl. Der Körper als Medium. Einleitung. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. S. 429–431, sowie den Vorschlag von Jörn Sieglerschmidt. Kommunikation und Inszenierung. Vom Nutzen der Ethnomethodologie für die historische Forschung. In: Ebd. S 433–460, eine Ethnomethodologie für Formen inszenierter Kommunikation zu entwickeln. Birgit Althans. Der Klatsch, das Sprechen und die Arbeit. Frankfurt/M. 2000. Vgl. dazu die nachfolgenden Kapitel der vorliegenden Studie. Andreas Schulz. Der Aufstieg der »vierten Gewalt«. Medien, Politik und öffentliche Kommunikation im Zeitalter der Massenkommunikation. In: Historische Zeitschrift 270 (2000). S. 65–97. Hier S. 83.
III.1. Medien und Zirkulation
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Schon das Lied der Zeitungsdame des 17. Jahrhunderts (s. Abb. 9) spielt auf den nachlässigen und freien Gebrauch einer Zeitung nach Gelegenheit an: Ich arme tochter lauff durch die Welt, // ein ieder mir mit fleiss nachstellt. // Bin alle tag ein newe braut. // Doch leider mich nie keiner trawt. // Kan nit ein tag bey einem bleiben, // gschwind thut er mich zum andern treiben. Kom ietzt gen Franckfurt in die mess, // ob ich da meines leids vergess. // So gehts mir ärger als anderswa, // iagt mich der ein zum andern da. // Man trägt mich in dem maul herumb, // schleust mich in brieff und macht mich krumb // Verstümelt, verkürtzet, und verlänget, // der Trucker vnder d’Press mich pfränget. // Muss lauffn in Vngern, Polen, Niderland. // Spanien, Franckreich, vnd zuhand, // Italien, vnd gar in Türckey, // noch bin ich meines ampts nit frey. // Dem sing ich süess. dem andern saur, // er sey gleich Edel oder Bawr. // Thu einen betrueben vnd weinen machen, // andern zu zürnen, ienen zu lachen. // Tröst mich allein das nach meiner sag, // all’ welt ihr gschäfft ordnet all’tag.
Der hier stilisierte Hang zum kollektiven Alltagsgebrauch einer Zeitung durch alle Menschen wurde empirisch weder durch mündliche, noch schriftliche und gedruckte Kolportage eingelöst. Zudem gilt für die Wochenzeitungen, dass sie »angesichts ihres Preises und hinsichtlich der Bildungsvoraussetzungen, die ein Leser mitbringen mußte, keine Massenpresse für jedermann« (SZ 12) waren.13 Dennoch scheint dieser periodischen Publizistik die Potentialität, irgendwann tatsächlich jedermann erreichen zu können, mitgegeben zu sein, auch bei faktischer Begrenzung durch politische, ökonomische oder bildungsgeschichtliche Voraussetzungen. Die von der Zeitungstheorie konstatierte Unvernunft der Zeitungskommunikation berührt dabei immer wieder die unkontrollierbaren Schnittstellen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die auch bei politischer und gelehrter Beaufsichtigung der Zeitung stattfinden. Die kritischen Hinsichten auf die grenzüberschreitende Produktivität der periodischen Zeitung werden zunächst auch gespeist aus dem zeitgenössischen Umfeld des Kolportagehandels, der für Einblattdrucke, Flugschriften oder Kalender üblich war. Hier betätigten sich u.a. die Zeitungssänger, die Liedtexte von Einblattdrucken vortrugen und als ambulante Händler für verschiedene Druckwerke unterwegs waren. Öffentliche Foren und Gelegenheiten zur Zurschaustellung von Kleinpublizistik und ihren Vorführern boten Messen und Jahrmärkte, Sonnund Feiertage vor Kirchentüren oder Wirtshäuser, wo sich Stände und unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse vermischten.14 Auf einer (in der Forschung gut bekannten) Radierung von Jost Amman von 1588 ist ein solcher Kolportagehändler mit genrehaften Zügen dargestellt (Abb. 10):
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Das gilt nach Schröder erst recht für die geschriebenen Zeitungen: »Bei einem Preis von 10 Gulden [...] waren geschriebene Zeitungen [im 17. Jahrhundert] fünfmal so teuer wie eine durchschnittliche gedruckte Zeitung.« (SZ 12) Vgl. Rolf Wilhelm Brednich. Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Bd. I. Baden-Baden 1974. S. 290f. Bereits nach 1500 entsteht ein »eigenes Wandergewerbe«, »das sich dem Hausiervertrieb des gedruckten Kleinschrifttums annimmt.« Ebd. S. 290.
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Abbildung 10: Kolporteur der Kommunikation15
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Flugblatt Der Kramer mit der newe Zeittung, Radierung von Jost Amman, 1588, Frankfurt am Main (?), gedruckt von Jacob Kempner; Reproduktion nach Bibliopola. Bilder und Texte aus der Welt des Buchhandels. Hg. von Sigfred Taubert. Bd. II. Hamburg 1966. S. 25. Vgl. die Beschreibung ebd. S. 24. Das Blatt auch bei Wolfgang Brückner. Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1969. Abb. 34; Brednich. Die Liedpublizistik. S. 303: »Bemerkenswert ist einmal, daß der Krämer tatsächlich ein Exemplar seiner neuesten Zeitung
III.1. Medien und Zirkulation
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Typisch ist bei diesem und anderen selbstbezüglichen Flugblättern die Verschränkung der Ereignisgeschichte in den bildlichen und textuellen Anspielungen mit der belehrenden Satire auf die Lügenhaftigkeit des Informationsgewerbes im Begleittext. Körper, Stimme, Schrift und Bild erzeugen eine komplexe Szene kommunikativ-medialer Verwobenheit. Bild und Text verweisen in einer Konstellation von Allegorie und Allegorese wechselseitig aufeinander. Dabei arbeitet die Literarisierung der Nachrichtenkolportage im satirischen Text mit den höheren Wahrheitsansprüchen von Dichtung gegenüber den historiographischen Wahrheitsansprüchen des Nachrichtentransfers. Diese Konstellation im wechselseitigen Kommentarverhältnis geht letztlich auf die aristotelische Scheidung von unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen von Dichtung und Ereignishistoriographie zurück.16 In vergleichbarer Weise wie in der Darstellung von Jost Amman eilt auf einem Kupferstich von etwa 1630 ein Bot mit den Newen Zeitungen durch eine in wenigen Versatzstücken angedeutete Landschaft, ausgestattet mit dem typischen Botenstock und einem Sack voller Zettelnachrichten (Abb. 11). Hier ist der Botenkörper mit weiteren Zetteln bestückt und stellt sich als Übergangszone zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar.17 Er ist damit personaler Funktionsträger der Botschaft des Mediums Druck, das als seine eigene Nachricht zum Zuge kommt. Das auf satirische Weise selbstbezügliche Lied des Boten spricht wiederum über die konstitutive Beziehung zwischen Botendiensten und neugierigem Zeitungspublikum: Secht wunder vber alle wunder // Wie schwer trag ich an dise plunder // Den ich in manche land auffgladn // Hoff / soll mir bringen wenig schadn. // Herbey ihr kurtzweilig Geselln // Die jmerdar vil wissen wölln // Von newen Zeitungn / Lugen mehrn // Dieselb bestettign / darzu schwern // [...] // Auff ewe Begehren bin ich kommen // Den Vollauff zeitung mit mir gnomen // Auß fremden Königreich vnd Orten // Länder vnd Stätt / mit kurtzen worten // [...] // Darumb jr Bursch und Pflastertreter // NewzeitungSpehr / zeitungverwetter // Euch nach notturfft mögt delectirn, // Erlustigen / und Zeit verliren // Aber vnder disem / eh ihr // Den ganzthen Plunder nembt von mir // So leset diß Memorial, // Druckwürdiger Sachen zumal // Die sich an etlich Ortn begeben // Under diß mag ich ruhen eben.
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von der Ermordung der beiden Guise an den Hut gesteckt hat, zum anderen fällt der Zeitungskasten auf, den der Kramer über der Schulter trägt: ähnlich ist er als sog. ›Bauchladen‹ bis ins 20. Jahrhundert bei Zeitungsverkäufern europäischer Städte im Gebrauch geblieben.« Vgl. dazu Kap. IV der vorliegenden Studie. Vgl. zum Verhältnis von mündlichen und schriftlichen Botendiensten in Mittelalter und Früher Neuzeit Horst Wenzel. Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Köpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von dems. Berlin 1997. S. 86–105.
III. Famas Medium
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Abbildung 11: Der Körper der Kommunikation18
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Flugblatt Der Bot mit den Newen Zeitungen. Augsburg ca. 1630; Reproduktion nach Brednich. Die Liedpublizistik. Bd. II. Abb. 135; Kommentar ebd. Bd. I. S. 304. Vgl. zu weiteren Darstellungen von ambulanten Händlern, Zeitungssängern und Ausrufern von Kleinpublizistik bis ins 19. Jahrhundert ebd. Bd. I. S. 285ff. und Bd. II. Abb. 133–141.
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Auf diesen ersten Teil des Zeitungslieds (das am Ende wieder aufgenommen wird) folgen verschiedene »MemorialZettel«, deren Gattungsbezeichnung historiographische Funktion und Medientyp verschränkt. Sie sind als »Zeittung auß Hispania« und anderen Orten ausgewiesen und setzen das selbstbezügliche Nachrichten- als Kommunikationsspiel fort. Auch sie sind gereimt und betreiben den Spott mit Wunder-Nachrichten, zum Beispiel in der zweiten Zettelstrophe: Auß Frankreich. In Franckreich werden Schlösser baut // Gantz wunderbar dem Glück vertraut. // In lufft hangend ohn allen Grund // Was seltzams erdenckt man jetzund?
Die Wochenzeitungen des 17. Jahrhunderts werden im Unterschied zum Kolportagehandel mit Einblattdrucken und anderer Kleinpublizistik hauptsächlich über die Post in Abonnements vertrieben, setzt doch ihre regelmäßige Erscheinungsweise auch eine kontinuierliche Kaufkraft voraus.19 Die Zielgerichtetheit des Postboten und seiner Wege scheint dann kongruent mit der Zielgerichtetheit von periodischen Zeitungs-Nachrichten. Zwar eilen auch diese von Ereignis zu Ereignis, suchen aber doch vermehrt ihre speziellen Abnehmer, die wiederum ihren Neuigkeitenappetit zielgerichtet in ihre Kommunikationssituationen einspeisen können. Doch bleiben die Aspekte vermischter, zerstreuter und ›abwegiger‹ Kommunikationsverhältnisse ein großes Thema auch für die Kritik an den regelmäßigen Zeitungen. Denn neben Flugblättern und Kalenderliteratur erreichen auch die Zeitungsperiodika zwischen dezentriertem Kolportagehandel und geregeltem Abonnementvertrieb neben den ständisch gerahmten und organisierten Literati eben auch die Illiterati. Seit der Frühaufklärung wird deshalb auch im positiven Sinne auf die streuende, weil damit zugleich gesellschaftsstiftende Kraft von Zeitungskommunikation abgehoben. So macht etwa der Gelehrte Paul Jakob Marperger (1656–1730) 1726 auf die neuen gesellschaftsfähigen Umschlagsorte des kommunikativen Austauschs aufmerksam, die Zeitungsbuden für den Verkauf von Avisen, die Kontore und Kaffeehäuser als Umschlagsplätze von Informationen aller Art.20 Diese spielen etwa in einer Zeitungs- und Handelsstadt wie Hamburg eine große Rolle:21
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Vgl. dazu auch Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Hg. von Klaus Beyrer und Martin Dallmeier. Giessen 1994. Vgl. zur Person von Marperger die Hinweise in Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausgew. und erl. von Elger Blühm und Rolf Engelsing. Bremen 1967. S. 94: »Der welterfahrene und weitgereiste Mann [...] gilt als einer der Väter der Nationalökonomie. [...] Er war gekrönter Dichter, gab das Volksbuch vom Zauberer Wagner neu heraus (1714) und verfaßte zahlreiche belehrende Schriften zur Wirtschaft und zum Handel seiner Zeit [...]. 1726 veröffentlichte er, nachdem er schon vorher Zeitungskollegs gehalten haben muß, eine Art Lehrbuch der Zeitungskunde«. Vgl. zur Bedeutung von Hamburg und Umgebung für die Zeitungspublizistik Holger Böning. Periodische Presse. Kommunikation und Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002.
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III. Famas Medium Solche Zeitungs-Buden, Boutiqves oder Comptoirs, wann sie zumahl fein geraum seyn, dienen hernach zur Versammlung und Entretien vieler curiosen Leute von allerhand Ständen, Gelehrten und Ungelernten, Staats- Kauff- und Kriegs-Leuten, Fremden und Einheimischen; Wobey man dann mit Lust das raisonniren über allerhand Staats- und Welt-Händel, sonderlich in Holland und in denen See-Städten, wo das freye Reden nicht so verfänglich als anderer Orten ist, anhören kan; Und ist es gewiß, daß zuweilen solche Reflexiones, Prognostica und Materien auf das Tapet kommen und ventiliret werden, welche auch, gelehrten Staats-Leuten Speculationes zu machen, capables seyn. Wann auch vornehme Kauff-Leute, welche offt die accurateste Correspondentz, und neuere Nachrichten als manche Höfe und Standes-Personen haben, etwas gar sonderbahr Neues von ihren ausländischen Correspondenten bekommen, so piqviren sie sich mit der Ehre, solches an dergleichen Orten und Boutiqven, an Börsen, und auch (wie in Holland und England gebräuchlich) in Caffé-Häusern zu propaliren, kund und bekannt zu machen, auch ihren bekannten Freunden, sonderlich denen Avisen-Verlegern einen Extract davon zu geben, welches hernach eben dasjenige ist, so nechst dem, was ein Avisen-Schreiber noch von andern vornehmen Orten, item, durch unterhaltene eigene Correspondentz, Extrahiren aus andern soliden Novellen und dergleichen, sammlet, und in seine Avisen einbringet, dieselbe nahe und ferne vor andern berühmt machet [...].22
Mit der periodischen Zeitung, das zeigt auch Marpergers Beschreibung, sind ex professio seit dem frühen 17. Jahrhundert die Schrift- und Lesekundigen der Gelehrten Republik verbunden. Als eine idealtypisch gedachte Formation organisiert sich die respublica litteraria realgeschichtlich in dem Ständestaat mit seinen diffus verlaufenden Grenzen nach unten wie nach oben. Für die Umstände der Zeitungskommunikation bedeutet dies: Nicht nur in Gast- und Posthäusern, sondern auch in Gelehrtenstuben, an Akademien und Universitäten, in Lesezirkeln und in höfischen Kontexten werden Zeitungen bezogen, vorgelesen und ihre Texte diskutiert.23 Die bezahlte Bereitstellung von Nachrichten für die Periodika obliegt im 17. Jahrhundert ebenfalls einer heterogenen Gruppe von nebenamtlichen Zeitungern: [...] unter ihnen waren fürstliche und städtische Beamte, Mitglieder der Stadträte, Diplomaten und nicht zuletzt auch die Postmeister, also alles Leute, die relativ leicht Zugang zu den Informationsquellen hatten.24
22
23 24
Jakob Paul Marperger. Anleitung Zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung [...] Ordentlicher und Außerordentlicher Zeitungen und Avisen [...]. o.O. o.J. [1726], zit. n. Die Zeitung. S. 95. Vgl. Weber. Deutsche Presse im Zeitalter des Barock; Welke. Gemeinsame Lektüre. Kurt Koszyk. Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. Öffentliche Kommunikation im Zeitalter des Feudalismus. München 1972. S. 41.
III.1. Medien und Zirkulation
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Bezahlte Zuträger von Nachrichten sind außer Staatsbeamten und Gelehrten auch Militärs und Kaufleute. Die genannten Personengruppen kommen auch als zahlende Abonnenten der Periodika in Frage.25 Die Standesinteressen verteidigenden und Bildungsvoraussetzungen vereinigenden Gelehrten verfolgen dabei die sozialen, kulturellen und politischen Momente der publizistischen Ausweitung des Wissensumlaufs sehr genau, während der politische Stand über konkrete Maßnahmen wie die Zensur verfügt um einzugreifen. Im 16. und 17. Jahrhundert sind die Schreib-, Druck- und Lesekundigen bereits über die Medien Flugblatt und Flugschrift in die politischen und kulturellen Prozesse involviert. Diese Beteiligung erfolgt in einem breit gefächerten Spektrum von Information, Kommentar, argumentativer Überzeugungs- und Deutungsarbeit bis hin zu polemischer Agitation. Texte und Bilder zeigen, dass und wie politische und gelehrte Kontrolleure der Kommunikation um Macht und Einfluss streiten; ihre Ausdrucksmittel umfassen ein breites Spektrum von hochgelehrtem humanistischem Bildungswissen (etwa emblematische Verrätselung und Lateinsprachlichkeit) bis hin zu volkstümlich sich verstehenden Formen (zum Beispiel das Zeitungslied im Knittelvers).26 In der Vermittlung von gesellschaftlichem Orientierungswissen geht es dabei ebenso um historiographische Berichte wie die Verfolgung von parteilichen Zielen in den zahlreichen politischen, religiösen und sozialen Auseinandersetzungen. Polemische Flugschriften, die in der Tradition von Streitschriften stehen, werden dabei auch als »libelli famosi« und »Pasquille« bezeichnet.27 Periodische Zeitungen der späteren Zeit, die sich seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr auf das Referat von Ereignissen allein beschränken, sondern den Meinungsstreit inszenieren, werden in dieser Tradition ebenfalls mit dem Schimpfwort Pasquille geschmäht.
25 26
27
Vgl. Weber. Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. Zu den medien- und gattungsgeschichtlichen Merkmalen von Flugblättern und Flugschriften siehe die einschlägigen Artikel in Medienwissenschaft. Ein Handbuch. S. 785–824 (Eva-Maria Bangerter-Schmidt. Herstellung und Verteilung von Flugblättern und Flugschriften in ihrer geschichtlichen Entwicklung. S. 785–789; Wolfgang Harms. Forschungsgeschichte der Flugblätter und Flugschriften. S. 790–793; Erich Straßner. Kommunikative Aufgaben und Leistungen des Flugblatts und der Flugschrift. S. 794–801; Johannes Schwitalla. Präsentationsformen, Texttypen und kommunikative Leistungen der Sprache in Flugblättern und Flugschriften. S. 802– 816; Michael Schilling. Geschichte der Flugblätter und Flugschriften bis um 1700. S. 817–819; Sigrun Haude. Geschichte von Flugblatt und Flugschrift als Werbeträger. S. 820–824); Schilling. Bildpublizistik; Deutsche illustrierte Flugblätter. Flugschriften sind Ort gelehrt-privater Auseinandersetzungen, konfessioneller und politischer Polemik; vgl. Schwitalla. Präsentationsformen. S. 805f., S. 818. Verwendet werden u. a. das gelehrte Distichon, der satirische Dialog und Knittelverse (vgl. ebd. S. 805) sowie Kanzleischriftum (Briefe, Mandate, Gesetzestexte). Texte auf Flugblättern sind weniger argumentativ als anklagend, verspottend und karikierend (vgl. ebd. S. 809). Hier werden Lieder, Lehrgedichte, Gebete, aber auch lateinische Prosa für Fachgelehrte publiziert; vgl. Harms. Forschungsgeschichte. S. 792. Vgl. WGr 25.
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III. Famas Medium
Die den publizistischen Kontexten frühneuzeitlicher Literatur und Medien entstammenden Einblattdrucke, die die darin involvierten Berufe und Standesgruppen thematisieren, greifen analog zu diesem heterogenen und vielschichtigen Umfeld viele Aspekte der Zeitungsproduktion und -rezeption, ihrer Medien und Formen auf. Auch das folgend abgebildete Blatt von 1632 (Abb. 12) kommentiert etwa die politische Ereignisgeschichte und »verspottet zugleich [als Neujahrsblatt] das Zeitungsgewerbe und sein leichtgläubiges Publikum« (DiF II, 484). Die selbstbezügliche Botschaft dieses Blatts zum neuen Jahr lautet nicht nur, dass Ereignisse Anlässe sind, um eine Zeitung zu publizieren, sondern es verbindet die Wiederkehr des Jahresanfangs mit der publizistischen Wiederkehr von gedruckten neuen Avisen. Das publizistische Gelegenheitsereignis Neue Zeitung wird damit an die Vorstellung zyklischer Wiederkehr in der naturalen und göttlichen Ordnung angeschlossen. Die periodische Zeitung hat zu der Zeit, als dieser Einblattdruck erscheint, die Gelegenheit der Wiederkehr des publizistischen Ereignisses Zeitung bereits zu ihrem genuinen und säkularen Strukturmerkmal gemacht. Insofern verweist das einzelne Blatt als ein solches auch spöttisch auf das regelmäßige Neuigkeitsbedürfnis, dem sich die Periodika andienen, die auch nicht mehr auf Anlässe wie den wiederkehrenden Jahresanfang warten müssen. Auf diesem Tableau ist die umherschweifende Zettelwirtschaft der Kolporteure im »Kramladen« angekommen. Dieser spiegelt auf seiner mikrokosmischen Bühne den Makrokosmos der zeitgenössischen Weltkommunikation. Angefüllt ist die Guckkastenbühne mit den üblichen Medien zwischen Person und Zettel, zwischen Gelehrsamkeit und gemeinem Volk, zwischen historiographischer Nachricht, Wunderbericht und Lügenmärchen, zwischen Einblattdruck und alltäglicher periodischer Publizistik: Links nimmt der Besitzer des Kramladen(s) ein Flugblatt aus einer Truhe, auf deren Deckel die Formel des Druckerprivilegs geschrieben ist, und hängt es zu anderen Blättern, die schon an drei Leinen übereinander befestigt sind und zum Kauf werben. Dahinter sitzen drei gelehrte Kalendermacher an einem Tisch und disputieren über die astrologische Bestimmung der Historie (Astra regunt homines; Sed regit astra deus). Daneben bringt ein Zeitungsbote mit Spieß und Traggestell [...] einem Schreiber neue Nachrichten zum Kopieren. Durch seine auffallende Kleidung und die Attribute der Narrenkappe, des sich in den Nasen-Bauch beißenden Vogels und des Kolbens ist die dem Betrachter zugewandte Gestalt in der Mitte des Vordergrunds als »komische Figur« gekennzeichnet. Rechts neben ihm bietet ein Zeitungshändler, aus dessen Bauchladen auch ein Rosenkranz zum Verkauf heraushängt, dem Publikum, das in zwei vor der Bühne stehenden, dem Betrachter den Rücken zuwendenden Männern personalisiert ist, Relation(en) und Newe Zeitung(en) feil. Im Hintergrund rechts ist eine Buchdruckerwerkstatt abgebildet, in der ein Setzer aus seinen Setzkästen die benötigten Lettern hervorsucht, ein Drucker neben der großen Buchpresse mit dem Andruck zweier Blätter beschäftigt ist und ein Stecher mit seiner Nadel eine menschliche Gestalt in seine Platte ritzt. Über der Szene hängen an Leinen die »Newen Zeitungen« aus Rom, Spanien, Frankreich, England usw. Die abgekürzte reformatorische Losung V.D.M.I.AE. (Verbum Domini Manet in Aeternum [...]), die die Presse ziert, läßt den protestantischen Standpunkt des Blattes erkennen. (DiF II, 484)
III.1. Medien und Zirkulation
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Abbildung 12: Newe Jahr Avisen, Jn Jehan petagi Kramladen zu erfragen (DiF II, Nr. 278)28
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Flugblatt, Radierung Newe Jahr Avisen, Jn Jehan petagi Kramladen zu erfragen / Allen Kauffleuten und ZeitungsLiebhabern die sich täglich darmit tragen und schleppen zu diesem Newen 1632. Jahre dediciret. 1632.
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III. Famas Medium
Wiederum ›reden‹ die Figuren exemplarisch für ihr Gewerbe. Die Zuordnung von bildlicher Darstellung und Textteilen der Figurenrede wird über die den Bildern beigestellten Buchstaben vermittelt. Die Figur »A« ruft zum Kauf von Nachrichten auf: »Wer allerley Zeittungs Manier // Ihm schaffen will / der komm zu mir«. Die komische Figur (»B«) verspottet die Narren, die sie hervorbringt: »Ein Narr zehn macht / Wer leichtlich gleubt / wird leicht belacht«. Der Zeitungshändler (»C«) ruft seine »Relation« aus, die Kalendermacher deuten in umfangreicher Rede die Beziehung zwischen Naturzeichen und gegenwärtigem politischem Geschehen an. Der Buchstabe »G«, der sich im Bildvordergrund auf die Beischrift »Relation« bezieht, macht den Charakter, den Buchstaben als kleinste bedeutungstragende Einheit der Schrift, zum figurativen Akteur. Daneben steht wiederholend als eigene Texteinheit: »Relation«, mit dem Zusatz »6. Avisen vmb schlechten Lohn«. Im Textteil wird der Schriftrede von »G« ein warnendes Horazzitat beigesellt: »Nunc tua res agitur, paries cum proximet ardet«.29 Die darauffolgenden sechs durchnummerierten »Avisen« von »G« werden (protestantisch-parteilich) auf die Vergeblichkeit der politischen Aktionen angesichts göttlicher Providenz hin ausgelegt, etwa so:30 1. Vom Zeitungsschreiden [sic] kömpt Bericht // Soll gar war seyn / und kein Gedicht // Daß zweymahl hundert tausent Mann // Die Wind im Meer erseufet han. // Viel schleust der LIGEN Zorn vnd Strauß // Gott aber fährts anders hinauß.31
Göttliche Fügung der Geschichte und menschlicher Bericht, der seiner Form nach das Exemplarische der Historie für alle dokumentiert, sind so auch auf diesem Blatt in ein um und um verweisendes Netzwerk aus Texten, Bildern, Zahlen und Buchstaben eingebunden. Sowohl der Kramladenbesitzer, »Jehan Petagus«, »der unter der Bezeichnung Jean Potage die komische Rolle im Drama der Wanderbühne spielte« (DiF II, 484), als auch die komische Figur im Bildvordergrund verweisen zudem auf den noch engen Zusammenhang zwischen Schaustellerei und zur Schau stellender Publizistik, die ein gemeinsames Publikum bewerben. Beide Figuren sind wiederum eine die Selbstbezüge vervielfachende Personalsatire innerhalb der allegorisch-satirischen Szene der Kommunikation, die das Blatt insgesamt ausstellt. Es wäre dementsprechend schwierig, hier nur von einem Botschafter des Mediums auszugehen oder nicht eine historische Reichhaltigkeit bewusst gemachter Medialität zu konstatieren.
29
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Horaz. Epistolae I,18,84: »Geht’s doch um deinen Besitz, wenn das Nachbarhaus brennt«. In: Horaz. Werke in einem Band. Aus dem Lat. übers. von Manfred Simon. Berlin/Weimar 1990. »[D]ie indifferente Stellung des Verweisbuchstabens G [lässt offen], wer als Sprecher der betreffenden Verse fungiert.« (DiF II, 484) Ich denke, es spricht mit »G« die Schrift selbst. Deshalb sind diese »Avisen« dann eher Neue Zeitungen im Sinne der Flugblattpublizistik und nicht Nachrichten der periodischen Zeitungen. Vgl. Abb. 12, mittlere Spalte unten und die folgende Spalte.
III.1. Medien und Zirkulation
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Mit der Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik liegt seit der Reformationszeit eine vielfältige selbstbezügliche Kommentarpraxis vor, die sich (zumeist satirisch) auf Produktion, Vertrieb und Rezeption umlaufender neuer Nachrichten bezieht. Die ›unseriösen‹ Seiten des Zeitungsgeschäfts und Nachrichtenhandels zwischen Sensationsberichterstattung, Lügenhaftigkeit oder übertreibender Zurschaustellung werden in den Bild- und Textkommentaren zur periodischen Publizistik dann aufgenommen. Zum Teil werden sie in der seit der Frühaufklärung dann verstärkt sich äußernden gelehrten Zeitungstheorie als Topoi weiter tradiert, zum Teil aber auch für die medial-kommunikativen Formen und Möglichkeiten des Periodikums transformiert. Der Diskurs über die Zeitungsvernunft gewinnt darin sein eigenes Profil in einer ständigen Auseinandersetzung mit den Formen der kommunikativen ›Unvernunft‹. Gegenüber der tradierten Satire auf die Lügenhaftigkeit von Nachrichten und die Fehler ihrer Kolporteure ist zu bemerken, dass auch die sich einmischende Flugblattpublizistik, in Form der Präventiv- und Nachzensur, seit dem frühen 16. Jahrhundert der Kommunikationskontrolle unterlag.32 Doch öffnet sich allein durch den Kolportagehandel eine nur schwer zu kontrollierende und aus sich selbst heraus oft nur flüchtige Verbindung zwischen Produktion, Medien und Rezeption. Entsprechend reagiert auch die zeitgenössische Begrifflichkeit für die umlaufende Blattpublizistik auf diesen Umstand: Für 1567 ist für die Einblattdrucke die Bezeichnung »fliegende Zeitungen« nachgewiesen.33 Den bereits gattungstheoretisch orientierten Begriffen des 18. Jahrhunderts, fliegendes Blatt und Flugblatt, liegt dann das französische »feuille volante« zugrunde: Die Eindeutschung geht in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts vonstatten; Lessing spricht 1754 von »fliegenden Bogen«, 1773 von »flüchtigen Blättern«, 1778 schließlich von »fliegenden Blättern« (in seinen Streitschriften gegen Goeze). [...] Als Schöpfer des Wortes ›Flugblatt‹ gilt Christian Schubart (1787); gebucht wird es zum erstenmal bei Campe, und zwar mit der Doppelbedeutung ›Einzelblatt‹ und ›kleine Schrift‹. Das Wort ›Flugschrift‹ geht in seiner Bildung ebenfalls als Übersetzung aus dem Französischen auf Schubart zurück (1788).34
Diese Begriffsprägungen und ihre philologischen Sistierungen entstehen also zu einer Zeit, als der sich historisch zuerst auf den berichtenden, mündlichen oder schriftlichen Text beziehende Begriff Zeitung mit dem Periodikum Zeitung schon lange eine relativ stabile Verbindung eingegangen ist.35 Diese genauere Spaltung 32 33 34
35
Zu Zensur und obrigkeitlichen Erlassen vgl. Brednich. Die Liedpublizistik. Bd. I. S. 287ff. Vgl. WGr 20. Brednich. Die Liedpublizistik. Bd. I. S. 17f. Brednich führt noch weitere Belege aus dem späten 18. Jahrhundert an und gibt Hinweise zur späteren Forschungsgeschichte, die dann für eine systematische Unterscheidung zwischen ein- und mehrblättrigen Druckwerken plädierte. Vgl. zu den ersten Nachweisen des neuen Begriffs Zeitschrift ab Mitte des 18. Jahrhunderts Hansjürgen Koschwitz. Der früheste Beleg für das Wort »Zeitschrift«. In: Publizistik 13 (1968). S. 41–43.
III. Famas Medium
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des Begriffes zwischen Text und Medium ist tatsächlich erst Effekt der frühaufklärerischen Zeitungstheorie und gelingt hier diskursiv.36 Ihr geht voraus, dass die Periodika des 17. Jahrhunderts mit »Merkur« und »Fama« sich auf genuine Weise mit den stabilen und flüchtigen Beziehungen der Zeitungsformen und -kommunikationen allegorisch verbünden. Merkur und Fama sind die hauseigenen Schutzgötter der in sich gespaltenen und ambivalenten Botschaften des Mediums Zeitung.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute Die ikonographischen Elemente bei Zeitungstiteln des 17. Jahrhunderts zeigen in der Regel typische Transporteure, die zwischen Zeitungsproduzenten und -rezipienten die Verteilung übernehmen: Schiffe, reitende Boten der Post und Boten zu Fuß verweisen auf das professionelle Umfeld des Zeitungsvertriebs.37 Dieser sorgt für die Ware Information, die in gelehrten, merkantilen und politischen Kreisen zunehmend wichtiger wird.38 Auch Merkur, den nicht wenige Zeitungen des 17. Jahrhunderts im Bild oder als Namensgeber im Titel führen, wird zum Sinnbild zirkulierender Informationen und Inbegriff für die Auswirkungen von Zeitungskommunikation, die zunächst über das Reichspostwesen abgewickelt wird.39 Merkur ist die Allegorie auf den Boten, der im legitimen Auftrag ›von oben‹ Nachrichten überbringt. Schließlich komplettiert Fama das zeitungstypische Figurenensemble; sie ist ebenfalls auf Titelholzschnitten und in der Titelsemantik zu finden. Fama erscheint hier als geflügelte Frauengestalt mit einem Gewand, auf dem Augen, Ohren und Zungen zu sehen sind, angelehnt an die Beschreibung von Fama in Vergils Aeneis. Darüber hinaus spielt für das Verständnis der Zeitung als Famas Medium Ovids Haus der Fama eine Rolle, und zwar im Sinne eines symbolischen Orts der menschlichen Kommunikation schlechthin.40 Die Zeitungsnamen, die Merkur, Fama oder auch nur Bote im Ti-
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Vgl. dazu besonders Kap. IV.2 der vorliegenden Studie. Vgl. Schilling. Bildpublizistik. S. 91ff. und die Abbildungen in DZ II. Auch diese Zusammenhänge sind natürlich europaweit zu verfolgen und münden nicht nur wissens-, sondern auch wissenschaftshistorisch gesehen in die Konzeptualisierung von Netzwerken und Weltkommunikation; vgl. für die Frühe Neuzeit Mark Häberlein. Kommunikationsraum Europa und Welt. Einleitung. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. S. 295–299; vgl. insgesamt zur Konstellation Wissen und Information den Band Information in der Frühen Neuzeit. Vgl. dazu besonders Behringer. Im Zeichen des Merkur. Behringer interpretiert unter der Sinnbildlichkeit von Merkur die Herausbildung des Reichspostwesens seit dem frühen 16. Jahrhundert, in welcher Zeit das Verhältnis von Zeit und Raum in der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution neu bestimmt wurde.Vgl. zur MerkurIkonographie im Zeitungswesen auch Johannes Weber. Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland. Bremen 1994. Vgl. dazu das Kap. III.3 der vorliegenden Studie.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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tel führen, und deren Personifikationen in der Titelikonographie spielen allesamt reflexiv auf die Vermittlungstätigkeit der Zeitung an und lenken den Blick außer auf die Informationsfunktion ihrer Texte auch auf den medialen Status der Zeitung. Besonders die Adaptation der beiden mythologischen Figuren Merkur und Fama verankert das Periodikum in der Geschichte kommentierender Rede über Kommunikation. Und im Unterschied zu den abstrakten Zeitungskennwörtern des 17. Jahrhunderts wie Zeitung, Avisen oder Novellae, die die pragmatische Gerichtetheit von Nachrichten-Texten betonen, spielen Merkur und Fama auf die Mehrdeutigkeiten des Informationsumlaufs an, der sich unterschiedlicher Medien und Formen bedient. Beide Figuren rufen auch im Kontext der Zeitung ein umfangreiches kulturelles Gedächtnis auf, das von der antiken Mythologie bis in die Neuzeit mit zahlreichen Szenen friedlicher und gewalttätiger Kommunikationen angefüllt ist. Dennoch handelt es sich bei der Inanspruchnahme von Merkur für die Zeitung um die Übertragung einer römisch ›bereinigten‹ Version des griechischen Gottes Hermes, so dass es intern zu einer Konkurrenz zwischen den Kommunikationsmodellen kommt, die über Merkur und Fama die Zeitung beobachten. Hermes ist eine der vielseitigsten griechischen Göttergestalten.41 Der Name »Hermes« hängt etymologisch und ideell wohl mit den Steinhaufen (gr. έρματα) zusammen, die als Wegzeichen und Grenzmarken errichtet wurden. In einer späteren Entwicklungsstufe konnten diese Wegzeichen eine Herme tragen, »einen vierkantigen, sich nach unten verjüngenden Pfeiler mit Menschenkopf und Phallos«.42 In dieser phallozentrischen Symbolik von Weg und Orientierung gebender Markierung ist Hermes Gott des Handels – die Kaufleute danken ihm glückliche Fahrt und Gewinn – 43 und Gott der Reisenden. Als Meisterdieb tritt er bei Homer auf44 und wird so auch der gewitzte Gott der Diebe. Hermes ist nach antiker Mythologie außerdem Gott des Windes, des Handwerks und der Redekunst.45 Als Götterbote überbringt er Nachrichten an die Menschen; als Hermes Psychopompos leitet er die Seelen in die Unterwelt.46 Für seine Botentätigkeit ist er mit Flügelschuhen, Hut und Heroldstab, dem Caduceus, ausgestattet.
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Vgl. dazu K. Schauenburg. Art. »Hermes«. In: Lexikon der alten Welt. Hg. von Carl Andresen u.a. Red. Karl Bartels. Bd. 2. Augsburg 1995. Sp. 1269–1271; Bernhard Huss. Art. »Hermes«. In: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5. Darmstadt 2008. S. 344–351. Hermes’ frühester Wesenszug ist die Verbundenheit mit dem Gedeihen von Viehherden; die phallischen Hermen verweisen auf ihn als Fruchtbarkeitsgott, vgl. Schauenburg. Art. »Hermes«. Sp. 1269. »[E]inen unerwarteten Gewinn oder glücklichen Fund nannte man ›Hermaion‹«, ebd. Sp. 1270. Als Meisterdieb tritt er in Homers Hymnos Hermes auf. In der Odyssee erscheint er als »Hermes Logios«. Vgl. Homer. Odyssee 24,99f.
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III. Famas Medium In Rom [...] wurde der zuvor wohl autonome, schon im frühen 5. Jh. v. Chr. nachweisbare Handelsgott M[erkur] seit dem 3./2. Jh. v. Chr. zusehends hellinisiert, also mit H[ermes] gleichgesetzt; [...] doch bleibt im röm[ischen] Bereich M[erkur] als Handelsgott stets prominent; sein charakteristisches Attribut ist der Geldbeutel.47
So treten in der griechisch-römischen Vermischung mythologischer Aspekte andere Bedeutungen in den Hintergrund.48 Schließlich ist von der griechisch-hellinistischen Hermes-Mythologie und dem römischen Handelsgott Merkur noch Hermes Trismegistos abzuheben, der aus der Vermischung griechisch-ägyptischer Kulte und Götter stammt und dem in der Kaiserzeit die Schriften des Corpus Hermeticum zugeschrieben wurden.49 In mittelalterlichen Darstellungen wird Hermes als Planetengottheit dargestellt, dessen vielfältige Wesenszüge sich in seinen Planetenkindern verwirklichen.50 Unter Wiederaufnahme der älteren, vorklassischen griechischen Symbolik wird hier die Vielseitigkeit von Hermes als »Herr der Medizin, der Erfinder des Feuers, der Rede, der Schrift und vor allem der Lyra« weitertradiert.51 In Renaissance und Humanismus wird das reiche Spektrum aller mythologischen Aspekte des hellenistischen Hermes, des Hermes Trismegistos und des Merkur weitertradiert.52 Hermes-Merkur ist hier außer für die Reisenden und Kaufleute53 besonders auch Schutzherr der schönen Künste und Wissenschaften und damit für sämtliche Bildungsgüter zuständig. Folgende emblematische Darstellung des 16. Jahrhunderts spielt entsprechend synkretistisch über die zahlreichen Attribute auf das umfangreiche Bedeutungsspektrum von Hermes-Merkur an (Abb. 13). Die Frage der inscriptio: »Insignia Mercurij Quid?« wird für den gelehrten Kenner in der subscriptio beantwortet: Welches sind die Abzeichen Mercurs? Dies sind die Zeichen des schnellen, geflügelten Götterboten, den Maia zur Welt brachte: der schlangentragende Heroldstab, der Geldbeutel, Krebs und Lyra, Wespe, Halm, Flügel, Bock und Hund. Höre, was dies alles anzeigt: Er hat einen raschen Verstand und ein gutes Gedächtnis. Er macht klug im Reden, weitschweifig, scharfsinnig, diebisch, wachsam, betrügerisch und verwegen in ernsten Dingen. Der Bock erinnert an seine erstaunliche Kraft der Rede; Schlangen und Lyra daran, daß er ein Zögling des Friedens ist; der Hund, daß er die Rede nicht mit Fehlern überhäuft. Die Waage bedeutet, daß er jedem das Seine gibt; das Schwert, daß er Hinterhalt und Mord meidet. Bei Prozessen und im öffentlichen Leben hat die Beredsamkeit ihren Platz, Verbrechen und Frevel wird mit dem Schwert bestraft. Wie die gestimmte Lyra soll man das Richtige
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Huss. Art. »Hermes«. S. 344f. Vgl. Karina Türr. Vom Gott zum Warenzeichen. Zur Gestalt Merkurs in der Neuzeit. In: Bruckmanns Pantheon. Intern. Zeitschrift für Kunst I (1983). S. 7–15. Das Geldsäckel wird in römischer Zeit als Attribut kanonisiert, ebd. S. 12. S. dazu Huss. Art. »Hermes«. S. 346f. Vgl. Türr. Vom Gott zum Warenzeichen. S. 8. Ebd. S. 8f.; vgl. auch Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 646. Vgl. Huss. Art. »Hermes«. S. 347ff. Vgl. Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 650, zu Merkur als Sinnbild in der frühneuzeitlichen Reiseliteratur.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Abbildung 13: Merkur mit seinen Attributen54
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Emblem aus Johannes Sambucus. Emblemata [...]. Antwerpen 1566; Reproduktion nach Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart 1978. Sp. 1768.
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III. Famas Medium sagen, damit die Worte der Wahrheit entsprechen. Diese Gaben des Atlantiaden, die zum Teil nicht erstrebenswert sind, werden den Kindern bei der Geburt gebracht. Der Kaufmann [dagegen], der sie nötig hat, soll sich ihrer erfreuen. Ich glaube, Mercur ist vielen ein Schutzpatron; denn diese Symbole haben [jeweils] ihre eigenen Anhänger, und sie können zugleich den Studien gewidmet werden [...].55
Die Zeitungsikonographie des 17. Jahrhunderts schreibt sich gegenüber der Vielzahl möglicher Aspekte in die Traditionslinie der römischen Fokussierung von Merkur als Handelsgott und Bote ein. Diese Perspektivierung im Kontext einer sowohl den politischen als auch den ökonomischen Erfolg suchenden Informations-Vernunft grenzt sich von der oftmals hoch verrätselten barocken Emblematik ab und stellt eine spezifische Aneignungsbewegung dar.56 Merkur erscheint auf den Zeitungen des 17. Jahrhunderts mit Flügelschuhen, Hut und Botenstab. Die einsinnige Lesart liegt nahe: Wie der Götterbote überbringt auch die Zeitung Botschaften ›von oben‹ an Untergebene. Bei der Übernahme von Merkurs Sinnbildlichkeit spielt natürlich eine Rolle, dass die privilegierten und zensierten Zeitungen vormehmlich auf institutionalisierten Postwegen verteilt werden und zunächst ihre wichtigsten Bezugskreise in politischen und merkantilen Zusammenhängen finden.57 Schon auf den Monatsschriften des späten 16. Jahrhunderts erscheint Merkur, und zwar in der mit Giovanni da Bolognas Statue Mercurio volante von 1580 berühmt gewordenen Pose eines leichtfüßig seinen Weg zurücklegenden Boten.58 Wenn Merkur auf den Titeln der Monatsschriften und später auch auf Zeitungstiteln nicht mehr vom Wind in die Luft geblasen wird (wie bei da Bolognas Statue), sondern auf der Weltkugel kunstvoll balancierend dahineilt, so konnotiert dies bereits die ›weltumspannende‹ Nachrichtentätigkeit der Zeitung.59 Dabei geht es mit den Periodika um den für Handel und Politik gleichermaßen wichtigen Aspekt, dass ein zügig erlangter Informationsvorsprung Zugewinn ver-
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Übers. nach Emblemata. Handbuch. Sp. 1768f. Vgl. dagegen die Verwendung der Ikonographie von Hermes-Merkur für die Enzyklopädien des frühen 18. Jahrhunderts, dazu Ulrich Johannes Schneider. Merkur und andere enzyklopädische Götter. In: Zeitschrift für Ideengeschichte I,2 (2007). S. 89–100. Vgl. dazu ausführlich Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 643ff. Vgl. Türr. Vom Gott zum Warenzeichen. S. 10; Weber. Götter-Both Mercurius. S. 8ff.; zur Übernahme in die Zeitungsikonographie vgl. Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 648f. Dies geschah auch bei französischen und englischen Zeitungen. Bei Letzteren dominierten »Merkur-Titel seit den 1640er Jahren so sehr [...], daß periodische Zeitungen summarisch als Mercuries bezeichnet wurden.« Ebd. S. 649. Vgl. zur Verwendung des Bildes auch bei anderen Druckwerken (in der Reiseliteratur, in den Briefstellern des späten 17. Jahrhunderts, in Utopien und Travestien von kosmischen Flugreisen) Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 653ff.; vgl. zu den Darstellungen von Merkur auf der Weltkugel in der Gebrauchsgraphik des 20. Jahrhunderts Türr. Vom Gott zum Warenzeichen.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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spricht.60 Die Zeitungstheorie des späteren 17. Jahrhunderts wird an diesen Aspekt anknüpfen, wenn sie das politisch-kluge Ausnützen von Wissensbeständen und Wissensvorsprüngen betont. Gemessen an den pragmatisch-nützlichen Dimensionen eines weltimmanenten Wissenstransfers ist die assoziative Nähe des dahineilenden Merkur zur unbeständigen, weltbeherrschenden Fortuna eher bedenklich. Fortuna balanciert auf der Weltkugel als Zeichen dafür, dass sie in der zufälligen Wendung der Geschicke die menschliche Vorsicht und die erfolgsorientierte Anwendung von Wissen jederzeit durchkreuzen kann. In diesem Sinne greift ein Zeitungsgedicht des späten 17. Jahrhunderts die Fortuna-Symbolik auf. Merkur kann hier nur berichten, was Fortuna vorsieht: Meins Fusses Grund ein Kugel ist // Bedeut des schwachen glükes List, // Wie bald hier Krieg / dort Frid / dort Leid // Auch Freud verendern unsre Zeit. // Und weil dann solches jedermann // Auch wüssen will so bald er kann // Damit es bald erfahren wird // Hab ich Windflügel mir begert // Mir aufgesezt ein Eisern Hut // Der mich vor Lügen schützen thut [...].61
Die Grenzsteine, die Merkur in griechisch-römischer Erbschaft an Wegscheiden und Kreuzungspunkten setzt und die ikonographisch in den Postmeilensäulen wieder aufgenommen werden,62 können wiederum gegen den Wankelmut von Fortuna ausgespielt werden. Im Zeichen von Hermes-Merkur geht es dann darum, mit Kunst und Wissen den neuzeitlichen Selbstentwurf zu wagen und in »deß Glücks gewalt vnd list« vernünftig einzugreifen, wie es das folgende Emblem des 16. Jahrhunderts zu verstehen gibt (Abb. 14). Die subscriptio lautet hier: Kunst hilfft der Natur. Gleich wies glück auff einer Kugel stat // Also Mercuri sein sitz hat // Auff dem Würffer dann dieser thut // Herrschet vber Kunst / sie vbers Gut // Wider deß Glücks gewalt vnd list // Die Kunst erfunden worden ist // Die hilfft offt dem Glück auff die Füß // Wan es ist arg böß mit verdrieß // Derhalben liebe jugend sey // Fleissig vnd lehrn gut Kunst dabey // Die dann mit sich tragen auff dem Rük // Vil nutzbarkeit vnd grosses Glück.63
60 61 62
63
Vgl. zu den Interdependenzen zwischen Warenverkehr, Boten-, Post- und Zeitungswesen Schilling. Bildpublizistik. S. 91ff. Nr. 1 der Ordinari Mitwochen-Zeitung von 1680, zit. n. Wölfle. Beiträge zu einer Geschichte. S. 101. Vgl. zur Wiederaufnahme der antiken Hermen in den Postmeilensäulen Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 647: »Die antiken Hermen bildeten beim Entwurf der Kursächsischen Postmeilensäulen ausdrücklich das Vorbild für die sich nach unten verjüngenden Halbmeilensteine.« Zeitgenössische Übersetzung aus dem Lateinischen, zit. n. Emblemata. Handbuch. Sp. 1797.
III. Famas Medium
82
Abbildung 14: Merkur gegen Fortuna64
64
Emblem aus Andreas Alciatus. Emblemata [...]. 1550; Abbildung nach Emblemata. Handbuch. Sp. 1796.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
83
Abbildung 15: Überlegenes Wissen (DiF I, Nr. 65) 65
65
Flugblatt, Kupferstich Nürnberg bleibet doch erhohet, drittes Viertel des 17. Jahrhunderts; vgl. die Beschreibung in DiF I. S. 146.
84
III. Famas Medium
Die Kunstfertigkeiten von Hermes werden auf diese Weise in den Dienst von Merkur gestellt, der für die Ökonomie des Kosten-Nutzen-Denkens wirbt. So ist ja gerade der Kaufmann neben dem politicus eines der neuen utilitaristischen Leitbilder des 17. Jahrhunderts, um für den Erwerb von weltlichem Wissen und individuelles Gewinnstreben zu werben.66 Beide Figuren werden so auch für die Einschätzung von Zeitungskommunikation herangezogen. Ein Stich des 17. Jahrhunderts verherrlicht beispielsweise den Triumph eines Kaufmanns aus Nürnberg (Abb. 15). Der Kaufmann als zentrale Figur des Stichs setzt seinen Fuß auf die besiegten Götter Merkur und Fortuna. Gerahmt wird er, nach Art personifizierter Tugenden, von »Gebet« »Auffrichtigkeit«, »Verstandt«, »Verschwigenheit«, »SprachErfarenheit« und »Freyheit«; diese Allegorien stehen ihrerseits auf soliden Postamenten. Die neue Identifikationsfigur für den welterschließenden Umgang mit Informationen obsiegt über die alte Konkurrenz der Götter Merkur und Fortuna. In der christlichen Überformung des weltlichen Könnens steht das merkantile Gedeihen noch unter Gottes Satzung: »Gottes Güte«, »Gottes Gnad« und »Gottes Hand«. Dies wird auf der Schriftrolle verkündet, die ein über der Szene schwebender Engel in seiner linken Hand hält. In seiner Rechten hält der Engel eine ausgeglichene Waage, in deren Schalen die Bücher »Debitor« und »Creditor« liegen.67 Von den Schulden, Gewinne und Kredite verzeichnenden Journalen des Kaufmanns führen semantische und konzeptuelle Wege zum Journalisieren im Postwesen und eigenständigen Kontrolltechniken: Wie der Reichsgeneralpostmeister in den 1620er Jahren einem Fürsten erklärte, konnte das Postwesen bloßer Herrschaftslogik nicht mehr unterworfen werden, weil diese große »Maschine« Sachzwängen unterlag, die sich aus der hohen Arbeitsteilung der Organisation ergaben, wo die einzelnen Stationen »wie die Glieder einer Kette« aneinanderhingen [...]. Dies erforderte die Disziplin von Betreibern und Benutzern gleichermaßen, etwa bei der permanenten Zeitkontrolle in den Stundenzetteln, die bei der Post zu der auch in Kaufmannskontoren üblichen Buchführung (Journal, Manual, Rechnungsbücher) hinzukam.68
Und so lässt sich schließlich auch das gelehrte Journal an die rationalistischen und merkantilen Horizonte von Erfolg und Kontrolle anschließen. Denn nach der Vorstellung früher Zeitungstheoretiker ziehen auch diese die Summe des Wissens in regelmäßigen Abständen. So führt es Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexikon Mitte des 18. Jahrhunderts aus:
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Die Rolle der Messrelationen als Informationsmedien für die Kaufleute untersucht Marina Stalljohan. Der Kaufmann im Fokus der Meßrelationen. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 115–134. Der Stich prägt im Horizont christlicher Allegorese einen Holzschnitt von Jost Amman von 1585 um, der ebenfalls eine Allegorie auf den Handel vorstellt; vgl. DiF I. S. 146. Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 668.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Tage-Buch, Acta diurno, Manuale, Journal ist insonderheit eines von der Kauffleute vornehmsten Handels-Büchern, in welche sie bey den Schluße des Monats, die in ihrer Handlung des Monats über paßirten Partheyen, künstlich nach Italienischen Stylo, oder in doppelten Posten formiren, einschreiben oder journalisiren [...]. Bey Formirung dieser Journals-Posten, welches wir journalisiren nennen, bestehet des Buchhalters seine gröste Wissenschaft in der glücklichen, fertigen und ordentlichen Unterscheidung des Schuldners und Gläubiger, als welche nach dem Italienischen Buchhalters-Stylo allezeit beysammen seyn müssen, wenn anders eine ordentliche Bilantz kommen soll. [...] Bey den Gelehrten ist ein Journal so viel, als eine Schrifft von etlichen wenigen Bogen, deren darinne enthaltene Materien und Abhandlungen, aus einer andern weitläufftigern Schrifft kurtz zusammen gezogen sind, und dem Leser dasjenige in beliebter Kürtze auf einmahl vor Augen stellen, was er hier nicht ohne viele Weitläufftigkeit, Mühe und Zeit durchlesen kan. Diese Tage-Bücher der Gelehrten werden auch Monatliche Schrifften oder Monats-Schrifften genennet, weil jeden Monat eine dergleichen Schrifft pflegt in dem Druck gegeben zu werden. Es sind dieselben eine recht schöne Erfindung. Die Alten haben fast gar nicht daran gedacht, und ist es wohl gewiß, daß in diesem Puncte die Neuern vieles vor ihnen voraus haben. Es ist in Wahrheit sehr bequem, auch recht vortheilhafftig in wenig Blättern dasjenige beysammen finden, was die Scribenten in vielen Bogen, oder wohl gar Alphabeten vorgetragen so wie es nicht weniger eine grosse Belustigung bey den hierbey vorkommenden Veränderungen und Neuigkeiten verursachet.69
Die Bilanzierung von weit her kommenden Gütern stellt die Summe des Erfolgs sicher, darin sind kaufmännisches und gelehrtes Tun homolog. Das Kapital des Wissens, über das die Monatsschriften der »Neuern« in jeder Lieferung aktuell Auskunft geben,70 wird auf dem Wege einer periodischen Portionierung weiter akkumuliert und schließlich in Jahresbänden in das gelehrte Archiv überführt. Gebrauch und Sammlung von Wissenswertem werden so zusammengeführt.71 Den Konnex zwischen Kaufmannsstand, den Post- und Botendiensten im Nachrichtenverkehr und der damit einhergehenden Vermessung und Markierung der Welt durch Grenzsteine des Wissens hält auch ein Kupferstich von 1755 fest (Abb. 16). Auf metonymische Weise ist Merkur hier in den Postmeilensteinen in der unteren Bildhälfte präsent. Selbstentwurf und Standesbewusstsein des Kaufmanns im Bildzentrum verdanken sich dem Wissensnetz, das Handel und Informationstransfer herstellen.
69 70
71
[Anonym.] Art. »Tage-Buch«. In: Johann Heinrich Zedler. Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 41. Graz 21997. Sp. 1474f. Hier werden die Querelles zwischen Antiqui und Moderni beiläufig gestreift. In der zeitgenössischen Literatur zum Postwesen wird diese neue Errungenschaft als Fortschritt gegenüber dem römischen cursus publicus diskutiert; vgl. Behringer. Im Zeichen des Merkur. S. 655. Vgl. dazu Kap. IV.5 der vorliegenden Studie.
III. Famas Medium
86
Abbildung 16: Im Zentrum der Welt-Kommunikation72 72
Kupferstich von Johann Martin und Johann Benedikt Bernigeroth, Leipzig 1755; Reproduktion nach Als die Post noch Zeitung machte. S. 61.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Abbildung 17: Was mir Wird zur See und Land angebracht, mach ich bekandt (DZ II, 203)73
73
Titelblatt der Zeitung Nordischer Mercurius. Hamburg 1698; Kommentar in DZ I. S. 184: »Der ›Nordische Mercurius‹, eine der markantesten publizistischen Leistungen des 17. Jahrhunderts in Deutschland, ist das Werk Georg Greflingers (um 1618– 1677).«
74
Titelblatt der Zeitung Ordinari Zeitung. München 1628.
Abbildung 18: Rechte Ordinari Zeitung (DZ II, 72)74
88 III. Famas Medium
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Gegenüber gelehrter Emblematik und Besitz demonstrierender Standesallegorie trägt die Zeitungsikonographie nun aber auch dazu bei, Merkur in der generellen Funktion des Boten zu popularisieren. Die Zeitung als Medium des Wissens, das unter dem Zeichen von Merkur seine Arbeit aufnimmt, arbeitet darin einer aufklärerischen Rationalität zu, die barocke Vielsinnigkeit abzustreifen gedenkt. Mit Merkur wird gerade diese Botschaft des Mediums Zeitung lesbar: Informationen zu überbringen und dabei so zu kodieren, dass diese leichter lesbar ›für alle‹ werden (Abb. 17). Im Kontext der Zeitungskommunikation löst sich Merkur historisch gesehen so ein weiteres Mal von Hermes ab, wenn er als Sinnbild eines Mediums fungiert, dessen Bilder und Texte gerade nicht mehr der gebildeten Verrätselung oder gar ›hermetischen‹ Verschlüsselung für Eingeweihte dienen.75 Doch kann Merkur auch in popularisierter Form die unverständigen Plauderer mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen bringen, wie auf Abbildung 18 ersichtlich.76 Als Herrschaftstechnik bleibt das publizistische Rede- und Schreibrecht in den Zeitungen in die Koordinaten kontrollierter Nachrichtenwege eingebunden. So wollen es zumindest die offi ziellen Zugriffe, die die Zeitungs- und Informationsvernunft politisch oder anders maßregeln. Und auch das Selbstbild, das die Zeitungen im Zeichen des ›anzeigenden‹ Merkur als ihr kommunikatives Leitbild entwerfen, zielt auf die »rechte« Zeitung und deren Formen. Das mit bedeutendste Signifi kat nicht nur im Erfahrungshaushalt des 17. Jahrhunderts ist die Wendung aller Geschicke zum Glück des politischen Erfolgs und zum Friedenschluss. Die schnelle Ausbreitung gültiger Sieges- und zugleich Friedensbotschaften ist unbestreitbar die kollektiv ›nützlichste‹ Tat eines funktionierenden Nachrichtensystems. Ein in der Forschung gut bekanntes Flugblatt bezieht sich auf den Friedensschluss von 1648 in Münster. Es stellt aus, wie gelingende Nachrichtenzirkulation und zentrales Signifi kat in einem geordneten öffentlichen Informationswesen auf ideale Weise koinzidieren (Abb. 19).
75
76
Hermes Trismegistos ist der griechische Name im sog. Corpus Hermeticum (1. Jhd. n. Chr.) für den ägyptischen Gott Thot, »der als Gott der Schrift und der Zahlen und der Bücher galt.« O. Gigon. Art. »Hermes Trismegistos«. In: Lexikon der alten Welt. Bd. 3. Sp. 1271. Die Geste mit dem Zeigefinger, dem Index, geht auf die Battus-Episode in Ovids Metamorphosen zurück, wo der Hirte Battus von Merkur für seine Schwatzhaftigkeit, die zugleich den Verrat eines Geheimnisses darstellt, bestraft wird. Vgl. Ovid. Metamorphosen. Lateinisch – Deutsch. In dt. Hexameter übertr. von Erich Rösch. Hg. von Niklas Holzberg. Darmstadt 1996. II,687–707.
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Abbildung 19: Freud- und Friedenbringender Postreuter (DiF IV, Nr. 254)77
77
Flugblatt, Holzschnitt Neuer Auß Münster vom 25. des Weinmonats, o.O. 1648.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Die Popularität, die der das Ende des langen Krieges verkündenden Friedensbotschaft zukommt, wird auf dem Blatt in eine Himmel und Erde verknüpfende Kommunikationskette eingespannt. Merkur reicht den Brief mit der Aufschrift »Pax« hinunter an den Postillion. Dessen Horn alludiert Famas Posaunen, von denen nur diejenige zu sehen ist, die den Ruhm des Friedens verkündet: Im Vordergrund der Graphik sprengt der Postillion in zeitgenössischem Kostüm auf seinem Pferd vorüber. Mit einem kleinen Posthorn, das er an den Mund gesetzt hat, kündigt er seine Ankunft an; ein Schild mit dem Reichsadler auf seiner Jacke läßt seinen Auftrag in höchster Mission erkennen. Hinter ihm in einiger Entfernung blicken ihm zwei Männer vor einem Haus nach, an dem eine Fahne mit dem Reichsadler ausgehängt ist. Verweist dieses heraldische Zeichen auf Münster als den Ort des Friedensschlusses, so führt der Weg des Postillions in eine Gegend, die, wie das zerbrochene Kriegsgerät unter dem Pferd deutlich macht, noch unter den Nachwirkungen des beendeten Krieges zu leiden hat. Links am Horizont erhebt sich ein Kirchturm, wohl der Turm von St. Stephan, mit der Beischrift WIEN, die anderen Hauptstädte der friedenschließenden Staaten STOCKHOLM und PARIS werden über das Meer durch ein Schiff mit der Botschaft FRIED auf einer Fahne erreicht. Am Himmel schwebt links über den Wolken die gekrönte und geflügelte FAMA mit einer Posaune und dem Reichsadler auf der angehängten Fahne, in der Linken hält sie eine Standarte und zwei gekreuzte Ölzweige. Rechts eilt vom Himmel Merkur mit Äskulapstab, Flügelhaube und -schuhen daher und überbringt ein mit PAX beschriftetes Schreiben. (DiF IV, 336)
Der Informationstransfer wiederholt sich in den irdischen Substituten von Merkur und Fama, den berittenen Postillionen und den Boten zu Fuß. Auch ihre Körper sind Zeichen der Botschaftsfunktion. Diese Boten haben gegenüber den Kolporteuren von Neuen Zeitungen abgestreift, was die Eindeutigkeit der Nachricht in ihrer Vermittlung stören könnte: die vielen Zettel mit unterschiedlichen Texten und Bildern, die zu diversen Zwecken bei differenten Adressaten zirkulieren. Offizielle Post- und Zeitungsboten haben bei kollektiven Aufgaben anderes zu tun: Diejenigen, die zu Fuß unterwegs sind, tragen den Botenstab, der Postreiter bläst in sein Horn, und für Briefe und weitere Nachrichtenmedien bleibt jeweils nur noch eine Hand frei. Diese reduzierte Botenikonographie verträgt sich mit der zurechtgerückten Rationalität der Zeitung und ihrer einsinnigen Bestimmung als ›Nachrichtenmedium‹ (Abb. 20). Freilich gelingt die Abstreifung überflüssiger Zeichen, die Begrenzung des Deutungsspielraums von Texten und Bildern, die kontrollierte Produktion und Rezeption von Informationen immer nur ansatzweise. Und es wäre eine hermeneutische Verkürzung, die Formen und Zeichen der Zeitung auf die Funktion eines ›reinen‹ Informationsmediums festzulegen, dessen Sinn allein darin aufginge, ›klare‹ und eindeutige Botschaften zu verbreiten. Auch hinsichtlich der schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrunderts einsetzenden Ausdifferenzierungen des Wissenstyps Zeitung scheint es nicht angebracht, die Botschaft des Mediums Zeitung allein in der Informationspflicht aufgehen zu lassen. Und so bricht die Zeitung, die zuerst über das Textgenre der Nachricht ihr repräsentatives öffentliches Profil gewinnt, den engen Funktionalismus des ›benachrichtigenden Umlaufs‹ von Wissen von selbst auf. Die Botschaften, die dieses Medium über sich selbst in
III. Famas Medium
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Abbildung 20: Der Bote der Zeitung (DZ II, 86)78 78
Titelblatt einer Wochenzeitung Weitere Wochentliche Zeitungen/auß Pommern, o. O. 1630. Dieser Botentypus mit Mantel, Hut, Stab und Blatt/Brief/Zeitung in der Hand findet sich auf vielen Titelblättern.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Texten und Bildern verbreitet, finden immer im Horizont vermischter Beiträge zum Wissen statt. Und diese sind wiederum nicht allein auf den Transfer von solchen Informationen festgelegt, die vorab bestimmbare Handlungsfolgen nach sich ziehen. Sondern es sind immer auch die am Wege der Kommunikation liegenden Abschweifungen oder auch Falschmeldung, die das rationalistische Selbstbild der Zeitung mit dieser selbst unterlaufen können. Das einseitige Leitbild der Zeitung als Nachrichtenmedium tendiert zugleich dazu, Unterhaltungsbedürfnisse, die die Zeitungen auch befriedigen, zu verdrängen. Gegenläufig kommen ja schon die frühen Zeitungen diesen entgegen. Entsprechend kommt in der satirischen Kommentierung des Leitbilds ›Nachrichtenmedium‹ manches rational Abgespaltene der Druckkultur zurück. Die aus der Flugblattpublizistik bekannte Charaktersatire beschuldigt auch den Zeitungsboten zahlreicher Versäumnisse auf seinem Weg oder bezichtigt ihn der Erfindung von Nachrichten. An der prominenten Stelle des Zeitungstitels wird es allerdings vermieden, solche Botenfehltritte darzustellen. Dies zeigt sich besonders auch daran, dass die Figur des hinkenden Boten im 17. Jahrhundert hier nicht anzutreffen ist. Dessen topische Nachträglichkeit zirkuliert dagegen andernorts als populäres Wissen über das Flugblatt- und Zeitungswesen.79 Auch zum Kalenderwesen gehört die Figur des hinkenden Boten seit dem frühen 17. Jahrhundert; sie hat sich hier bis ins 19. Jahrhundert gehalten.80 Der unversehrte Körper des vorauseilenden Boten zu Fuß oder zu Pferde wird im versehrten Körper des Hinkenden gegenläufig gespiegelt. Der moralische Deutungsspielraum öffnet sich in der Beziehung beider Figuren: Fehl geht der, der allzu schnell seinen Augen und Ohren vertraut und Gehörtes, Gesehenes und Geglaubtes als gesichertes Wissen weiterträgt; auch die Nächsten, die ihm ebenso leichtgläubig folgen, sind am vorläufigen Ende einer solchen Kommunikationskette die Getäuschten. Die Konfrontation vorschnell übermittelter Sieges- oder Niederlagenberichte mit nachträglicher Richtigstellung ist ein Topos der antiken Geschichtsschreibung. Dabei kann der Bote zum Opfer seiner Nachrichtenüber-
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So etwa in einem Flugblattpaar von 1632 (DiF II, Nr. 280 und Nr. 281), das dem »jauchtzende[n] Bothe[n] / So den 6. Septembris [...] abgangen« und der mit den »Erfolge[n] der kaiserlichen Truppen« prahlt, den »hinckende[n] Bothe[n] / So den 7. Septembris [...] abgangen« zur Seite stellt. Vgl. zu diesen beiden Flugblättern auch Achim Hölter. Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1995. S. 356ff. Ein Realbezug der hinkenden Boten zu den Lebensgeschichten umherziehender Kriegsinvaliden ist nicht unwahrscheinlich, da diese sich auch als Flugblattverkäufer und fliegende Händler betätigten, vgl. Hölter. Ebd.; vgl. zu dieser populären Figur auch als Erzähler Hans-Jürgen Lüsebrink/York-Gothart Mix. Vom ›Messager boiteux‹ zum ›Poor Richard‹: Populäre Erzählerfiguren in Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der ›Hinkende Bote‹ / ›Messager boiteux‹. Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch. Hg. von Susanne Greilich und Y.-G. Mix. Berlin/New York 2006. S. 178–201.
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mittlung werden.81 Der im 17. Jahrhundert für das Zeitungswesen thematisierte Kontrast zwischen übereilter Meldung, meist durch den Reiter, und nachfolgender Richtigstellung durch den hinkenden Boten greift diesen Topos auf. Mit den Unzuverlässigkeiten des Nachrichtengewerbes sind aber auch die konkreten Erfahrungen von Falschmeldungen verbunden, die sich auf den (trotz aller Kontrolle) unsicheren Wegen der Nachrichtenbeschaffung und -verbreitung einstellen.82 In der temporal strukturierten Beziehung von Übereilung und Nachträglichkeit wird das Glück, die Wahrheit zu besitzen, mit einem von der (schlechten) Erfahrung gezeichneten Besser-Wissen konfrontiert. Anders als der strahlende Merkur oder der schnelle Reiter verkörpert der hinkende Bote das irdische Stigma einer in den Körper eingeschriebenen persönlichen Erfahrung. Deshalb kann mit dieser Figur die Nachrichtenkolportage als übereilt und zugleich falsch persifliert werden. Der gezeichnete Körper des Hinkenden steht in dieser Konstellation ebenfalls für den analogischen Wahrheitsdiskurs der Zeichengebung ein, die auf die deutliche Unterscheidung zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ setzt.83 Die topische Konstellation der Botenkörper lässt sich damit moralisch-exemplarisch für den Sinn einer jeden, auf der Zeitachse sich fortbewegenden periodischen Zeitungsdistribution ausdeuten, und zwar, weil diese immer wieder beansprucht, ›neue‹ und zugleich ›wahre‹ Geschichten zu kolportieren. Besonders verwerflich erscheint der Irrtum gerade bei den gedruckten Nachrichten der Periodika, weil ihr öffentlicher Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit regelmäßig erfolgt. Zudem wird mit ihnen die kollektive Teilhabe am ›Falschen‹ denkbar. »Der flüchtige Mercurio mit seinem hinckigten Bothen passiret durch die gantze Welt Im Jahr 1678«, steht bei dem folgenden Flugblatt auf der Fahne, die an Merkurs Heroldstab befestigt ist (Abb. 21). Die sentenzhafte Aussage am Ort eines heraldischen Zeichens fasst die Erfahrung der Differenz zwischen Wahrheit und Lüge moralisch zusammen. Der teuflische Hinkefuß im Hintergrund verstärkt die Tendenz des Blattes, in dessen Hintergrund links eine Stadt in Flammen aufgeht, rechts eine unversehrte Stadt zu sehen ist. Das beigegebene Sprichwort argumentiert mit der Einsicht, die aus der ruinösen, dem nachkommenden Wissen sich verdankenden Erfahrung kommt: »Wan das Schiff bricht so siht man Ia das nicht reht gefahren ist.« In der Moralistik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts verweist die Konfrontation des schnellen und 81 82 83
Etwa der Barbier, der von der Niederlage der athenischen Flotte bei Syrakus in Athen berichtete; vgl. zu dieser Geschichte in antiken Texten Neubauer. Fama. S. 19ff. Vgl. die Beispiele, die Schottenloher. Flugblatt und Zeitung. S. 250–252, aufzählt, und Hölter. Die Invaliden. S. 357ff. Diese Konstellation kann auch zugunsten des unversehrten Körpers des Herrschers ausgelegt werden; vgl. das Flugblatt Polnische Victori Victori Victori von 1656 (DiF II, Nr. 338): Hier entfacht in einer Simultandarstellung einerseits ein hinkender Bote ein lügenhaftes Strohfeuer mit seinem »Lügensack« über einen polnischen Sieg über die Schweden während auf der anderen Bildseite, »auf dem Gefährt der Wahrheit«, Karl X. Gustav von Schweden (1622–1660) über den am Boden liegenden »lügen-Krähmer« (ebd. S. 588) triumphiert.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
Abbildung 21: Die Wahrheit kommt nach84
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Flugblatt, Kupferstich, 1678; Abb. nach Hölter. Die Invaliden. S. 360.
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des hinkenden Boten auf die Denkfigur der Zeitlichkeit menschlichen Fürwahrhaltens, das angesichts der ›höheren‹ Orts beschlossenen Wahrheit seine Irrtümer nur verspätet erkennt.85 Das Zeitmaß, das zwischen Irrtum und Erkenntnis liegt, kann dabei auf unbestimmte Zeiträume, im Prinzip bis zur göttlichen Klärung aller Weltdinge am Ende der Welt gedehnt werden.86 Der moralischen Didaxe, die sich mit dieser exemplarischen Konstellation verbindet, geht es dabei ihrerseits um der Zeit entzogenes Meta-Wissen, das eine Sinnbeziehung zwischen Vorher und Nachher stiftet. Der Topos von der Wahrheit als Tochter der Zeit kann so in die Deutungsspielräume, die sich mit periodischen Zeitungsnachrichten ergeben, die nun laufend ›nachkommen‹, eingebunden werden. In der populären Tradition einer moralischen Aufklärung über die Gefahren der vorschnellen Kommunikation steht auch ein Zeitungslied um 1750, das die Akteure des schnellen Post- und Zeitungswesen vorführt (Abb. 22). Das dem Bild angefügte vielstimmige Gespräch zwischen »voreillige[m] Courier«, »hinkendem Both«, »Lugen Schmid« und dem seine Vernunft einbringenden »Bürger« zeigt dabei im Austausch topischer Argumente, dass die fortgesetzte Unterscheidung zwischen Informationen mit Wirklichkeitsreferenz und Fiktionen in sehr komplexen Szenarien von Kommunikation getroffen wird. Courier) Lauf, Klepper / was du kanst, die Zeitung auszusagen // und was sich wichtiges hat eben zugetragen, // Es wart auf den Courier bereits schon jedermann, // weil keiner so geschwind als ich jetzt reithen kann. Bürger) Nicht allzu schnell, mein Freund! du kanst dich übereilen // indem dein Secretar dir etwas kann ertheilen, // so noch ganz ungewiss und von ihm selbst erdacht, // dadurch da vor der Welt wirst lächerlich gemacht. Courier) Gewiss mein Freund! Ich muss die Sache selbst verstehen, // du wirst, was ich dir sag, als Wahrheit bald einsehen, // glaub mir, indessen nur, was ich dir zeige an, // ich bin ein solcher Man, der niemahl lügen kan. Bürger) Du hast, man weist es wohl schon offtermahl gelogen, // und durch die schnelle Post auch andre schon betrogen. // ich sehe hinter dir den Bothen kommen an, // doch weil er ziemlich hinckt sehr langsam kommen kann. hinck. Both) Gemach, Courrier! gemach, du bist zu schnell gelauffen, // ach lass dein mattes Pferd ein wenig doch verschnauffen: // die Nachricht glaubt kein Mensch die du vielleicht erschnappt, // weil man schon etlichmahl auf Lügen dich ertappt. Schmid) Glaub mir geliebter Freund die Sach ist nicht erdichtet // Mein Werckstatt die du sihst ist ganz neu aufgerichtet // der Schmidt ist ja bekant der Zeit von jederman // der, wan es schon nicht wahr doch imer schmiden kann.
85 86
Diese Warnung für die Leichtgläubigen konnte auch über andere Figuren vermittelt werden; vgl. etwa die Figur des Sih Dich für in DiF II, Nr. 239. Bei einer Flugschrift von 1590 trifft beispielsweise der Reiter mit der Nachricht ein Jahr vor dem hinkenden Boten ein; vgl. Hölter. Die Invaliden. S. 361. Hölter merkt für die Darstellungen des hinkenden Boten im 17. Jahrhundert an, dass die »Verspätung obligatorisch« ist, nicht aber, dass es sich notwendig um ›schlechte‹ Nachrichten handelt.
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Kupferstich Der allzu voreillige Courrier sambt seinem Lugen Schmid. Johann Martin Will, um 1750; Abbildung nach Als die Post noch Zeitung machte. S. 57.
Abbildung 22: Vorschnelle Lügenschmiede87
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Die Satire auf die Mehrdeutigkeiten von kolportiertem Wissen stellt den rhetorischen Aufwand von Sprechern aus, die ihren Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch in den Netzwerken und Tableaus der Kommunikation behaupten wollen. Der Leser und Betrachter des Blattes soll sich wohl in der Rolle des Bürgers sehen, der hier als Beobachter der Konstellation zwischen schnellen und langsamen Boten auftritt und weiß, dass wahrheitsfähiges Wissen in der Zeit entsteht und von Nachträglichkeit gezeichnet ist. Die überhistorische Moral des vielstimmigen Gesprächs zieht sich damit in die Metakommunikation über die Generierung von Wahrheitsansprüchen zurück. Das Gespräch über die Herstellung von Wissen inszeniert eine zeittypische Perspektive selbstbezüglicher Aufklärung, die ihre eigenen Ansprüche kommunikativ zu verhandeln beginnt. Die exemplarische Konstellation von vorauseilendem und nachkommendem Boten verweist dabei strukturell auf die Verhältnisse in der Nachrichtenkommunikation. Weil die Beziehung der Boten zeitlich strukturiert ist, kann sie fast umstandslos auf die periodischen Zeitungen appliziert werden. Denn hier kann immer eine nachfolgende Meldung die Wahrheitsfähigkeit vorausgegangener Informationen überprüfen und ihren ehemaligen Status als wahrhaftige ›Nachricht‹ unter Umständen zu Fall bringen. Im Sinne einer genuinen Technologie der Zeitung produziert diese in einer regelmäßigen Kommunikationskette aktuelle Versionen von Geschichten, die sich laufend verändern. Damit installieren die neuen Periodika nachhaltig die Dimension zukunftsoffener Möglichkeiten im Geschichtsverlauf. Dies wird innerhalb der Zeitungstheorie als Überbietungsleistung einer ersten durch eine zweite Nachricht zum Thema gemacht. Zwischen geringfügigen Modifikationen vorausgehender Nachrichten und weitreichender Neudeutung von Sinnzusammenhängen liegt der neue Spielraum einer periodischen Wahrheitsproduktion, der sich ›zwischen‹ den dokumentierenden Buchstaben von ›Nachrichten‹ auftut. In der zeitlich strukturierten Spannung zwischen einem vergangenen Vorher und einem aktuellen Nachher, dem ein künftiges Nächstes in der Zeitung regelmäßig auf den Fuß folgt, trägt die Zeitung so zur Ausprägung des modernen Deutungsmusters ›Verzeitlichung‹ bei.88 Ein Tableau auf einem Kalendertitelblatt von 1728 führt ebenfalls die zeitungstypischen Agenten als co-präsentes Ensemble vor: Schiff, dahersprengende Boten, Post- und Reisekutsche, hinkende Boten, Merkur und Fama ergeben die offene Summe eines Widerstreits, der sich mit den Transporteuren und Wegen von Nachrichten ergibt (Abb. 23).
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Vgl. zum Deutungsspielraum, der sich mit der nachhinkenden Wahrheit verbindet, Hedwig Pompe. Botenstoffe – Zeitung, Archiv, Umlauf. In: Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung. Hg. von Hedwig Pompe und Leander Scholz. Köln 2002. S. 121–154; vgl. auch die Hinweise, die Hölter. Die Invaliden. S. 359, zur Figur des humpelnden Chronos gibt.
III.2. Botschafter der zirkulierenden Information: Merkur und Gefolgsleute
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Abbildung 23: Ein prekärer Kommunikationsverbund89
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Kalendertitelblatt, o.O. 1728; Abb. nach Schottenloher. Flugblatt und Zeitung. S. 251. Vgl. zu diesem Blatt auch Hedwig Pompe. Zeitung/Kommunikation. Zur Rekonfiguration von Wissen. In: Gelehrte Kommunikation. S. 157–321. Hier S. 190ff.
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Das kurze Zeitungslied lautet hier: Was der Mercurius vor Nachricht mit gebracht // Was selbiger erzehlte von vielen WunderDingen // Das wird durch die Posaun der Fama kund gemacht; // Gott gebe, dass Sie uns mag gute Posten bringen // Und dass wenn wir von ihr was uns gefällt vernommen, // Kein hinckender schlimmer Bot erst hinten nach mag kommen.
Hier begleiten wiederum Zettel, Briefschaften und Zeitungen die geläufigen Personifikationen der Kommunikationszirkulation. Im Medium des Bildes werden so die verschiedenen Medien der Nachrichtenschrift apostrophiert; das Bild selbst demonstriert seine Zugehörigkeit zur Kultur der ›Schriftlichkeit‹. Die fliegende Fama hält hier an ihrer einen Posaune eine Fahne, auf der steht: »Das aller Merckwürdigste in Europa«; Merkur sitzt kontrastierend in einer über Pfeiler und Vorhang ausgewiesenen soliden Herrschaftsarchitektur. Er blickt zu Fama empor und hält in der rechten Hand Schriftstücke der politischen Arkankommunikation, »La Clef du Cabinet«, in der andern gelehrte »Lettres Historiques«. Zu Merkurs Füßen verstreut liegen weitere Zeitungen mit bekannten Titeln wie Mercur historique und Journal des Sçavans. Auch hängt ein Blatt mit der Aufschrift »Fama« aus der Kiste, auf der Merkur sitzt. Fama komplettiert nicht nur auf diesem Kalendertitelblatt den Verbund, der in Flugblattpublizistik und periodischem Zeitungswesen zwischen Himmel und Erde die Welt der Kommunikation betrifft. Sie erscheint wie Merkur auffällig häufig auf den Zeitungstitelblättern des 17. Jahrhunderts. Dabei lenkt Fama die Aufmerksamkeit nicht nur auf die vorbildlichen Seiten der Zeitungskommunikation, die Macht und Vernunft demonstrieren, sondern verweist im Unterschied zu Merkur viel deutlicher auf die prekären Verhältnisse, die zirkulierendes Wissen erzeugt. Als Personifikation von Ruhm und Gerücht gehört Fama zum Kernbestand solcher mythologisch-allegorischer Figuren, die immer auch eine Kehrseite mit sich führen wie etwa ›Fortuna‹ oder ›Frau Welt‹. So werden die doppelsinnigen Botschaften der Zeitung auch über Famas Wirken ausgelotet, sei es in barocker Allegorik, sei es im frühaufklärerischen Diskurs, der eine genuine Zeitungstheorie voranbringt. Fama entpuppt sich darin als eine Widersacherin von Merkur und stellt die Idee allzeit gerichteter und beherrschbarer Nachrichtenvermittlung nachhaltig in Frage.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame) Die Zeitungstitel des 17. Jahrhunderts werben außer mit Merkur und den Postboten auch mit der Figur der Fama für sich. So trägt etwa die gekrönte und geflügelte Famavignette des folgenden Titelblatts von 1676 ein Schriftband mit der Aufschrift »Relation« (Abb. 24). Dieses Kennwort wird mit dem beigestellten »Relata refero« (›ich berichte eine Erzählung‹) und im Zeitungstitel Relationes tautologisch vervielfacht.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
Abbildung 24: Fama berichtet mit der Zeitung (DZ II, 226) 90 90
Titelblatt der Zeitung Extraordinaires Relationes. Kopenhagen 1676.
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III. Famas Medium
Die Figur der Fama ruft wohl stärker als andere Vermittler ins Gedächtnis, dass ein von den Zeitungen unterstützter Wissenstransfer von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und vice versa verläuft und dabei viele Wege nimmt. Die Zeitung als Famas Medium gesehen übernimmt dabei deren Ambivalenzen. So bewahrt die Zeitung im Gedächtnis der Druckschrift etwas von der Herkunft aller Sprache aus der Mündlichkeit auf, wenn sie selbst den Aktionsradius zwischen Ruhm und Gerücht ausschreitet. Dabei konkurriert das gedruckte Periodikum selbst mit mündlicher Kommunikation. Aber in der Unterscheidung der Zeitung von anderen Erzeugnissen der Druckschriftlichkeit gerät Erstere immer wieder in eine verdächtige Nähe zu Szenen der Mündlichkeit. Fama in eine argumentative und strukturelle Beziehung zur Zeitung und den davon betroffenen Kommunikationen zu bringen, öffnet den Blick für Konstellationen, die über Merkur nicht so leicht zu thematisieren sind, auch wenn dessen eigene Flüchtigkeit, Eile, Neugier, Lügenhaftigkeit, sein Umherschweifen und seine Gewitztheit mit manchen Eigenschaften der personifizierten Fama übereinstimmen. Die Referenztexte und -bilder für ein Kommunikationsmodell Fama führen bis in die Antike zurück.91 Ovids Metamorphosen und Vergils Aeneis sind hier die klassischen Grundtexte, die in zahlreichen neuzeitlichen Fama-Konzepten weiter gewirkt haben und an die auch noch die Zeitungstheorie des späten 17. Jahrhunderts anschließt. Während in Ovids Dichtung Famas Haus Gestalt gewinnt, erfindet Vergil das Bild eines fabelhaft-monströsen Wesens, das diejenigen in Schrecken versetzt, die seiner Wirkungsmacht nicht gewachsen sind. Der Klangraum gesprochener Sprache und die personifizierte Stimme verweben beide Ursprünge und Effekte von Kommunikation. Fama als Konzept für Kommunikation überhaupt verstanden findet deshalb auch leicht Eingang in die Zeitungstheorie, die die Formen und Effekte des Periodikums und der Zeitungskommunikation unter diesem Namen reflektiert. Damit ist aber auch die zentrale These der vorliegenden Studie angesprochen, dass die Zeitung nicht nur als Merkurs, sondern auch als ›Famas Medium‹ figuriert, dessen historischer Kontextuierung in diesem und den folgenden Kapiteln nachgegangen wird. Zunächst diskutiere ich deshalb vergleichend die Fama-Konzepte bei Ovid und Vergil sowie einige neuzeitliche Stellungnahmen zur öffentlichen Fama, die in der Funktion von Rumor gesehen wird. Die in historischen Situationen erfahrene Macht der kollektiven Stimmerhebung spielt immer wieder in die theoretischen Vermessungen der Zeitung mit hinein. Eine besondere Stellung kommt in meinen Über-
91
Vgl. für die griechisch-römische Antike und ihre Grundtexte zu Fama Dorothee Gall. Monstrum horrendum ingens – Konzeptionen der fama in der griechischen und römischen Literatur. In: Die Kommunikation der Gerüchte. Hg. von Jürgen Brokoff, Jürgen Fohrmann, Hedwig Pompe und Brigitte Weingart. Göttingen 2007. S. 24–43; zur Geschichte der Fama vgl. Neubauer. Fama; für eine medienwissenschaftliche Lektüre von Fama Georg Stanitzek. Fama/Musenkette. Zwei klassische Probleme der Literaturwissenschaft mit den »Medien«. In: Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften. Hg. von Georg Stanitzek und Wilhelm Vosskamp. Köln 2001. S. 135–150.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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legungen dann der spätmittelalterlichen Dichtung von Geoffrey Chaucer, House of Fame, zu. Denn in dieser exzeptionellen Dichtung des späten Mittelalters werden Famas Haus und die personifizierte Fama in einer komplexen Allegorie miteinander verbunden. Es geht in Chaucers Versepos auf umfassende Weise um die Bedingungen, Möglichkeiten und Materialitäten von Kommunikationen, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stattfinden und als Augen-, Ohren-, Schrift- und Bildzeugnisse im Auftrag von Fama operieren. Chaucers House of Fame erzählt über die Konkurrenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, aber auch von ihrem Mit- und Ineinander. Und so lässt sich der Text auch selbstbezüglich als Kommentar zu Bedingungen seiner eigenen medialen und kommunikativen Möglichkeiten im späten 14. Jahrhundert lesen. Die über Chaucers Dichtung zu gewinnenden und mit Fama zu verbindenden Kommunikationsmodelle stellen einen systematischen Einsatzpunkt zur Verfügung, um meinerseits die Zeitung als Famas Medium anzusprechen. Damit werden zugleich auch die Zeitungstheorie und das Zeitungswissen seit dem späten 17. Jahrhundert in ihren eigenen historischen Unterscheidungen beobachtbar, mit denen die Zeitung in Konkurrenzbeziehung zu anderen Medien und Formen des drucktechnischen Zeitalters gesetzt wird. Denn an den in der Zeitungstheorie vorgenommenen historischen Markierungen wird zu zeigen sein, dass es keine Angelegenheit von einfachen Abgrenzungen gewesen ist, den Ort der Zeitung als Medium zu bestimmen. Sondern was Zeitungstheorie bereits seit ihren Anfängen diskursiv unternimmt, bewegt sich fortgesetzt in einer Fluktuation von dreiwertig differenzierenden Relationen, wie etwa derjenigen zwischen Text, Zeitung und Buch. Das macht frühe Zeitungstheorie als Medien- und Kommunikationswissen für heutige medien- und kommunikationstheoretische Überlegungen erneut interessant. Dies lässt sich über ein Konzept Fama herausarbeiten, mit dem schon die historische Zeitungstheorie konkurrierende Rationalisierungsstrategien, die sich beispielsweise mit dem Kommunikationsmodell Merkur verbinden, unterläuft. Versteht man das von Ovid in den Metamorphosen entworfene Haus der Fama sinnbildlich als ein Haus der Kommunikation, so erbt das Kommunikationsmedium Zeitung vieles aus diesem Haus. Auch bei der Zeitung kommen typischerweise viele Stimmen nebeneinander zum Zuge, sind Folge von anderen Kommunikaten und stellen Anschlussmöglichkeiten nach allen Seiten zur Verfügung. Die personifizierte Fama, die auf Zeitungstiteln des 17. Jahrhunderts erscheint, spielt ihrerseits auf Aspekte dynamischer Kommunikationsverläufe an. Ihre Gestaltung ist an Vergils traditionsstiftende Beschreibung von Fama angelehnt: ein geflügeltes weibliches Wesen, das auf seinem Gewand Augen, Münder und Ohren zeigt. So etwa bei folgendem Zeitungstitel von 1694 (Abb. 25):
III. Famas Medium
104
Abbildung 25: Fama tönt (DZ II, 243).92
92
Titelblatt der Zeitung Die Europäische [Fama]. Altona/Hamburg 1694. Bei der zunächst titelblattlosen, zuerst Altonaische Relation, dann Europäische Relation und später Europäische genannten Zeitung in unterschiedlicher Aufmachung und Erscheinungsweise handelt es sich um die älteste Altonaer Zeitung, die seit 1673 erschien (vgl. DZ I. S. 209).
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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Der mit textuellen und ikonographischen Elementen werbende Titel der Zeitung Die Europäische spielt dabei auf freimütige Weise mit dem Klangraum gesprochener Sprache. Deren Spur eröffnet sich beim Lesen von Text und Bild: »Die Europäische« steht zu lesen; »Fama« wäre laut sprechend oder innerlich lesend zu ergänzen, wenn die Pictura, die Sehen und Lesen zusammenzieht, nicht als leerer Schmuck, sondern sinnbezogen gedeutet wird. Im Wechsel vom Lesen der Schrift zum Sehen des Bildes und umgekehrt entsteht hier die Leerstelle der Mündlichkeit. Ihr Echo in der gedruckten Sprache zieht eine Schriftlichkeit und Bildlichkeit einbeziehende Spur der Kommunikation, die auf die generelle Anwie Abwesenheit der gesprochenenen in der gedruckten Sprache verweist. Über den imaginären Wortklang, zu dem die Pictura den Leser als Hörer herausfordert, wird eine mediale Allusion auf Famas Haus in Ovids Metamorphosen inszeniert. Zwischen Klang und Semantik ergibt sich eine Anspielung auf Ovids Konzeption von »Fama« als tönender Sprachraum. Zur Erläuterung dieser These sei die berühmte Beschreibung von Famas Haus aus den Metamorphosen angeführt: Mitten im Erdkreis ist zwischen Land und Meer und des Himmels // Zonen ein Ort, den Teilen der Dreiwelt allen benachbart. // Alles, wo es geschehe, wie weit es entfernt sei, von dort er- // späht man’s; ein jeder Laut dringt hin zum Hohl seiner Ohren. // Fama bewohnt ihn; sie wählte zum Sitz sich die oberste Stelle, // tausend Zugänge gab sie dem Haus und unzählige Luken, // keine der Schwellen schloß sie mit Türen; bei Nacht und Tage // steht es offen, ist ganz aus klingendem Erz, und das Ganze // tönt, gibt wieder die Stimmen und, was es hört, wiederholt es. // Nirgends ist Ruhe darin und nirgends Schweigen im Hause. // Aber es ist kein Geschrei, nur leiser Stimmen Gemurmel, // wie von Wogen des Meeres, wenn einer sie hört aus der Ferne, // oder so wie der Ton, den das letzte Grollen des Donners // gibt, wenn Juppiter schwarzes Gewölk hat lassen erdröhnen. // Scharen erfüllen die Halle; da kommen und gehn, ein leichtes // Volk, und schwirren und schweifen, mit Wahrem vermengt, des Gerüchtes // tausend Erfindungen und verbreiten ihr wirres Gerede. // Manche von ihnen erfüllen mit Schwatzen müßige Ohren, // Andere tragen dem Nächsten es weiter, das Maß der Erdichtung // wächst, und etwas fügt ein Jeder hinzu dem Gehörten. // Töricht Vertrauen ist da, da ist voreiliger Wahn, ist // eitle Freude, da sind die sinnverwirrenden Ängste, // plötzlicher Aufruhr und Gezischel aus fraglichem Ursprung. // Aber sie selbst, sie sieht, was im Himmel, zur See und auf Erden // alles geschieht und durchforscht in der ganzen Weite das Weltrund.93
Famas Haus ist in Ovids Dichtung das universelle Echolot aller menschlichen Kommunikate, die aus Austauschprozessen zwischen Sehen, Sprechen und Hören hervorgehen. Sichtbares und Hörbares sind in unendlichen Prozessen des Kommens und Gehens ihrer Zeichen ineinander verwunden. Wie die göttliche Stimme der griechischen phêmê birgt und verbirgt Famas Haus das Phantasma des kollektiv erzeugten Allwissens.94 Dieses besitzt Fama auch als personifizierte
93 94
Ovid. Metamorphosen XII, 39–63. Vgl. zur Wortgeschichte und kulturellen Bedeutung in der Antike Gall. Monstrum horrendum ingens. S. 29f.: »Das griechische Substantiv phêmê ist stammverwandt
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III. Famas Medium
Beobachterin alles Geschehens: »Aber sie selbst, sie sieht, was im Himmel, zur See und auf Erden alles geschieht und durchforscht in der ganzen Weite das Weltrund«. Ihr Haus steht selbst im Zentrum des »Erdkreis«; zugleich ist Fama als allumfassender Resonanzraum überall verteilt und darum dem immer begrenzten menschlichen Sehen und Hören entzogen. Von dessen Raum- und Zeitbedingungen abgelöst, zentriert und zerstreut zugleich, kennt der Echoraum Fama in seiner Unendlichkeit keinerlei Unterbrechung: »Nirgends ist Ruhe darin und nirgends Schweigen im Hause.« So wird die welterzeugende Kraft der Kommunikation in und mit Fama als Folge ihrer eigenen ursprungslosen Energie vorgestellt, die keinen Anfang hat und kein Ende nimmt. Die »Scharen« des »leichte[n] Volk[s]«, die in das Haus »kommen und gehen«, sind ihrerseits undifferenzierte Kollektive des Hörensagens, die Famas Macht auf bewegliche Weise wiederholen. Sie mischen sich im Innern des nach allen Seiten Tag und Nacht offenen Hauses. Die anonymen Vielstimmigen sind geisterhafte Mitläufer des universellen Klang- und Sehraums, der sich aus gesprochenen, gehörten und gesehenen Zeichen zusammensetzt. Wahres und Falsches vermengen sich und in ihrem Zugleich werden das »Wahre« und des »Gerüchtes tausend Erfindungen« zum »wirre[n] Gerede«. An die Grenzen der Unterscheidbarkeit geführt kollabiert in und mit Fama alles im entdifferenzierten »Gemurmel«. Eine sinnstiftende Unterbrechung des Falschen durch das Wahre und umgekehrt setzte deren Nacheinander in der Zeit und das distinkte Nebeneinander im Raum voraus. Diese Relationen sind von Famas Allseitigkeit, Gleichzeitigkeit und Unendlichkeit außer Kraft gesetzt. Im Echoraum von Sprache geschieht alles schon immer gleichzeitig; er repräsentiert das universelle Gedächtnis der Kommunikation, mit dem Famas Allmacht stetig wächst. Der seinerseits differenzierte Einblick, den Ovids Text in das Haus der Kommunikation gewährt: auf das »Schwatzen« für »müßige Ohren«, das »Maß der Erdichtung« für »töricht Vertrauen«, den »voreilige[n] Wahn«, die »eitle Freude«, die »sinnverwirrende[n] Ängste«, den »plötzliche[n] Aufruhr« und das »Gezischel aus fraglichem Ursprung«, ist als Text gegenüber der universellen Einheit und Allmacht von Fama eines jener zeichenhaften menschlichen Hilfsmittel, um von Fama selbst reden zu können. Es handelt sich um sprachliche Abschätzungen dessen, was in und mit der Sprache als Mittel der Welterzeugung ständig und überall geschieht. Es sind einzelne, sinnhafte Zuschreibungen, um der phantasmatischen Übermacht von Fama ethisch-moralisch Herr zu werden. Famas Macht liegt demgegenüber gerade in ihrer völligen Indifferenz gegenüber allem Kommen und Gehen und allen Zumessungen. Ovids Beschreibung von Fama
mit phêmí, ich spreche. Etymologisch wurzeln die lateinischen Begriffe fama und fari, sprechen, in demselben Stamm wie phêmê / phêmí; sie umgreifen in dieser Akzentuierung dessen, was gesagt, gesprochen wird, ein Bedeutungsspektrum, das von ›Gerede‹, ›Gerücht‹, bis hin zu ›Ruhm‹ reicht. [...] Diese fama bewegt sich vertikal und horizontal: Als Künderin des (wahren oder falschen) Ruhmes erhebt sie ihre Günstlinge zu den Sternen; als Verbreiterin des (wahren oder falschen) Gerüchts eilt sie über Städte und Länder.«
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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als Ursprung und Effekt der Welt der Kommunikationen respektive der Welt als Kommunikation macht sie als das Phantasma von kommunikativer Macht schlechthin erkennbar; ihr machtvolles Korrespondenzmedium ist nicht der Einzelne, sondern die Menge. Jede individuierte menschliche Kommunikation unterbricht dennoch ihrerseits das kollektive Gemurmel, um je und je sinnhafte Beziehungen in Raum und Zeit herzustellen. Vergil hat die überall hinsehende Späherin Fama in der Aeneis als ein »Scheusal« beschrieben; aus dieser seiner Bilderfindung ist eine ikonographische Tradition für die personifizierte Fama hervorgegangen. Vergil bannt das Phantasma einer im kollektiven Sehen, Sagen und Hören vervielfältigten Macht, die überall anzutreffen und nirgends vollständig zugerechnet werden kann, stärker als Ovid in die Konturen einer personificatio, wie sie dann noch auf den Zeitungstiteln des 17. Jahrhunderts anzutreffen ist. In seine monströse Fama hat Vergil die Unheimlichkeit von jederzeit neugierigen Augen und Ohren und kolportierenden Mündern der Vielen eingegliedert. Damit ist auch bei ihm die Spur der Kommunikation quer durch Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit gelegt. Die Genealogie, die Fama in der Aeneis im Kontext der Liebesgeschichte von Dido und Aeneas gegeben wird, verweist zuallererst auf den Schrecken konkurrierender mythischer Mächte. Fama ist hier zwischen Ruhmesrede und Gerüchtekolportage Teil eines Verbundes, der von archaischen Urmächten wie Krieg und Liebe zusammengehalten wird, in dem göttliches und menschliches Handeln ineinander verwoben und einzelne und kollektive Schicksale betroffen sind. Fama zieht hier ihre eigene genealogische Erinnerungsspur weiter aus, die seit der Auflehnung der Titanen gegen die olympischen Götter in der Welt ist. Ihre eigene mythische Herkunft aus einer Geschichte aus Gewalt, Eifersucht und Liebe wiederholt sich in der Geschichte des Troianischen Krieges und dessen Folgen.95 Vergils Dichtung legt als kanonisch rezipierter Text ihrerseits Grund für spätere Narrationen, die Fama mit der Erzählung von Macht, Gewalt und Usurpation verbinden. Fama ist für Vergil ein Monstrum, das dem Liebespaar Dido und Aeneas mitspielt, weil es gegen den Nomos verstößt: Dido gerät mit dem Troer zugleich in die nämliche Grotte. // [...] // Jener Tag war des Todes und alles kommenden Unheils // Erster Beginn; jetzt sorgt sie um Ehre sich nicht und um Anstand, // Dido denkt nicht mehr an heimliche Freuden der Liebe, // Nennt sie Ehe nunmehr, verhüllt ihre Schuld mit dem Worte. // Alsbald wandelte Fama durch Libyens mächtige Städte, // Fama, ein Übel, das hurtiger ist als alle die andern. // Schnelligkeit nährt sie, es wächst die Kraft ihr im Schreiten. // Klein zu Beginn aus Furcht, erhebt sie sich bald in die Lüfte, // Schreitet am Boden einher und verbirgt in den Wolken den Scheitel. // Mutter Erde gebar sie, erbittert gegen die Götter, // Wie
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Nicht nur Fama, sondern auch Merkur greift als göttlicher Gesandter in die Geschichte, die von Troia nach Rom führt, ein. Merkur wird von Jupiter auf Drängen von Didos eifersüchtigem Gemahl Jarbas geschickt, um Aeneas von Dido abzuwenden und ihn an seinen Auftrag zu erinnern: für die vertriebenen Troianer eine neue Heimstatt zu finden.
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man erzählt, als ihr letztes Kind, des Enkeladus und des // Koeus Schwester, an Füßen behend und an hurtigen Flügeln, // Gräßlich und groß an Gestalt. So viele Federn sie decken, // So viel wachsame Augen darunter – o Staunen –, so viele // Zungen und Mäuler ertönen, so viele Ohren macht spitz sie. // Nachts durchfliegt sie den Raum, der zwischen Erde und Himmel, // Rauscht durch die Schatten, nie neigt sie die Augen dem lieblichen Schlummer. // Tags sitzt lauernd sie da, bald hoch auf dem Giebel der Häuser, // Bald auf der Höhe der Türme und schreckt die gewaltigen Städte, // Ist auf die Lüge erpicht so zäh wie als Botin der Wahrheit. // Sie nun erfüllte ringsum mit vielen Gerüchten die Völker // Und erzählte mit hämischer Freude von Wahrem und Falschem [...].96
Das Konzept einer Fama, die sich ausbreitet, ist in Vergils und Ovids Dichtungen mit dem Hörensagen mythischer Erzählungen verbunden. Ihre Dichtungen setzen sich dabei mit ihrer eigenen Schriftlichkeit ein Denkmal, das die Tradierung von Famas Geschichte in anderer Weise als in mündlichen Erzähltraditionen erlaubt. Im Unterschied zur ›römischen‹ Inanspruchnahme des Götterboten Merkur für eine rationalisierbare, im politischen wie merkantilen Sinne beherrschbare Informationszirkulation tradieren die aus der Antike übernommenen Figurationen von Fama in Mittelalter und Früher Neuzeit Facetten gegenläufiger Kommunikationstypologien. In Famas Namen geht es um die Koexistenz von Ruhm (gloria), öffentlicher Meinung (opinio), Ruf, Gerede, Gerücht (rumor), guten und schlechten (individuellen) Leumund. Die aus Fama abgeleitete Typologie von Kommunikationsformen bezieht sich auf die Modalitäten von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Text- und Bildzeugenschaft.97 Fama bleibt darin eine umfassende Referenzfigur für Kommunikation zwischen kollektiven und individuellen Belangenen und deren medialen Bedingungen, auf die in Historiographie, Dichtung, Philosophie, Staatstheorie und in bildenden Künsten vielfach eingegangen wird.98 Der prekäre Status von Fama, der aus gegenläufig angelegten Kommunikationsszenarien resultiert, betrifft besonders Kontexte, die die Macht der öffentlichen Stimmerhebung behandeln.99 Die offiziellen, und damit meine ich i.w.S. die politischen und gelehrten Beobachtungen von Famas Wirken treiben dabei vor dem Hintergrund des Buchdrucks und seiner Zirkulationseffekte zunehmend starke Keile zwischen die Geschichtsmächtigkeit einer Kommunikation von oben
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Vergil. Aeneis. Epos in zwölf Gesängen. Unter Verw. der Übertr. Ludwig Neuffers übers. und hg. von Wilhelm Plankl unter Mitw. von Karl Vretska. Stuttgart 1989. IV,165–190. Vgl. dazu in römischer Zeit Neubauer. Fama. S. 55ff.; für das Mittelalter und den höfischen Boten Horst Wenzel. Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. S. 252ff. Vgl. zu Darstellungen von Fama als Göttin des Gerüchts und des Ruhms in der bildenden Kunst Herbert David Brumble. Art. »Fame«. In: Ders. Classical Myths and Legends in the Middle Ages and Renaissance. A Dictionary of Allegorical Meanings. London/Chicago 1998. S. 117–119. Dies sind Facetten, die in der römischen Tradition schon angelegt sind; vgl. Gall. Monstrum horrendum ingens.
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und von unten. So schreibt etwa Francis Bacon während seiner Zeit als Lordkanzler der englischen Königin in seinen Essays Anfang des 17. Jahrhunderts Über Aufstände und öffentliche Unruhen.100 Auch ihm dient Fama als konzeptueller Horizont für die Analyse politischer Verhältnisse, die von ihren kommunikativen Bedingungen durchdrungen sind. Bacon ist als vielseitig gebildeter politicus und Gelehrter inspiriert von dem Wissen der antiken auctores und zieht bei seinen Famaanalysen den Topos heran, dass die Geschichte eine Lehrmeisterin des Lebens ist. Dabei spielen neuzeitliche Naturerkenntnis und empirisch abgefedertes Erfahrungswissen, das die Idee von ›Entropie‹ vorwegnimmt, ebenfalls eine Rolle: Die Hirten des Volkes täten gut daran, sich auf die Voraussage politischer Stürme zu verstehen, die gewöhnlich am heftigsten wüten, wenn die Kräfte anfangen, sich gleichmäßig zu verteilen, wie Stürme in der Natur um die Zeit der Tag- und Nachtgleiche am stärksten sind. Wie es gewisse heulende Windstöße und unmerkliches Anschwellen der See vor einem Sturme gibt, so auch in einem Staate: »Ille etiam caecos instare tumultus Saepe monet, fraudeque et operta tumescere bella.« Schmähschriften und zügellose Rede gegen den Staat, die sich häufen und offen auftreten, desgleichen falsche Gerüchte, die zum Nachteil des Staates umlaufen und gierig aufgefangen werden, gehören zu den Sturmzeichen von Unruhen. Vergil spricht über den Stammbaum der Fama und nennt sie eine Schwester der Giganten: »Illa terra parens, ira irritata deorum, Extremam (ut perhibent) Coeo Enceladoque sororem Progenuit.« Als ob Gerüchte Überbleibsel vergangener Empörungen wären! In der Tat sind sie vielmehr die Vorläufer kommender Aufstände. Nichtsdestoweniger bemerkt er mit Recht, daß aufrührerische Tumulte und aufrührerische Gerüchte sich nicht mehr voneinander unterscheiden als Bruder und Schwester, Mann und Weib. Zumal wenn es so weit gekommen ist, daß die besten und angemessensten Maßregeln im Staate und diejenigen, welche am meisten Anklang finden sollten, falsch ausgelegt und verschrieen werden.101
Umlaufende Gerüchte sind wie Tumulte Zeugnisse einer (für den staatspolitischen Denker des 16./17. Jahrhunderts) noch bestehenden wie ständig neu drohenden Unordnung, die jederzeit etwas Anderes erzeugen will. Die geneaologische Verschwisterung und Vermählung von Tumulten und Gerüchten konfrontieren die herrschende Macht mit entregulierten Zuständen und Gegenmächten. Dies betrifft das neuzeitliche Staatswesen als politische Einheit existenziell, da es sich auf der Grundlage unsicherer Verträge über Machtanspruch und Machtverzicht
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Francis Bacon. Über Aufstände und öffentliche Unruhen. In: Ders. Essays oder praktische und moralische Ratschläge. Übers. von Elisabeth Schücking. Hg. von Levin L. Schücking. Leipzig 1992. S. 44–53. Bacons Essays sind zwischen 1597 und 1625 in verschiedenen Auflagen herausgekommen; vgl. zur Editionsgeschichte das Nachwort von Schücking ebd. S. 219ff. Bacon. Über Aufstände. S. 44f.
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III. Famas Medium
konstituieren und erhalten soll.102 In seinem Essay Über Gerüchte (Of Fame)103 greift Bacon diese Gedanken in Bezug auf den Aufruhr erneut auf. Ihn interessiert natürlich die Beherrschbarkeit, aber auch die Instrumentalisierbarkeit von Gerüchtekommuniktion: Jedenfalls ist nicht zu leugnen, daß Rebellen, deren Sinnbild die Giganten sind, und aufrührerische Gerüchte und Schmähreden zueinander gehören wie Brüder und Schwestern, wie männlich und weiblich. Wenn nun aber einer dieses Ungeheuer zu zähmen vermag, es daran gewöhnen kann, ihm aus der Hand zu fressen, es beherrschen und anderes Raubzeug damit beizen und erlegen kann, so ist das eine schöne Sache. Allein die dichterische Phantasie hat uns angesteckt. Um aber ernst und mit Überlegung zu reden, so gibt es in der ganzen Staatsweisheit keinen vernachlässigteren, aber der Behandlung würdigeren Gegenstand als das Gerücht. Wir wollen deshalb von folgenden Fragen sprechen: was sind falsche, was wahre Gerüchte, und wie sind sie am besten zu unterscheiden? Wie kann man Gerüchte ausstreuen und in Umlauf setzen? Wie sie verbreiten und vervielfältigen? Wie ihnen Einhalt tun und sie ersticken, nebst anderem Wesentlichen über das Gerücht.104
Das weibliche Ungeheuer Fama findet wenig später, in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Staatstheorie von Thomas Hobbes einen neuen ›Bruder‹, den Leviathan, der nun die ungeheure Macht des Staates versinnbildlicht und seine Geschwister zähmen will (Abb. 26). Der Leviathan, der sich stolz als das eine Oberhaupt des befriedeten Staats über die Vielen erhebt, ist das genaue Komplement eines vielköpfigen Monsters Menge, das zwar als Volk untergeben ist, aber nicht ohne Weiteres auf immer bezähmt ›aus der Hand frisst‹ (s. Abb. 27). Auf den Verlust politischer Kontrolle bei umherlaufender Fama antwortet im 17. Jahrhundert unter der Maßgabe absolutistischer Staatspolitik reflexhaft das Phantasma einer ebenso ubiquitären, zentralisierten Kontrolle alles Öffentlichen. So gehören die vielen Augen, die alles sehen, und die vielen Ohren, die alles hören, auch zum allegorischen Inventar der Staatsraison, die klug handelt, wenn sie alles kontrolliert (Abb. 28).105
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Vgl. zu den Staatstheorien des 17. Jahrhunderts Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Stolleis. München 31995; Koselleck. Kritik und Krise. Francis Bacon. Bruchstück eines Essays über Gerüchte. In: Ders.: Essays. S. 197–199. Dieses Fragment wurde 1657 aus dem Nachlass ediert. Ebd. S. 198. Vgl. Gotthardt Frühsorge. Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. S. 107ff. und dort die Abb. 7–10.
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Abbildung 26: Die Herrschaft des Leviathan106
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Leviathan Or The Matter, Forme and Power [...]. Titelkupfer zur Erstausgabe von Thomas Hobbes Leviathan von 1651; Abb. nach Thomas Hobbes. Leviathan. Aus dem Engl. übertr. von Jutta Schlösser. Mit einer Einf. und hg. von Hermann Klenner. Hamburg 1996 (Frontispiz). Zur Deutung des Bildes vgl. Horst Bredekamp. Thomas Hobbes. Visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates – Werkillustration und Porträts. Berlin 1999.
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Abbildung 27: Das vielköpfige Monster Menge107
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Titelholzschnitt zu John Dee, Letter, Containing a most briefe Discourse Apologeticall, 1599. Abb. nach Neubauer. Fama. S. 105; vgl. zu dem Holzschnitt Bredekamp. Thomas Hobbes. S. 76: Der »englische Mathematiker, Okkultist und auch Politiker« John Dee wendet sich in der Schrift gegen seine Kritiker; der Titelholzschnitt verwendet einen Bildtypus in der »Tradition religiöse[r] Propagandabilder[], die den Kopf des Gegners als monströse Mischkreatur charakterisier[en]«.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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Abbildung 28: Staatsvernunft108
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Es handelt sich um einen Holzschnitt, Ragione di Stato, aus Cesare Ripa. Nova Iconologia. Padua 1618; Abb. nach Frühsorge. Der politische Körper. Abb. 7.
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III. Famas Medium
Die Zeitungstheorie, die im Kontext absolutistischer Machtpolitik die Zeitung als Famas Medium zu bestimmen versucht, setzt mit ihrem iudicium an den angedeuteten Traditionen an, wenn hier Wahrheit von Lüge, Ruhm von Gerücht, Wichtiges von Unwichtigem unterschieden wird. Solche Differenzierungen geschehen in der Absicht, die Zeitung, die der Kollektivmacht Fama eine neue publizistische Heimstatt gibt, zugleich gegen unkontrollierte Fama in Schutz zu nehmen. Dies scheint umso dringlicher angeraten, da die Zeitung so vielen Mitläufern nun zu einer öffentlichen Stimme verhilft. Gedruckte Zeitungsöffentlichkeit, so perspektiviert es die Zeitungskritik, die von oben kommt, produziert verstärkt eben auch das kollektive Getöse der vielen Stimmen und Meinungen, die Zugang zum Haus der Kommunikation suchen und hier ebenfalls ein und aus gehen wollen. So schließt die gelehrte Zeitungstheorie einerseits noch an absolutistische Kontrollmechanismen und -phantasmen an. Die gedruckte Zeitung ist für viele Theoretiker zugleich aber ein Medium, das über den allgemeinen Hang aller Menschen, wissen und kommunizieren zu wollen, Auskunft gibt. Das Informationsbedürfnis, das politisch zwischen den Polen von Kontrolle und Kontrollverlust situiert ist, wird in der Folgezeit sowohl für überkommene wie neue politische, aber auch zivile Ansprüche von Zeitungswissen funktionalisiert. Auch der Unterschied und die Übergängigkeit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Famakommunikation findet in der gelehrten Zeitungstheorie noch ein Echo. Nicht nur wird die Zeitung mit ihrer Druckschriftlichkeite gegen Formen der mündlichen Kommunikation gestellt, sondern die Zeitung wird als Operator für Kommunikationen zugleich in kritischer Nähe zu mündlich strukturiertem Austausch gesehen. Dazu treten weitere gelehrte Binnendifferenzierungen für den Raum der Schriftlichkeit. So wird die Geschichtsschreibung, die die Zeitung liefert, von derjenigen unterschieden, die in Büchern stattfindet. Und zwischen Zeitungstexten und Buchtexten liegen als ein Weiteres, Drittes die Texte der Dichtung. Die frühe Zeitungstheorie stattet in diesen Beziehungen das Medium Zeitung und seine Formausprägungen mit Lizenzen aus, die zum Teil der Dichtungstheorie ihrer Zeit entliehen sind. Diese stehen im Kontrast zu den historiographischen Pflichten der Zeitung und ihrer Politik der Information. Mit trilateralen Konstellationen dieser Art werden Differenzmarkierungen auf verschiedenen Ebenen möglich; Text als internes Differenzkriterium ermöglicht es dann, das Medium Zeitung von seinen textuellen Einheiten zu unterscheiden. Um diese Aspekte genauer herausarbeiten zu können, wird im Folgenden zunächst ein argumentativer Umweg eingeschlagen. Anhand von Geoffrey Chaucers Dichtung House of Fame lässt sich zeigen, dass einige der historischen Perspektiven auf die Kulturen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Aufgaben von Historiographie und Dichtkunst ihre Spuren in den Argumenten der Zeitungstheorie seit dem späteren 17. Jahrhundert hinterlassen haben. Chaucers Versepos führt zwei Seiten der antiken Fama vor, die vertikal strukturierte Ruhmes- und Nachrede und die horizontale Gerüchtekommunikation, mit welchen Achsen der funktionale Horizont von Fama ausgezogen ist. Diese zwei aus-
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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einanderstrebenden Achsen sind auch in den Überlegungen der historisch sehr viel späteren Zeitungstheorie noch auszumachen. An Chaucers Dichtung lässt sich diese Strukturiertheit von Famakommunikation exemplarisch diskutieren. Dabei bindet Chaucers Versepos Fama zugleich medial an Mündlichkeit und Schriftlichkeit und verhandelt darüber hinaus dichtungstheoretische und historiographische Bezüge für die Tradierbarkeit von Geschichte(n). Es sind diese historisch hoch aggregierenden Komplexe, in denen der Diskurs über die Zeitung und ihre kommunikativen Funktionen seine Arbeit aufnehmen wird.109 Fama führt auf vielen Zeitungstiteln des 17. Jahrhunderts zwei Posaunen, manchmal auch nur eine mit sich. Diese Attribute verweisen auf Schall und Klang und stehen für den Signalton, der allgemeine Aufmerksamkeit für die Ankunft von etwas Neuem erregen soll. Die Hörner, sei es bei antiken Herolden, sei es bei neuzeitlichen Postboten, gehören zum Rüstzeug einer Kommunikationskette, die Neuigkeiten ausbreitet. Die ikonographische Tradition, Fama mit zwei Posaunen darzustellen, leitet sich von Geoffrey Chaucers Versepos House of Fame von 1381 her.110 Hier besitzt Fama eine Posaune für den guten und eine für den schlechten Ruf.111 Chaucers House of Fame ist eine über drei Bücher sich erstreckender Traumerzählung eines berichtenden Ich-Erzählers mit dem (selbstbezüglich-biographischen) Namen »Geoffrey«.112 Der Text beinhaltet zahlreiche Reflexe auf Ovids Haus der Fama in den Metamorphosen und Vergils Aeneis, in der Fama ihre zwiespältige Rolle in der Liebesgeschichte von Dido und Aeneas spielt.
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Auf die umfängliche Forschung zu Chaucers House of Fame und die Vielzahl der intertextuellen Bezüge in dem Versepos gehe ich im Folgenden nur zum Teil ein. Mir geht es um ein Strukturmodell Fama, das die Dichtung auf höchstem Niveau entfaltet. Der historische Sprung zwischen Chaucers Versepos und der frühen Zeitungstheorie ist vielleicht weniger groß, als er zunächst anmuten mag. So sieht etwa John M. Flyer. Chaucer, Pope, and the House of Fame. In: The Idea of Medieval Literature. New Essays on Chaucer and Medieval Culture in Honor of Donald R. Howard. Hg. von James M. Dean und Christian K. Zacher. Newark/Delaware/London/Toronto 1992. S. 149–159. Hier S. 149, in Alexander Popes Temple of Fame »[t]he high point of its afterlife in English literary history«. Auch für Popes Dunciad (1742) mit ihrer Kritik an den zirkulatorischen Dimensionen des literarischen Marktes ist Chaucers Fame relevant. Geoffrey Chaucer. The Hous [sic] of Fame. In: The Complete Works of Geoffrey Chaucer. Hg. von Walter W. Skeat. Bd. 3. London/New York/Toronto/Melbourne 1894. S. 326–348; ders. Das Haus der Fama. In: Geoffrey Chaucer’s Werke. Übers. von Adolf von Düring. Bd.1. Straßburg 1883. S. 1–75. Im Folgenden wird nach dieser deutschen Übertragung unter der Sigle HF zitiert. Vgl. Neubauer. Fama. S. 84–91. Für die Aufteilung in drei Bücher könnte Dantes Göttliche Komödie das Vorbild gewesen sein; vgl. John M. Steadman. The House of Fame: Tripartite Structure and Occasion. In: Connotations 3,1 (1993/94). S. 1–12. Steadman bezieht die dreiteilige Struktur auf die mögliche Aufführungspraxis des Verspoems an drei aufeinanderfolgenden Tagen, und zwar zwischen dem 10. Dezember (eine Datumsangabe, die der Erzähler für den Traum macht) und dem 13. Dezember als Tag der Hl. Lucia, der Lichtbringerin.
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III. Famas Medium
Der Erzähler besucht auf einer geträumten Reise zunächst das »Haus der Venus«, wo ihm die Geschichte von Dido und Aenaes an den bemalten Wänden vorgeführt wird (s. HF I,119ff.). Im Zeichen der Venus stehend berichtet das erste Buch von dem öffentlichen Verlust des guten Namens, den Dido in der Liebesgeschichte mit Aeneas erleidet. Ergänzt wird die für Dido tödlich endende Geschichte mit einer Enumeratio des Erzählers, der viele weitere Fälle erinnert, in welchen berühmte Heroen sich als ungetreue Liebhaber erwiesen haben (s. HF I,338ff.). Im zweiten Buch erlebt »Geoffrey« eine kosmische Himmelsreise, zu der ihn ein goldener Adler mitnimmt.113 Gegen Ende dieser Reise wird vom Adler eine physikalische Theorie der gesprochenen Wortklänge entfaltet: Wie jedes Ding müssen auch Wortklänge an ihren angestammten Ort zurückkehren. Es ist »das Schloß« von Fama, von dem, so der Adler zum Ich-Erzähler, auch »Dein Lieblingsbuch« (HF II,204) erzählt, nämlich Ovids Metamorphosen. Diese Theorie des an den Ort seiner Herkunft zurückkehrenden Sprachklangs führt nicht nur ein ironisches Vexierspiel mit dem physikalischen Wissen ihrer Zeit durch.114 Sondern die Rückkehr der Worte zu Famas Schloss verweist auf die endlose Zirkulation von Kommunikaten: was neu gesagt wird, ist immer auch schon gesprochen worden. Diese auf Famas Wirken bezogene Lehre über die Beziehung von Sprachklang und Raumordnung in der Zeit schließt allegorisch an die philosophisch-rhetorische Topik an, die ja die Lehre von den Orten der Bedeutungserzeugung ist und eine repräsentative Beziehung zwischen verba und res annimmt.115 Der Adler übermittelt dem Träumenden die »Botschaft« (HF II,104), die ihm Jupiter aufgetragen hat: Er soll den Dichter, der »[z]u Amors Lob und Amors Ehre« (HF II,127) arbeite, zum Lohn in das »Haus der Fama« (HF II,156) bringen. Denn der Dichter hat sich mit seiner Arbeit so zurückgezogen, dass er keine »Zeitung« (HF II,140) mehr erhalte, weder aus »fernem Land« (HF II,139), noch von »Nachbarn« (HF II,141): Und deßhalb will auch gnadenvoll // Der Gott, daß ich Dich tragen soll // Zu einem Platze, welcher heißt // Das Haus der Fama, Deinen Geist // Dort zu erheitern und beleben, // Dir Lohn für allen Fleiß zu geben, // Den auf Cupido verwandt, // Und den der Schelm nie anerkannt. (HF II,153–160)
Derart selbstbezüglich auf den Sinn von Fama vorbereitet gelangt der Ich-Erzähler im dritten Buch mit Hilfe des Adlers zu Famas Schloß, das auf einem steilen Berg aus Eis liegt. Hier nun werden bizarre Szenen über die Wirkmächtigkeit von 113
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Vgl. zum Motiv des Adlers (eine Allusion auf Jupiter im Ganymed-Mythos und den Adler als Symbol des Evangelisten Johannes) und zu intertextuellen Beziehungen zu Dantes Göttlicher Komödie Benjamin Granade Koonce. Chaucer and the Tradition of Fame: Symbolism in The House of Fame. Princeton/NY 1966; Piero Boitani. Chaucer and the Imaginary World of Fame. Cambridge 1984. Vgl. dazu Anne Worthington Prescott. Imagining Fame. An Introduction to Geoffrey Chaucer’s The House of Fame. Santa Barbara/Calif. 2003. S. 64ff. Vgl. zur philosophischen und rhetorischen Topik in Mittelalter und Früher Neuzeit Moos. Geschichte als Topik.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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Kommunikation in den Medien gesprochene, geschriebene Sprache und Bild, die alle unter Famas Obhut stehen, vorgeführt. Der Sinnkomplex, der sich mit Ovids Haus der Fama und Vergils personifizierter Fama verbindet, wird zudem in zwei Örtlichkeiten aufgespalten, die der träumende Ich-Erzähler nacheinander aufsucht: den »Palast«, wo die »Dame« »Fama« thront und viele Bittsteller empfängt (HF III,217ff.); im Anschluss daran reist er zu einer Hütte aus Flechtwerk, wo er weitere Akteure eines Hörensagen beobachtet (s. HF III,827ff.). Mittels dieser zwei unterschiedenen Örtlichkeiten und der personifizierten Fama generiert der beobachtende Erzähler zahlreiche loci ad re und loci ad personam für Fama und verstrickt Ruhm, Gerücht, gute und schlechte Nachrede, Erinnern und Vergessen miteinander. Die Chimäre, als die »Frau Fama« vor den Augen des Ich-Erzählers erscheint, ist wie bei Vergil eine allegorische Figur, die sich von ihrem Thron zu den menschlichen Organen der Kommunikation herablässt, die sie als ungezählte Augen, Ohren und Münder ihrer Bittsteller zugleich um sich versammelt. Der kollektive Echoraum von Fama findet sein figurativallegorisches Komplement in den dargestellten Mengen, aber auch Einzelpersonen, die beide Famaörtlichkeiten auszeichnen. Chaucers Dichtung entfaltet über seinen Gegenstand ›Fama‹ insbesondere auch eine Allegorie für die ubiquitäre Macht von Sprache. Er scheint dabei die Vorbilder Ovid und Vergil mit eigener dichterischer copia noch überbieten zu wollen. Die Traumerzählung zielt in ihrer Bildlichkeit und mit ihren Möglichkeiten der evocatio auf die Einbildungskraft der Leser und stellt unter Beweis, dass hier wohl auch der Richtige eine dichterische Traumreise zu den Bedingungen und Möglichkeiten eigener Fama angetreten hat. In dieser Traumreise sucht der Erzähler als Berichterstatter nacheinander verschiedene Orte auf; im Sinne spätmittelalterlicher Gedächtnistheorien trägt das Epos so zu Famas eigenem Gedächtnis bei, indem ihre Erscheinungsweisen in zahlreichen ›Bildern‹ ausgeführt werden.116 Darin inbegriffen sind Reflexionen auf Famakommunikation und Famamedien. Menschen, Sprache, Bilder, Dinge und Handlungen gehören insgesamt zu Famas Topik; so wird in dieser spätmittelalterlichen Dichtung auf beeindruckende Weise der operative Status von Medialität in den verschiedenen Materialitäten von Kommunikation ›lesbar‹ gemacht. »Dame« Fama, die der Erzähler zunächst in ihrem Palast als Protokollant ihres Tuns und Wirkens aufsucht, residiert als die adorierte Personifikation von Ruhm. Sie empfängt sitzend auf ihrem »Thron hoch oben« (HF III,270) »[v]iel Volk in dichten Schaaren« (HF III,268), das unaufhörlich in ihren Palast drängt. Dieser Palast, so sieht und beschreibt es der Ich-Erzähler, ist herrschaftlich gebaut aus Pfeilern unterschiedlichen Materials. Schon der Eisberg, auf dem der dem Anschein nach fest gefügte Palast ruht (s. HF III,40ff.), bietet kein sicheres Funda116
Vgl. zu den visuell aufgeladenen Gedächtnistheorien des Mittelalters Mary J. Carruthers. The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambrigde 1990.
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III. Famas Medium
ment für den Ruhm, denn die auf dem Eis vermerkten Namen werden von den Strahlen der Sonne zum Schmelzen gebracht (s. HF III,50ff.).117 Die Pfeiler im Innern des Palastes sind mit den Namen und Bildern der Helden der antiken res gestae und auch denjenigen von antiken Sängern und Schreibern von Helden und Taten verziert (s. HF III,329–429). Der Preisgesang der Musen füllt Famas Thronsaal: »Ruhmesgöttin, hohe, hehre / Fama, Dir sei Preis und Ehre« (HF III,315f.) Auch das viele Volk, das andrängt, verehrt Fama: Und Alle traten in die Halle, // Und ihre Kniee beugten Alle // Vor dieser edlen Fürstin tief. // »O, schöne Herrin!« – jeder rief – // »Schenk’ uns ein Zeichen Deiner Gnade!« // Und diesen gab sie es, und grade // Das Gegentheil von ihren Bitten // Gab sie den andern, und die dritten // Wies zurück sie kurz und schlicht. // Doch, was ihr Grund war, weiß ich nicht; // Das muß ich offen Euch bekennen. // Denn Manchen wüßt’ ich Euch zu nennen, // Der sicher guten Ruf verdiente, // Und den verschieden sie bediente, // Ganz wie bei ihrer Schwester auch, // Der Frau Fortuna, solches Brauch. (HF III,443–476)
Hier kommen die zwei Blasinstrumente, die Fama in späteren Darstellungen häufig mit sich führt, ins Spiel. Fama beauftragt einen Boten, Aeolus, den Gott der Winde aufzusuchen: »Geh hin nach Thracien« – und sprach sie – »finde // Ihn auf und heiß das Horn ihn bringen, // Aus dem verschiedne Töne dringen // Und welches ›Lobeklar‹118 man heißt, // Auf dem er laut verkündend preist // Die, welche ich erwählt nach Laune. // Und sage, daß er die Posaune // Auch mit sich bringe, die in Land // Und Stadt als ›Uebelruf‹119 bekannt, // Auf der er pflegt die zu entehren, // So meiner Launen Gunst entbehren.« (HF III,482–492)
Die nach Famas nicht vorhersagbarem Gutdünken ausfallende Verteilung von gutem und schlechtem Ruf, fama bona und fama mala, wird in verschiedenen Bittstellern, die vor Famas Thron erscheinen, spezifiziert (s. HF III,516ff.). Es sind Gruppen oder einzeln personifizierte Stimmen, die an Fama herantreten. Sie bitten aufgrund guter Taten um »den verdienten Lohn« (HF III,467), »Ruhm und Ehre« (HF III,519), »Ruhmes Krone« (HF III,572) oder auch um Stillschweigen über ihre Person und guten Taten (s. HF III,601ff.; 614ff.). In der Verkehrung ethisch fundierter Rechtsansprüche an Erinnerung stiftende Nachrede erwarten andere »voll« von »Laster« (HF III,743), dass Fama sie gerade in ihrer Lasterhaftigkeit berühmt mache; andere, dass ihnen Ruhm zuteil werde, auch wenn sie sich durch ›Faulenzerei‹ und Versagen im Minnedienst auszeichneten (s. HF III,643; 650ff.; 681ff.). Wieder andere, die »Verrätherei’n« und »schlimmre Niedertracht« 117
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Der Ich-Erzähler sieht zumindest, dass die ins Eis eingegrabenen Namen »Von Leuten, die in Wohlergehn / Gelebt und hoch berühmt gewesen« (HF III,48f.) zum Teil bis zur Unlesbarkeit angeschmolzen sind. Vor der Sonne geschützt sind Namen, die nach Norden gelegen sind und vom Palast der Fama beschattet werden, wohl eine selbstironische Anspielung eines Erzählers aus dem Norden. Englisch: »Clere Laude«. Chaucer. The Hous of Fame III,1575. Englisch: »Sclaundre«. Ebd. 1580.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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begangen haben, bitten um die Verhüllung ihrer »Schande« (HF III,722ff.). Fama reagiert auf diese Bitten und das chiastisch durchgeführte Bedürfnis nach Nachrede oder Verschweigen nach eigenem Gutdünken: Einmal gewährt sie, ein anderes Mal verwehrt sie die erbetene Gabe Ruhm; einmal teilt sie gutes, ein anderes Mal schlechtes Andenken zu, ein drittes Mal verweigert sie alle Nachrede. Ihre Zuteilung von gutem und schlechtem Ruf, die die antiken Bestimmungen von pheme und phama als Stimme und als allgemeiner Ruf aufnimmt, betrifft ethisch berechtigte und unberechtigte Kandidaten und verstrickt Nachrede mit der kontingenten Zuteilung von Erinnern und Vergessen. Schriftliche und mündliche Fama materialisiert sich in Fama als Person, ihrer Wohnstatt und deren Architekturen, beispielsweise bemalten Pfeilern, oder auch verkörperten Stimmen ihrer Bittsteller. Der Palast von Fama ist natürlich auch der Ort, an dem sich die auctores der Dichtung und der Geschichtsschreibung einfinden. Doch die künstlichen Medien der Menschen wie Schrift und Bild, Säulen, die Namen tragen, heben die übergeordnete Kontingenz der Zuteilung von Ruhm, Ruf und Gedächtnis nicht auf. Die Tradierung in Nachrede und Nachschrift oder -bild bleibt strukturell an undurchsichtige Akte gebunden und produziert in diesem Sinne, nach menschlichem Ermessen, Ungerechtigkeiten. Es geht in Famas Zuteilungen nicht nur darum, ob sie Nachrede gewährt, sondern dass Fama bei mündlicher und schriftlicher Weitergabe auf ungeklärte Weise auch versiegt. Doch scheint es gerade das Verstummen selbst zu sein, dass den schier endlosen Fluss von Kommunikation, der nach Ovid am Ort von Fama nur noch sinnentleertes Gemurmel erzeugt, zu unterbrechen vermag. Vergessen als nötiger Abbruch einer Kommunikationskette scheint menschlich notwendig zu sein und stiftet auf seine Weise Sinn. Diese Komplementarität von Erinnern und Vergessen ist vor dem Hintergrund spätmittelalterlicher Kommunikationskultur zu sehen, wo die Erinnerungsleistungen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit noch nicht in dem Maße gegeneinander gewogen werden wie nach der Erfindung des Buchdrucks. So stellt sich die Interaktion von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auch als eine selbstreflexive Pointe von Chaucers Dichtung heraus, in der ein Erzähler von den medialen Bedingungen des Erzählens Zeugnis ablegt. Die poetologischen Selbstbezüge in Chaucers House of Fame ließen sich vielfach für sein Versepos aufzeigen, das mit dem »Lieblingsbuch« des Traumreisenden, Ovids Metamorphosen, in spielerische Konkurrenz tritt und wohl dessen eigenes poetologisches Zentrum in Fama identifiziert. Für die Komplementarität von Unterbrechen und Fortsetzen, von Erinnern und Vergessen, Reden und Schweigen sei nur auf eine Textstelle verwiesen, wo sich der Erzähler, ein Medium der Gedächtnisstiftung, ironisch des Versagens angesichts des Vielen bezichtigt. Dieser Topos verhält sich gegenbildlich zur copia der Rede, die noch und noch ihr Wissen über Fama anhäuft. Bevor der Ich-Erzähler sieht und beschreibt, wie das viele Volk in Famas Thronsaal drängt, berichtet er, dass sein Bericht über Famas Örtlichkeiten Lücken enthalte. Seinen Bericht unterbrechend fällt er der eigenen Rede ins Wort, ohne dass diese deshalb verstummte:
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III. Famas Medium
Was soll ich Euch noch mehr berichten? // Ich sah an Schreibern von Geschichten // Weit mehr in dieser Halle Räumen, // Als Krähennester sind auf Bäumen. // Jedoch den Inhalt von den Massen // Geschichten wußt’ ich kaum zu fassen, // Noch wie sie hießen, wer sie sang. (HF III,423–429)
Die schiere Quantität der vorangegangenen auctores und Auf-Schreiber und ihrer Geschichten würde im aktuellen Vergegenwärtigungsmedium, dem künstlichen Gedächtnisspeicher der Schrift, das individuelle Vermögen zur Darstellung übersteigen. Es mag dies eine eher beiläufige Sorge eines christlichen Autors sein, der natürlich um die Vergänglichkeit des irdischen angesichts des ewigen Ruhms weiß,120 welche Konstellation wiederum auf das umfassende Gedächtnis aller Menschendinge und -worte bei Gott verweist. Der eschatologisch gerahmte Endlichkeitsgedanke, der auch die dichterische copia einzuholen vermag, blitzt etwa in einem Dialog auf, in dem der Ich-Erzähler einen Gesprächspartner findet, der wie der Adler als weiterer Führer fungiert. Nach dem Letzten der Bittsteller, der im Andrang der Vielen vor Famas Thron tritt, und dem sie gewährt, dass seine schlechte Tat über die »schwarze[] Erztrompete« »bis zum Weltenrand« (HF III,776f.) bekannt gemacht wird,121 tritt dieser Unbekannte an den Ich-Erzähler heran:122 Ich hatte jetzt mich umgewandt, // Denn mir kam’s vor, als rede man // Sehr freundlich mich von rückwärts an. // »Wie heißt Du, Freund?« – sprach man zu mir. – // »Kommst Du, um Ruhm zu holen, hier?« // »Nein, mit nichten, Freund!« – sprach ich. – // »Viel Dank! – ein solcher Grund hat mich // Nicht hergeführt. Auf Wort und Ehre! – // Mir wär’ es recht, mein Name wäre // Nach meinem Tod in Keines Mund! // Wie’s um mich steht, das ist mir kund: // Denn was ich dulde, was ich denke, // Selbst leeren will ich mein Getränke, // Soweit dazu ich immerhin // Durch meine Kunst befähigt bin!« (HF III,778–792)
Die auf Verinnerlichung zielende Absage des dichtenden Ichs an die Verlockungen des äußeren Ruhms verbindet sich bezeichnenderweise mit des Traumerzählers Suche nach »newe tydings«,123 was sich mit ›neuen Zeitungen‹ übersetzen ließe, und zwar im frühen Wortsinn von Ereignissen und Nachrichten über diese. Darüber klärt der Ich-Erzähler den Unbekannten auf: »Was aber thust Du hier?« – frug er. // »Das will ich« – sprach ich – »Dir nunmehr // Erzählen. – Ich kam aus dem Grunde, // Von Neuigkeiten ein’ge Kunde // Zu haben 120 121
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Vgl. zu ideengeschichtlichen Verbindungen mit Petrarchas Triumphi und noch weiteren Dichtungen des 14. Jahrhunderts Boitani. Chaucer. S. 72ff. Es handelt sich wohl um eine Anspielung auf Herostrat, »der 365 v. Chr. den Tempel der Artemis in Ephesus in Brand steckte, um sich berühmt zu machen. Trotz des Beschlusses der ionischen Städte, seinen Namen der ewigen Vergessenheit anheim zu geben, ist er dennoch durch Theopompus der Nachwelt überliefert.« Adolf von Düring. Anmerkungen. In: Geoffrey Chaucers Werke. Bd. 1. Straßburg 1883. S. 77–96. Hier S. 95. Diese nicht weiter benannte Figur wird in der Chaucer-Forschung als Allegorie einer teuflischen Versuchung des Träumenden gedeutet; vgl. etwa Boitani. Chaucer. Chaucer. The Hous of Fame III,1886.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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und hier dies und das // Zu lernen – ich weiß selbst nicht, was? – // Von Liebe oder lust’gen Dingen. // Denn, wahrlich, mich hinauf zu bringen, // Versprach man mir, um selbst zu sehen // Und hören, was hier zu erspähen // An Wunderdingen ist im Raum. // Jedoch dies ist das Neue kaum, // Was ich erwartet.« // »Nein?« – frug er. // »Nein!« – gab ich kund. – »Denn von jeher, // Seit besessen ich Verstand, // War mir – Pardi! – sehr wohl bekannt, // Daß höchst verschieden das Begehren // Der Leute sei nach Ruhm und Ehren. // Jedoch zuvor war mir Grund // Und, wo die Fama haust, nicht kund; // Vom Stand und Wesen dieser Frau // Und von der Ordnung in dem Bau // Des Domes habe durch mein Kommen // Ich jetzt zum ersten Mal vernommen.« // »Wie dann! Ei sieh! Trägst etwa Du // Gar Nachrichten dem Orte zu, // Die Du gehört hast?« – frug er dann. – // »Doch sei es drum! – Klar sehen kann // Ich schon, was zu erfahren, Dir // Am Herzen liegt. – Komm’! fort von hier! // Und führen will ich, auf mein Wort! // Dich anderweit zu solchem Ort, // Wo manche Dir zu Ohren dringen.« (HF III,793–825)
Die Deutung des Wunsches, Neuigkeiten zu erfahren, bildet eine hermeneutische Leerstelle der Fragment gebliebenen Dichtung. Diese bricht ab, als der IchErzähler an dem letzten Ort seiner Reise, dem Haus des Hörensagens, gerade eine Szene beobachtet, die neugieriges Verhalten in Liebesdingen exemplarisch zeigt: Ich aber sah aus diesem Grund // Sofort dahin, denn Alles lief // dem Orte spornstreichs zu und rief: »Was giebt es hier?« – und Andre sprachen: // »Wir wissen’s nicht!« – und damit brachen, // Die hinten standen, allgemein // Auf ihre Vorderleute ein // Und kletterten auf ihre Nacken // Und traten sie mit ihren Hacken, // Indem empor ein Jeder schrie, // Und stampften, wie den Pfeffer, sie. // Und schließlich sah ich einen Mann, // Welchen ich nicht nennen kann, // Indessen soviel scheint mir klar, // Daß er von großem Ansehn war. (HF III,1054–1068)124
Einige Interpreten legen das Begehren des Ich-Erzählers nach »newe tydings« als Erwartung der Heilsbotschaft des Evangeliums aus. Dies ist eine Interpolation, die sowohl in der allegorischen Kontrastierung von irdischer und himmlischer Liebe125 als auch in der von irdischem und ewigem Ruhm plausibel erscheint.126 Man könnte aber durchaus überlegen, ob hier ein spätmittelalterlicher Autor schon versucht, über den Begriff des Neuen der theologisch-philosophisch grundierten Erkenntnis zu entkommen, dass alle Geschichten schon Gewusstes immer wieder reproduzieren helfen. Der unbekannte Gesprächspartner wird dialogisch für die kommenden Szenen eingespannt, um zwischen dem, was der Ich-Erzähler (topisch) schon weiß, und dem, was er noch nicht kennt, eine wiederum metapoetische Kommentarebene zu ermöglichen. Diese verweist auf eine weitere Selbstlektüre des Textes, jetzt in und über Famas Haus des Hörensagens, in das der Erzähler von dem
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Hier endet Chaucers Versepos. Die wenigen Zeilen, die der Übersetzer Adolf von Düring folgen lässt, sind dessen eigene Zutat: Er lässt den Ich-Erzähler noch aus dem Traum erwachen. Dies ist einer der spirituellen Subtexte für die Auseinandersetzung des Erzählers mit der Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas. Vgl. dazu Koonce. Chaucer.
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III. Famas Medium
Unbekannten nach dem Palastbesuch gebracht werden wird. Der Ort, mit dem »Geoffrey« die Abwiegelung des Ruhmesgedankens verbindet, weist ihn als Erzähler auf der Suche nach Stoffen wie »Liebe oder lust’gen Dingen« (HF III,799) aus. Diese Art Neuigkeiten soll er in einer im Tal gelegenen Hütte erfahren. Sie ist die vegetabilische Metamorphose von Famas Palast auf dem Eisberg. Die Hütte besteht aus Flechtwerk und die in ihr beobachteten Geschehnisse erzeugen ein Widerspiel auf die Gesten und Medien der großen Geschichte oben in Famas Palast.127 In dieser Gegenüberstellung wird eine ›altägyptische‹ Konfiguration der Gedächtnismedien Stein und Schilfrohr erinnert128 und (in der Schrift von Chaucers Epos) Schriftlichkeit und Mündlichkeit in ihrem interdependenten Verhältnis vorgeführt. Die Hütte ist Sinnbild der im Umlauf sich bewegenden Kommunikation, allegorische Erscheinung von ›discurrere‹ wie des Tönens: Schnell und flink // Wie der Gedanke rundum ging // Dies wunderliche Haus für immer, // Und stille stand es nun und nimmer. // [...] // Das Haus, von dem ich rede, war // Emporgerichtet ganz und gar, // Hier grün, dort weiß, aus Rohr und Zweigen // Und Weiden, wie den Körben eigen, // Den Kiepen, Hüten und Gehegen, // Die Leute oft zu flechten pflegen. // Und durch den Wind und das Gebraus // Der Zweige füllten dieses Haus // Gar manche Töne, Schälle, Klänge // Und Zwitschern und Geräusch die Menge. // Es hat an Thoren dieser Raum // So viel, wie Blätter sind am Baum, // Wenn grün zur Sommerszeit er steht. // Das Dach Ihr rings durchbrochen seht // Von tausend Löchern und noch mehren, // Dem Schalle Ausgang zu gewähren. (HF III,833–860)
Palast und Hütte kommunizieren über die Sinnbilder der Dichtung miteinander, weisen, neben allen symbolischen Unterschieden, Ähnlichkeiten miteinander auf, sind wie Ruhm und Gerücht eher Geschwister als Feinde. Wie der Palast ist auch das vegitabilische Gebäude nach allen Seiten geöffnet und bietet Raum für unzählige Kommunikate der Welt, die ohne »Pförtner« nach Belieben ein und ausgehen: Stets voller Neuigkeiten ist [der Ort], // Voll lautem Sprechen und Geflüster, // Und selbst die fernsten Winkelplätze // Füllt stets Geplauder und Geschwätze: // Von Frieden, Ehestand und Streit // Von Reisen, Arbeit, Müßigkeit, // Von Ruhe, Leben, Tod und Zank, // Von Eintracht, Haß und Wissensdrang, // Von Krankheit, Heilung, Liebessehnen, // Von Lob, Gewinn und Gründungsplänen, // Von Stürmen und von gutem Wind, // Von Pest bei Vieh und Menschenkind, // Von Land und Staat und ihren schnellen // Und mannigfachen Wechselfällen, // Von Thorheit, Eifersucht und Witz, // Verfall und Brand, Gewinn, Besitz, // Von Ueberfluß und Hungersnoth, // Von billigen und theurem Brod, // Von guter und von Mißregierung // Und von des Zufalls blinder Führung. (HF III,861–886)
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Vgl. zu den Anspielungen auf Käfig und Labyrinth Boitani. Chaucer. S. 189ff. Vgl. zur ägyptischen Konfiguration aus monumentalen Erinnerungszeugen in Stein und »vergänglichen Materialien« des täglichen Lebens Jan Assmann. Stein und Zeit. Das »monumentale« Gedächtnis der altägyptischen Kultur. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von dems. und Tonio Hölscher. Frankfurt/M. 1988. S. 87–114. Zitat S. 92.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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Während die Palast-Fama sich beim Besuch des Erzählers vor seinen Augen in die Höhe ausdehnt (s. HF III,279ff.), wächst das andere Haus in die Breite. Und gegen den Kult, der in Famas Palast um personale Berühmtheit getrieben wird, scheint sich hier mit den ›Neuigkeiten‹ das alltägliche Geschichtenerzählen von jedermann zu behaupten. Dessen Produktivität und horizontal verlaufende soziale Vermitteltheit wird kein Autor auf der Suche nach erzählbaren Stoffen geringschätzen.129 Statt die Trompeten für den guten oder schlechten Ruf zu blasen, bespielt Aeolus hier das Flechtwerk des Hauses. Die labile Architektur »hält« »wie’s Frau Aventiur gefällt / Die Mutter ist von jeder Sage« (HF III,892f.).130 »Aventiur« travestiert in den Rumor-Szenen und deren Stoffen die Szenarien von Ruhmesrede und -schrift. Hier geht es jedem darum, das Gehörte sofort unter den Umstehenden öffentlich zu verbreiten, gerade so, wie etwa der Aristotelesschüler Theophrast in seinen Charakteren den Typus des Schwätzers beschrieben hat (s. HF III,953ff.).131 Wie Fama vergrößert sich das Erzählte in der Kommunikationskette. Und Erzählungen, dies ist die poetologische Lehre, entstehen selber als Folge eines Weitersagens, wo Viele Eins zum Anderen fügen. Der Ich-Erzähler als Beobachter von Anderen kann dabei die Veränderungen, die zwischen einer ersten und einer zweiten Erzählung liegen, erkennen: Doch war das größte Wunderding: // Wenn Einer etwas hörte, ging // Er gleich zu einem Andern und // That ihm dieselbe Sache kund, // Die er so eben selbst vernommen. // Doch, eine Strecke weit gekommen, // Vermehrte sich bei dem Berichte // Um so viel Neues die Geschichte, // Wie zuvor noch nie darin. (HF III,969–977)
Anreichernde, mündliche Kolportage parodiert also mit leichter Hand historiographische Reflexionen über Wahrheit und Lüge. Die Traumerzählung profitiert dabei selbst von den Verschiebungen, die sich zwischen einem Ersten und einem Zweiten ergeben: Im Medium der Schrift scheint es möglich zu sein, das Nachfolgende bei seinen Zuwächsen und Neuerfindungen zu ertappen, über den Vergleich verschiedener Versionen. Der Text der Dichtung, der so viel zum Lobe des mündlichen Erzählens sagt, ist selbst ein schriftgebundener Überlieferungszeuge. Der Ich-Erzähler tritt so als Augen- und Ohrenzeuge in seiner Schrift in zweifacher Hinsicht auf: In der fiktiven Szene kopräsentischer Beobachtungen und Interaktionen mit seinen Begleitern nimmt er an Szenen der Mündlichkeit teil, im Medium der aufzeichnenden Schrift beobachtet sein Erzählerbericht Vorher und Nachher von mündlichen Performanzen aus der Perspektive des Außenste-
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Der Katalog der Themen, den hier die »tydings« aufrufen, wird in der Forschung als vorwegnehmender Hinweis auf die Canterbury Tales interpretiert, deren Abfassung auf die Zeit nach Chaucers House of Fame datiert wird. Der Erstdruck der Canterbury Tales erfolgte 1478. Englisch: »Whyl that it list to Aventure, / That I the moder of tydinges«. Chaucer. The Hous of Fame III,1982f. Theophrast. Charaktere. Griechisch und Deutsch. Übers. und hg. von Dietrich Klose. Mit einem Nachw. von Horst Steinmetz. Bibliogr. erg. Ausgabe. Stuttgart 2000.
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henden, nachträglichen Berichterstatters. So beobachtet die Dichtung in ihrem eigenen epischen ›Später‹, was bei einer realen unmittelbaren Beteiligung in der Mündlichkeit eher schwerfallen würde: Die Lust, etwas zu dem hinzuzufügen, was ein Vorangehender gesagt hat. Die Distanziertheit des erzählend-erzählten Ichs als ein zunächst ›visuell‹ und ›auditiv‹ beteiligter Beobachter korreliert so mit dem späteren Aufschreibeakt, der einen vergangenen Traum festhält. Die narrativ erzeugte Distanz des Beobachters der Fama-Szenen ist damit analog zur medialen Distanzierung, die Schriftlichkeit gegenüber vorgängiger Mündlichkeit einnimmt. So schiebt sich auch in Chaucers Dichtung die auctoritas des Schreibenden vor den Leser als nächsten Beobachter der vor ihm schriftlich ausgebreiteten Szenen, denn Letzterer wird ja nie erfahren, was der Erzähler als Schreiber selbst noch ›dazu‹ erfunden oder auslassend verschwiegen hat. Doch liegt das Wunder jeder Fama-Kommunikation, das Chaucer in einem dichtungstheoretisch emphatischen Sinne zu verfolgen scheint, gerade in der Veränderung dessen, was erzählend und/oder aufschreibend immer wieder weitergegeben wird. Die körperliche Erscheinung von Fama ist so auch für den Traumerzähler faszinierend und abstoßend zugleich. Ihre Darstellung orientiert sich nicht nur an Vergil (s. HF III,280ff.),132 sondern wird synkretistisch angereichert durch Anspielungen auf die Tiere in der Johannes-Offenbarung (s. HF III,287ff.). Ja, das Monster bleibt schön in seiner vorgestellten Monstrosität, ist nicht allein ein Übel, sondern ein faszinierendes Bild, das die Bedingungen von Möglichkeiten jedweder Kommunikation allegorisch einfängt. Metamorphotisches überbietet darin eine allein ethische Lesart von Famas Wirkungen. Dass sich in Palast und Hütte das Falsche mit dem Wahren verbindet, ist in diesem Sinne eine unhintergehbare Bedingung, die zeigt, wie die Gesetze und ethische Normen jederzeit, an jedem Ort außer Kraft gesetzt werden können. Denn was »mehr und mehr auf jeder Zunge // Gewachsen« (HF III,992f.) verlässt miteinander verwunden im Fluge das Haus des Hörens und Sagens, um seinerseits Famas Palast aufzusuchen, die Kreisbewegung und den Austausch zwischen den unterschiedlichen Höhenlagen von Fama fortsetzend: Bisweilen aber sah ich dort, // Wie eine Wahrheit, eine Lüge // Zufällig ihre beiden Flüge // Gleichzeitig nach dem Fenster wandten. // Dort aber angekommen, rannten // Sie aneinander; doch zum Haus // Flog von beiden keins hinaus; // So machten sie den Rang sich streitig, // Und beide schrieen gegenseitig: // »Laß mich erst gehen!« – »Nein, lasse mich! // Und ich verspreche sicherlich, // Wenn Du es thun willst – Eid für Eid! – // Daß ich an Dir will alle Zeit // Als Dein geschworner Bruder hängen. // Laß mit einander uns vermengen, // Damit kein Mensch, wie ärgerlich // Es ihm auch sei, Dich oder mich // Erhalte. – Nein! uns zwei vereint, // Ob Morgen oder Abend scheint, // Und ob wir laut uns nahn, ob leise.« // So zog als Nachricht auf die Reise // Wahrheit und Lüge fest gepaart. (HF III,998–1019)133
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Vgl. Vergil. Aeneis IV,173ff. Engl.: »Thus saugh I fals and sooth compouned / Togeder flee for oo tydinge.« Chaucer. The Hous of Fame. III,2108f.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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Der Streit der Historiographen über Wahrheit und Lüge wird so, frei nach Aristotelischer Dichtungstheorie, der philosophischen Einsicht der Dichtung anvertraut, dass keine Rede im gemeinsamen Kosmos des Sprechens und Schreibens über das Recht auf Erstgeburt verfügt. Und, wie es der Zufall will, sind Wahrheit und Lüge schon immer »fest gepaart«. Mit der Einkehr mündlicher Fama in Famas Palast schließt diese kommunizierend an die Szenen an, die dort geschehen. In einer gegenläufig-komplementären Bewegung gerät der Ich-Erzähler aus den zuerst aufgesuchten Zonen dominanter Schriftlichkeit in die Zonen dominanter Mündlichkeit, um sich dort an die unaussetzbare ›Vorläuferschaft‹ der Mündlichkeit für alle geschriebene Sprache erinnern zu lassen. Während das Haus des Hörensagens um sich selbst kreist und Sprache entlässt, kreist die Fama-Kommunikation des Palastes mit ihren Zeichen um ihr Zentrum, Famas Thron, und eine Erinnern und Vergessen organisierende Zuteilungspolitik. Dabei nehmen auch dieser Ort und seine Kommunikatoren das Vorher der gesprochenen Sprache laufend auf, um es in ein Nachher wieder zu entlassen. Linear-einsinnige Bezüge zwischen Vorher und Nachher werden von dem Kreisgang der Hütte und vom reisenden Erzähler, der ›am Ende‹ seines Traums die ›Anfänge‹ der Sprache in der Mündlichkeit aufsucht, konterkariert. So ›spricht‹ auch seine Schrift nicht das letzte Wort über Sprache überhaupt, sondern kolportiert mögliche Stationen im Austausch von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Topik, die der Text über Person und Sache ›Fama‹ ausfaltet, stellt neben die Musen (s. HF III,310f.), die antiken Geschichtsschreiber und Dichter (s. HF III,340ff.),134 die Herolde (s. HF III,231), die »Schreiber« (HF III,424), die »Erzähler« (HF III,107) von Geschichten, die »Spielleute« (HF III,106), schließlich das »Volk in Massen und in Haufen« (HF III,946). In »Fama[s] Reich« (HF III,110) gehören ebenso diejenigen, die die Einbildungskraft der Menschen vorzüglich beschäftigen: Dort sah ich Taschenkünstler spielen // Und Gaukler, Magier neben vielen // Beschwörerinnen, Zauberinnen, // Traum- und Zeichendeuterinnen // Und alten Hexen, die von dannen // Die Geister räuchern und verbannen // Und jene Kunstgelehrten, die // Durch die natürlich Magie // Bei günstiger Planetenzeit // Mit Schlauheit und Geschicklichkeit // Uns Bilder zaubern, deren Kraft // Krank und gesund die Menschen schafft. (HF III,169–180)
Hier wird auf poetischem Wege eine Verbindung zum Anfang des Epos hergestellt, wo sich das Erzähler-Ich mit Deutungen der Funktionen seines phantastischen Traums auseinandersetzt. Fama als unendliches Echolot des Hörens, Sagens, Schreibens und Lesens vervielfacht sich in ihren unzähligen Stellvertre134
Etwa Flavius Josephus, Statius, Homer, die Geschichtsschreiber und Erzähler des Troianischen Kriegs, bis zu »Englands Galfried« (HF III,380) und schließlich »Latiums Poet, Virgil / Der für Aeneas’ Ruhm soviel / Gethan und ihn emporgetragen.« (HF III,393ff). Galfrids Erwähnung impliziert ebenfalls den Hinweis auf eine begründende Tat, nun in der Geschichtsschreibung: Galfrid von Monmouth ist »Verfasser der fabelhaften ›Historia Bretonum‹, welcher die Einwanderung der Briten in England an die Zerstörung Trojas knüpfte«. Düring. Anmerkungen. S. 93.
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III. Famas Medium
tern und -vertreterinnen, deren Listen der Erzähler mit zeitgenössischen Kommunikatoren fortsetzt: Schiffer, Pilger, Ablasskrämer, Verkäufer, Abgesandte, Boten, Läufer (s. HF III,1032, 1037, 1038). Typologie und Enumeratio sind in diesem Sinne frühe Formen von Statistik, die überindividuelle Produktions- und Rezeptionsmodi in den Blick nehmen. Chaucers Dichtung House of Fame spielt so mit der Fülle des Wunderbaren und des Gewohnten, des neu Erfundenen und Bekannten zahlreiche überlieferte Aspekte von Fama als Medium der Kommunikation und als Allegorie der Sprache durch. Die Verteilung von Famas Facetten auf zwei Orte und deren unterschiedliche Architekturen nutzt die Topik eines Bedeutungsspektrums, das hohe und niedrige Bereiche in der symbolischen Ordnung des ganzen gesellschaftlichen Zusammenhangs und dessen Medien und Kommunikationen reflektiert. Famas Reich zieht so seine weiten Kreise, die die Herrschaft der Dame Fama in den Randlagen, die sich an den zentralen Thronsaal anlagern, ›abflachen‹, ohne dass diese symbolische Verteilung im Raum der Kommunikation allein schon über den kulturellen Rang von Historiographie, Dichtung und mündliche Kolportagekünste entscheidet. In dem über Fama allegorisch verabsolutierten Hybrid von Kommunikation und ihren Medien vermischen sich personifizierte Körper und Stimmen, Hoch und Niedrig, persönliche, unpersönliche, individuelle und kollektive Äußerungen. Im Echoraum der unendlichen Sprache, der mit »Fama« aufgerufen und in ihrem Namen weitererzählt und -geschrieben wird, zeigt sich so der Kommunikationsfluss, der seine menschlich bemessene Zeit verbraucht und menschlich dimensionierte Räume durchquert. Chaucers Dichtung House of Fame misst genauso der Unerschöpflichkeit von Kommunikationen einen begrenzten Schrift- und Gedächtnisraum zu. Seine Dichtung archiviert Fama in einem ironisch gebrochenen Umgang, nicht nur mit den auctores, sondern mit Fama selbst und bezeugt zugleich die universelle Bedeutung von Fama in individueller und kollektiver Spracharbeit. Wahrheit, Lüge, Erinnern und Vergessen sind in der phantasmatischen Referenzfigur von Fama, ihren Orten und Medien – darauf macht Chaucers hochkomplexe Dichtung aufmerksam – Komplemente einer unablässigen Bewegung von Kommunikation überhaupt, die ihre Spuren in allen Geschichten und deren Zeichen hinterlässt. Die Dame Fama entzieht sich mit ihrer Gestalt gewordenen Indifferenz gegenüber Wahrheit, Lüge, gerechten und ungerechten Zuteilungen einem ethisch begrenzten Maßstab. Fama repräsentiert allgemeine Gesetzmäßigkeiten von Kommunikation, aber keinen verbindlichen Nomos. Dieser Entzogenheit von Ethik und Nomos entspricht die im kollektiven ›Irgendwo‹ aufkommende Fama-Rede über Personen und Ereignisse strukturell. Private und alltägliche Geschichten werden ebenso im Umlauf gehalten wie solche von politisch umfassender Bedeutung. Liebe, Krieg, Heldentum, Triumph und Versagen begegnen sich im unkalkulierbaren Überall von Fama. Die anonymen Kolportagen über Personen und Ereignisse können jederzeit in den immer interessierten kollektiven Echoraum des Sozialen hineingesprochen werden, der sich das eine Mal für die individuellen, ein anderes Mal für die kol-
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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lektiven Folgen erwärmt. Die Vermengung von Persönlichem, Unpersönlichem, Individuellem und Kollektivem, Wahrheiten und Erfindungen sind das Normale und Monströse an Fama zugleich.135 So herrscht Fama in ihrer dezentrierten Unendlichkeit als die nie abzugeltende Größe, die durch das Begehren nach Kommunikation aufgerichtet wird. In diesem Sinne überschreitet Chaucers Fama auf geradezu moderne Weise einen heilsgeschichtlichen Rahmen, über den allumfassende Kommunikation und göttliches Gedächtnis noch in eins geführt werden könnten. Und auch die Unberechenbarkeit von Zuteilung, man könnte auch sagen, von Aufmerksamkeit, verweist eher auf moderne Aspekte von ubiquitärer Kontingenz, die menschliches Handeln jederzeit einholen kann. Zwar lassen sich innerweltlich in Famas Stellvertretern, den Medien der Kommunikation, die Rätsel der Zuteilungen demonstrieren, aber nicht restlos, auf ein Subjekt der Geschichte hin auflösen. An Auflösungen von Famas rätselhaftem Wirken wird dennoch in Historiographie und Dichtkunst weiter gearbeitet. Es bleibt allerdings eine zwiespältige Angelegenheit, Fama für ein Medium wie etwa die Zeitung symbolisch in Anspruch zu nehmen. Einerseits figuriert »Fama« auf den Zeitungen des 17. Jahrhunderts wie »Merkur« als Allegorie einer Gewährleistung für Information, die Aufmerksamkeit und auch Gedächtnis stiftet. Andererseits erinnert gerade »Fama« in und mit der Zeitung daran, dass die Wahrheit über die Wirklichkeit, die Aufmerksamkeit dafür und das Gedächtnis Effekte von machtbegründeten und zeitgebundenen Verabredungen sind. Schon die ›nackte‹ Relation und die historisch-politische Zeitung, in der sie steht, sind keine neutralen Vermittler und ihr gedrucktes Wissen hat nicht allezeit Bestand. Sondern Zeitungstext und Zeitung, für die Merkur und Fama unterwegs sind, bleiben raum- und zeitbezogenen, darin symbolisch verabredeten und hierin historisch kontigenten Interaktionen verhaftet. So fällt ja schon früh auf, dass je und je getroffene Verabredungen über das, was mit den periodischen Zeitungen ›in Wirklichkeit der Fall‹ sein soll, labile Konstruktionen sind. Dies ist für staatspolitische Beobachter von Fama wie etwa Francis Bacon offensichtlich, wenn die öffentliche Stimme von unten aus ihrer Latenz in rebellische Manifestationen gegen die Stimme von oben umschlägt. Und die geschwätzig-diskurrierende Fama über dies und das erobert sich zeitgleich mit der periodischen Zeitung den Raum der gedruckten Schrift. Auf Dauer bringt dies die in politischen und gelehrten Kreisen der Schriftkultur gehandelten Macht-Programme für den Nachrichtentransfer und Informationsgebrauch ›zum Kreisen‹. Kaspar Stielers gelehres Buch über Zeitungs Lust und Nutz von 1695 zieht bereits eine enzyklopädische Summe aller Einschätzungen, die über die Zeitung im Umlauf sind. Verbunden mit seiner Bemerkung: »Ist alles einerley«, listet Stieler die
135
Vgl. dazu Die Kommunikation der Gerüchte.
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III. Famas Medium
zeitgenössischen Bezeichnungen auf: »Zeitung«, »Avisen«, »Gazetten«, »Couranten«, »Relationes«, »Novellen« und »Neuzeitungen«. Sie alle verweisen auf einen neuen Wissenstyp Zeitung, bei dem sich unter dem Leitgedanken von Information schon rationale Aspekte funktionaler Differenzierung ansatzweise herausschälen: Das Wort: Zeitungen: kommet von der Zeit / darinnen man lebet / her / und kan beschrieben werden / daß sie Benachrichtigungen seyn / von denen Händeln / welche zu unserer gegenwärtigen Zeit in der Welt vorgehen / dahero sie auch Avisen / als gleichsam Anweisungen genennet werden: Denn das Wort Avisen bedeutet anweisen / anzeigen / oder berichten / was bey uns oder anderswo sich begibt: Immassen insonderheit die Avis-Briefe anders nicht seyn / als Benachrichtigungen von Abschickung der Wahren / so zu Lande und Wasser gesendet werden: Ingleichen betreffen sie die Wechsel und Auszalung / so ein Kaufman auf den andern ziehet / und übermachet. Wiewol die Avis-Briefe auch nicht selten blosse Bericht-Schreiben von ein und dem andern Vorgange seyn / und also auch den Statsleuten und gemeinen Personen zukommen.136
Für Stieler ist die Bezeichnung »Gazette« dagegen ein Einfallstor, um romanische Lebens- und Stillagen mit geschwätziger Auskunftsfreudigkeit zu verbinden: Auf Franzöisch [sic] werden sie auch Gazetten genennet / entweder von den schriftlichen Gesprächen und Unterredungen / oder schimpfsweise von Klappern und waschen / als wie etwa Vögel und Kräen ein Gewäsch machen.137 Aus dem Lateinischen entspringet das Wort Couranten / welches von denen Courirs seine Abstammung hat / als welche laufende Boten seyn / so von Potentaten / Städten / Kaufleuten und Bürgern in ihren Angelegenheiten von einem Ort zu andern verschickt werden / mündliche oder schriftliche Post zu übertragen / und darauf Antwort zu rück zu bringen. Insonderheit heisset man sie auf Lateinisch Relationes / das ist: Nachricht / Erzehlung / Benachrichtigung. Ist alles einerley. Daß sie aber auch Novellen benamet werden; geschiehet darum / weil sie von neuen Sachen / so da kürzlich vorgangen / handeln. Wes halber sie auch bey uns mit dem Beysatz wort Neuezeitungen ausgedrücket werden.138
Zwischen den französischen Anzeigenblättern des 17. Jahrhunderts, den »Gazettes«, und dem italienischen ›gazzetare‹ für Schwatzen besteht eine etymologischideelle Verbindung, in die Fama als Gerücht eingegangen ist. Die Beobachtung der Zeitung unter dem Vorzeichen von Gerüchtekommunikation lässt sich auch einer Beschreibung des späten 19. Jahrhunderts zu einem barocken Kupferstich entnehmen, »der die Bedeutung der ersten Pariser Zeitung, der 1631 von Théophrast Renaudot gegründeten ›La Gazette‹ feiert«.139 Der Kommentar des 136 137 138 139
Kaspar Stieler. Zeitungs Lust und Nutz. Vollst. Ndr. der Originalausg. von 1695. Hg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969. S. 25. Zur etymologischen Verbindung von weiblicher Klatschsucht und Wäsche waschen über das Wort Gewäsch vgl. Althans. Der Klatsch, das Sprechen und die Arbeit. Stieler. Zeitungs Lust und Nutz. S. 25. Berns. Der nackte Monarch. S. 330. Anm. 24; zu Renaudot und seiner Gazette Anuschka Tischer. Obrigkeitliche Instrumentalisierung der Zeitung im 17. Jahrhunderts: die Gazette des France und die französische Politik. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 455–466; Stéphane Haffemeyer. L’information dans la France du XVIIe siècle. La Gazette de Renaudot de 1647 à 1663. Paris 2002.
III.3. Famas Botschaften (mit einem Exkurs zu Geoffrey Chaucer House of Fame)
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19. Jahrhunderts deutet die Frauenfigur auf dem Titelblatt von Renaudots Zeitung als »Madame Gazette«. Auch bei ihr hat Fama Patin gestanden; allerdings scheint dieser Gazette nicht nur die Trennung der Geschwister Wahrheit und Lüge gelungen zu sein, sondern auch das Rätsel der rechten Zuteilung scheint nun mit den Verfahren der Kritik gelöst worden zu sein: Auf einem Thron, dessen Stufen mit Papierblättern bestreut sind, sitzt eine junge Frau von anmuthiger Gestalt und freundlichem Antlitz, das ist die Gazette. An ihrer linken Seite sitzt ein Weib, das die nackte Wahrheit vorstellt, nackt in des Wortes verwegenster Bedeutung, rechts hinter ihr steht eine Persönlichkeit, deren Gestalt verhüllt ist und deren Züge, die soeben von Madame Gazette von einer Maske befreit worden sind, die reine Galgenphysiognomie zeigen, das ist die Lüge. Das Gewand der die Gazette vorstellenden Dame ist mit Zungen und Ohren besät. Boten aus verschiedenen Ländern bringen Neuigkeiten und überreichen sie in achtungsvoller Haltung der Zeitungsdame. Diese nimmt die Blätter mit der Linken in Empfang und gebeut mit der Rechten einer an einem Pult sitzenden Person, zu schreiben; das ist Renaudot. In seiner Nähe steht ein Zeitungs-Austräger mit einem kleinen Korb voll von Zeitungsnummern. Um Renaudot drängen sich junge Leute: Stutzer, Spieler, milites gloriosi et hoc genus omne und bieten ihm Gold an, um in seiner Zeitung gelobt zu werden, aber er wendet sich verachtungsvoll ab und giebt auf ihre Alexandriner in demselben Versmaß eine Antwort, die in freier Übersetzung etwa lautet: »Ein Redner bin ich, bin auch Maler und Poet / Ich schreib’ nur was geschieht, lob’ Gutes, Falsches rüg’ ich; / Und ob man oftmals auch mich Lügner hat geschmäht, / Schreib’ ich gelassen fort, doch wahrlich! niemals lüg’ ich.«140
Die Zeitung als Famas Medium opiert nicht nur an und mit der Unterscheidung von Ruhm und Gerücht, Wahrheit und Lüge, Historiographie und Dichtung, sondern auch mit und an der Differenz Information und Unterhaltung. Der Zeitungsrationalität, die sich in ihren unterschiedlichen Funktionen spiegelt, korrespondiert die Hybridität des Mediums Zeitung, die die Zeitungstheorie als zugleich Kommunikationstheorie von Beginn an begrifflich herausgefordert hat. Noch die Zeitungsbegrifflichkeit des 18. Jahrhunderts weiß um die für viele Beobachter prekären Verbindungen, die Fama mit der gedruckten Zeitung eingeht. Für Jakob Paul Marperger etwa verweist der Zeitungsname »Courant« 1726 noch auf das befremdliche Crescendo, das zirkulierende Kommunikationen erzeugen: Couranten heissen [die Zeitungen], weil sie von einer Stadt, ja (wie es theils mit Lügen, theils mit Plaudereyen gar gebräuchlich ist) von einem Hause zum anderen lauffen, also, daß solche denen von hohen Bergen herunter rollenden Schnee-Ballen gleich seyn, welche, wie klein sie auch anfänglich gewesen, endlich entsetzlich groß, ja von kleinen Kindern in wenigen Tagen zu großen Riesen werden, also daß der Vater der sie gezeu-
140
Zit. n. Berns. Ebd. S. 330f. Anm. 24. Die Beschreibung des barocken Stichs zitiert Berns aus N.N. Théophraste Renaudot. Ein Vergessener. In: Archiv für Post und Telegraphie, Beiheft zum Amtsblatt des Reichs-Postamts 22 ([November] 1893). S. 797.
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III. Famas Medium
get, selbige hernach selber nicht mehr kennet, und sich über ihren geschwinden Wachsthum verwundern muß.141
So spielen auch die zeitungsrelevanten Etymologien, die der Eintrag »Zeitung« im Zedler’schen Universal-Lexikon Mitte des 18. Jahrhunderts bucht, noch auf Famas Eigenarten an. Unter dem Eintrag »Zeitung, Avisen, Courante, Lat. Nova, Novellae, Frantz. Gazette« heißt es dort: Wir müssen endlich noch die Nahmen der Zeitungen, bey verschiedenen Völckern betrachten. Die Römer haben die Anzeige desjenigen, was täglich in der Stadt vorgegangen LIBROS DIURNOS oder schlechterdings DIURNOS auch DIURNA geheissen: wonach die Frantzosen das Wort JOURNAL aufgebracht, womit sie die Tage-Zeitungen benennet haben: endlich haben die Italiener daraus das Wort GIORNO, GIORNALE nachgemacht. Weil nun diese Zeitungen in einem gemeinem Ruffe, Sage, oder Gewäsche des Volcks bestanden: so haben die Italiener dafür auch das Wort GAZETA angenommen, und die Frantzosen GAZETTA, GAZETTIER gesagt, das ist, eine Zeitung, Zeitungs-Träger oder Zeitungsschreiber.142
Die nun schon konstatierte Konkurrenzbeziehung zwischen anonymem Redeaufkommen in »Gazetten« und der Verlässlichkeit von gelehrten »Journalen« oder historisch-politischen »Tage-Zeitungen« kopiert bewertende Unterscheidungen aus dem Umfeld der Zeitung zum Zwecke interner Differenzierungen. Das Geldwesen bietet sich dabei an, um die Zirkulation der Zeitung mit der Zirkulation der Sprache zu vergleichen und Zeitungsbegrifflichkeiten wie »Journal« oder »Gazette« in einen etymologisch begründbaren Zusammenhang zu stellen. So habe ein Theoretiker der Zeitung nach allen Hin- und Hersinnen [...] gewust, woher er den Ursprung dieses Wortes herleiten solle. [...] Also meynt [er] die schlechten Müntzen hiessen Gazetten; welchen die gemeinen Zeitungen in dem geringen Werth gleich wären. Allein das Gegentheil ist wohl offenbar: gemeine Zeitungen, Gewäsche, Geschwätze, Gauzereyen; die heissen Gauzetten oder Gazetten. Daher hat auch das kleine schlechte Geld davon den Nahmen bekommen. Die Deutschen heissen noch jetzo eine fliegende Zeitung Gauzerey, Gazerey, Gewäsche, Plauderey. Er gazet etwas daher, heisset so viel, als, er plaudert einem etwas vor; einen Gazer nennen sie einen Wäscher, Plauderer, Zeitungs-Träger. Dieses zeiget, daß die Gazetten von den Deutschen Venetianern den Nahmen bekommen und angenommen haben. Weil auch die Italiener eine geschwätzige Aelster gaza nennen: so ist es glaublich, daß diese von den gemeinen Deutschen Worte Gautzen, Gazzet, oder Schreyen herstamme, und gazetier einen Gauzer, Gazer oder Schwätzer bedeute.143
141
142 143
Marperger. Anleitung Zum rechten Verstand, zit. n. Rudolf Hillenbrand. Deutsche Zeitungstitel im Wandel der Zeiten. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zeitung. Diss. Universität Erlangen-Nürnberg 1963. S. 40f.; vgl. zu Marpergers Zeitungsschrift auch Die Zeitung. S. 94ff. [Anonym.] Zeitung. Sp. 907. Ebd. Sp. 907f. Vgl. auch Wilhelm Meyer-Lübke. Romanisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 41968. S. 311, unter Eintrag 3640: (lat.) gajus/»Häher«, gaja/»Elster«, die Wortgeschichte im Italienischen. Diese führt sowohl zur geschwätzigen Elster wie zu geschriebenen Zeitungen und zum Geld: it. gazzera/Elster, gazzarra/Lärm, altvenezia-
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Der Vorwurf Zeitungsgeschwätz bindet die Zeitung wiederum an die amorphen Erscheinungsweisen kollektiver Kommunikationen, denen die Tendenz zum ›Rauschen‹ eignet.144 Famas Sinngehalt, der den Zeitungen des 17. Jahrhunderts zunächst emblematisch mit auf den Weg gegeben wird, wird in der gelehrten Zeitungstheorie, aber auch in den Selbstbeschreibungen von Zeitungspraktikern für Famas neues Analogmedium konzeptuell weiter verarbeitet. Denn hier treffen kollektive Rede und machtgesteuerte Schriftformen aufeinander. Fama repersonifiziert sich auch in jedem Neugierigen, der sich auf diese oder jene Weise seine Informationen und Unterhaltungen aus der Zeitung holt, um seinerseits Beiträge im omnipräsenten Haus der Kommunikation abzuliefern. Je ›allgemeiner‹ die Zeitung in ihrem kommunikativen Gebahren wird, umso mehr geschieht dies, sei es als druckschriftliche, sei als mündliche Teilnahme. Je nachdem, von welchem historischen Ort aus die hybriden Botschaften des Mediums Zeitung gelesen werden, wird es in seinen verschiedenen Grenzgängen zwischen anderen Medien und Kommunikationsformen auch unterschiedlich bewertet. In den folgenden Kapiteln wird der Akzent auf die gelehrte Beobachtungsweise gelegt, wird hier doch erstmals eine Theorie der Zeitung als wichtige Problemstellung erkannt und das historische Projekt einer allgemeinen Zeitungstheorie begonnen. Dabei wird allerdings Famas moralischer Indifferenz gegenüber dem, was geschieht, und ihrer kontingenten Zuteilung von Archivwürdigkeit und Aufmerksamkeit durch gedruckte Schrift auf verschiedenen Wegen weiter entgegengearbeitet. So ist Zeitungstheorie nur in ihrer eigenen Doppelstrukturiertheit zu fassen: für und zugleich wider die Zeitung argumentierend. Darin bleibt sie mit unterschiedlichen Ethiken der Kommunikation verbunden.
144
nisch gazeta/kleine Münze, gazeta dele novità: »geschriebene Blätter, die die Nachrichten über die venezianischen Levanteunternehmungen enthielten und um eine gazeta verkauft wurden«, »daraus dann it. gazzetta«. In Venedig tauchen die Bezeichnungen »avvisi« und »gazzette« im 15. Jahrhundert auf. Die Ausdrücke beziehen sich auf zunächst von Hand, später dann im Druck vervielfältigte Nachrichten; vgl. dazu auch WGr 24; Jerilyn McIntyre. The Avvisi of Venice: Toward an Archeology of Media Forms. In: Journalism History 14 (1987). S. 68–77; zur Geschwätzigkeit der Vögel, mit einem medienarchäologischen Blick, Bernhard Siegert. Vögel, Engel, Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel in Zusammenarb. mit Peter Göhler u.a.. Berlin 1997. S. 45–62. Wie stabil die Geschichte der Kultur- und Medienkritik sich in Bezug auf die Kategorie des Geschwätzes erweist, zeigt auch Georg Stanitzek. Essay – BRD. Berlin 2011. S. 108ff.
IV.
Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
IV.1. Vorbemerkung: Gelehrter Universalismus und die Universalie Kommunikation Der gelehrte Zeitungsdiskurs, der den Siegeszug der gedruckten Zeitung seit dem 17. Jahrhundert kritisch begleitet, diskutiert insbesondere, in welchem Verhältnis die Zeitungen zu den politischen und gelehrten Ordnungen des Wissens stehen. So verfügt das Periodikum für seine ersten Theoretiker über eine historiographische Praxis, die fortlaufend die Schrift-Archive von historisch-politischen Ereignissen ergänzt. Daneben ist die Zeitung den generalisierten Zwecken des kommunikativen Umlaufs von Wissen zuträglich. So ist Zeitungswissen einerseits asymmetrisch ausgerichtet und soll sich möglichst von oben nach unten ausbreiten. Andererseits rückt mit den periodischen Zeitungen Sozialität als Effekt von Kommunikation verstärkt in den Blick. Die frühaufklärerische Zeitungstheorie verfolgt bereits, wie sich über die Zeitung gedruckte Kommunikation in die Zwischenräume der stratifikatorischen Gesellschaft einschreibt und umgekehrt, auf äußerst bewegliche Weise, auf die symbolischen Ordnungen der Gesellschaft zurückwirkt.1 Sinnfällig wird dies auch am akademisch-gelehrten Diskurs, wenn dieser in zeitungstheoretischen Äußerungen den enzyklopädischmaterialen Universalismus mit einem neuen Verständnis für Kommunikation verschränkt. Indem Kommunikation als der Operator von immer mehr und zugleich neuem Wissen erkannt wird, wird sie selbst zur neuen Universalie. Das Verständnis für die dynamischen Seiten des Informationsaustauschs bahnt sich seit dem 16. Jahrhundert in langfristigen Prozessen an. Letztlich führt es von der stratifikatorischen Ordnung der Gesellschaft, in der sich standesgemäßes Wissen einerseits aus heterogenen Quellen zusammensetzt und andererseits in gelehrten Kontexten klassifikatorisch auf ›Vollständigkeit‹ hin organisiert wird, zu auto-
1
Es handelt sich um einen Einstellungs- und Mentalitätswandel; vgl. Johannes Weber. Nachrichtenpresse im 17. Jahrhundert – Forschungsergebnisse und Desiderate. In: Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Hg. von Astrid Blome und Holger Böning. Bremen 2008. S. 41–48; Holger Böning. Ohne Zeitung keine Aufklärung. In: Ebd. S. 141–178.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
poetischer Systemlogik verschiedener Wissensbereiche.2 Zeitungstheorie ist an diesen Prozessen, die zu einem neuen Verständnis von Wissen als Effekt von Produktion führen, konzeptuell beteiligt.3 Wo immer über die Form der Zeitung und die Modalitäten, Prinzipien und Effekte von Zeitungskommunikation gelehrt gestritten wird, geht es um ein intrikates Zugleich des materialen Enzyklopädismus und des kommunikativen Universalismus. Zeitungen versammeln aus Prinzip Vieles, das Ergebnis dynamischer Wissensprozessierung ist, ohne dass die zugrundeliegenden Ordnungen des Wissens damit schon geklärt wären, die ihrerseits ebenfalls in Bewegung sind. Dies wirft für die Theoriebildung immer wieder neue Schwierigkeiten für die Beschreibung und Analyse auf. Das Nachdenken über die Zeitung wird deshalb zu einem bevorzugten diskursiven Ort der Selbstreflexion von gesellschaftlichem Wissen und dessen sich verändernden Formen. Die Zeitungstheorie ist in ihren je gewählten Darstellungsweisen dabei Teil der von ihr kommentierten Verhältnisse. Neben Kaspar Stielers gelehrtem Buch über die Zeitung im späten 17. Jahrhundert, Joachim von Schwarzkopfs politischkultureller Einlassung auf das Kommunikationsmedium Zeitung am Ende des 18. Jahrhunderts und den geschichtsphilosophischen Abhandlungen von Franz Adam Löffler und Robert Eduard Prutz über die Presse und den Journalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts4 gibt es eine Vielzahl kürzerer Einlassungen, die gleichfalls an Zeitungstheorie beteiligt sind, nicht zuletzt am Ort der Zeitung selbst. Der Diskurs über die Zeitung ist selbst also zerstreut. Gelehrte äußern sich in juristischen Gutachten, Lexikonartikeln, schreiben Monographien und Dissertationen über den Zeitungsgebrauch.5 Daneben sind Vorworte zu Jahresbänden von Zeitungen Orte der Reflexion auf die Zeitung, ihre Zwecke, ihren Nutzen und Schaden. Es entsteht zum Ende des 17. Jahrhunderts eine erste deutschsprachige Zeitungsdebatte, in der sich Gelehrte und Zeitunger auch wechselseitig in den Blick nehmen.6 Mit Blick auf ständische Interessen wird 2
3
4 5 6
Vgl. zu den strukturellen Veränderungen von gelehrtem Wissen im 17. Jahrhundert Wilhelm Kühlmann. Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589–1661). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Bd. 2. Wiesbaden 1985. S. 917–934; Christian Meierhofer. Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010; zu den historisch langfristigen Veränderungen für Gelehrsamkeit und Wissenschaft Rudolf Stichweh. Die Autopoiesis der Wissenschaft. In: Ders. Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt/M. 1994. S. 52–83. Vgl. dazu auch Herbert Jaumann. Zur Intertextualität der gelehrten Journale im 17. Jahrhundert. In: Intertextualität in der frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt/M. u.a. 1994. S. 443–464. Vgl. zu Letzteren Kap. VI der vorliegenden Studie. Zu diesem Textkorpus s. Groth. Die Geschichte. Gemessen an anderen Debatten in Rhetorik und Poetik zählt die Zeitungsdebatte allerdings zunächst noch wenige Texte. Vgl. zu ihren Stichwörtern auch Jens Gieseler. Vom Nutzen und richtigen Gebrauch der frühen Zeitungen. Zur sogenannten
IV.1. Vorbemerkung: Gelehrter Universalismus und die Universalie Kommunikation
135
überlegt, wer zu welchen Zwecken Zeitungen produziert und liest. Andererseits wird gefragt, ob nicht in der Zeitung ein Stände übergreifendes Kommunikationsmittel vorliegt, das zunehmend kollektiv operiert. Des Weiteren wird darauf reflektiert, wie Zeitungsliteratur sich von anderer gelehrter oder schöner Lit(t)eratur unterscheidet.7 Hier zeigt sich nun, dass die Kunst der Zeitung nicht reibungslos an die rhetorisch-topischen und universalgeschichtlichen Systematiken des gelehrten Wissens angeschlossen werden kann.8 Es rückt ins Bewusstsein der Gelehrten, dass eine Theorie der Zeitung gefunden werden muss, die den längst geläufigen Zeitungsgebrauch auf allen Ebenen einholen können sollte. Es ist eine historische Konsequenz der gespaltenen Hinsichten auf die Zeitung und ihre Formen, dass keine Ästhetik der Zeitung entstehen wird, die dieses Medium und seine Formen aus heterogenen Verwendungszwecken entlassen könnte. Die Einschätzungen der Zeitungen generieren seit dem späteren 17. Jahrhundert ein komplexes Feld chiastischer Argumentationen, die sowohl die Form des Mediums als auch damit einhergehende typische Formen von Kommunikation ansprechen. Wird etwa unter gelehrter Maßgabe über die Zeitung als ein Medium geurteilt, das Texte produziert, so gehört der mündliche Austausch, den Zeitungsnachrichten anregen, zu den Schattenseiten von Zeitungskommunikation. Dabei fällt die Schwatzhaftigkeit auf Famas Medium selbst zurück und trägt zum negativen Ruf der Zeitung bei. Umgekehrt ist es aber gerade die Mannigfaltigkeit der Zeitungstexte, die das gelehrte Zeitungslob hervorhebt. Zu einer ambivalenten Zeitungs-Fama trägt auch der Umstand bei, dass die politische Inanspruchnahme der Zeitungen von oben selbst eine instrumentelle Vermengung von geschichtlichen Wahrheiten und Lügen praktiziert. So gerät der an der Wissenschaftlichkeit des Zeitungswissens interessierte gelehrte Diskurs in eine doppelte Konfrontation mit politischer und allgemeiner Zeitungskommunikation, der in den folgenden Kapiteln nachgegangen wird.
7
8
Pressedebatte des 17. Jahrhunderts. In: Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerd Fritz und Erich Straßner. Tübingen 1996. S. 259–285; Thomas Schröder. Maximen des Informierens. In: Ebd. S. 286–314; Gloning. Verständlichkeit und Verständlichkeitssicherung. Zum frühneuzeitlichen Begriff und Konzept von ›Litteratur‹ und deren Auflösung im 18. Jahrhundert Jürgen Fohrmann. Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. Vgl. zu den frühneuzeitlichen Wissenssystemen Wilhelm Schmidt-Biggemann. Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983; zum Verhältnis von Topik und periodischer Zeitung vgl. auch Christian Meierhofer. Geplantes Durcheinander. Wissensorganisation und Zeitung im 17. Jahrhundert. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 377–392.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium Die Parameter für die gelehrte Beurteilung der Zeitung orientieren sich stark an rhetorischer Systematik mit ihren zahlreichen Regularien für stilistische, philosophische, ethische und politische Dimensionen des Wissens. Diese rhetorische Rahmung betrifft auch die Historiographie und die judiziöse Pragmatik, die Verhaltens- und Kommunikationslehren auszeichnet. Insbesondere den zuletzt genannten Kontexten entnimmt die aufkommende Zeitungstheorie konzeptuelle Stichworte und Argumente. Für die Perspektivierung der Zeitung als Kommunikator von Nachrichten sind die Theorie der Geschichtsschreibung, historiographische Genres und Medien konstante Bezugspunkte. Vor 1700 sieht es zunächst noch so aus, dass die in und mit der Zeitung üblichen Formen unter den frühneuzeitlichen Sammelbegriff der Historia, der sich auf Darstellungsverfahren und Methodik bezieht, relativ gut subsumierbar sind.9 Denn in den Augen ihrer Zeitgenossen versammeln Zeitungen, ähnlich wie Geschichtschroniken, zahlreiche Historien in der Form von Ereignisberichten. Diese sollten sich an topisch formalisierte Wissensordnungen anschließen lassen können. In der Zeitungspraxis werden die Ereignisberichte als Historien nun mit einem gegenwartsbezogenen, publizistisch erzeugten Zeitindex versehen. Dazu kommt die typische Praxis reduzierter Quellenangaben zu Korrespondenzorten und -zeiten. Die »Relationen« als fortlaufend neu datierte »Novellae« fordern, zunächst noch unterschwellig, das Denken der langen Dauer von gleichartiger Geschichte heraus und stellen ihrerseits auf Dauer die Annahme in Frage, dass alle weltimmanente Geschichte sich in zyklischen oder anderen Wiederholungsmustern fortsetze. Aus der mit der Zeitung verrechenbaren Erfahrung einer Akzeleration des Neuen in seiner unaufhaltsamen Vermehrung geht eine neue mediale Konkurrenzsituation zwischen Buch- und Zeitungshistoriographie hervor, die sich von derjenigen zwischen Buch- und Flugblattpublizistik unterscheidet. Das Format Zeitung ist nicht nur ein beiläufiges Konkurrenzunternehmen unter anderen zu überkommenen Erscheinungsweisen gedruckter Historia. Sondern es wirft neue kritische Fragen für die der Schrift und dem Buch verhafteten Konzepte der Gelehrten auf. Die Versuche, die Periodika als historiographische Medien einzugemeinden, kehren im Gegenzug strukturelle Eigenwilligkeiten einer Archiv- und Kommunikationsform Zeitung hervor. Der gelehrte Streit über die Zeitung thematisiert diese angesichts der Medien Schrift, Text, Zettel und Buch und positioniert Erstere in einem neuen ›Dazwischen‹. Dabei erschließt sich mehr und mehr die Erfahrung, dass Wissen von Menschen gemacht wird und in der Zeit steht; diese doppel-
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Vgl. zum Historia-Begriff in der Frühen Neuzeit Joachim Knape: »Historie« in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984; zur historischen Verbindung von Journalismus und Geschichtsschreibung Jürgen Wilke. Journalismus und Geschichtsschreibung. In: Jb. für Kommunikationsgeschichte 11 (2009). S. 5–24.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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te Erkenntnis wird strukturell mit den Techniken der Zeitungsproduktion und -rezeption verbunden. Die strukturellen Bedingungen und Folgen der Zeitung werden schließlich auch in einen moralisch dimensionierten Fragerahmen für den Zeitungsnutzen und -schaden eingebunden. Die Zeitung pflegt, das ist für ihre Beobachter offensichtlich, eine segmentierende Ereignisberichterstattung. Der Nutzen dieser Form zeigt sich in dem informativen Gehalt, der für die verschiedenen Adressaten interessant ist. Für die neuzeitlichen Zeitungstheoretiker gilt dabei noch, dass über den Sinnhorizont der Heilsgeschichte die verbindliche Verortbarkeit einer jeden Relation wie aller zusammen gegeben ist. Auf diesen letzten Sinn stiftenden Bezugsrahmen können sich die Zeitungsmacher als die unverfügbare Voraussetzung ihres fragmentarisch verlaufenden Tuns explizit berufen. So etwa 1673 der Kopenhagener Verleger Daniel Paulli, der seine Nachrichten nach Art der Chronisten der Vorsehung überantwortet: DEO PROPITIO ! GOtt geb im Neuen-Jahr / neu Glück und neues Heil! // Und jedem Menschen auch was sein bescheiden Theil! // Hierauf wird fortgefahren und der Anfang von neuen gemacht / kürtzlich vorzustellen / durch die gewöhnliche extraordinaires Relationen / alles was sich denckwürdig hier und andern Orten mehr das gantze Jahr durch / so es GOTT gefällt / begeben mögte.10
Der (gelehrte) Zeitungsmacher des 17. Jahrhunderts agiert noch mit dem Selbstverständnis des Chronisten, der die Zeichen der Weltgeschichte zusammenträgt, deren Dispositionen zunächst weniger von ihm als von einem geglaubten göttlichen oder auch konkret erfahrenen politischen Willen abhängig sind. Heilsgeschichtlich gesehen können erst am Ende aller Zeiten die lückenhaften menschlichen Texturen geschlossen werden. In der Immanenz reichert die Zeitung diesem Verständnis nach die menschlichen Wissensbestände an, wie sie zugleich auf die noch bestehenden Lücken im Wissen über die Welt aufmerksam macht. Die Zeitung stellt in ihrer zwischen Archiv und Kommunikation vermittelnden Performanz eine Textur der Abstände zwischen den Dingen zur Verfügung. Diese Abstände spiegeln sich symbolisch in der Typographie und ergeben sich auch bei der Produktion und der Rezeption von Zeitungen, im Sprung von der einen zur nächsten Eintrag-Stelle. Die Textur aus Stückwerk, die objektive strukturelle Diskontinuität der periodischen Zeitung, wird zunächst noch von der Annahme metaphysisch oder innerweltlich – d.h. machtpolitisch und gelehrt – ›geschlossener‹ Wissensbestände begleitet. Gegenüber den Annahmen von Geschlossenheit und enzyklopädischer Vollständigkeit setzen sich dann allmählich die immanenten Kriterien Offenheit (von Geschichte in ihren Prozessen), Unvollständigkeit und
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Zit. n. Die Zeitung. S. 44.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Dezentriertheit (von Wissen) in der Zeitungstheorie durch.11 In ihren Kommentaren spürt die Zeitungstheorie seit dem späteren 17. Jahrhundert in den strukturellen Bedingungen und Konsequenzen der Zeitung die Medialität der Kommunikationsform Zeitung auf und erstellt eine kritisch bewertende Phänomenologie der Zeitung, die mit wechselnder Perspektivmacht Text, Medium und Person in den Blick nimmt. So sind etwa die Ambivalenzen von Famas Medium über einen aus dieser Form selbst ableitbaren Kontrast zwischen Ordnung und Unordnung verhandelbar. Die Zeitungstheorie akzentuiert für ihren Gegenstand sowohl den Formgewinn als auch den Formverlust. Darin arbeitet sie der begrifflichen Ablösung eines Mediums Zeitung von einem Textgenre Zeitung zu. In den ersten bekannten gelehrten Stellungnahmen zur Zeitung, etwa dem Lexikonartikel von Christoph Besold von 1629,12 aber auch noch in der juristischen Abhandlung von Ahasver Fritsch von 1676 ist die begriffliche Eigenständigkeit für ein Medium Zeitung noch nicht erkennbar.13 Dagegen lassen sich in einer Abhandlung des Schulmanns Christian Weise von 1676,14 einer Dissertation des Gelehrten Tobias Peucer von 169015 oder auch in dem Buch von Kaspar Stieler über Zeitungs Lust und Nutz von 1695 erste Belege für die begriffliche Perspektivierung der Zeitung als Medium finden, das nun von dem Textgenre Zeitung abgegrenzt wird. Dies findet unter rhetorischer Perspektive statt. Die rhetorisch fundierten Darstellungsformen und -verfahren der Historiographie besitzen bis ins späte 18. Jahrhundert ihre Gültigkeit.16 Auch Zeitungspraxis und ihre Theorie schließen an die rhetorischen Modelle und Formen der Geschichtsdarstellung an, in denen das historiographische Handeln stilistisch und anders formal bestimmt ist.17 So ist
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Vgl. zur gestückelten Textur und damit verbundener Erfahrung von Kontingenz auch Tatlock. The novel as archive; C. John Sommerville. The News Revolution in England: Cultural Dynamics of Daily Information. New York 1996. Christoph Besold. Neue Zeitungen. In: Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. S. 29–32 (dt.) / S. 113–116 (lat.) Bei dem Lexikonartikel des Juristen Christoph Besold handelt es sich um eine der frühesten gelehrten Stellungnahmen, auf die sich spätere Zeitungstheoretiker wiederholt beziehen. Der Artikel erschien 1629 in Besolds Thesaurus Practicus, einer juristischen Fachenzyklopädie; vgl. zu Besold und seinem Thesaurus Martin Schierbaum. Enzyklopädien und Pluralisierungsprozesse um 1600. In: Mitteilungen des SFB 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit« 1 (2007). S. 28–36. Hier S. 34f. Fritsch. Discursus de Novellarum. Christian Weise: Schediasma Curiosum de Lectione Novellarum [...] // Interessanter Abriß über das Lesen von Zeitungen [...]. Frankfurt und Leipzig 1685. In: Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. S. 45–85 (dt.) / S. 129–162 (lat.). Tobias Peucer. De Relationibus Novellis / Über Zeitungsberichte (1690). In: Ebd. S. 89–112 (dt.) / S. 163–184 (lat.). Vgl. Eckhard Kessler. Das rhetorische Modell der Historiographie. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hg. von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen. München 1982. S. 37–85. Vgl. etwa zum Verhältnis von Zeitung und Chronik Sonja Schultheiß-Heinz. Zum Verhältnis von serieller Chronik und Zeitungswesen. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 201–210.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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etwa der einfache Stil nach den klassisch-antiken Vorschriften für die »Relationen« typisch und der Zeitunger ist wie der Historiograph an die ethische Forderung einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung gebunden. Der Göttinger Gelehrte August Ludwig Schlözer ruft etwa am Ende des 18. Jahrhunderts diese professionelle Selbsteinschätzung des Zeitungsmachers unter den funktionalen Stichworten auf, die schon im 17. Jahrhundert den Stil der Zeitung mit dem Habitus ihres Produzenten verschränken: »Keine Zeitung hat sich je vermessen, daß sie nichts als Wahrheit melde; alle führen die Devise: Relata refero.« Wenn er dann fort fährt: »Der Zeitungsschreiber also ist gemeinlich außer Schuld, wenn er etwas Falsches debitieret«,18 so verweist er damit auf interne Schwierigkeiten in der Arbeit der Journalisten. Denn diese ist sowohl von der historiographischen Informationspflicht wie von politischer Maßregelung geprägt. Historiographie und politische Rücksichtnahme binden Stilistika, den Pragmatismus der Zeitunger und eine dafür entworfene personale Ethik an widersprüchliche Wahrheitsdiskurse. Der damit verbundene Referenzbereich ›Wirklichkeit‹ ist für die neuzeitliche Zeitungskommunikation keineswegs freigegeben, sondern in Macht-Wissen-Regulative eingespannt.19 Dazu die folgenden Beobachtungen. Der Faktizität von Ereignissen wird nach gelehrter Theorie über geregelte Formen der ›objektiven‹ Berichterstattung Genüge getan: Die »nuda [...] expositione«20 des kommentarlos präsentierten Ereignisses wird schon früh als die spezifische und angemessene Zeitungskunst registriert. Die über Zeitungen publizistisch evident gemachte Faktizität des Wirklichen macht sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption leicht vergessen, dass auch bei Zeitungstexten ein rhetorischer Stilwille nach Regeln der Kunst am Werk ist. Die Sachhaltigkeit, die Texte als ›Nachrichten‹ auszeichnet, ist als Effekt historiographischer Stilmittel und Narrative zu verstehen. In der Zeitungstheorie wird dies als geläufiges Schulwissen nur dort explizit vermittelt, wo die Zeitungsgeschichtsschreibung von den Stilmitteln der Parteinahme und des Pathos oder von der poetischen Stilisierung abgegrenzt wird. Das frühneuzeitliche Verständnis einer repräsentativen Beziehung zwischen res, den Gedanken oder Ereignissen, und darstellenden verba lässt es zu, die Medialität der Sprache zu negieren und Wirklichkeit in Sprache und Medien mimetisch verankert zu finden. Andererseits geht man oft genug davon aus, dass eine Differenz zwischen Ereignis und Berichterstattung besteht, wird doch vielfach 18 19
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So Schlözer 1777 in einem Entwurf zu einer Zeitungsvorlesung an der Universität in Göttingen, zit. n. Koszyk. Vorläufer der Massenpresse. S. 82. Vgl. die komplementären Diskussionen zur Wahrheitsfähigkeit der Historien, die Prosaroman und andere erzählende Gattungen (des 15., 16. und 17. Jahrhunderts) prägen, Knape. »Historie«. S. 346ff.; zur epistemologischen und ästhetischen Übergangszone zwischen Zeitungsberichterstattung und Berichten über wunderbare Ereignisse Flemming Schock. Zur Kommunikation von Wunderzeichen in der ersten populärwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands (›Relationes Curiosae‹, 1681–1691). In: Jb. für Kommunikationsgeschichte 9 (2007). S. 76–100; Kellermann. Abschied. S. 285ff. Peucer. De Relationibus Novellis. S. 166.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
unterstellt, dass Zeitunger und ihre Medien nur allzu oft und bereitwillig ›lügen‹. Wo die Rezeptionshaltung sich auf Faktizität des Berichts einstellt, tritt die Macht der verba und anderer Medien in den Schatten der von ihnen produzierten Wirklichkeitseffekte. Nur die Lüge zeigte dann etwas von der Medialität der Medien. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verschiebt sich dieses Modell, wenn zur Problematisierung ›lügenhafter‹ Berichterstattung die epistemisch orientierte Vorstellung einer Konstruktion von Wirklichkeit durch ihre Zeichen tritt. Das Verhältnis von Fakten zu Lügen und Fiktionen anderer Art wird dann von der Zeitungstheorie neu austariert.21 Doch wird mit der Konzeption wirklichkeitsanaloger Zeitungsverba seit den Anfängen von Zeitungspraxis und -theorie die Ontologie des ›bloßen‹ Kanals mit- und weitergeführt, die wohl erst in der Medientheorie des 20. Jahrhunderts kritisch mit der Frage nach der Medialität des Mediums neu konzeptualisiert worden ist. In der überkommenen ontologischen Perspektivierung übernehmen der Zeitunger, seine Worte, seine Texte und seine Zeitungen auf analoge Weise eine konstitutive Rolle für die Herstellung und Verbreitung von Informationen über die Wirklichkeit. In den Selbstbeschreibungen von Zeitungen und Zeitungsmachern wird so seit der Frühzeit ein typischer ›medialer Verblendungszusammenhang‹ etabliert. Er bindet ›unschuldige‹ Informationen und ›unschuldige‹ Informanten aneinander, die schon in den frühen Formen der Berichterstattung mit der historiographischen Sprache der ›Objektivität‹ in Bezug auf Ereignisse und Wirklichkeit korreliert sind. Dies wird für zirkuläre Figuren der Rechtfertigung genutzt, die auch Schlözers zitierte Aussage prägen: Man teile ja nur mit, was geschehen sei oder über solche Geschehnisse von anderer Seite in Erfahrung zu bringen war. Die Zeitungstheorie des 17. Jahrhunderts beurteilt die rhetorisch angeleitete Kunst der historiographisch arbeitenden Zeitung und fragt danach, ob und wie neben den stilistischen auch die personenbezogenen, ethischen Maßgaben der Historiographie, nämlich die Maximen der Wahrheitsverpflichtung und der Glaubwürdigkeitserzeugung, eingehalten werden.22 In diesem klassischen Komplex werden Darstellungsmodalitäten und -funktionen, auktoriale Gesten der Zeitunger und die weitere Anwendung von Zeitungswissen kritisch beleuchtet. Von der Zeitungstheorie wird dann gesehen, dass die Ordnung des Textes, die Ordnung des Mediums und die Ordnung der Applikation von Zeitungswissen einander ähnlich sind oder auch differieren können. Epistemische, ästhetische und
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Dies geschieht parallel zu (europäischen) Diskussionen über fi ktionale Prosa und deren Zugriff auf Faktisches; vgl. dazu Lennard J. Davis. Factual Fictions. The Origin of the English Novel. Baltimore 1987; zur engen Beziehung zwischen Zeitung und fi ktionaler Literatur um 1700 mit Blick auf verwandte Darstellungsformen und gleichzeitiger funktionaler Trennung von Faktizität und Fiktionalität vgl. Egenhoff. Berufsschriftstellertum; zum Verhältnis im 18. Jahrhundert Niels Werber. Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. S. 170ff. Vgl. zu diesen Maximen Kessler. Das rhetorische Modell.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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ethische Aspekte betreffen hier in einer Gemengelage sozial verankertes Zeitungswissen und -handeln. Befürworter und Gegner der neuen Kommunikationsform Zeitung setzen mit ihren rationalen Lesarten an den gleichen Momenten an. Dabei zeigt sich eine zeitungstypische ›Unordnung‹ in den ›Materien‹, die die Zeitung kolportiert, als die andere Seite der Ordnungen des Wissens. So spricht etwa der Gelehrte, Dichter und Schulpädagoge Christian Weise in seiner Abhandlung Schediasma curiosum de Lectione Novellarum 1685 vom Nutzen der »Novellae quamlibet inordinatae«.23 Weise geht nur am Rande auf das für andere Theoretiker besonders auffällige Moment der Zeitungen ein, deren gesellschaftliche Rechtfertigung durch die Gelehrtenschaft nun ansteht. Die Unordnung steht in direktem Zusammenhang mit dem kommunikativen Nutzen der Zeitung, entpuppt sie sich doch als vielfältiges Angebot an Wissensbruchstücken besonders für die oberen Stände. Der Gebrauch der Zeitungen fördert die im späten 17. Jahrhundert moderne kommunikative Weltläufigkeit, die den homo politicus, oeconomicus und eruditus auszeichnen sollte.24 Der Gelehrte Tobias Peucer stellt in seiner Dissertation von 1690, De Relationibus Novellis, deren Entstehung im Umfeld von Weises Schrift zu situieren ist, einen umfassenden Katalog von zeitgenössischen »materia novellarum« auf.25 An diesem Katalog zeigt sich, dass politisches Weltwissen und polyhistorische Gelehrsamkeit im Medium der Zeitung direkt aufeinander treffen. Die Zeitung verfügt über Formen, die zwischen unbegrenzbarem und endlichem Wissen operieren. Peucers Katalog profiliert die Zeitung als Wissenstyp der Häufung und Vermischung: Dieser [Stoff] besteht (wie bei wirklichen Geschichten) aus besonderen Ereignissen, die durch die Natur, sei es von Gott oder von den Engeln oder von den Menschen im Staate und in der Kirche gemacht oder ausgeführt worden sind. Da diese jedoch fast unendlich sind, muß aus ihnen eine gewisse Auswahl getroffen werden, so daß Erinnerns- und Wissenswertes vorgezogen wird. Zu dieser Klasse gehören erstens Wunderzeichen, Ungeheuerlichkeiten, wunderbare und ungewöhnliche Werke oder Erzeugnisse von Natur oder Kunst, Überschwemmungen oder furchtbare Gewitter, Erdbeben, Himmelserscheinungen, neue Erfindungen oder Entdeckungen, an denen dieses Jahrhundert besonders fruchtbar war. Zweitens die verschiedenen Arten der Staaten, Änderungen, Regierungswechsel, Kriegs- und Friedensunternehmungen, Kriegsursachen 23 24
25
Weise. Schediasma. Weises Schrift erschien zuerst 1676 und wurde von ihm für Unterrichtszwecke verfasst. Vgl. Karl-Heinz Göttert. Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988; für die Gelehrten des späten 17. Jahrhunderts Martin Gierl. Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997; ders.: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001. S. 63–94. Peucer. De Relationibus Novellis. S. 97. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle RN. Vgl. zu Peucers Dissertation die Würdigung von Jürgen Wilke. »De Relationibus Novellis«. Vor 300 Jahren entstand die erste Dissertation über die Zeitung. In: Publizistik 53 (1990). S. 485–486.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
und Kriegsabsichten, Schlachten, Niederlagen, Feldherrnpläne, neue Gesetze, Urteilssprüche, Beamte, Würden, Geburten und Todesfälle von Fürsten, Thronfolgen, Ernennungen und ähnliches öffentliches Zeremoniell, das entweder neu eingerichtet, abgeändert oder abgeschafft wird, der Tod berühmter Männer, das Ende Gottloser und anderes. Schließlich kirchliche und wissenschaftliche Dinge, z.B. der Ursprung dieser und jener Religion, ihre Stifter, die Fortschritte, neue Sekten, Beschlüsse der Lehre, die Riten, die Glaubensspaltungen, Verfolgung, religiöse Synoden, deren Beschlüsse, bedeutende Schriften von Gelehrten, wissenschaftliche Streitfragen, neue Werke Gebildeter, Unternehmungen, Unglücks- und Todesfälle und tausend andere Dinge, die sich auf Natur-, Bürger-, Kirchen- oder Gelehrtengeschichte beziehen, die in Zeitungen als Vermischtes in erzählender Form eingeflochten zu werden pflegen, damit der Leser durch angenehme Abwechslung erfreut werde. (RN 97f.)26
Der Wissenstyp Zeitung ist nicht nur für die Schulung kommunikativer Kompetenzen interessant, wie es Weise an der Zeitung untersucht. Für die gelehrte Schriftkultur stellt sich auch die Frage, wie sich die Geschichtsschreibung in den Zeitungen zu derjenigen in Büchern verhält. So überlegt etwa Kaspar Stieler in seinem die Zeitungsfrage enzyklopädisch breit verfolgenden Buch Zeitungs Lust und Nutz von 1675, wie »aus den Zeitungen Geschichte zu schreiben« wäre.27 Er lotet hier den Quellenstatus der Zeitung für die »förmliche[] Geschicht-Beschreibung« (LN 161) aus: Jedennoch finden sich auch viel ergangene Dinge in der Welt / davon in den Zeitungen entweder gar nichts / oder doch so kurz und ungewiß gemeldet wird / daß es zu einer Geschicht bey weitem nicht hinlanget. Da gehöret nun zu einer förmlichen GeschichtBeschreibung viel ein mehrers / als die Novellen / wenn man dieselbe gleich aus allen Königreichen / Landschaften und Städten sammlen würde / indem die geheimste Sachen / und / was in der Potentaten Geheimten Rahtstuben vorgenommen / und gerahtschlaget / und mehrenteils secretiret wird nur zwey oder drey vertraulichen und verschwiegenenen Personen kund werden [...]. (LN 161f.)
Die in der Darstellung breit ausholende »förmliche[] Geschicht-Beschreibung« in Büchern, die Stieler hier als ein Anderes der Zeitungsberichte im Blick hat, greift in ihrer kompilatorischen Tätigkeit neben Zeitungen auf weitere Quellen zu, die sie sich wiederum mit den Zeitungen auf der Suche nach Materien teilt: Diener hoher Herren, Briefe, Protokolle, Archivalien und »geheime Correspondenzen« (LN 162) in weltlichen und geistlichen Zusammenhängen. Zwischen Sammeln, Bewerten und erneut »[B]eschreiben« tut sich für jede Form der Historiographie das Problem auf, dass immer mehr geschehen ist, als in den Druck gegeben werden kann. Bei der Buchhistoriographie muss, so Stieler, entschieden werden, ob eine »Universal«- oder »Particulargeschichte« entstehen soll:
26 27
Auch Christian Weise spricht von »tausenderley«, das in den »unordentlich verfasten Zeitungen« von Interesse sein kann, zit. n. Die Zeitung. S. 54 und S. 57. Stieler. Zeitungs Lust und Nutz. S. 160. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle LN.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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Nur ist darbey / [...] eine vernünftige Wahl in acht zu nehmen / damit nicht unwehrte und nichtige Privat-Dinge / und / woran niemanden gelegen / ausgezeichnet / und vor was Grosses gehalten werden. Denn / was wolte / wenn hierunter kein kluges Urteil beobachtet würde / nur in Jahr und Tag nicht vor ein grosses Historien-Buch heraus kommen / wenn alle solche kleine Begebenheiten aufgezeichnet werden sollten? Ist derhalben vor allen Dingen alhier zu bedenken / zu was Ende ein jeder aus den Zeitungen / dieses oder jenes zu seiner künftigen Nachricht / zu nehmen habe? Ob er eine Universal- und allgemeine / oder Particular- und besondere Geschicht dermaleins zu schreiben im Sinne habe? (LN 163f.)
An diese Unterscheidungen kann die Zeitungstheorie anschließen, wenn hier in späterer Zeit zwischen den allgemeinen Zeitungen für das Adressantenkollektiv in seiner Allgemeinheit und besonderen Zeitungen oder Journalen für bestimmte Adressantengruppen unterschieden wird. Die Verbindung von universalistischen Absichten der Zeitung mit zugleich notwendig selektiv verfahrenden Zugriffen auf die Materien speist dabei aber auch den Verdacht, dass in Zeitungen das Geschichtsreferat wider besseren Wissens und Könnens von einer ›polemisch‹ orientierten Meinungsmacherei und Auswahl betroffen sei. Diese Einschätzung verweist auf eine Problemstellung, die schon die frühneuzeitliche Historia Litteraria im Kontext ihres eigenen Universalismusanspruchs betrifft: Denn der enzyklopädische Sammeleifer, der sich idealiter auf alle Materien richtet, sieht sich im 17. Jahrhundert mit einem zunehmend selektiven gelehrten Zugriff konfrontiert, der die kanonische Auswahl (von Werken, Autoren und Ereignissen) stabilisiert, um etwa in religiösen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen.28 Des Weiteren ist in Stielers Kommentaren zu sehen, wie hier der Formbegriff wörtlich an die ›förmliche‹ Buch-Geschichtsschreibung gebunden wird. In dieser Argumentationslinie fällt die Darstellungskompetenz der Zeitung und ihrer historiographischen Einträge (wie andere ›kleine‹ Literatur) auf die Seite einer immer nur vorläufigen Formgebung zurück. Und so beinhaltet die Behandlung der Zeitung als Quelle für andere Historiographie für die Theorie der Zeitung mehr als nur eine beiläufige Differenz. Denn was in den Kontexten der philologischen Kritik als Quelle behandelbar ist, lässt schon künftige Tendenzen einer symbolisch aufgeladenen Medien- und Kulturkritik an der Zeitung erahnen, welcher das Buch als das Leitmedium der Schriftkultur gilt. Dabei kann die frühe Zeitungstheorie nicht umhin, die Zeitung als Medium auch positiv zu bewerten und hier eigenständige, gerechtfertigte neue Ordnungsmöglichkeiten des Wissens zuzugestehen, die sich nicht von anderen Formen bevormunden lassen müssen. Theorieintern wird dazu die rhetorische Kategorie der dispositio aufgegriffen, 28
Vgl. Helmut Zedelmaier. Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1992; für die strukturellen Konsequenzen von Serialität und Periodizität in genealogischer Geschichtsschreibung vgl. Volker Bauer. Monographizität, Serialität, Periodizität in der Universalgenealogie: Beschleunigung, Aktualisierung und der Einfluss des Zeitungswesens (1580er bis 1730er Jahre). In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 393–410.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
um zwischen der narrativen Ordnung des Textes und der Ordnung des Mediums genauer unterscheiden zu können. Die in der Theorie hervorgetriebenen Differenzen zwischen Text und Medium Zeitung korrelieren mit den oben erläuterten semantischen Veränderungen des Begriffs Zeitung,29 womit das Medium phänomenologisch als Einheit der Differenz von Text und Medium figuriert. »Historien sind auch wol gedruckte Erzehlungen« (LN 26), kommentiert eine der Randglossen in Stielers Abhandlung. Im danebenstehenden Haupttext setzt sich der gelehrte Autor die semantische Präzisierung und Abgrenzung einer »Zeitung« von anderen Erzählungen historiographischer Art zum Ziel. Die rhetorische Kategorie der dispositio wird dann als die ideelle Voraussetzung einer jeden Textur erkennbar. Stieler geht so in seinen Bemerkungen von der Zeitung als Text zur Zeitung als Medium über. Beide Seiten der Zeitung lassen sich über systematische Aspekte der Ordnungsfindung beleuchten. Auch ein »Zeitungsschreiber« disponiert seine Materien auf auktoriale Art und Weise: 4. [...] so bemerken wir die Zeitungen / wovon wir reden / folgender gestalt: daß sie seyn: Gedruckte Erzehlungen derer hin und und wieder warhaftig / oder vermeintlich vorgegangenen Dinge / ohne gewisse Ordnung und Beurteilung; zu ersättigung der Lesenden Neugirigkeit und Benachrichtigung der Welt-Händel erfunden. [...] 5. Das Gemeinwort / da wir unsere Zeitungen gedruckte Erzelhungen [sic] bemerken / begreift zwar in sich alle Schriften / die etwas vortragen / das in der Welt geschehen sey [...]: Allein / wird dieses Gemeinwort durch das folgende gnugsam eingeschrenken / nemlich: daß es solche gedruckte Erzehlungen seyn / die sich an keine Ordnung binden / sondern / sie seyn wahrhaftig oder auch scheinbar und vermeintlich hin und wieder vorgegangen / ihres weges fortschwatzen. Dahingegen die Historie lauter wahre Begebenheiten melden soll [...]. Die Zeitungen aber können darum nicht allezeit just eintreffen / weil sie denen einkommenden Schreiben folgen / und der Herausgeber selbst nicht wissen kann / ob es lauter Evangelia seyn oder nicht / was ihnen zugeschrieben wird / sondern es mit ihm heisset: Ich halte mich an meinen Berichter. Darum auch der ausgebrachten dinge Bestätigung oder Nichtigkeit oft folglich erst zu erwarten stehet. 6. Die Ordnung kann auch in denen Zeitungen unmüglich beobachtet werden / welchen fals die Zeitungsschreiber von denen Geschichten nicht weniger zuunterscheiden seyn. Sintemal ihnen bald aus Rom / bald aus Paris / bald aus Wien / bald aus den Norden Königreichen / Polen / der Tartarey und Türkey etwas zugeschrieben wird / welches sie so hin geben / wie es ihnen zu gekommen ist / unbekümmert / ob es aneinander hange oder nicht? Dahingegen ein Geschichtschreiber bey seinem vorgesteckten Ziel verbleibet und selten ausschweifet / es müsse dann eine fremde Begebenheit ihm eine Gelegenheit geben / den Grund künftiger Verwirrung anzuzeigen / und dar auf zu bauen / was er ferner zuerzehlen vor nötig erachtet: Welches jedoch der Zeitungsschreiber auch zuweilen wol tuth. (LN 26f.)
Stieler greift bereits vorhandene Topoi der Zeitungskritik auf, die auch in der Folgezeit immer wieder zur Charakterisierung der historiographischen Verfahrenstechniken der Zeitung und ihrer Verfasser herangezogen werden: die Wankelmütigkeit des »Zeitungsschreibers« im Umgang mit der Faktizität des Berichteten; die eher
29
Vgl. Kap. II.1 der vorliegenden Studie.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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ziellose Geschwätzigkeit mit Berichten, die keine »Bestätigung« finden oder doch keine Folgen zeitigen und sich insofern als nichtig erweisen; die ungesicherte Quellenlage von Nachrichten, die mit der Unschuld des Zeitungers im Wissenstransfer korreliert ist und, nicht zuletzt, die unersättliche Neugierde der Leser, die nur mit den zahlreichen Wechselfällen der Welt befriedigt wird. Die Ausschweifungen von Famas Medium durchkreuzen dabei die verschiedenen Wissensordnungen. Diese betreffen einerseits die Textur des Mediums, das typischerweise Vieles versammelt. Die Zeitungstexte folgen ihrerseits genretypischen Narrativen, wie etwa den relativ kurzen Nachrichten. Der Zeitungsschreiber, der sammelt, blattweise archiviert und Mengen publiziert ist dann seinerseits nur so ausschweifend wie seine Zeitung. Die kompilierenden Zeitunger, verstanden als personale Analogmedien ihrer eigenen Zeitungen, lassen sich wiederum von den Geschichtsschreibern unterscheiden, die nach Stieler ihrerseits in charakterlicher Mimesis zu ihren Entäußerungsmedien »selten« abschweifen und beim »vorgesteckten Ziel« bleiben. Über solche Unterscheidungslogiken werden von Stieler und anderen Zeitungstheoretikern trilaterale Modelle für die Zeitungstheorie gewonnen, mit welchen zwischen Medien und Kommunikationen hin- und hergeschaltet werden kann. Fama hängt mit allen ihren ›künstlichen‹ und ›natürlichen‹ Stellvertretern zusammen. Zeitungsschreiber finden auch ihre Nachahmer in Zeitungslesern, die in ihrer ausschweifenden Lektüre zirkulierender Zeitungsfama bereitwillig folgen. Die Charaktere von Zeitungsproduzenten und -rezipienten stellen dann wiederum eigene Texturen dar, die in der Zeitungstheorie ebenfalls entziffert werden müssen. In der medialen und habituellen Konkurrenzsituation zwischen ausschweifender Zeitungsschrift und zielorientierter Geschichtsschrift wird der platonische Angriff auf die umherschweifende Schrift virulent und medienhistorisch neu gefasst. Im sokratischen Dialog Phaidros erzählt Sokrates Phaidros den Mythos vom ägyptischen Theut, der auch die Buchstabenschrift erfunden habe. Ihm gegenüber führt der ägyptische König Thamus aus, dass die Schrift das natürliche Gedächtnis schwäche. Die Wendung des Sinns nach Innen, die in der mündlichen Kommunikationssituation sich eindringlich gestaltet und an der Erinnerung hänge, würde durch die Erfindung der Schrift verraten: Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.30
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Platon. Phaidros. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach der Übers. von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Bd. 4. Hamburg 1980. S. 7–60. Hier 274a.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Sokrates ergänzt diese Kritik in seinem Gespräch mit seinem Schüler Phaidros mit einem medienkritischen Argument. Der verschriftete Text zirkuliert abgelöst von der auctoritas eines Urhebers in der Welt umher: Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zum wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande.31
Die Ausschweifungen der gedruckten Zeitungsschreiberei lassen sich an diese platonische Diagnostik und ihre paternalistische Kritik an der Schriftlichkeit anschließen, trägt doch Famas Medium zum Umherschweifen gedruckter Schrifttexte nachhaltig bei. So kann die gedruckte Geschichtsschreibung, die Text im Buch vermittelt, gegenüber der Zeitungsschrift einen neuen Status gewinnen. In der Konkurrenz zwischen Buch und Zeitung kommt es zu einer neuen Bindung des gedruckten Textes an die auctoritas eines Verfassers, der nicht nur mit Namen für seinen Text eintritt, sondern nach Stieler auch »bey seinem vorgesteckten Ziel verbleibet«. Der auktorial gerahmte und in seinen Narrativen teleologisch verfahrende Buch-Text verweist auf ein performatives Bündnis zwischen Medium und Text, das von den gedruckten Periodika neu herausgefordert wird. Die Frage nach den Formen von Darstellung in und mit der gedruckten Zeitung ist für diese damit auch schon kulturkritisch dimensioniert. Die Ausschweifungen in der Form, die die Zeitung als Famas Medium praktiziert, sind ambivalent positioniert. Bei Zeitungen ist immer mit dem Verlust eines erkennbaren Ziels ihrer publizistischen Handlungsweisen zu rechnen, steht doch schon in der Vielzahl der Nachrichten der textuell ausgewiesene Weg auf dem Spiel – es sei denn, das Prinzip der ›reinen‹ Informativität der Zeitungstexte reichte allein schon aus und spräche immer schon für sich –, es sei denn, Zeitungsnachrichten liefen auf den kürzesten Verbindungen zwischen Nachrichtenproduzenten und -rezipienten hin und her und nähmen keine abenteuerlichen Umwege. Die Perspektivierung der Zeitung als Medium sui generis entsteht so im späten 17. Jahrhundert im Kontext rhetorisch gedeckter Historik, mit der eine positive wie negative Kritik der Zeitung gleichermaßen geleistet werden soll. Die Anerkennung der Faktur eines Mediums Zeitung unterscheidet dieses der Form nach von anderen Formen wie etwa einem Text. Die begriffliche Separierung von Genre und Medium Zeitung ergibt sich gerade dort, wo das neue kommunikative Format mit den schulmäßigen Parametern der rhetorischen Historiographie beschrieben werden soll. Die Unterscheidung zwischen Text und Medium zeichnet ihre eigenen Bruchlinien in eine gespaltene Theorie der Zeitung ein. Es entsteht ein Für und Wider die Form Zeitung, ein Schema, welches schon in den ersten gelehrten Beurteilungen der Zeitung etabliert wird. Dies kann an der bereits er31
Ebd. 274e.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
147
wähnten Abhandlung von Tobias Peucer nachgestellt werden. Seine 1690 in Leipzig entstandene Dissertation zeichnet sich durch den Versuch aus, entlang historiographischer Theoreme zwischen Text und Medium Zeitung formbezogen zu unterscheiden. Einerseits verfährt Peucer präskriptiv-normativ, andererseits bemüht er sich um eine offene Beschreibung, die der kulturellen Bedeutung der Zeitung aus gelehrter Perspektive gerecht werden will. In den ersten neun Paragraphen seiner Dissertation verfährt Peucer litterärhistorisch:32 Zunächst macht er Bemerkungen zu den Ursprüngen und historischen Gebrauchsweisen der »Novellae«, dann geht der Autor auf die Begriffsgeschichte von »Relation« und »Novellae« ein. Auch wendet er sich anthropologischen Einsichten zu: Es seien für die gründliche Erfassung des Umgangs mit den Neuigkeiten »Neugierde« und »Gewinnsucht« (RN 165) zu beachten. In den folgenden Paragraphen erläutert Peucer das Zeitungswesen unter den historiographischen Stichworten des 17. Jahrhunderts, die Erkenntniskritik und ethische Dimensionen des Zeitungshandelns zusammenbringen. Er spricht von den an der Zeitungsproduktion und -rezeption beteiligten Verstandeskräften wie Kenntnissen, Urteilskraft und Willen, der sich auf »Glaubwürdigkeit und Wahrheitsliebe« richten solle. Dann geht es um den »Stoff der Zeitungsberichte, besondere Begebenheiten, besonders Dinge, die ein buntes Bild ergeben« und die notwendige Vorsicht »bei der Stoffauswahl« (RN 89). Peucer äußert sich zu »Forma Novellarum«, zur dispositio und »dictio« (RN 175). Schließlich werden »utilitas et jucunditas« (RN 177), der Nutzen und die Unterhaltung, ausgelotet und am Ende auch verschiedene Zeitungstypen vorgestellt. Die Zeitung stellt sich bei Peucers gelehrten Begriffsarbeit nicht als das ganz Andere der forensisch-politischen, parteilich-lobenden, wissenschaftlichen oder poetischen Textproduktion und -rezeption heraus, sondern das Medium, seine Texte und der Zeitungsgebrauch schaffen neu zu erkundende Orte in den bekannten Formationen der Schriftkultur und üblicher kommunikativer Praxis. Peucers gelehrte Eingemeindung der Zeitung als Form und Medium der Kommunikation zeigt dabei, wie die Differenz zwischen Text und Medium Zeitung ›dritte‹ Orte der Zeitung in binären Abwägungen und Beurteilungen hervorbringt. Dies eröffnet neue Argumentationslinien, die etwa über die geläufige Verurteilung der allzu Neugierigen oder der Zerstreutheit von Zeitungsmaterien strukturell hinausgehen und in späterer Zeitungstheorie weiter ausgebaut werden. Gleich mit den ersten stilistischen Überlegungen, die die Beziehung von res und verba, das iudicium internum,33 diskutieren, kommt Peucer auf die Merk32
33
Vgl. zur gelehrten Litterärhistorie des 17. und 18. Jahrhunderts Fohrmann. Das Projekt; Klaus Weimar. Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. Vgl. zur Unterscheidung zwischen iudicium internum und iudicium externum – Letzteres meint die gekonnte Anwendung von Wissen nach Maßgabe der Situation – Wilfried Barner. Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. S. 184.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
male vermischter Verhältnisse in bekannten historiographischen Formen zu sprechen. An diese können auch die Formgebungsverfahren von »Relationes Novellas« angeschlossen werden: § 3. Damit aber hier der Gang meiner Untersuchung von festem Grund ausgehe, muß ich zuvor über die verschiedenen Arten der geschichtlichen Erzählungen [de variis historiae formis] einiges vorausschicken. Denn manche wird gewissermaßen durch einen fortlaufenden Faden [perpetuo velut fi lo] zustandegebracht, wobei auf eine ganz bestimmte Reihenfolge [serie serta] der Geschehnisse geachtet wird und heißt entweder allgemeine [universalis] oder Teilgeschichte [particularis] oder Spezialgeschichte [singularis]; eine andere heißt zusammenhängend, die aus der zusammenhängenden Erzählung der Geschehnisse ausgewählte Taten oder Worte herausgreift [Quaedam vero sejuncta, quae ex perpetua narratione rerum gestarum, facta vel dicta selecta ac memorabilia excerpit], oder, wie sie gerade jedes Ereignis darbietet, nach irgendeiner Ordnung anreiht und erzählt [ordine aliquo disponit]. Von dieser Art scheinen die »bunten Geschichten« des Aristoxenos gewesen zu sein [...], Geschichten in einer Art von Allerlei, deren Laktanz [...] Erwähnung tut [...]. Noch eine andere schließlich heißt vermischt oder verwirrt [miscella vel confusanea]. Die Griechen heißen das »Vermischtes« oder »bunte oder abwechslungsreiche Geschichte«, wie auch wenn auf keine Ordnung Rücksicht genommen wird [uti et, si ordinis nulla habeatur ratio]: »Ungeordnetes«, wie nach dem Zeugnis des [Diogenes] Laertius [...] Aristoteles sein Werk geschrieben hat. § 4. Zu dieser letzten Klasse zählen wir die Zeitungsberichte [Relationes Novellas], die die Bekanntmachung mannigfacher Ereignisse [rerum variarum], die in letzter Zeit [recenter] da und dort auf der Erde eingetreten sind, enthalten. Denn diese sind überdies bei richtiger Anreihung der zusammengehörigen Ereignisse und deren Ursachen lediglich mit der bloßen Darstellung [nuda tantum expositione] zufrieden oder erwähnen nur die Hauptsache der Ereignisse oder vermischte Dinge verschiedenen Inhaltes [res diversi], wie sie sich täglich im Leben ereignen oder gerüchtweise [ex fama] sich bieten, damit der neugierige Leser [lector curiosus] durch die angenehme Abwechslung [jucunda varietate] angezogen und festgehalten werde [...]. (RN 90f. [lat. 166])
Die »Relationes Novellas«, die Peucer hier stilistisch und formalästhetisch im Blick hat, scheinen sich auf die Einheit der Korrespondentenberichte zu beziehen, die auf den Blättern einer Zeitungsausgabe nacheinander abgedruckt werden.34 Die Korrespondenzen sind selbst die Einheit verschiedener Textbausteine, ihrer Nachrichten, und konstituieren optisch und semantisch, im Vollzug des Lesevorgangs, eine Übergangszone zwischen Ordnung und Unordnung: Referate von »Hauptsache[n]« und »vermischte Dinge verschiedenen Inhalts« werden hier dem Leser angeboten. Den autoritativen Vergleichshorizont für die bunte Textualität der Relationen geben antike philosophische und erzählende Texte und Textsammlungen ab. Wie die in der Antike oder auch bei den Polyhistoren des 17. Jahrhunderts praktizierte ›Buntschriftstellerei‹ vermischt auch die Zeitung »Allerlei«.35 Die Abwechslung, die das Vermischte als Effekt hervorruft, wird 34
35
Vgl. zu den Korrespondentenberichten als den Makrostrukturen vorgebenden Einheiten in den frühen Zeitungen Schröder. Die ersten Zeitungen; in der vorliegenden Studie Kap. II.1. Vgl. zum Verhältnis Polyhistorie und Buntschriftstellerei Kühlmann. Lektüre für den Bürger. S. 925f.; zur Intertextualität gelehrter Journale Jaumann. Zur Intertextualität.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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in der Zeitungstheorie zu einem formalästhetischen Standardargument, um das Unterhaltsame der Zeitungslektüre zu erfassen. Die Verfahren, mittels welcher Relationen an »irgendeine« oder »bestimmte« Arten von Ordnung anschließen, können zwischen Stil- und Genrevergleichen also unterschiedlichen Ebenen zugeordnet werden: »Worin die Form der Berichte besteht«, »Ökonomie der Anordnung«, »die Lexis oder Wortwahl« (RN 89). Zunächst hebt Peucer damit die »Relationes« von anderer Geschichtsdarstellung ab: § 20. Fragt man nach der Form derartiger Berichte, so ist sie verschieden. Im allgemeinen gilt jedoch das Wort: sie beruht auf »Ökonomie und Lexis«, denn eine Geschichtsdarstellung pflegt anders aufgebaut zu werden. Die Ökonomie bedeutet Reihung und Anordnung des Geschehnisses; Lexis bezeichnet die für die Ereignisse passende Wortwahl und den Stil [dictionem et stylum]. (RN 101[lat. 175])
Mit dem griechischen Begriff oikonomia respektive dessen lateinischem Äquivalent dispositio und der davon systematisch unterschiedenen Ebene der Wortwahl geht es nun um eine phänomenologische Bestimmung der Zeitung als Medium, die sich von der semantisch-typographischen Einheit ›Text aus Worten‹ trennt. Denn bei einem Text schließt die Darstellung ›im Wort‹ die voraus liegende Arbeit der dispositio mit ein, so dass diese aus jedem vorliegenden Text nur synthetisch erschlossen werden kann. Das Verhältnis von lexis und dispositio wird für die Bestimmung einer medialen Einheit Zeitung nun verdoppelt. Die Zeitungstexte selbst werden zu wortanalogen typographischen Zeichen einer Zeitung. Als deren Bausteine treten sie in einer medientypischen Ordnung neben- und nacheinander und gehorchen dabei einer anderen Ordnung als die Reihenfolge der Worte in einem Text. Dies geht aus den folgenden Erläuterungen von Peucer noch genauer hervor. Zum stilistischen iudicium internum, das die Beziehung der Wörter zu den Sachen im Text gebundenen Ereignisreferat betrifft, tritt ein zweites ›iudicium internum‹ des Mediums Zeitung. Mit ihm wird die Streubreite von Nachrichtentexten über unterschiedliche Ereignisse als die typische Verfasstheit einer Zeitung bestimmt. Es handelt sich um eine berechtigte Formgebung, die als ›ordnungsgemäße Unordnung‹ der Zeitung erfasst wird. Dazu schreibt Peucer in § 21: Was Ökonomie und Anordnung betrifft, so scheint sie von der Natur der Sache, um die es sich handelt, hauptsächlich abhängig zu sein. Denn es werden entweder Dinge verschiedener Beschaffenheit besprochen oder irgendeine einzelne Begebenheit. Bei der Besprechung der erstgenannten ist die Anordnung willkürlich [ordo est arbitrarius], da es keinerlei Verbindung zwischen den Ereignissen, die an verschiedenem Ort, zu verschiedener Zeit und auf verschiedene Weise geschehen sind, gibt. Deshalb wird die Anordnung eingehalten, die der Zufall bietet [casus ordinem offert]. (RN 101[lat. 175])
Die arbiträre Anordnung von Ereigniseinträgen entspricht der menschlich begrenzten Wahrnehmung vom Stand der Dinge in der Welt. Dieser Wahrnehmungshorizont lässt sich sowohl naturrechtlich als auch metaphysisch rechtfertigen, und die vermischte Zeitung wäre als Analogmedium gerechtfertigt.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Organisiert wird das vermischte Nebeneinander der Einträge durch das publizistische Datum, das dem synchronen Schnitt durch die Dinge der Welt einen Rahmen gibt. Unter den Bedingungen dieses Datums, das sich fortlaufend erneuert, wird die Ordnung des Zeitungsraums mit seiner Logik des Vermischten allerdings an die Ordnung einer säkularen (Welt-)Zeit rückgebunden. Das Nebeneinander kommuniziert mit einem Nacheinander, das sich in der fortlaufenden Chronologie von Zeitungsausgaben spiegelt, aber auch intern bei der Reihenfolge von Zeitungstexten bald schon symbolisch aufgeladen werden wird: Texte mit größerer Wichtigkeit auf den ersten Seiten, weniger Wichtiges auf den letzten Seiten. Diese Möglichkeiten der dispositio, als authentische Signatur des Mediums Zeitung zu fungieren, wird argumentativ dann auch mit auktorialen Stilgesten von Zeitungsmachern verbunden. Mit dem publizistischen Zeitungsarchiv wird das heilsgeschichtliche datur der res und verba in die faktische Gegebenheit des mit der Zeitung Datierten transformiert. Präsentiert werden alle Einträge in dem typographisch-publizistisch bemessenen Raum mediengebundener Gleichzeitigkeit. In der zeitungstypischen Abwechslung von einem Eintrag zum anderen tritt so das Neue auch im Faktor Abwechslung auf, wo der Sprung zum nächsten Eintrag interessiert und unterhält. ›Neu‹ heißt dann auch die potentiell immer unerwartete und unvorhergesehene Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit, die einem anderen Text-Ereignis anvertraut ist, das ›nebenan‹ passiert. Diese komplexen Verschaltungen von Stil und Medium, Wissensproduktion und Ethik, deuten sich in Peucers Hinsichten erst an. In seiner Rechtfertigung der vermischten Zeitungs(an)ordnung zeichnet sich aber schon ab, dass die Bestimmung der Zeitung als Medium mit der Erkenntnis einhergeht, dass es sich dabei um ein innerweltlich disponiertes publizistisches Ereignis handelt, das seinerseits einen publizistischen Ort hervorgebracht hat, dessen Ordnung der Welt Menschenwerk ist. Die Disposition eines Zeitungstextes, besonders wenn er eine »einzelne[] Begebenheit« betrifft, folgt dagegen anderen Darstellungsgeboten, die nicht zuletzt Kontingenz abwehren. Der Korrespondent sollte res und verba in die Pflichten des historiographischen Wirklichkeitsreferats nehmen und die Form seiner Texte an den Fragen der Statuslehre ausrichten. So heißt es bei Peucer in Abgrenzung von der arbiträren Ordnung des Mediums: Jedoch bei einer einfachen und einzelnen Begebenheit [re vero simplici atque singulari] muß natürlich an einer entsprechenden Anordnung festgehalten werden [...]: zuerst [...], dann [...], hierauf [...], schließlich [...]. Bei anderen Erzählungen müssen genau so jene sechs bekannten Umstände [circumstantiae], auf die man bei einer Handlung immer sein Augenmerk richten muß, beachtet werden: Person, Sache, Ursache, Art und Weise, Ort und Zeit. (RN 101[lat. 175])
Der in der Historiographie übliche stilus simplex geht für Peucer mit der sachlichen ›Einfachheit‹ eines Ereignisses Hand in Hand. Die stilistischen Vorschriften für das Einzelne in der ›einzelnen‹ Nachricht folgen den klassischen rhetorischen Anweisungen, die die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung, Rede und
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
151
Dichtkunst gesetzmäßig behandeln.36 Wie ein juristischer beantwortet auch ein historiographischer Text in seiner Darstellung die Fragen der Statuslehre nach wem, wann, was, wo und wie. Die Kunst der historiographischen narratio übergreift immer schon einzelne facta, die sie nach Maßgabe von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit untereinander verbindet. Ein nach Regeln der Logik arrangierter Text ist damit das ausgezeichnete Mittel, um vom Sachgehalt seiner Aussagen zu überzeugen. Die ›Faktizität‹ des Ereignisses ist immer auch Effekt eines Wahrscheinlichkeit hervorbringenden Kommunikats. Der Rechtsanspruch des Zeitungstextes auf die Wirklichkeit von Ereignissen, die jenseits seiner Worte liegen, geht insbesondere von der logischen Zurichtung seiner narratio aus. Über diesen Umweg gewinnt auch die Zeitung ihr historisch nachhaltiges Profil, ein Medium der Information zu sein. In der geschiedenen Hinsicht auf die heterogene Disposition von Korrespondentenberichten in einem Zeitungsblatt und die Ordnung des Textes nach Erfordernissen der Statuslehre nimmt Peucer Ciceros systematische Unterscheidung für die Geschichtsschreibung zwischen einer ratio verborum und einer ratio rerum auf. Er wertet sie für die genauere Unterscheidung einer Textur des Textes und einer Textur des Mediums noch weiter aus. Das Telos der je eigenen Ordnung von Text und Medium Zeitung folgt dann nicht nur vergleichbaren, sondern ebenso konträren Geboten, die angemessene Formen bestimmen. Das ist durchaus eine prekäre Gabelung, die sich mit der Zeitung auf neue Weise für die Beziehung zwischen Text und Medium ergibt und in der Folgezeit die Zeitungstheorie immer wieder beschäftigen wird. Denn die gerechtfertigte, evidente Ordnung des Mediums Zeitung öffnet Zufall und Kontingenz Tor und Tür: Der Zufall, verstanden als ein ›Dazwischenkommen‹, also als unvorhersehbare ereignishafte Kreuzung zweier Handlungslinien, die Kontigenz, gegründet auf der Modalaussage, dass alles Wirkliche zugleich auch möglich ist und daher neben sich noch ein potenzielles Anderssein oder ein Nichtsein zu dulden hat, sowie die Emergenz, also das nicht kausallogisch erklärbare »Auftauchen« eines komplexen Phänomens – alle drei flößen Historikern Furcht ein.37
Nicht aber den Poeten oder auch poetisch geschulten Zeitungstheoretikern. So reflektiert etwa Kaspar Stieler darauf, dass Zeitungsleser die mitgeteilten Zeitungsnachrichten ›wie Literatur‹ rezepieren und angesichts anderer, einzelner
36
37
Die in der (juristischen) Vermittlung eines Sachverhalts und Tatbestands zur Anwendung gelangenden Charakteristika des niedrigen Stils: klar, kurz und wahrscheinlich, wurden von Cicero auf eine allgemeine Stilistik für die Historiographen übertragen; vgl. Kessler: Das rhetorische Modell. S. 45ff.; vgl. auch Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übers. von Helmut Rahn. Teil 1. Buch I–VI. Darmstadt 21988. Hier Buch IV,2,31. Uwe Walter. [Rezension zu] Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte. Frankfurt/M. 2005. In: Sehepunkte 5,11 (2005). URL: http://www.sehepunkte.historicum.net/2005/11/8402.html (19.11.2011).
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Lebensmöglichkeiten identifikatorisch reagieren können, also etwa Trost beim überstandenen Unglück anderer suchen oder sich von solchem Unglück abschrecken lassen (s. LN 110). Gegen die entschiedene Freigabe der darstellerischen und funktionalen Lizenzen des Fiktiven im Falle der Zeitung spricht andererseits der historiographische Pakt der Information,38 der zwischen Zeitungsproduzenten und -rezipienten geschlossen ist. Die nach den Fragen der Status-Lehre konzipierten Ereignisreferate sind in der übergreifenden Einheit der Korrespondenzen oder der noch größeren Einheit eines Zeitungsblattes den heteronomen Ökonomien von Zufall und Kontingenz unterworfen. In jeder Zeitung steht das optisch und semantisch Verschiedene der Texte neben- und nacheinander. Raum- und Zeitverhältnisse ›im Kontext des Benachbarten‹ müssen nicht explizit gemacht werden. Nach Peucer ist die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung für die Beziehung der Ereignisreferate, die Zeitungstexte geben, untereinander nicht gefordert. Deren Einheit ist anderer Art: Sie wird durch den einen Rahmen ziehenden datierten Publikationsakt hergestellt, der sie am Ort der Publikation zu einem bestimmten Zeitpunkt versammelt. Die Berücksichtigung der Statuslehre für den Baustein und das Zeichen Text führt zu einer internen Kommentarbeziehung zwischen Text und Medium Zeitung: Was das Medium erlaubt – Sprünge, Lücken, zufällige Nachbarschaften – vermeidet das textuelle Darstellungsreferat nach Möglichkeit. Die Machart des Mediums Zeitung verträgt sich dabei mit dem frühneuzeitlichen Transzendenzvorbehalt:39 der mangelhaften menschlichen Erkenntnis des göttlichen Heilplans, der in allen Einzelfällen der Weltgeschichte zum Zuge kommt und nur annäherungsweise über die menschliche Vernunft zu entschlüsseln ist. Die Säkularisierung dieses Vorbehalts zeichnet sich wiederum in solchen Überlegungen ab, wo die politische Willkür der Herrschenden oder auch das mangelhafte Wissen von Zeitungsmachern als Grund für die lückenhafte Textur der Zeitung angenommen wird. So bleibt auch aus politischen und wissenstheoretischen Gründen die eigenartige Textur des Mediums ein argumentum crucis in der Zeitungstheorie, und die Vermischtheit ihrer Dinge wird immer wieder ein Stein des Anstoßes. Die Akzeptanz von einander mit Gründen ›fremd‹ bleibenden Texten steht bei Peucer so neben der traditionellen Forderung, dass die Einheit des Vergangenen sich dennoch in aller Historiographie zeigen solle. Nach Peucer gilt dieses Gebot durchaus für die Formen, die der Zeitungstext annehmen sollte. Die hier geleistete Koppelung der ratio verborum an die ratio rerum schließt sich der antiken Konzeption einer auf natürliche Weise vernünftig geordneten Welt, dem ordo naturalis, an. Dies verlangt, dass die Sinnhaftigkeit der sprachlich hergestellten
38
39
Wie man in Anlehnung an den ›autobiographischen Pakt‹, von dem Philippe LeJeune spricht, formulieren könnte; vgl. Philippe LeJeune. Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994. Vgl. dazu Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit.
IV.2. Die Historiographie der Zeitung zwischen Text und Medium
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Wirklichkeit der Wahrheit derselben mimetisch entgegenkommt: Realität ist Effekt der Darstellung und Voraussetzung des Darstellungswillens zugleich. Die darstellerische Berücksichtigung von »Person, Sache, Ursache, Art und Weise, Ort und Zeit« (RN 102) bettet die Ereignisse in ihre »circumstantiae« (RN 175) ein. Die historiographische Ästhetik der Sachhaltigkeit orientiert sich historisch gesehen am Leitmedium Nachrichten-Text, der die Ethik des Informierens im ›ordentlichen‹ Text symbolisch einholt. Davon profitiert die Seriosität des Mediums Zeitung, trotz seiner formalästhetischen Hinweise auf die Möglichkeiten des je benachbarten Textes als ein Anderes und die Zufallsanfälligkeit der publizistischen Berichtspflicht. Zeitungstext und Zeitung zielen unter der Maßgabe ihres Informationshandelns gemeinsam auf ein Universum: die Realität. Von der Plausibilisierung immanenter Weltverhältnisse durch den zwar vereinzelten, in sich aber geschlossenen Text aus gedacht, schreibt sich die Glaubwürdigkeit ›der Welt in der Zeitung‹ her, die sich in den realisierten Bruchstücken und zugleich virtuell in deren Auslassungen einnistet. So wird die immanente Ökonomie der Kontingenz, der sich das Medium so freimütig ausliefert, rational aushaltbar und als die Empirie eines menschlichen So-Seins in der Welt akzeptabel. Und die Erträglichkeit der alltäglichen Abstände zwischen den Dingen gilt auch dann weiter, wenn die Überzeugung vom heilsgeschichtlichen Konnex aller Bruchstücke untereinander mehr und mehr zurücktreten sollte. Zum Leidwesen der antiken und neuzeitlichen Historiographie verdankt aber auch die Zeitungslüge ihre Glaubwürdigkeit der ordentlichen Berichtskunst.40 Und auch die Berichterstattung über wunderbare Geschehnisse profitiert von der professionellen Nachrichtentechnik. Der Sprechakt der Lüge, den ›falsche‹ Nachrichten in Zeitungen vollziehen, verstößt also nicht stilistisch, sondern ethisch gegen die Wahrhaftigkeitsforderung, die von der Zeitungstheorie für die Zeitung und ihre Verfasser erhoben wird. Seit der Antike wird die unheilvolle Vermischung von facta und ficta in der Historiographie und Redekunst diskutiert. Dabei hat die Rhetorik sich darin äußerst flexibel gezeigt, dass sie es (mit Aristoteles) legitim findet, unglaubwürdiges wirklich Geschehenes künstlich glaubwürdig zu machen.41 Wie Fama immer schon weiß, existieren Wahres und Falsches, Wahrheiten und Fiktionen manchmal ununterscheidbar verschlungen in der Welt. Folgt man den theoretischen Beschreibungen der Zeitung, so zeigt sich in ihrer Textur dabei ein weiteres neuartiges politisches Moment der publizistischen Verlautbarung über die Wirklichkeit. Unterstellt wird seit den ersten Zeitungen, dass die lückenhaft informierende Wissensschau der Zeitung sich außer transzendenten Einschränkungen auch machtvollen innerweltlichen Entscheidungen verdankt. Zur Willkür ›nach der Natur‹ und unvorgreiflichen Beschlüssen Got-
40 41
Vgl. Pompe. Im Kalkül der Kommunikation. Vgl. Heinrich Lausberg. Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 31973. S. 179ff. §§ 322ff. zur narratio probabilis und zur Legitimität des Einsatzes Glaubwürdigkeit erzeugender Mittel vor Gericht.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
tes tritt als dritte Größe die Heteronomie der politischen Willkür, die die publizierte Wirklichkeit in ihrem Sinne beeinflusst, entweder indem sie etwas unterdrückt oder indem sie verfügt, etwas einzufügen. Natürlich geht Peucer auf diese Verhältnisse ein, wenn er über die Form von Texten spricht. Für ihn ist dabei die Arkanpolitik des absolutistischen Staates noch eine Selbstverständlichkeit: Bei anderen Begebenheiten, sofern sie die Bürger [civiles] nichts angehen, kann man anders vorgehen, weil alle Umstände nicht immer in ähnlicher Weise zur Stelle geschafft werden können, da sogar der Anlaß, die Zeit, der Ort, die Art und Weise der Begebenheit nicht völlig feststeht. Hier genügt es, nach dem Hörensagen die Hauptsache zu berichten, die keine Ordnung kennt [Ubi sufficit ex fama summam rerum nuntiare, quae ordinem nescit]. (RN 102 [lat. 175])
Also auch Texte weisen Lücken auf oder kommen unordentlich daher, wenn es denn gewollt ist. Noch erstaunlich nahe, im Kontext eines gelehrten Diskurses, wird hier die Kommunikationspolitik von oben in die Nähe zirkulierender Fama von unten gerückt. Diese Nähe scheint bei Peucer auch strukturell motiviert zu sein, denn beide Famakommunikationen schließen und produzieren immer wieder neue Lücken, stiften Ordnung und Unordnung. Eine schon angesprochene Option, sich dem Sinn einer lückenhaften Textur positiv anzunähern, ergibt sich aus der Zwischenstellung, die die Theorie der Zeitung zwischen historiographischer und ästhetischer Praxis einräumt. Die Vorstellung, dass Unterhaltung aus Abwechslung resultiere, lädt zur ästhetischen Rechtfertigung des Mediums ein. So diskutiert Peucer unter der verbindlichen Formel nach Horaz die Gleichzeitigkeit von prodesse et delectare, auf welches Argument ja auch Kaspar Stieler setzt. In Peucers Dissertation schon bleibt die später oftmals zentrale Frage offen, ob das delectare dem prodesse der Information nicht doch eher schade als nütze. In der Abwägung von Nutzen und Schaden kommt es bei Peucer zu durchaus üblichen argumentativen Ausweichbewegungen. Der Hinweis auf mögliche Verfehlungen von Zeitungslesern und Zeitungsmachern verschiebt das Problem auf die Seite personaler Verantwortung: § 24. Ich möchte also als den Zweck der Neuen Zeitungen die Kenntnisgabe neuer Ereignisse, verbunden mit einigem Nutzen und Unterhaltung [jucunditate], nennen. [...] Das Verlangen, Neue Zeitungen zu erfahren, ist ja so groß, daß die Bürger, sooft sie an Ecken und öffentlichen Straßen zusammentreffen, fragen: »Gibt es etwas Neues?« Um diese Neugierde der Menschen zufrieden stellen zu können, wurden allenthalben neue Berichte in verschiedenen Sprachen gedruckt. Wer sie liest, kann vielleicht den Durst von Unterhaltungspartnern nach Neuigkeiten einigermaßen stillen. § 25. Diesem Zweck haben wir noch den Nutzen und die Unterhaltung hinzugefügt, die jenen Zweck (der Befriedigung der Neugierde) zu begleiten pflegen. [...] Denn das aus Neuigkeitserzählung geschöpfte Wissen scheint den Lesern beides, Nutzen und Unterhaltung vorzubringen. § 26. Daß freilich der Nutzen der Neuen Zeitungen so groß sei wie der aus klug abgefaßter Geschichte, möchte ich keineswegs behaupten wollen, da ihre Verfasser so ziemlich alles entbehren, was für eine richtige Geschichtsschreibung notwendig ist: wie Geschichtskenntnisse, Klugheit, geschulte Urteilskraft, Belege, die aus ganz unver-
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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dächtigen Archiven geholt sind, und schließlich die angemessene Ausdrucksfähigkeit und der Stil der Geschichtsdarstellung. (RN 103f. [lat. 177])
Den Nexus zwischen dem Nutzen der täglichen Information und dem Nutzen der täglichen Unterhaltung stellt die Neugierde her. Sie gehört zu den ambivalenten Erbstücken von Fama, wie die ubiquitäre Kritik an den allzu neugierigen Zeitungsmachern und ihren Lesern bis ins späte 18. Jahrhundert zeigt. In der jucunditas deutet sich aber zugleich die Linie der ästhetischen Rechtfertigung an, die positive Lesarten einer ›offenen‹ Form der Zeitung mit sich bringt. Und die Lizenz ›Unterhaltung durch Abwechslung‹ lässt es seit dem späteren 17. Jahrhundert zu, dass neue Textgenres in die Zeitung eindringen. Die Vielzahl von Argumenten für die rationalen und willkürlichen, die natürlichen, künstlichen und metaphysischen Ordnungsgesetze der Zeitung erzeugt eine Komplexität, die der Zeitungstheorie auch in der Folgezeit Probleme bereitet. Deren epistemologische und ästhetische Kompliziertheiten fallen allerdings in sich zusammen, wenn Zeitungslehre in praktischen Faustregeln reformuliert wird, die für die Platzierung von Zeitungen auf einem kollektiv neuigkeitsbegierigen Markt Erfolg versprechen: ›Verfahre, wie es gerade politisch und öffentlich passt! Ostendiere Lücken oder behaupte Zusammenhänge! Nutze die Paradoxien, die sich zwischen den Geboten der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit und dem glaubwürdigen Zurechtrücken des unglaubwürdigen Wirklichen wie Unwahren auftun!‹ Die zunächst aus historiographischen und rhetorischen Traditionen übernommenen Parameter, die für eine Text- und Medientheorie der Zeitung herangezogen werden, werden dabei von den Erfahrungen mit druckschriftlicher Zeitungskommunikation eingeholt. Deren Reichweiten sind längst an die Stelle einer allein mündlichen Fama-Kommunikation und von exklusivem Schriftgebrauch getreten. In den Diskussionen über die typischen Fehler und Künste der Zeitungsmacher und ihrer Zeitungsleser wird die Interaktion zwischen Anwesenden unter bestimmten Bedingungen aber auf figurativer Ebene weitergeführt. Unverkennbar handelt es sich auch hierbei um Stellvertreter von Fama mit lesbarem Verhalten.
IV.3. Der Zeitunger: Informant und Rhetor Die Bereitschaft der Zeitung, Unerhebliches neben Wichtigem, Wahres neben Falschem zu platzieren, stellt die Rationalität der Zeitung immer wieder in Frage.42 Der kritische Blick gilt dann nach Maßgabe rhetorischer Systematik auch der Person des Zeitungers. Der Begriff bündelt als terminus technicus des 17. Jahr42
Vgl. dazu auch Jörg Requate. »Unverbürgte Sagen und wahre Fakta.« Anmerkungen zur »Kultur der Neuigkeiten« in der deutschen Presselandschaft zwischen dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. von Bernd Sösemann. Stuttgart 2002. S. 239–254.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
hunderts viele Funktionen, die professionell mit Zeitungsproduktion und -distribution verbunden sind und erst allmählich als eigene Berufsbilder auseinandertreten: Drucker, Herausgeber, Postmeister, Korrespondenten.43 Das Rollenhandeln des Zeitungers sollte von einem Ethos bestimmt sein, das alle seine Handlungen übergreifen kann. Dabei weist die kritische Frage: wer disponiert in und mit der Zeitung Geschichte – die Vorsehung, der Zufall, Fama, der Zeitungsmacher oder die Zeitung – auf einen Medienverbund, der Texte, Medien, Autoren und Leser einschließt. Über eine mimetische Substitutionslogik wird dieser Verbund moralisch lesbar gehalten. Zur Entschuldigung der Zeitungsmacher lässt sich etwa aus der Strukturen ausbildenden Natur der Dinge ableiten, dass er gerade nur so ausschweifend ist wie seine Zeitung und deren Materien. Es scheint auch plausibel, dass der Zeitunger und seine Zeitung nur bloße Kanäle einer von ihnen nicht weiter zu verantwortenden Informationspolitik anderer Kommunikatoren sind. Wenn sich die Zeitungsmacher gegen Kritik an ihren Zeitungen mit dem Argument verteidigen, dass sie nur drucken, was sie den Berichten ihrer Korrespondenten entnehmen, so halten sie dabei das Autopsieprinzip ein, Quellen aus eigener Anschauung zu zitieren.44 Andererseits liegt es bei den vielen Anschlüssen der Zeitungstheorie an die Rhetorik auf der Hand, dass das Handeln von Zeitungsdruckern, Korrespondenten, Journalisten oder Verlegern, analog zum Redehandeln des Rhetors, ethisch befragt wird. Schon den frühen Theoretikern der Zeitung ist der Zeitunger ein doppelgesichtiger Funktionsträger, der zwischen den Aufgaben des Historiographen und des Redners nicht sauber trennt.45 Denn wer Lücken lässt, weil er bestimmte Dinge (nicht) publiziert, könnte dies ja aus subjektiven Erwägungen tun oder als dienstfertiges Sprachrohr ungenannter Interessen arbeiten. Und auch wenn es um die historische Wahrheit eines einzelnen Berichts geht, scheint Vorsicht geboten. Res, also Dinge, Ereignisse, Menschen, Handlungen, Gedanken, Kommunikate, sind immer an Vermittlung in verba und weiteren Medien gebunden; diese Konstellation aus Ereignis und Mitteilung erweist sich nicht erst in der Neuzeit als eine prekäre Gemengelage aus Medien und Kommunikationen. Zwar besitzt nach Aristoteles’ Tradition bildenden Maximen das Wahre die größte Überzeugungskraft,46 doch häufig ist gerade das, was wahr ist, einem bestimmten Publikum zu einer gegebenen Zeit nicht als glaubwürdig vermittel43
44 45
46
Vgl. Paul Baumert. Die Entstehung des deutschen Journalismus in sozialgeschichtlicher Betrachtung. Altenburg/Thüringen 1928; Koszyk. Vorläufer der Massenpresse. S. 41; Requate. Journalismus als Beruf. Vgl. zum Autopsieprinzip Knape. »Historie«. S. 366ff. Vgl. zur historischen Diskussion, die sich zunächst vordringlich mit ›Unparteilichkeit‹ beschäftigt Adrians. Journalismus im 30jährigen Krieg. S. 52ff; Philomen Schönhagen. Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer Qualitätsnorm. Tübingen 1998; zum Selbstverständnis heutiger Journalisten Lutz Hachmeister/Friedemann Siering. Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945. München 2002. Vgl. Kessler. Das rhetorische Modell. S. 46.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
157
bar.47 Kunstfertige (sprachliche) simulatio des Wahrscheinlichen als des besser Überzeugenden, pragmatische Gesten zweckhafter Verstellung auf Seiten des Redenden oder Schreibenden (etwa die Behauptung von Unparteilichkeit) und das Wahrhaftigkeits- und Objektivitätsstreben gegenüber dem wirklichkeitshaltigen verum werden seit der antiken Rhetorik und Historiographie als gültige Maximen für Rede- und Schreibverfahren und Strategien diskutiert. Die Lizenzen der historiographischen Tätigkeit zielten zwar nicht auf die absichtsvolle Lüge wider dessen besseres Wissen des sprechend und schreibend Handelnden, doch implizierte die Legitimität unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem verum ein relativ offenes System, das es auch der Historiographie ermöglichte, factum und fictum für unterschiedliche Zwecke auszuspielen. Die Darstellungskünste des Zeitungers stehen in der Tradition dieser spannungsvollen Möglichkeiten, deren Hinsichten auch die Argumente in der Zeitungstheorie bestimmen. Tobias Peucer spricht etwa im Sinne dieser Traditionen von den »virtutes boni historici«, die für die »autores« (RN 168) der Zeitungen Gültigkeit hätten.48 Die Verfasser von Zeitungen würden von den Gelehrten als »bewirkende Ursache« (RN 93) angesehen. Die Güte dieser »Ursache« gründet wie bei guten Geschichtsschreibern teils im »Verstand« (RN 93), teils im »Willen« (RN 95). Dabei sollte der Zeitungsschreiber die öffentlichen, dem Gemeinwesen zuträglichen Dimensionen seiner Tätigkeit im Blick behalten und Unparteilichkeit bewahren, im Unterschied zum forensischen Redner: Zum Willen des Berichterstatters rechne ich seine Glaubwürdigkeit und Wahrheitsliebe: daß er nicht etwa aus Voreingenommenheit für eine Partei schuldhaft etwas Falsches beimische oder nicht ganz sichere Dinge über Vorgänge von großer Bedeutung niederschreibe. »Denn wer weiß nicht«, sagt Cicero im II. Buch »De oratore«, »daß das erste Gebot der Geschichtsschreibung lautet: sie dürfe nichts Falsches zu sagen wagen, und das zweite, sie müsse die Wahrheit zu sagen wagen, damit keinerlei Verdacht von Bevorzugung oder Benachteiligung sich einstelle.[«] Diese Grundsätze sind natürlich allen bekannt. (RN 95)
Die Grundforderung, das verum willentlich herzustellen, unterscheidet traditionellerweise die Kunst der Historiographie auch von der Dichtkunst, die sich den epistemologischen Status von Faktizität nicht zumuten muss, da sie philosophisch an dem Bezug auf das Allgemeine interessiert ist.49 Doch ist es genau die Krux der Zeitung und somit auch ihrer Verfasser, dass sie zwischen Wahrheit, Lüge und Fiktion agieren, Wirklichkeiten und Konstruktionen von Wirklichkeiten,
47 48 49
Vgl. ebd. S. 49; Quintilian. Ausbildung des Redners. IV,2,34. Hier scheint das vir bonus-Modell auf; vgl. zu dessen systematischem Stellenwert in der frühneuzeitlichen Historiographie Kessler. Das rhetorische Modell. So die nachplatonische, aristotelische Dichtungslehre; vgl. Aristoteles. Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1987. Hier Kap. 9, in dem Aristoteles den Allgemeinheitsanspruch der Dichtung und ihr metaphysisches Wahrheitsstreben von der Geschichtsschreibung abhebt, die in ihren Erzählungen das Besondere und Kontingente der Wirklichkeit in den Blick nimmt.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
epistemische und ästhetische Schriftszenarien hier ineinander übergehen. Der Wahrheitswille, auf den Peucer als Zeitungstheoretiker setzt, ist ein systembezogenes Postulat nach rhetorischer Maßgabe. Es nähert die zeitungstypische Berichtskunst dem philosophisch-wissenschaftlichen und damit auch überzeitlich konzipierten Wahrheits- und Wissensbegriffen an.50 Die Herstellung eines gegenwartsbezogenen, im Hier und Jetzt der Äußerung glaubwürdig erscheinenden Berichts für ein bestimmtes Publikum bleibt für die Person des Zeitungers aber ebenso im Rahmen politisch-judiziöser Pragmatik begründbar. Hier sind Wahrheit und Wahrscheinlichkeit je und je neu auszuhandelnde, sozial bewegliche Güter der Vermittlung von verschiedenen Interessen. Auch zwischen privatem Willen und allgemeinem Sollen zeichnen sich in der Neuzeit Brüche ab, die ebenfalls die Zeitungstheorie bei ihren Reflexionen auf personales Ethos betreffen. Prägnant formuliert findet sich einer dieser Sprünge im System bei einer juristischen Einschätzung des Gelehrten Ahasver Fritsch von 1676. Vermischt mit theologischen Bedenken bemerkt er zu den »Sünden«, die die »Urheber« und »Verbreiter« von Nachrichten gegen Gott, den Staat und den Nächsten begehen: Und sie werden auch dadurch nicht ihrer Schuld ledig, [daß sie sagen,] die Welt wolle betrogen werden; jeder müsse es der eigenen Leichtgläubigkeit zuschreiben, wenn er durch falsche Erzählungen von einem anderen sich täuschen ließ. Denn vor dem Forum des Gewissens gelten derartige Entschuldigungen nicht.51
Der skeptizistische Topos des 17. Jahrhunderts, alle Welt sei nur Theater vor Gott und wolle selbst ja betrogen werden, wird hier explizit für die Herstellung und Verbreitung von Zeitungsneuigkeiten außer Kraft gesetzt. In dem Bruch mit dem barocken Topos deutet sich eine Umschrift an, die eine moralisch kodierte Spur vom privaten Gewissen der Person zum Ort öffentlicher Publizistik zieht.52 Der Wille zur Wahrheit verbündet sich mit dem Willen zum Wissen; dieses Bündnis sollte auch und gerade in der regelmäßigen Publizistik gelingen, die auf kollektive Verbreitung ihrer Nachrichten dringt. Doch so wenig sich nach Fritsch das Forum des individuellen Gewissens selbst betrügen kann, so sehr scheinen gerade die Zeitungsmacher zum Betrug des öffentlichen Forums zu neigen. Dieser Überzeugung hängen die gleichen Gelehrten an, die dann keine Schwierigkeiten mit den Verstellungskünsten der Zeitung haben, wenn der Umgang mit dem verum für Arkanpolitik funktionalisiert wird. Im Kontext der politisch-repräsentativen Nutzung einer gedruckten Öffentlichkeit in den Zeitungen53 räumen ja gerade nicht die gegen ›besseres‹ Wissen gemachten Falschaussagen das Feld. Wenn es
50 51 52 53
Vgl. Lausberg. Handbuch der literarischen Rhetorik. S. 558ff. §§ 1167ff. zur Affinität zwischen historiographischem und wissenschaftlichen Reden hinsichtlich des verum. Fritsch. Discursus de Novellarum. S. 43. Vgl. zur kritischen Konstellation, die das (bürgerliche) Gewissen für die Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert erzeugt, Koselleck. Kritik und Krise. Es geht ausdrücklich um die Öffentlichkeit, die sich dem Buchdruck verdankt (vgl. LN 13 u.ö.)
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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der Wahrung von Staatsinteressen dient, ist die gezielte Verbreitung von Falschmeldungen wie das Zurückhalten von Informationen durchaus legitim. Dies räumt auch Kaspar Stieler ein: Wofern aber / wie oft geschiehet / der Herr und die Obrigkeit des Orts befehlen würde / einen nie erhaltenen Sieg [...] oder andere Anstalt in die Zeitung zutragen / so gebüret dem Post-Meister / als Untertanen / zu gehorchen. [...] Die Ursache ist / daß es der Stat vielmals erfordert / etwas Ungegründetes unter das Volk zu bringen / wenn es dem gemeinen Wesen zu träglich ist. (LN 34f.)
Entsprechend raten Zeitungstheoretiker dem Zeitunger zur größten Vorsicht bei obrigkeitlicher Kommunikationspolitik, will diese doch verhindern, dass Nachrichten oder Kommentare von anderer als autorisierter Seite veröffentlicht werden.54 Ihr stärkstes Mittel ist die Vor- und Nachzensur, die allenfalls trickreich umgangen werden kann. Doch gerät bei Kaspar Stieler in die Reihe der Zeitungsmacher, die juristisch belangt werden sollten, auch derjenige, der »aus Furcht / oder auch wol aus Liederlich- und Unachtsamkeit / eine gefärliche Zeitung« verschweigt: Solche Hinterhalter und Schweiger ziehen eine grosse Verantwortung auf sich / wann sie damit nicht zu rechter Zeit an dem gebürenden Orte ausbrechen. Z. e. Wann einem Kriegs-bedienten kund gemacht worden / daß der Feind eine Festung zu belagern vorhabens sey; so gebüret ihm dem Commendanten des Orts davon so bald Nachricht zu geben / wie ingleichen / wenn er von einer Verräterey / so im selbigen Platze sich angesponnen / Wind bekommen hätte: Weil diese Verschwiegenheit ganz unzeitig und höchst gefärlich seyn würde. (LN 170)
Auch zu viel Nachdenken über den publizistischen Handlungsbedarf ist angesichts von crisis nicht angeraten. So heißt es bei Stieler zu einer Komplementärfigur des »Schweigers«, dem »Klügling«: Nicht weniger finden sich Klüglinge / welche aus ihrem Vaterlande zwar alles Gute / jedoch ein wiedriges / als was der Warheit gemäß ist / schreiben / es auch wol in die Zeitungen bringen lassen / in Meinung / man solle viel davon halten und sich vor ihnen fürchten: Es ist aber auch nicht recht / und kan oftmals grosse Ungelegenheit verursachen. Dann / wenn eine Stadt mangel an Frucht und Profiant hat / und man liesse in die Zeitung setzen / daß darinnen Hülle und Fülle / und alles wolfeil und überflüssig verhanden sey / weshalber hernach die Zufuhr zu Lande und Wasser zurück bliebe / und / wegen Abgangs am Getreide / eine Teurung entstünde; so wäre der ZeitungsDichter nicht auser grosser Schuld / und deshalber nachdrücklich zu bestrafen / ohne / daß er von allen seinen Mitbürgern würde gehasset werden. (LN 170)
Also nicht, dass man mit Zeitungsnachrichten Politik machen kann, was gerade in der Publizistik heißt, Nachrichten mit Wirkungsabsichten in Umlauf zu bringen, ist ein Problem für Zeitungstheorie, sondern es stellt sich immer wieder die 54
Vgl. dazu Jörg Jochen Berns. »Partheylichkeit« und Zeitungswesen. Eine medienpolitische Diskussion an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Massen / Medien / Politik. Hg. von Wolfgang Fritz Haug. Karlsruhe 1976. S. 202–233.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Frage, wer sich als Verantwortlicher der publizistisch erzeugten Wirklichkeiten behaupten sollte. Die Zeitungstheorie rechnet in der Gemengelage verschiedener öffentlicher Sphären also mit notwendigen Sprechakten der Wahrheit und der Lüge. Für den Zeitunger als Untertanen bleiben diese allemal politisch, mit Blick nach oben, gerahmt. Die Rolle des Zeitungers wird von der Zeitungstheorie in einer prekären Zwischenstellung zwischen Historiograph und Rhetor festgehalten; er ist ihr zugleich subjectus der Staatsgewalt und Autor zu verantwortender publizistischer Handlungen. Diese Handlungen stehen, folgt man der frühen Zeitungstheorie, in komplexen generischen Beziehungen zu den Wahrheits-, Wahrhaftigkeits- und Wahrscheinlichkeitsgeboten der Historiographie, zur politischen Kontrolle alles Gedruckten, zur iudiciösen Pragmatik des 17. Jahrhunderts, die den offenen Horizont divergierender Interessen an der Zirkulation von Wissen berücksichtigt, und schließlich zu einem neuen, sich allmählich abzeichnenden Anspruch, dass es gut sei, wenn informierende Neuigkeiten um ihrer selbst willen veröffentlicht werden. Die Unparteilichkeit als professionelle Haltung des Zeitungers geht, wie gesagt, einher mit der Stilistik des Einfachen, die die ersten Zeitungen als historisch-politische Berichterstattermedien Typen bildend ausprägen. Dieser Berichtsstil ist dem Konzept Faktizität angemessen. Andererseits repräsentiert die zurückhaltende Stilistik den anderen Pol des Spektrums, der die Handlungsmöglichkeiten des Zeitunger umreißt: seine politische Vernunft angesichts der jederzeit möglichen staatlichen Zugriffe auf sein Tun. Die professionelle Haltung der Sachlichkeit führt nicht einfach von selbst aus dem ubiquitären Feld des Politischen heraus. Gefährlich ist dieses Feld allemal, wo die Berichterstattung vorzugsweise mit den Ereignissen der ›großen Welt‹ und ihren Arkana verbunden ist. Publizistische Handlungen, die sich darauf beziehen, können deshalb schwer abschätzbare Folgen haben. Tobias Peucer führt unter den Kautelen, den Vorsichtsmaßnahmen des Zeitungers, kritische Umstände auf, die von Überlagerungen unterschiedlicher Gebote für verschiedene Ebenen betroffen sind. Er beruft sich dabei auf Autoritäten: antike Geschichtsschreiber und zeitgenössische Zeitungstheoretiker wie Besold und Fritsch: Es sollen Vorgänge an Fürstenhöfen, die nicht veröffentlicht werden wollen, nicht kritiklos gelesen werden. Denn es ist gefährlich, auf die zu achten, die ächten können. Deshalb erinnern kluge Leute daran, man solle warten, bis jene aufgehört hätten, unter den Lebenden zu weilen, oder bis sie nicht mehr schaden könnten. [...] Cornelius Tacitus hat das in den Annalen, Buch 1, Kap. 1 auch vermerkt. Tatsächlich wird auch über die noch lebenden Fürsten selten die Wahrheit erzählt, weil ja die Schriftsteller teils durch die überhandnehmende Schmeichelei, teils durch die Angst abgeschreckt werden; so kommt es, daß die Wahrheit mannigfach durchbrochen wird: Einmal infolge der Unkenntnis des Staatswesens als einer fremden Sache, dann durch die Lust an Schmeichelei oder wiederum aus Haß gegenüber den Herrschern. Denn unter feindseligen und knechtisch unterwürfigen Schreibern herrscht keinerlei Sorge darum, ob die Nachwelt richtig informiert wird. [...] Aus diesem Grund darf in einem gut geordneten Staatswesen nicht einem jedem Beliebigen gestattet werden, Berichte unter das Volk zu bringen. (RN 99)
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Die mehr und mehr auf die Historiographie der Gegenwart bezogenen Zeitunger können allerdings ihr Handeln an der überkommenen Maxime, besser über die Toten als über die Lebenden zu schreiben, nicht mehr allein ausrichten. Eher mag für sie angesichts drohender Repressalien realistisch sein, gegenläufig zur Gewissenspflicht zugunsten der Obrigkeit die Versorgung der Nachwelt mit dem verum im factum zu vernachlässigen oder die Kunst der Schmeichelei zu üben. Die lesbare Tatsache, dass verschiedene Zeitungen über das gleiche factum ›ungleiche‹ Berichte bringen können, verweist auch auf interne Konkurrenzen der Zeitungsgeschichtsschreibung zwischen Objektivität und rhetorisch-politischem Einsatz. Zeitunger erwarten die kollektive Zustimmung und haben einen öffentlichen Ruf zu gewinnen oder zu verlieren. Und ihr Publikum möchte nicht nur das Neue erfahren, sondern jeder möchte auch das wissen, was der benachbarte Zeitungsleser vielleicht auch schon weiß.55 Verschiedene publizistische Wirklichkeiten können dann nicht mehr allein über die für Peucer und auch spätere Zeitungstheorie noch gültigen Einsichten in die persönliche »Schmeichelei« oder mit dem »Haß« auf die Herrschenden theoretisch allein gerechtfertigt werden. Die politische Reglementierung der Zeitunger findet ein funktionales Pendant in gelehrten Interessen, die ihrerseits an einer Einschüchterung allzu forscher Zeitunger durch entsprechende Grenzverweise arbeiten. Dies zeigt sich schon in der zügigen Inanspruchnahme des kommunikativen Prinzips Zeitung durch die gelehrten Journale des 17. Jahrhunderts. Und die ersten Texte der Zeitungstheorie entstehen im Kontext der gelehrten Zunft, die ihr Wissen und ihre Bildung als ein Standesgut zu verwalten gewohnt ist. Das Anliegen der Eruditi, den Umgang der Zeitung mit Wissen nach akademischen Vorstellungen zu rahmen, sieht sich seit der Reformation schon von großen Teilen der Flugblattpublizistik in Frage gestellt. Es gibt die gelehrte Antikritik an der Zeitung, die dieser und ihren Produzenten eine verdächtige Nähe zu mündlicher Zeugenschaft oder anderen ›unseriösen‹ Kolportagepraktiken unterstellt, die eben nicht aus der Gelehrsamkeit stammen. So führt Tobias Peucer die Genese der Zeitung bei den Deutschen auf politisch-merkantile Zusammenhänge zurück, um die Zeitungsproduktion seiner Zeit zu beleuchten. Darin mutet die Herkunft der Zeitung tumultuarisch an und weist keine geordnete Abkunft auf: Als aber zu Beginn des letzten Zeitabschnittes das Licht der Wissenschaften zu glänzen begonnen hatte, da verlegten sich auf die Geschichtsaufzeichnung bedeutende gelehrte Männer neuerlich mit größerer Hingabe. Dadurch wurde ihr Ruhm gewissermaßen neu erweckt, so daß viele sich der Geschichtsschreibung zuwandten. Diesen machten es einige nur mäßig Gebildete nach und haben in hastiger Arbeit [opera tumultuaria] aus Aufzeichnungen von Hofleuten oder Kaufleuten oder aus dem Gerede des Volkes über da und dort jüngst geschehene Ereignisse vermischte Berichte zusammengebracht, so daß sie die Neugierde des Volkes, die von da an dazu neigt, Neuigkeiten zu erfahren, förderten. (RN 92 [lat. 167])
55
Vgl. dazu Pompe. Die Neuheit der Neuheit.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Mit dieser komplexen Genese aus gelehrter Geschichtsschreibung, kaufmännisch-politischem Nachrichtenverkehr und kollektiv-anonymer Stimme stellen sich für den gelehrten Beobachter viele Fehler wieder ein, die die professionelle Historiographie methodisch längst überwunden zu haben glaubte. Dazu gehört der standardisierte Vorwurf, Zeitunger und ihre Zeitungen würden Lügen und Gerüchte aufgrund nur nachlässig geprüfter Quellen verbreiten. So vermischen sich philologische mit politischen und kulturkritischen Perspektiven. Unter quellenkritischem Vorzeichen geht es der frühen Zeitungskritik um den Umgang mit Druckschriftlichkeit. Die Zeitungsschrift sollte als künstliche Memoria dem Archiv der Geschichte zuarbeiten, und zwar, im allfälligen Unterschied zum natürlichen Erinnerungsvermögen, der Dauer des Überlieferten. Die Schriftlichkeit wird seit dem Humanismus als das Leitmedium der historischen Tätigkeit diskutiert. Seit Petrarca befunden hat, dass die Geschichte schon immer in verschrifteter Form vorliege und insofern die Findung und Anordnung des Stoffes selbst auch nur auf Zeugnisse in der Schrift zurückgreifen sollte, gilt das professionelle Tun des Historiographen besonders der Beurteilung schriftlicher Quellen.56 Zwar verstoßen die Zeitunger nicht gegen das Autopsieprinzip, da sie ja ihre Korrespondentenberichte selbst in Augenschein nehmen, bevor sie sie drucken, aber, so wird ihnen oftmals unterstellt, sie prüfen ihre Zeugen und Zeugnisse nur mangelhaft.57 Das ist der gelehrten Zeitungskritik und ihrem philologischen, auf sorgfältige Prüfung von Zeugnissen setzendem Schriftverständnis ein Ärgernis. Doch auch die Zeitungsschreiber wissen aus ihren professionellen Beziehungen zu mündlichen und handschriftlichen Zulieferern, dass deren Zeugnisse korrumpiert sein können. Schon früh gehen sie selbstkritisch mit dem Problem des nicht korrekten gedruckten Berichts um. Mangelnde Kontrolle kann allerdings auf den Status unwesentlicher Abweichungen heruntergebrochen werden. So schreibt bereits Johann Carolus, der Drucker eines der frühesten Periodika, der Straßburger Relation, im Vorwort zum Jahresband seiner Zeitung 1609 an den »Großgünstige[n] Leser«: Wann aber bißweilen Errata vnd vngleichheiten / die so wol wegen der vnbekandten Ort / als auch der Persohnen Namen / dero authoritet Erbämpter oder der gleichen Singulariteten vnd Proprieteten fürfallen / so auß vnwissenheit nicht recht geschrieben / in der Correctur auch angeregter vrsachen halben nicht zu ändern müglich / etc. Als wollte der großgünstige Leser solcher / wie auch / was in der Eyl vbersehen / seinem vernünfftigen wissen nach / vnbeschwert selbsten Corrigieren, Endern vnd verbessern / etc. Angeregter vrsach halben auch / vnnd das bey Nacht eylend gefertigt werden muß / zum besten verstehn / auff vnd annemen / etc.58
56
57 58
Vgl. Kessler. Das rhetorische Modell. S. 65f.; Ulrich Muhlack. Von der philologischen zur historischen Methode. In: Historische Methode. Hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen. München 1988. S. 154–180. Vgl. zur Verschärfung der Wahrheitsforderung an berichtete Historie im Rahmen humanistischer Quellenkritik Knape. »Historie«. S. 367ff. Zit. n. Die Zeitung. S. 18.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Carolus überlässt die quellenkritische Arbeit, Korrigieren und Verbessern, seinen Lesern; er selber legt seinen Zeitungsband bei Herausgabe zu den Akten von gestern, nicht zuletzt, weil er als Zeitunger mit neuen Druckaufträgen beschäftigt sein mag. Die Schnelligkeit der Produktion wird vom Zeitunger technisch gerechtfertigt; Fehler sind leidliche, kaum vermeidbare Übel begrenzter individueller Leistungsfähigkeit. Das Urteil über die mangelhafte Quellenkritik reicht in die Bereiche mündlicher Kolportage hinein. So rät Kaspar Stieler etwa für die Herstellung gedruckter Zeitungen vom Rückgriff auf die gesungenen Zeitungen umherziehender Neuigkeitenhändler entschieden ab (s. LN 54). Die Kritik an Fehlern in der Zeitung wird von den Zeitungsmachern in professioneller Selbstkritik aufgenommen und an die eigenen Bedürfnisse angepasst. Unstimmigkeiten zwischen von ihnen berichteten vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen können noch auf den Topos der veritas filia temporis bezogen werden. Die Periodika verfügen dabei über ein technisch motiviertes und zugleich kritisch relativierendes Verhältnis zwischen alten und den neuen Nachrichten. Die Beziehungen zwischen den Wahrheitsansprüchen von Vergangenheit und Gegenwart werden im Modus der kurzfristigen Periodizität unterschwellig operationalisiert und für die Darstellung von Geschichtsverläufen kritisch funktionalisierbar. Geschichte und Zeit verschränken sich in der Zeitung strukturell, semantische Korrekturen des Alten durch das Neue liegen auf der Hand. Diese kritische Selbsttätigkeit der Informationen im Geschichtsverlauf entlastet bereits den Macher der Nachricht des 17. Jahrhunderts zu einem guten Teil von moralischer Verantwortung gegenüber dem Irrtum von gestern. Der Topos, dass die Zeit etwas über die Wahrheit an den Tag bringt, lässt sich auf die Struktur der fortlaufenden Veröffentlichung anwenden: Anlangend nu die extraordinaires Relationes / so wird freundlich gebeten / im Fall die eine Post etwas neues und zweifelhaftes einbringen mögte / welches die nähste nicht confirmirte / oder mit der dritten gar nicht continuirte / mir solches nicht beyzumässen. Der weitberühmte Celadon59 schrieb einsmahl: Ich mache die Zeitungen nicht selbst / sondern communicire solche ohngeändert / wie sie mir bald von diesem / bald von jenem mitgetheilet werden / und stelle solche tanqvam nudam Puellam öffentlich da / so kan sie ein jeder kleiden wie er will / und ihr so viel glauben als er vermeint. Im übrigen wird der geneigte Leser dienstlich gebeten nicht allein / die im verwichenem Jahr eingeschlichene / sondern die künftig / wider Verhoffen / nachkommende Druckfehler in gutem außzudeuten / in Betrachtung daß diese Arbeit allezeit mit aller Eilfertigkeit geschieht / um den Neubegierigen desto ehender damit zu dienen.60
Dieser Appell an den kritisch-verständnisvollen Leser wird vielfach als persönliche capitatio benevolentiae des Zeitungsmachers eingebracht. Unschuldig wie seine Nachrichten ist er nur ein Vermittler, der Text- und auch Geschichtskonjektu59 60
Gemeint ist der in seiner Zeit berühmte Georg Greflinger (1618–1677), der in Hamburg den Nordischen Mercurius herausbrachte; vgl. Die Zeitung. S. 41ff. So der Verleger Daniel Paulli (1640–1684) in seiner Vorrede zur ersten Nummer seiner Extraordinaires Relation von 1673, zit. n. Die Zeitung. S. 45.
164
IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
ren an den Leser weitergibt. Dies ist ein Faden im Labyrinth der Zeitungskunst, an dem sich auch das kritische 18. Jahrhundert angesichts der Unabweisbarkeit des Faktors Zeit orientieren wird. Auch ein ausgewiesen seriöser Zeitungsmann wie August Ludwig Schlözer beruft sich auf diesen Rechtsanspruch auf Unschuld gegenüber den Mängeln einer Berichterstattung von gestern. Fehler aller Art schleichen sich bei einer zukunftsoffenen Geschichte, deren Wahrheiten im Vorgriff auf Künftiges dem aktuellen publizistischen status quo anvertraut werden müssen, unweigerlich ein. Schlözer geht so weit zu sagen, dass es gerade die Pressefreiheit, also die Möglichkeit, differierende Darstellung derselben Vorfälle zu liefern, sei, die das vorsichtige Tun der Zeitungsleute immer schwieriger mache: Denn Berichtigungen werden, auch bei aller mensch=möglichen Vorsicht, immer nötig seyn. Es scheint auch wirklich, daß man immer mer einsiehet, wie dies ein notwendiges Uebel der PreßFreiheit und Toleranz sei [...].61
Eine »Berichtigung« kann unter der Erkenntnisprämisse von verzeitlichter Historiographie nur nachträglich erfolgen. Wie der schnelle vom hinkenden Boten eingeholt wird, so trägt jede Nachricht von Heute ein Risiko gegenüber der von Morgen. Neben den Topos, dass sich die Wahrheit als Tochter der Zeit aufführt, tritt in der Zeitungstheorie des 17. Jahrhunderts ein weiterer Gedanke, der das Nachdenken über die Zeitung indirekt stimuliert: dass die Geschichte eine Lehrmeisterin des Lebens sei. Auch hier ist zu sehen, wie der Rekurs auf die Aufgaben der Historiographie durch strukturell neue Zugriffe auf Geschichte, die die Zeitunger und ihre Medien praktizieren, überlagert wird. Bei dem antiken Autor Lukian wird die stilistische Ernüchterung der Historiographie ins Zentrum gestellt. Nach ihm hat der Historiker »lediglich zu sagen, wie etwas geschehen ist«.62 Seine Texte müssen keine öffentlichen Streitfälle entscheiden wie der forensische Redner, sondern sind geleitet von dem »Interesse der Information der Nachwelt über die Vergangenheit«.63 Auf dieser Grundlage verbindet Lukian die Aufgabe der Historiographie mit der Memorialfunktion der Schrift und dem moralischen Nutzen für spätere Leser: Diese gewinnen anhand der Überlieferungen Orientierung für vergleichbare Lebenslagen. Mit dieser moralphilosophischen Akzentuierung von Geschichtsschreibung wird Geschichte zu einem sich ständig anreichernden Reservoir von Erfahrungen und ihren Grundsätzen, an die jede neue Zeit anschließen können sollte. Solange Geschichtsabläufe nicht grundsätzlich vom Neuen durchdrungen erscheinen, behält die mit dem Speicher der Schrift verbundene Denkfigur historia magistra vitae ihre Relevanz.
61
62 63
August Ludwig Schlözer. Allgemeiner Vorbericht. In: Stats-Anzeigen. Hg. von dems. Bd. 1. Göttingen 1782. O.S. (Abschnitt IX). Vgl. zu Schlözers Zeitungsunternehmungen Ludolf Herbst. Briefwechsel / Stats-Anzeigen (1776–1793). In: Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1973. S. 115–126. Kessler. Das rhetorische Modell. S. 51. Ebd.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Der Topos wird erst im 18. Jahrhundert aufgelöst, wenn die Historisierung der Geschichte selbst und grundsätzliche Differenz zur neuen Idee wird.64 Für die Zeitungstheorie des späten 17. Jahrhunderts ist einerseits noch von der Gültigkeit des Modells auszugehen, dass die Archive der Geschichte alle Lehren im Prinzip immer schon bereitstellen. Andererseits produziert das Einverständnis mit dem periodischen Publikationsformat Reibungsflächen, auf denen das Schriftverständnis historiographischer Topoi selbst zerrieben werden kann. So ruft etwa Tobias Peucer die Zwecke der Historiographie auf, grenzt aber die Relationen aus dem schriftgesicherten Raum der Erinnerung aus. Es heißt es in seiner Dissertation unter § 23, der den »Zweck der Berichte« (RN 89) untersucht: Der wesentliche und eigentliche Zweck der Geschichte ist die Aufbewahrung der Erinnerung an Geschehnisse. Denn wäre das nicht der Fall, dann würden die Ereignisse vor unserer Zeit verloren gegangen sein oder wären sämtlich in Vergessenheit geraten. Würden diese nicht der Geschichtsschreibung oder Jahrbüchern anvertraut, dann würden sie wegen der Oberflächlichkeit und wegen der Mängel des menschlichen Gedächtnisses schließlich in Schweigen begraben oder doch nicht vollständig und unberührt der Nachwelt überliefert werden können. Daß aber für Neue Zeitungen [Relationum novellarum] nicht derselbe Zweck maßgebend ist, läßt sich aus dem schon Gesagten schließen. (RN 103 [lat. 176])
Denn es sei so, »daß diese nicht um der Nachwelt willen, sondern wegen der menschlichen Neugierde abgefaßt zu werden pflegen« (RN 103). Die gegen das Vergessen gerichtete künstliche Memoria ist nicht nur an die Schrift gebunden, sondern seit Gutenbergs Erfindung scheint es der Druck im Buch zu sein, der Erinnerbarkeit in besonderer Weise garantiert. Hier gerät die Zeitung also in eine Konfrontation zum gedruckten Buch. Beim Zeitungshandeln, das Produktionsund Rezeptionsprozesse verbindet, ginge es dann nicht ausschließlich um Konstanten der Geschichte oder statisch konservierbare Lehren aus der Geschichte. Sondern mit der Zeitung sind die Schriftarchive in Bewegung geraten. Text und Medium unterstützen gemeinsam den Faktor Abwechslung: Alles, so Peucer, was »in Zeitungen als Vermischtes in erzählender Form eingeflochten zu werden« pflegt, solle den »Leser durch angenehme Abwechslung erfreu[en]« (RN 98). Die Abwechslung und die Neugierde bilden in der Zeitungstheorie Scharnierstellen zwischen ästhetischem und historiographischem Diskurs. Die Abwechslung kommt dem Wunsch nach dem Neuen entgegen, ohne dass damit sofort eine moralische Verurteilung desjenigen erfolgen muss, der sich an der Abwechslung erfreut. Damit steht Zeitung in der frühen Zeitungstheorie der Form und Struktur nach nicht nur für Information, sondern auch für Unterhaltung ein. Peucer stellt nicht von ungefähr gleich hinter die Bemerkungen zum ersten Gebot der Geschichtsschreibung, dass diese nichts »Falsches«, sondern die »Wahr-
64
Vgl. Reinhart Koselleck. Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 41985. S. 38–66.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
heit« (RN 95) zu sagen habe, das folgende Wort des antiken Historiographen Strabo, das die Unterhaltungszwecke von Geschichte impliziert: Und Strabon sagt im XI. Buch seiner Geographie, wo er die märchenhaften Erzählungen über die Amazonen verzeichnet: »Die Geschichte will die Wahrheit, die alte oder auch neue, und auch das Wunderbare, oder wenn sie das nicht hat, das Seltene«. (RN 95)
In Strabos Diktum über die stoffliche Ersatzfunktion des Wunderbaren und Seltenen kollabiert schon die aristotelische Trennung zwischen Dichtkunst und Geschichtsschreibung, die über das Besondere zugleich das Wirkliche im Blick habe, zumindest steht immer auch zur Debatte, was als das Wirkliche gelten soll und wie von der Wirklichkeit des Erzählten überzeugt werden kann. Die Zeitungskunst kann sich über das Prinzip Unterhaltung ihrerseits von einer allzu strengen Einschränkung durch die Informationspflicht teilweise emanzipieren; es ist eine Frage der je eigenen Zeit, ob und wie etwas Wunderbares in einer Zeitung stehen und was als Seltenes dort erscheinen kann. Und an die Stelle des bloß historiographischen Archivbewusstseins, mit dem das Neue immer wieder an des Alte angeschlossen wird, tritt schließlich die Neugierde als behauptete Lust allein auf das Neue, welche vom Periodikum technisch unterstützt wird. Die zumeist schlecht beleumdete Lust auf das Neue ist das emotional besetzte Geschwisterkind der rational abgefederten ›bloßen‹ Berichtskunst. Die Zeitungstheorie schließt mit ihren negativen Urteilen über die curiositas ebenfalls an andere Diskurse ihrer Zeit an.65 Dabei wird, oftmals im Verbund mit einer Zeitalterklage, ein Stereotyp weitertradiert, das seit der Antike im Kontext des Botenwesens seinen Ort hat: Der Zeitunger, der sich mit seinen Novellae und Relationen dem Neuen andiene, befriedige einen unersättlichen Hunger der Lesenden. So schreibt etwa der Jurist Ahasver Fritsch seinen Discursus de Novellarum quas vocant Neue Zeitunge von 1676 aus dem Blickwinkel der negativen Einschätzungen von Neugierde, bei denen oftmals juristische mit theologischen Bedenken Hand in Hand gehen: Gerade wie, so sagt Kaiser Justinian in seinen »Novellae«, die Natur es eilig hat, immer neue Gestalten hervorzubringen, so sind fast alle Menschen infolge der Unrast ihres Wesens Liebhaber von Neuigkeiten. Täglich ärgern sie sich leicht über neue Ereignisse und haschen doch nach Neuem; das Neue gefällt, das Gewohnte und Alte liegt verstaubt beiseite.66
Nach weiteren Hinweisen zur Neugierde, die im Lukasevangelium gegeben werden, dem Rekurs auf die neugierigen Athener, von denen Demosthenes gespro-
65
66
Vgl. Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit; zur negativen Beurteilung von curiositas in der Zeitungstheorie, welche Einschätzung in der Traditionslinie der Augustinischen Kritik an der Neugierde steht, Elmar Locher. »Curiositas« in der Zeitungstheorie des 17. Jahrhunderts. In: Der Prokurist 4 (1990). S. 63–119. Fritsch. Discursus Novellarum. S. 36. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle DN.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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chen habe, sowie die neugierigen Gallier, über die Julius Caesar berichte, kommt Fritsch auf »unsere Deutschen« zu sprechen: Die meisten von ihnen sind sicherlich darin jenen Athenern und Galliern ähnlich: sind mit der neuen Zeitungs-Sucht behafftet. Sie lechzen danach, täglich nach Neuem zu fragen, Neues zu hören, Neues zu erzählen. (DN 37)
Der Schritt zu allen Menschen ist dann nicht mehr besonders groß: Sonderbar jedenfalls und ganz törich ist es, daß die Menschen darauf so epicht sind, Neues zu lesen oder zu hören, da die Neuen Zeitungen doch meist Trauriges, Schauerliches, Gottloses und Verabscheuungswürdiges, bisweilen aber auch Falsches berichten. Nur ganz selten aber pflegen sie etwas zu enthalten, was in einer Christenbrust wahre Freude und wahres Ergötzen erwecken kann. Aber so ist es Sitte in der Gegenwart. (DN 37f.) 67
In der frühen Zeitungstheorie ist es üblich, mit juristischen, theologischen und moralphilosophischen Argumenten den gemeinen Leser vom Wissen des Wichtigen auszuschließen, etwa dem politisch Neuen, da den in die Staatsgeschäfte nicht direkt Involvierten solches Wissen gar nichts anginge. Hingegen wird der Transfer von Unwichtigem und Unerwünschtem dem Neuigkeitsbegehren des Volkes angelastet. An diese gängigen Überlegungen schließt auch Tobias Peucer an. Doch räumt er dem Zeitunger neue Lizenzen im Umgang mit der Produktivität von Neugierde ein: Was übrigens unbedeutende Dinge angeht, die den größeren Teil gewisser Zeitungen ausmachen, so können diejenigen, die diese zusammentragen, eher entschuldigt werden als die Historiker, weil jene nicht so sehr für die Nachwelt als vielmehr für die Neugierde des Volkes, das nach Neuigkeiten lechzt, sozusagen in aller Hast und wahllos schreiben. Wenn es an bedeutenden Ereignissen fehlt, um diese Menge zu füttern, dann genügen unbedeutende und bisweilen unzuverlässige Nachrichten. Deshalb muß man in diesem Punkt mit den Gepflogenheiten der Zeit gewissermaßen Nachsicht haben. (RN 100)
Solche Nachsicht stößt, wenn auch vielleicht noch widerwillig, das Tor zur Unterhaltung und zur Kulturgeschichtsschreibung gleichermaßen auf. Die Zeitungen treten Famas Erbe umfänglich an: Was interessiert, ist nicht nur in der großen und wichtigen Geschichte enthalten, sondern auch in der kleinen Geschichte mit ihren Nebensächlichkeiten. Was davon druckwürdig ist, muss nicht nur fortlaufend neu entschieden werden, sondern durchkreuzt in seiner materialen Fülle längst schon die unterschiedlichen Bezirke der Ständegesellschaft und stellt deren Grenzen in Frage: [G]leichgültige Dinge oder das tägliche Tun der Menschen oder auch menschliche Schicksalsschläge, deren es im gewöhnlichen Leben stets eine überreiche Fülle gibt,
67
Ähnlich argumentieren auch Besold. Thesaurus Practicus, und Stieler. Zeitungs Lust und Nutz.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
sollen nicht veröffentlicht werden. Von dieser Art sind die nach Verschiedenheit der Jahreszeit und der Luft nicht seltenen Gewitter, das Privatleben der Fürsten, z.B. eine Jagd, ein Gastmahl, ein Lustspielbesuch, ein Ausflug auf diese oder jene Burg, die Besichtigung einiger Soldatenabteilungen, die Geschäfte der Bürger untereinander, die Hinrichtung von Verbrechern, Mutmaßungen über noch unbekannte Staatsgeschäfte und anderes dieser Art, was besser in die Tagebücher von Privatpersonen als in öffentliche Akten passt. Derartige Beispiele kann man in großer Zahl in den Chroniken der Mönche und in den Büchern ähnlichen Kleinkrams allenthalben auffinden. (RN 98)
Die Berichte aus dem alltäglichen Leben der Stände produzieren soziales Geschwätz, wie es noch jede Fama liebt. Die Kritik daran trifft sich wiederum mit Topoi der Gelehrtenkritik, die die Menge an privaten Details aus Gelehrtenviten in der Historia Litteraria als unnütze Quisquilien verurteilen.68 Dennoch erlangt das Leben der höheren Stände in den Zeitungen eine neue Stufe von Publizität wie umgekehrt der publizistische Umlauf zur kulturgeschichtlichen Nivellierung von Standesunterschieden beiträgt.69 Zeitungs-Fama stellt auch die Spur der Erinnerung in Frage und scheint als Anwendungsfall von gedruckter Schrift deren Archivqualitäten medial zu korrumpieren. Sie schreibt ja in und über die Schrift das Vergessen in diese ein: durch den ständigen Konsum des Vielen, das sich zugleich als das Neue verkaufen will.70 Nachdem Peucer die Zeitungsdruckschrift gerade noch aus dem Amt der »Aufbewahrung der Erinnerung« (RN 103) entlassen hat, da sie ihren Zweck ja in der Sättigung der täglichen Neugierde findet, wendet er sich der Zeitungsdruckschrift erneut kritisch zu: Sollte es aber doch vorkommen, daß auch in diesen [den Zeitungen] mitgeteilte Begebenheiten auf die eigentliche Geschichte Bezug hätten, dann darf das nicht für alle, sondern nur für wenige Erzählungen gelten, die mit einiger Sorgfalt und Umsicht aufgenommen sind. Der größere Teil davon aber überdauert wegen der falschen, aus Gerüchten und wenig verläßlichen Schriften geschöpften Schreibweise die Zeit nicht. Und so können sie unter die verläßlichen Denkmäler [certa momumenta], aus denen für die Erinnerung der Nachwelt gesorgt wird, mit Sicherheit nicht gerechnet werden. (RN 103 [lat. 176f.])
Das ist noch philologisch perspektiviert: Was auf unsicheren Wegen gewonnen und ins öffentliche Bewusstsein gebracht wurde, sollte seinerseits dem schnellen Vergessen wieder anheim gegeben werden. Interessant ist an dieser medienkritischen Denkmalsverneinung, dass die Zeitungsleute sich auf komplementäre Weise die Haltung des Vergessens aneignen und für ihr ›gespaltenes‹ Bewusstsein variieren. Einerseits verkünden sie gerne, alles Wichtige in ihren Ausgaben 68 69 70
Vgl. Alexander Košenina. Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003. Vgl. dazu Böning. Das Private in der Aufklärung. Umberto Eco. An Ars obliviationis? Forget It! In: PMLA 103 (1988). S. 254–261, spielt die Überlegung, dass das ständig neu Aufzunehmende das alte Wissen überlagert und darin Vergessen produziert, in ironischer Brechung der alten Gedächtniskunst durch.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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zusammengetragen zu haben und dabei auch sorgfältig vorgegangen zu sein, andererseits meinen sie oft genug selbst, dass die Erinnerungskraft der gedruckten Zeitungsschrift nicht weiter reiche als bis zur nächsten Ausgabe, die die vorausgehende vergessen mache. Auch Kasper Stieler erkennt in der Zeitung einen Operator des Neuen. Seine Einlassungen zu diesem Komplex enthalten im Kern bereits eine künftige Denkfigur der pragmatischen Historik des 18. Jahrhunderts. Denn Stieler reflektiert auf Ursache-Folge-Beziehungen, mittels welcher es gelingen sollte, das Vergangene mit dem Zukünftigen zu verbinden. Für Stieler steht dabei die Schrift in einem fortwährenden Austausch mit dem Gedächtnis des Zeitungsverfassers, der immer auch Leser anderer Schriftzeugnisse ist: Es ist wol nicht Neues mehr unter der Sonne / gleichwol machen die Personen / die Zeit und Umstände / stets etwas Neues / welches hernach ein sonderbares Uberdenken giebet / also / daß auch / aus einer kleinen unachtsamen Begebenheit / in der Folge ein großes herauskommet / welches man nicht gedacht hätte. Solten derhalben die Zeitunges-verfasser allesamt kluge Leute seyn / die das Wichtige und Weitaussehende von Lappalien zu unterscheiden wüsten [...]. (LN 31)
Hier scheint in der Zeitungstheorie ein Umschlagspunkt für einen weiteren theologisch-historiographischen Topos erreicht zu sein, dass es nichts Neues auf der nach dem Schöpfungsplan eingerichteten Welt geben könne.71 Die Zeitunger sollten in ihrer Doppelfunktion als Archivare und Kommunikatoren von Geschichte kontinuierlich Folgen von Ursachen erkennen, Folgen als Ursachen von neuen Folgen vorausgreifend einschätzen können. Dies ist ein weiterer kritischer Zugang zu Auswahlverfahren. Ginge diese Idee auf, dann wäre jede Nachricht Teil einer endlosen Kette aus Ursache und Folgen. Dagegen spricht, wie die abschließbare Kontextuierung eines einzelnen Ereignisses im Berichtstext, das strukturelle ›Realitätsprinzip‹ der Zeitung: Trotz dichter Periodizität lassen die mitproduzierten Lücken die Ketten immer wieder abreißen und jeder Kontext ist seinerseits löchrig. Die Verbindung von geringfügig anmutenden Ursachen mit abschätzbaren Folgen wird als Kunst der Prognostik von der pragmatischen Aufklärungshistorik später eingefordert.72 Dieser neue Fokus klingt schon in der Zeitungstheorie vor 1700 an, geht es doch prinzipiell um die Frage bei den Zeitungsmaterien, wie sich hier Anschlusskommunikationen ergeben können. Aufgrund der vielen kommunikativen Zugriffe, mit welchen gegenwartsbezogenes Zeitungswissen in unüberschaubare Zirkulationen gerät, mahnen die Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts die Zeitungsmacher zur unparteilichen Haltung, welcher der einfache Stil am besten entspräche. Reflexionen oder gar Polemik sind in der frühen Zeitungspublizistik, die sich damit auch von der Flugblattpublizistik abgrenzt, zunächst noch unerwünscht. Stilistische Ausschwei-
71 72
Vgl. zu diesem Topos Kartschoke: Nihil sub sole novum. Vgl. Koselleck. Historia Magistra Vitae.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
fungen können als unangemessenes Meinungen-Haben, das auf kontingentes Meinungen-Machen ziele, beurteilt werden. Kaspar Stieler differenziert hier publizistische Typen, die neben den historisch-politischen Zeitungen auftauchen: Es giebt noch eine sonderbare Art der Zeitungen / die man Reflexiones oder Rück-gedanken nennet / welche die vormals ausgegangene Novellen auf Wochen / Monate / halbe Jahre etc. vor sich nehmen / examiniren und prüfen / auch darüber ihre politische Meinungen eröffnen. Solche sind zwar Kinder und Früchte der Zeitungen / jedoch mehr unter die Zahl der Stats-Sachen und Welt-Klugheit anzuschreiben. (LN 54)73
Eine unangemessene Parteilichkeit unterscheidet sich von vernünftiger Urteilskraft. Sie verrät sich nach Stieler in »Wahrheit- und Ehren-Abschneidung schändlich«, eine Unkenntnis politischer Zusammenhänge verführe zu »eingebildete[r] Weysheit und Profezeiungen« (LN 54). Parallel zur Etablierung des bloß informierenden Zeitungers in Theorie und Praxis werden aber seit dem späten 17. Jahrhundert die Verfahren und Anwendungsbereiche von Urteilskraft für den Zeitunger immer wichtiger. Nicht allein die vermeintlich ›nackte‹ Präsentation von Ereignissen genügt dann, sondern ein neues auktoriales Selbstbewusstsein gegenüber Stoffen, Darstellungsformen und obrigkeitlichen und gelehrten Kommunikationskontrollen beginnt sich zu entwickeln.74 Allerdings sind es die Gelehrten selbst, die mit ihren zahlreichen Schulstreitigkeiten vorführen, wie man die Öffentlichkeit publizistisch vereinnahmen kann.75 Der Zeitunger als Meinungsmacher erobert sich ein breites Spektrum von Zeitungsgesten. Diese bleiben unter dem Verdacht einer individuellen und Interesse geleiteten Instrumentalität stets kritisierbar, und das mit der Flugblattpublizistik verbundene Schmähwort des Pasquillantentum wird auch in der Zeitungstheorie verwendet (s. LN 33 u.ö.). Mit einer kritischen Stilgebärde kann sich der Zeitungsmacher des 18. Jahrhundert dann schon genauso einen Namen machen wie jeder sachliche Berichterstatter. Im Kontext eines allmählich erstarkenden Rollenbewusstseins greift dann auch hier der auf den Autor als autonomer Verfasser zentrierte Diskurs. Damit wird weiterhin über die Frage gestritten, wer als das Subjekt der in den Zeitungen präsentierten Stimme gelten soll und wie deren Verhältnis zur kollektiv situierten publizistischen Stimme aussieht.
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Gert Hagelweide schreibt, dass Stieler hier allerdings gelehrte Projekte mit der politischen Urteilskraft verbinde, »jene in weitläufiger Periodizität erscheinenden, chronologischen Veröffentlichungen«, »die eine Überschau zu den vergangenen Jahren boten« (LN 300. Anm. 166), wie das Theatrum Europaeum (Frankfurt/M., 1633–1738) oder das Diarium Europaeum (Frankfurt/M., gegr. 1659). Christian Thomasius wäre hier etwa zu nennen; vgl. Herbert Jaumann. Bücher und Fragen: Zur Genrespezifi k der Monatsgespräche. In: Christian Thomasius (1655– 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997. S. 395–404. Vgl. Gierl. Pietismus und Aufklärung.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Die Einträge zur Zeitung in Zedlers Universal-Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stellen noch eine Summe tradierter, in sich widersprüchlicher Urteile über die Zeitung und ihre Produzenten dar. So wird etwa die Maxime der absolutistischen Staatsräson, dass die offizielle Falschmeldung im Angesicht der Feinde legitim sei, referiert und mit scheinbarer Leichtigkeit auf die gesellschaftspolitische Situation Mitte des 18. Jahrhunderts angewandt. Hier hat der nun aufgeklärte Landesherr Wohl und Weh seiner Untertanen im Blick, wenn er für seine Informationspolitik die Zeitungen benutzt: Es ist gewiß in Ansehung des Landes-Herrn und seiner Rathgeber, auch dem Lande vielmahls selbst, weit besser und nützlicher, wenn man denen Unterthanen einen Theil des Uebels in dem Verluste der Schlachten, und in dergleichen andern wichtigen Widerwärtigkeiten verheelet. Dergleichen Betrug nennet man Staatsstreiche, Arcana imperii: Dieß ist ein ordentliches Verfahren der Politischen Klugheit: Dieß ist eine Lehre aus dem A B C in dieser Art. Niemand darf also die Verstellungen einer Zeitung tadeln, welche den Begebenheiten auf dem Fusse folgen. Das gemeine Beste erfordert rhetorische Figuren, welche den Verlust, den man erlitten hat, und die Vortheile des Feindes verringern.76
Die staatstragende Parteilichkeit der »Verstellungen« und ihre Rhetorik geraten im nächsten Satz mit dem Wahrheitspostulat des publizistischen Zeitungsworts in einen absehbaren Konflikt. »Allein« fährt der Anonymus im Zedler fort, vielleicht wäre es zu wünschen, daß diese Berichte nur für die Ohren seyn möchten, oder daß man sie wenigstens nicht drucken liesse. Denn der Druck verewiget sie, und die Historien-Schreiber legen sie zum Grunde, welches über die Historie ein undurchdringliches Chaos von Ungewißheit ausbreitet, daß den folgenden Jahrhunderten die Wahrheit raubt – ein grosses GegenGewicht nach einigen wider den Nutzen und das Vergnügen, welches das Lesen der alltäglichen gedruckten Schrifften in der Welt verursachet. (ZAC 902)
Es gibt noch keine neuen Antworten auf die aporetisch anmutende Verschwisterung von Wissen und Unwissen, Wahrheit und Lüge, von Archivanspruch und Kommunikationsprozessen. Die Funktion von politisch instrumentalisierten Zeitungsworten bezieht der Verfasser im Zedler auf die ›Federkriege‹ (s. ZAC 921). Letztere sind Verfahren der Staatskunst, um den Krieg selbst auszusetzen oder vorzubereiten.77 Dabei scheinen die Religionsstreitigkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts im Gedächtnis der Nachkommen tief verankert, setzten diese doch die verheerenden Erfahrungen frei, die der Verbindung von Macht, Wissen, Glauben und Wirklichkeit geschuldet waren. Dieser Erfahrungshorizont klingt in dem Eintrag im Zedler noch nach. Auch in der Zeitungskommunikation scheint der Krieg der Vater der Dinge zu sein: 76 77
[Anonym.] Art. »Zeitung, Avisen, Courante«. Sp. 901f. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle ZAC. Vgl. Michael Stolleis. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. I. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988. Hier S. 73ff. zum Beginn der Federkriege im Reich nach dem Ewigen Landfrieden von 1495.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Ist es nicht wahr, wenn man in Religions-Materien das Ja und Nein nicht besser prüfet, als in den Zeitläufften, so verdient dieses nicht den Namen der Prüfung? Ist es nicht wahr, daß eben derselbe Geist, welcher gemeiniglich bey den Zeitungs-Schreibern herrschet, die ihrer Parthey eyfrig ergeben sind, auch bey den meisten für ihre Religion eyfrigen Personen herrschet? Eine verlohrne Schlacht betrübet den Zeitungs-Schreiber; eine gewonnene Schlacht machet ihm ein sehr grosses Vergnügen.78
Der allgemeine Schrecken und das Verderben, die der Meinungsstreit als Glaubenskrieg mit sich gebracht hatte, werden in der jüngeren Geschichte durch neue Kriegs- und Friedenshandlungen erinnert. In den taktischen Bestrebungen spielen zudem vermehrt Zeitungsmeldungen eine Rolle.79 Der Streit ist längst auch ein wesentlicher Umstand erlebter Binnenkommunikation der Zeitungen, und publizistische Auseinandersetzungen können viele Bereiche betreffen, sobald sie mit der Zeitung in Kontakt kommen. Im Zedler wird der Vorwurf der Parteilichkeit des Zeitungers entsprechend generalisiert. Fama übertönt darin Merkur: Allein endlich saget man, die Aufrichtigkeit herrschet nicht darinne, es sind vielmehr gerichtliche Reden als Historien. Was ist nun eine gerichtliche Rede? eine Rede, worinne man sich befleißiget, nur die schöne Seite seiner Sache, und die schlimme Seite von der Sache seines Gegners zu zeigen. (ZAC 902)
Die Zeitungsmacher agieren längst schon nach dem genus deliberativum, und es geht in den Szenen der Kommunikation um die Faktizität des publizistischen Widerstreits selbst, der sich davon ernährt, dass Wahrheit und Geschichte unter den Vielen aufgeteilt sind. In dem Eintrag Zeitungs-Schreiber wird im Zedler ein kaum noch in Abrede zu stellender offener Kommunikationsraum bei der Urteilskraft erkennbar. Behelfsmäßig, wie schon in der Zeitungstheorie des späten 17. Jahrhunderts, wird dieser Zustand auf das Fehlverhalten von Zeitungsverfassern rückgeführt, die unsinnig agieren, wenn sie »ohne Scheu einander offenbahr widersprechen«, »widersinnige und entgegengesetzte Dinge, als die lautere Historische Wahrheit behaupten.« (ZS 918) Ebenso gilt für die Zeitungsschreiber »Leichtgläubigkeit«: Gehet ein dem Feinde vorteilhafftes Gerüchte herum, welches von allen Arten der Wahrscheinlichkeit unterstützet wird: So streiten sie was sie können, und glauben nicht eher, als bis die Sache offenbahrlich gewiß ist. Diesen ihren Widerstand würde man nicht genug loben können, wenn er nur mit zwo Bedingungen vergeselschafftet wäre: erstlich, daß sie ihr Urtheil verschöben, ohne die Sache zu verneinen; und zum andern, daß sie eben so schwehr zu überzeugen wären, wenn eine dem Feinde nachtheilige Zeitung herum gehet. Allein alsdenn sind sie die Leichtgläubigkeit selbst. (ZS 918)
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[Anonym.] Art. »Zeitungs-Schreiber«. In: Zedler. Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 61. Sp. 917–923. Hier Sp. 919. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle ZS. Vgl. dazu Andreas Gestrich. Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Beharrlicher Widerstand und Leichtgläubigkeit sind affektiv besetzt und aporetisch ›vergesellschaftet‹, ein falsches Ja oder Nein zur falschen Zeit lauert deshalb ständig. Vorgeschlagen wird schon der sozial verträglichere Aufschub des Urteils. Hier deutet sich eine neue hermeneutische Verzögerung im Widerstreit an, was Signum nicht des Streits über Ja oder Nein sondern einer ›Kommunikationskultur‹ prozesshafter Aufklärung wäre. Ebenso zeittypisch ist es, dass der Zeitungstheoretiker im Zedler sich auch andern Beurteilern des Zeitungswesens zuwendet. Auch hier beobachtet er Übereilung und verspätete Einsicht; als das zugrundeliegende Problem schält sich heraus, dass Urteile heute Gültigkeit besitzen, die sie morgen schon nicht mehr haben: Sie weissagen bey tausend Gelegenheiten richtig [...]. Dieses macht sie immer kühner, alle Zeitungen, welche wider die Wahrscheinlichkeit streiten, auf eine herrische Art zu verwerfen; Allein sie vergehen sich dabey manchmahl; denn der Ausgang bestätiget bey manchen Fällen die allerunbesonnensten und ausschweifendsten Zeitungen, die nur erdacht werden können, und welche man als Hirngespinste, oder als solche Dinge verworfen hatte, die mit der Weisheit gar nicht bestehen könnten, die sich in dem Staatsrathe mit so grossem Glantze gezeigt hatte. Die Regel fehlet, und erwischet die allzu grossen Vernünfftler, die sich darauf verlassen. Also erfordert die Klugheit ein wenig behutsam zu gehen, und keine Machtansprüche unter dem Vorwand zu thun dass man die allerglaubwürdigste Wahrscheinlichkeit vor sich hat. (ZS 923)
Das Unwahrscheinliche trifft eben auch zu, diese Einsicht in die Faktizität der Welt verlässt den Spielraum des rhetorischen Gebots, einem Publikum alles möglichst plausibel zu machen. Zur dennoch stattfindenden Verzerrung der »lauteren« Wahrheit, an der man trotz fehlender Regel noch festhalten sollte, tritt nun ein weiteres Moment, das immer mehr Gewicht bekommen wird: Es geht bereits um die publizistische Machtergreifung, mit der die Medialität des Mediums sich vor die Wirklichkeit schiebt, wie aus den weiteren Überlegungen des Anonymus erhellt. Den immer wieder auch verdächtigen Zeitungsschreibern wird deutlich die Erzeugung von ›zweiten‹ Wirklichkeiten angelastet, mit welcher Tätigkeit sich der Zeitungsmacher vom subjectus der Staatsgewalt zum Subjekt seiner publizistischen Wirklichkeit erhebt. Diese kommt den Mitteln der Literatur, der Fiktion, verdächtig nahe: Ueberhaupt sind sie in ihren Gedancken nicht nur fast allwissend, sondern auch sehr mächtig, und können in wenigen Augenblicken mehr ausrichten, als der größte Monarch in vielen Jahren. Sie lassen Regimenter anwerben, sie lassen sie marschiren, sie füllen die Magazine und Kriegs-Cassen, und leeren sie nach Gutbefinden wieder aus, sie lassen Scharmutzel vorgehen, sie lassen Schlachten gewinnen, und verlieren, sie schicken Recruten zu, und ergäntzen die Armeen mit tausenden, sie lassen Festungen einnehmen, ehe sie noch belagert werden, sie lassen Städte und Dörfer verwüsten, sie setzen ein, und ab, und haben an den grösten Veränderungen in der Welt Theil. Kurtz: Sie sind mehr als blosse Menschen, und thun Wunder. (ZS 920f.)
Die Hinweise auf die Erfindungen der Zeitungsschreiber stehen in der Tradition von Anekdoten und Schelmengeschichten, in denen ein Erzähler den Nachrich-
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
tenhunger seiner Umgebung auf unseriöse Weise ausnutzt.80 In den Transformationen von Erzähler- und Autorrollen bleibt es dabei üblich, den Personalstil eines Zeitungers als Übertreibung oder andere Entstellung von Wirklichkeit zu kritisieren. So schreibt etwa ein Anonymus 1791 mit Anspielung auf Famas Trompeten und deren Reichweiten: Ueberhaupt aber ist in einer Zeitung nichts unerträglicher, als Posaunenton und poetisch prosaischer Bombast, womit man heutzutage nur zu oft nicht allein wirklich grosse Dinge energisch darzustellen sucht, sondern auch Kleinigkeiten, so wie sie dem Microscop des Zeitungsschreibers erscheinen, schildert. Da werden aus Scharmützeln Schlachten, aus glücklichen Freybeuterstreichen unsterbliche Heldenthaten, aus der Einnahme verlassener Plätze Ländereroberungen, aus den gemeinsten pflichtmäßigen Handlungen Muster für Welt und Nachwelt gemacht.81
Der Ärger über die Zeitung und ihre Macher, die ungeniert die ihnen zufallende Publizität als Forum für Selbstvergrößerung ihrer Meinung nutzen, gehört zum topischen Inventar von Zeitungskritik. Auch die staatlichen Gewaltmittel wie die Zensur, die auf die publizistische Darbietung von Wirklichkeit Einfluss nimmt, die Polemik und weitere Interesse geleitete Produktionen von Sinnüberschüssen bleiben topisch in der Zeitungskritik als Zeitungstheorie verankert. Doch scheint mir der Zeitungskommentator im Zedler’schen Universal-Lexikon noch weiter in seinen Einschätzungen zu gehen. Denn gemachte Wirklichkeit ist Effekt jedweder Darstellungsverfahren, seien sie nun übertrieben in ihrer Darstellung oder einfach berichtend. Dabei ist wichtig, dass mit dem Periodikum der publizistische Effekt ganz deutlich wird: Es geht mit der Zeitung besonders um etwas Gedrucktes, das ›allen‹ als Wirklichkeit erscheinen soll, nicht zuletzt, weil Zeitungsschreiber gerne allwissend auftreten. An diesem Spezialfall vermittelter Wirklichkeit wird in Ansätzen schon theoretisch erkannt, dass sich Medien regelmäßig zwischen ›die Wirklichkeit‹ und ihre Wahrnehmungsformen schieben. Die Kritik am Zeitunger und seinem Medium erweist sich somit als komplexe Medien- und Kommunikationskritik, die den Status des gemachten Wissens befragen. Die Botschaft von Publizistik im Format Zeitung wird über Botschaften, die über den Zeitungsverfasser im Umlauf sind, moralisch, ästhetisch und kulturbzw. gesellschaftskritisch lesbar gehalten. Die Zeitungskritik als Kritik des Zeitungsmachers wird über Konzepte von Autorschaft als Urheberschaft in einer Journalistenkritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitergeführt. So bestimmt etwa Friedrich Just Riedel den Ort des Literaturkritikers als »Journalisten« positiv, wenn er in seinen Briefen über das Publikum von 1768 schreibt:
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Vgl. etwa die Anekdote vom Novellanten aus dem 17. Jahrhundert in: Die Zeitung. S. 36. C.H. Schmid. Nothwendige Verbesserung der deutschen politischen Zeitungen. In: Journal von und für Deutschland. Hg. von Sigmund von Bibra. 8. Jg. 8. Stück. Fulda 1791. S. 637–643. Hier S. 641f., zit. n. Die Zeitung. S. 138f.
IV.3. Der Zeitunger: Informat und Rhetor
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Das Neue, das Wichtige, das Eigne, das vorzügliche Schöne, das Falsche und Häßliche, das Unbestimmte anzuzeigen, auf die Lücken zu deuten, die der Verfaßer gelaßen hat, die Auswüchse abzusondern; dies ist eigentlich das Geschäft eines Journalisten, der mit dem Kopfe und nicht mit der Hand kritisirt.82
Diese Bestimmung des Journalisten dient der Abgrenzung von gelehrt-akademischen Zeitungsleuten, deren nun mechanisch anmutendes Handwerk Riedel vorher als gelenktes Puppenspiel charakterisiert hat: Freylich durch magere Auszüge wird das Publicum nicht genährt, nicht gebeßert. Wer diese zu verfertigen im Stande ist, der sey ein Registermacher biß an sein Ende; Kunstrichter ist er nicht. Und wer lesen kan, dem empfehle ich die Bände der unschuldigen Nachrichten, die deutschen Acta eruditorum und viele der heutigen französischen Journale, wo er bey dem Extrait premier geruhig einschlafen und bey dem Extrait second u. s. w. sich wieder munter lesen kann. Bloß die Gedanken des Verfaßers, ohne eigenes Urtheil, abzuzeichnen, und sie nach Gutbefinden mit einander zu verknüpfen; das heist einem Körper das Fleisch nehmen und die Knochen mit Drat zusammen heften.83
Der aus dem Französischen übernommene Begriff des Journalisten84 wird, wie zeitgleich im literarischen Bereich der Begriff des Scribenten,85 aber auch gerne als Schimpfwort in der auseinander fallenden respublica litteraria benutzt. Dies lässt sich beispielsweise mit Kommentaren aus den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 belegen.86 Die »Journalisten« erscheinen hier, im Unterschied zu den neuen Heroen der Literatur wie Goethe, Herder oder Schlosser, die sich an dem durch sie berühmt gewordenen Jahrgang der gelehrten Frankfurter Zeitung von 1772 beteiligt hatten, als Famas Helfershelfer einer schlechten Zirkulation. Stil-, Habitus-, Medien- und Kulturkritik schlagen ineinander und zeigen die neuen Stoßrichtungen der Zeitungskritik im Umfeld von Literaturkritik an. Der Begriff Journalist steht hier ein für die negativen Seiten einer alles tangierenden und darin modernen publizistischen Kommunikationsökonomie. Diese offenbart sich verschärft im Blick auf den literarischen Markt, wo sich auch die Autoren der ›Literatur‹ mit ihren eigenen Zeitungen neben den Journalisten positionieren wollen. So schreibt Johann Heinrich Merck:
82 83 84
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86
Friedrich Just Riedel. Briefe über das Publikum (1768). Hg. von Eckart Feldmeier. Wien 1973. S. 107. Ebd. S. 106f. Vgl. zur Wortgeschichte Ernst Gamillscheg. Art. »Journal«. In: Etymologisches Wörterbuch der Französischen Sprache. Hg. von dems. 2. vollst. neu bearb. Aufl. Heidelberg 1969. S. 550: Im Französischen ist jornel »seit dem 14. Jahrhundert in der Bedeutung ›Tagesbericht‹ bezeugt«, seit dem 16. Jahrhundert gibt es die Ableitung journalier »täglich«, »Taglöhner«, »vorübergehend«, seit dem 18. Jahrhundert journaliste für »Schriftsteller einer Tageszeitung«. Vgl. hier Gelehrsamkeit ein Handwerk? Bücherschreiben ein Gewerbe? Dokumente zum Verhältnis von Schriftsteller und Verleger im 18. Jahrhundert in Deutschland. Hg. von Evi Rietzschel. Leipzig 1982. Vgl. zur Geschichte der Frankfurter Gelehrten Anzeigen Claus Jansen. Frankfurter Gelehrte Anzeigen (1736- 1790). In: Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1973. S. 61–73.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Unsere deutsche Litteratur ist besonders durch Hülfe der Journalisten so sehr zu einer Trödelbude geworden, wo falsche Waare gegen falsche Münze ausgetauscht wird, daß ein ehrlicher Mann, der sein Schild mit aushängt, wenigstens alle Gelegenheit ergreifen muß, um das Publikum zu überführen, daß man im Grunde ein ehrlicher Mann bleiben könne, ob man sich gleich in verdächtiger Gesellschaft hat betreten lassen.87
Doch gilt unter dem Vorzeichen moderner Kommunikationsverhältnisse: Trotz bester Absichten kann man gerade bei der Zeitungskommunikation den Kontakt zu »verdächtiger Gesellschaft« kaum vermeiden. So erweisen sich die Szenen von Literatur und Journalismus als wechselseitig durchlässig und die alten Topoi der Zeitungskritik werden an neue Konzepte der Druckkultur weitergegeben. Das Zwischenspiel der neuen Generation im Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen kann in späterer Zeit, nachdem der Gießener Professor Christian Heinrich Schmid 1775 die Leitung der Frankfurter Gelehrten Anzeigen übernommen hat, dann wiederum mit der Fama-Kategorie des Geschwätzes abgetan werden, um die übereilten Vorgänger im Zeitungsamt ihrerseits zu distanzieren: Sie hatten so ihre eigene Art, schwatzten so ein wenig über die Bücher hin, nahmen sich hier und da etwas heraus, wobei sie sich an einem Verfasser reiben konnten, schnitten und modelten an einer Rezension so lange, bis sie einen Gedanken herausdrechselten, den sie gern anbringen wollten, und der oft dem hundertsten dabei eingefallen wäre, und fragten gar nicht, wen sie vor sich hatten.88
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung Gegenüber den in sich verschachtelten Beziehungen zwischen Text und Medium Zeitung scheint es für die aufkommende Zeitungstheorie vergleichsweise einfach, aus den gesellschaftlich-kommunikativen Gemengelagen die Funktionsstellen Produzent und Rezipient herauszufiltern. Einerseits werden diese mit ständischen Interessenslagen verbunden, andererseits lassen sich beim Zeitungslesen gesellschaftlich übergreifende Kommunikationsverhältnisse verfolgen. Im Sinne einer gelehrten prudentia civilis, die herausfinden möchte, wie der zeitgenössische Umgang mit Zeitungen in allen seinen Facetten aussieht, fragt die frühe Zeitungstheorie im Schema der rhetorischen Statuslehre danach, wer das Was der Zeitungen zu welchen Zwecken und bei welchen Gelegenheiten liest.89 Die theoretische Aufmerksamkeit für ein verändertes Wie des Zeitungslesens stellt sich eher als Nebeneffekt solcher Überlegungen ein. Dieser primäre Fragerahmen, der ja auch
87 88 89
Merck war 1772 bis 1773 Herausgeber der Frankfurter Gelehrten Anzeigen; Zitat nach Jansen. Ebd. S. 68. Zit. n. ebd. S. 72f. Die Konstanz dieser rhetorisch-topischen Matrix zeigt sich noch in späterer Zeit, insbesondere wenn Zeitungsleser und -leserinnen satirisch beleuchtet werden; vgl. Fritz Nies. Jedem seine Wahrheit. Karikatur und Zeitungslesen. München 2001.
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung
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für die dispositio des Ereignisberichts genutzt wird, verfolgt logisch vermittelte Weltzugänge in individueller und kollektiver Zeitungsrezeption.90 Die Triade der Kommunikation vereint Zeitungsmacher, Medium und Zeitungsleser, deren Interaktionen Kontinua versprechen.91 Die Kontinua der Zeitungskommunikation können dabei ebenso zwischen einzelnen Lesern von einzelnen Zeitungen wie zwischen vielen Lesern einiger Zeitungen oder allen Lesern aller Zeitungen vorgestellt werden. Das Konzept von kommunikativen Kontinua geht davon aus, dass Periodika mit ihrer lückenhaft vervollständigenden Textur für alle Menschen jederzeit etwas bereit stellen, also Anschlusskommunikationen ermöglichen. In der kollektiven Rezeption erscheint dann Vieles, manchmal sogar Alles, für Viele, manchmal für Alle, brauchbar. Überlegungen zum Leser, der auswählt oder gerne alles liest, oder zu Lesern, denen immer nur Ausgewähltes zukommen sollte, verhalten sich komplementär zu produktionsästhetischen Annahmen und strukturellen Beobachtungen des Mediums selbst. Bei Christian Weise werden Medium und Leser folgendermaßen in die Kontinua der Kommunikation gestellt: Ich richte mein Augenmerk lieber auf den Nutzen, den wenn auch noch so ungeordnete Zeitungen den Lesern gewähren und den sie in Geographie, Genealogie, Geschichte, Politik, kurz in jeder Wissenschaft mittelbar oder unmittelbar vermitteln.92
Die in Reihenbildung publizierten Schnittmengen des Wissens bieten die Zeitungen als multitudo an; diese verspricht anreichernde copia für die individuellen bis kollektiven Archive und deren unterschiedliche Zuschnitte. Die Vermutung ist aber auch, dass kollektives Wissen sich als Effekt von gemeinsam erarbeiteten Wissenssummen ergibt. An die Zeitung ist damit eine zukunftsträchtige Kommunikationsutopie geknüpft: dass einmal alle alles lesen und wissen können. Mit den Zeitungen geht der materiale Universalismus des Wissens mit dem operativen Universalismus von Kommunikation ein Bündnis ein, um gemeinsam das gesellschaftliche Gesamte herzustellen. Auf der Schattenseite dieser Kommunikationsutopie, die sich im 18. Jahrhundert als das Herzstück integrativer Wissenszirkulation zu erkennen geben wird, führt das Viele der Zeitungen in die Dystopie: Der ins Viele und damit letztlich in Allem bloß zerstreute Leser folgt, mimetisch agierend, den zerstreuten Botschaften von Zeitungen und Zeitungern auf den
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Dieser Fragerahmen wird mit der sogenannten Lasswellschen Formel in der US-amerikanischen Massenkommunikationsforschung des 20. Jahrhundert wieder aktuell; vgl. Henk Prakke. Die Lasswell-Formel und ihre rhetorischen Ahnen. In: Publizistik 10 (1965). S. 285–291. Als Schließungsfigur der Kommunikation spielt diese Triade in den Kommunikationstheorien des 20. Jahrhundert ihre Rolle; vgl. zu den Sender-Kanal-EmpfängerModellen Erhart Schüttpelz. Eine Umschrift der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Empfang. In: Transkribieren. Medien/ Lektüre. Hg. von Ludwig Jäger und Georg Stanitzek. München 2002. S. 233–280. Weise. Schediasma. S. 50. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle SC.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Fuß. Auch die Verzeitlichung des Wissens in der Selbstzumutung der ständigen Aktualisierung trägt ihrerseits zum Zerreißen der angestrebten Kontinua bei wie zur Verhinderung einer überschaubaren Gesamtkommunikation. Das soziale, zeitliche und räumliche Auf- und Auseinanderbrechen von Kommunikationen kann gerade nicht verhindert werden. Dafür sind die Zeitungen schon früh ein Indikator. Zeitungstheorie sieht sich deshalb auch als Warnerin vor Zeitungsfolgen und interessiert sich auf verschiedenen Ebenen für Regulation von Zeitungskommunikation, etwa über eine vernunftgeleitete Lesererziehung. Fama als Ursache, Medium und Folge von Zeitungskommunikation wird man dabei nicht los, sondern sie potenziert sich erneut, geht sie doch auch bei Zeitungslesern und -leserinnen mit dem Medienwechsel einher. Die Bereitschaft, das Medium der Kommunikation zu wechseln, scheint geradezu prototypisch mit dem Zeitungsgebrauch verbunden zu sein. So schweift die frühe Zeitungstheorie selbst umher, wenn sie überlegt, dass und wie die Zeitungen zahlreiche Kontakte herstellt. ›Unreine‹ Theorie ist die Folge, wie etwa Kaspar Stieler zugesteht: Hierbey möchte uns vor übel gehalten werden / daß / da wir anfänglich nur von den gedruckten Zeitungen in diesem Büchlein zu handlen vorgegeben / wir doch zum oftern auch der Mündlichen und Geschriebenen beyher gedacht haben. Dieweil aber eins nicht selten an dem andern so genaue hanget / daß es unmüglich gewesen / dieselbe allemal von einander zu scheiden; So leben wir der Hoffnung / der gütige Leser / werde es / seiner Leutseligkeit nach / freundlich zu entschuldigen geneiget seyn / eingedenk / daß nichts auf der Welt dermassen rein und vollkommen zu finden sey / worinnen nicht ein Mangel anzutreffen. (LN 172)
Die Entmischung von mündlichen und schriftlichen Interaktionsformen, deren Hybriditäten sich Zeitungen so umstandslos anbieten, ist dennoch ein komplementäres Anliegen in der Leserprofilierung. Die moralische Leitfrage ist auch hier die nach dem Nutzen und dem Schaden, wobei die verschobenen Überkreuzstellungen prodesse/delectare und Information/Unterhaltung mitdiskutiert werden. Zeitungslesen ist eine uneinheitliche Sache, da sein Nutzen und sein Schaden sich sowohl auf die Vernunft von Information wie von Unterhaltung beziehen lassen. Zerstreuung des Lesers ist zudem ein Effekt, der seinerseits negativ wie positiv gesehen werden kann. Der gesellschaftliche Nutzen von Information und Unterhaltung zeigt sich frühaufklärerischer Zeitungstheorie in einer vernünftigen Produktivität von Zeitungslektüre, die etwas zurückgibt von dem, was sie empfangen hat, am besten schriftlich. Der Selbstgenuss von Teilnehmern, die Zeitungen lesen, um über das Gelesene nur reden zu können, gehört dagegen, zusammen mit der Neugierde, zu den fragwürdigen Erbschaften von Fama. Kaspar Stieler verwendet in seiner Abhandlung von 1695 die Formel, die auf Horaz zurückgeht, prodesse et delectare, sogar im Titel seines Buches über Zeitungs Lust und Nutz. Er möchte eine vernünftige Apologie der Zeitung und ihrer Verwendung in verschiedenen Zusammenhängen voranbringen. Stieler stimmt wie Christian Weise dem sich ausbreitenden Zeitungsgebrauch zu; für beide Autoren ist es das frühneuzeitliche Konzept des politicus, das für den methodischen Umgang
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung
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mit Zeitungen vorbildlich ist.93 Stielers Einlassungen haben in diesem Sinne die Ausbildung des ›klugen Weltmanns‹ und dessen kommunikatives Verhalten »in Stats-Handels- und Bürgerl[icher] Gesellschaft« (LN 4) im Blick. Zugleich ist dies schon ein generalisiertes Kommunikationsideal; es impliziert, dass jeder, der »itzt in der Welt leb[t]« (LN 4), aus dem weitläufigen Zeitungswissen die individuelle Weltläufigkeit stärkt. Auch die unteren Stände sollen über Anweisungen, wie mit der Zeitung umzugehen sei, geschult werden. Ja, das Leben in der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ wird mit der Frühaufklärung zum gemeinsamen Nenner, über den die Formen politischen Weltwissens in eine allgemeine Kommunikationsvernunft transferiert werden. Der Nutzen kommunikativer Kompetenzen, die über die Zeitungen erworben werden, wird von Stieler so an verschiedenen Schwellensituationen zwischen ständischen und funktionalen Bezügen in einer offenen Typologie des Zeitungslesens entfaltet.94 Da Wissen schnell, oft »in 24. Stunden« (LN 75), wie Stieler schon sagt, veraltet, stellen etwa »Hofschranzen« (LN 73) Klugheit unter Beweis, wenn sie dem Fürsten, der die Entwicklung von Ereignissen nachfragt, Rede und Antwort aufgrund von Zeitungslektüre stehen können. Der Selbstverständlichkeit höfischen Welthabens wird die Beschränktheit der Unwissenden, etwa von Bauern, die » im Hause bleiben und kleben« (LN 64), kontrastiert. Doch ist jeder, der Zeitungen liest, für Stieler gerechtfertigt, da es hier prinzipiell um Wissenserwerb geht: Denn man lieset die Zeitungen darüm nicht / daß man daraus gelehrt und in beurteilung der Sachen geschickt werden / sondern daß man allein wissen wolle / was sich hier und dar begiebet. (LN 27)
Andererseits wird auch die Urteilskraft über die Zeitungslektüre geübt, und dies fällt für Stieler ebenfalls unter den allgemeinen »weltlichen Nutzen« (LN 44) der Zeitungen. Denn in mündlicher und schriftlicher Anschlusskommunikation zeigt sich, dass der Zeitungsgebrauch Applikationswissen herstellt. Vorbild sind hier die Gelehrten, denn »die Zeitungslesung« ist »wie eine Praxis« »Anschickung (Application) der Erden- und Meer-Beschreibung« (LN 140f.) und setzt immer schon Wissen voraus. In gelehrten und höfischen Wissens- und Weltverhältnissen ist der Hang aller Menschen, wissen zu wollen, um die Welt zu haben, repräsentativ verbürgt. Sachbezüge für einzelne Menschen oder Berufsgruppen oder Stände fallen dagegen unterschiedlich aus: für Juristen anders als für Historiker, Geographen oder Theologen, für den Weltweisen anders als für den Weltmann. Landadlige, Landgeistliche und Lehrer fern von den höfischen oder städtischen Zentren politischer Macht sind nicht nur aufgrund ihrer abgeschiedenen Lebensweise auf die Zeitungen angewiesen, sondern auch, weil die Administration auf 93 94
Vgl. zur Bedeutung dieses Konzepts Frühsorge. Der politische Körper. Vgl. zum breiten sozialen Spektrum, in dem der über Zeitungen vermittelte Wissenserwerb bereits im späten 17. Jahrhundert steht, Astrid Blome. »Will aber wer klug seyn und werden« – Aspekte des Wissenserwerbs in der Frühen Neuzeit. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 411–432.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
die gleichmäßige und flächendeckende Beteiligung ihrer Beamtenschaft setzt, so dass sich die Kontrolle des Informationsflusses mit der Staatsverwaltung verbindet (s. LN 100). Auch andere »brafe Leute / so in dem Bürgerlichen-Stande begriffen« (LN 64) sind nach Kaspar Stielers Lesertypologien an der politischen Ereignisgeschichte interessiert, um ihr Weiterkommen über Teilhabe an Wissen zu organisieren. »Hausvater und Hausmutter« (LN 99) lesen Zeitungen, weil sie in ihrer Haushaltung genauso von neuen Erkenntnissen abhängig sind wie »Keyser / Könige / Fürsten und Herren«, deren »grosse Haushaltung« in Form von »Herrschaft und Regierung« (LN 100) vorliegt. Auch Frauen bilden in neuzeitlichen Kommunikationsverhältnissen eine wichtige Gruppe, die intern in schlechteres und besseres Reden aufgeteilt werden kann: Dorfleuten / Mägden / und gemeinen Bürgers-Töchtern stehet Nähen und Spinnen besser an / als Zeitungen lesen: Nachdem es aber iezo nicht mehr um die Zeit der alten Welt ist / da das Weibes-Volk / gleich den Schnecken Jahr aus Jahr ein / im Hause bleibet und arbeitet / sondern eine mehrere Freyheit erlanget hat / in Gesellschaften zu kommen und Politische / oder tugend Gespräche zu halten; so ist je besser / sie reden von auswärtigen Sachen / und erzehlen / was von ihres gleichen in den Zeitungen erschollen / als dass sie etwan eine Nachtbarin hernemen / ihren Haushalt tadeln / oder von Hoffart und neuen Moden / Sprache halten. (LN 97)
Auch ob und wie Kinder beiderlei Geschlechts im Zeitungslesen unterrichtet werden sollten, wird vom gelehrten Autor reflektiert oder auch die Teilhabe von Blinden, die wie die Illiteraten über das Vorlesen von Zeitungen beteiligt werden. Das gemeinschaftliche Zeitungslesen fand seit dem frühen 17. Jahrhundert an vielen Orten statt: in Schulen, Universitäten, Ritterakademien, in Kaffeehäusern, privaten Lesezirkeln und in Familien.95 Gelehrte Zeitungstheorie geht gegen Ende des 17. Jahrhunderts von der berechtigten Koexistenz verschiedener Kommunikationsinteressen aus, wobei die bürgerliche Gesellschaft zunehmend als symbolischer Platzhalter des positiven Zeitungsgebrauchs verstanden wird. Christian Weise etwa reflektiert auf den Zeitungsgebrauch in der Geographie, der Genealogie, der Geschichte und der Politik, mit einer Ausweitung auf: »De usu Novellarum in quovis curiosorum Genere« (SC 156). Die allgemeine Interessiertheit wird von Weise aber auf die Gelehrten an den Fakultäten rückgelenkt: Theologen, Juristen, Ärzte und Gelehrte in den Schönen Wissenschaften und Künsten, und auch nach den Berufen in den Nähr- und Wehrständen aufgeschlüsselt: Kaufleute, Soldaten und Seeleute sind seit jeher mit der Produktion und Rezeption der Zeitungen verbunden (s. SC 156ff.). Gegenüber den vernünftigen und d.h. zweckmäßigen Einschließungen der Wissensbegierigen unterläuft die Neugierde der Menschen als anthropologisches Charakteristikum auf basale Weise solche Nomenklaturen. Auch Kaspar Stieler äußert sich, bei aller positiven Einschätzung, über das Skandalon einer Neugier, die vor keinem Arkanum mehr halt ma95
Im späteren 18. Jahrhundert kommen dann die zahlreichen Lesegesellschaften dazu; vgl. Welke. Gemeinsame Lektüre.
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung
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chen will. Für den Dichter, aber auch Hofbeamten Stieler ist die juristische Verfolgung und Bestrafung die rechte Antwort auf den Missbrauch von Publizität, die den geregelten, aber auch den ungeregelten Umlauf von Wissen bewirkt.96 Dennoch gehören Gelehrte wie Christian Weise und Kaspar Stieler zum Kreis derjenigen, die einer Positivierung und Legitimierung der menschlichen Lust auf das Neue zuarbeiten.97 Insofern verfolgt Stieler mit seinem Titel »Zeitungs Lust und Nutz« auch eine Apologie der Zeitung, die die alte Neugierschelte zum Teil schon hinter sich lässt. So stimmt er der kritischen Taxierung der Wissensbegierde durch Geistlichkeit und Obrigkeit nur noch halb zu. Das »Zeitungslesen ist ein Mittel-ding (res indifferens)«, sagt eine seiner Randglossen. Damit grenzt er diesen Zeitvertreib von anderem, seinerseits dann nutzlos erscheinendem Verhalten ab: »Spielen und Prassen / Müssiggang und andern Narrenteidung« (LN 11). Das ›Mittlere‹ der Zeitungskommunikation ergibt sich aus den Kontexten, die kulturkritische Reflexionen auf Unterhaltung und Vergnügen um sie ansiedeln, um sie selbst in ihren Tendenzen zu verfolgen. Christian Weise entwirft in seiner Abhandlung von 1676 ebenfalls Leserlisten, die abfragen, wer Zeitungen zweckmäßigerweise liest und wie Zeitungskonsumenten ihr angelesenes Wissen anwenden. Im letzten Paragraphen von Weises Schrift werden diejenigen bedacht, »qui ludicrorum causa legunt novellas« (SC 161): Auch die kommen auf ihre Rechnung, die die Zeitungen zur Kurzweil lesen, wovon wir leicht eine große Menge zusammentragen könnten, wenn wir in dieser Schrift nach irgendwelchem Stoff zum Lachen haschen wollten. (SC 83)
Die angedeutete satirische Einlassung über Zeitungsnarren führt Weise nicht aus, weil der Autor stattdessen »lieber zum historischen Kern der Zeitungen«, der seiner Abhandlung als Chronik angehängt ist, »eile[n]« (SC 83) möchte. Dieser Zeitungskern, der aus den Jahren 1660 bis zum Erscheinungsjahr der Abhandlung 1676 alle nach Ansicht des Autors historisch wichtigen Fakten verzeichnet, verstärkt den historiographischen Informationsaspekt, der mit der Zeitung verbunden wird.98 Diese Umlenkung auf den Kern bedeutet aber nicht, dass es für Weise nicht auch legitim wäre, sich der Zeitungslektüre zu Zwecken der Kurzweiligkeit hinzugeben. Zwischen Historiographie und schöner Literatur gerät die Zeitungslektüre zu etwas Drittem mit Eigengesetzlichkeiten. Dieser Gegenstand
96 97
98
Hier schließt Weise an die Zeitungsschriften der Rechtsgelehrten Christoph Besold und Ahasver Fritsch an. Vgl. Claude D. Conter. Zu Besuch bei Kaspar Stieler. »Zeitungs Lust und Nutz« – ein Beitrag zur historischen Kommunikationsforschung. In: Publizistik 44 (1999). S. 75–93. Es handelt sich um einen Zeitungsextrakt, eine chronologische Liste ausgewählter Ereignisse; vgl. zu dieser gelehrten Form Esther-Beate Körber. Entstehung und Funktion der Zeitungsextrakte in der Medienlandschaft der Frühen Neuzeit. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 211–234.
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berührt Weises eigene Fürsprache für das »Allerlei«, das mit Zeitungen immer zu verbinden ist: Denn auch das, was wir niedergeschrieben haben, wollten wir gewissermaßen als ein Allerlei zusammentragen, damit diejenigen wenigstens ihre Torheit einsehen lernen, die meinen, daß das Interesse an Zeitungsnachrichten eine tote und schmutzige Sache sei. (SC 83)
Die Gleichzeitigkeit von Lust und Nutzen bei der Zeitung umspielt die vermeintliche Trennschärfe von prodesse und delectare, schließt ein Sowohl-als-auch ein: Wissen kann auch unterhalten, Unterhaltsames enthält immer auch Wissen. Dennoch setzt schon die frühe gelehrte Theorie der Zeitung auch auf Leserprofile, die mit der Unterscheidung von Nutzen und Unterhaltung funktional different umzugehen verstehen und sich von ihrem sozialen Selbstverständnis her bestimmten Lesehaltungen anzuschließen verstehen. Dazu kann die Zeitungstheorie bereits auf unterschiedliche Zeitungstypen verweisen, die im späten 17. Jahrhundert zwischen gelehrten und politischen Weltzugängen vorliegen: neben historischpolitischen Zeitungen, gelehrten Journalen erscheinen erste galante Blätter mit Hofnachrichten99 und Zeitungen mit erbaulichen Beilagen. Die Zeitungsvernunft verbindet das nützlich Unterhaltsame über den Katalysator menschliche Neugierde mit dem Prinzip Abwechslung. Tobias Peucer stellt in diesem Zusammenhang einen Bezug zu Ciceros Brieflehre in dessen Epistulae ad familiares her, die eine Poetik des privat-zwanglosen kommunikativen Umgangs verfolgen: Wie die Annehmlichkeit einer Geschichte, so wird auch die der Zeitungsberichte niemand bestreiten, er sei denn ein witzloser Mensch. Denn nach Ansicht Ciceros [in den Epistolae] »ist nichts Besseres zur Unterhaltung geeignet als der Wankelmut der Zeiten und die Wechselfälle des Glückes, die, wenn sie auch für unsere Erfahrung nicht wünschenswert sind, dennoch beim Lesen angenehm sein werden. Denn die sorgenfreie Erinnerung an überstandenen Schmerz ergötzt; für die übrigen aber, die keine Unannehmlichkeiten am eigenen Leib erfahren haben, sondern fremdes Mißgeschick ohne irgendeinen Schmerz betrachten, ist sogar das Mitleid selbst angenehm. – Ja die Reihe der Jahreschroniken hält uns schon durch die bloße Aufzählung der Tagesereignisse in ihrem Bann. Aber oft erregen ausgezeichnete Männer, wenn sie in Gefahr sind, sowie ihre wechselvollen Schicksale Bewunderung, Erwartung, Freude, Ärger, Hoffnung und Furcht: wenn diese aber durch ein denkwürdiges Ende einen Abschluß finden, dann wird das Herz mit Freude über die so angenehme Lektüre erfüllt.« Das paßt hauptsächlich auf die neue Geschichte, da sie ja auf den interessierten Leser immer Eindruck macht und unterhält. (RN 15f.)
Prodesse und delectare werden hier durch movere ergänzt, das zwischen politischer und ästhetischer Faktur weitere Spielräume für die Zeitungskommunikation, ihre Wissensformate und deren Effekte eröffnet. Zeitungen und ihre Texte rücken das räumlich, zeitlich oder sozial fern Liegende in die Nähe desjenigen, der über
99
Vgl. dazu Weber. Götter-Both Mercurius.
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die Zeitung vermittelt damit kommuniziert. Aber auch das Bekannte, Vertraute, des eigenen Standes, eigener Erfahrungen und Kenntnisse, werden mit der Zeitung herangerückt. Die von der Zeitungstheorie aufgenommenen Theoreme aus Rhetorik und Poetik helfen, die Formen ästhetischer Anteilnahme am Gelesenen zu fokussieren. Zeitungsliteratur, und sei es in Form noch der sachlichsten oder menschlichsten aller Nachrichten, kann beeindrucken. Zeitungsleser zeigen darin eine dem Lesen schöner Literatur vergleichbare Rezeptionshaltung: Sie beschäftigen mit dem Gelesenen ihre Imaginationen. Kaspar Stieler zieht diese Effekte positiv in Erwägung. Dabei gibt er einen für die Zeitungsleser seiner Zeit doppelsinnigen Hinweis auf die barocke Referenzfigur von Tagträumereien, Don Quijote, in dessen Imaginationen und Taten sich Wirklichkeiten und Fiktionen bis zur Ununterscheidbarkeit vermengt haben: So gar die Arme / denen ihr Haus mit Feuer verbrant / und die / so durch Prozesse / worinnen sie ümgeworfen / in Abfall der Nahrung kommen / lesen Zeitungen / und bilden sich wol ein / sie bekämen auch etwas davon / wann sie hören / daß die Soldaten über dem Rhein das Gelt mit Hüten ausgeteilet / und dieser oder jener Gesante mit Silber und Gold / Kleinodien und andern Geschenken erlassen worden. Gleich wie ein Verzagter / wenn er von einer Schlacht lieset / vermeinet / er sey eben so ein Held / als er den Sieg darvon getragen. Massen auch / die in den Romanen oder Ritterbüchern lesen / gleich dem Don Guichotte de la mantscha / nichts mehr wünschen / als im Harnische zu Pferde zusitzen / und die bezauberte Schlösser zu erobern / insonderheit / wenn sie sehen / daß es den Rittern so leicht gewesen ist / ganze Krieges-Heere alleine zu schlagen. (LN 110)
Die Exempelstruktur der Historien durchdringt mit den Zeitungen den Alltag der Menschen, nicht zuletzt der zu kurz Gekommenen, denen sie andere Schicksale als Ersatz anbietet. Armut und Reichtum, Helden und Siege, das ähnliche Leben der Großen und der Kleinen, werden, wie bei den Romanen, zu den vermuteten Lieblingsthemen von Zeitungslesern, die im Realen das Imaginäre aufsuchen. Unterhaltung ist zu der Zeit insbesondere ein Kennwort hochstilisierter Geselligkeitskulturen in den höheren Bildungsschichten und Ständen.100 Über das Genre des Gesprächs knüpft die Zeitung lose an die Konversationsliteratur und -theorien ihrer Zeit an,101 und Zeitungslust gehört insbesondere in die Domäne von mündlichen Interaktionen: Gleich wie alle Künste und Wissenschaften / insonderheit aber die Historien / so viel in sich haben / und dermassen reich seyn / daß man darvon ein langes und breites reden / und darmit sich und seine Freunde ergetzen könne [...]: Also und vielmehr haben die Zeitungen / gleich den Historien / ja mehr als dieselbige / so viel in sich / daß einer Gesellschaft die Zeit darmit wol vertrieben werden mag / nicht allein / wegen ihrer Mannigfaltigkeit / und Vielheit der Sachen / indem man ietziger Zeit bey Europa nicht bleibet / sondern / nach vieljähriger Umseglung des ganzen Erdbodens / auch wissen kan / was in denen übrigen drey Teilen / ja fast bis unter denen Polar-Sternen geschie-
100 101
Vgl. Göttert. Kommunikationsideale. Vgl. hierzu auch Egenhoff. Berufsschriftstellertum. S. 285ff.
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het: Sondern auch / weil / [...]/ jederman Lust zu neuen Zeitungen hat / also / daß [...] Herr Weise [...]/ von der Lesung der Zeitungen / mit allem Recht schreiben darf: Wer sich / mit diesem Neben-Werke deren sonst ordendlichen Studien / nicht belustiget / der mag nur zugleich darmit aller Menschlichen Gesellschaft und Umgange absagen / und in eusersten Wüsteneyen seiner Unwissenheit Vorsprecher suchen [...]. (LN 112f.)
Zeitungen tragen auch in die ländliche Abgeschiedenheit und »Einsamkeit« (LN 100) ihr anregendes Potential hinein, eigene Lektüre verkürzt wie das Gespräch mit anderen die »lange weile« (LN 81). Dieser Rahmen wird von der Zeitungstheorie des 18. Jahrhunderts noch nicht überschritten, aber stärker verallgemeinert. Das Welthaben durch den Zeitungsgebrauch ist in Zedlers Universal-Lexikon bereits common sense: »Inzwischen ist die Welt dermassen an die Zeitungs-Blätter gewöhnet worden, daß sie die Unterdrückung derselben, als eine Finsterniß ansehen würde« (ZAC 906). Auch der Popularphilosoph Christian Garve lenkt in seiner Schrift Über Gesellschaft und Einsamkeit von 1797/1800, in der er die Sozialstruktur der Gesellschaft seiner Zeit durchmustert, die Aufmerksamkeit auf die mediale Konstellation, die das Weltwissen aller Menschen fundiert. Allerdings plädiert er in platonischer Tradition auch für die Unverzichtbarkeit des Gesprächs: Seit der Erfindung der Schreibekunst, und noch mehr seit der Erfindung des Bücherdrucks, haben sich die Mittel des Unterrichts auch für den Einsamen vervielfältigt. Zeitungsblätter und geschriebene Nachrichten aller Art melden uns auf unsern Zimmern, was in der Welt vorgeht. Wir lernen jetzt die entlegendsten Länder und ihre Bewohner kennen, ohne daß wir sie selbst bereisen, und ohne daß wir mit gereisten Leuten persönlichen Umgang pflegen dürfen. Wir können endlich die Weisheit unsrer Vorfahren einsammeln, ohne zu den Füßen unsrer Alten zu sitzen; und die Untersuchungen der Gelehrten und Weisen benutzen, ohne selbst bei ihnen in die Schule zu gehen. Es bleibt indeß auch noch jetzt die mündliche Mitheilung der Ideen, welche nur bey der persönlichen Zusammenkunft mehrer Menschen möglich ist, ein vorzügliches Mittel des Unterrichts, und, in Absicht gewisser Gegenstände und gewisser Vorzüge der Erkenntnis, das einzige.102
Das Gespräch als Mittel von Unterricht und Erkenntnis steht gegen eine von den Zeitungen angeregte Gesprächslust, die konsumtiv verfährt. So merkt ein Anonymus in Zedlers Universal-Lexikon an: Wenn man nun die sogenannten Zeitungen, wie solche jetzo an den meisten Orten eingerichtet sind, in Erwegung ziehet; so wird sich finden, daß unter tausend Lesern kaum einige wenige sind, welche aus denselben einen andern Gebrauch weder suchen noch zu machen wissen, als daß sie davon in Gesellschafften sprechen, und die Zeit vertreiben können. (ZAC 906)
102
Christian Garve. Über Gesellschaft und Einsamkeit. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Kurt Wölfel. I. Abt. Die Aufsatzsammlungen. Bd. II. Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 3 und 4. Breslau 1797 u. 1800 (Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1985). Hier Teil 3. S. 11f.
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Auch hier wird die Aufspaltung von Unterhaltung in nützliche und schädliche Seiten erkennbar, die im Zeitungsgebrauch Aspekte einer negativ konnotierten Konsumkultur beargwöhnt, die mit der Verschwendung von Wissen und der politischen Einrede in den Privat-Meinungen zur Topik der Zeitungskritik gehört. Im späten 18. Jahrhundert wird diese unter den Moralisten der Zeitungstheorie in den Katalogen negativer Zeitungsurteile über Zeitungsverfasser und -leser breitgetreten wie beispielsweise in dieser Stellungnahme von 1791: Thatsachen, Begebenheiten, und Vorfälle, die sich wirklich ereignet und die genauen Umstände davon müssen das Ziel [...] aller Bemühungen [des Zeitungsmachers] seyn. Lieber einige Posttage später von einer Sache gesprochen, als ungewisse, vergrössernde, mit Unwahrheiten verbrämte Gerüchte niedergeschrieben, die man hernach ganz oder zum Theil widerrufen muß! [...] Bloße politische Muthmassungen, und fade Kannengiesereyen muß er den Müssiggängern unter dem vornehmen und niederen Pöbel im hinckenden Boten aufzusuchen überlassen, um sich ihr Pfeifchen Taback in langen Winterabenden damit zu würzen. Ein undankbares und unnützes Geschäft ist es, wenn Verfasser und Leser von Zeitungen zwischen ihren vier Wänden enträtzeln wollen, was die europäischen Cabineter insgeheim verhandeln.103
Wie es sich schon in der Wortgeschichte von »Gazette« abzeichnet, spielen in die Kritik an der Gesprächslust auch Geschlechterkonzepte mit hinein. Der bürgerliche Zeitungsdiskurs beteiligt sich hier, um ›Fama‹ in Famas Medium auf Distanz zu halten. So lässt etwa der Zeitungsherausgeber Johann Frisch ein in seiner Zeitung Erbauliche Ruhestunden vorgeführte Szenario einer bürgerlichen Gesprächsrunde 1676 folgendermaßen beginnen:104 Als die Gesellschaft beyeinander / [...] / wahr / wie gemeinlich geschicht / die erste Frage: Was man gutes Neues habe? Eduard fing hierauff mit lächelndem Munde an; Ich weiß nicht woher ihr Teutsche so sehr nach den Neuen Zeitungen fraget; [...] es stehet meines Erachtens nur Weibisch / wenn man so fürwitzig / und auff Neue Zeitungen so verpichtet ist / daß man alles wissen will was dieser oder jener thut [...].105
Auf das Geschwätz in der Kommunikation zu verweisen, bedeutet, generell auf unerwünschte Folgeerscheinungen hinweisen zu können, ohne dabei eine bestimmte Stillage oder Gattungen in den Blick nehmen zu müssen. Mit der Verkürzung auf einen Habitus der Geschwätzigkeit ist der Hang, allezeit mitreden zu wollen als ›schlechter Stil‹ sozial markierbar. Neben der Tradition von Fama stehen hier Theophrasts Charaktere im Hintergrund, die ja nicht nur den Geschwätzigen, sondern auch den Gerüchtemacher, den Unaufrichtigen oder den Schmeichler im Habitus kommunikativer Unmäßigkeit vorführen.
103 104
105
Schmid. Nothwendige Verbesserung. S. 648f., zit. n. Die Zeitung. S. 134f. Johann Frisch war Altonaer Prediger und Herausgeber der Ruhestunden, einer frühen Wochenschrift, die von 1676 bis 1680 erschien; vgl. Die Zeitung. S. 47; zu der Machart der Ruhestunden und anderen Gesprächszeitungen der Zeit vgl. Egenhoff. Berufsschriftstellertum. S. 286ff. Johann Frisch, zit. n. Die Zeitung. S. 48.
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Den amorphen Seiten sprunghafter Lektüre und ungezügelter Redelust versucht dabei die Schrift selbst entgegen zu treten. Neben dem politisch Klugen ist hier der Gelehrte das Leitbild der richtigen Rezeptionshaltung. Stielers Ratschläge konfrontieren zunächst die kursorische Zeitungslektüre kritisch dem Modell der intensiven Lektüre.106 Auch Zeitungen erfordern sich »Zeit« zu nehmen und »Zeitungen völlig auslesen / und nicht überhüpfen« (LN 124). Auch ist Lesen für ihn ein reflexiver Vorgang, »examinieren« und »prüfen« (LN 126) sind damit verbunden. Die gelehrten Formen führen den Zeitungsleser damit nicht nur ins Gespräch, sondern auch in den Raum der Schrift zurück. Hier geht es nicht um die Lust in der Abwechslung, sondern, was Zeitungsleser lesend untersuchen, hält sie zur Bildung von »Regeln« (LN 121) an oder kann, etwa von »Hausväter[n]« (LN 103), in Jahresbänden gesammelt mit »Privat-anmerkung« (LN 131) versehen in andere Archive einwandern. Individuelle Sammlungen applizieren und transformieren gedrucktes Zeitungswissen, ermöglichen vergleichende Wiederholungslektüren, die wiederum die Fehler des natürlichen Gedächtnisses ausgleichen. Christian Weise schlägt für den interessierten Zeitungsleser vor, dass dieser zwischen Zeitungen, Lehrbüchern und Lexika hin und her lesen solle, um neue »Meilensteine« (SC 53) des Wissens setzen zu können.107 Gelehrte Lesekulturen setzen in diesem Sinne auf Merkurs Optionen, die den Wechsel von Lektüre und Schrift begleiten: weiße Flecken auf den Landkarten des Wissen werden ausgefüllt, Lücken im Gedächtnis geschlossen, Konjekturen werden vorgenommen. Weise verbindet dies mit dem geläufigen Hinweis auf eine sich schnell ändernde Geschichte und den Gestaltwandel aller Weltdinge. Die heroische Diktion zielt auf die Bedeutung der Zeitungsberichterstattung, die an der Größe der Geschichte parasitär teilhat: [...] so wird der künftige Historiker unserer Zeit sehen, daß ihm nichts fehlt, was den Schriftstellern für Ruhm und Bewunderung jemals dienlich war. So große Änderungen finden statt, die sich als reine Weltwunder erweisen! Der glücklichste, reichste, mächtigste König hat, sind seine Macht und Reichtümer verschwunden, gleichzeitig auch sein Glück verloren. Ein Deutschland furchtbarer König wurde durch einen einzigen Angriff zu Fall gebracht. [...] Kämpfe werden nicht nach bestimmtem Plan, sondern plötzlich und gewissermaßen im Vorbeigehen geliefert. Belagerungen werden durch die heftige Wirkung der sogenannten Bomben beschleunigt [...]. Kein Kaiser ist vor seinem Hofmeister sicher, kein König vor seinem Kanzler, kein Fürst vor seinen Verwandten, kein Bundesgenosse vor dem Vermittler, kein Soldat vor dem Soldaten. Jedenfalls werden die Nachkommen, falls es solche gibt, das, was jetzt im Ablauf weniger Jahre durch Waffengewalt und kluge Einfälle aufgehäuft wurde, die Quintessenz aller früheren Jahrhunderte nennen. (SC 68)
106 107
Vgl. zur Wechselbeziehung von intensiver und extensiver Lektüre der Zeitungen auch Welke. Gemeinsame Lektüre. Zu den Bezügen zwischen Zeitung und Lexikographie im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Peter Albrecht. Zeitungslexika. Oder wie Autoren und Verleger den Zeitungslesern Hilfe angedeihen ließen. – Eine Annäherung. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 341–376.
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung
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Die Rahmung der Lektüre durch die Schriftkultur legt es nahe, täglich neu zu erwerbendes Applikationswissen an die durch Schriftlichkeit memorial angereicherte Wissenskultur heranzuführen. Es ist es die »Geschichts-Kunde« (LN 143) selbst, die auch nach Kaspar Stieler dem Leser der Zeitungen besonders nötig ist: Daß die Geschichts-Kunde / zumal aber dessen / was zu gegenwärtiger Zeit / und üm uns herum vorgegangen / einem Zeitungs-Leser hochnötig sey / verstehet männiglich / wer die Zeitungen mit Andacht zu lesen pfleget. Sintemal nicht nur immer eine Novelle sich auf die andere beziehet / und nicht allezeit wiederholet / was sie vor jahr und tag / länger und kürzer gemeldet hat / sondern es kommet wol eine Sache aufs Papier / denen Ursprung niemand weyß / oder errathen kan / als der Geschicht erfahrne Leute. (LN 143)
Erst diese Kundigkeit ermöglicht es, »Ursachen« (LN 145) zu kennen, eine »Vorwissenschaft« (LN 146) zu haben, um einen Konnex zwischen unterschiedlichen Zeitungstexten herzustellen. Entsprechend ergänzt der Zeitungsherausgeber Johann Frisch den weiblichen Vorwitz des Wissens- und Reden-Wollens um das Bild einer vernebelten Gedächtnisarchitektur. Darin ist der Topos, dass die Geschichte eine Lehrmeisterin des Lebens sei, im Zeithorizont von Gegenwart angekommen, die schon Züge eines kommunikativen Verkehrs miteinander trägt: Es habe einer für eine Profession was er will / die Historia wird ihm Nutzen schaffen / wo er nur so viel verstandes hat / daß er den Kern so in den Schalen der Umbstände verborgen lieget / finden / und bey rechter Gelegenheit appliciren kan. Wer aber so witzig nicht ist / dem ist wenig oder nichts daran gelegen / ob er weiß was geschehen oder nicht. Wenn ein solcher Neue Zeitungen höret / ists gleich als ob einer im Nebel durch eine Stadt fähret / da er ebenso viel von nachsagen kan / als währe er nicht da gewesen.108
Schließlich ist es noch der schnelle Wechsel, der als Signum der Zeitungslektüre diese immer wieder verdächtig macht. Und wer ständig im Wechsel von Lektüre und nur Rede das Alte durch das Neue austauscht, bleibt für die Zeitungstheoretiker auf eine undurchsichtige Weise ›auf dem Laufenden‹. Die Argumente der negativen (und positiven) Zeitungskritik spielen sich topisch ein und es verwundert nicht, dass sie in den Lesesuchtdebatten des späten 18. Jahrhunderts zum Zuge kommen. Die ansteckende, ungeregelte Kommunikationslust wie deren Übermaß gehören hier dann zu den ›Rückseiten‹ moderner Kommunikationsverhältnisse, für deren Ausmaß die Zeitungen dann schon seit fast 200 Jahren einen Prototyp abgeben: Die Lesesucht ist ein thörigter, schädlicher Mißbrauch einer sonst guten Sache, ein wirklich großes Uebel, das so anstecken ist, wie das gelbe Fieber in Philadelphia; sie ist die Quelle des sittlichen Verderbens für Kinder und Kindes Kinder. Thorheiten und Fehler werden durch sie in das gesellige Leben eingeführt und darin erhalten, nützliche Wahrheiten entkräftet und Irrthümer und Vorurtheile begünstigt und vermehrt. Verstand und Herz gewinnt nichts dabei, weil das Lesen mechanisch wird; der Geist ver108
Johann Frisch, zit. n. Die Zeitung. S. 49.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
wildert an statt veredelt zu werden. Man liest ohne Zweck alles durch einander, man genießt nichts und verschlingt alles, nichts wird geordnet, alles nur flüchtig gelesen und eben so flüchtig vergessen, was freilich bei vielen sehr nützlich ist.109
Bereits für das frühaufklärerische Zeitungskonzept, das Zeitungstheoretiker wie Stieler und Weise als archivbezogene Memorialtopik und unter Bezug auf Klugheitsmaximen ausfalten, ist der sinnhafte Bezug des Angelesenen nicht nur auf Vergangenes, sondern auch auf Zukünftiges wichtig. Die mit der Zeitungslektüre verbundene Kunst des »politische[n] Nachdenken[s]« und der »Reflexione[n]« sollte auf »unvermutete Zufälle« mit »vernünftige[m] Mutmassen« reagieren können, doch kann sie in ihren Urteilen, so Stieler, nur »dann und wann« richtig liegen. Dies im Unterschied zur »Proportional-Rechenkunst«, die, wie er schreibt, »allezeit richtig« in ihrem »Facit« (LN 156) ist. Er sieht, dass das Weltwissen, das die Zeitungen verbreiten, als kulturell eingebettetes Applikationswissen in hohem Maße zeitanfällig geworden ist. Politisches Gelegenheitswissen ist sich in den spezifischen Formen eines iudiciösen und leistungsorientierten Kritizismus seiner zukunftsoffenen Relativität bewusst. Geltungsansprüche und Geltungsdauer von gedrucktem aktuellen Wissen werden in der Zeitungstheorie mit dem politischen Pragmatismus argumentativ verschränkt. Der barocke Grundsatz eines carpe diem, der den politischen Pragmatismus topisch noch decken konnte, wird aber beim Umgang mit den Zeitungen der individuellen Klugheit mehr und mehr entzogenen und mit dem Index objektiver Zeitlichkeit allgemeinen Wissens versehen. Die okkasionell ausgerichtete Aufmerksamkeit herausragender Einzelner wird über die Zeitungskommunikation der Idee nach in die alltägliche Sozialisation aller Menschen überführt und von der Zeitungstheorie unter die Gebote einer allgemeinen Kommunikationskompetenz gestellt: Jeder sollte jederzeit wissen, wovon geredet wird, um auf vernünftige Weise mitreden und auch -schreiben zu können. Das ist zugleich eine Wissensutopie, die über den gelehrten, bürgerlich-aufklärerischen Rahmen des späten 17. Jahrhunderts hinausweist und der Zeitungstheorie weiterhin Kopfzerbrechen bereiten wird. Zu den zahlreichen Argumenten, die für und wider den Zeitunger und seine Medien Text und Zeitung hervorgebracht werden, finden sich so eine Reihe passgenauer Urteile zum Zeitungslesen und zum Zeitungsleser und auch der Zeitungsleserin ein. Sie sind außer im akademischen Bereich auch in den zahlreichen Projektbeschreibungen und Gebrauchsanweisungen von Zeitungsleuten zu finden, die als Praktiker des vernünftigen Zeitungsdruck ihre unterschiedlichen Publika in den Blick nehmen. Es ist bald schon das gedruckte Gespräch mit dem Leser, das Zeitungstheorie im Kontext der Periodika des 18. Jahrhunderts vorrangig beschäftigt, da
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[Johann Gottfried Hocke.] Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und über den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks. Hannover 1794. In: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Hg. von Reinhold Wittmann. Bd. 10. Die Leserevolution. München 1981. S. 33–180. S. 68.
IV.4. Zeitungsleser oder: Vom Nutzen der Unterhaltung
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dieser Austausch am Ort der Zeitung höchst verschiedene Formen von Literatur und Wissen, unterschiedliche Produzenten und Rezepienten zusammenbringt: Zuvörderst sehe ich es an als eine Sache von einiger Nutzbarkeit, daß meine Leser einmal die Woche ein gedrucktes Blatt haben, worinn ihnen allerhand Moralische und Sie hauptsächlich angehende Neuigkeiten vorgelegt werden, gleichwie sie es für einen Vortheil halten, wöchentlich sechsmal ein Blatt zu haben, darin ihnen allerhand Politische Neuigkeiten erzählt werden, die den grösten Theil von ihnen vielleicht sehr wenig oder gar nicht angehen. Wenigstens ist mein Papier ein gantz unschuldiges Mittel, einige müssige Augenblicke zu vertreiben, und zuweilen die Lücken einer fruchtlosen oder stummen Conversation damit auszufüllen.110
In den publizistischen Spielräumen unterschiedlicher Zeitungstypen, wo individuelle und kollektive Fragen gestellt und Antworten gegeben werden, Briefe aus allen Schichten, Geschichten über alle Stände und Typen des gesellschaftlichen Lebens, Belehrendes, Unterhaltendes, Reales und Fingiertes aus vielen Erfahrungsbereichen der Welt publiziert werden, wird die erfolgreiche Leseradressierung gleichermaßen zur kulturellen und zur ökonomischen Herausforderung und von externer wie interner Zeitungstheorie unablässig weiter ausgearbeitet. Es geht seit der Frühaufklärung in einem umfassenden Sinne um gesellschaftliche Reibungspotentiale im publik gemachten neuen Habitus – ›zeige und übe Deine kommunikative Kompetenz in wechselnden Situationen‹ – der ursächlich mit dem Publikationsformat Zeitung in Verbindung gebracht wird. In diesen Kontexten wird die seit dem späten 17. Jahrhundert im Rahmen politischer und gelehrter Vernunft lancierte Idee in eine universalistische Annahme und zunächst bürgerliche Utopie transformiert: Alle könnten mit allen über alles kommunizieren, wenn nur alle genug zu wissen bekommen, kollektiv teilnehmen und den Umlauf der Kommunikation unter die Gebote allgemeiner Vernunft stellen würden. Die Beobachtung der objektiven Seiten der modernen Kommunikations- als Weltgesellschaft, ihrer Medien und Archive bahnen sich in der Zeitungstheorie schon früh an. Sie werden darin sozial, politisch, moralisch und auch ästhetisch auf verschiedenen Ebenen lesbar gehalten. Einschluss- und Ausschlussverfahren zeigen sich dabei immer mehr als die Probiersteine von Zeitungsvernunft und ermöglichen eine fortgesetzte positive wie negative Kritik der Zeitung. In realistischen Einschätzungen und utopischen Szenarien stützen sich ein materialer und operativer Kommunikationsbegriff wechselseitig, und es sind nicht zuletzt die Gelehrten selbst, die zuerst bemerken, dass ihr enzyklopädischer Universalismus mit der Zeitung den Prozessen von Kommunikation anheim fällt. Archivbezogene Vollständigkeit entpuppt sich hier als die spezifische Utopie von Gelehrten.
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So in der Sonnabendausgabe vom 28. Dezember 1726 der Moralischen Wochenschrift Der Patriot. Bd. 3. Jg. No. 156 (1726). S. 418f.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation Famas Medium, so sehen es Frühaufklärer wie Christian Weise oder Kaspar Stieler, durchkreuzt mit seiner potentiellen All-Adressierbarkeit die Räume der geschichteten Ständegesellschaft. Die Kommunikation mit dem Medium Zeitung und seinen Materien ist für alle Stände in spezifischer Weise nützlich, aber sie lässt sich nicht mehr auf privilegierte Zugänge beschränken, auch wenn sich die Professionellen der Schriftkultur weiterhin politisch und sozial vor anderen Gruppen behaupten. Dem Abgrenzungsbedürfnis der gelehrten Republik verleihen die akademischen Lobreden auf Tobias Peucers Dissertation über die Zeitungen von 1690 symbolisch Ausdruck. Hier wird der Wunsch ausgesprochen, dass Peucer mit seiner gelehrten Tätigkeit Ruhm erwerben möge; nach allem, was Peucer zur Zeitung und ihrem Verhältnis zu Fama zu sagen hatte, wird Ruhm nun zu einem durch Zeitungskommunikation neu gerahmten Aspekt. Scheinbar unbeeindruckt von den Effekten der Dezentrierung, des Vergessens, der zahlreichen Konkurrenzen, die Zeitungspublizistik mit sich bringt, preist ein Lobredner Peucers Dissertation unter Anspielung auf eine günstige Fama: Ein schönes und mit Recht zu lobendes Werk, gelehrter Peucer, unternimmst Du und tiefe Sorge lässt Dich nicht rasten. Aber noch Größeres planst Du mit der Besprechung aller berühmter Taten und Schicksale, die vermittelst des Zeitungspapieres die Göttin Fama überliefert, und beeilst Dich, in herrlichem Anlauf sie ans Tageslicht zu bringen, wie es sich für die geschulten Empfindungen Deines Genies geziemt. Nun, da die Göttin Fama selbst Deinem Wagnis freundlich Gewährung zunickt, wird sie Deinen Namen mit sich von hier bis hoch zu den Gestirnen führen. (RN 108)
Ein weiterer Gratulant, der in professioneller Verbindung mit zirkulierenden Kommunikationen steht, ein »Verwalter bey dem Churfl. Sächs. Ober-Post-Amt«, lobt in einer Art von selbstbezüglichem Zeitungslied die kritische Grundlegung des Themas: Man sieht zwar da und dort viel Zeitungs-Krämer gehn // Die mit der falschen Wahr umher hausiren lauffen // Und das vor gantz gewiß und neugeschehn verkauffen; // Was doch in ihrem Kopff und nirgend sonst geschehn; // Alleine wenig sind / die aus dem Grund verstehn // Was Zeitungs-Sachen seyn. (RN 109)
Peucers gelehrtes Können hat selbst Nachrichtwert, stellt eine Tat dar, die den Ruhm des Akademikers vermehrt: Sein nimmer-müder Fleiß // Herr Peucer / hat uns diß zur Genüge dargethan // Indem er alles das ausführlich hat gelehret // Was zu der Wissenschafft von Zeitungen gehöret // Und was man nur davon vor Nachricht haben kan. // Wird durch die Zeitungen das sonst bekant gemacht // Was vor war unbekant; so wird Er sein studiren // Zu seinem fernern Ruhm dermaßen glücklich führen // Daß einst die Zeitung auch von Ihme wird gebracht: // Herr Peucer / der von nichts als steten Fleiß gewust // [...] Er ist der Eltern Trost / des Vaterlandes Lust! (RN 109)
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
191
Auch die Begegnung mit dem schon schwieriger einzuschätzenden Marktwert des Neuen verläuft im akademischen Rahmen glimpflich ab: »Wer die Marktplätze aufsucht und an Straßenecken sich herumtreibt«, so ein anderer Studienkollege, und bei allen Erkundigungen einzieht und sagt: »Habt ihr etwas Neues?«, den lobst Du nicht. Was jedoch, Peucer, Deine Neuigkeiten für einen Nutzen stiften, das zeigst Du unter dem Vorsitz Seiner Magnifi zenz. Wenn Du nun natürlich auch noch ihren Ursprung darzutun fortfährst, dann flicht Apoll Dir neue Kränze. Darum beglückwünsche ich Dich, wie Du es verdienst, zu den neuen Kränzen und wünsche, daß Dir neuer Ruhm [Fama] zuteil werde und Dir stets treu bleibe! (RN 111)
Das akademische Lob zelebriert in einer institutionell gerahmten Kommunikation unter Anwesenden eine Vorstellung von Ruhm, der den Ruf der Person auf Dauer stellen soll. Die Lobreden figurieren als Ruhmes-Zeitungen, Nachrichten aus der gegenwärtigen gelehrten Welt. Die gelehrte Gemeinschaft setzt auf den Erwerb von Gloria im Angesicht von Famas Zwiespältigkeiten. So lässt sich der öffentliche Ruhm mit Famas Medium publizistisch noch steigern, umso mehr geht es aber im Gegenzug auch darum, unerwünschte Konkurrenz sich vom Hals zu halten. Ideologiekritisch betrachtet ist die Gelehrtenschaft, die sich als einheitliche respublica litteraria stilisiert, in ihren konservativen Vertretern daran interessiert, die gesellschaftliche Produktivität der Form Zeitung zu nutzen, ohne die eigenen überkommenen Ansprüche aufzugeben. Die anthropologische Rahmung von Wissens- und Neubegierde macht in der Zeitungstheorie allerdings einen anderen Syllogismus stark. Er bindet das Menschsein in seiner Sozialität an die potentielle Fähigkeit aller Menschen, vielseitig zu kommunizieren. Das Weitläufige solcher Kommunikationen strebt danach, restriktiv verwaltete Standes- und Wissensgrenzen außer Kraft zu setzen. In gewisser Weise reagieren Zeitungstheoretiker, die angesichts der Option generalisierbarer gesellschaftlicher Inklusion durch Kommunikation die Zeitung weiterhin für Formen von Exklusion nutzen, konversativ. Von den Ansprüchen einer polyhistorischen Universalgelehrsamkeit ausgehend wird sich dieser Zug in den Transformationen der gelehrten zu neuen professionellen Gemeinschaften erhalten. Die Bejahung eines anthropologisch fundierten Kommunikationsimperativs: kommuniziere vielfältig, weil dies zum Menschsein gehört, schließt also nicht aus, dass gegenläufig Einschränkungen in der Form verfolgt werden. Restriktion und Öffnung sind auch im 18. Jahrhundert die Strukturmerkmale einer immer wieder in neuen Asymmetrien verfahrenden Aufklärungsöffentlichkeit, wo die Einen die Anderen über das Richtige belehren wollen. Mit den Urteilen über den Nutzen und Schaden von Zeitungen ist so immer die zentrale Frage verbunden, unter welchen Perspektiven Zeitungswissen den Status von offiziellem Wissen beanspruchen kann. Nicht nur die politische Macht wacht über die Wirklichkeitsbezüge der informierenden Zeitungen. Auch in gelehrter Observanz verschränken sich Macht und Wissen, wenn über die Wissenschaftsfähigkeit und Wirklichkeitsrelevanz von Zeitungspublikationen verfügt wird. Nicht von ungefähr entstehen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts europaweit neben den historisch-politischen
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Zeitungen zunächst die privilegierten Anzeigenblätter und die gelehrten Journale. Gerade Letztere zeigen, dass die professionelle Option, über das Wissen zu verfügen, keineswegs aus der Hand geben wird. Dabei profitiert die gelehrte Gemeinschaft von den strukturellen Folgen der Zeitung, die sich aus ihren Archivierungs- und zugleich Kommunikationsfunktionen ergeben. So reichert die Verbreitung von methodisch gesicherten Erkenntnissen und Ergebnissen auf dem Wege der periodischen Lieferung die Archive der enzyklopädischen Wissensformationen fortlaufend an. Publizistisch gesehen geht es dabei um die doppelte Figuration des Einsatzes einer Nachricht, auf welche auch die Lobredner von Peucers Dissertation anspielen: Nicht nur ist die Veröffentlichung von gelehrter Ereignisgeschichte per se interessant, sondern der Publikationsakt selbst wird zu einem Ereignis, das auf die Rezeption in einer aufmerksamen Öffentlichkeit zielt. Die Aktualität der Information aus der gelehrten Welt stellt wissenschaftsintern eine temporalisierte Überbietungsstruktur auf Dauer: Was zunächst noch als Anreicherung des Archivs gesehen werden kann, wird mit jeder nächsten Zeitungsveröffentlichung zum Signum des Fortschritts im Wissen, der auf professionellen Wegen gewonnen wird. Bei den gelehrten Einschätzungen von Formen und Möglichkeiten der Zeitung werden so Aspekte des universalistischen Archivs mit dem Aspekt der Universalie Kommunikation verschränkt. Die Einschränkungen der Maximalforderungen von Archiv und Kommunikation dienen der Abgrenzung nach außen: alles Wissenswerte im Format der Zeitung, aber als (gelehrtes) Journal nicht für alle.111 Im Unterschied zu dem gesellschaftlichen Allgemeinheitsanspruch der historisch-politischen Zeitungen operieren die frühen gelehrten Journale bereits in Ansätzen mit Rubriken, die den Kommunikationsinteressen des gelehrten Standes entgegenkommen. Der Herausgeber des ersten europäischen gelehrten Journals, des Journal des Sçavans, Denys de Sallo (1626–1669), kündigt 1666 im Avis de l’ imprimeur au lecteur Neuigkeiten für folgende Bereiche an: Büchernachrichten, Gelehrtennekrologe, »Fortschritte auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, der Technik, Astronomie und Anatomie«, »die hauptsächlichen Entscheidungen der weltlichen und geistlichen Gerichte«, und schließlich »soll das Journal alles vermerken, was in Europa geschieht, das die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt verdient.«112 Das Programm setzt auf übergreifende Interessen in der respu111
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Vgl. zum gelehrten Journalwesen des 17. Jahrhunderts Jaumann. Zur Intertextualität; zur Ausdifferenzierung im 18. Jahrhundert: Otto Dann. Vom Journal Sçavans zur wissenschaftlichen Zeitschrift; Von Almanach bis Zeitung; Thomas Habel. Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007. Kirchner. Das deutsche Zeitschriftenwesen. S. 16; zum Konzept des Journal des Sçavans und dessen Folgen für das Zeitungswesen im europäischen Gelehrtentum vgl. Thomas Habel. Das Neueste aus der Respublica Litteraria: Zur Genese der deutschen ›Gelehrten Blätter‹ im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. In: Die Entstehung des Zeitungswesens. S. 341–376; ders. Gelehrte Journale und Zeitungen. S. 46f.
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
193
blica litteraria und zugleich spezifische Themen aus den Natur- und Technikwissenschaften.113 Zugleich hält de Sallo mit der Rubrik alles, was in Europa geschieht und die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt verdiene, das Programm offen gegenüber noch nicht klassifizierten Restbeständen, die dennoch Bedeutung erlangen könnten. Aus solchen Resten können künftige Themengruppen, verbunden mit noch unbekannten Gelehrtennamen, hervorgehen. Die generalisierte Nachrichtenfunktion öffnet so den gelehrten Zeitungsformen die Einfallstore für das Neue, welche Öffnungsbewegung zugleich mit den strukturellen Bedingungen des publizistischen Formats, seiner Periodizität, zusammenhängt.114 In den gelehrten Ordnungen des Wissens zeichnet sich damit die Ablösung des generischen Produktionstypus, in dem das je Hinzukommende an die Autorität des Vorausgehenden gebunden wurde, durch das Prinzip der Sukzession ab: Der Textbestand und seine Erweiterung werden nun als eine Folge wahrgenommen und kategorisiert – mit offener Zukunft: Es geht immer so weiter. Statt Exemplare eines Bereichs zu variieren, einen Sektor auszubauen, geht man dazu über, eine Reihe, eine Folge neuer Texte fortzusetzen. Die generischen Sektoren lösen sich noch lange nicht auf, aber ihre Zentren bleiben nicht mehr fest, sie bewegen sich, wandern mit.115
Die Rubrizierung wird sich bei den historisch-politischen Zeitungen erst seit dem späten 18. Jahrhundert durchsetzen;116 schon früh bietet sie im Rahmen des Journals angesichts des materialen Zeitungsprinzips ›alles Wissenswerte‹ topische Orientierungsmöglichkeiten, so dass Zeitungseinträge bestimmten Bereichen zugeschlagen werden können. Mit Vorauswahl und Segmentbildung erhält sich das gelehrte als ein autoritatives Verfahren, das dem Zeitungsleser Klassifikationsvorschläge vorlegt. Der strukturierte Raum, den auch die gelehrten Zeitungspublikationen als symbolische Nachrichten-Ordnung des Wissens eröffnen, verträgt sich noch mit den topischen Verfahren der Wissensverortung. Auf der anderen Seite ist es die zeitungstypische Flexibilität gegenüber dem neu Hinzukommenden, an der sich zeigen wird, dass gekennzeichnete Bereiche keine ontologischen und auf Dauer zu stellenden autoritativen Größen sind, sondern deren Einzugsbereiche sich kommunikativ verschieben lassen. Die fortlaufende Relativierung von Wissensordnungen steht mit dem Format Zeitung auch für die Gelehrsamkeit an.117
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Dieses Programm erklärt sich aus dem Kontext, in dem die Zeitung entsteht; vgl. Kirchner. Das deutsche Zeitschriftenwesen. S. 16ff. Zur Korrelation von gelehrtem Sammeln, Archivieren und periodischem Publizieren vgl. Herbert Jaumann. Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität. Eine Reihe von Überlegungen. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. S. 103–113. Jaumann. Zur Intertextualität. S. 453. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte von Rubrizierung und Umbruch Wölfle. Beiträge zu einer Geschichte. S. 210ff. Vgl. für parallele Prozesse in der Enzyklopädik Schierbaum. Enzyklopädien und Pluralisierungsprozesse.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Die Folgen einer dezentrierenden, vermischenden und Neues aushandelnden Zeitungskommunikation lassen sich auch an der Titelsemantik verfolgen, die einen kommentierenden Apparat für die Möglichkeiten der Zeitung in der gelehrten Schrift- und Druckkultur darstellt. Titel verbreiten ebenfalls Nachrichten über das Medium. Sie sind ein wichtiger Ort für das von jeder Zeitung gegebene Ordnungsversprechen, besonders solange Rubrizierung, Formen des Spaltendrucks und Aufmerksamkeit lenkende typographische Aufmacher erst zögerlich zum Einsatz kommen. In der Begrifflichkeit von Zeitungstiteln des 17. und 18. Jahrhunderts erscheinen semantische Äquivalente für die Kommunikabilität des Mediums und seiner Texte in Politik, Handel, Gelehrsamkeit, Kunst und Gesellschaft. Zeitungstitel haben Teil an den semantischen Umschriften, die die Prozesse begleiten, die von der Ständegesellschaft in die Kalküle der funktionalen Differenzierung führen. Im 17. Jahrhundert trifft man in der Titelgebung von historisch-politischen Zeitungen auf ein relativ enges Begriffsrepertoire, bei dem die Schlüsselbegriffe häufig in selbstbezüglich informierenden Sätzen über das Anliegen Zeitung erscheinen. Neben den auf Übermittlungstätigkeit hinweisenden Kennwörtern wie Courier, Post, Bote, Fama, Merkur werden Bezeichnungen gebraucht, die sich auf das Medium Text beziehen: Novellae, Aviso, Relation, Zeitung(en). Beide Bezeichnungstypen werden oft in einem Titel nebeneinander gebraucht.118 Die Bezeichnung Journal spielt sich für die gelehrten institutionell lancierten Zeitungen ein. Die Acta Eruditorum, das erste deutschsprachige gelehrte Journal, das seit 1682 in Leipzig erscheint, verweisen im Titel nicht nur auf den Text als Leitmedium der gelehrten Tätigkeit, sondern auch auf den Anspruch, der sich mit Akten des Wissens verbindet.119 Im 18. Jahrhundert wird das Titelspektrum der Zeitungen durch neue Begrifflichkeiten erweitert, überkommene Kennworte werden fallengelassen oder von ihren ersten Plätzen verdrängt (wie etwa Fama). Der üblich werdende Gebrauch von Kurztiteln auch bei gelehrten Zeitungen folgt nicht nur den allgemeinen Entwicklungen der Titelpraxis, sondern indiziert auch, dass sich die Wahrnehmung der Zeitung als eigenes Medienformat, etwa gegenüber Buchpublikationen, eingespielt hat. Vielfach verwendete Zeitungskennwörter wie Briefe, Blätter, Relationen oder Avisen spielen mit der Flexibilität der Kommunikationsform Zeitung, die an viele Phänomene der Schrift- und Druckkultur anknüpft. Mit dem Zerfall der gelehrten Republik, wo sich ideelle Größe der Gelehrsamkeit und standesgemäße Verfasstheit die Hand gereicht hatten, beginnen auch ihre Titelkennwörter zu zirkulieren. Die meisten von ihnen annoncieren weiterhin die Zeitung als Schrifttextmedium.120 Jürgen Wilke hat in seiner Studie zu den Literarischen Zeitschriften des 18. Jahr-
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Vgl. Die deutschen Zeitungen. Vgl. zum Acta-Verfahren, das die gelehrten Streitigkeiten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts prägt, Gierl. Pietismus und Aufklärung; zu den Titeln gelehrter Journale ders. Kompilation und die Produktion von Wissen. S. 72. Zur Begriffsgeschichte vgl. auch Habel. Gelehrte Journale und Zeitungen. S. 18ff.
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
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hunderts zwei große Titelgruppen unterschieden, die auch die Zeitungsunternehmen gelehrt-akademischer Provenienz betreffen: Kennwörter, »die ein Druckerzeugnis als solches bezeichnen« und solche, die über »Inhalt, Bestimmung und Erscheinungsweise Auskunft« geben.121 Wilkes Typologie zeigt, dass sich das Format Zeitung als bewegliches Drittes zwischen anderen Formen eingenistet hat: Kennwörter einer Druckveröffentlichung überhaupt (z.B. »Blatt«, »Magazin«, »Schrift« usw.) und Kennwörter, die von anderen publizistischen Mitteln übernommen sind (z.B. »Bote«, »Ephemeriden«, »Anzeigen« usw.). [...] Kennwörter der Periodizitätsbestimmung (z.B. »Monatsschrift«, »Wochenschrift«, »Vierteljahresschrift« usw.), Kennwörter mit Nachrichtencharakter (z.B. »Brief«, »Begebenheiten«, »Nachrichten«, »Das Neuste« usw.), Kennwörter mit Berichts- und Abhandlungscharakter (z.B. »Beiträge«, »Abhandlung« usw.), Kennwörter der Sammlung und Auswahl (z.B. »Archiv«, »Büchersaal«, »Bibliothek«, »Sammlung«, »Museum« usw.), Kennwörter der Gesprächsform (z.B. »Monatsgespräche«, »Unterredungen« usw.) sowie sonstige Kennwörter (z.B. »Bemühungen«, »Beschäftigungen« usw.).122
Zeitschriftenprojekte engagieren sich bis in die Spätaufklärung hinein auf dem Feld der Lit(t)eratur vielfach in Mischformen, so wie es die Titel auch anzeigen, dass die Grenzen zwischen gelehrter und schöner Literatur im Fluss sind.123 Kennwörter der mittleren Aufklärung benachrichtigen ihre Leser, dass ihre Publikationen zwischen rhetorischer Gelehrsamkeit und Poesie angesiedelt sind: Sprache, Poesie und Beredsamkeit, die schönen Wissenschaften und freien Künste, die anmutige Gelehrsamkeit, Verstand, Witz und Geschmack.124 Im späteren 18. Jahrhundert spiegelt die Titelsemantik die Verschiebungen in der Schrift- und Druckkultur wider, wenn etwa literarisierte ›Decknamen‹ auf die ästhetische Provenienz ihrer Informations-Absichten und Texte hinweisen: Iris, Olla Potrida, Das graue Ungeheuer, Pomona für Teutschlands Töchter.125 Titel sind Projektannoncen für Gruppen; sie richtig lesen, d.h. deuten zu können, setzt eine professionelle Sozialisation voraus – das ist zumindest die Option des gelehrten Standes. Andererseits verleihen viele Zeitungstitel als die erste Nachricht an das Publikum dem zukunftsoffenen Optimismus Ausdruck, neue Lesergruppen anzusprechen, die nun täglich ohne allzu viele gelehrte Vorkenntnisse in die Schriftkultur eingemeindet werden sollen. Dies ist die ökonomische, soziale und auch politische Option derjenigen, die die Publizistik in allen ihren
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Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 1. Grundlegung. S. 111. Ebd. S. 111f. Wilke bezieht sich auf Joachim Matysiak. Die publizistische und kulturgeschichtliche Bedeutung der deutschen Zeitschriftentitel, ihre Entwicklung seit den Anfängen des Journalwesens bis zum Jungen Deutschland. Dissertation FU Berlin 1955. Vgl. etwa zum gelehrten Artikel in den Intelligenzblättern Böning. Das Intelligenzblatt; zur Heterogenität der Gruppen, die das Spektrum zwischen gelehrter und anderer Literatur im 18. Jahrhundert vertreten, Heinrich Bosse. Die gelehrte Republik. In: »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. S. 61–76. Vgl. Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 1. S. 113. Vgl. ebd. S. 112.
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Ausprägungen kollektiv verfügbar machen wollen, wie es die moralischen Wochenschriften auf sehr erfolgreiche Weise unternehmen. Die Zeitung ist immer mehr Schriftprofessionellen dann das beste Vehikel einer aufklärerischen Kommunikationskultur, die in den kollektiven die Gemeinschaft erzeugenden Zusammenhänge im Blick hat. Die Form Zeitung ermöglicht zahlreiche Übergänge zwischen den Archiven von Schrift und Druck und den verschiedenen Kommunikaten. Dieser operative Modus der Form Zeitung wird in den zeitungstheoretischen Bemerkungen des 18. Jahrhunderts besonders in zwei Richtungen ausgelotet: Einerseits geht es um die Abgrenzung der Eigenheiten zeitungstypischer Kommunikationsformen nach außen,126 andererseits arbeitet sich eine selbstbezogene Binnenkritik weiterhin an der Form Zeitung ab, die nun in viele Spielarten zerteilt wird. Die Erfahrung lehrt dann, dass das Medium allein seiner Form nach die Beteiligten der Zeit ausliefert und dass die eigene Positionsnahme eine jederzeit durch einen anderen relativierbare Positionsnahme ist. An den vielen Formen der Zeitungskommunikation und deren positiver wie negativer Kritik zeigt sich immer wieder, dass die ›großen‹ diskursiven und ästhetischen Trennungen nicht nur ›reine‹ Ergebnisse zeitigen. Gerade Zeitungstheoretiker müssen sich immer wieder dem Umstand stellen, dass Ausdifferenzierung mit neuen Vermischungen Hand in Hand geht. Thomas Habel schlägt in seiner Untersuchung gelehrter Zeitungs- und Zeitschriftenkultur im 18. Jahrhundert eine dreiteilige Typologie vor für »[k]lassisch universalistische Periodika«, »[s]pezielle fachgebundene Periodika« und »[a]llgemeine Periodika«, weist aber darauf hin, dass auch diese Unterscheidungen in Bezug auf ihre historischen Gegenstände mit Vermischungen zu rechnen haben.127 Er greift damit auf, was schon im 18. Jahrhundert als sich ausdifferenzierende Typengeschichte der Periodika gesehen wurde.128 Zunächst soll die Form Zeitung enzyklopädische Ansprüche mit standespolitischen Optionen in Deckung bringen. Das Format generiert für die Gelehrtenschaft seit dem 17. Jahrhundert attraktive Orte der Veröffentlichung und dient als Kommunikator, der zum Ausbau und zur zügigen Zirkulation des Wissens in der respublica litteraria beiträgt. Der akademische Zeitungsverfasser verfährt nutzbringend wie ein Polyhistor, dessen Methoden und Darstellungsverfahren er auf die Zeitung übertragen möchte. So beschreibt es etwa Julius Bernhard von Rohr 1718: Einige von denselben sind dem Publico gar nützlich, sie geben [...] eine notitiam librorum, führen bißweilen allerhand particula von eines Autoris Leben mit an, [...] allegiren mit darbey aus der Historia literaria [...] beurtheilen die Schrifften [...], [...] ersparen [...] Zeit, [...] machen [...] geschickt [...], informieren diejenigen, die nicht selbst die
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Mit Termini der Systemtheorie geht es um eine Verwaltung der Grenze zwischen System und Umwelt, s. Luhmann. Soziale Systeme. Habel. Gelehrte Zeitungen und Journale. S. 68f. Vgl. ebd. S. 74f.
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
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Beschaffenheit eines Buchs schätzen können, und stellen einen Theil der Polyhistorie in nuce vor.129
Dabei kommt das Periodikum mit seinen zukunftsoffenen Einzellieferungen dem Anwachsen der gelehrten Wissensbestände entgegen. Der unaufhörliche Wissenszuwachs bringt seit dem späten 17. Jahrhundert die Darstellungsverfahren der Polyhistorie in den Medien Text und Buch an ihre Grenzen und droht, die überkommenen Systematiken für die Wissensverzeichnung zu sprengen.130 Die Möglichkeit, dass der kritisch notierende Archivtext in die Journale einwandern kann, gibt den Polyhistoren Anlass zu neuer Hoffnung, mit der Aufzeichnung von Vielem schließlich einmal Alles berücksichtigen zu können. Die Absicht, Vollständigkeit durch fortgesetzte Kompilation von Wissen herzustellen, wird bei den eklektizistisch verfahrenden Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts mit einem Kritizismus gegenüber Autoritäten verschränkt: die Aufnahme neuer Wissensbestände bedeutet eben auch eine Verabschiedung des Alten. »Eklektik intendierte systematisches Kompilieren als umfassende Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich«.131 Diese Haltung bestimmt die Arbeit der gelehrten Journalund Lexikonmacher. Zugleich stellt die Öffnung des gelehrten Archivs gegenüber neuen Wissensbeständen eine kritische Potenz dar, die sich mit der Idee der Vollständigkeit verbindet, um gerade »auch das Nicht-Opportune zu sagen und entsprechend in Form zu bringen.«132 Es ist diese spannungsvolle Konstellation, die als kommunikative Eigenbewegung der Form Zeitung noch zahlreichen ›universalistisch‹ ansetzenden Projekten des späteren 18. Jahrhunderts anzusehen ist. Die arbeitsteilige Bewältigung des Wissens im Verbund der gelehrten Journale ist seit der Frühaufklärung ein neues Leitbild gelehrter Kommunikation,133 aber geteilte Arbeit potenziert wiederum die Menge des zu bewältigenden Wissens. Auch die Transformationen von Buch- in Zeitungswissen werden bedacht. Eine Hoffnung ist, »alle Folianten in Journale« zu verwandeln, wie es in einer Bemerkung von 1714/15 heißt.134 Auch in diesem Wunsch zeichnet sich das Bestreben ab, den immer schwerfälliger wirkenden Universalismus polyhistorischer Provenienz in der flexiblen Segmentbildung, die die Zeitungen erlauben, nicht aufzugeben, sondern weiterzutreiben. Die archivarische Geste, im Akt der Publikation eine Wissenssumme zu ziehen, probiert ein eigenes Realitätsprinzip aus: zumindest
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Zit. n. Straßner. Kommunikative Aufgaben. S. 860. Vgl. Conrad Wiedemann. Polyhistors Glück und Ende. Von Daniel Georg Morhof zum jungen Lessing. In: Festschrift für Gottfried Weber. Hg. von Heinz Otto Burger und Klaus von See. Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1967. S. 215–235; Fohrmann. Das Projekt. Gierl. Kompilation und die Produktion von Wissen. S. 64. Ebd. S. 65. Vgl. ebd. S. 64, zu dem neuen kommunikativen Habitus unter akademisch sozialisierten Gelehrten, sich der Arbeit am enzyklopädischen Archiv in gemeinsamer Anstrengung zu widmen. Zit. n. WGr 94.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
in einigen Bereichen umfassend über wenigstens den aktuellen Stand zu informieren. So annoncieren etwa die Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1736 im Titel ihr Vorhaben: Franckfurtische / gelehrte / Zeitungen, / darinnen / Die merckwürdigste Neuigkeiten / der / Gelehrten Welt, / So wohl / In Ansehung der jetzt lebenden Gelehrten, / als auch / Aller zur Gelehrsamkeit gehörigen Wissenschaften, / Künsten und Sprachen umständlich berichtet, / Und insonderheit / Der gegenwärtige Zustand aller in- und ausser Teutschland / blühenden / Hohen Schulen und Gesellschaften, / Mit unpartheyischer Feder entworffen.135
Bei den gelehrten Journalen findet man also denselben Anspruch, der auch in der Titelsemantik der historisch-politischen Zeitungen anzutreffen ist: ›Alles Wissenswerte‹ in der Gegenwart vereint! Die Allianz der polyhistorischen Praxis mit den kommunikativen Potentialen von aktuellem Zeitungswissen erlaubt auch den Akzentwechsel, der das operative Moment von Kommunikation betont. Die Zeitung kann auch für die Gelehrten an die Stelle der mündlichen Unterredung oder des Austauschs über Briefe treten, die die Netzwerktätigkeit im Rahmen einer Standeskommunikation konsolidiert hatten:136 Die gelehrte Correspondentz ist, so wie auch bey politischen Gazetten, die Hauptquelle aller Nachrichten, und so zusagen, die Seele einer gelehrten Zeitung. Fehlet es an der, so fehlts auch gantz gewiss an täglichen Neuigkeiten, mangelt es aber darann, und kommt man bloss mit solchen Sachen, die etwa nur in demselben gantzen Jahr sich zugetragen, oder mit unaufhörlicher Erzehlung, der darinn nach und nach herausgegebenen Bücher aufgezogen, so mangelt es an einem wesentlichen Stücke des Journals, und dasjenige, was ein Tag-Buch seyn solte, wird zu einem Jahr-Buch oder Chronik.137
So ein Vorredner zu einem gelehrten Zeitungsprojekt von 1732. Das mediale Telos der gelehrten Zeitung wird auf diese Weise zwischen archivierenden Abschlussund öffnenden Anschlusskommunikationen situiert. In Zedlers Universal-Lexikon werden die gelehrten Zeitungen deshalb auch in verschiedenen Einträgen mit unterschiedlichen Perspektiven berücksichtigt. So heißt es im Anschluss an den allgemeinen Eintrag Zeitung zu der Untergruppe der gelehrten Zeitungen: Zeitungen, (Gelehrte) sind gedruckte Blätter, so in grossen, sonderlich aber in Universitäts-Städten, wöchentlich ein oder etliche mahl ausgegeben werden, und in welchen zu lesen, was merckwürdiges in dem Reiche der Gelehrten von Zeit zu Zeit vorfället.138
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Zit. n. Jansen. Frankfurter Gelehrte Anzeigen. S. 61. Von 1736 bis 1771 trug die Zeitung den Titel Franckfurter Gelehrte Zeitung, von 1772 bis 1790 erschien sie unter dem Titel Frankfurter Gelehrte Anzeigen. Vgl. zu den gelehrten Netzwerken im 18. Jahrhundert Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005. In der Vorrede zum Hamburgischen Berichte von neuen gelehrten Sachen, 1732, zit. n. Straßner. Kommunikative Aufgaben. S. 859f. [Anonym.] Art. »Zeitungen (Gelehrte)«. In: Zedler. Grosses vollständiges UniversalLexikon. Bd. 61. Sp. 911–914. Hier Sp. 911.
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Mit dem Begriff »Journal« wird über die etymologische die ideelle Verwandtschaft mit dem Kaufmannsjournal aufgespürt. Statt auf die Analogie mit der täglichen politischen Einrede zu verweisen, die Journale als Bekenntnis ablegende Tagebücher profiliert, gibt hier der erfolgreich kalkulierende Kaufmann das Vergleichsbild ab: Bey den Gelehrten ist ein Journal so viel, als eine Schrifft von etlichen wenigen Bogen, deren darinne enthaltene Materien und Abhandlungen, aus einer andern weitläufftigern Schrifft kurtz zusammen gezogen sind, und dem Leser dasjenige in beliebter Kürtze auf einmahl vor Augen stellen, was er hier nicht ohne viele Weitläufftigkeit, Mühe und Zeit durchlesen kan. Diese Tage-Bücher der Gelehrten werden auch Monatliche Schrifften oder Monats-Schrifften genennet, weil jeden Monat eine dergleichen Schrifft pflegt in dem Druck gegeben zu werden.139
Die gelehrten Monatsschriften akkumulieren das gelehrte Kapital, indem sie es zusammenziehend verdichten. Jede Lieferung stellt für sich schon die Quintessenz einer auf ihre wesentlichen Ergebnisse gebrachten »Scribenten«-Tätigkeit in Aussicht. Dieser ökonomisch eingeführte Gedanke schließt wiederum an die historiographische Bewältigung des vielen Wissens an. Die Konzeptualisierung des »Journals« als einer Summe des (wichtigen) Wissens verbindet sich mit der Idee, dass in der Reduktion zugleich die Überschaubarkeit geleistet wird. Vollständigkeit in der überblickbaren Reduktion bereitzustellen, verweist wiederum als Vorstellungskomplex auf andere gelehrte Darstellungsverfahren, etwa Tabellenwerke, Wissensschemata und Stammbäume. Vor dem Hintergrund der formalästhetischen Strukturbedingungen des Mediums Zeitung wird die »beliebte Kürze« seiner Texte und deren Zusammenstellung damit auch metaphorisch auf ihre Visualität hin beobachtbar. Es ist die Kategorie der evidentia, die für die Funktion der Form Zeitung übernommen wird. Die Kürze einer Rezension, eines Textauszugs, einer bibliographischen Nachricht, generell von Texten in den wenigen Blättern einer Wochen- oder Monatsschrift, ist eine Verdichtungsleistung, die die gelehrten Zeitungsmacher stellvertretend für andere erledigen. Auch diese Konzentration auf das Wesentliche entlastet das menschliche Gedächtnis, das auch im Mittel der Schrift längst ›überlastet‹ ist. Zur Fähigkeit, mittels kritischer Rezensionstätigkeit und kurzer Texte »den Inhalt aller Bücher dergestalt zusammen zu ziehen, daß man ihren Werth auf einen Blick übersehen könne«,140 gesellt sich allerdings die kommunikative Ausschweifung in weit zerstreut liegende Nachrichtenfelder hinein. Dies erhöht wiederum die Fehlerquellen in der philologischen Arbeit: Indessen sey es ferne von uns, daß wir uns von allen Fehlern frey sprechen sollten. Nirgends sind sie schwerer zu vermeiden, als in einem Werke, bey dem die Aufmerk-
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[Anonym.] Art. »Tage-Buch«. Sp. 1474. [Anonym.] Vorrede. In: Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen auf das Jahr MDCCXXXIX. Göttingen 1740. O.S.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
samkeit durch so viele und ofte sehr weit von einander unterschiedene Dinge zerstreuet und geschwächet werden kann.141
Ein Antidot der zerstreuten Schriftgelehrsamkeit ist der schon aus den Kommentaren des 17. Jahrhunderts vertraute kritische Leser, der stillschweigend Fehler aller Art bei seiner eigenen Textarbeit korrigieren solle.142 Konzentration und Zerstreuung bleiben so in jeder Zeitung aufeinander bezogen und können sich immer wieder als das zunächst in Abrede gestellte eigene Andere herausstellen. Die Metaphoriken und Begrifflichkeiten helfen, mediale Verwandlungen des Wissens diskursiv zu begleiten. Nicht nur können Folianten in Zeitungen aufgelöst werden, sondern auch umgekehrt lassen sich Zeitungslieferungen in ›ordentliche Bücher‹ transformieren. Anders als bei den historisch-politischen Zeitungen wurden in dem ersten Zeitungsjahrhundert besonders die gelehrten Journale in Jahresbänden zusammengefasst.143 Versehen mit Jahrestitelblättern, Inhaltsverzeichnissen und verschiedenen Registern, die den alphabetischen und systematischen Zugriff ermöglichen,144 werden die Journale philologisch inkorporiert. Tages-, Wochen- und Monatschriften werden in Bücher transkribiert,145 um nicht zuletzt die auf den Zeitungsblättern verzettelten Einträge und darin noch allzu beweglichen Kommunikationsgüter archivarisch zu beruhigen. Ein Kommentar von Johann Peter von Lud(e)wig (1668–1743) zu den Hallischen Zeitungen in Zedlers Universal-Lexikon gibt über diese Absicht Auskunft.146 Die professionellen Operationen, die er vorschlägt, zielen auf den »immerwährenden Gebrauch«: Insgemein hält man die alten Calender und alte Zeitungen von gleichen Werth, und beyde vor unbrauchbar. Nun ist, so viel die letztere betrifft, insgemein die Weitläufftigkeit im Wege; Weil die vergangenen Sachen unter so vielen andern, sich schwerlich aufsuchen und finden lassen. Allein diesem beyden abzuhelffen, hat der jetzige gelehrte Herr Verfasser der Zeitungen von denen Hallischen I) einen Auszug; so denn II) ein Register, und III) die Haupt-Relationen in einem Quart-Band zusammen drucken lassen [...]. Bey solchen Umständen nun werden die Hallische Zeitungen zu einem im141 142 143
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Ebd. Vgl. ebd. Vgl. WGr 98 zu dem Umstand, dass im Unterschied zu den historisch-politischen Zeitungen die frühen gelehrten Journale relativ gut in Jahresbänden überliefert wurden und zu ihrer Ähnlichkeit mit anderen gelehrten Buchpublikationen, auch aufgrund des Quartformats. Vgl. zur Unterscheidung einer Methodus Systematica und Methodus Alphabetica, etwa 1712 bei dem Lexikonherausgeber Johann Hübner, Frühsorge. Der politische Körper. S. 203f. Vgl. zum Transkriptionsbegriff Transkribieren. Medien/Lektüre. Hg. von Ludwig Jäger und Georg Stanitzek. München 2002. Vgl. zur Person von Johann Peter von Lud(e)wig Robert Skalnik. Johann Peter von Ludewig (1668–1743). In: Deutsche Publizisten des 15. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München/Berlin 1971. S. 77–86. Lud(e)wig war Kanzler an der Universität Halle, wo er als einer der ersten akademischen Gelehrten ab etwa 1695 Zeitungskollegien gelesen hat. Auch war er mit historisch-politischen und Anzeigenblättern publizistisch tätig.
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merwährenden Gebrauch; Weil derjenige, welcher dieselbe jährlich sammlet, allemahl eine ordentliche Jahrs-Historie beysammen hat, woraus er sich, der Auszüge, Relationen und Register wegen, bey allen Begebenheiten erhohlen kan. Zeitungen sind zwar keine Evangelien. Allein sie zeugen, auch in ungegründeten Sachen, vom gemeinen Ruff. Hätten wir von den Aegyptern, Juden, Griechen oder Römern, denen wir die meisten Lehren schuldig sind, dergleichen Nachrichten übrig; was für einen unsäglichen Gebrauch würden nicht unsere Gelehrte davon zu machen suchen? da die wenigen Diurni, die von Rom noch übrig geblieben, in einem so hohen Werth, als PrivatAufzeichnungen, dennoch gehalten zu werden pflegen.147
Die Bändigung der als zeitungstypisch diagnostizierten Weitläufigkeit der Materien wird verfahrenstechnisch durch das Metawissen kürzender Auszüge, Rezensionen, Register und erneute Auswahl gewährleistet. Diese Verfahren berühren sich strukturell mit den Überlegungen der Historiographen, wie aus Zeitungsnachrichten ›ordentliche‹ Geschichte im Zusammenhang destilliert werden kann. Allerdings kann in den polyhistorischen Zeitungsbüchern und deren Registern die Rubrik ›Schriften vermischten Inhalts‹ wiederkehren. Erst recht in den Registern von Wochen- und Monatsschriften, die nach dem Prinzip der historisch-politischen Zeitungen verfahren und ihre vielen Nachrichten im Zeitungsdruck selbst noch nicht rubrizieren. Dem neuzeitlichen Gelehrten, der mit seinen Miszellen die Geschichte zwischen Zettel, Zeitung, Text und Buch annotiert, mag die Kategorie ›Vermischtes‹ zunächst als vertraute und auch nebensächliche Restkategorie vorkommen. Diese Rubrik soll die noch ungeordnete Umwelt des gelehrten Wissens erfassen, die nun mit den Zeitungen auch auf eine Achse in der Zeit gesetzt wird. Doch zentriert diese Rubrik das allgegenwärtige Kontingenzproblem von zerstreutem Wissen symbolisch. Kontingenz ist ein sachlicher Effekt der Wissensproduktion; die Sammlungen von vermischten Wissensbeständen tragen dazu bei, diesen Aspekt mehr und mehr zu verdeutlichen. Weder Ausdifferenzierungen noch Spezialisierungen werden dieses Problem beenden, sondern lassen das Vermischte im Gegenteil weiter wuchern. Der Weitläufigkeit des Wissens Herr zu werden, scheint im Horizont der respublica litteraria ein ebensolches strukturelles Problem zu sein, wie in der politischen Kodierung die umherschweifende Nachrichtentätigkeit der Zeitunger zu kontrollieren. In eine kaum reflektierte Aporie gerät in beiden Kontexten das Gebot, Vieles, wenn nicht sogar Alles zu berücksichtigen, mit der auswählenden Tätigkeit, die nur das Wichtigste und Merkwürdigste berücksichtigen will. Auch in die Behauptung von Zeitungsmachern aller Art, gerade ihre Zeitung versammle das, worum es gehe, zeichnet sich das Wissen ein, dass jeder Publikationsakt eine Nobilitierung des hier Veröffentlichten vollzieht und deshalb eine gesellschafts- und kulturpolitische Geste darstellt. Doch die Erwartung, durch bewusste Grenzziehung bei den Bücher-, Personen- oder Ereignisnachrichten das Optimum zu erzielen,
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Johann Peter von Lud(e)wig, zit. n. [Anonym.] Art. »Zeitung (Hallische)«. In: Zedler. Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 61. Sp. 914.
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den Fortschritt der Wissenschaften voranzubringen und zu dokumentieren oder politische Kraft zu entfalten, wird davon irritiert, dass die eigene Zeitung über Manches nicht berichtet, was nach Meinung anderer Kompetenter dazu gehören sollte. Um so stärker müssen gegenüber dem kritisch konkurrierenden Fachpublikum die Gesten der Zurückweisung ausfallen. So etwa 1740 bei dem Vorredner der Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen:148 Es ist wahr, wir haben nicht eine überaus grosse Menge von Büchern angeführet; vieler gar nicht erwehnet, davon man doch anderswo Nachricht gegeben; dagegen aber den Inhalt einiger etwas weitläuftig mitgetheilet. Das erste ist mit gutem Vorbedachte geschehen. Es ist uns ein ziemlicher Vorrath sehr mittelmässiger, ja so gar solcher Schrifften zu Diensten gestanden, deren Verfasser uns Dank wissen sollten, daß wir unsere Leser nicht gereizet, ein wahres, aber ihnen weder zur Ehre noch zum Vergnügen gereichendes Urtheil von ihnen zu fällen. In der gemeinen Welt gehen wohl kaum mehr Begebenheiten vor, davon man nichts zu wissen begehret, als in der grossen gelehrten Welt nichtswürdige Schriften ans Licht kommen, denen man wünschet, bald wiederum in die Finsterniß zurücke zu fallen, aus der sie nie hätten hervor treten sollen.149
In der Ähnlichkeit von »gemeiner« und »gelehrter« Welt wirft Erstere ihre unschönen Schatten über Letztere. Jede noch so begründete Auswahl kann im Kontext ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung als verfehlt erscheinen, und in jeder angewandten Urteilskraft steckt immer auch ein Rest von parteigebundener Politik. Die unbewältigten Reste kann der Schriftprofessionelle allerdings offen nach vorne verteidigen. Etwa 30 Jahre später als der eben zitierte Publizist, 1772, stellt ein anderer Herausgeber der Göttingischen Zeitungen, Johann Heinrich Merck, in seiner »Nachricht an das Publikum« umgekehrt heraus, dass die Segmentbildung den Universalitätsanspruch der Zeitung einschränken muss. Doch macht er dann innerhalb des gewählten Ausschnitts den rhetorischen Anspruch auf ›das Ganze‹ wieder auf: Um allen unbilligen Beurtheilungen und Forderungen zuvorzukommen, thut man hiemit die nähere Erklärung an das Publikum, daß diese gelehrte Anzeigen nicht eigentlich ein Repertorium aller in den höheren Wissenschaften neu herausgekommenen Büchern vorstellen werde. Man wird sich vielmehr bemühen, nur die gemeinnützigen Artikel in der Theologie, Jurisprudenz und Medicin zu beurtheilen und anzuzeigen, hingegen das Feld der Philosophie, der Geschichte, der schönen Wissenschaften und Künste in seinem ganzen Umfange zu umfassen.150
Die Verdichtungs- und Subsumptionsleistungen, die gelehrte Formen erzeugen, verhindern nicht, dass auf der Innenseite der Projekte das Ausgeschlossene, 148
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Mit den Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen beginnt die Reihe der Zeitungen, die die Gelehrten der Göttinger Universität unternehmen: unter dem Titel Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1739 bis 1752 erschienen, ab 1753 bis 1801 fortgesetzt unter dem Titel Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen [...], schließlich ab 1802 als Göttingische gelehrte Anzeigen. [Anonym.] Vorrede. Johann Heinrich Merck in der ersten Nummer der Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom 3. Januar 1772, zit. n. Jansen. Frankfurter Gelehrte Anzeigen. S. 67.
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
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die Zerstreuung, die Auslassung von Wichtigem, wiederkehrt. Die Wiederkehr der eigenen professionellen Formen im vermeintlichen Außen der Anderen, die nicht dazugehören sollten, ist ebenfalls ein Problem, da es das institutionell und ständisch verankerte Wissensmonopol gerade in der doch so kommoden Form Zeitung auf Dauer in Frage stellt. So mag es einerseits vielen Beobachtern selbstverständlich erschienen sein, dass sich nicht ›alle Menschen‹ für die ab 1682 in der Universitätsstadt Leipzig nach den französischen und englischen Vorbildern erscheinenden Acta Eruditorum interessieren mochten. In diesem Projekt konnten sich auf typische Weise Standesvorbehalte und spezifische Kommunikationsinteressen gegen den gesellschaftspolitischen Universalismus der Kommunikation, dem die Zeitung Vorschub leistet, verbinden. Die kritische Readressierung im Rahmen publizistischer Möglichkeiten kommt zu der Zeit schon bzw. noch bevorzugt aus den eigenen Reihen. So unterläuft etwa Christian Thomasius mit seinen Monatsgesprächen nicht nur die in seinem Sinne bornierte Lingua Franca der Gelehrsamkeit, das Latein, mit der Nationalsprache Deutsch, um an den Umschriften des akademischen Feldes von innen her mitzuwirken. Sondern es sind auch die auf andere Publika als allein akademisch Gelehrte eingehenden Textformen seines Projekts, welche den Unmut anderer Gelehrter erregen.151 Zweifach auf kritische Weise tangiert, vom Faktor der Historisierung und der gesellschaftlichen Relativierung, ergeben sich im 18. Jahrhundert dann fortgesetzt neue Szenarien einer ›Unzeitgemäßheit‹ für den professionellen Umgang mit den Möglichkeiten der Zeitungen. Nicht mehr nur die Weltläufigkeit mit immer noch exklusivem Bildungsvorzeichen, sondern insbesondere auch die Popularisierung von Wissen und damit dessen Popularität selbst wird zur positiven Maxime auf dem Feld der Zeitungskommunikation.152 Spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts ist die anthropologische Fundierung des gesellschaftlichen Umlaufs von Wissen ›für alle‹ in zahlreichen positiven Selbstbeschreibungen von Zeitungsmachern angekommen. Lessing formuliert diesen Konnex zwischen Zeitung und Wissen 1755 als eine generalisierte, sozial breit fundierte Alltäglichkeit, die er anderen Gelehrten ins Stammbuch ihrer Zeitungstätigkeit schreiben möchte: Der Verfasser will die Welt bereden, daß Zeitungsleser gewisse Naturgaben, gewisse Kenntnisse in der Genealogie, in der Wappenkunst, in der Weltbeschreibung, in der Geschichte, und wer weiß noch worinne haben müßten. Allein, mit seiner Erlaubnis, das ist grundfalsch. Wer ein wenig Neugierde besitzt und das wenige Geld daran wenden will und kann, ist ein vollkommener Zeitungsleser; welches hiermit zur Nachricht dienet!153
Eine mit Lessings bündigem Bescheid in etwa zeitgleiche Äußerung eines Universalgelehrten alter Art, Johann Andreas Fabricius, nimmt die dennoch mögliche 151 152 153
Vgl. zu Christian Thomasius Monatsgesprächen Jaumann. Bücher und Fragen. Hier sind besonders die Moralischen Wochenschriften tätig; vgl. dazu die Arbeiten von Wolfgang Martens und Holger Böning. Gotthold Ephraim Lessing, zit. n. Die Zeitung. S. 108.
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IV. Fama auf der Spur: Der gelehrte Zeitungsdiskurs
Gegenposition ein, die die Exklusion verfolgt. Fabricius geht in seiner Historie der Gelehrsamkeit von 1752 auch auf die gelehrten Journale und deren Nützlichkeit ein und gibt die gängigen bibliographischen Hinweise und Empfehlungen. Daran koppelt er ein sprechendes Begehren nach ›Ausmerzung‹. Es ist das Komplement jener Nachricht, wie sie Lessing für die Zeitung und die Zeitungskommunikation verfasst; beide Nachrichten sind auch kulturpolitische Einsätze, die symmetrische und asymmetrische Kommunikationsverhältnisse unterschiedlich bewerten: Journale sind Schriften, welche Stückweise herauskommen, und insonderheit gewisse Theile der Gelehrsamkeit betreffen. Sie sind von verschiedener Gattung [...], die meisten enthalten Recensionen von Büchern, und dieses sind die nützlichsten, andere erzehlen gewisse Begebenheiten und Erfahrungen und diese sind gleichfalls von gutem Nutzen, andere bestehen aus Abhandlungen gewisser gelehrten besondern Materien, unter diesen sind die Moralischen die geringsten und mehr vor einen Zeitvertreib des gemeinen Mannes und des gelehrten Pöbels zu achten, da in den meisten eine ungesunde Moral herrschet und viel gezwungenes gekünsteltes Wesen vorkommt, wenn ein eingebildeter starker Geist sehr scharfsinnig zu moralisiren sich bemühet, aber von der Ausübung einer vernünftigen Moral sehr weit entfernet ist. Und wenn es bey mir stünde, so würde ich einen grossen Haufen aus der Zahl der gelehrten Monatsschriften ausmerzen und nur diejenigen übrig behalten, welche zur Historie der Gelehrsamkeit und ihrer Theile durch zuverläßige Nachrichten etwas beytragen. Denn diejenigen, deren Verfasser uns mit ihren unmaßgeblichen Einfällen, Spielen des Witzes, und oft erbarmenswürdigen Urtheilen unterhalten, schicken sich vor keine Gelehrte, als welche nicht nöthig haben von andern Urtheile zu entlehnen, sondern im Stande seyn müssen selbst zu urtheilen, aber historische Nachrichten anderer, wenn sie gut und zuverläßig sind, ungemein sich zu Nutze machen können.154
Mit dem Anspruch, dass Journale nur »gewisse Theile der Gelehrsamkeit« betreffen sollten, lassen sich auch viele in den eigenen Reihen erschlagen, die sich auf verdächtige Weise mit ihren Projekten dem »gemeinen Mann« oder dem »gelehrten Pöbel« andienen. Die Identifizierung solcher Zeitungsprojekte als »grosser Haufen« schiebt diese auf die entdifferenzierte Außenseite exklusiver Schriftproduktion, die den Binnenraum der Professionellen kennzeichnen sollte. Bezeichnend an einer solchen Stellungnahme wie derjenigen von Fabricius aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ist in der Linie der Distanznahmen gegenüber Famas Medium weniger die Polemik, denn diese ist topisch, als der Umstand, dass auch ein konservativer Gelehrter sich im akademischen Genre der Gelehrtenhistorie mit der Praxis der Moralischen Wochenschriften oder der Intelligenzblätter öffentlich auseinandersetzt, wenn er für seine Zunft über Zeitungen schreibt. Parallel zu solchen unwilligen Abwehrgesten etablieren sich seit der Frühaufklärung die vielen Zeitungsprojekte, begleitet von Selbst- und Fremdbeschreibungen, die eine Idealisierung der in der gelehrten Republik verborgen liegenden Schätze vornehmen und auf die Notwendigkeit hinweisen, diesen Vorrat endlich unter das Volk zu bringen. Die vielen Medien und Kommunikationen sollen frei 154
Johann Andreas Fabricius. Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Bd. 1. Leipzig 1752 (Ndr. Hildesheim/New York 1978). S. 849f.
IV.5. Universelles Archiv und Kommunikation
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zirkulieren und als vielfach angereicherte Summen des gemeinen Besten wieder zusammengetragen werden. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gehört der kollektive Nutzen umlaufenden Zeitungswissens zur ebenfalls topisch instruierten positiven Zeitungskritik. Allerdings ist auch diese nicht frei von vorausgesetzten und erzeugten Asymmetrien zwischen Autoren und Publika, insofern diese als das Objekt der Belehrung erhalten bleiben, gerne verbunden mit einem ideologischen Rekurs auf das eigenen Können und Wollen und den gemeinen Nutzen. So kündigt etwa ein Herausgeber seinen Plan zu einer gemeinnützigen Journalgesellschaft von 1770/71 unter folgender Rahmung an, die nun schon die feinen Unterschiede zwischen »wahren Gelehrte[n]« und »Liebhabern« thematisiert. Die Erschließung der Schätze ist nicht nur gemeinnützig, sie verspricht auch sozialen Zugewinn denjenigen, die sie zu heben verstehen: Man kann sich das Reich der nützlichen und angenehmen Wissenschaften füglich unter dem Bild einer unumschränkten Gegend vorstellen, in welcher uns, auf jedem Schritt, die herrlichsten Gewächse, die schönsten Früchte begegnen [...] – als ein Reich, das, außer einer unzählbaren Menge sichtbarer Schönheiten, noch eben so viel verborgene Schätze in sich verschlüßet, das täglich durch neue Früchte verschönert, durch neue Quellen bereichert wird; in welchem uns immer neu zu entdeckende Seltenheiten angeboten werden. Jeder Geschmack findet hier etwas zu seiner Befriedigung. [...]. Der wahre Gelehrte ist in diesem gesegneten Reiche zu Hause. Die Liebhaber der Wissenschaften sind die willkommnen Gäste, denen alle vorräthige Schätze, alle neuentdeckte Kostbarkeiten, mit rühmlicher Gastfreyheit, angeboten und zum willkührlichen Genuß überlassen werden. Durch gute Anführung vernünftiger Bewohner dieses Paradieses für menschliche Seelen werden die Fremdlinge in den Stand gesetzt, den verführerischen Reizen blätterreicher, aber fruchtloser Bäume auszuweichen, sich von den trüben Quellen immer weiter zu entfernen, allen Blendungen zu widerstehen, allenthalben Kerne statt leerer Schalen, durchgängig die kläresten und heilsamsten Quellen zu finden.155
Auch solche Universalisten kennen Unterschiede zwischen nützlichen und unfruchtbaren Zeitungsprojekten und schätzen den Distinktionsgewinn. Eine selbstreflexiv gewordene Zeitungskritik auf allen Ebenen gehört aber bereits zu den zeittypischen Erscheinungen seit dem mittleren 18. Jahrhundert. Die Formbeobachtungen an der Zeitung verfolgen kommunikationspolitische Verhältnisse und das symbolische Kapital, das die Zeitungen in Bewegung setzen. Zeitungstheorie schließt mit Gründen kulturpolitisch generalisierbare Argumente ein, die Kommunikation und Medien insgesamt betreffen, aber im Blick auf die Zeitung repräsentativ vorgeführt werden können.
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Daniel Martini. Plan zu einer gemeinnützigen Journalgesellschaft. In: Mannigfaltigkeiten. 2. Jg. 76ste Woche. 9ten Februar 1771. S. 367–392. Hier S. 367f.
V.
Zeitungskritik als Kulturkritik
V.1.
Vorbemerkung zur Zeitungstheorie im 18. Jahrhundert
Wie in den vorausgehenden Kapiteln gezeigt wurde, reflektiert schon die Zeitungstheorie des 17. Jahrhunderts, dass Zeitungsproduktion und -rezeption nicht allein in die Zuständigkeitsbereiche von akademischer Gelehrsamkeit und höheren Ständen fallen. Sondern der Umstand, dass Form und Funktionalität des Mediums auf spezifische wie übergreifende Kontexte bezogen sind, impliziert, dass generell vielerorts über die Zeitung nachgedacht wird. Angesichts der Gemengelage ihres Gegenstandes bleibt Zeitungstheorie auch in der Folgezeit Gelegenheitsschrifttum, das den vielseitigen Pragmatismus des Formats Zeitung kommentiert. In den 100 Jahren zwischen Kaspar Stielers Monographie über Zeitungs Lust und Nutz von 1695 und der neue Akzente setzenden Schrift des Staatswissenschaftlers Joachim von Schwarzkopf Ueber Zeitungen von 1795 erscheint eine große Menge kürzerer gelehrter Abhandlungen. Daneben gibt es private Einschätzungen, etwa in Briefen, und auch literarische Bearbeitungen des Themas, nicht zuletzt am Ort der Zeitung selbst. Dieses verstreute Schrifttum zeigt die anhaltende Auseinandersetzung mit dem Medium.1 Den größten Anteil an Zeitungskommentaren stellen im 18. Jahrhundert die Ankündigungen, Vorreden, Pläne und Programme, die sich auf realisierte wie in der Planung verbliebene Zeitungs- und Journalprojekte beziehen. Der einmal angesponnene Gedanke, dass alle Spielarten der Form Zeitung eine gesellschaftliche Herausforderung darstellen, wird dabei fortgeführt. Die zeitungskritischen Beiträge thematisieren zumeist in konventioneller Weise die positiven und negativen Seiten ihres Gegenstandfelds,2 spiegeln aber auch in Verbindung mit Zeitungsprojekten unterschiedliche Möglichkeiten, performativ auf die Ordnung des Wissens einzugehen. Der Bestand an wiederkehrenden Urteilen über die Zeitung dient im Sinne der Topik noch als Findungslehre für gesellschaftliche Urteilskraft, die das Phänomen Zeitung einschätzt. Diese Beurteilungskunst erlaubt es, sich zu einem Proteus Zeitung, für den sich große Teile der Schriftkultur auch praktisch 1 2
Vgl. dazu die Quellensammlung Die Zeitung. Vgl. dazu Groth. Die Geschichte. Groth zeigt für den Zeitraum vom frühen 18. Jahrhundert bis zu Schwarzkopfs Schrift von 1795, welche der überkommenen Urteile gängig bleiben.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
interessieren, in ein dezidiertes Verhältnis zu setzen. Schon in der Zeitungskritik des späten 17. Jahrhunderts zeichnet sich ab, dass diese mit einer allgemeinen Kulturkritik verschränkt werden kann, weil Medien wie die Zeitung als kulturelle Artefakte verhandelbar sind. Im Rahmen von Kulturkritik werden Zeitungen und Zeitschriften so einerseits als Sonderfall allgemeiner Kommunikationsverhältnisse angesprochen, andererseits ist zu sehen, dass die periodische Publizistik als repräsentativ für generalisierte Einsichten in Kommunikationsverhältnisse genommen wird. Die eingespielten Zeitungsurteile werden in den Kontexten allgemeiner Kommunikations- und Kulturkritik vielleicht deshalb lange weitergeschrieben, weil das Was und Wie von Famas Medium in ihrem gesellschaftlichen Gebrauch als äußerst vielfältig erfahren werden und die Gesamtheit ihrer Formausprägungen in der Genese partiell als undurchsichtig gilt. Es existiert eine Art kompensatorischer dogmatischer Furor, der die Zeitung in ihren heterogenen Rahmungen durch Wissenschaft, Politik und Kunst ethisch befragt. Der Zeitungsdiskurs, der die Theorie des Periodikums voranbringen möchte, bleibt eine Baustelle, auf der Kritik und Antikritik sich reiben. Viele tragen hier etwas bei und vertiefen so die Einsicht in die Zusammenhänge von Geschichtsabläufen, gesellschaftlicher Interaktion und kommunikativer, Medien gestützter Selbstverständigung. Die wichtigsten Funktionsstellen dieses Diskurses sind zunächst noch mit der Trias Medium, Autor und Publikum gegeben. Hierin ist Zeitungstheorie nicht origineller als andere Diskurse des 18. Jahrhunderts. Daneben ist es die Spezifik zeitungstheoretischer Reflexionen, dass diese Text und Medium in ein selbstbezügliches Kommentarverhältnis bringen. Zeitungstheorie gewinnt ihre eigenen Konturen im Austausch mit Poetik, Rhetorik, Historik und Ästhetik, wo Theorieangebote für Formbestimmungen vorliegen. Angesichts der Evidenz einer Lücken aufweisenden Textur und zufällige Nachbarschaften herstellenden Form Zeitung geht es nicht zuletzt um eine Provokation von Geschichts- und Literaturtheorie. Gerade im Blick auf die Pluralität von Zeitungen und Zeitschriften, die auf gesellschaftlichen Pluralismus verweist, stellt sich auch hier immer dringlicher die Frage, wie es um die Domestizierung von Zufall und Kontingenz durch Formgebung aussieht. Unter den Prämissen frühneuzeitlicher Erkenntnistheorie und heilsgeschichtlicher Einbettung alles Geschichtlichen sollte auch die Zeitung Kontinuitäten ausstellen; verlangt wurde aber nicht, dass Zeitungstexte und die Ordnung des Mediums den Zusammenhang der Dinge bis ins Detail belegten. Nun verändert sich die Einstellung gegenüber der sprung- und lückenhaften Textur des Mediums. Diese kann, unter den neuen Annahmen einer auf das Ganze zielenden Geschichts- und Kunsttheorie als ein defizitäres Darstellungsformat thematisiert werden, das den Zusammenhang des Ganzen schwer oder gar nicht vermittelt. Schon in der Zeitungstheorie des späten 17. Jahrhunderts, etwa bei Peucer, deutet sich dabei an, dass Medien-Textur und Text-Textur den Geboten unterschiedlicher Ökonomien folgen. In der Fortführung dieser Perspektiven können dann Texttheorie und Kommunikationstheorie für die Perspektivierung
V.1. Vorbemerkung zur Zeitungstheorie im 18. Jahrhundert
209
der Zeitung auseinandertreten respektive in einer widersprüchlichen Medientheorie der Zeitung vereint bleiben. So besitzt die Zeitung mit ihren zur Schau gestellten Spuren von Kontingenz und Lücken im Wissen eine Form, die sich der Konzeptualisierung der Einheit von Geschichte widersetzt. Diese Form vermag deshalb die pragmatische Historik des mittleren und die Geschichtsphilosophie des späteren 18. Jahrhunderts nachhaltig zu irritieren. Das Prinzip Zeitung lässt sich negativ auf seine Heterogenität und zerstreute Vielfalt hin beobachten, zugleich erbringt die Form den positiven Nachweis, dass Kommunikation ein operatives Prinzip ist, um Vieles in neue Verbindungen zu bringen. Die Medienkritik an der Zeitung stellt sich in diesen Konstellationen als ein Vehikel für negative und positive Kulturkritik heraus und belegt so die innere Affinität von Medienund Kulturkritik, die die Argumente der Zeitungskritik des 18. Jahrhunderts mehr und mehr einholt.3 So operiert ihr Diskurs mit chiastischen Verschränkungen von Text und Medium: Was die Darstellungskompetenz von Text-Textur zu schließen verspricht, kann von der Medien-Textur unterlaufen werden; wo Texte unterbrochen oder abgebrochen werden, verspricht das Periodikum fortgesetzt Anschlusskommunikation. Die Form Zeitung wird so in positiven wie negativen Effekten beobachtet; Zeitungstheorie bindet sie an geläufige Sinn- und Theorieangebote der Schriftkultur wie sie ebenso mit Blick auf die Eigenheiten der Zeitung diesen widerstreitet. Zeitung kann etwa öffentliche Kommunikation einheitlich beliefern und kollektive Entitäten überhaupt erst herstellen. Dieses Konzept nimmt allerdings eine andere Art von virtueller Ganzheit in den Blick, als sie in Darstellungsverfahren mancher Texte oder auch in der Einheit Buch aufgesucht wird. Der reihende Eklektizismus der Zeitung passt sich funktional dem Rationalismus und progressiven Selbstverständnis der Aufklärung an. Von jedem hier publizierten Text kann als einem kulturell kodierten Zeichen erwartet werden, dass er über den allgemeinen Progress in der Geschichte benachrichtig. Es bleibt aber die mitlaufende Irritation erhalten, dass dasjenige, was Fama in den Zeitungen ausstreut, ebenso auf allgemeine Zerstreutheit und ein verdächtig flüchtiges Informationsund Unterhaltungsinteresse verweist. Die universalistisch, inklusiv gedachte Einheit des gemeinsamen Besten und dessen Fortschritt drohen im Vielen immer auch verloren zu gehen. Als Folge einer dann doch nur halben Emanzipation von den historiographischen und literarischen Theorien für das Ganze und seine Medien gerät die Zeitung als heterogenes Tagesarchiv der Kommunikation schließ-
3
Zum historischen Verhältnis von Medien- und Kulturkritik vgl. Stanitzek. Fama/ Musenkette. Die Verbindung von Medien- und Kulturkritik schreibt sich im Diskurs über die Masse fort; vgl. Hannelore Bublitz. In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld 2005; für ein neues Denken der Diskontinuitäten (nach einem Diktum von Michel Foucault) in heutiger Mediengeschichtsschreibung plädiert Helmut Schanze. Mediengeschichte der Diskontinuität. In: MedienRevolutionen. Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung. Hg. von Ralf Schnell. Bielefeld 2006. S. 185–201.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
lich in den kritischen Blick der Geschichtsphilosophie des mittleren und späten 18. Jahrhunderts. Deren Universalismen gipfeln in der Idee der einen Menschheitsgeschichte, die das vielfach Zerstreute bündeln soll. Diesem spekulativen Auftrieb von Geschichte, Kultur und Gesellschaft in der geschichtsphilosophischen und ästhetischen Grundlegung von (textgebundenen) Darstellungsformen steht das Medium Zeitung, das eine nur lose Koppelung des kommunikativ Verstreuten vorsieht, als ein Vertrautes und zugleich Anderes gegenüber. Dabei eignet sich die Zeitung auf ihre Weise Formen ihrer Umwelt an. Auch ihr geht es dabei oft um Kompensationsgesten, die den zeitungstypischen Mangel an Zusammenhang der Einzeleinträge semantisch und funktional ausgleichen sollen, etwa, indem die publizierten Einzelfälle noch besser durch Rubriken oder symbolische Positionierung auf den Seiten gerahmt werden. Oder in der Folge publizierte Zeitungstexte beziehen sich über Quer-, Rück- und Vorverweise aufeinander. Auch einzelne Zeitungsexemplare behaupten sich durch ähnliche oder identische Aufmachung als Teile einer kontinuierlichen Reihe. Titel annoncieren dabei Verjüngungen (»neue«, »neueste«, »allerneueste« Fortsetzungen); ebenso verspricht die seit der Frühzeit gebräuchliche Durchnummerierung von Seiten und Ausgaben Kontinuität. Die unterschiedlichen Textgenres, später auch Bilder, denen das publizistische Format Zeitung aus prinzipiellem Interesse an Vielem Heimatrecht gewährt, partizipieren ihrerseits an der Entwicklung neuer Darstellungsformen, zeigen sich in der Aufmerksamkeit für Anderes zugleich aufgeschlossen für das Neue. An den Schnittstellen von Kultur- und Medienkritik tragen positive und negative Zeitungsurteile zur Fortschreibung einer übergreifenden Hinsicht bei, die sich seit dem Buckdruck als typische Aussage der Medienkritik zeigt: dass die Druckkultur in ihrer Gesamtheit unablässig in nützliche wie schädliche Folgen zerfällt. In idealistischen Lesarten seit dem späten 18. Jahrhundert wird dies zum umfassenden Signum einer in sich gespaltenen Neuzeit, d.h. die gedruckte Moderne wird nun deutlich epochal als Moderne begriffen. Diese Hinsicht betrifft die im Folgenden diskutierten zeitungstheoretischen Einlassungen erst in Ansätzen. Doch bereiten sie in manchen ihrer Argumente schon die geschichtsphilosophischen Umschriften vor, die seit etwa den 1790er Jahren Einzug in die Zeitungstheorie halten. Im Folgenden geht es um Ausschnitte aus der Zeitungskritik zwischen etwa 1730 und 1800, an welchen sich zeigen lässt, dass die Medien- und Kommunikationskritik, die sich auf die Zeitung bezieht, bereits mit allgemeiner Kulturkritik interferiert. Zunächst werden Denkmuster verfolgt, die die Frage nach der Adressierung von Aufmerksamkeit mit der Diskussion über den Transfer von wichtigem und unwichtigem Wissen in den Periodika verbinden. Es lässt sich des Weiteren sehen, dass die Zerstreutheit von Geschichte und Kultur komplementär zu der Möglichkeit bedacht wird, eine zirkulatorische Vernunft zu organisieren, die die Wörter und die Sachen zielgerichtet vernetzt. Schließlich werde ich die Zeitungstheorie von Joachim von Schwarzkopf von 1795 als Versuch lesen, die Zeitungspolemik hinter sich zu lassen und die Debatte im Kontext
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politischer Rahmung der Zeitungskommunikation zu versachlichen. Schwarzkopf sucht über statistisch-ökonomische Überlegungen einen sachbezogenen Zugang auch zu den infrastrukturellen Bedingungen von publizistischer Interaktion. Der Preis dieser der Sache dienenden Ernüchterung ist allerdings der politische Opportunismus des auf den Staat verpflichteten Beamten. Schwarzkopfs Zeitungstheorie markiert den Übergang zum neuen zeitungstheoretischen Denken, das den Staat als das handelnde Subjekt einer vernünftig eingreifenden Zeitungspolitik begreift.
V.2. Die Adressierung von Aufmerksamkeit Der zerstreute und ausschweifende Zeitunger, der kursorisch verfahrende, abschweifende Leser und die Heterogenität ausstellende Zeitung bilden, so sieht es die Zeitungstheorie der Frühaufklärung, einen Kommunikationsverbund, der mimetisch verfährt. Zerstreuung und Ausschweifung sind charakterologische, negative Komplemente eines ständig wechselnden Informationsangebots der Zeitungen, das aber zugleich so nützlich ist, weil es unterschiedliche Kommunikationsinteressen bedient. Das zerstreute ist zugleich das gestreute Wissen; Formen der Wissensarchivierung und -kommunikation werden von der Zeitungstheorie in unterschiedlichen Werthierarchien bedacht. Neben die Idee der enzyklopädischen Archivierung, die vollständige Erfassung des in der Geschichte Geleisteten, treten im 18. Jahrhundert Konzepte des Ganzen, die neue Arten der Einheitsbildung versprechen: die Geschichte, die Gesellschaft, die Bildung, der Geschmack, der Autor oder das Werk. Universalität wird in diesen Konzepten von einer quantitativen zu einer qualitativen Hinsicht, die gesellschaftliche Sinnstiftungsprozesse begleitet. So auch in der Zeitungstheorie, die auf ihre Weise Übergänge zwischen quantitativen und qualitativen Lesarten von Einheit, Ganzheit oder Disparatheit und Zerfall verfolgt. Die Form der Zeitung regt dazu an, die Verhältnisse zwischen dem Allgemeinen und dem Ganzen zu bedenken und das Zerstreute mit dem nachlässigen Umgang mit Aufmerksamkeit zu verbinden. Und schließlich ventiliert die Zeitungskritik Facetten der individuellen und kollektiven Produktion und Rezeption von Wissen. Das bereits in den Diskussionen vor 1700 anthropologisch eingeführte Anliegen, alle Menschen über die Zeitung an Wissen teilhaben zu lassen, findet sein symbolisches Korrelat in der Form der Zeitung, die die Unterschiede zwischen der Präsentation des Vielen und von Allem publizistisch ins Schwimmen bringt. Wissenshistorisch gesehen steht die Zeitung als nachweisliche Form zerstreuter Differenzen im 18. Jahrhundert im Widerstreit mit Ansätzen, die die Idee des kollektiv erzeugten Allgemeinen für Projekte nützen wollen, die Entdifferenzierung im Blick haben. So wird die Zeitung im Kontext von zunehmender Ausdifferenzierung zugleich als Medium von Kollektivierungsprozessen mittels Wissenszirkulation angesehen. Damit stellt die Zeitung nicht nur eine Form für die strukturelle Bewältigung von Kollektivie-
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
rungs- und Differenzierungsprozessen zur Verfügung, sondern ihre Form wirft immer wieder die Frage auf, wie es um die Beziehung zwischen Vereinheitlichung und Differenzierung bestellt ist. Da die Zeitung über das publizistische Datum ›Gegenwart‹ herstellt, bewirkt sie für beide Seiten – kollektive Differenzierung und differenziertes Kollektiv – Realitätseffekte.4 Niklas Luhmann hat die kollektiv verankerte und medienbasierte Synchronizität des Wissens als die Voraussetzung und zugleich den Effekt von Weltgesellschaft bestimmt. Deren Realität, so Luhmann, verdanke sich der modernen Massenmedialität: Die Weltgesellschaft braucht und besitzt in den Massenmedien ein Instrument der Sofort-Integration, der Herstellung gemeinsamer Aktualität [...]. Sie wird aggregativ integriert durch die Unterstellung einer gemeinsamen Realität und durch das Gefühl des Dabeiseins [...]. Ihre gesellschaftliche Primärfunktion liegt in der Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität, oder genauer gesagt, in der Erzeugung einer solchen Unterstellung, die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird.5
Zu fragen wäre aber, ob diese vielschichtige Fiktion, dass aktuelle Wissensarchive kollektive Verbindlichkeiten herstellen, auf semantischem Wege Integration (über gemeinsame Kommunikate) versprechen und so nachhaltige Realitätseffekte produzieren, nicht schon die Beschreibungen betreffen, die die Zeitungstheorie des 18. Jahrhunderts für den Zusammenhang von Medien und Kollektiven verfertigt.6 Nicht nur die historisch-politischen Zeitungen, sondern auch die gelehrten und populären Journale der Aufklärer geben ja immer wieder vor, das Wichtigste für Alle zu publizieren, wobei die universalistische Ausrichtung nach unterschiedlichen Leitmaximen durchaus differenzierte Programme mit sich bringt: Zeitungen für die politisch Interessierten, aber wer wäre nicht vom Feld des Politischen betroffen, für die an Wissen Interessierten, und wer wäre das nicht, für die moralische Integration, und wer könnte sich dieser entziehen, für die Welt, und wer möchte sich hier ausschließen. Diese operativen Fiktionen, die Einschluss und Ausschluss organisieren, werden in den synchron arrangierenden
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So wird jene Gegenwart der Medien- und Ereigniskultur hergestellt, gegen die Kulturkritiker wie George Steiner anschreiben: »Journalistische Darstellung erzeugt eine Zeitlichkeit gleichwertiger Augenblicklichkeit. Alle Dinge sind von mehr oder weniger gleicher Wichtigkeit; alle sind nur von Tageswert. [...] Die Folge ist eine sonderbare Dialektik falscher Unmittelbarkeit.« George Steiner. Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen noch Inhalt? Nachw. von Botho Strauß, übers. von Jörg Trobitius. München 1990. S. 44. Niklas Luhmann. Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: Die elektronische Revolution. Wie gefährlich sind die Massenmedien? Hg. von Oskar Schatz. Graz/Wien/Köln. 1975. S. 13–30. Hier S. 28. Hinsichtlich empirischer Gerüchte- und Nachrichtendistribution im 18. Jahrhundert schätzt auch Brendan Dooley. Die Entstehung von Gleichzeitigkeit im europäischen Bewusstsein auf der Grundlage der politischen Nachrichtenpresse. In: Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Hg. von Astrid Blome und Holger Böning. Bremen 2008 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge) S. 49–66, es so ein, dass hier bereits Gleichzeitigkeit in der historischen Kommunikationsgesellschaft hergestellt würde.
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Wissensquerschnitten von Zeitungsausgaben auf je unterschiedliche Weise ihrer publizistischen Realität zugeführt und stimulieren mit diesem Realitätsgehalt die kritische Nachfrage der Zeitungsbeobachter. Realistischerweise werden also die publizistischen Maximen immer wieder unterlaufen: Nicht alle publizierten Entitäten arbeiten in gleicher Weise der fiktiven Summe eines Allgemeinen oder Ganzen einheitlich zu und längst nicht Alle lesen Alles. Doch scheint es dennoch darum zu gehen, regelmäßige gleichzeitige Teilhabe und gleiche Nähe aller Teilnehmenden zum Publizierten herzustellen. Schließlich greift noch der Faktor Zeit, der die Programme und ihre Realisierungen ständig neu verschiebt. So wird das Synchronizitätsverlangen im Rahmen gemeinsamer Partizipation an Aktualität ebenfalls von den Spuren der Zeitlichkeit durchkreuzt: Vielleicht nur lesen alle Alles und vielleicht nur gleichzeitig. Hier setzt die Zeitungskritik an, der es ein Leichtes ist, die Verfehlungen angesichts der publizistischen Maximen und ihrer Maximalforderungen zu beobachten. Bevorzugter Reflexionshorizont bleibt dabei die Person als Medium der Adressierung von Aufmerksamkeit. Die Konzepte personalisierten Zeitungshandelns knüpfen auch noch im späten 18. Jahrhundert an die rhetorischen Fassungen einer personalen Ethik an, die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts entworfen wurden. Die ›Person‹ spielt weiterhin an drei argumentativen Orten in der Zeitungstheorie eine wichtige Rolle: Am Ort des Zeitungsmachers, am Ort des Lesers und in den Zeitungsmaterien, den Ereignissen, die mit Handlungsträgern verbunden sind. Bei der Einschätzung des Publizisten ist es ein standardisiertes Argument, dass dieser für die Opazität bruchstückhafter Informationen und deren teilweise ausgeblendete Ursprünge nicht einzustehen brauche. Dennoch kann sich die professionelle Persona des Publizisten einer öffentlichen Verantwortung gegenüber dem von ihm Gedruckten nicht entziehen, gerade weil er die Öffentlichkeit auch als Forum für seine Sache nutzen könnte. Der gespaltenen Sicht auf die zwischen bloßer Übermittlungsfunktion und Verantwortlichkeit agierenden Zeitungsleute entspringt der komplementäre Verdacht, dass die Sache des kollektiven Öffentlichen in einen publizistischen Missbrauch umschlagen kann, der öffentlich macht, was allein ein individuelles, zufälliges Interesse ist. Und ob und wie das Gemeinwohl sich dann überhaupt publizistisch manifestieren könne, wenn doch in dem einem so gut wie in dem anderen Blatt behauptet wird, dass hier die öffentliche Stimme zum allgemeinen Besten rede, wird zu einer der herausragenden zeitungskritischen Fragen des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass die Presse im Allgemeinen sich der bloßen Meinungsbekundung andiene, statt das Wohl des imaginären Kollektivs im Auge zu behalten, wird darin zur politischen Frage an die Publizistik schlechthin, die als vierte Macht eine eigene Politik der Stimmen verfolgt. Zur negativen Zeitungskritik gehört auch die Einschätzung, dass im publizistischen Medium der Zeitung eine kollektive Stimme zur Erscheinung kommt, deren Entstehung nie endgültig geklärt werden kann. Das Ethos der Selbstverpflichtung, als Publizist persönlich verantwortlich und sorgfältig gegenüber der Allgemeinheit zu handeln, scheint
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das Antidot der unheimlichen Stimme des Kollektiven zu sein, die sich im Medium Zeitung äußert. Die publizistisch erzeugte allgemeine Stimme ist eine schwer beherrschbare Größe, die immer droht, ihren Urhebern davonzulaufen und sich zu verselbständigen. Als publizistisch hergestellte Öffentlichkeit ist diese aber auch eine begehrenswerte Alternative gegenüber jedem privatem Arkanum, das sich verbergen möchte. Das von der Zeitungstheorie beobachtete Ineinander von kollektivem Szenario und personaler Interaktion in der Zeitungspublizistik hält mit zahlreichen Rückkopplungen die Verantwortlichkeit und Verantwortbarkeit von Publizistik in einem prekären Status. Eine Äußerung wie die folgende von August Ludwig Schlözer von 1804 vermischt die überkommenen Einstellungen gegenüber den unzuverlässigen Zeitungsmachern mit den neuen Perspektiven auf die zwiespältigen Effekte publizistischer Kollektivierung: So arg ist die ZeitungsLeseWut in Deutschland zwar noch nicht: aber mächtig ist doch der Einfluß deutscher Zeitungen auf unsere Nation, die in Sprache, Ideen und Gesinnungen gebildet und verunbildet wird. Der niedere Teil von ZeitungsLesern leidet am meisten hierbei; und da derselbe die Mehrheit ausmacht, so verdiente er in den Notund Hilfs-Büchlein, eigens und faßlich, in der Kunst, Zeitungen zu lesen, unterrichtet zu werden. Man sagt ihm z.B., wer der ›man‹ sei, der so oft in den ›man sagt‹ als Erzähler importanter Neuigkeiten auftritt? Gewiß oft ein unbedeutender, unbekannter Mensch im Kaffehaus, auf dessen Geschwätz ein Correspondent in einer Ecke lauernd horcht, und es mit abgehender Post an die ZeitungsExpedition zum Druck einsendet. Man warne ihn (den ZeitungsLeser von den untern Classen) den Aufsätzen nicht schlechthin zu glauben, in denen der allgemeine Jubel beschrieben wird, in dem ein ganzes Land seinem neuen ihm aufgedrungenen Regenten, zum Hohn des vorigen, aufgenommen habe. Möglich, daß der allgemeine Jubel eine platte Erdichtung wäre; möglich auch, daß blos ein Dutzend deutscher Lazaroni den Jubel für einen Conventions-Taler angestimmt hätten [...].7
»Der man« spricht mit, wenn publizistisch agiert wird, und er spricht auch mit, wenn über das Publizierte an anderen Orten weiter kommuniziert wird. »Man« spricht letztlich überall mit: Sowohl auf Seiten derjenigen, die ernsthaft das Allgemeine im Blick haben, als auch bei jenen, die die Allgemeinheit mit ihrer ungeläuterten Meinungs- und Sensationsmache überziehen wollen, und schließlich bei Rezipienten, die in personaler und anonymer Interaktion fortsetzen, was in den Zeitungen anhebt. Die Unregelmäßigkeiten eines neugierigen wissen Wollens oder einer Haltung des nicht genauer wissen Wollens oder eines Wissenshungers, der mit seiner Aufmerksamkeit auf die glänzenden Oberflächen anspringt, widersprechen der Idee gleichmäßig strukturierter und geregelter Teilhabe, und so wird die diffuse Seite der Leserschaft mit unterschiedlichen moralischen und sozialen Markierungen versehen. Die Annahme, dass es Leser gibt, die lesen und kommunizieren, ohne nachzudenken, ist nicht nur ein topisches Argument, das den erzieherischen Einsatz vieler Aufklärer geradezu herausfordert. Sondern die
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August Ludwig Schlözer. Theorie der Statistik, nebst Ideen über das Studium der Politik überhaupt. Göttingen 1804. S. 78f., zit. n. Rühl. Publizieren. S. 136.
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Zeitungsbefürworter, die im Wissensumlauf die Produktion des summum bonum verfolgen, müssen ebenso gut damit rechnen, dass ein großes malum im Umlauf bleibt, das auf dieselben publizistischen Mittel zugreift. Das ist die skeptizistische Lehre der Zeitungskommentare, die den gesellschaftlichen Streit über die Zeitung seit deren Anfängen begleitet. Schlägt man nach, was die mittlere Aufklärung zu Aspekten von Zirkulation zu sagen hat, wird die Affinität zu Argumenten in der Zeitungstheorie und die darin bearbeiteten Schnittstellen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit schnell erkennbar. Bei den antiken »Circuli«, so heißt es in Zedlers UniversalLexikon, handelte es sich um Zusammenkünffte, wenn einige gute Freunde auf denen Gassen, Märckten, oder auch wohl an einem andern Orte zusamen kamen, und ein Gespräch mit einander hielten. Weil nun die Männer bey dergleichen Gespräche sich gerne im Creiß setzten, oder stunden, nennete man solche Circulos. Unsere heutige Assembléen finden einen großen Vergleich mit ihnen.8
»Circulatores« hingegen waren Land-Streicher, so überall herum giengen, sonderlich aber auch sich in dem Circo (davon sie auch vielleicht den Namen haben) sehen liessen, und denen Leuten allerhand Gauckel-Possen vormachten. Z.E. Sie trugen sich mit lebendigen Schlagen, aßen Degen und Spiesse gantz hinter, betrogen die Leute mit Würffeln und Kugeln sc.9
Diejenigen, die das Volk auf besondere Weise anziehen, sind gerade solche, die im Volk so gerne umherziehen und in ihrer unterhaltsamen Art sich als Famas Fußvolk in Erinnerung bringen: fahrende Leute, Schausteller, Hergelaufene, kurz, im Sinne des ›ordentlichen‹ 18. Jahrhunderts, Betrüger aller Art. Formen der Zirkulation und ihre Zirkulatoren, die sich im Kontext des Kollektivs ihrer genaueren Festsetzung entziehen, verweisen auf einen kulturkritischen Subtext für Publizistik, der im 18. Jahrhundert über Bewertungen von Famas Medium präsent gehalten wird. Ein anderer Eintrag aus diesem wortgeschichtlichen Umfeld in Zedlers Universal-Lexikon zeigt, wie gelehrtes Wissen mit den populären Seiten von Wissensvermittlung interferiert. Von hier aus ist der Schritt zur Kritik an einer allzu großen Popularität von kollektiv erfolgreicher Publizistik, die sich unter das Volk mischt, nicht groß: Agyrta, Circumforaneus, Circulator, ein Storger, Quacksalber, Marcktschreyer, Landund Leut-Betrüger, Schlangenfänger, Wurm-Krämer, der auf den Märckten herumziehet, und seine quacksalberischen Artzeneyen mit vielem Schreyen und Aufschneiden dem ihn angaffenden Volcke anpreiset: In Summa, jeder Pfuscher, welcher wider Wissen und Gewissen die Medicin exerciret, die Leute um das Geld, öfters auch um das
8 9
[Anonym.] Art. »Circuli«. In: Zedler. Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 6. Graz 21994. Sp. 112. [Anonym.] Art. »Circulatores«. In: Ebd. Sp. 111.
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Leben bringet. [...] Das Wort Agyrta kommt her von αγυρέω, populum congrego, das Volck zusammenhäuffen.10
Auch die Zeitungstheorie verfolgt die Begegnungen zwischen typischen Umherläufern und -trägern mit heterogenen Publika und kritisiert die ungeregelte Ausübung von kommunikativer Macht, die die ungeregelten Einbildungskräfte ungeregelter Mengen stimuliert. In diesem Sinne enthalten die Einträge im Zedler’schen Lexikon schon die Stichworte, die in die Theorien der Psychologie der Massenkommunikation im späten 19. und 20. Jahrhundert weiter ausgeschrieben werden: Die Überwältigung der unteren Seelenkräfte durch das Sensationelle und durch Versprechen, die in betrügerischer Absicht auf kollektive Sehnsüchte nach Heilung und Erfolg zielen. Der Missbrauch von Wissen durch das Volk verführende Charlatane ist seit der Antike ein Thema der Kritik an Gelehrten und Schriftkundigen aller Art,11 und auch die Verbindung von kommunikativer Zirkulation und Seuchendiskurs ist im 18. Jahrhundert nicht neu.12 Die angesichts der Zeitungspublizistik vermutete Ansteckung durch das, was zirkuliert, gewinnt allerdings im Kontext der französischen Revolution eine kaum noch zu distanzierende politische Dimension, in der sich die Macht des Öffentlichen zeigt. Gerade Flugblätter und Zeitungen sind die Formate, die hier für viele Beobachter höchst verdächtig agieren, nicht nur auf Grund ihrer Distributionsweisen, sondern auch, weil der Strudel der Ereignisse das symbolisch hoch kodierte Personal der großen Geschichte selbst als ›Menschen‹ erfasst hat.13 So schreibt etwa ein Beiträger in dem vom Freiherrn von Bibra 1791 herausgegebenen Journal von und für Deutschland mit Blick auf Zeitungspublizistik: Man braucht es nicht erst durch scandalöse Anecdoten darzuthun, daß die Erdengötter auch Menschen sind, in Zeiten, da die Lehre von einer allgemeinen Gleichheit, wie eine Seuche, um sich greift.14
In den von öffentlicher Aufmerksamkeit und ihren Medien geschaffenen Foren überlagert sich nun das Private des politischen Menschen mit dem öffentlichen Interesse an seinem Leben: Man überlasse es denen Vies privées, denen Histoires secrettes, die bey dem Tode jedes grossen Fürsten in Menge erscheinen, Sächelchen von der Art zur Kurzweil der Müssiggänger zu sammeln, und enthalte sich in Zeitungen, die zunächst nur Staatshändeln
10 11 12 13
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[Anonym.] Art. »Agyrta «. In: Ebd. Bd. 1. Graz 21993. Sp. 846. Vgl. Košenina. Der gelehrte Narr. Vgl. Olaf Briese. »Gerüchte als Ansteckung«. Grenzen und Leistungen eines Kompositums. In: Die Kommunikation der Gerüchte. S. 252–277. Vgl. zur zeitgenössischen Flugblattpublizistik Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit; zu den chroniques scandaleuses, die im Vorfeld der französischen Revolution aufkamen, Colportage et lecture populaire; Sarah Maza. Private Lives and Public Affaires. The Causes Célèbres of Prerevolutionary France. Berkeley/Los Angeles/London 1993. Schmid. Nothwendige Verbesserung. S. 640f., zit. n. Die Zeitung. S. 137.
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gewidmet seyn sollen, aller Persönlichkeiten. Mancher, übrigens gute, Fürst liebt die Jagd, hält Maitressen, stellt kostbare Feyerlichkeiten an, man gönne ihm seine Erholungen, ohne ihn deshalb dem Publikum zur Schau zu stellen. Ob ein Fürst verschwendet oder spart, ob er durch Lieblinge oder selbst regiert, ob seine Tafel prächtig ist, oder ob er mässig lebt, ob er in Gesellschaften heiter ist, oder ob er alle Gesellschaften flieht, sind Fragen, die gar nicht in Zeitungen gehören. (Gegen allen Anstand war es, als im Jahr 1790 so viele Zeitungen den König von Neapel, den Gast des Kaisers, wegen seiner Leidenschaft für die Jagd den Urtheilen des deutschen Publikums preißgaben).15
Der Umstand, dass das sogenannte Privatleben öffentlicher Personen publizistisch interessant sein kann, weil es kollektive Aufmerksamkeit zu binden vermag, setzt die über bürgerliche Moralvorstellungen mit vorbereitete Trennung zwischen privaten und öffentlichen Anteile des Lebenszusammenhangs voraus. Die Etablierung einer Spaltung zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten ist im Kontext der schottischen und englischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts zu sehen, die ›Mensch Sein‹ und Tugendhaftigkeit miteinander verschränkt haben.16 Als Erkenntnis über die gemeinsame Natur aller Menschen wurde dieser Tugenddiskurs insbesondere über die Moralischen Wochenschriften in das kollektive Wissen eingeschrieben. Erst im Zuge der erfolgreichen Etablierung dessen, was im positiven wie negativen Sinne als das allgemein Menschliche und zugleich intime Private verstanden wird, können die individuellen Fehler und Schwächen der Mächtigen mit jenem öffentlich-publizistischen Interesse rechnen, das wiederum politische Folgen zeitigen kann. Die Zeitunger des späten 17. Jahrhunderts zeigen sich offen gegenüber den neuen Konfigurationen, die sich zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen ergeben. Sie nützen schon die Fama der Personen, über die sie berichten, für die Bindung von öffentlicher Aufmerksamkeit. Fama ist einmal mehr dabei eine moralisch indifferente Instanz für die Herstellung von Öffentlichkeit. Schon Kaspar Stieler berichtet darüber in seinem Buch Zeitungs Lust und Nutz: Ich bin einsmal über einer Fürstlichen Tafel gesessen / da ein junger Prinz als die Novellen abgelesen wurden / zu reden anfing: Gnädige Frau Mutter: Wie mache ich es doch / daß mein Nahme auch in die Zeitungen komme? Die Fürstin antwortete: Mein Sohn / wenn du tuhst was löblich ist / und dermaleins wol regierest / oder deine Tapferkeit im Kriege erweisest: Es werden aber auch / denen Fürsten sehr nachteilige Dinge in die Zeitungen gebracht / davor hüte dich / und schaue wol zu / daß man nichts übels von dir rede oder schreibe / wie vom Pilatus im Credo / oder von demjenigen / der den Tempel zu Ephesus angesteckt hat / nur / daß man von ihm sagen / und sein Gedächtnüs den Schriften einverleiben möchte.17 GOtt behüte dich / mein Sohn / vor Unglück; ich will aber dich lieber ehrlich todt / als bey Leben in Schande wissen. Und
15 16
17
Ebd. Vgl. zur Etablierung des bürgerlichen Moralkonsenses, der die öffentliche Appellationsinstanz für die Kritik an den Fehlern der Mächtigen wird, Koselleck. Kritik und Krise. Dies ist eine der vielen Geschichten, die auch in Geoffrey Chaucers House of Fame erwähnt wird.
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dieser mutige Prinz hat auch leider! Ein Ehren-Grab durch sein allzu frühes Absterben erworben. (LN 45)
Ein »Ehren-Grab« für den früh Gestorbenen, der seinen guten Namen zu erhalten wusste, ist für einen höfisch versierten Gelehrten wie Stieler bestimmt nicht das schlechteste Monument einer Gedächtnisstiftung. Doch auch der Ruhmessucht desjenigen, der sich ›nur gedruckt‹ sehen möchte, leistet die Zeitung bereits Vorschub: Ein ander grosser Herr wünschte ebenmässig in den Zeitungen genennet zu werden / der es auch mit seinen Tugendlichem Verhalten dahin gebracht / daß / ob er wol der Waffen sich entschlagen / dennoch / seines Regiments halber / denen Zeitungen gnugsame Materie von ihm zu schreiben gegeben / und darinnen bis dato von ihm Köstliche Meldung geschiehet. Wann aber ein eitler Sinn sich entblödet / Anstalt zumachen / daß man von ihm singe und sage / was sich doch der Mühe nicht verlonet / der ist billig Ausrauschens wehrt. Die albere Exempel sind vorhanden und mindern solcher Rumrätigen Achtbarkeit bey verständigen Leuten mehr als daß sie dieselbe vergrösserten. (LN 45)
Es geht Stieler um die Achtbarkeit, die in Personen, von denen eine Zeitung berichtet, auf exemplarische Weise vorgeführt werden sollte. In der frühaufklärerischen Zeitungstheorie gibt es zugleich das Verständnis für die Veröffentlichung repräsentativer Details aus dem Hofzeremoniell, jene aulica, deren umfängliche Kenntnis zum politischen Weltwissen gehört.18 So schreibt etwa Christian Weise in seinem Schediasma von 1676: [...] zu dieser Wissenschaft [des Politischen] pflegen auch die Vorgänge am Hofe gerechnet zu werden, die zwar in bloßen, und wie einige ungerecht urteilen, in leeren Zeremonien bestehen; indes können sie wegen der Verbindung, die sie zu den heilsamsten Staatsgeschäften haben, niemals der Beachtung der Klugen entgehen. Hier findet besonders einen Platz das Zeremoniell der Krönungen, bei Leichenfeiern, bei dem Empfang von Gesandten, bei Jubiläen, Geburtstagen usw., was sonst zur Erhaltung des Glanzes bei Hof beiträgt und von den Verfassern der Zeitungen eifrig gesammelt wird. Angeführt werden können die Besonderheiten jedes Volkes, wie die verschiedene Einrichtung der Höfe, die verschiedenen Namen für die Ämter: ferner wenn man noch zu größeren Eigenheiten herabsteigen will: die verschiedenen Formationen der Kavallerie, die Heilung der Kröpfe in Frankreich und England, der Widderkampf in Spanien, die jährliche Übergabe eines Pferdes und einer Summe von 7000 Coronate an den Papst wegen des Königreiches Neapel usw. (SC 75f.)
In dieser Aufzählung verzahnen sich die politischen und kulturellen Momente unterschiedlicher Zeremonielle und Gebräuche unter diversen Rahmenbedin18
1672 erscheint zuerst in Frankreich ein Blatt, das »vornehmlich Mitteilungen und Neuigkeiten aus der mondänen Welt des Hofes« brachte, der Mercure galante, herausgegeben von dem Theaterdichter Donneau de Visé (vgl. WGr 73); vgl. zur Beziehung auch zwischen genealogischen Werken und Zeitungswissen in der Frühaufklärung Volker Bauer. Jetztherrschend, Jetztregierend, jetztlebend. Genealogie und Zeitungswesen im Alten Reich des ausgehenden 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 37 (2008). S. 271–300.
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gungen.19 Damit verschwimmen die Grenzen der standesgemäßen Berichterstattung, gerade wenn die überkommenen Ordnungen des gesellschaftlichen Umgangswissens publizistisch durchdrungen werden. Es zeichnet sich darin auch die Verbürgerlichung des Welthabens ab, welches sich zunächst noch vorzugsweise an den Sitten der oberen Stände orientiert. Zeitungen werden für Personen zum Ort des publizistischen Scheinens, des Glänzens in einer Öffentlichkeit für Viele. Noch in den Strata des Ständestaats verankert können eben auch die Alltagswelten der mittleren und unteren Stände ihrer Privatheit entzogen und in das Licht der publizistischen Öffentlichkeit gestellt werden. Für Kaspar Stieler werden die Details bürgerlicher Lebensumstände allerdings schon veröffentlicht, noch bevor ihre kollektive Relevanz geklärt wäre. Stieler tritt zwar für die Kommunikationsform Zeitung ein, weil sie alle Stände gleichzeitig im Stand des Wissens hält, aber er stört sich doch auch an Mitteilungen aus dem Privatleben, die besonders im Anzeigenmilieu von Intelligenzblättern auftauchen:20 Endlich ist nichts abscheulichers / als wenn diejenige / die bey den Druckereyen sind / und die Zeitungen zu prüfen haben / worunter bisweilen Geistliche / öffendliche Lehrer und Rats-Bedienten befindlich / ihre Privat-Sachen in die Zeitungen bringen lassen. Da muß man dann hören / wie der Superintendent seine Tochter an etwa einen Schösser oder Amtschreiber verheuratet habe / was vor Gäste bey der Hochzeit gewesen / wie man gespeiset / und / ob die Braut in der Kutsche gefahren oder zu Fuß gegangen sey? Mancher Kanzler ist so närrisch / und darf wol in die Zeitungen setzen lassen / daß sein Sohn nach Holland und Frankreich verreiset sey / wozu ihm GOtt Glück und Seegen / und eine fröliche Wiederkunft verleihen wolle. Amen [...]. Und dennoch finden sich Post-Meister / die solche Bagatellen / oder Lumpen-Sachen annehmen und nachdrucken lassen: Da doch die Zeitungen von Dingen handlen solten / die ganz von privatSachen entfernet sind / und allein zu dem gemeinen Wesen gehören. (LN 37f.)
Stielers Kommentar sieht die Nachrichtenpublizistik in ihrem Bezug auf das Allgemeine in einer Konstellation, die für Übergangsphänomene im späten 17. Jahrhundert charakteristisch ist: Gegenüber Berichten über das höfisch-repräsentative Zeremoniell fallen vergleichbare Nachrichten über Ereignisse in den unteren Ständen auf politische Belanglosigkeit zurück. Sie erlangen keine Relevanz für das Gemeinwesen, da aus ihnen keine übergreifenden Entscheidungen in der politischen Geschichte erfolgen. Zwar ist das Berichtete auch hier standestypisch, aber seine Alltäglichkeit verfehlt in seiner Gewöhnlichkeit die Orientierung auf das Allgemeine, wie es den herausgehobenen Personen und Handlungen in den oberen Ständen zukommt. Schützenhilfe bekommt das bürgerliche Bedürfnis
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Christian Junckers erweiternde Übersetzung von Christian Weises Schrift nennt die »Disciplina aulica« »possierlich«, Christian Weise. Curieuse Gedanken von den Nouvellen oder Zeitungen / Denen / ausser der Einleitung / wie man Nouvellen mit Nutzen lesen solle / annoch beygefügt sind / der Kern der Zeitungen vom Jahre 1660 bis 1702. Eine kurtzgefaste Geographie, Eine Compendieuse Genealogie aller in Europa regierenden hohen Häuser und dann Ein sehr dienliches Zeitungs-Lexicon, also verfasset M. C. J. [Übers. von Christian Juncker.] Frankfurt & Leipzig 1703. Vgl. dazu Böning. Das Private in der Aufklärung.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
nach publizistischer Repräsentation eigener Umgangsformen und Denkweisen dann aber von der anthropologischen Fundamentalisierung aller Prozesse der Wissensgenerierung. Publizierte Privathandlungen dienen in dieser Lesart der Sozialität, insofern bei ihrer Lektüre die Teilhabe am Gemeinsamen durch Wiedererkennung erprobt werden kann. Zeitungen organisieren das Soziale als kommunikativen Austausch über das, was alle Menschen immer schon übereinander wissen könnten, aber immer wieder neu von einander wissen möchten. So schreibt etwa der Ich-Erzähler, der der kollektiven Stimme in der moralischen Wochenschrift Der Patriot 1724 fiktiven Ausdruck verleiht, über den Konnex von lokaler Zeitungsneugierde und Sozialität stiftender Kommunikation: Ich habe bisher auf dieß alles die genaueste Kundschafft geleget, ja ich getraue mich nunmehr, zu sagen, daß seit etlichen Jahren nicht leicht in unserer Stadt was vorgefallen seyn soll, davon ich nicht eine vollkommene Nachricht hätte, wie sehr mans auch geheim gehalten. Noch itzund habe ich eine Menge von meinen Freunden und Freundinnen an der Hand, welche nicht nur hier in Hamburg, sondern auch in andern grossen und kleinen Städten, ja so gar in Dörffern und Flecken, die merckwürdigsten Vorzüge so wol als Schwachheiten der Menschen mit ihren Umständen verzeichnen, und mir so fort, jeder nach seiner Ahrt, einen Abriß davon zusenden. Den meisten von diesen meinen Kundschafftern und Kundschaffterinnen zahle ich jährlich für solchen Fleiß [...]; viele aber geben sich diese Mühe ohne allen Eigennutz, und bloß zum gemeinen Besten. Dencke nur keiner, daß ihnen einige Gasse, einiger Wein-Keller, einiges Caffe-Hauß, einiger Tantz- und Fecht-Saal, einige Wohnung, ja selbst die Staats- und Wochen-Stube einiges Frauenzimmers, verschlossen oder unbekannt sey. Sie finden sich allenthalben, nicht nur bey öffentlichen Schau-Spielen, grossen Gesellschafften und Gastereyen, sondern auch auf den Schreib-Stuben und Pack-Räumen der KauffLeute, auf den Cabinetten der Gelehrten, in Schlaf- und Speise-Cammern, in Kinderund Gesinde-Stuben. Wir kennen also weit und breit alle diejenigen, die besondere Tugenden so wol, als besondere Laster, besitzen, und fällt es beyden gleich unmöglich, sich gegen uns zu verhelen.21
Die Tugend-Laster-Dichotomie der frühen und mittleren Aufklärung hat nachhaltig dazu beigetragen, das allen Menschen Gemeinsame als Norm der öffentlichen Beobachtung im Allgemein zu institutionalisieren.22 Bald schon beginnt mit Lessing die spöttische Abrechnung mit dem normierenden Zugriff beobachtender Biedermänner und deren Anspruch auf die allgemeine moralische Stimme, die ja hier eher ausschließende als einschließende Anteilnahme an den Sitten und Gebräuchen der anderen betreibt. Doch lässt das Interesse an den Gelegenheiten des ›allgemein Menschlichen‹, dessen Öffentlichkeit die Zeitungen herstellen, deshalb nicht nach. Die Verkennung, dass Rituale sozial, historisch und politisch bedingt sind, unterläuft auch noch Spätaufklärern, die am anthropologischen Paradigma festhalten, das ja andererseits sich darin bewährt hatte, das politisch
21
22
Der Patriot. 1. Jg. Stck 1 (5. Januar 1724). In: Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724–26 in drei Textbänden und einem Kommentarband. Kritisch hg. von Wolfgang Martens. Bd. 1. 1. Jg. Stck 1–52/1724. Berlin 1969. S. 6. Vgl. dazu die Studie von Martens. Die Botschaft der Tugend.
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kodierte Standesdenken kritisch zu unterwandern. So schreibt etwa ein des Dogmatismus ansonsten Unverdächtiger wie Karl Philipp Moritz über sein Ideal einer Zeitung für das Volk 1784: Wer eine solche Zeitung schreiben will, muß selbst, so viel er kann, mit eignen Augen beobachten, und wo er das nicht kann, muß er sich an die Männer halten, die eigentlich unter das Volk, und in die verborgensten Winkel kommen, wo das Edelste und Vortreflichste sowohl, als das Häßlichste und Verabscheuungwürdigste, sehr oft versteckt zu seyn pflegt.23
Die neue Sozialtechnologie der publizistischen Kommunikation über das Geheimste aller Menschen, das zugleich das Persönlichste wie das allen nur zu Gemeinsame sein kann, gibt sich gerne unbefangen im anthropologischen Paradigma. Wie die Selbstentblößung im kleinen Kreis der Verständigen, die auf Privates mit privater Anteil- und Rücksichtsnahme reagieren können, soll auch die Entblößung im großen Kreis interessierter Leser mit Blick auf das gemeinsam Geteilte erfolgen. Für Moritz stellt sich das Publikationswürdige im Sinne einer idealen Unbefangenheit gegenüber dem, was es alles zu entdecken und zu veröffentlichen gilt, so dar: Ist es also nicht wichtiger, einzelne Fakta von einzelnen Menschen zu sammlen, woraus einmal künftig große Begebenheiten entstehen können, als eine Menge von großen Begebenheiten zu erzählen, ohne zu wissen, wie sie entstanden sind? – Dieß soll auf keine Weise, die großscheinenden Begebenheiten von der öffentlichen Bekanntmachung ausschließen, nur müssen sie nicht der wichtigste Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Denn, ein Vergleich zwischen zwei Sackträgern, die sich auf der Straße gezankt haben, kann, in so fern er den Charakter der Nation bezeichnet, für den Menschenbeobachter wichtiger sein, als ein Vergleich zwischen Rußland und der ottomannischen Pforte, wo es größtentheils bloß auf die stärkere Macht an Soldaten, Schiffen, oder festen Plätzen ankömmt, wohin sich das Uebergewicht lenken wird; wo man die geheimen Triebfedern eben so wenig erfährt, als die erste Ursach von den Ungewitter, welches gerade heute, und nicht eher, über unsern Horizont heraufgezogen ist; wo man nicht sowohl handelnde Wesen, als vielmehr bloße Ereignisse, wie in der Natur, Stürme, Erdbeben, Ueberschwemmungen sieht.24
Der Menschenbeobachter als Sammler anthropologischer Fakten ist eine gut eingeführte Figur der Aufklärung, die die kleinen Geschichten des Alltags nachhaltig mobilisiert, um die große Ereignisgeschichte eines Besseren zu belehren. Diese Überbietung gelingt allerdings nur, wenn auch die kleinen Geschichten sich ihrer hermeneutischen Tiefendimension bewusst bleiben und Akte der Reflexion auf neue Allgemeinheiten, zum Beispiel Mitmenschlichkeit, anstoßen. Moritz selbst lässt die Verbindung der Nachrichten-Oberflächen, die menschlichen facta, mit den »geheimen Triebfedern« in das Projekt seiner Zeitschrift Magazin für Erfahrungsseelenkunde münden. Wie sehr die anthropologische Konzeption der publi-
23 24
Karl Philipp Moritz, zit. n. Die Zeitung. S. 129f. Ebd. S. 129.
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zistischen Persona und ihre Relevanz das bürgerliche Lager im späten 18. Jahrhundert prägt, gibt auch der Herausgeber des Journals von und für Deutschland, Freiherr von Bibra zu erkennen. In seiner Konzeption des gleichmäßig zirkulierenden Wissens über das, was alle Menschen betrifft, hat Lessings theatralische Konzeption einer empfindsamen Selbstaufklärung durch Anteilnahme Spuren hinterlassen: So wie man im Trauerspiel sich nicht blos auf Königsthaten einschränkt, sondern glaubt, daß auch eine bürgerliche Handlung Theilnehmung erregen könne, so hat man auch in den Zeitungen einzusehn angefangen, daß es gut sey, neben den Staatsbegebenheiten auch zuweilen eine edle Handlung eines Privatmanns zur Bewunderung und Nachahmung aufzustellen. Läßt es sich der Zeitungsschreiber angelegen seyn, die bescheidne Tugend des Privatlebens aus ihrer Verborgenheit zu ziehen, und durch Beyspiele darzuthun, daß oft auch in der Bauernhütte grosse und liebenswürdige Menschen wohnen, so kann es ihm nie an Stoff gebrechen, und er wird dadurch mehr Gutes stiften, als der dogmatische Moralist.25
Die Schwierigkeit bleibt aber bestehen, jederzeit, bei jedem Faktum, den hermeneutischen Tiefengrund zu entdecken, der wie von selbst die Leser auf die Spur des Allgemeinen leiten sollte. Mit personenbezogenen Fakten geht es ja nicht nur darum, ob solche Fakten etwa im Sinne einer allgemeinen Moral würdig sind, veröffentlicht zu werden, sondern mit dem Faktum der Veröffentlichung stellt sich sofort auch die Frage nach dem Wie ihrer Darstellungsverfahren. Faktizität ist ohne ihre Formen nicht zu haben und keineswegs unschuldig. Diese Erkenntnis der Zeitungsleute betrifft auch die Ereignisse des Privatlebens, die aus dem politischen Kontext scheinbar entlassen worden sind. Und so wird der Persönlichkeitsschutz der öffentlich gemachten Person im Kontext der Verbürgerlichung des Privaten und dem publizistischen Interesse daran zu einem neuen schützenswerten Grundrecht. Die Unschuld der Faktizität, von der die publizistische Veröffentlichungspraxis der Zeitungen genuin ausgeht, kontrastiert der ›Schuldigkeit‹ eines Zeitungstextes, der eine publizistische Geste der Entblößung ausübt. Die von der Neugier auf das Private angetriebene Veröffentlichungspraxis rahmt Joachim von Schwarzkopf in seiner Zeitungsschrift von 1795 deshalb auch mit juristischen Bedenken. Sie betreffen die Rechte von »Persönlichkeiten« in der längst üblichen Praxis, etwas in einer zeitungstypischen Manier an das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Er gibt u.a. folgendes Beispiel: Ein Minister steht im Begriff, von seiner Laufbahn abzutreten. Noch ehe das Entlassungspatent ausgefertigt ist, stellen ihn die Zeitungen vor dem Publicum zur Schau aus, und, nach der Verschiedenheit der Ansichten und Vermuthungen sprechen sie ihm Titel, Gehalt, Ehre, Gnade ganz oder theilweise ab. [...] Was so eben von den persönlichen Verhältnissen der Geschäftsmänner gesagt ist, darf verhältnismässig auf alle ungünstige oder zweydeutige Nachrichten von Privatpersonen angewandt werden. Bey
25
Schmid. Nothwendige Verbesserung. S. 640, zit. n. Die Zeitung. S. 136f.
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diesen ist die Unbehutsamkeit desto sträflicher, da sie selten vor das richterliche Forum gezogen wird. Bisweilen ist das Factum an sich wahr, aber die Wendung oder die Wahl eines schiefen Ausdrucks macht es einer Misdeutung fähig. Sogar der sprachwidrige Gebrauch eines Unterscheidungszeichens kann dazu beytragen. Der, den es betrifft, oder seine Freunde, pflegen freylich durch Berichtigungen dieser zuvorzukommen, allein nicht allen Lesern kommen diese zu Gesicht, und überdem ist es nicht so leicht, einen einmal eingeprägten Eindruck bis auf die Wurzel zu vertilgen. Vielmehr erzeugt er oft Vorurtheile der hartnäckigsten Art.26
Das Publikationsformat Zeitung, das nach zahlreichen Bekundungen Aufklärung durch Offenlegung betreibt, führt selbst die Vorurteilspraxis mit im Gepäck. Publizistik zieht im späten 18. Jahrhundert längst ihre diffusen Kreise auch um diejenigen, die sich im Kreis der Menschheitsfreunde und -beobachter publizistisch sicher wähn(t)en. Öffentlichkeit, Allgemeinheit und Aufmerksamkeit sind auch für sie prekäre Güter, auf die nicht einfach nur Verlass ist. Der Zeitungsdiskurs des 18. Jahrhunderts perspektiviert die Szenen von Aufmerksamkeit und ihrer Bindung auch wahrnehmungstheoretisch. Insbesondere die Korrelation von Streuung des Wissens und seiner gesellschaftlichen Zerstreutheit gehört zu Famas Hinterlassenschaften. Wenn breit streuendes Zeitungswissen die regelmäßige Gleichzeitigkeit und die gleiche Nähe aller Teilnehmenden zum Publizierten in Aussicht stellt, so verweist der Aspekt Zerstreuung, den die Zeitungsvielfalt genauso dokumentiert, auf die Kehrseite des von allen geteilten Wissens: es handelt sich um zerteiltes Wissen. Die Zeitungsproduzenten, -rezipienten und -formen betreffenden Charakterologien weisen dabei mit ihren Hinsichten auf Gerichtetheit, Abweichung und Ausschweifung Anschlüsse an ästhetische Diskurse ihrer Zeit auf, die sich über Wahrnehmungsfragen und Verfahrensweisen äußern. Ein kurzer Blick auf die Semantik und Konzeptualisierung von Zerstreuung in der Poetik der mittleren Aufklärung kann dies zeigen. So erläutert etwa Johann Christoph Gottsched in seinen Beobachtungen über den Gebrauch und Missbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten mit einem zeitgemäßen Seitenhieb auf den ›französischen‹ Nationalcharakter den Wortgebrauch »zerstreut sein« mit Hinweisen auf einen Habitus: [...] man saget: der Mann ist ganz zerstreut (distrait) d.i. von allerley wilden ausschweifenden Gedanken eingenommen. Er denket an tausend Dinge zugleich, oder wechselt doch so schnell damit ab, daß er keinen Augenblick bey einerley Sache bleibt. Eine gewisse neumodisch Lebhaftigkeit, nach Art der Franzosen, bemüht sich recht mit Fleiß so zerstreut zu seyn.27
26 27
Joachim von Schwarzkopf. Ueber Zeitungen. Ein Beytrag zur Staatswissenschaft. Frankfurt/M. 1795. S. 98f. Johann Christoph Gottsched. Beobachtungen über den Gebrauch und Missbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten. Straßburg/Leipzig 1758. S. 435f.
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Die Unfähigkeit, »seine Aufmerksamkeit, mit Hindansetzung aller andern, auf einen einzigen Gegenstand zu richten«,28 ist auch bei Friedrich Just Riedel das negative Komplement der Fähigkeit zur Konzentration. »[U]nangenehm« sei es, so Riedel 1767, wenn mehrere intereßante Begebenheiten, deren jede für sich ein Ganzes ausmacht, in Einem Produkte mit einander verknüpft [...] sind [...]. Sind sie von ungleicher Wichtigkeit, so wird die eine durch die andere verdunkelt. Sind sie von gleicher Wichtigkeit, so werden wir zerstreuet und unsere Aufmerksamkeit kan nicht auf einen Punkt fallen. Das Interesse bey der einen Handlung wird also immer durch das Interesse bey der andern vermindert, oder vertrieben. Dies ist der Fall bey episodischen Fabeln, wenn, Zum Beyspiel, eine verliebte Verwicklung unter Handlungen gemischt wird, die den Patriotismus zur Triebfeder haben.29
Wie bei Gottsched gilt Riedels Interesse der dramatischen Strukturierung eines Textes, der bei seinem Thema bleiben solle. In der Breite eines epischen Textes, bei der »Menge von fremden Gegenständen, mit denen der Dichter zu thun hat«, wird die »gleiche Erhaltung der Aufmerksamkeit und des Feuers, welcher er durch die ganze Dauer eines weitläuftigen Werkes zu unterhalten« hat, auch von Friedrich Christoph Nicolai (1755) als korreliertes Kriterium gelungener Darstellung und ihrer Ökonomie reflektiert.30 Die Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit, Kürze und Konzentration sind in der mittleren Aufklärungsästhetik zwischen gattungs- und medientheoretischen Hinsichten angesiedelt, die Formfragen noch unter moralischen Kategorien ventilieren: »Leichtigkeit und nachdrückliche Kürze sind die vornehmsten Tugenden eines Prosascribenten. Die entgegenstehenden Fehler auf beiden Seiten sind unangenehm. Weitschweifigkeit erregt Langeweile, und Dunkelheit Unwillen«, befindet Moses Mendelssohn.31 In Carl Wilhelm Ramlers Batteux-Übersetzung aus den 1750er Jahren heißt es: »Einer der größesten Fehler in Briefen ist die Weitschweifigkeit. Es giebt Leute, die immer gehen und niemals ankommen.«32 Der abundierenden Weitschweifigkeit als einer Stilkategorie für unterschiedliche Textgenres wie Brief oder Roman wird die Kürze gegenübergestellt, die den Adressaten zufrieden stellt, der wenig Zeit hat und das Wesentliche sucht. In der Zeitungskritik werden auf analoge Weise gerne Zeitungs- und Romanlektüren in einen Zusammenhang gebracht, da beide die Phantasie des Lesers zur Ausschweifung auf unkontrollierten Wegen anregen
28 29 30
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Ebd. S. 435. Friedrich Just Riedel. Theorie der schönen Künste und Wissenschaften [...]. Jena 1767. S. 337. Friedrich Christoph Nicolai. Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland [...] mit einer Vorrede von Gottlob Samuel Nicolai. Berlin 1755. S. 58. Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften. Hg. von G. B. Mendelssohn. Vierten Bandes zweite Abtheilung. Leipzig 1844. S. 403. [Carl Wilhelm Ramler.] Einleitung in die schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von C.W. Ramler. 4 Bde. Bd. 4. Leipzig 1758. S. 323.
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würden.33 Stil ist im System der Rhetorik immer auch eine pragmatisch gerahmte Kategorie gewesen. So ist etwa auch in der Kanzleisprache, die der politischen Ordnung dient, die Ökonomie der Kürze auf die Sprechsituation abgestimmt, weil, so Balthasar Kindermann in seinem Teutschen Wohlredner von 1680, vor / und mit grossen Potentaten / oder fürnehmen Herren zuhandeln nichts angenehmers ist / als der Kürze nach Möglichkeit sich zugebrauche. Sonst macht man eine Sache / die an und für sich selbst nicht unangenehm / mit vielen Umständen und weitschweiffenden Reden verdrießlich.34
Die Kürze des Sachverhalts betrifft als zweckmäßige Stilistik sowohl historiographische wie juristische Textformen. Mit beiden Bereichen unterhält die Zeitung hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs, ihrer Stilmittel und Pragmatik Beziehungen. So unterrichtet etwa ein allegorischer Merkur in einer der ersten Zeitschriften des späten 17. Jahrhunderts, dem Götter-Both Mercurius (1674/75), umständlich und räsonierend, wenn es darum geht, Berichterstattung und Unterhaltungszwecke für die Zuhörer zusammenzubringen.35 Wo dagegen im politischen Diskurs die nackte Berichtsform erwartet wird, wird er von seinem Oberen zur Räson gerufen werden: Mercurius trat / seiner Gewohnheit nach / unangemeldet herein / und wolte eben /wie er vorhin gethan / seine Relation umständlich anfangen / als ihm Jupiter mit ernsthaftem Gesicht befahl; Er möchte vor dieses mahl die weitläuftigen Erzehlungen bey Seite setzen / und an derer Statt ein kurz-abgefaßtes Memorial aller denkwürdigsten WeltBegebenheiten in die Canzley einbringen. Jener / dem Befehl seines Obern schuldigen Gehorsam leistend / verfügte sich eilfertig in sein Cabinet / nahm daselbst die aus der Unter-Welt mitgebrachte Krieges-Currier zur Hand / und verfertigte aus denselben / einen zwar kurzen doch ausführlichen Bericht allerhand durchs ganze Jahr vorgelauffenen Welt-Händel / von Monat zu Monat / von Wochen zu Wochen / wie folget [...].36
Die Lektion einer unangemessenen Weitschweifigkeit, sei es im Medium Text, sei es im Medium Zeitung, wird im 18. Jahrhundert dann in neue ästhetische Konzepte transferiert. Dies zeigt eine Einlassung von Johann Gottfried Herder von 1767. Herder bedient sich geläufiger Stilkriterien und deren Metaphoriken und setzt das Gefüge aus Kürze, Ordnung und Aufmerksamkeit in ein Verhältnis zum »Ganzen«. Damit kritisiert er Stil und Habitus eines Kollegen: Allein bei allem diesem ist seine Kritische Prosodie wüste; Finsterniß aus der Tiefe, und Winde, die das Gewässer bewegen. Eine dunkle affektirte Schreibart, in der die
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Zu Romantheorie und -kritik vgl. Wilhelm Vosskamp. Romantheorie in Deutschland. Stuttgart 1973; Werber. Liebe als Roman. Johann Bernhard Basedow. Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit. Kopenhagen 1756. § 34. Wolff Eberhard Felsecker. Der unverkleidete Götter-Bot Mercurius. Nürnberg 1675; vgl. zu dieser Zeitschrift des (Grimmelshausen-)Verlegers Felsecker Weber. GötterBoth Mercurius. S. 27. Felsecker, in seiner Vorrede, zit. n. Weber. Ebd. S. 34.
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Ideen selbst nicht im gehörigen Licht erscheinen. Weitläuftigkeiten, wo Kürze zugereicht hätte: Unordnung in den Stücken, und Stücke, die kein Ganzes ausmachen.37
Dies schreibt Herder in seinen Beilagen zu dem von Lessing, Mendelssohn und Friedrich Christoph Nicolai herausgegebenen Periodikum Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1765ff.). Herder präsentiert seine eigenen Beilagen unter einem neuen ästhetischen Stichwort als eine »Sammlung von Fragmenten«, die im Abbruch den symbolischen Verweis auf das Ganze vermitteln wollen. Das Damoklesschwert einer misslungenen Ordnung, die der Aufmerksamkeitsbindung abträglich ist, schwebt nicht nur über längeren und kürzeren Texten, sondern über allen Zeitungen und Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Dies wissen auch die Akademiker unter den Publizisten wie der Vorredner zu den Göttingischen Zeitungen 1740: Indessen sey es ferne von uns, daß wir uns von allen Fehlern frey sprechen sollten. Nirgends sind sie schwerer zu vermeiden, als in einem Werke, bey dem die Aufmerksamkeit durch so viele und ofte sehr weit von einander unterschiedene Dinge zerstreuet und geschwächet werden kann.38
Was den einzelnen Zeitungsmacher negativ betrifft, scheint erst recht auf die Gruppenarbeit zuzutreffen, die unterschiedliche Autoren versammelt. Denn so unklar der Umfang des Ganzen angesichts der Publikationskünste der Zeitungen ist, so fraglich scheint es auch zu sein, ob die Arbeit der Vielen dem Ganzen wirklich nützt. Von dieser Frage aus formuliert etwa Christian Garve 1788 gegenüber Joachim Heinrich Campe einen Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften. Der tradierte Vorbehalt gegenüber der unordentlichen Textur des Mediums kehrt bei Garve als kulturkritische Bemerkung wieder: Es ist seit einiger Zeit unter uns gewöhnlich geworden, daß mehrere Gelehrte ihre Aufsätze in periodischen Schriften vereinigen; und es ist allerdings die gemeinschaftliche Arbeit vieler nothwendig, wenn das Publicum zu gewissen bestimmten Zeiten ununterbrochen mit Unterricht oder mit Unterhaltung versorgt werden soll. Aber ist an und für sich diese Art von Schriften so vorzüglich? Entsteht aus dieser Verbindung mehrerer Gelehrten zur Bearbeitung desselben Gegenstandes ein so merklicher Nutzen? [...] Es ist wahr, es hat einen sehr blendenden Schein, wenn sich mehrere Autoren von bekanntem Namen und Rufe zusammen thun, um gewisse Materien zu versuchen. Aber sagen Sie mir, werden im Grunde die Gedanken derselben dadurch, daß sie in einem Bande zusammengedruckt sind, besser mit einander verbunden, zielen sie genauer zu einem gemeinschaftlichen Zwecke ab, als wenn jeder ein eignes Buch geschrieben hätte, in welchem eben dieser Gegenstand wäre behandelt worden? – Was entsteht für Vortheil für das Publicum, wenn Gelehrte, die an Fähigkeiten, Denkungsart und Absichten einander gleich, immer als gemeinschaftliche und verbundene Ar-
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38
Johann Gottfried Herder. Über die neuere Deutsche Litteratur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Riga 1767. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. I. Berlin 1877 (Ndr. Hildesheim 1967). S. 131–531. Hier S. 201. [Anonym.] Vorrede. O.S.
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beiter im Reiche der Wahrheit angesehen werden können, ihre Aufsätze neben einander drucken lassen?39
Hier ist das Buch als Instanz der Einheitsstiftung herausgestellt; es wird als Gegenspieler der Zeitung apostrophiert, fähig, die Autor-Werk-Einheit zu präsentieren. Ein Autor und sein Buch scheinen nach Garve der ideellen Einheit eines abzuarbeitenden »Gegenstandes« funktional eher entgegenzukommen als die über Zeitungen dokumentierte Gemeinschaftsarbeit vieler Köpfe. Deren Kollektiv scheint die autorzentrierte Werkidee des späten 18. Jahrhunderts zu verfehlen. Während der Werkbegriff des 18. Jahrhunderts mit seinen neuen Ansprüchen auf Konzentration und Geschlossenheit sich nicht so leicht für die Formbeobachtungen der Zeitung instrumentalisieren lässt, ist in den Genres und Publikationsformaten der vermischten Schriften eine positive Argumentationslinie vorgezeichnet, der die Heterogenität der Zeitungsmaterien und damit auch der Zeitung kein großes Problem ist. Stil- und Formkritik schlagen darin um in positive Beobachtungen von Kommunikation, die die vielseitigen und produktiven Wechselbeziehungen zwischen Medium und Lesern thematisieren. Die Bildungsideen der Aufklärung mit ihren Konzepten der Selbstbildung haben zu dieser positiven Lesart beigetragen, wie man Johann Adam Bergks Kunst, Bücher zu lesen von 1799 entnehmen kann: Da vermischte Schriften Materialien aus allen Wissenschaften und Künsten enthalten, so müssen sie in der Absicht bald den Geschmack, bald die Denkkraft, bald die praktische Vernunft zu bilden gelesen werden, jenachdem ihr Inhalt für eines dieser Vermögen besonders geeignet ist: und da jede Lektüre eines Buches auf die Erziehung unsers Geistes zu freier Selbstthätigkeit abzielen muß, so müssen wir auch bei vermischten Schriften alles auf unsere Mündigkeit anlegen.40
Analoges gilt nach Bergk für die Zeitungslektüre, die die Arbeit am Archiv mittels der ständig herausgeforderten Urteilskraft in Bewegung hält: Der Mensch kann seine Anlagen an jedem Stoffe üben, warum sollten nun periodische Schriften allein ein Hinderniß der Gelehrsamkeit und Kultur seyn? Sie enthalten eine große Mannichfaltigkeit von Aufsäzzen, schwächen also weder die Lust, noch die Kraft zum Denken, weil das Mannichfaltige unsern Geist nicht ermüdet, sondern seine Neugier reizt, und ihn daher immer zu neuen Anstrengungen aufmuntert.41
So werden Formbeobachtungen an der Zeitung immer wieder diskursiv an Konzepte für andere Medien und Formen angeschlossen. Die Mannigfaltigkeit wird dabei zum zentralen Stichwort positiver Zeitungskritik der zweiten Hälfte des 39
40 41
Christian Garve. Ein Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts. Hg. von Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp, Johann Stuve und Konrad Heusinger. 1. Bd. Braunschweig 1788. S. 16–19. Hier S. 16f. Johann Adam Bergk. Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799. S. 363. Ebd. S. 383.
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18. Jahrhunderts. Es dient kategorial dazu, der Zeitung mehr und mehr neue ästhetische Seiten abzugewinnen, die auf die positiven Seiten und Effekte von generalisierten Kommunikationsverhältnissen verweisen. In Anlehnung an Reflexionswissen aus Rhetorik und Dichtungstheorie wird dabei die Formel Nutzen und Unterhaltung, die mit Kaspar Stielers Buch für die Zeitungstheorie auf prominente Weise besetzt worden ist, in sich verändernde Selbstbeschreibungen von Zeitungs- und Journalprojekten eingebunden. Die Formel regiert als übergreifende Leitunterscheidung zahlreiche Aspekte praktischer Ausdifferenzierung von Zeitungstypen im Laufe des 18. Jahrhunderts. Sie stellt ein auf den ersten Blick relativ einfaches Sinnangebot zur Verfügung, über welches Zeitungsproduzenten ihre unterschiedlichen Vorhaben in Ankündigungen und Programmen rechtfertigen. Mit diesem Formular behauptet sich der Zeitungsmacher in Situationen, wo die erfolgreiche Produktion von Zeitungen aller Art in komplexe ökonomische und politische Bedingungen verwoben ist. So schreiben beispielsweise die Herausgeber des Deutschen Museums, Heinrich Christian Boie und Christian Konrad Wilhelm von Dohm, 1777 einleitend in ihrer Vorerinnerung zu ihrem Journal: Es ist eine eigne Sache mit Journalen, über die wir in diesem Jahre manche Erfahrungen gemacht haben. Die Fodrungen, die man an sie macht, sind so mannigfach und so heterogen, daß die Herausgeber nie aufhören dürfen, sie gegen einander zu wägen, um das suum cuique gegen die verschiedenen Klassen ihres Publikums gehörig zu beobachten. Die Eine dieser Klassen will bloß unterhalten, die andre bloß unterrichtet seyn. Hier nun von jedem Ingredienz die gesündeste Dosis zu treffen, und alles wohl zu mischen, ist kein so leichtes Geschäft, als es beym ersten Anblick scheinen mögte. Es gehört dazu ein gewisses Gefühl von dem, was dem grössesten Theil des Publikums interessant seyn dürfte, eine gewisse Biegsamkeit in fremde Denkarten, eine schnelle Versezung in mehrere Gesichtspunkte, und eine völlige Entäusserung seiner eignen Lieblingswissenschaften und Ideen, die den meisten Gelehrten beschwerlich fallen mögte.42
Die in der Konkurrenz stehenden Versuche weltläufig gewordener Zeitungsherausgeber wollen Formate des Vermischten entwickeln, die den Kommunikationserwartungen verschiedener Leserklassen mit einem suum cuique entgegenkommen. Dieser Ansatz löst dabei das Problem, wie Nutzen und Unterhaltung intern zu einander stehen sollten, nicht auf. Im Innern jeder Zeitung kehrt das Formular, wo es nicht nur rhetorisch behauptet, sondern materiell geklärt werden muss, als eine problematische Innenseite der Funktion öffentliche Aufmerksamkeitsbindung wieder. So bekennen Boie und von Dohm (wie so viele neben ihnen in vergleichbaren Formulierungen), dass dasjenige, was für den »grössten Theil des Publikums« von Interesse sein dürfte mit speziellen Anliegen nicht deckungs-
42
[Boie, Heinrich Christian/Christian Konrad Wilhelm von Dohm.] Vorerinnerung. In: Deutsches Museum. Hg. von dens. 1. Bd. Erstes Stück. Jänner. Leipzig 1777. S. 1–6. Hier S. 2.
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gleich gemacht werden kann. Die Brüche sind in das Vorhaben: alles immer in bester Absicht für alle, unweigerlich eingezeichnet: Doch müssen wir hier unsre ehemalige Bitte wiederholen, nicht in jedem Stück alles zu erwarten, was wir überhaupt vom deutschen Museum versprechen. Noch unbilliger wär es, wenn jede Klasse von Lesern in jedem Stücke befriedigt seyn wollte. Diejenigen, die Untersuchungen über den 24 und 20 Guldenfuß oder die Inokulation der Hornviehseuche überschlagen, müssen so gerecht seyn, sich an ihre Mitleser zu erinnern, die vielleicht auch das meisterhafteste Gedicht nicht zu Ende lesen. Wer kein Liebhaber von Wittwenkassen, oder dem moralischen Gefühl ist, halte sich an Lenzens Zerbin, oder Nachrichten aus Amerika, wie sie Sprickmann gibt.43
Hier wird der Umstand unterschiedlicher Nähe und Distanz der Vielen zu dem Vielen explizit gemacht. »Unbillige« Leser, und d.h. dann auch ungeduldige Leser, die nicht gleich finden, was sie suchen, entsprechen Herausgebern, die zwar das Prinzip suum cuique befolgen, das je Interessierende aber zugleich in dem Vielen, was sie veröffentlichen, auch unter dem Anderen versteckt halten. Die publizistische Offenlegung von Wissen produziert auf ihrer Innenseite eine Verdunklung. Die zeitungstypische Vermischung unterläuft so mehr oder weniger die Ordnungs- und Klassifikationsbemühungen nach Wissens- und Interessensgebieten. Diese Problemstellung betrifft alle Zeitungen und Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, aber nicht alle Herausgeber machen sich die Mühe, zu solchen Schwierigkeiten öffentlich Stellung zu nehmen. Es scheint mir insgesamt angebracht, unter Absehung von dem, was Zeitungen und Zeitschriften nun realiter publiziert haben, von einer einerseits stereotypen Benutzung des Formulars ›Nutzen und Unterhaltung‹ in den Selbstbeschreibungen auszugehen. Andererseits beinhaltet diese Formel ein zeitungsgenuines Reflexionspotential, um dem Umstand des Vermischten und Mannigfaltigen eine funktionale Lesart zu geben. Mit den Gesten des gesunden Menschenverstands lassen sich die Lücken, die sich zwischen programmatischen Ansprüchen und pragmatischen Realisierungsdimensionen auftun, auch als unproblematisch einstufen. In der Nachricht zum Ersten Stücke von 1755 der in Hannover erscheinenden Nützlichen Sammlungen findet sich etwa eine typisch lapidare Bekundung zum Programmwechsel, der auf Anpassung an geänderte Interessen zielt: Vielleicht verlangt man zu wissen, warum wir anstatt der bisherigen Ueberschrift: Hannoverische gelehrte Anzeigen, nunmehro den Titel, Nützliche Sammlungen, gewählet haben. Ob gleich die Benennung willkührlich ist: so hat doch die gegenwärtige ihren Grund in der Sache selbst. Sie giebet den Sachen, welche unsern Lesern vorgelegt werden können, eine mehrere Einschränkung, als der Name von gelehrten Anzeigen. Man hat uns mehrmalen vorgeworfen, daß durch verschiedene der mitgetheilten Aufsätze, eine sehr kleine Anzahl unserer Leser vergnüget würden. Man hat es vor unbillig gehalten, mit solchen die grösseste Anzahl der Leser zu beschweren. Diese Art von Abhandlungen gedenken wir künftig zu vermeyden, indessen wollen wir doch das Nützliche nicht einzig und allein in den Dingen suchen, die eine Vermehrung des 43
Ebd. S. 1f.
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Reichthums veranlassen, wohin wir die öconomischen, und dahin gehörigen Ausarbeitungen und Nachrichten, zählen. Wir rechnen auch dazu dasjenige, was zu Beförderung des Vergnügens, der Gesundheit, der Erbauung, der im gemeinen Leben nöthigen Wissenschaften, des angenehmen, und eines das Gemüth ergötzenden nicht ganz unnützen Zeitvertreibes gereichet.44
Das Nützliche erstreckt seine aufklärerische Ökonomie auch auf die Bereiche des Vergnügens und des »Zeitvertreibs« und schlägt sich selbst als die Einheit der Differenz von prodesse und delectare vor. Hinsichtlich zu publizierender Texte kann man damit Unerwünschtes leichter klassifizieren und reale Ausschlüsse eines »ganz« Unnützen praktizieren. Zugleich birgt die Dichotomie in sich das formale Moment von Unterhaltung durch Abwechslung durch Verschiedenes, das sich mit der Zeitung so gut vereinbaren lässt. So heißt es 1756 in einem weiteren Vorbericht zu den Nützlichen Sammlungen: Die beliebte Abwechslung der vorzutragenden Sachen wird man fortsetzen, und so, wie es die Natur eines Wochenblats dieser Art erfordert, bald angenehme, bald nützliche, bald physicalische, bald ökonomische, bald moralische, bald in die schönen Wissenschaften schlagende, und bald zur eigentlich sogenanten Gelehrsamkeit gehörige Abhandlungen, liefern. Ein jeder Leser wird auf diese Weise etwas finden, das ihm gefält, und wir werden in dem dadurch erworbenen Beyfall unsere Belohnung suchen.45
Abwechslung ist für die manchmal auch ästhetisch ansetzende Zeitungstheorie in der mittleren Aufklärung ein positives Prinzip. Dass Abwechslung unterhält, ist eine aus den literarästhetischen Facetten der delectare-Anforderung leicht zu übernehmende Devise, mit der auch ein sprunghaftes Hin- und Her-Lesen befürwortet werden kann. Abwechslung steht für eine positive Poetik der Zeitung, die sich im synchronen Schnitt durch Wissen als offene Form zeigt. Ihre nicht mehr nur naturrechtlich, nach der Zufallsordnung, sondern formalästhetischstrukturell begründete Offenheit ermöglicht es der Zeitung, flexibel auf alles, was auf unterschiedliche Weise als das je Nützliche und Angenehme definiert wird, zu reagieren. Das wäre das objektive Substrat der Zeitungstheorie dieser Zeit, die damit evolutionäre Momente des Mediums erfasst. Selbstkritik und Selbstaffirmation, positive wie negative Einschätzung der Form Zeitung und ihrer publizistischen Bewältigung setzen daran an. Die Figur des komisch hilflosen Zeitungsmachers, der den Wünschen seines Publikums ausgeliefert ist, gehört im späten 18. Jahrhundert zu den Möglichkeiten der Selbstdarstellung des Publizisten, der es bei der Zeitung mit einer anspruchsvollen Form zu tun hat. In den folgenden Bemerkungen von Christian Friedrich Schubart bleiben dabei die ästhetische mit der politischen Faktur, die Selbstkritik mit dem Selbstbewusstsein des ›lustig‹ Zerstreuten eng verzahnt:
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[Anonym.] Nachricht zum Ersten Stücke der Hannoverischen Anzeigen vom Jahre 1755. In: Nützliche Sammlungen vom Jahre 1755. Erster Theil. Hannover 1756. O. S. [Anonym.] Vorbericht. In: Ebd. Zweiter Theil. O.S.
V.2. Die Adressierung von Aufmerksamkeit
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Ein verzweifelter Entschluß ist’s, in unsern hiperkritischen Tagen, ein Wochenblat zu schreiben, das bey der zahllosen Menge anderer noch Leser finden soll. Der Geschmack, dieses Chamäleon, welches noch kein Home, Gerard, Garve, Mendelsohn, Sulzer, Riedel und Flögel richtig definiert hat, ist so verschieden unter den Deutschen, daß mehr als Menschenkräfte darzu gehören, alle zu befriedigen. Der liebt politische Reflexionen, dieser Literatur, jener Kunst, und einige wollen Verse: dort ruft einer: sey keck! der andere: sey bescheiden! dieser liebt Feuer, jener Wasser; Einen vergnügt Posaunenschall, den andern der schnarrende Thon des Dudelsacks. – Welche verschiedene Wünsche! welcher Geschmack! – Das erste Vierteljahr meiner deutschen Chronik, welches ich hiemit dem Publikum vorlege, ist vielleicht ein kleiner Versuch, diesen bunten Geschmack des Publikums einigermaßen zu vergnügen. Indeß weiß ich gar wohl, wie weit ich noch von dem Ideal abstehe, daß ich mir zu erreichen wünsche. Beynahe scheint’s in Deutschland, nach der itzigen Verfassung unmöglich zu seyn, eine gute politische Zeitung zu schreiben. Bey jedem kühnen Gedanken, der dem Novellisten entwischt, muß er einen Seitenblick auf öffentliche Ahndungen werfen; dann wird er furchtsam und kalt. Daher der schläfrige Thon der meisten Zeitungsverfasser, der in schwülen Tagen so manchen Politiker im Großvatersstuhl in Schlummer wiegt.46
Das Gleiten im Kommentar von der Geschmacksdiskussion in die politische Rahmung der Publizistik, vom Scherz in den Ernst der Lage, folgt einer Logik metonymischer gesellschaftlicher Bezüglichkeiten. Deren Epistemologie mag an der Form Zeitung und deren symbolischer Repräsentanz des Nebeneinanders des Verschiedenen geschult sein. Und wenn diese Form auf bevorzugte Weise interessante Beziehungen zwischen verschiedenen Formen, Diskursen und Teilnehmern zu stiften vermag, bleibt eben auch der Streit, welche Teilmenge die aktuelle Vorherrschaft über andere Teilmengen des ganzen Wissens beanspruchen könnte, offen. Bei manchen wird damit der Wunsch laut, dass man doch auch bei diesem Wissens- und Kommunikationsformat stärker entmischen und zentrieren solle. Doch wird dieses Begehren längst nicht von allen geteilt. So legen etwa die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, in ihrer Vorrede von 1782 ihr Ethos in ihrem »Plan« dem Publikum zur kritischen Prüfung relativ unbefangen mit dem üblichen Stichwort der Mannigfaltigkeit vor: Wenn Eifer für die Wahrheit, Liebe zur Verbreitung nützlicher Aufklärung und zur Verbannung verderblicher Irthümer, und Ueberzeugung einer nicht verdienstlosen Unternehmung, wenn diese drei Eigenschaften eines Verfassers oder Herausgebers seinem Werke einen Werth geben könnten, wie sie freilich wohl nicht können; so müßte unsre Schrift keine der schlechtesten sein. Zu dem Behufe legen wir noch ganz kurz unsern Plan zu Anfange dieses ersten Stükkes vor, und bitten Jeden, der an derselben und an unsrer Gesellschaft nichts auszusetzen hat, dies Werk, das leicht gemeinnützig werden kann, durch Beiträge die hineinpassen und die er uns gönnen will, zu bereichern. Unser Plan ist die höchste Mannichfaltigkeit, in so weit diese mit angenehmer Belehrung und nützlicher Unterhaltung bestehen kann.47
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Christian Friedrich Daniel Schubart. Vorbericht. In: Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Hg. von dems. Bd. I. Augsburg 1774. O.S. (Ndr. Heidelberg 1975). Friedrich Gedike/Johann Erich Biester. Vorrede. In: Berlinische Monatsschrift. Hg. von dens. Erster Band. Januar bis Junius. Berlin 1783. S. 16–17. Hier S. 16.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
Mit einem der Zeitung formal abgeschauten und von ihr operativ gewendeten kommunikativen Liberalismus kann allerdings der gesellschaftliche Friedenszustand, den man gerne der zivilen als der scheinbar unpolitischen Kommunikation unterstellen würde, gleichwohl verfehlt werden. Die Erfahrung lehrt auch die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, dass an Kritik ohne Streit und Verletzung nicht zu denken ist. Gebeutelt von heftigen Auseinandersetzungen über das Wissen und Können von spätaufklärerischen Positionen48 versuchen dieselben Herausgeber in ihrer Vorrede von 1787 dennoch an der Idee einer gemeinsamen Vernunft festzuhalten. Kommt diese gerade in der periodischen Urteilskraft zum Zuge, so müsste es doch gelingen, Kritik und Bestätigung zumindest in der Waage zu halten: [...] der Prüfgeist wird allgemeiner, und die Untersuchung verbreitet sich freier über alle Gegenstände. Allein hier durch wird auch ein anscheinender Krieg Aller gegen Alle eingeführet, ohne welchen doch das Gebiet des Denkens todt und öde sein würde. [...] Wir sind so glüklich, von einer Menge der edelsten Menschen die Versicherung zu hören: daß, bei aller Verschiedenheit der Meinungen, man doch die Absichten unsrer Bemühungen lobenswürdig findet, und an der Erfüllung desselben auch nicht ganz verzweifelt.49
Die Kritik selbst ist das Medium für die Herstellung, aber auch Vernichtung des Wichtigen geworden, und so manchem Publizisten und Aufklärer gibt sie die Rätsel eines aporetischen Widerstreits zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen auf. Zeitungstheorie, die beobachtet, wie sich das allgemein Werden der Vernunft im und über das publizistische Medium Zeitung als soziale Praxis durchsetzt, nimmt wahr, dass Kritik insgesamt eine politische Seite eingeschrieben bleibt. Sie weiß mehr oder weniger explizit, dass zivile Kommunikation immer Gefahr läuft, in einen neuen ›Krieg Aller gegen Alle‹ einzumünden. Bei vermischten und verstreuten Wissensbeständen liegt es auf der Hand, dass auch die enzyklopädische Universalgelehrsamkeit mit ihren Spezialisten des Sammelns diese Zeitungstheoreme aufgreift. So plant beispielsweise Johann Georg Meusel, ein ausgewiesener Gelehrter der polyhistorischen Art, den universalistischen Anspruch des Archivs: sammle Alles, mit den generalisierten Folgen periodischer Zeitungskommunikation: alles ist ständig in Bewegung, zusammenzubringen. Meusel schreibt in seiner Vorerinnerung zu dem von ihm herausgegebenen Periodikum Historisch-litterarisches Magazin 1785: Die Errichtung eines neuen Magazins für Geschichtkunde wird hoffentlich niemanden befremden, als nur denjenigen, der für ihr unermäßlich grosses Gebiet keinen Sinn hat, der ihre mannichfachen, noch immer dunkeln Regionen nicht kennet, und der nicht
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Vgl. dazu auch Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner. 2 Bde. Berlin/Weimar 1989. Friedrich Gedike/Johann Erich Biester. Vorrede. In: Berlinische Monatsschrift. Hg. von dens. Neunter Band. Januar bis Junius. Berlin 1787. S. IIf.
V.2. Die Adressierung von Aufmerksamkeit
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bedenkt, daß sie ihrer Natur nach jährlich, täglich – ja stündlich zunehmen und weitläufiger werden muß. Der Herausgeber hoffet demnach dieser, mit eben so vielen Schwierigkeiten, als Nutzen und Anmuth verknüpften Wissenschaft keinen ganz gleichgültigen Dienst zu erzeigen, wenn er ungedruckte Untersuchungen und Aufklärungen streitiger Punkte, die von geübten Forschern herrühren, unbekannte Erzählungen wichtiger Begebenheiten, Beschreibungen interessanter Handschriften und seltener Bücher, Erklärungen problematischer Münzen, ungedruckte Urkunden, wie auch einzelne historische und litterarische Bemerkungen, die manchem zum Theil ohngefähr aufstossen und worüber man nicht flugs ein Büchlein oder Traktätlein zusammen zimmert, in diesem neuen Magazine zum Heil aller, nach Geschichts- und Menschenkenntniß schmachtenden Seelen aufspeichert. [...] Scheinet auch vielleicht manchem dies oder jenes unbedeutend oder kleinlich; so beliebe er zu bedenken, daß dies einem andern nicht so vorkommen werde. Alles behagt freylich nicht allen: aber der Herausgeber eines solchen Magazins kann unmöglich für jeden Leser insonderheit sorgen; sondern er muß allen allerley zu werden suchen.50
Für sein litterärhistorisches Programm hat Meusel die werbewirksamen Schlagworte des Zeitungsdiskurses gelernt: die Erschließung des Mannigfachen auf Gebieten, die nun schon »stündlich« »weitläufiger werden«; die Verknüpfung des Nutzens mit der »Anmuth«; die Veröffentlichung des Unbekannten; die Klärung von Streitpunkten samt der Vermeidung von Parteilichkeit; schließlich, vorausdeutend auf die historistische Haltung des 19. Jahrhunderts, die Anerkenntnis, dass »dies oder jenes«, was manchen »unbedeutend oder kleinlich« erscheinen mag, publizistisch gerechtfertigt ist durch den per se unterschiedlichen Umgang mit Wissen. Die wissenshistorische Formation des enzyklopädischen Universalismus erfährt nicht nur ihre literarisch kongeniale Ausfaltung bei einem Dichter wie Jean Paul, sondern schlägt sich dann paradigmatisch in solchen Zeitungsvorhaben nieder, die der Einsicht in die Notwendigkeit einer konzentrierten Auswahl von möglichen Materien zu spotten scheinen. Ich meine damit solche Zeitungsunternehmungen, die weiterhin versuchen, alles herzuzeigen, um »allen allerley« zu bieten. Solche Versuche, das Viele in Richtung auf Alles hin zu überschreiten, her- und darstellend einzuholen, können schlechterdings nicht gelingen. Zwar wäre im Sinne struktureller Potentialitäten des Mediums Zeitung und darin maximal gedehnter Kommunikationsangebote gerade bei solchen Vorhaben der größtmögliche Liberalismus am Werk und ließe sich auch als frühe Form eines pragmatisch gewendeten kulturhistorischen Universalismus beschreiben. Doch soll Welt-Wissen, zumindest der Idee nach, auf materiell unbeschränkte Weise zum Zuge kommen, ist ein Scheitern vorprogrammiert. Die Option, mittels einer Zeitung alles sich Verändernde ständig berühren zu können, weil die Form selbst dazu einlädt, erweist sich hier wohl am deutlichsten als die materialistische Utopie des Zeitungsdiskurses. Die andere Utopie ist der Kommunikationsuniversa50
Johann Georg Meusel. Vorerinnerung. In: Historisch-litterarisches Magazin. In Gesellschaft mehrerer Gelehrten angelegt von Johann Georg Meusel. Erster Theil. Bayreuth/Leipzig 1785. O.S.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
lismus, der auf die unendliche Beteiligung aller Menschen setzt. So kann es zur Verschränkung von polyhistorischen Wissensformationen und kommunikativem Universalismus bürgerlicher Aufklärung kommen. Der fiktive Status beider Utopien gilt nicht nur für den einzelnen Herausgeber, sondern auch für Netzwerke von Zeitungsmachern und deren Zeitungen, die ebenfalls nicht einlösen könnten, alles zusammenzutragen. Doch wagt sich ein einzelner Zeitungsmacher daran, fällt die Hypertrophie der Unternehmung sofort auf. Ein solches Programm für einen kaum einzuschränkenden Erkundungs- und Leistungswillen, der die Gebote von Nutzen und Unterhaltung mit seiner Zeitung materialiter und funktional im weitesten Sinne erfüllen will, hat etwa Leopold Friedrich Günther von Goeckingk für sein Journal von und für Deutschland 1784 entworfen. Er war für das Unternehmen nur ein Jahr als Herausgeber tätig, bevor er es – wohl auch aus Gründen der Selbstüberforderung – Philipp Anton Sigmund von Bibra überließ.51 Das Journal von und für Deutschland steht in einer Reihe mit anderen enzyklopädisch verfahrenden Journalen des späten 18. Jahrhunderts, denen es »nicht so sehr auf [...] Ordnung und Systematisierung des Wissens« als auf dessen »möglichst umfassende[] Repräsentation« ankam.52 In ausführlichen Kommentaren hat sich Goeckingk zu seinem Vorhaben geäußert, so in seinem Plan zum gegenwärtigen Journale vom 8ten May 1783.53 Gelingen soll das bislang nicht Geleistete: Eine umfassende Kommunikation, die die national-kollektive Vernetzung in der publizistischen Bereitstellung von Wissen ermöglicht. Das Versprechen, über sein Journal die kommunikativ erzeugte Einheit der Nation herstellen und in allen Facetten demonstrieren zu können, ist ebenso grenzenlos konzipiert, als wenn von Goeckingk gleich vorgeschlagen hätte, ›alle Welt‹ miteinander bekannt zu machen. Die Rubriken, unter denen der Herausgeber nationales Weltwissen versammeln will, nehmen sich, so schreibt er, das Konzept des englischen Gentelman’s Magazin zum Vorbild. Seine Aufzählung berichtsförmig abzuhandelnder Gegenstände erinnert an Tobias Peucers Liste möglicher Zeitungsmaterien von 1690. Als gleichgeordnete Rubriken bilden diese Bereiche die zeitungstypische nicht-hierarchische Nebeneinanderordnung ab, die Überschaubarkeit des Unüberschaubaren in seiner Vielfalt signalisiert. Diese (wie immer: gegenläufig zu ihrer Unbegrenztheit) auf einer Auswahl beruhenden Rubriken des Wissens entspringen für den Zeitungsmacher als Sammler auch der Tatsache, dass es in der Welt nun einmal so zugeht, dass hier Vieles im Nebeneinander existiert. Die empirisch erfahrbare Möglichkeit eines so und auch so verweist deshalb schon im
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Vgl. zu diesem Journal auch Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 2. Repertorium. S. 170–174. Ulrich Dierse. Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977 (Archiv für Begriffsgeschichte. Supplementheft 2). S. 67. Leopold Friedrich Günther von Goeckingk. Plan zum gegenwärtigen Journale. In: Journal von und für Deutschland. Hg. von dems. 1. Bd. Ellrich 1784. O.S. [S. 1–10]. Im Folgenden der bibliographische Nachweis mit der Sigle GP.
V.2. Die Adressierung von Aufmerksamkeit
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Ausschnitt der Rubrik auf eine Unzahl anderer Möglichkeiten. Die Fiktion ist dennoch, das publizistische Realität erlangen zu lassen, was zugleich virtuelle Voraussetzung der eigenen Tätigkeit ist: Eine Gesamtheit, die gleichsam die Grenze zwischen einem Form gewordenem System und seiner diffusen und größeren Umwelt aufheben kann, zumindest im eigenen Universalismus diese Grenze ostentativ zu negieren versteht. Dem Ausschnitt, der sich selbst als ein solcher verneinen möchte, gesellt Goeckingk eine Art Zeitungsgelöbnis bei, das nun schon Tradition hat: Der vom besten Willen des Zeitungsverfassers kündende Plan, welcher seinerseits nicht umhin kann, die Wichtigkeit dieser und also keiner anderen Rubriken zu setzen. Der Herausgeber tritt damit in der Rolle des Initiators und zugleich als personales Medium zirkulierender Kommunikationen auf und ist darin ein typischer Vertreter der Zeitungszunft seiner Zeit. Denn deren Handlungsbegehren umfasst zumeist die selbstbewusste Setzung des wichtigen Wissens wie die Bekundung, Ermöglichungsinstanz und Teilnehmer einer großen vereinheitlichenden Kommunikationsbewegung zu sein. Auf der Kehrseite laufen dann ständige Rechtfertigungsgesten angesichts verfehlter Zielvorgaben mit. Vorausschauende Planung ist hier ein symbolisches Pfund, mit dem viele Zeitungsleute des 18. Jahrhunderts vor den Augen ihrer kritischen Leser demonstrativ wuchern. Schon Goeckingks Nachfolger, Siegmund von Bibra, der das Journal ab 1785 weitergeführt hat, befand: Goeckingks Plan »war zu colossalisch«.54 Als stehende Rubriken sollte das Journal von und für Deutschland bei monatlicher Erscheinungsweise führen: Ein Verzeichnis von Getreidepreisen in den wichtigsten Städten Deutschlands, ein meteorologisches Tagebuch, eine Dokumentation der in den Deutschland aufgeführten dramatischen Stücke, Nachrichten von Beförderungen und Konkursen, Mitteilungen aus Handschriften, Preisaufgaben, Ankündigungen gelehrter und literarischer Neuerscheinungen, Edikte und Verordnungen, verschiedene Arten von Populationslisten, inhaltliche Übersichten der wichtigsten Journale sowie eine zeitgeschichtliche Chronik.55
Das beiläufige Einfallstor für die unendliche Materie ist aber nicht die Vielzahl ökonomisch-politischer Nachrichten, sondern sind die Extrakte aus anderen Journalen. Die zwölf stehenden Rubriken zugeteilten Artikel sollten, so Goeckingk in seinem Plan, »mit kleinen Lettern gedruckt werden, damit sie nur halb so viel Raum einnehmen.« (GP [5]) Die offene Struktur der Form Zeitung erzeugt, wenn sie für die Einlösung ihrer utopischen Versprechen gebraucht werden soll, ein buchstäbliches Gedränge. Der unter nationaler Ausrichtung avisierten Einheitsstiftung sind die Rubriken mit ihren zahlreichen Sachbezügen aber nicht genug. Man solle, so Goeckingks Wunsch, sich auch über die Zeitung persönlich miteinander bekannt machen: 54 55
Siegmund von Bibra. Vorbericht des Herausgebers. In: Journal von und für Deutschland. Hg. von dems. 5. Jg. Fulda 1788. O.S. So die Zusammenfassung von Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 2. S. 171.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
Ob unter diesen XII Artikeln gleich viele interessante Nachrichten, und für jeden Leser wenigstens einige brauchbare Anzeigen vorkommen werden, so machen sie dennoch nicht den Hauptgegenstand meines Werks aus. Der größte Theil eines jeden Stücks soll nach meiner Absicht dazu dienen, die in einem so weiten Reiche zerstreuten merkwürdigen Deutschen und Deutschlands Merkwürdigkeiten bekannter zu machen, mit einem Worte, vorzüglich dem individuellen Menschen und individuellen Dingen, bestimmt seyn. Das: homo sum, humani nihil a me alienum esse puto, ist der Bewegungsgrund zu meinem Unternehmen gewesen, und soll auch meine Richtschnur seyn. (GP [5])
Die bekannten Konzepte und ihre Stichworte – ›allen allerley‹, suum cuique – verbreiten nun ein im Kern humanistisches Kommunikations- und Bildungsprogramm: »individuelle Menschen« und »individuelle Dinge« kommen in und mit der Zeitung zusammen, letztlich ist alles doch für alle irgendwie »merkwürdig«. Da es in Goeckingks Programm bevorzugt um horizontale Kommunikationsverhältnisse geht, wendet er sich mit seinem Plan an andere mitteilungsfreudige Menschen, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen mögen. Der Einzelne und sein Medium spiegeln sich in seinem Wunschbild eines Zirkels fleißiger Mitarbeiter, welches Szenario ebenfalls einen Imperativ zu gesteigertem Einschluss beinhaltet: Die, welche mir ein solches Verzeichnis von der stehenden Bühne ihres Wohnorts zuschicken wollen, bitte ich, sich durch Briefe an mich zu wenden, damit ich die nähere Einrichtung sc. mit ihnen verabreden kann. (GP [2]) Jeder wird mich verbinden, wer mir den Umstand, (denn eine ganze Lebensbeschreibung ist nur bei wenigen nöthig) wodurch ein Verstorbener unter seinen Mitbürgern sich ausgezeichnet hat, mittheilen will [...]. Jeder Schriftsteller, der nicht gleich einen Verleger hat, und seine Handschrift nicht selbst unterzubringen weiß, kann mir das Mscpt. [...] zuschicken [...]. (GP [3]) Jede Anekdote, jede edle, großmüthige, uneigennützige Handlung von lebenden oder schon verstorbenen Personen, wird mir Freude machen. Nachrichten von Unterdrückungen, Ungerechtigkeiten, Hochmuth der Großen sc. und dem ganzen unzählbaren Heere von Lastern und Narrheiten, werden mir zwar das Blut wie gewöhnlich in Wallung bringen, aber dennoch werd ich es gern sehen, wenn man mir solche mittheilen will, da öffentliche Ausstellung das einzige ist, wodurch ein Privatmann etwas pro satisfactione publica thun, und Andere von der Nachfolge abhalten kann. [...] Kurze Beschreibung von Alterthümern, Handschriften, sehr seltenen Büchern, Gemälden, Portraiten merkwürdiger Personen, von öffentlichen Stiftungen, Gebäuden, Lustschlössern, Landhäusern, Brücken, Gärten, Kunstwerken, Maschinen, Versuchen, Medaillen, die der Personen oder Vorfälle wegen, auf welche sie geschlagen sind, oder um ihrer Inschriften willen, Aufmerksamkeit verdienen, und noch nicht beschrieben sind, Naturseltenheiten, Naturerscheinungen, Naturspielen, von Ruinen einst merkwürdiger Schlösser sc., Geschichte von eingegangenen Klöstern und Schulen, zerstörten Vestungen, Burgen, ausgestorbenen ansehnlichen Familien, aufgehobenen Orden, getrennten Gesellschaften, zu Grunde gegangenen Todten- Witwen- und andern solchen Cassen sc. werde ich mit Vergnügen annehmen, wenn wie nicht gar zu geringfügige Dinge betreffen, oder zu weitschweifig und zu trocken sind. (GP [6])56
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Vgl. auch Goeckingks Liste in seinem Plan von über 50 Städten von A bis Z, die er selbst aber nicht bereisen konnte, um dort persönliche Bekanntschaften zu machen,
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Kürze der Darstellung tritt zu kleinerem Druck der Buchstaben; andererseits bleibt auch für Goeckingk bei aller Ausführlichkeit des Materialisten publizistisch zugeteilte »Aufmerksamkeit« ein Verdienst. Die Hypertrophie des Vorhabens weist also laufend zurück auf die Versprechen der Kommunikationsform Zeitung als Fiktionen: Alles in Bewegung zu setzen und mit Allen gemeinsam in Bewegung zu halten. Hätte sich diese Utopie buchstäblich verwörtlichen können, so wäre mit ihr (mit Luhmann gesehen) die Grenze zwischen System und Umwelt kollabiert. Goeckingks Vorhaben ist bezeichnenderweise von Bestandsicherung und Zerstörung gleichermaßen fasziniert. Der eigene Bankrott mit der Unternehmung kündigt sich zwischen den Zeilen schon im Plan an, und mitten im Reichtum der Kommunikation fühlt sich der der Zeitung Verfallene von Selbstverlust durch überwältigende Ausmaße bedroht: Aber das Unternehmen ist nicht bloß mühsam, es ist auch sehr kostbar. Wenn ich nicht alle Zeitungen, Intelligenzblätter, Adressnachrichten, und wie sie alle weiter heißen, von ganz Deutschland halten kann, so bin ich nicht einmal im Stande, den einen Theil meines Journals zusammen zu setzen. Solcher Blätter kenne ich bis jetzt zweyhundert und siebenzehn, aber ich vermuthe nicht ohne Grund, daß diese noch nicht die Halbschied von denen ausmachen, welche würklich in Deutschland herauskommen. Freylich sind sehr viele darunter, die weiter nichts, als Nachrichten von Sachen enthalten, die zu verkaufen oder zu vermiethen sind sc.; allein im ersten Jahre muß ich sie alle halten, um zu sehen, ob gar nichts darinn vorkommen, was für Auswärtige Interesse haben könnte, denn die eigentliche politische Zeitung und das Intellig. Blatt der Provinz, worinn man wohnt, ausgenommen, soll man alle übrigen dergleichen Blätter durch das Journal entbehren können. Diese Blätter zusammen genommen, werden jährlich tausend Rthlr. mit Einschluß des Porto, wo nicht mehr, kosten. (GP [7]))
Man kann angesichts solcher Zeitungspläne nicht sagen, dass die Idee der Restlosigkeit im Archiv erst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts mit seinen neuen technischen und kommunikativen Möglichkeiten ist.57 Die meisten Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts haben allerdings diesem sich am Material sättigendem Universalismus als einem polyhistorischen Vermächtnis längst entsagt und andere Vorschläge gemacht, um das Viele, die Auswahl und die Kontingenz, die in den unbewältigten Resten von Allem lauert, mit der Kommunikationsform Zeitung zu bändigen und so die Zeitung mit der Zeitung zu versöhnen. Diese Versöhnungsversuche des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts weichen den Aporien aus, die sich aus der Gleichrangigkeit unterschiedlicher Kommunikationsinteressen ergeben könnten. Sie begegnen dem materiellen Universalismus und den Anforderungen des Allgemeinen für Alle mit den Figurationen des Be-
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die ihm dann in einem Netzwerk als Informanten hätten dienen können. So fordert er seine Leser dazu auf, ihm als örtliche Korrespondenten zur Seite zu stehen. Vgl. Markus Krajewski. Restlosigkeit: Wilhelm Ostwalds Welt-Bildungen. In: Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung. Hg. von Hedwig Pompe und Leander Scholz. Köln 2002. S. 173–185.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
deutenden, die neue symbolische Bezüge zwischen statistischem und qualitativem Ganzen zu stiften vermögen.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen Der Wunsch, derjenige zu sein, dem es gelingen könnte, die wesentlichen Breschen durch das gesellschaftlich verteilte Wissen zu schlagen und dabei zugleich die Teilhabe aller zu bewirken, ist bei vielen Zeitungsmachern des 18. Jahrhunderts zu erkennen. Dieser Wunsch korreliert mit einer ganzen Reihe von Fragestellungen der Zeitungstheorie, die sich auf das ›Ganze‹ des Fortschritts, der Geschichte, der Gesellschaft, der Öffentlichkeit, der Politik, der Wissenschaft oder der Kunst beziehen: Wie stellt Kommunikation kulturellen Reichtum her? Was ist überhaupt kultureller Reichtum? Wer ist, wer sollte hier beteiligt sein, wer soll hier verwalten und beaufsichtigen? Wo verlaufen die Grenzen zwischen dem wohlgelittenen Überfluss und dem Überflüssigen? Was hat wann für alle Gültigkeit? Wie stellt man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit her und sichert sie auf längere Zeit? Wie verfährt man im Kollektiv mit unterschiedlichen Unterhaltungs- und Informationsbedürfnissen? Wie steht es um das Verhältnis von sittlichen zu wissenschaftlichen und ästhetischen Zwecken der Zeitung? Wie gibt man letztlich einer Zeitung und ihren Texten Form? So wie die generellen Einschätzungen der Druckkultur diese aufteilen in befürwortete und abgelehnte Entwicklungen, so folgen auch die Diskussionen über die Zeitung den Linien dieser Aufspaltungen. Sie werden sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu den Gräben zwischen high und low culture vertiefen. Unterschiede werden zwischen Gelehrten und Ungelehrten, Kennern und Dilettanten, Männern und Frauen gemacht; binäre Schematismen belehren dabei auch über das je völlig Unerwünschte, ein ungelittenes Drittes, das an die Ränder positiver gesellschaftlicher Selbstentwürfe verschoben wird. Natürlich stehen die Einschätzungen, die die Zeitungstheorie als Medien-, Kommunikations- und Kulturkritik vornimmt, im Zusammenhang mit konkreten Erfahrungen, die mit den Erfolgen und Misserfolgen von Zeitungsprojekten gemacht werden. Neue Programme und Revisionen stellen das bislang Geleistete auf den Prüfstand, um Neuanfänge zu inszenieren; zu sehen ist aber auch, dass die Dispositive ökonomischer Zusammenhänge alle Zeitungsunternehmungen mitbestimmen. So führen die meisten Zeitungs- und Journalvorworte Angaben über Preise, Erscheinungsfrequenz, Bezugsmöglichkeiten, Subskribenten und Korrespondenten mit sich, die jeden noch so hoch gestimmten Plan zu ›erden‹ vermögen. Die Zeitungskritik des späteren 18. Jahrhunderts reagiert darauf, dass Zeitungen und Journale auf dem Markt bestehen wollen und die Ökonomie in die politischen, gelehrten und künstlerischen Rahmungen um Zeitungsprojekte eingezogen ist. Weil die Form Zeitung mit den publizistischen Effekten größerer und schnellerer Erreichbarkeit von Vielen durch Vieles lockt, werden Zeitungen und Jour-
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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nale besonders von denjenigen beobachtet, die Kultur als Effekt von Menschenwerk verfolgen. So meint man in der negativen Zeitungskritik ja schon lange, dass die Zeitung ihrer Form nach anfällig ist für das, was zu schnell, zu leicht, zu häufig, zu oberflächlich in nicht abreißenden Ketten von Produktion, Rezeption, Speicherung und Distribution unter den Leuten zirkuliert. So stellt sich zunehmend die Frage, ob es neben den positiven nicht auch die negativen Profile einer Moderne sind, die von den Texten und Bildern der Zeitungen und Journale auf evidente, auch quantitative Weise bestätigt werden. Im Gegenzug erscheint Publizistik in ihrer Gesamtheit selbst als qualitativer Ausweis von modernen Zugewinnsund Verfallsgeschichten. So ist in der Zeitungskritik seit etwa dem mittleren 18. Jahrhundert eine Art Protoidealismus zu beobachten, der angesichts dessen, was ist oder zu sein scheint, vorschlägt, wie es sein könnte und sollte. Er tritt neben die moralische Zurüstung der Zeitungskritik, die zunächst an den Affekten und den rhetorischen Überschüssen von fehlgehendem Zeitungshandeln angesetzt hatte. Die Zeitungstheorie als Medien- und Kulturkritik sieht dann auch auf gesellschaftspolitische Momente gelehrter oder ästhetisch fundierter Einsätze. Umgekehrt sind es die Formfragen, die an Zeitungen herangetragen werden, um die Unschuld bloßer Mittlertätigkeit nachhaltig in Frage zu stellen. Die Vehemenz mancher aufmerksamen Warner angesichts der vielen Zeitungen und Journale spiegelt dabei die Grundhaltung einer Sorge wider, dass für Geschichte, Kultur und Gesellschaft mit der ubiquitären Zeitungskommunikation viel auf dem Spiel stehe. Diese kulturkritische Besorgtheit um das kommunikative Wohl des Allgemeinen ist das Gegenstück zu dem Bewusstsein, dass mit Zeitungskommunikation das neue Forum bürgerlicher Öffentlichkeit entstanden ist, in dem man sich gegen Gängelungen aller Art wehren kann. Zeitungskritik spielt sich, parallel zu politischer Observanz, vornehmlich in den Foren bürgerlicher Bildungsschichten ab, die als Träger der Druckkultur agieren. Natürlich überkreuzt sich die Sorge um den Zustand des kommunikativ erzeugten Allgemeinen mit den konkreten Bedürfnissen und empirischen Lebenssituationen einzelner Zeitungsleute. Die sozialen und politischen Bedingungen sind für keinen Beteiligten nebensächlich. Die Durchdringung von Diskursen, Programmen und empirischen Verhältnissen produzierten typischerweise eher opake Verhältnisse für teilnehmende Beobachter. In der kritischen Aufklärung über die Form Zeitung und ihre Effekte werden so zugleich ›unaufgeklärte‹ Matrizen für Rollenzumutungen mitgeführt, die mit zahlreichen ideologischen Implikationen aufgeladen sind. Die Rolle des selbstbewussten Zeitungsmachers wird dabei gerne mit der Rolle des Zeitungskritikers, der Ausschau hält, was die anderen so unternehmen, verbunden. Diese enge Verschränkung von Kritik und Praxis zeigt auch der Wunsch, die Konvergenz zwischen individuellem Einsatz und Anspruch auf das Allgemeine zu erzeugen. Zeitungskritik beobachtet das höchst anspruchsvolle Projekt, die kontingente Stimme des Einzelnen in die publizistische Stimme zu verwandeln, die ihre Anliegen berechtigterweise verfolgt: die Herstellung und Vermittlung des Allgemeinen. Als Einzelner des Kollektivs für das Kollektiv sprechen zu wollen,
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
ist eine der attraktiven Maximalforderungen, die zunehmend das Maß für die publizistische Stimmerhebung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgibt. Sie kommt etwa in der Haltung, als »Advokat der Menschheit« sprechen zu wollen, zu sich selbst.58 Die mediale Option der publizistisch eingebetteten ›Stimme‹ unterhält eine metonymische Beziehung zu Famas Körper als Einheit stiftende Instanz für zirkulierende Kommunikationen.59 Der persönliche Ruf einer erfolgreichen publizistischen Stimme steht für die personifizierte Fama im Kontext öffentlicher Zeitungsvielstimmigkeit. Die Bricolagen der Zeitungskritik, die in dieser Zeit noch längst keine Systeme für moderne Kommunikations- und Medienverhältnisse entwickeln, verfolgen unter verschiedenen Perspektiven die Form des Mediums, die sich auf produktions- und rezeptionsästhetische Bedingungen und Effekte hin auslegen lässt. Dies lässt sich auf mehreren Ebenen zeigen: – Der kritische Blick auf die ›Fehler‹ einer Zeitung scheint oftmals von der Textualität des Mediums Text auszugehen, um so die Formaspekte einer Zeitung zu beurteilen. In der Konsequenz zielen diese Spielarten von Zeitungstheorie darauf, das offene Kommunikationsprinzip Zeitung nach Maßgabe eines Prinzips Text kritisch einzuschränken. Zeitungstheorie, die Text als Leitmedium von Zeitungsbeobachtung vorschlägt, fragt nicht nur nach den Kompetenzen von Text-Autoren und -Autorinnen in der Zeitung, sondern schätzt auch den auktorialen Einsatz ab, der einer Zeitung eine bestimmte Form verleiht. – Die Publikation unterschiedlicher Literaturen auf dem Wege der Zeitung umfasst im 18. Jahrhundert nicht mehr nur das politische und gelehrte Wissensspektrum, sondern zahlreiche Genres aus den schönen Wissenschaften und Künsten. Dabei gewinnt das publizistische Format Zeitung eigene Konturen gegenüber dem Publikationsmedium Buch. Beide Formate können hinsichtlich dessen, was an ihrem Ort als Text geeignet erscheinen mag, argumentativ und praktisch auseinander gehalten werden. Zugleich teilen sich Zeitungsund Buchliteraturen das Universum von Texten und Formen, die hier wie dort erscheinen können. – Die Versuche, die Texte von Zeitungen und Journalen und das Medium Zeitung über unterschiedliche Ordnungen und Ökonomien genauer auseinander zu halten, profitieren von zeitgleichen Konzepten zum Text- und Werkbegriff. Von Historik und Geschichtsschreibung wird die Zeitung zumeist als eine Bruchstücke referierende Form angesehen, deren historiographische Konkurrenz im Argument distanziert wird, dass aktuelle Zeitungstexte nur 58
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Vgl. zu dieser publizistischen Sprecherrolle Jürgen Wilke. Spion des Publikums, Sittenrichter und Advokat der Menschheit. Wilhelm Ludwig Wekherlin (1739–1792) und die Entwicklung des Journalismus in Deutschland. In: Publizistik 38 (1993). S. 322–333. Vgl. zur konzeptuellen Verbindung von Körpermetaphorik und Schriftverkehr Albrecht Koschorke. Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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Vorfassungen zur eigentlichen Geschichtsdarstellung liefern. Von der schönen Literatur und ihrer Theorie wird die Zeitung mit ihrer Textur des lose koppelnden Nebeneinanders und Aufeinanders ebenfalls als medial-ästhetischer Widerstand angesprochen, insofern diese Formgebung als Verfahren von textbezogener ›Darstellung‹ eher nicht zu gelingen scheint. Zugleich gelten Zeitungen, funktional gesehen, als nützliche Distributoren für Texte. So wird das Medium gerade als ein Verbreiter der ›Textualität des Textes‹ und auch neuer Darstellungsverfahren wertgeschätzt. – Die von politischen, ökonomischen und ästhetischen Feldern ausgehenden Lesarten der Zeitung beobachten auch, wie sich Zeitung und Unterhaltung auf neue Weise verbünden. Zeitungstheorie reagiert seit dem 17. Jahrhundert zunächst noch mit dem prodesse/delectare-Formular auf die Frage, wie sich Medium und Text zur Unterhaltung in Beziehung setzen. Wo Abwechslung Voraussetzung und zugleich Signum von Unterhaltung ist, besitzt die Zeitung für ihre Theoretiker eine gelungene Form. Damit lässt diese Form die Frage nach der gesellschaftlichen Sinnstiftung von schöner Literatur und Kunst keineswegs unberührt. Der relativ problemlose Anschluss der Form Zeitung an die neue Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts gelingt dort, wo Zeitungen zum Nutzen auch von Literatur und Kunst Wissen, Kenntnisse und deren Verbreitung steigern. Dieser gesellschaftliche Nutzen liegt nicht nur für die frühe und mittlere Aufklärung, sondern auch für nachfolgende Generationen auf der Hand. Dennoch zeigt gerade die Zeitungskritik, dass die offene Form der Zeitung, die über den Faktor schnell wechselnder Unterhaltungsformen Auskunft gibt, zur Negativfolie werden kann, um das Wahre, Gute und Schöne gerade auf Distanz zu pragmatisch gerahmten Unterhaltungsbedürfnissen zu bringen. Form und kommunikatives Prinzip Zeitung treten schließlich in einen offenen Widerstreit mit der idealistischen Theorie des Kunstschönen, die auf die Autonomie der Kunst angesichts heteronomer gesellschaftlicher Bedingungen drängt. Es ist umgekehrt die um 1800 längst unverzichtbar gewordene Zeitungskommunikation, die ihrerseits daran erinnert, dass idealistische Konzepte ein tief gespaltenes Verhältnis zu den pragmatischen Dimensionen von Kommunikation unterhalten. Diese unterschiedlichen Aspekte und Referenzrahmen von Zeitungstheorie sollen im Folgenden beispielhaft angesehen werden, bis zu Joachim von Schwarzkopfs Zeitungstheorie, die 1795 versucht, Form und Funktion Zeitung aus deren moralischen und kulturpolitischen Umklammerung ein Stück weit heraus zu lösen. Zeitungstheorie lotet zwischen Öffnungs-, Abgrenzungs- und Schließungsfiguren diverse Bezüge zwischen Kommunikation und Medien aus und trägt so nachhaltig zur diskursiven Ausdifferenzierung theoretischer Bausteine bei, die Form beobachten und dabei Fakten und Fiktionen gegeneinander abwägen und verstärkt in Opposition setzen. Zugleich kann im Rahmen einer funktionalpragmatischen Einschätzung von Zeitungskommunikation das Wissen, dass die
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
Zeitung als Medium eine Form besitzt, in den Hintergrund treten. Dass das Medium selbst auch eine Botschaft sei, wird angesichts der Zwecke, unter denen publizistische Texte und Bilder zwischen Informations- und Unterhaltungsfunktion beobachtet werden, dann eher wenig gelesen. Dort, wo dies geschieht, sind neue Bezüge zum Fiktionsbewusstsein des späteren 18. Jahrhunderts erkennbar.60 Wie etwa die Zeitung als literaturfähige Form gelesen respektive gesehen werden kann, lässt sich an einem (satirischen) Vorschlag zeigen, den Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern unter dem Titel »Nachahmung der englischen Cross-Readings« unterbreitet: Man muß sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin sowohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art, usw. anzutreffen sind: der Druck jeder Seite sei in zwei oder mehrere Kolumnen geteilt, und man lese die Seiten quer durch, aus einer Kolumne in die andere.61
Die witzige Montage der Fundstücke eines Spätaufklärers ergibt avantgardistisch anmutende, verfremdete ›Zeitungen‹, die in neuer linearer Anordnung dann das ästhetische Potential literarischer Texte gewinnen: Neulich gab der Churfürst dem Capitel ein splendides Diner – Drei Personen wurden gerettet, die übrigen ersoffen.62
Literatur erscheint als ein eigenes Sprachspiel, das über sich hinausweisend darauf zeigt, dass der Zufall in der Zeitung mitregiert und dass der Zufall der Zusammenführung ein Neues zutage bringt. Ein anderes Beispiel lässt die Vielfalt möglicher Einsatzpunkte zeitungstheoretischer Konzepte im literarischen Bewusstsein des späten 18. Jahrhunderts erahnen. So nutzt etwa Karl Philipp Moritz in seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) das publizistische Format Zeitung als öffentliches Forum für die Vielfalt merkwürdiger Einzelfälle, die in ihrer Individualität alle Anspruch auf öffentliches Interesse haben. Dabei antwortet die Periodizität strukturell auf die psychologisierende Darstellung von unabschließbaren Einzelfällen. Moritz nutzt darüber hinaus den Konnex zwischen der Temporalstruktur der Zeitung und dem Text der Darstellung, wenn er die je und je folgende Neuauslegung seiner Fälle metakommunikativ einer öffentlichen ›Revision der Revision der Revision‹ fortlaufend anvertraut.63 Anders sieht Moritz dieses Gleiten von Zeichenproduktion und Bedeutungsverschiebung 60
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Darin deutet sich auch eine historische Scharnierstelle von Zeitungstheorie zu Faktualitäts- und Fiktionalitätstheorien der Gegenwart an, die Sprache und Handeln wieder zusammengebracht haben; vgl. etwa Frank Zipfel. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001. Georg Christoph Lichtenberg. Sudelbücher. In: Ders. Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. II. 31994. Heft G 139–144. S. 161. Ebd. Vgl. etwa die entsprechenden Vorbemerkungen in den Ausgaben des Magazin für Erfahrungsseelenkunde von 1789 und 1791.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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in einem programmatischen Entwurf von 1784 für ein Ideal einer vollkommenen Zeitung.64 Hier schreibt er darüber, wie sich das Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutsamkeit bei der Zeitung im Horizont des Ganzen ergeben sollte. Er biegt mittels geeigneter Metaphorik des Großen und Erhabenen die zufallsanfälligen Laufrichtungen von zeitungsgestützten Kommunikationen um, um gegen publizistisch generierte Zerfallserscheinungen mit der gesellschaftlichen Gesamtheit einer einschließenden Kommunikation anzutreten: Wahrlich es ist zu verwundern, da man bisher so viel von Aufklärung geredet und geschrieben hat, daß man noch nicht auf ein so simples Mittel, als eine Zeitung, gefallen ist, um sie in der That zu verbreiten. Freilich aber müßte nun eine Zeitung, wodurch dieser Zweck erreicht werden soll, ganz anders beschaffen seyn, als irgend eine, die jemals noch bis jetzt ist geschrieben worden. Sie müßte aus der immerwährenden Ebbe und Fluth von Begebenheiten dasjenige herausheben, was die Menschheit interessirt, den Blick auf das wirklich Große und Bewundernswürdige, das Gefühl für alles Edle und Gute schärfen, und den Schein von der Wahrheit unterscheiden lehren.65
Abhandlungen und Zeitungsvorworte oder -pläne gehören zu den wichtigsten publizistischen Vermittlungsorten für Zeitungstheorie. Da diese auch von Literaturtheorie inspiriert wird, gerät die positive Würdigung der Zeitung in neue Spannungen mit negativen Urteilen, die unter Maßgaben neuer Literaturkonzepte über dieselbe gefällt werden. Zeitungskritik mutet hier zum Teil erstaunlich konventionell an, gerade angesichts von neuen Kunsttheoremen, die ihre Vorreiterrolle über neue Weisen, Form zu reflektieren, reklamieren. Gerade bei Autoren, die sich für die Zeitung und für die neue Literatur engagieren, lässt sich dies sehen. Zeitungstheorie, die sich nicht nur performativ, als Formgebung in einem Projekt niederschlägt, sondern diskursiv den Text als Ort der Auseinandersetzung mit der Zeitung aufsucht, spricht in der Konstellation Text und Medium dabei auf mehreren Ebenen über ihre eigenen kommunikativ-medialen Bedingungen. Diese selbstbezügliche Gemengelage soll im Folgenden zunächst an kritischen Einlassungen zu Form und Prinzip Zeitung von Johann Gottfried Herder vorgeführt werden. Herder ist ein wichtiger Vermittler zwischen universalistischer Litterärgeschichte und neuer Literaturgeschichtsschreibung und -kritik und maßgeblich an den ästhetischen Umbrüchen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beteiligt.66 Auch für Umschlagspunkte in der Zeitungstheorie, die nun die kulturkri-
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Karl Philipp Moritz. Ideal einer vollkommenen Zeitung. Berlin 1784. Zit. n. Die Zeitung. S. 127. Vgl. Jürgen Fohrmann. Literaturgeschichte als Stiftung von Ordnung. Das Konzept der Literaturgeschichte bei Herder, August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Bd. 11. Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. – Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Eberhard Lämmert. Tübingen 1986. S. 75–84.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
tischen Hinsichten auf Medien und Kommunikation mit ästhetischen und geschichtsphilosophischen Lesarten durchsetzen, kommt Herder eine wichtige Rolle zu.67 Herder tritt dabei in der Rolle des Warnenden auf. Er legt die Beziehungen zwischen Text, Literatur, Zeitung und Gesellschaft universalistisch aus, d.h. in Hinblick auf das große Ganze, das er in den Blick nimmt. Insbesondere bei seiner Zeitungskritik lässt sich der diskursive Wechsel vom enzyklopädischen Universalarchiv zur Universalie Kommunikation, die verantwortlich für jedwede Produktion von neuem Wissen ist, erkennen. Herder beteiligt sich an idealistischen Umschriften herkömmlicher Zeitungskritik, insofern er nicht nur der Prozesshaftigkeit von Kommunikation in ihrer Gesellschaft stiftenden Rolle nachgeht, sondern daran auch den Geschichtsverlauf beobachtet. Er nutzt den Text, den seine Zeitungstheorie schreibt, als Reflexionsmedium für eine generalisierte Medien-, Kommunikations- und Kulturkritik.68 »Man hat den Zeitschriften vorgerückt«, so schreibt Herder in einem Text von 1801, unter Anknüpfung an geläufige Zeitungsurteile, daß sie Theils durch Zerstückung, Theils durch das Gemisch ihres Inhalts die Aufmerksamkeit der Lesenden zerrißen, zerstreut, verwirrt und geschwächt haben. Diese Zeitschrift soll in jedem Stück ein Ganzes bilden; das Mannichfaltige soll der Einheit nicht schaden: denn gerade auf dieser Einheit, die aus dem Mannichfaltigen entspringt, beruhet der süßeste Genuß des Geistes.69
Die Rede ist von der eigenen Zeitschrift Adrastea, die dem Rückblick auf das vergangene 18. Jahrhundert und dessen Literatur gewidmet ist.70 Gegen das Herkömmliche und auch die Zeitungskritik stellt Herder nun das »Ganze« in Aussicht. »Jede[s] Stück« soll eine symbolisch-repräsentative Beziehung zum Ganzen unterhalten, das seinerseits die »Einheit« des »Mannichfaltigen« garantieren will. Diese symbolische Beziehung ist das neue Programm, das die Heterogenität, zu welcher die Form Zeitung aus Prinzip verführt, abwenden soll. Die Vorrede zur Adrastea, Dem Jahr 1801 setzt diese Formüberlegungen metaphorisch als Szene des über seine Sinne kommunizierenden Geistes um: In tausend Farben bricht sich der Strahl und hangt an jedem Gegenstande anders. Alle Farben aber gehören Einem Licht, der Wahrheit. In vielen melodischen Gängen wandelt der Ton auf und nieder; und doch ist nur Eine Harmonie, auf Einer Tonleiter der
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Herder ist in den letzten Jahren vermehrt als Medientheoretiker gelesen worden. Hierbei standen seine Überlegungen zur bildenden Kunst und zu Wahrnehmungsfragen im Zentrum; vgl. etwa Georg Braungart. Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. In ähnlicher Weise verfährt Herder, wenn er die Gattung der gelehrten Silvae und deren Faktur des Vermischten poetologisch neu bestimmt; vgl. dazu Wolfgang Adam. Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ›bei Gelegenheit‹. Heidelberg 1988. Hier S. 244ff. Johann Gottfried Herder. Fragen. In: Ders. Sämtliche Werke. Bd. XXIV. S. 421. Johann Gottfried Herder. Adrastea (Auswahl). Hg. von Günter Arnold. Frankfurt/M. 2000.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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Weltbegebenheiten und des Verhältnisses der Dinge möglich. Was jetzt mißklingt, löset sich auf in einem andern Zeitalter.71
Das Formproblem Zeitung mit seiner Affinität zum Vielen und Ungeordneten wird formalästhetisch beschworen und mit ihm die Moderne selbst gebannt, die mit der Heterogenität aller Phänomene und dem Auseinanderbrechen von Einheit droht. Im Kontext romantischer und klassischer Formreflexionen vertraut Herder für sein symbolisch aufgeladenes Zeitschriftenprojekt zudem auf die beiden Adrasteen »Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ordnerinnen der Welt«.72 Sie stellen die zwei Seiten einer guten Nemesis vor und können der Form eines Zeitungsvorhabens allegorisch als Schutzgöttinnen dienen. Den Sinngehalt der antiken Nemesis, der »Göttin des Maasses und Einhalts«, hat Herder in einem Aufsatz ausgefaltet.73 Die Prinzipien von Maß und Einhaltung des Gebotenen werden hier anhand antiker Texte und Darstellungen vorgeführt. Sie sind mit der Idee des geglückten Lebens verbunden: Nur wer die Nemesis beachtet, vermeidet Übermaß im Glück wie im Unglück.74 Herder greift die antiken Ideen des maßvollen Bescheidens in der Mitte zwischen Zuviel und Zuwenig auf und extrapoliert daraus eine allgemeine Sittenlehre der Verhältnismäßigkeit, die nun in neuhumanistische Erziehungsprogramme einwandern kann. Die Sinnbildhaftigkeit der Nemesis ermöglicht ihm den kritischen Blick auf die Kultur seiner Zeit: Es scheint, daß wir diesen sanften Umriß eines menschlichen Daseyns ziemlich aus den Augen verlohren haben, indem wir statt dieser Schranken so gern das Unendliche im Sinn haben und glauben, daß die Vorsehung immer nur dazu mit uns beschäftigt seyn müßte, um uns aus unsern Grenzen zu rücken, unsre Schranken unendlich zu erweitern und uns die Ewigkeit in der Zeit d. i. den Ocean in der Nußschaale zu genießen zu geben. Unsre Metaphysik und Wortphilosophie, unser Jagen nach Känntnißen und Gefühlen, die über die menschliche Natur hinaus sind, kennt keine Schranken und so sinken wir, nachdem wir uns in jungen Jahren vergeblich aufgezehrt haben, im Alter wie Asche zusammen, ohne Form des Geistes und Herzens, vielmehr also ohne jene schönere Form der Menschheit, die wir doch wirklich erreichen konnten.75
Dieser anspielungsreiche Passus auf die verdorbenen Sitten der Zeitgenossen, die die gemeinsame Arbeit am Geist durch eine unbescheiden gewordene Transzendentalphilosophie eher vernachlässigen als befördern, lässt sich strukturell mit schon früher geäußerter Zeitungskritik von Herder verbinden. Denn seinem Konzept des Maßhaltens, sei dies nun individuell, sei es in den Kultur und Gesellschaft übergreifenden Zusammenhängen von Wissenschaft und Kunst ange-
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Johann Gottfried Herder. Dem Jahr 1801. In: Ders. Ebd. S. 11–13. Hier S. 12. Ebd. Johann Gottfried Herder. Nemesis. Ein lehrendes Sinnbild. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. XV. S. 395–428. Hier S. 413. Vgl. etwa Marcus Tullius Cicero. De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch / Deutsch. Übers., komm. und hg. von Heinz Gunermann. Stuttgart 1976. Herder. Nemesis. S. 424f.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
wendet, liegt eine Vorstellung von den richtigen Relationen zwischen den Dingen der Welt zugrunde. Das rechte Maß ist für ihn die Bedingung einer »schöneren« Form, die sich von der kleinsten Einheit bis hin zur »Menschheit« dehnen lässt. Unter dieser Perspektive kann auch die Form einer Zeitung als Baustein einer allgemeinen Formenlehre kritisch bedacht werden und stellt ebenfalls eine Herausforderung an die Kultur des schönen Maßhaltens dar, die das moderne exzentrische Aus- und Abschweifen zu bändigen versteht. In diesem Sinne geht Herder in seinen »Fragmenten« Ueber die neuere Deutsche Litteratur von 1767 kritisch auf drei Journale seiner Zeit ein, bei denen das Maßhalten noch nicht gelungen ist.76 Es sind drei Zeitschriftenprojekte der mittleren Aufklärung, die Herder hier mustert. Sie bewegen sich zwischen Gelehrsamkeit und schöner Literatur: die von Friedrich Christoph Nicolai und Moses Mendelssohn herausgegebene Bibliothek der schönen Wissenschaft und freyen Künste (1757–1765), die von Lessing, Mendelssohn und Nicolai herausgegebenen Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (1759–1765) und die von Friedrich Christoph Nicolai seit 1765 herausgegebene Allgemeine Deutsche Bibliothek. Herders eigenwillige Medienkritik zielt angesichts dieser Zeitschriften und seiner eigenen Adrastea auf eine geschichtsphilosophische Kulturkritik der Form Zeitung, wobei er die Einzelfälle konsequent als formgebundenen Ausdruck der Zeit liest. Dies lässt sich genauer sehen, wenn man zunächst die Geleitworte interpretiert, die den drei anderen Zeitschriften von ihren Herausgebern mit auf den Weg gegeben wurden und die sich auf ihre Weise der Form Zeitung gestellt haben. Alle drei erwähnten Zeitschriften verbinden den Wunsch, mit der eigenen Unternehmung öffentliche Resonanz zu erzeugen, mit der Absicht, die öffentliche Aufmerksamkeit für Gedrucktes zugleich in ihrem Sinne zu steuern. Aufmerksamkeitslenkung ist eine sachliche Funktion von movere und spätestens mit Flugblatt und Zeitung tritt diese rhetorische Kategorie in das Zeitalter ihrer publizistischen Auswertbarkeit ein. Die Zeitungen und Zeitschriften, die sie sich mit ihrer Auswahl aus dem Vielen und Möglichen ein Profil geben, stellen in diesem Sinne Reaktionen im Umfeld konkurrierender Öffentlichkeiten dar. Innerliterarische Diskurse und Strategien mögen sich primär auf innerästhetische Fragen beziehen, sie dienen aber auch dazu, politisch und ökonomisch Fuß zu fassen. Nicht nur Rezensionen, sondern auch bibliographische Nachrichten, Abhandlungen, jedwede Form von Zeitungsliteratur sind unter diesen Bedingungen keine kontextlosen Phänomene, sondern Vehikel publizistischer Auseinandersetzung über das, was im geteilten Universum gedruckter Texte als wichtig ›vor anderem‹ erachtet wird. Dies Wissen um die Effekte von Positionsmarkierungen teilen auch Vorworte und Pläne der von Herder gesichteten drei Zeitschriften. Die Briefe der Herausgeber Lessing, Mendelssohn und Nicolai beginnen 1759 bekanntermaßen mit einer Anekdote über den im (siebenjährigen) Krieg verwun-
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Herder. Über die neuere Deutsche Litteratur.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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deten Soldaten, der nun über Briefe der Freunde über die »neueste Litteratur« auf dem Laufenden gehalten werden soll. Die Langeweile und der »Eckel vor politischen Neuigkeiten« haben ein Bedürfnis nach Abwechslung durch das Neue erzeugt, das hier nur von Literatur bedient werden kann: als Nachricht über Literatur und performativ von dieser selbst. Hier wird der Aspekt der Politikferne des Schönen in Kunst und Literatur in die Diskurse der Zeitungstheorie eingebracht, welcher Gedanke später prominent in der Horen-Einleitung aufgegriffen wird, aber auch in zahlreichen Literatur- und Unterhaltungszeitschriften des 19. Jahrhunderts für die Selbstbeschreibung von Projekten genutzt wird: Der Herr von N.** ein verdienter Officier, und zugleich ein Mann von Geschmack und Gelehrsamkeit, ward in der Schlacht bey Zorndorf verwundet. Er ward nach Fr** gebracht, und seine Wundärzte empfohlen ihm nichts eifriger, als Ruhe und Geduld. Langeweile und ein gewisser militarischer Eckel vor politischen Neuigkeiten, trieben ihn, bey den ungern verlassenen Musen eine angenehmere Beschäftigung zu suchen. Er schrieb an einige von seinen Freunden in B** und ersuchte sie, ihm die Lücke, welche der Krieg in seine Kenntniß der neuesten Litteratur gemacht, ausfüllen zu helfen. Da sie ihm unter keinem Vorwande diese Gefälligkeit abschlagen konnten, so trugen sie es dem Herrn Fll. auf, sich der Ausführung vornehmlich zu unterziehen.77
Zwar habe der »Herausgeber« die »völlige Gewalt [die Briefe] drucken zu lassen, wie und wenn« (LMN 4) er wolle, aber er füge sich dem Wunsch des Verlegers, der für die wöchentliche Erscheinungsweise plädiert habe. Der Kreis der Freunde, die Verfügungsgewalt über die Veröffentlichung und Auswahl sowie die Verbindung von subjektiver Einschätzung und publizistischem Zeitmaß sind Parameter der vielschichtigen Szene der Lit(t)eratur. Mit leichter Hand eröffnet die literarisierte Einleitung so ein Spielfeld, auf dem Freund und Feind kommunikativ erreicht werden sollen. Es geht um publizistische statt um kriegerische Interventionen, die Zustimmung und Widerstreit hervorrufen werden. Es ist der Spielraum von Literaturpolitik, der selbstbewusst besetzt wird: Wie mir, dem Herausgeber, die Briefe, welche daraus entstanden, in die Hände gerathen, kann dem Publico zu wissen oder nicht zu wissen, sehr gleichgültig seyn. Ich theile sie ihm mit, weil ich glaube, daß sie manchem sowohl von dem schreibenden, als lesenden Theile der sogenannten Gelehrten, nützlich seyn können. (LMN 3f.)
Das Vertrauen in das, was sein kann, geht ein Bündnis mit Literatur als Möglichkeitsraum für das Neue ein. Aber ihr Erscheinen in der Gesellschaft in dieser geplanten Form ist etwas Reelles, ein publizistisches Faktum, mit dem von nun an gerechnet werden muss.
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[Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn/Friedrich Christoph Nicolai.] Einleitung. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Hg. von dens. Berlin 1759. S. 3–4. Hier S. 3. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle LMN. Der verwundete Offi zier wird mit dem gemeinsamen Freund Ewald von Kleist in Verbindung gebracht, »der noch im August des gleichen Jahres [1759] an Kriegsverletzungen starb.« Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 2. S. 84.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
Gegenüber dieser die Szene der Lit(t)eratur halb im Ernst, halb mit ironischen Untertönen adressierenden Einleitung nimmt sich die Vorläufige Nachricht, die Nicolai und Mendelssohn kurz vorher, 1757, ihrer Bibliothek voranstellten, bedächtig aus. Prodesse und delectare sind Funktionen, die sich hier auf den weit gezogenen Rahmen der »schönen Wissenschaften« beziehen, in denen der Enzyklopädismus von Litteratur fortlebt: Die schönen Wissenschaften sind so reizend, und die Beschäfftigung mit denselben ist so angenehm, daß die Mühe auf das reichlichste belohnet wird, die man anwendet, um zur Vollkommenheit in denselben zu gelangen. Ausser dem Einfluß, den sie in die ernsthaftere Wissenschaften und in alle Theile des bürgerlichen Lebens haben, erstrecket sich ihre Herrschaft über alle Kräfte unserer Seele, deren Wirkungen sie verbessern und dieselben mit einem Vergnügen durchflechten, das sich über alle unsere Handlungen ausbreitet.78
Aber schon treten die »Liebhaber der schönen Wissenschaften« (NM 1) an die Stelle von »mürrische[r] Pedanterie« und formelhaft erstarrten Zeitungskritizismus. Diese Konfrontation verweist auf diskursive Trennlinien, die sich zwischen gelehrter und schöner Literatur seit dem frühen 18. Jahrhundert verfestigen: Wo sonst eine mürrische Pedanterie die Stelle der Ernsthaftigkeit, und ein ceremonieller Zwang die Stelle des Vergnügens einnahm, da wird durch die Hülfe der schönen Künste, ein anständiges gesetztes Wesen, und eine uneingeschränkte Freude eingeführet. Der wahre Geschmack an den schönen Wissenschaften, wird auch den ernsthaftern Wissenschaften nie schädlich seyn; er wird denselben Zierathen leihen, ohne ihrer Gründlichkeit Abbruch zu thun; die Wege derselben werden mit Blumen bestreuet werden, aber es werden eben dieselben Wege bleiben. (NM 2)
Theoretische Grundlegung der eigenen Ansichten, die Schulung des Geschmacks und die »Rücksicht auf den höhern Richterstuhl des Publici« (NM 7) sind geläufige Stichworte einer mittleren Aufklärungszeitschrift, die das lit(t)erarische Feld beliefert und beurteilt. Man versucht sich in der Haltung von kritischen Pluralisten. So wollen die Herausgeber sich zu keiner von den Sekten, die bisher eine lächerliche Herrschaft über das deutsche Reich des Witzes haben behaupten wollen, geschworen haben. Wir stehen in keiner Verbindung mit den Häuptern derselben, und wir machen keinen Anspruch weder auf ihre Clientel, noch auf ihre Freundschaft, durch welche Mittel schon so oft die ungereimtesten Lobsprüche sind empfangen und gegeben worden. Wir erklären aber auch, daß wir wider dieselben nicht eingenommen sind, noch vielweniger eine persönliche Feindschaft gegen sie hegen; wir begehren nichts weiter, als völlig neutral und keiner von beyden Partheyen Freund oder Feind zu seyn, so wie es unbestochenen Richtern gebühret. (NM 6)
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[Friedrich Christoph Nicolai/Moses Mendelssohn.] Vorläufige Nachricht, welche anfänglich besonders herausgekommen. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Hg. von dens. Ersten Bandes erstes Stück. Leipzig 1757 (Ndr. Hildesheim/New York 1979). S. 1–16. Hier S. 1. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle NM. Vgl. zur Zeitschrift Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 2. S. 75–81.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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Kritik, Meinungsbildung und kulturalistische Zuwendung sollen ausbalanciert bleiben, dabei aber viele Facetten von Aufmerksamkeit organisieren helfen. Damit hofft man wohl, die kulturpolitische Seite der publizistischen Unternehmung zu neutralisieren, »persönliche Feindschaft« zu vermeiden, auch wenn die Dinge beim Namen genannt werden. Gegen die Affekte im Richteramt soll nicht zuletzt ein Schuss grundständiger Gelehrsamkeit und Regelpoetik helfen: Wir denken aber unsere Schrift nicht mit lauter Beurtheilungen von Büchern anzufüllen, sondern werden uns angelegen seyn lassen, über alle Theile der schönen Wissenschaften kritische Abhandlungen zu liefern. Wir sind überzeugt, daß man ohne eine gründliche Kenntniß, und die genaueste Bestimmung und Berichtigung der Regeln, nie etwas vorzügliches in den schönen Wissenschaften leisten kann. [...] Wir hoffen durch diese Bemühungen die Aufmerksamkeit auf die wahre Schönheiten der Werke des Genies rege zu machen, und wir werden unsern Vortrag jederzeit so einrichten, daß wir vernünftigen Lesern unsere Meynungen nicht als Machtsprüche aufdringen, sondern sie durch die beygefügte Gründe in den Stand setzen, zu urtheilen, ob unsere Meynungen würdig sind, auch die ihrigen zu werden. (NM 10f.)
So ist die produzierte und hervorzubringende Urteilskraft in ein kommunikatives Verweissystem eingetragen, an dem Zeitungsleute und Zeitungsleser partizipieren sollen. Das publizistische Versprechen geht im Kern dahin, die Aufklärungsmaschine gut laufen zu lassen. Bei der dritten Zeitschrift, die Herder 1767 mit seiner Metakritik an Zeitungsprogrammen und -verfasstheiten angeht, handelt es sich um die von Friedrich Christoph Nicolai verantwortete Allgemeine deutsche Bibliothek. In einem Vorbericht entwirft Nicolai 1765 diese neue Unternehmung als einen Ort, von dem aus dem Publikum »eine allgemeine Nachricht« »von der ganzen neuen deutschen Litteratur vom Jahre 1764 an« geschickt werden soll.79 Dieser Anspruch auf das Ganze und Allgemeinheit, den Herder überprüfen wird, steckt bereits im Titel der »allgemeinen deutschen Bibliothek«, der das Periodikum mit Kennworten einer Text- und Buchkultur einführt. Das nationalkollektive Programm, die »ganze neue deutsche Litteratur« über Rezensionen nachrichtentechnisch aufzufangen, ist später als die große Leistung der ADB gewürdigt worden.80 Die sachlichen Schwierigkeiten, die das Projekt mit sich bringt, werden von Nicolai nicht in Abrede gestellt. Ähnlich wie polyhistorisch ausgerichtete Zeitungsleute stellt sich Nicolai der Herausforderung, das Zerstreute zu sammeln, um das Ganze zu verzeichnen und darin sichtbar zu machen: Der Verleger siehet die Weitläuftigkeit dieses Plans sehr wohl ein, und die Schwierigkeiten, die sich einer vollkommenen Ausführung desselben widersetzen, aber er lässet
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Friedrich Christoph Nicolai. Vorbericht. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Hg. von dems. Des ersten Bandes erstes Stück. Berlin/Stettin 1766. S. I–II. Hier S. I. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle N. Vgl. Wilke. Literarische Zeitschriften. Teil 2. S. 91, und die Studie von Ute Schneider. Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
sich dadurch von einem Unternehmen nicht abschrecken, welches, wenn es nur mit einiger Vorzüglichkeit ausgeführet wird, mit vielfältigem Nutzen für alle Liebhaber der neuesten Litteratur begleitet seyn muß. Diese sind in Deutschland in vielen Städten, zum Theil in kleinen Städten, wo nicht einmal ein Buchladen befindlich ist, zerstreuet, und Ihnen ist also sehr damit gedienet, zuverläßige Nachrichten von den neuen Büchern und von ihrem wahren Werthe zu erhalten, und vielleicht wird es Ihnen auch nicht unangenehm seyn, jährlich gleichsam, die ganze neueste Litteratur wie in einem Gemählde auf einmal zu übersehen. (N I)
Bei notwendiger periodischer Stückelung soll die Summe den Jahresbänden und deren Abschlussgesten, die Übersicht behaupten, anvertraut werden. Der Zeitungsmacher Nicolai sieht die strukturellen Konsequenzen der periodischen Lieferung auf sein Projekt »allgemeine deutsche Bibliothek« zukommen, wo die Teile nie das Ganze sind und jeder Publikationsakt ein unhintergehbares Ungenügen gegenüber dem Plan mitproduziert. Auch Nicolai entschuldigt sich deshalb dafür, dass er mehr verspricht als er aktuell einhalten kann: Wer die Weitläuftigkeit unsers Plans und die vielen Schwierigkeiten, die sich auf mancherley Art dabey finden, unpartheyisch betrachtet, der wird uns hoffentlich einige Nachsicht gönnen, wenn wir nicht auf einmal, alles, was wir uns vorgesetzet haben, leisten können. (N II)
Abhilfe verspricht aber auch die symbolische Vereinnahmung des Teils, der in der Zeitlichkeit seines eigenen Ungenügens das gegebene Versprechen des Ganzen in einer zeitungstypischen Verweisstruktur je und je erneuert. Die drei Zeitschriften und ihre Programme besetzen auf unterschiedliche Weise diskursive Umschlagspunkte, an denen ein enzyklopädisch ausgelegtes ›Alles‹ in neu gedachte, ideelle ›Ganzheiten‹ von Kommunikation, Kunst und Gesellschaft übergeleitet wird und darin das Problem des immer mehr zerstreuten Wissens auf Distanz halten. Die Literaturbriefe setzen auf die symbolische Interaktion, wo in einem möglichen Kreis von Vielen Einer oder allenfalls Wenige ›für alle‹ das Wichtige aufbereiten. Die Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste begibt sich, unter der Einheit stiftenden Bewegung der allgemeinen Urteilskraft, in eine symbolisch kodierte ›mittlere Lage‹, um möglichst viel zuzulassen. Die Allgemeine deutsche Bibliothek führt die publizistische Stimme des Einzelnen ein, der auf ein breit ausgewiesenes Netzwerk korrespondierender Mitarbeiter setzt, um so die Einheit deutscher Schriftkultur zu bündeln und repräsentativ vorzustellen. Die überkommene Zeitungsfrage, wie das Periodikum Zeitung seiner Form nach kommunikative Bezugnahmen auf das Aufzeichnungs- und Bemerkenswerte richtet und wer davon profitiert: wenige, viele oder alle, wird nicht nur über diese Zeitungsprojekte so in die Auseinandersetzungen um kollektive Zustände eingespeist. Dabei wird immer wieder der Skepsis Ausdruck verliehen, ob es überhaupt gelingen kann, »die Allen«, wie Franz Adam Löffler den Anspruch auf das gedruckte Kollektiv 40 Jahre später substantialisieren wird,81 mit all dem, was die
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Vgl. dazu Kap. VI.2 der vorliegenden Studie.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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Zeitung realisiert oder verspricht, zu erreichen. Ob Zeitungsprogramme wie die drei vorgeführten auf Dauer immer mehr versprechen werden als sie einhalten können, ist eine offene Frage für die Zeitungstheorie. Zumindest scheinen Verwerfungen zwischen Programmen und Realisationsformen zu entstehen, die immer wieder eine billigende Haltung der Rezipienten erfordern. Es sind nicht nur die Figurationen des unschuldigen Zeitungers, der unter politischer Observanz und technischem Zeitdruck stehend sein Publikum um Nachsicht bittet. Sondern Billigkeit erwarten auch Zeitungsleute, die ein selbstbewusstes Programm mit angekündigten Reichweiten und Relevanzen für ihre Leser entwerfen. Eine billigende Urteilskraft im Kollektiv scheint umso mehr nachgefragt, wo Rezipienten vermehrt selbst zu Produzenten werden; sie riskieren ihrerseits, dann selbst der öffentlichen Kritik zu unterliegen, die sie eben noch auf andere angewendet haben. Die Kritik der Kritik der Kritik ist Folge gesteigerter Selbst- und Fremdwahrnehmungsprozesse der Druckkultur, und sie wird auch im Zeitungsdiskurs gang und gäbe. Mit diesen Schleifen aus Selbst- und Fremdreferenzen setzen auch Herders kritische Formbeobachtungen zu den drei genannten Zeitschriften ein. In seiner Einleitung zu Ueber die neuere Deutsche Litteratur von 1767 stellt sich Herder als teilnehmender Beobachter von beobachteten Teilnehmerverhältnissen vor, in welchen die Zeitung als herausragendes Instrument gilt, mit dem kommunikative Prozesse initiiert und in Gang gehalten werden können. Die Inklusion durch gedruckte Kommunikationen hat der Erfahrung von kollektiven Zusammenhängen den Rücken gestärkt, zugleich diagnostiziert Herder eine inhärente Verfallsgeschichte: So sehr die Schriftsteller der Journäle sich über ihre Leser erheben: so sind sie doch beide mit einander Zwillinge eines Schicksals. Beide jagt die liebe Göttin Langeweile, die Mutter so vieler Menschen, und Menschlichen Werke, in die Arme der Musen; beide fliehen aus Eckel über Arbeit oder Muße, über Politische Neuigkeiten und Schriftstellerey, in den Schoos der Göttin Critik, um sich hier durch einen wachenden Schlummer zu zerstreuen und zugleich auch zu sammlen. Man wird ein Verfasser, oder ein Leser der Journäle, um die Ruhe und Geduld zu erlangen, die einem verwundeten Sohne des Mars oder der Pallas sehr eifrig zu empfehlen ist. Die Litteraturbriefe waren im Anfange ein Zeitvertreib eines kranken Officiers, nachher des kranken Publikums, und oft auch kranker und ermüdeter Verfasser, die vom Bücherlesen müde, und aus dem Felde des Autorruhmes siech zurückkamen.82
Die allegorische Einstimmung auf die Gegenwart macht neue Furien und Götter aus: die »Langeweile« und die »Göttin Critik«. Ihr Wirken zeigt sich an paradoxalen Verhaltensweisen: im »wachenden Schlummer« und in ›zerstreuter Sammlung‹. Verfasser und Leser von Journalen sind nach Herder davon gleichermaßen betroffen; »Ruhe und Geduld« die Empfehlung für die an den Folgelasten der Zeit erkrankten Zeitgenossen. Die Zeichen deuten auf Anstrengung und Ermü-
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Johann Gottfried Herder. Einleitung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I. S. 139–147. S. 139. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle HE.
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dung zugleich hin, was Gewinn zu sein scheint, birgt den Verfall in sich.83 Herder schreibt selbst wie ein Dekadenter, bei dem das kritische Bewusstsein müde geworden ist und der seiner Zeit und ihrem Fortschrittsdenken längst voraus ist. Doch schon im nächsten Satz löst der ›Prediger‹ Herder mit rhetorischem Schwung den Zivilisationskranken ab. Sein Fazit lautet: »Daher ist auch unsere Zeit um so viel reicher an Journälen, als sie an Originalwerken arm wird.« (HE 139) Kausal auf die Folgeerscheinung kranker Gegenwart bezogen, ist der Reichtum an Journalen für Herder kein positives Ergebnis seiner Zeit. Es ist der typische ›Herder-Ton‹, wo Zeitdiagnostik mit rhetorischer Verve und paradoxalen Einlassungen betrieben wird. So auch bei dieser Einleitung, »[d]ie einen Traum von einem allgemeinen Gemälde der Deutschen Litteratur enthält, und Anlaß gibt, die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die Bibliothek der schönen Wissenschaften, und die Litteraturbriefe zu prüfen.« (HE 139) Die negativen Hinsichten auf das Bestehende und der positive »Traum« sind komplementäre Seiten einer Kritik, die eine in sich zwiespältige Moderne besichtigt, damit diese von ihr lerne. Herders Einleitung warnt und verheißt; sie erzählt von dystopischen Momenten und inszeniert utopische Ausblicke. Sie setzt die Autorstimme in die Mitte der Zuteilung ein, die wie Nemesis das kritische Abwägen und Austeilen vollzieht. Die geschichtsphilosophisch-idealistische Betrachtungsweise lässt herkömmliche Zeitungs- und Kommunikationskritik hinter sich, indem sie die Form der Zeitung zur Angelegenheit einer Beschreibung von moderner Gegenwart macht. Im genaueren Sinne: Herders Zeitungskritik übt eine geschichtsphilosophische Kultur- als Medien- und Kommunikationskritik aus. Deren bevorzugtes Reflexionsmedium ist der Text der Darstellung. Dessen narrative Organisation repräsentiert nicht nur die Autorschaft des Kritikers, sondern antwortet auf die zerstreuten Sammlungen von anderen Autoren. Die gesellschaftliche Konkurrenz zwischen der Arbeit am Journal und der Arbeit am »Originalwerk« bietet so eine Neuauflage der Beziehung zwischen den Medien Zeitung und Text. Die Form Zeitung muss sich vor einem kritischen Blick bewähren, der an den Darstellungsgeboten, die Texte betreffen, geschult ist. Die Narrative von Herders Text kolportieren ästhetische Theoreme, etwa das Fragment, die sich selbstbezüglich auf eigene Darstellungsverfahren beziehen und zugleich die Form Zeitung als misslingendes Stückwerk kritisieren können. Die Kritik an der Form Zeitung ist also wörtlich eingeschrieben in ein emphatisches Selbstverständnis von eigener Textarbeit. Diese entfaltet sowohl ihren ideellen Zielpunkt, den »Traum« eines wahren Journals, und ihren Realismus, die Einschätzung gegenwärtiger und vergangener Zeitungsprojekte. Die Arbeit am Text, der sich als Zeitungstheorie lesen lässt, fällt damit in zweifacher Weise poetologisch aus: in Bezug auf das Gelingen des eigenen Textes in darstellerischer Hinsicht und in Bezug auf das Vorhaben, zu einer positiven Be83
Vgl. zur geschichtsphilosophischen Ausrichtung der (deutschen) Kulturkritik Georg Bollenbeck. Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M./Leipzig 21994.
V.3. Die Zerstreuung im Ganzen
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schreibung eines neuartigen Vorhabens ›Journal‹ zu kommen. Dieses sollte dann anders ausfallen als das bislang von auf diesem Gebiet Geleistete. Vorrede, Einleitung und die nachfolgenden Beiträge zur neueren deutschen Literatur suchen sich dazu zwischen »Fragment« und »Gemälde« eine metaphorische Zurüstung für ihre Formreflexionen. Schon die Überschriften zehren dabei von der narrativen Geste ›Text‹ als Formgebung, die die Prozesse von Archivierung und kommunikativem Austausch mit einschließt. Der Haupttitel lautet: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Darauf folgt die Vorrede, dann die Inhaltsangabe des »Inhalt[s] der ersten Sammlung«, deren erster Text die ›Einleitung‹ ist. Dieser folgen dann die »Fragmente von Abhandlungen«.84 Der genauere Wortlaut der Überschrift für die vom Inhaltsverzeichnis aufgeführten Einleitung ist auf barocke Weise erzählend und überbordend gestaltet (wie auch die Titel der dann nachfolgend versammelten »Fragmente«): Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Erste Sammlung. Einleitung. (Die einen Traum von einem allgemeinen Gemälde der Deutschen Litteratur enthält, und Anlaß gibt, die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die Bibliothek der schönen Wissenschaften, und die Litteraturbriefe zu prüfen). Herder beginnt die Einleitung zunächst mit einer Zeitungsschelte, die den alten Vorwurf der Neugierde, die alle Menschen betrifft, aufgreift. Journale hinterlassen dabei auf geradezu unsittliche Weise ihre Spuren im Bereich Lit(t)eratur: Je mehr Bücher, sagt Rousseau, desto weniger Weisheit; je mehr Ehebruch, desto weniger Kinder: je mehr Journäle, desto minder wahre Gelehrsamkeit. Man läuft auf die Märkte, Neuigkeiten zu hören: der Kunstrichter als ein Proselyt der Gerechtigkeit; der Leser als ein Proselyt des Thors; und der wahren Bürger sind so wenig, daß man auch selbst schon zu den Neuigkeiten Fremde braucht. (HE 140)
Mit satireähnlichen Mitteln werden einseitige Typen des alltäglichen Verhaltens identifiziert. In der Konfrontation mit dem anschließenden »Traum« gewinnt diese Typenlehre ihre hermeneutische Tiefenschärfe. Die mediale Metapher für die Reflexion des Ideals im Traum ist das »Gemälde« mit seinen ganzheitlichen Konturen. Gegen das Traumgemälde werden die anschließend kritisch gesichteten Programme der drei Zeitungen als Teile einer fortgesetzten Reihe verhandelt. Die darauf folgenden eigenen »Fragmente«, die Herder nach der Einleitung aus dem Ganzen der Lit(t)eratur aufbieten wird, korrespondieren dagegen mit der Konzeptfigur des Gemäldes aus der Einleitung. ›Fragment‹ und ›Gemälde‹ treten in Herders Text in einen wechselseitig kommentierenden Verweisungszusammenhang. Es geht mithin um eine poetologische Absicherung der Performanz der eigenen Texte und ihrer Darstellungsweisen. Dies zeigt sich bereits in der Einleitung, wo komplexe intertextuelle und intermediale Verhältnisse in der Gegenwart für den Zweck der Erzeugung von Evidenz metaphorisch zu wenigen Konturen verdichtet werden. Die mediale Option eines »allgemeinen Gemäldes«, 84
Ich beziehe mich hier auf die bereits zitierte Suphan-Ausgabe.
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die der »Traum« bemüht, stellt der schlechten Gegenwart die Schönheit ausbalancierter Verhältnisse gegenüber. Appellationsinstanz für die visionäre Schau ist die Einbildungskraft, mittels welchen Vermögens sich der Leser gemeinsam mit dem Schreibenden das künftig Mögliche vor Augen führen soll. Im Unterschied zu alltäglich anzutreffenden Gewohnheitsmenschen signieren hier große Namen als Synekdoche für bedeutende Menschen das Programm für ein kommendes, wünschenswertes Journal: Indessen denke ich mir ein Journal, das mehr als Briefe, Auszüge und Urtheile zum Zeitvertreibe enthielte: ein Werk, das sich den Plan vorzeichnete zu einem ganzen und vollendeten Gemälde über die Litteratur, wo kein Zug ohne Bedeutung auf das Ganze wäre, er mag sich im Schatten verbergen, oder ans Licht hervortreten: zu einem Gemälde, das die Natur des Titian mit der Grazie des Corregio und der Bedeutungsvollen Idea des Raphaels zu verbinden suchte: kurz! ein Werk, das eine Pragmatische Geschichte im gelehrten Staat würde, so wie die Annales des Tacitus im Politischen Staat diesen hohen Namen verdienen. Man lasse mich meinen Traum verfolgen! (HE 140)
Im »Gemälde« wird der Entwurf für ein künftiges Journal »über die Litteratur« auf die höhere Stufe einer ästhetisch verbürgten Anschaulichkeit gehoben. Die Form Zeitung bekommt darin Werkqualitäten zugesprochen, und erst als ein solches kann es ein Journal mit der »Litteratur« aufnehmen, wo »kein Zug ohne Bedeutung auf das Ganze« bliebe, »Schatten« in ein komplementäres Widerspiel mit dem »Licht« treten. Die Synekdochen, mittels welcher »Natur«, »Grazie« und die Idee des »Werks« mit den Namen »Titian«, »Corregio« und »Raphael« verbunden werden, spielen auf den ausgezeichneten Rahmen an, in dem dieser Traum von einem Journal sich entwirft: Kunst ist sein Name. Den »Märkten«, auf die die modernen Menschen laufen, um »Neuigkeiten zu hören«, können nur die Mittel und Zwecke der Kunst entgegentreten. Die Szene des Markts verweist auf Bindungs- und Verantwortungslosigkeit; ihr kontrastieren die ruhmvollen Bindungskräfte der Kunst. Kunst verbürgt einen Raum mit Anspruch, der das Maß vorgibt, an dem das wahre Journal der Lit(t)eratur auszurichten ist. Um Lit(t)eratur in der Form Zeitung richtig darstellen zu können, muss Zeitung, statt Stückwerk zu liefern, wie ein Kunstwerk, etwa ein Gemälde, zu einem Symbolsystem der unablässigen Verweisung werden. Dies ist ein anspruchsvolles Programm: Es verlangt die Verknüpfungsleistung, die korrespondierende Teile entfalten, nicht nur für die Gegenwart, sondern für die gesamte Geschichte der Lit(t)eratur. Das vom Kritiker erträumte künftige »Journal« wäre umfassendes Archiv und Zeugnis ablegendes Medium für eine Gegenwart, die sich ihre Geschichte in ihrer Gänze erfolgreich aneignete. Die Gemäldemetapher setzt zugunsten des ganzheitlichen Zusammenhangs deshalb Zeit und Prozesshaftigkeit aus. Der Plan für das Künftige verbraucht dennoch Zeit, entwickelt sich im Diskurs des Schreibenden, in einer Skizze über das, was man für ein künftiges Journal tun könnte, sollte und müsste. Zunächst steht die Klärung der gegenwärtigen Kulturstufe an.85 Aus dieser Klärung ergibt sich die Forderung nach einer Reno85
Vgl. Herder. Einleitung. S. 140f.
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vatio, die den »wahren Bürger« hervorbringt, der dann die künftigen Verhältnisse bestimmen wird. Sein Idealtypus kommt der Idee des Werks entgegen: ein Baumeisters wird gesucht. Er beherrscht das Planen des »Plans« und überwacht die Aufrichtung des neuen »Gebäudes«. Die Arbeit am Gebäude wird dann in einem ›bewegten Bild‹ vorgeführt, das eine allegorische Anleitung zur höheren Praxis von Zeitungskunst enthält. Die Kontur des »allgemeinen Gemäldes« wird in die Konturen des Bauvorhabens verschoben und die Rolle des Kritikers wird in die Figur des Maß nehmenden Baumeisters eingetragen. Es ist eine Lehre der befriedenden Kulturation, die mit den Kulturtechniken des Planens und Errichtens verbunden ist. Die Willkür, die Famas Zuteilungen von Anerkennung auszeichnet, wird mit der Zeitungs- als kollektiver Baukunst, wo einer den anderen braucht, vertrieben. Die neue, wohlgeordnete Wohnstatt der Kommunikation erscheint bereits im Vollzug von Kultur fördernder Arbeit; selbst die »Lärmer« sind hier nur notwendige Schatten derjenigen, die es besser wissen: Jetzt mache ich den Riß zu dem Gebäude auf diese Grundlage [der Geschichte von zurückgelegten Kulturstufen]: wiefern wird durch jede merkwürdige Frucht des Geistes ein neuer Stein und Pfeiler dazu gebracht werden? wie jener unglücklich gebauet; dieser das gutgebauete unglücklich niedergerissen? wie jener Handlanger ein Baumeister, und dieser Baumeister ein Kalklöscher seyn sollte? wie viel unerkanntes Verdienst jener stille Fleißige habe, wie viel Aufmunterung dieses Genie verdiene, um nicht im Fleiße zu ersticken; wie viel Schaden jener Lärmer dem Ganzen zugefüget, und wie er auf bessere Wege zu lenken sey? Dies alles zeige ein Kunstrichter im Plan, der Gelehrte übe es aus, und der Pfleger der Wissenschaften halte jene zur Ausübung an, befördere den Fleiß, und erwecke das Genie. (HE 141)
Die gemeinsame Arbeit am Gebäude stiftet den Werkzusammenhang allgemeiner Kulturation: Zeigen, Ausüben, Pflegen, Befördern, Wecken sind Leistungen, die über verschiedene Rollen, zu denen ein jeder sich bereit erklären sollte, eingebracht werden. Die Sozialität stiftende Kulturleistung von Maßnehmen und Maßhalten steht so zwischen der Momentaufnahme, die das fertige Gebäude vorwegnehmend im Blick hat, und der narrativ-diskursiven Darstellung, die der Prozesshaftigkeit erst zu leistender Arbeit Genüge tut. Die Erzählung von einem Gemälde, das einen Arbeitsprozess beinhaltet, ist ästhetisch-kritisch aufgehoben in den fortgesetzten Fragen nach dem Wie: »wie« etwas »seyn sollte«, »wie« etwas »zu lenken sey«? Der Idealismus des »Traums« zeigt sich in der Möglichkeit, dass etwas Ideales planbar ist. Wo Planbarkeit vorstellbar ist, erscheint deshalb auch konkrete, künftige Erfüllung möglich. Man kann davon sprechen, dass hier von einer zweiten, neuklassisch inspirierten Idee von Erneuerung ausgegangen wird, der die ideelle Konzeption von ganzheitlicher und darin zugleich schöner Antike zugrunde liegt. Denn angespielt wird auf Raffael, Corregio und Tizian, die ihrerseits eine hochstilisierte Ideal-Antike in der Malerei hervorgebracht haben. Der Kritiker schlägt seiner Gegenwart in einem der Zeit enthobenen literarischen »Gemälde« sein Gegenbild zu herrschenden Zuständen vor. Er bemüht Geschichte, um auf die Zukunft zu verweisen und agiert als rückwärtsgewandter Prophet im Sinne der Geschichtsphilosophie von Friedrich Schlegel. So wird Ästhetik
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zur prima philosophia, die nun auch für Formfragen an ein Journal für Lit(t)eratur grundlegend ist. Das Ideal, der Traum, das Gemälde agitieren, werben für die richtige Form. Wie etwas zu erfüllen sei, lässt sich nur im Verbund mit der Frage lösen, wer diejenigen sein könnten, die die anstehenden Aufgaben bewältigen könnten, und auch wann die Zeit dafür da ist und wo die Arbeit am besten zu leisen wäre. Die Antworten sind in den Diskurs eingeschrieben: am Ort von Literatur mit ihren Kommunikationsmedien wie ein Journal, durch geeignete Personen, die das Rollensprechen als »Kunstrichter«, als »Gelehrte«, als »Pfleger der Wissenschaften«, als »Genie« bewältigen, in der Gegenwart, die als sich aufdrängende Szene von Krisis entworfen wird. So sind Fragen, Antworten, Probleme und ihre Bewältigung nicht ablösbar von der Darstellungsart und Erzählweise, die dieser Text wählt, sind als allgemeine Fragen an die individuelle Narration gebunden, die auftritt, als ob sie ihre Zeitungskritik allein pragmatisch ausrichte. Da Herders kultur- und zeitkritische Diagnose über sich hinausweist, wenn sie davon redet, dass es die kritische Aufgabe ist, von Plan und Erfüllung darstellend zu träumen, kann sie es sich auch erlauben, mehr Fragen für künftige Entwicklungen aufzuwerfen, als vorausplanend der eigene Text schon Antworten geben will und kann. Der Beobachter tritt dazu in ein dem Ideal entgegenstehendes Zeitgemälde ein. Hier hält er Ausschau unter seinen Zeitgenossen und kolportiert so die aktuelle Moderne als Zustand in der Verwirrung, wo das Vielfache den Blick auf das Ganze verstellt: Wo ist nun ein hundertäugiger Argos, um dies alles zu übersehen? Wo ein Briareus mit hundert Händen, um es auszuführen? Und wo ein Gesezgeber, wider den auch die eigensinnigen Genies, die Ziegenbärtigen Grammatiker, und der Pöbel von Uebersezzern und Systemschreibern keine Wiederrede hätte? Wir arbeiten in Deutschland wie in jener Verwirrung Babels; Secten im Geschmack, Partheien in der Dichtkunst, Schulen in der Weltweisheit streiten gegeneinander; keine Hauptstadt, und kein allgemeines Interesse: kein großer allgemeiner Beförderer und allgemeines Gesezgeberisches Genie. (HE 141)
Herders Kultur- und Zeitungskritik fällt in solcher Polemik dann auch konventionell aus, in dem Sinne, dass sie das überkommene Urteil der Meinungsmacherei oder den Topos der den Deutschen fehlenden Hauptstadt aufgreift. Der teilnehmende Beobachter lässt so utopische und dystopische Szenerien passieren. In der Wendung auf die eigenen Vorschläge erweist sich sein Diskurs auch als Textmaschine des Kulturkritikers, der Vorschläge macht, Pläne verfolgt, ausprobiert und verwirft: Da dies Werk für einen nicht ist; so theile man die Arbeit, oder den Plan. Den Plan? Dies gienge nicht so füglich an. Ein großer Theil der Wissenschaften macht einen Körper, wo man kein einzelnes Glied nach bloßem Gutdünken pflegen kann, ohne dem Ganzen zu schaden: und dieser Theil trägt den Namen Litteratur. (HE 142)
Ein »Name« garantiert Identität und also auch Zusammenhang; »Litteratur« wird als organische Form ausgezeichnet; die Apostrophe des Ganzen wird über diesen
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ausgezeichneten Namen ermöglicht. Herder verwendet darüber hinaus den alten Litteratur-Begriff mit universalhistorischer Referenz. Wer in diesem Feld der Geschichte von Sprache und Schrift nachgeht, verfolgt die zivilisatorischen Spuren der Menschheitsgeschichte: »Litteratur« ist [e]in weiter Name, dessen Gebiet sich von den ersten Buchstabierversuchen erstreckt, bis auf die schönste Blumenlese der Dichtkunst: von der Züchtigung elender Uebersezzer nach der Grammatik und dem Wörterbuch bis zu den tiefsten Bemerkungen über die Sprache: von der Tropologie bis zu den Höhen, die nur das Sonnenpferd der Einbildungskraft auf Flügeln der Aurore erreicht: von den Handwerkssystemen bis zu den Ideen des Plato und Leibniz, deren jede, wie ein Sonnenstrahl, siebenfarbichtes Licht enthält: Sprache, Geschmackswissenschaften, Geschichte und Weltweisheit sind die vier Ländereien der Litteratur, die gemeinschaftlich sich zur Stärke dienen, und beinahe unzertrennlich sind. (HE 142)
Der »Plan« sollte also dem im Namen aufgerufenen »Körper« »Litteratur« Rechnung tragen. ›Gemeinschaftliche Stärke‹ ist integraler Bestandteil eines gegliederten Körperzusammenhangs; wie »Ländereien«, die »beinahe unzertrennlich sind«. Die Metaphorik des ›beinahe Unzertrennlichen‹ lässt sich nicht ganz einfach deuten. Auf jeden Fall scheint es keineswegs um die moderne Aufteilung des Ganzen in die unverbundenen Parallelwelten getrennter Funktionsbereiche zu gehen: So theile man alsdenn die Arbeit? – Nur theile man sie recht, lenke sie recht zusammen, und habe stets das Ganze im Auge. Ein wahrer Kunstrichter in solchem Journal muß nicht Bücher, sondern den Geist beurtheilen, sie mit ihren Schwächen und Größen gegen einander abwägen, und nicht ihr System sondern ihr Urbild verbessern. [...] Wie schwer ists, Proben zu Grundsäzzen zurückzuführen, und Versuche zu Meisterstücken zu erheben; beständig mit und statt seines Autors denken zu können, statt seiner zu arbeiten, und das Ganze nicht aus der Acht zu lassen: wie schwer ists, sich und seinem Schriftsteller, und dem Leser und der Schutzgöttin Litteratur ein Gnüge zu thun? so schwer, daß mein Plan lange ein Traum meiner Phantasie bleiben wird. (HE 142f.)
Ein platonisch konzipierter Riss tut sich in der Welt zwischen »Urbild« und ausführender Arbeit auf; dennoch geht es um Veränderung im Sinne von Verbesserung gegenwärtiger Verhältnisse. Nicht die Abwendung von, sondern die Hinwendung zu den Phänomenen der Welt ist nötig, um die Verfallsgeschichte aufzuhalten. In diesem Sinne begnügt sich auch der Kulturkritiker nicht mit dem Gemälde seiner Ideale, sondern widmet sich der mühseligen Arbeit einer Kritik im Einzelnen, die das Bestehende einer Revision unterzieht. Der zweite Teil der Einleitung gilt dann den drei genannten Journalen. Die eigene Sammlung von Fragmenten versteht sich anschließend nur als »Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend«. Der Kursus der Kritik verbindet auch auf diese Weise Rückschau, aktuelle Arbeit und künftig zu Leistendes. Die auf die Realität des bislang Erreichten zielende Kritik an vorliegenden Zeitungsunternehmungen beginnt Herder mit Gründen erst nach dem historischen Ende der Literaturbriefe. Darüber gibt seine Vorrede Auskunft, die der Ein-
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leitung in die Sammlung vorangestellt ist.86 Seine Beiträge zur zeitgenössischen Literatur und Literaturkritik suchen unter dem Titel »Beilage« einen supplementierenden Kontakt zu den von Lessing, Mendelssohn und Nicolai herausgegebenen Literaturbriefen. Es heißt in der Vorrede: Diese Fragmente sollen nichts minder, als eine Fortsezzung der Litteraturbriefe seyn: man darf also, über ihren Titel nicht erschrecken. Es sind Beiträge, Beilagen zu denselben, nach dem Schluß aller ihrer 24 Theile. (HV 133)
Der sich bescheiden Gebende sieht sich allerdings als Teil eines historischen Prozesses, der auch sein Schreiben einholen wird: Es ist immer mißlich, einen berühmten Kunstrichter über ein Volk von Schriftstellern in der Rede zu stören. [...] Aber nach geendigtem Werke urtheile man; alsdenn tritt der unumschränkte Diktator selbst vor die Schranken als Bürger; alsdenn mischt sich der Schauspieler unter die Zuschauer, und hört das Urtheil derer am liebsten, die während der Rolle weder klatschen noch pfeifen mochten; alsdenn ist das Aegyptische Todtenurtheil gerecht, und für die Wahrheit der Geschichte nüzzlich, insonderheit wenn mündige Verwandte leben, die sich vertheidigen können; alsdenn kann man füglich zu 24 Theilen Litteraturbriefe einige kleine Beilagen machen. (HV 134f.)
Auch hier dient die Gemäldemetaphorik dazu, über innere Relationen einen notwendigen Ort zu definieren, von dem aus die Kritik der Vorläufer betrieben werden kann: Ich will mich blos, nach ihrem Leitfaden [der Literaturbriefe], von der Litteratur meines Vaterlandes unterrichten, und ein Gemälde derselben in den lezten 6 Jahren, im Schatten entwerfen. (HV 134)
Die Vorrede entwirft wie die nachfolgende Einleitung eine poetologische Schutzrede für die eigene Textarbeit. Denn deren eigene Beweglichkeit versetzt auch das wie abgeschlossen Vorliegende wieder in Bewegung. Zerstörung und Neubildung sind zwei Seiten eines Prozesses, einer Geschichte: Ich sammle die Anmerkungen der Briefe, und erweitere bald ihre Aussichten, bald ziehe ich sie zurück, oder lenke sie seitwärts. Ich zerstücke und nähe zusammen, um vielleicht das bewegliche Ganze eines Pantins zu verfertigen. Dazu habe ich Freiheit, wie ich glaube: denn wenn die Briefe sich durch das Fruchtland anderer Wege bahnten, so kann ich ja zum Vortheil des Besitzers diesen Weg wieder überpflügen. (HV 135)
Die Textbewegung wird hier vorromantisch als Freiheit der individuellen Aneignung in intertextuellen Verhältnissen gefeiert; es ist die große, gemeinsame Aufgabe der Kulturation durch die Arbeit an der Lit(t)eratur, in die in der Einleitung das ideale Journal mit einbezogen wird. Die Kommunikation der Texte wird dabei von einem starken Begriff der Sache Text als Werk gestützt, mit welcher Idee auch das »Fragment« dem Körper der »Schutzgöttin Litteratur« (HE 143) ange86
Johann Gottfried Herder. Vorrede. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I. S. 133–136. Im Folgenden der bibliographische Nachweise unter der Sigle HV.
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hört und im Reich organisch verbürgter Notwendigkeiten beheimatet ist. Bei dieser Vorgabe kann die Form Zeitung im zweiten Teil der Einleitung dann als die höchst ambivalente Mitspielerin in den Kommunikations- und Medienkulturen der Moderne erscheinen. In Herders geschichtsphilosophisch-ästhetischer Umschrift der Zeitungskritik rückt diese Form in ihrer schlechten Gegenwart an den Gegenpol einer schlechten Textur: das Stückwerk ohne Bezug auf das Ganze. Der »Traum«, der als »Gemälde« den »Plan« des Ganzen als »Körper« der Lit(t)eratur organisiert, steht als positive Zeitungskritik den Phänomenen gegenüber, die Herder anschließend in einer negativen Zeitungskritik vorführt. Was endlich besser zu machen sei, lässt sich an dem demonstrieren, was es schon gibt, und seien es Journale in der Qualität der Literaturbriefe, der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der Allgemeinen deutsche Bibliothek. Das Licht, das vom Neuentwurf ausgeht, verweist sie in den Schatten.87 Auch wenn die Allgemeine deutsche Bibliothek zur Zeit der Abfassung von Herders kritischem Text noch publiziert wird, also nicht in abgeschlossener Form vorliegt, wird sie doch wie die anderen beiden Journale anhand der Ankündigung und bislang vorliegender Veröffentlichungen in Relation zu Herders Idealplan eines Journals eingeschätzt: Drey Werke sind es, die mit diesem Grundriß eine Aehnlichkeit haben, und die ich also darnach beurtheilen darf. Ist mein Ideal eigensinnig, so zeichne ich, wie es der Gestalt und Schwäche meiner Augen erscheint. Sie erheben sich über die übrigen Journäle so sehr, als nach Virgils Gleichniß Rom über die Schäferhütten und die Cypressen über das Gesträuch. Indessen kann man doch auch über Rom urtheilen. (HE 143)
Im Urteil über die modernen Spielarten von Rom bestätigt sich die moderne Urteilskunst als diejenige, die es eben versteht, durch kritische Stellungnahmen den Geschichtsprozess voranzubringen. Herders Zeitungskritik nimmt eine Standard gewordene Frage auf: die Frage nach der Relevanz einzelner Texte für alle Leser, um den zeitungstypischen Anspruch auf Allgemeinheit des Veröffentlichten als das relevante Anliegen von Publizistik zu überprüfen. Genau hierin wird erkennbar, dass Zeitungskritik in universalistische Kulturkritik umschlägt: Die Deutsche Bibliothek hat einen zu weiten Plan, um allgemein zu seyn. Da sie sich über die erst gezeichneten Gränzen der Litteratur auch den sogenannten höhern Wissenschaften mittheilet: so muß sie die höhern Handwerks- und Kunstwerke nur in einem Philologischen Gesichtspunkte zeigen, der dem gemeinen Leser zwar bequem, aber dem Liebhaber dieses Feldes viel zu entfernt ist. Entweder man befriedigt also den leztern nicht, der sie im ganzen Licht erblicken will: oder man hat dem grösten Theil der fremden Leser die Frage vorzulegen: Verstehest du auch, was du liesest? [... ] Ich könnte aus jedem Theil solche Schriften anführen, die oft blos aus einem Nebengesichtspunkt betrachtet sind, ja von denen man gar nur ein allgemeines, und einseitiges Urtheil fällen konnte; weil es in einer allgemeinen Bibliothek stehen sollte. Auf die Art
87
Zu allen drei Zeitschriften und zu Herders Rezensionen von gelehrten Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit vgl. auch Habel. Gelehrte Journale und Zeitungen.
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bildet man unvollkommene Polyhistors, aber keine Pansophen der Litteratur: das Werk wird ungleich, und mangelhaft: ex omnibus aliquid, ex toto nihil. [...] Die Briefe über die N. Litteratur haben kein Lehrgebäude liefern wollen, doch aber nennen sie es ein Gemälde der Litteratur in den lezten Jahren. Vielleicht könnte man die Briefe über den jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland für ihre Grundlage ansehen; allein auch diese reden blos von Stückwerken von Betrachtungen, wie ich von Fragmenten: und als Gebäude wollen sie also ihr Werk nicht beurtheilen lassen. Man dankt es also den Verfassern, daß sie manchmal ihre Lieblingswendungen ergreifen, um von einer Sache überhaupt zu schwazzen: Briefeingänge, Präludien und Episoden, die mehr werth sind als ganze Critiken. Warum ists nicht öfter geschehen, dass sie die Bibliothek der schönen Wissenschaften zur Basis ihrer Briefe gemacht, wie sie es versprachen. Oft wenn diese, ihres Namens Bibliothek eingedenk, Auszüge von Büchern lieferte, die ich mir selbst machen konnte und mußte, wäre ein freies Urtheil im Geschmack der Litteraturbriefe willkommen gewesen. Vielleicht wären oft beider Urtheile verschiedner gefallen, wenn sie sich mehr bemerkt hätten: indessen bleiben beide Werke die Pendanten zu einander, die manche Nachbarn nicht aufzuzeigen haben. (HE 143f.)
Wie das Allgemeine als das Ganze in notwendigen Relationen beachtet und in der Darstellung symbolisch erreicht werden kann, ist für Herder nicht nur eine Frage von Texten, sondern von Medien und Kommunikationen in jedweder Form. Was sich aber in der Gegenwart zeigt, ist das Viele der Schriftkultur, die in Verwirrung stiftenden Bezugnahmen und verpassten Gelegenheiten besteht. So tritt, »ex omnibus aliquid, ex toto nihil«, die Mangelhaftigkeit des Mannigfaltigen ein in eine metonymisch entfaltete Kette von peripheren Berührungen zwischen Medien- und Kommunikationsformen. Sie verweisen auf Wahrnehmungsfähigkeit und Blindheit teilnehmender Beobachter gleichermaßen, die Zusammenhänge erzeugen, aber den Zusammenhang verfehlen. Die geschichtsphilosophisch hergeleitete Erzählung über den Zustand moderner Unordnung im Ganzen verdankt sich einer idealistischen Erzählweise, die diese Kehrseite braucht, um das Ideal umso schöner erscheinen zu lassen. Die Unzufriedenheit des Zeitungskritikers ist der Preis eines solchen Zeitungstraums, wie Herder ihn entwirft. Die fortgesetzte Beschreibung der bewegten Gegenwart der Lit(t)eratur und ihrer Medien führt den Beobachter derselben schließlich wieder an den Rand der Erschöpfung, mit der die Kulturdiagnose begonnen hatte. Kein Fazit kann die Aufzählung dessen, was nicht gelingt, beenden. Sondern, in der Konsequenz eines prozessierten Missvergenügens, bricht ein Geständnis des Autors die Textbewegung ab, die, im Sinne des Ganzen als Utopie, selbst ja an kein Ende kommen kann: [...] wenn man die Nachrichten und Urtheile, wie zerstreuete Perlen in einen Halsschmuck sammlen, und bei der Critik der Dichter härter seyn wollte – ich gestehe es freilich, daß man eher eine Reihe von Einwendungen mit dem Worte Wenn machen, als dies Wenn ausbessern kann. (HE 146)
So entspringt das Missvergnügen des Kritikers über die vielen ungelösten Wenns und Abers der Gegenwart derselben Quelle, aus der die Lust sprudelt, neue Hinweise auf bessere und schlechtere Zustände zu finden und sammelnd zusammen-
V.4. Zirkulatorische Vernunft
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zutragen. Die Schriftkultur suspendiert den Sammler und Aufschreiber selbst von der Aufgabe, die letzte Antwort zu geben. Eine erste Sammlung von Fragmenten ist das Wenigste, was hier zu tun ist. Ob und wie die nachfolgenden »Fragmente« tatsächlich mit dem ›Ganzen‹ symbolisch interagieren, und zwar dergestalt, dass ihre Formen, anders als Zeitungsstückwerk, diesen Anspruch darstellend einholen, sei dahingestellt.
V.4. Zirkulatorische Vernunft Herder tritt in seinen Schriften dem, was er an Zerstreuung und Stückwerk in seiner Zeit beobachtet, vielfach entgegen. So auch in einer Schulrede von 1801 über die Gefahren der Vielwißerei und Vielthuerei. Gegen diese Gefahren wird die Seele gesetzt, um die das Individuum seine Kreise ziehen sollte; gerade auch die Selbstbildung gehört zur Arbeit an der Kultur: Einheit ist der Grund alles Zählens und aller Zahlen; ohne Mittelpunkt ist kein Zirkel. Wer sich selbst verliert, hat alles verlohren; wer aus sich läuft, besitzet sich selbst nicht mehr. [...] Zertheilung der Seele, Jagen und Streben kann nur, wenn sie vernünftig ist, auf Sammlen der Seele, auf Gewinn und Erlangen der Perle zielen, die man suchet, in deren Besitz man glücklich ist und andre glücklich macht. Aus vielen Wolken zieht sich eine Quelle zusammen, die in sich beschlossen ruhig das Land befeuchtet.88
In Anlehnung an die Platonische Seelen- und Gedächtnislehre materialisiert sich der vernünftige Selbstbezug vorzugsweise über Schrift und Papier: »Ein zerknütterter Bogen Papier, was ist er werth? was kann man aus ihm machen? Ein ganzes, reines, helles Blatt, es lockt, das beste und nur das beste darauf zu schreiben. So die Seele des Jünglings.« (HG 343) Dieser medial abgesegnete Selbstbezug ist das Gegenmittel angesichts der »Vielwißerei«. Diese ist Effekt aller Kräfte, die von außen an das Individuum herantreten und mit der Ablenkung vom Eigentlichen locken, der Selbstbildung. Diese geht mit Selbstbeschränkung einher: Unser Leben, der kleine enge Cirkel, schänkt uns auf einen kleinen Punkt ein, der wir selbst sind; jetzt mit Radien und Bestrebungen, denen wir nicht entweichen können, dann aber auch nicht mehr, es beginnt ein andrer Cirkel. Beschränkung auf uns ist unsre Pflicht; das ewige aus-uns-Laufen ist uns auf keinen Fall weder ersprießlich noch geboten. Also gebe man mit Wenigem und in Wenigem Viel, Vieles in Einem. (HG 343f.)
Herders Schulrede führt auf das Feld verinnerlichter Bildungskonzepte, die den Umgang mit Wissen zwischen den Polen von Selbsterhalt und gesellschaftlicher Interaktion positionieren. Auch Immanuel Kant hat zeitgleich den freiheitlichen
88
Johann Gottfried Herder. Von den Gefahren der Vielwißerei und Vielthuerei. In: Deutsche Reden. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1973. S. 337–346. Hier S. 343. Im Folgenden der bibliographische Nachweise unter der Sigle HG.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
Umgang mit dem unbegrenzten Wissen dort eingeschränkt, wo die Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber Staat und Regierung greift: bei der Ausübung öffentlicher Ämter. Herder geht bei seinen Hinweisen auf die Pflichten weniger von einer politischen als von einer bildungsgeschichtlichen Option aus. Während Kant sich darüber Gedanken macht, wie man als aufklärender Gelehrter »vor dem ganzen Publikum der Leserwelt« medial in Erscheinung tritt, interessiert sich Herder für die individuelle Lesart von Selbstbildung und damit einhergehenden Mediengebrauch, der sich gleichwohl öffentlich zeigt. Konzentrische Seelenschrift lässt damit auch auf Herders Kritik an ›schlechten‹ Zeitungen beziehen, wenn diese mit Vielwisserei ›aus Vielem etwas, aus dem Ganzen nichts‹ anbieten. Zeittypisch sind Herders Äußerungen um 1800 in ihren kulturkritischen Pointen, die die Kommunikationen und Medien der Vielen meinen, auch wo sie diese Bezüge nicht explizit machen. Seine Schulrede tut dies mit einem Konzept idealistischer Abfallwirtschaft, welches zeigt, dass intendierte Einschlüsse mit Ausschlüssen einhergehen: Im Lehren und Leben ist nichts so schwer zu treffen als die Mitte, nichts so schwer als das »Zuviel!« nimium, zu vermeiden. [...] Jedes Jahrzehend sollte diese Fragen [nach dem Zuviel] an alle Wißenschaften und Lehrmethoden erneuen: denn am Rade der Zeit hat sich ein neues nimium, Unrath gesammlet. Wozu dient dieser Unrath? sollte man also aufs neue fragen, strenge fragen, und das nimium wegwerfen: denn es belastet, hindert, verführet. (HG 344)
Der Umgang mit dem Unerwünschten wird zum zentralen Problem der Kommunikations- und Medienexperten um 1800, die immer stärker auch in der Zeitungstheorie nach den richten Entscheidungsträgern und geeigneten Bewirtschaftern für Wissen und Kultur fragen. In Zeitungstheorie und Zeitungspraxis scheiden sich an dieser Frage die Geister: In einem weiten Spektrum reichen hier die Ansätze von liberalistischen Gesten einer Zulassungskunst ›des Vielen‹ bis zur Elitekonzeption derjenigen, die eine Politik der Stimmführung Weniger im Interesse der Allgemeinheit verfolgen. Die zeitungstheoretischen Diskurse orientieren sich nicht nur an ästhetischen Debatten über Formgebung, sondern greifen für die Zusammenhänge zwischen Zeitung und Wissenszirkulation auch auf Modelle zu, die für Geldumlauf und Warenverkehr in ökonomischen und politischen Theorien entwickelt werden.89 Die gesellschaftliche Evidenz von Kommunikation und Mediengebrauch wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr unter der Perspek89
Vgl. dazu Harry Schmidtgall. Zur Rezeption von Harveys Blutkreislaufmodell in der englischen Wirtschaftstheorie des 17. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 57 (1973). S. 416–430; Joseph Vogl. Ökonomie und Zirkulation um 1800. In: Weimarer Beiträge 43,1 (1997). S. 69–78; Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. von Harald Schmidt und Marcus Sandl. Göttingen 2002; Georg Stanitzek/Hartmut Winkler. Eine Medientheorie der Aufklärung. Vorwort. In: Josias Ludwig Gosch. Ideenumlauf. Hg. von dens. Berlin 2006. S. 7–36.
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tive beobachtet, wie sich die Produktion und Konsumtion von Sinngütern gestaltet. Dabei zielt die Bewertung von Überschussproduktion in der Zeitungskommunikation in zwei Richtungen. Einerseits geht es Zeitungsleuten darum, in Einem (publizistisch) zu Gebenden das Ganze zu verankern. Die damit einhergehende soziale Zentrierung auf einige wenige Verantwortliche bringt dezidierte Formen des Ausschlusses hervor: Wenige wollen für Viele sprechen, schreiben und publizieren. Andere hingegen optieren dafür, die Produktion von Wissen an die Beteiligung von möglichst Vielen zu knüpfen, was die Rezeptionsdichte ebenfalls erhöhen soll. Doch auch relativ liberale Zeitungsleute beobachten, dass viel Überflüssiges im Umlauf ist, das die eigene Unternehmung in den Schatten zu stellen vermag. Dies zeichnet sich etwa auf typische Weise bei einem Popularphilosophen wie Karl Friedrich Pockels ab, der für seine Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntniß 1788 Konkurrenten gerne abkanzeln würde: Die größern philosophischen Werke [...] aus welchen ich jene Abhandlungen zusammentragen und dadurch in einen größern literarischen Umlauf bringen will, sind in zu wenigen Händen, als daß nicht vielen meiner Leser eine getreue Uebersetzung ihrer vorzüglichsten Untersuchungen über den Menschen, die aus dem Ganzen auf eine bequeme Art herausgehoben werden können, sehr willkommen seyn sollten, und ich schmeichle mich daher mit der angenehmen Hoffnung, daß man diese Schrift [...] nicht unter die Classe so mancher überflüßigen Journale setzen wird, die jetzt Teutschland überschwemmen.90
Das Überflüssige lässt sich dann als der zivilisatorische »Unrat«, wie Herder schreibt, auch über die Projekte der anderen dezidiert benennen. Das liberale Versprechen, dass eine generalisierte kommunikative Produktivität als solche einen kulturellen Mehrwert darstellt, gerät immer dann in einen Krisendiskurs, wenn zwischen positiven Kulturfolgen und negativen Zivilisationserscheinungen unterschieden werden soll. Damit wird in den deutschen Diskussionen über die Zeitung eine kulturkritische Matrix für die Betrachtung zeitgenössischer Verhältnisse stabilisiert, die schon Rousseau in seiner Unterscheidung zwischen einer idealen »volonté generale« und einer bloß statistisch agierenden »volonté de tous« nahe gelegt hatte.91 Dieses Schema wird seit der Zeit seine Wirksamkeit bis in die Kultur-, Medien- und Konsumkritik des späten 20. Jahrhunderts entfalten: Nach ihm garantiert schiere Quantität allein noch nicht den Sinn des Allgemeinen in den Szenen kollektiver Interaktionen, die sich in Medien und Kommunikationen abzeichnen, sondern oft genug scheint geradezu das Gegenteil einzutreten: Das massenhaft Auftretende verdirbt den gemeinsamen Fortschritt der Menschen. Aber auch dort, wo eine im Diskursgeflecht und in Zeitungsprojekten sich selbst
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Karl Friedrich Pockels. Vorrede des Herausgebers. In: Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntnis, besonders in Rücksicht unsrer moralischen Natur. Hg. von dems. St. 1–2. Berlin 1788–89. O.S. Vgl. Jean Jacques Rousseau. Du Contrat Social. Chronologie et introduction par Pierre Burgelin. Paris 1966. Buch II. Kap. III: Si la volonté générale peut errer.
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verstärkende Elite im Angesicht der Vielen konzipiert, kursiert die Einsicht, dass ›innere‹ Sinngebung ohne die ›äußeren‹ Hilfsmittel öffentlicher Kommunikation ihren gesamtgesellschaftlichen Auftrag verfehlen würde. Die Verpflichtung auf das Allgemeine in der Öffentlichkeit ist nicht nur Motor für fortschrittsgläubige Aufklärer, sondern sie treibt auch Zeitungs- und Journalunternehmungen der intellektuellen Speerspitzen um 1800 an. Ihre zeitungstheoretischen Äußerungen in Ankündigungen und Vorworten zeigen einen Hang zu entschiedener Rahmung. Hier soll nicht nur in einem Einsatz viel erreicht werden, sondern möglichst der qualitativ hergestellte gesellschaftliche Gesamtbezug mit der Gesamtzahl der Teilnehmenden konvergieren. Auch die Vorreiter in Ästhetik, Wissenschaft und Politik greifen die überkommenden zeitungskritischen Stichworte auf und interpretieren sie für ihre Zwecke um, etwa Schiller in seiner HorenAnkündigung von 1795 oder August Wilhelm und Friedrich Schlegel in ihrem lapidaren Vorwort zum Athenaeum 1798. Wenn die Schlegels hier schreiben, dass die »Unabhängigkeit des Geistes« ihrer Zeitschrift keinesfalls »einer flachen Einstimmigkeit aufgeopfert werden« solle,92 wird einmal mehr, wenn auch auf indirekte Weise, die Vielstimmigkeit in der Gesellschaft zum Thema eines Zeitungsvorworts gemacht. Die ›flachen Einstimmigen‹ sind in den Diskursgeflechten seit den 1790er Jahren vorzugsweise die zwecks eigener, stimmiger Gruppenbildung distanzierten Spätaufklärer. Diese scheinen in den Augen ihrer Kritiker die Gebote und Folgen der transzendentalen Wende für die Wissensproduktion nicht erfasst zu haben. Dabei reflektieren auch Popularphilosophen und andere Spätaufklärer in ihren zeitungstheoretischen Äußerungen moderne Zusammenhänge für Kommunikationen und deren Medien. So schreibt etwa Johann Adam Bergk in seiner Kunst, Bücher zu lesen von 1799 über den Zeitungsgebrauch: »[I]n großen Büchern arbeitet man mehr und öfterer für die Wissenschaften, in Journalen mehr für die Welt.« Die Formulierung »für die Welt« beerbt das Selbstverständnis politischkluger Kommunikation, welcher Habitus seit der frühen Zeitungstheorie mit den Potentialen des Mediums verbunden wird. Bergks Erkenntnis mag zu dieser Zeit bereits als Sentenz gelten, zumal sich bei Autoren wie Bergk das Arbeiten für die Welt weiterhin in überkommenen Darstellungsformaten niederschlägt. Dennoch ist seine Bemerkung für die Wahrnehmung einer Zeitungsmoderne um 1800 bezeichnend, verweist sie doch auf ein Formbewusstsein, das Differenzen zwischen Buch und Zeitung über kommunikative Praktiken reflektiert. Auf ähnliche Weise verbindet auch ein J. L. von Heß, der ein für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typisches Journal aller Journale herausgibt, vielseitige Leserinteressen, Weltwissen und Zeitung. Sein idealtypischer »Mann von Geist« liest den Neuigkeiten den Fortschritt ab: 92
Wilhelm Schlegel/Friedrich Schlegel. Vorerinnerung. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift. Hg. von dens. Ersten Bandes Erstes Stück. Berlin 1798 (Reprint Darmstadt 1960). O.S.
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[I]hm ist nichts, was dem Menschen auf irgend eine Weise angeht, geringfügig; er lebt nicht nur für sein Haus und seine Familie; ihn interessieren nicht bloss Stadt- und Zeitungsneuigkeiten; Aufklärung, und daraus entspringende Glückseligkeit nimmt er gerne, – auch in den entferntesten Regionen gewahr.93
In allen Konzepten der Verbürgerlichung von Weltläufigkeit spielt die Zeitungslektüre neben der Buchlektüre eine herausragende Rolle. Die Unterscheidung, die Ferdinand Tönnies am Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft machen wird, um die Spannung zwischen überschaubarer Binnen- und dezentrierender Außenkommunikation konzeptuell zu erschließen,94 lässt sich problemgeschichtlich bereits auf die Wahrnehmung von Kommunikations- und Medienverhältnissen im späten 18. Jahrhundert abbilden. Hier steht der Begriff »Gesellschaft« noch für Assoziations- wie Dissoziationsbewegungen zur Verfügung. Der Idee, dass Gesellschaft sich in Mitgliedern verwirklicht, die sich gemeinschaftlich organisieren und wechselseitig lesen, was sie schreiben, spiegelt sich auch in den zahlreichen Lesegesellschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.95 Lesezirkel und Zeitung dienen Projekten, die die Vergesellschaftungsprozesse der Menschen in Abhängigkeit vom Umlauf von Wissen und Medien sehen. So beabsichtigt ein Herausgeber einer Wochenschrift 1771, auch einen Zeitungsumlauf für seine Lesezirkel einzurichten. Er verspricht, [d]aß gewisse Abtheilungen in einer solchen Gesellschaft gemacht werden, die nach der Aehnlichkeit des Geschmacks einzelner Mitglieder eingerichtet sind. Ich will diese Unterabtheilungen Zirkels oder Umläufe nennen, in welchen die Schriften herumgeschickt werden, die den Absichten ihrer Glieder am gemäßesten sind. Jeder Zirkel muß zwar seine eignen Schriften, besonders die periodischen, ganz neu zugeschickt bekommen; indessen hindert dieses nicht, daß man auch nach vollendetem Umlauf derselben, zu mehrerer Abwechslung, eben diese Schriften in andre Zirkels mit übergehen lasse; damit jedes Mitglied alle zirkulirende Schriften wenigstens ansehen und sich bekannt machen könne.96
An den zahlreichen Übergängen zwischen alten und neuen Sozialbeziehungen und Ökonomien, die Tausch- in Geldmarktverhältnisse übertragen, werden Thesaurierungs- und Verausgabungsleistungen von Zeitungen und Zeitschriften nun selbst als Produkte und Zeichen für Produktivität verstanden. Was hier an Schät-
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J. L. von Heß. Einleitung. In: Journal aller Journale. Oder Geist der vaterländischen Zeit-Schriften, nebst Auszügen aus den Periodischen Schriften und besten Werken der Ausländer. Hg. von dems. Bd. 1. Hamburg 1786. S. 3–8. Hier S. 3; vgl. zu diesem Journaltypus, der andere Zeitungen und Zeitschriften bibliographiert und extrahiert, Groth. Die Geschichte. S. 48. Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887). Berlin 31920; vgl. zu Tönnies Unterscheidung Jürgen Fohrmann. Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die Monumentalisierung. In: Gelehrte Kommunikation. S. 325–479. Vgl. WGr 139 zu den Umlauf- und Lesegesellschaften, in denen auch »eine Zeitung von Hand zu Hand ging«, und Welke. Gemeinsame Lektüre. Martini. Plan. S. 384.
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zen des Wissens gehortet wird, soll im gleichen Moment zum Nutzen des Ganzen verausgabt werden. In diesem Sinne tritt Joachim Heinrich Campe 1788 dem Einwurf von Christian Garve, der wider die Nützlichkeit periodischer Schriften geschrieben hatte, entgegen. Campe überträgt die neue Devise, dass der Umlauf von Gütern und Geld zur Vermehrung von Reichtum beiträgt, auf die Zeitungen, die er als Analogmedien des Geldes versteht. Wie das Geld sind sie ein generalisiertes Zeichen für gesellschaftliche Produktivität: Die Zeitungen sind ein wohlausgesonnenes und zweckmäßiges Mittel, nützliche Kenntnisse jeder Art aus den Köpfen und Schulen der Gelehrten durch alle Stände zu verbreiten. Sie sind die Münze, wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu rouliren und zuletzt wol gar in den Hut des Bettlers zu fallen. Oder meinen Sie, reicher Mann! Sie, durch den das Kapital unserer wissenschaftlichen Nationalbank selbst vergrößert worden ist; meinen Sie, daß es gut seyn würde, wenn jenes Kapital immer und ewig nur in harten Thalern und Goldstücken bestände, nie zu Scheidemünze ausgeprägt würde? Für das Kapital selbst – vielleicht! Für Sie und andere Schatzmeister und Banquiers, besonders im Puncte der eigenen Bequemlichkeit – vielleicht! Aber auch fürs Publicum? Aber auch für uns andere, die wir oft nur ein Zweigroschenstück zu erwerben wissen, und gleichwol auch dieses Zweigroschenstück gar zu gern in die öffenlichen Fonds zum öffentlichen Nutzen legen mögten? Aber auch für Kreti und Pleti, welche nichts erwerben, und doch auch leben wollen, und doch auch an dem Nationalreichthum des Geistes, wäre es auch nur zur Leibes Nahrung und Nothdurft, Antheil nehmen mögten? Nimmermehr! Für alle diese wird es stets gut und wünschenswürdig bleiben, wenn das, was ein Kant, was ein Garve u. s. w. für Vaterland und Menschheit lucrirten und in großen Stücken, also nur für Reiche, niederlegten, durch kleine Wechsler in kleinere Münzsorten umgesetzt, und so durchs ganze Publicum in wohlthätigen Umlauf gebracht wird.97
Als wertschaffend erkannt werden nun auch die Zeichen selbst, die über ständige Formveränderung auf menschliche Produktivität verweisen.98 Doch so wie Begriffe und darin verbürgte Konzepte, die die Form von Sprachmünzen annehmen, zunehmend der Kritik einer Inflationierung unterzogen werden, so erscheint im Gegenzug die Zunahme von Publizistik und die Fülle verausgabter Mitteilungen zugleich obsolet. Die bürgerliche Aneignung von Weltläufigkeit zieht deshalb auch Grenzen in das Programm ›Weltwissen‹ ein. Spätaufklärer wie Bergk setzen etwa typischerweise ein bildungsgeschichtliches Gefälle zwischen Produktions- und Rezeptionsformen an. Es ermöglicht Bildung von Lesern als Ausbildung im Lesen, das seine eigenen Grenzen finden sollte:
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Joachim Heinrich Campe. Beantwortung dieses Einwurfs. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts. Hg. von dems., Ernst Christian Trapp, Johann Stuve und Konrad Heusinger. 1. Bd. Braunschweig 1788. S. 19–44. Hier S. 32f. Vgl. zu diesem neuen Paradigma in der ökonomischen Theoriebildung Dominik Schrage. Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums. Frankfurt/M./New York 2009. Hier bes. S. 65ff.
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Wie müssen wir aber periodische Schriften lesen? Wir müssen eine große Auswahl unter den Aufsäzzen eines Journals treffen, und alle diejenigen übergehen, die weder zur Vermehrung unsrer Kenntnisse, noch zur Bildung irgend einer von unsern Anlagen, noch zu unserer Besserung etwas beitragen. Wir müssen daher nur solche lesen, die sich entweder durch Gedankenreichthum, oder durch eine geschmackvolle Darstellung, oder durch neue Entdeckungen, oder durch nüzliche Rathschläge, oder durch lehrreiche und vortrefliche Bemerkungen, oder durch Bekanntmachung von wichtigen Thatsachen u. s. w. auszeichnen. Und wer eine Uibung im Lesen erlangt hat, kann bald errathen, ob der Verfasser eines Aufsazzes ein Mann ist, von welchem man etwas lernen kann.99
Hier wird wie bei Herder vernünftige Selbstbildung durch Vermeidung des Nichtigen gefordert und die Vorstellung sprunghafter Zeitungslektüre und zerstreuter Wahrnehmung ideologisch ausgewertet. Dies allerdings in der paradoxalen Figur eines unterscheidenden Lesens, das nicht liest, was es zu vermeiden gilt. In solchen Bemerkungen geht es nicht nur um gute oder schlechte Zeitungen und Texte, sondern das Prinzip Zeitung, als formgebende Einheit verschiedener Texte aufzutreten, wird auch vom Publikationsformat Buch abgehoben; in Bergks Worten: Zeitungen liest man zur Erlernung von Weltkommunikation – Bücher als Wissensmedien gehören ihrer Form nach zur Wissenschaft. Damit liegen Umschriften tradierter gelehrter Zeitungskritik vor, die für kultur- und medienkritische Hinsichten neu funktionalisiert werden. So schreibt August Hennings, Herausgeber der Zeitschrift Genius der Zeit,100 als Replik auf die erste Rezension der ersten Lieferung der Horen, über den Zwek der Journäle: Mir scheinen Journäle keinen andern Zwek zu haben, als die Bildung des Geistes allgemein zu machen. Bücher sind für Bibliotheken, grosse Werke für das Studium der Wissenschaften, gewöhnliche Comödien, Romane und erotische Werke für Zeitverderber, edlere Gedichte für schon veredelte Seelen, Journäle für jedermann.101
Hennings Kommentar trägt der Zirkulation von Begriffen, Medien, Leser- und Leserinneninteressen Rechnung, wobei dem Format Zeitung, auch in der Form von »Journälen«, repräsentative Züge für die auf diffuse Weise entdifferenzierte Summe aller Kommunizierenden zugesprochen werden: Sie sind und stehen für »jedermann«. Auch für Joachim Heinrich Campe verdankt sich die Einheit der Kommunikation und damit der Gesellschaft der Zirkulationsfähigkeit von Texten, die über Zeitungen und Zeitschriften in Umlauf gebracht werden. Sie
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Bergk. Die Kunst, Bücher zu lesen. S. 386f. August Hennings. Der Genius der Zeit: ein Journal. Altona. 1794–1800 (Ndr. Nendeln/Lichtenstein 1972); vgl. zu Hennings Journal Erika Süllwold. »Der Genius der Zeit«. Konstitution und Scheitern eines Modells von Aufklärungsöffentlichkeit. Köln 1985. [August Hennings.] Zwek der Journäle. In Anleitung einer Recension der Horen in der allgemeinen Litteratur Zeitung (1795). In: Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. Hg. von Oskar Fambach. Berlin 1957 (Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik II) S. 116–119. Hier S. 119.
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stiften, wenn auch nur kurzfristig, ein gesamtgesellschaftliches Gedächtnis für die Selbstbeobachtung in der Gegenwart: Wie manche interessante und gemeinnüzzige Idee, die in dem denkenden Kopfe oft beiläufig hervorspringt, und sich nicht grade an diejenige Gedankenreihe anschließt, die er eben jetzt im Begriff ist, zu irgend einem größern Werke zusammenzuketten, würde für die Wissenschaften, würde für den menschlichen Verstand vielleicht unwiederbringlich verloren gehn, wenn der denkende Kopf, bevor er sie mittheilte, erst jedes Mal auf eine, vielleicht nimmer erscheinende Gelegenheit warten sollte, sie in eins oder das andere seiner größern Werke einzuschieben! Man kann doch nicht aus jeder zufälligen Bemerkung, auf die man im Vorbeigehn stößt, nicht aus jeder wahrscheinlichen Vermuthung, die uns mitten unter andern, ganz heterogenen Beschäftigungen einfällt, nicht aus jeder kleinen Entdeckung, die uns vielleicht, ohne geflissentliches Suchen in einem Fache gelingt, welches nicht grade das unsrige ist, sogleich ein Buch machen und sie so in die Welt ausgehen lassen; aber man kann dergleichen beiläufige Kinder des Geistes rein und warm, so wie sie der Denkkraft eben jetzt entschlüpften, auf besondere Blätter werfen und, statt des Leibnitzischen Schubladens, woraus man nach seinem Tode das Otium Hannoveraneum zusammenstoppelte, die Journale dazu brauchen, sie vor dem Verpoltern und Umkommen zu sichern, sie der öffentlichen Pflege und weitern Ausbildung derer zu übergeben, welche vielleicht mehr Zeit und mehr Sorgfalt darauf verwenden können.102
Die schnelle Zettelwirtschaft der Zeitungen wird hier in eine positive Zeitungskritik eingebracht, erweist sie sich doch als Vorteil für den ideellen Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie ist öffentlicher Phänotyp und Nachweis dafür, dass es nützlich ist, die kulturellen Archive des Tages zu speichern und vorzuführen: [...] und ich bin versichert, daß die Journale, trotz ihrer ephemerischen Existenz, auch dadurch zur Erweiterung und Aufklärung des öffentlichen Ideenkreises, mehr geleistet haben, als manches vortrefliche litterarische Kunstwerk, welches vielleicht noch dann in Bibliotheken prangen wird, wann die Journale schon längst den Weg alles Makulaturs werden gegangen seyn.103
Die Zeitungen und ihre Texte ermöglichen ein weitläufiges – wenn auch vielleicht dezentriertes – Geistergespräch in der Gegenwart. Dies triumphiert über das zeitintensive und schwerfällige Publikationsformat Buch und seinen archivarischen Ort Bibliothek. Über Buch und Bibliothek scheint Wissen mehr denn je der öffentlichen Kenntnisnahme entzogen zu werden. Positive und negative Zeitungskritik bespielen so die Klaviaturen von ins Allgemeine transformierten Facetten von Medien- und Kommunikationskritik und wenden Vor- und Nachteile des Formats Zeitung wieder und wieder im Diskurs. Der Blick auf das Können und Sollen der Medien Zeitung, Text und Buch ist selbst von der Frage gerahmt, wie Wissen sinnvoll gerahmt werden soll und kann. August Hennings greift in seinen Äußerungen über den Zwek der Journäle einiges davon auf. Hennigs geht eher auf die prekären Signaturen der Form Zeitung ein, die zwar das objektiv Notwendige
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Campe. Beantwortung dieses Einwurfs. S. 33f. Ebd. S. 34.
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herstellt, den Überfluss erwirtschaftet, aber eben auch dem Überflüssigen Raum gibt. Die vielfältigen Formen des Wissens bringen den Kritiker nicht nur an den Rand einer individuellen Erschöpfung, sondern auch an den Rand einer Zeit, in der sich alle Dinge häufen und auch die neuesten Erscheinungen schon alt zu werden beginnen: Journäle können nicht, wie Bücher, der Wisbegierde und dem Geschmak einer einzelnen Classe von Lesern Genüge leisten, hundert verschiedene Ansprüche wollen befriedigt seyn. Welcher Proteus ist vielfach genug für so manche Anforderungen, um in immer reizender Neuheit dem Hunger eine angenehme Nahrung zu geben und ihn nie zu sättigen? Fast mögte man unser Jahrzehnt das Zeitalter des Ueberdrusses nennen, so leicht ermüdet das Publicum bei allem, was geschrieben wird. Poesie ist beinahe verrufen; Politik fängt an zu ekeln; Kantische Philosophie hat die Höhe ihrer Epoke für die Lesewelt schon erreicht; An dogmatischen Streitigkeiten denkt man nicht mehr; Geheime Orden sind aus der Mode; Gelehrte Fehden gelten für ungesittet. Was hat denn noch Interesse? Die Neuigkeit des Augenbliks? Auch die wird alt, ehe ein Journal erscheint.104
Angesichts solcher Zeitdiagnostik, die Alterungserscheinungen inmitten des Neuen entdeckt, erscheint die konzentrierte Zusammenarbeit der Wenigen für die Vielen ein attraktiver Ausweg. Sie entlastet den Einzelnen, der zur ermüdenden Menge auf Distanz geht. Die Präferenz für diese neue bürgerliche Geistesaristokratie kündigt sich schon bei Christoph Martin Wieland an, der sein Projekt Teutscher Merkur ab 1772 mit zahlreichen reflexiven Äußerungen begleitet. Wieland plant zunächst ein umfängliches Zeitungsvorhaben, das noch an enzyklopädisch-gelehrte Zuschnitte erinnert: Über Rezensionen, Erzählungen, Anekdoten, Nachrichten aus der politischen Welt, der Literatur und dem Theater soll sein Publikum über das Wichtige in der Lit(t)eratur auf dem Laufenden gehalten werden. Für einen alleine wäre dies aber zu viel: Da bey einem Vorhaben dieser Art alles auf die Güte der Ausführung ankommt, von welcher das Werk selbst reden muß: So ist alles, was ich davon voraus sagen kann, daß ich selbst und die Gehülfen, welche sich dazu mit mir vereiniget haben, nichts ermangeln lassen werden, dieses Journal so interessant und so vollkommen in seiner Art zu machen, als es uns nur immer möglich seyn wird.105
Und wer anders als »alle meine Freunde, und die Liebhaber unsrer Litteratur« ist geeignet, »überhaupt sich die Beförderung dieses Vorhabens (wenn sie es anders für gemeinnützlich halten) geneigtest angelegen seyn zu lassen«?106 Anlässlich
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Hennings. Zwek der Journäle. S. 117f. Christoph Martin Wieland. Nachricht an das Publikum (Weimar, 12. Dezember 1772). In: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. I. Abt. Werke. Bd. 21. Kleine Schriften I. Hg. von Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1939. S. 1–4. Hier S. 2 (zuerst in: Frankfurter gelehrte Anzeigen Nr. 4 [1773]. O.S.). Ebd. S. 3.
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seiner genaueren Erläuterung des Programms in der Vorrede von 1773 wird der Publizist Wieland noch deutlicher: Ohne ein Anzahl auserlesener Gehülfen, welche sich mit mir zu Einem Zweck verbunden haben, und ohne die Hofnung einer allgemeinen Mitwürkung unsrer besten Köpfe würd’ ich nie daran gedacht haben, mich mit einem Periodischen Werke zu beladen, welches nur durch eine gewisse Vollkommenheit und durch nähere Beziehungen auf den gegenwärtigen Zustand unserer Litteratur der allgemeinen Erwartung würdig werden kan.107
Eröffnet werde mit der Zeitschrift ein »Schauplatz« für »angehende Schriftsteller«, »wo sie sich dem Publico zeigen können« (WV 4). Die Metaphorik des »Schauplatzes« theatralisiert das Kommunikationsangebot, einen Schnitt durch das Wissenswerte der Gegenwart zu machen. Zur Realisierung eines solchen Schauplatzes trägt eine Zeitung der Form nach bei, stellt sie doch Texte unterschiedlicher Art in eine Art szenisches Nebeneinander. So führt sie den Mikrokosmos idealer gesellschaftlicher Interaktion auf: [...] so haben wir uns zum Gesetze gemacht, allem, was sich nicht in seiner Art über das mittelmäßige erhebt, den Ausschluß zu geben. Dies soll zwar nicht alle Kleinigkeiten ausschliessen. Es giebt auch interessante Kleinigkeiten, und bey solchen gewinnt der gute Geschmack und das Herz oft mehr, als bey der schwehrfälligen Ernsthaftigkeit, über welche die Langeweile ihre Schlummerkörner ausgestreut hat. (WV 6)
Der geordnete Schauplatz Zeitung, der ausgewählte Texte und mitarbeitende Freunde in Beziehung setzt, bedarf zur Profilierung seines »Eine[n] Zweck[s]« eines aussagekräftigen Gegenbilds. Dies findet man außerhalb des Eigenen, wo die Kommunikation in der Unordnung droht: Die gelehrte Republick in Deutschland hat seit einiger Zeit die Gestalt einer im Tumult entstandnen Demokratie gewonnen, worinn ein jeder, den der Kitzel sticht, oder der sonst nichts zu thun weiß, sich zum Redner aufwirft [...]. Man muß gestehen, die Nachläßigkeit und nicht selten auch die Partheylichkeit, womit zuweilen die ordentlichen Richter ihr kritisches Amt verwalten, giebt zu Beschwehrden Anlaß, von welchen jene anmaßliche Demagogen den Vorwand nehmen, die gelehrte Republik in Verwirrung zu setzen, und die Verfassung dieses Staats, der seiner Natur nach Aristokratisch seyn muß, gänzlich umzukehren. (WV 7f.)
Zwar reibt sich die Geistesaristokratie zunächst noch an ihren inneren Feinden, doch droht von außen schon die allgemeine Revolution, die nun als das unerwünschte Dritte in die Binnenkommunikationen eingreifen kann. Tumultuarische Zustände lassen sich bereits bei der öffentlichen Urteilskraft beobachten, die im allgemeinen Publikum zum Zuge kommt. Einerseits schließt Wieland an die aufklärerische Idee an, dass die öffentliche Kritik der Kritik auf Dauer zu stel-
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Christoph Martin Wieland. Vorrede des Herausgebers. In: Wielands Gesammelte Schriften. I. Abt. Bd. 21. S. 4–11. S. 4 (zuerst in: Der Teutsche Merkur 1 [1773]. S. III–XXII). Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle WV.
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len sei. Andererseits spricht für ihn das lesende und schreibende Publikum nicht (mehr) im Sinne einer Stimme, die den sinnvollen Zusammenhang zwischen Idee und kommunikativer Repräsentation des Allgemeinen ausweist. Wieland führt so die schlechte Allgemeinheit auf dem Schauplatz öffentlicher Kommunikation vor, die Punkt für Punkt dem idealen öffentlichen Szenario widerspricht, das er in seiner Zeitschrift etablieren möchte: Der Beyfall, der von dem größten Theile des lesenden Publici noch itzt so vielen mittelmässigen Werken zugejauchzt wird; die noch immer herrschende Nachsicht gegen wesentliche Mängel; die Gewohnheit, bey vortreflichen Werken um weniger kleiner vielleicht nur eingebildeter Flecken willen kaltsinnig zu bleiben; die überhand nehmende Gleichgültigkeit gegen das wahre Einfache, und Große; und um alles in Ein Wort zusammen zu fassen, die beynahe allgemeine Willkührlichkeit des Geschmacks, sind sichre Merkzeichen, daß gesunder Verstand und unverdorbne Empfindung in Sachen der Litteratur noch nicht so gemein unter uns sind, als sie es bey einer aufgeklärten Nation seyn sollten. (WV 8f.)
Die Schelte auf die, gerade bei der Literatur, versagende öffentliche Stimme nimmt nun eine Gruppe aus –, die Wenigen, die dem Zeitungsinitiator und seinen Freunden noch das Wasser reichen können: Wir sind weit entfernt, die Verdienste derjenigen zu mißkennen, welche in diesem Felde bisher mit Ruhm und Erfolg gearbeitet haben, und es hoffentlich noch ferner bearbeiten werden. Es sind derer so viele nicht, daß sie unsre Mitwürkung, oder wir die ihrige, unnöthig und vergeblich machen sollten. Wir wissen auch sehr wohl, daß viele Leser sich selbst ein Gesetz sind, und keine fremde Leitung vonnöthen haben. Allein es ist doch wohl gewiß, daß diese nur einen kleinen Theil des lesenden Publici, welches täglich zahlreicher wird, ausmachen, und daß der grössere Theil gerade derjenige ist, für den man am meisten besorgt seyn muß. (WV 10)
Es geht also darum, für die den allgemeinen Hang zur Allgemeinheit operativ konsolidierende Zeitungskommunikation ›feine‹ Unterschiede zu etablieren. Dies verspricht Distinktionszugewinn, und zwar durch die ›grobe‹ Unterteilung zwischen gut und schlecht, welche Differenzmarkierung den künftigen Zeitungsdiskurs nachhaltig prägen wird. Nach einigen Jahren kritischer Zeitungsarbeit muss aber auch der Herausgeber Wieland zugestehen, dass die Versammlung der Freunde und der Besten noch nicht zu dem Resultat geführt hat, angemessen mit Blick auf die Anforderungen des gehobenen literarischen Felds gehandelt zu haben. Damit konnte auch der allgemeine Ruhm derjenigen, die sich hier profilieren wollten, nicht in dem erhofften Maße befördert werden. Was fehlt, so Wieland 1775, ist »ein Mann«, der symbolisch und praktisch für das Einheitsverlangen einstehen könnte, um Stückwerke und kommunikative Schieflagen endlich hinter sich zu lassen. Wieland schreibt 1775 in einer Adresse An das Publicum: Ein Mann der das ganze Feld unsrer schönen Litteratur Stückweise vollkommen zu beurtheilen, und im Ganzen mit Einem Götterblick zu übersehen fähig wäre, ein Mann von eben so warmen und zarten Gefühl als scharfer Beurtheilungskraft, selbst ein Meister in der Kunst zu schreiben, dabey vollkommen unpartheyisch und von allen Nebenabsichten, vorgefaßten Meynungen, Zu- und Abneigungen frey, und (was noch
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überdies eine unumgängliche Bedingung wäre) der sich entschließen könnte, seine ganze Aufmerksamkeit und Geisteskraft auf Verfaßung etlicher kritischer Bogen jährlich zu verwenden – das wäre freylich der Mann den wir nöthig hätten. Aber wo werden wir diesen Mann finden? Und wenn wir ihn auch gefunden und (was viel Glück wäre) überredet hätten, eine so schwehre und undankbare Arbeit auf sich zu nehmen: würde dieser Mann, würde ein Gott selbst, jedermann zufrieden stellen, allen schiefen Urtheilen, Mißdeutungen und falschen Folgerungen ausweichen, jedem Schriftsteller nach den Foderungen seines Eigendünkels, und allen deßen Freunden, Partheygängern und ganzem servo pecori nach dem Übermaas ihrer Schwärmerey oder Dummheit genüge leisten können?108
Es ist ein Leichtes, hier den individuell frustrierten Zeitungsmacher sprechen zu hören, der seine publizistischen Unternehmungen wiederholt in ein gerechtfertigtes Verhältnis zu guter und schlechter Kommunikation im Allgemeinen setzt. Darüber hinaus sind solche Äußerungen aber zeittypisch für Revisionen von Zeitungsunternehmungen. Deren Rhetorik reagiert oftmals polemisch auf die komplexen Umstände einer nicht mehr hintergehbaren Marktkonkurrenz, wo alle um alle werben. Gerade die Verwendung eingespielter Argumente – hier, dass insbesondere Affekte den Schlagabtausch beeinflussen – zeigt, wie sehr sich die Schriftprofessionellen als Zeitungsmacher in den Sog einer publizistisch generierten Öffentlichkeit haben ziehen lassen, wo schnelle Antworten zur Verfügung stehen müssen. Auch spezifizierte Journalherausgeber sehen sich in ihrem Selbstverständnis an den kommunikativen Auftrag gebunden, ihre selbstbewusste Expertenkommunikation an Allgemeinheit zu binden und als Kommunikator von Kommunikation aufzutreten. Für die ältere Generation der Aufklärer schließt dies den Austausch zwischen wenigen Experten und vielen Laien ein. Dies beinhaltet verschiedene Techniken der popularisierenden Grenzüberschreitung, die eben jene Grenzen zwischen Experten und Nicht-Experten auch in Frage zu stellen vermag. Aber auch Zeitungsprojekte, die eine exkludierende Expertenkommunikation öffentlich zelebrieren und auf kontrollierbare Anschlüsse von außen setzen, erfahren sich gleichwohl als kommunikative Hybriden oder müssen mit gesellschaftlich vermischten Anschlusskommunikationen rechnen. Und schließlich zeigt sich, dass im postulierten Innern der respublica litteraria längst selbst so viel Komplexität herrscht, dass mit dieser die unordentlichen und heterogenen Außenverhältnisse ins Innere eingezogen zu sein scheinen. Der interne Komplexitätszuwachs lässt sich scheinbar am leichtesten über Konkurrenzgebaren in den Griff bekommen. So kann der Andere und seine publizistische Unternehmung vor dem weiteren Mitspieler, dem allgemeinen Publikum, als der seinerseits dritte und dabei unerwünschte Teilnehmer markiert werden. Mit dieser Haltung, die das gelungene Zusammenspiel des Ersten und Zweiten im Angesicht des unerwünschten Dritten hervorhebt,
108
Christoph Martin Wieland. An das Publicum, und besonders an alle bisherigen Freunde und Leser des Teutschen Mercurs. In: Ebd. S. 190–193. Hier S. 192 (zuerst in: Der Teutsche Merkur 4 [1775]. O.S.)
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erfährt der Streit über Sinn und Zweck von Zeitungspublizistik und ihren Formen mehr und mehr eine kulturpolitische Ausrichtung. Dies soll im Folgenden anhand der Auseinandersetzung um Schillers Horen kurz vorgeführt werden. Das Konzept einer publizistisch agierenden zirkulatorischen Vernunft, die sich im Einschluss von Freund und hypostasiertem allgemeinen Publikum und dem Ausschluss des Anderen manifestiert, gewinnt im Horen-Vorhaben paradigmatische Züge. Die öffentlichen Verlautbarungen des Herausgebers Schillers und seiner Anhänger wurden von den Zeitgenossen als eine neue Tonlage diskutiert, mit welcher der Literaturstreit in einen Kulturkampf um Deutungshoheiten umschlägt.109 Auf dem Spiel steht nun, wer das Recht erhält, über Inhalte und Formen des angemessenen Publizierens für die Allgemeinheit entscheiden zu können. Publizistischer Austragungsort für personale Konkurrenzen und kritische Überbietungsgesten in der Schriftkultur ist seit dem frühen 18. Jahrhundert mehr und mehr das Rezensionswesen geworden. Hier erfolgt der fortgesetzte kommunikative Schlagabtausch, der zeigt, wie sehr die Schrift ein Medium der Kommunikation ist. Die Strukturähnlichkeit zur Ereignislogik von anderen geschichtlichen Vorfällen liegt auf der Hand: Auch Texte sind im Moment ihrer Veröffentlichung Ereignisse, die Reaktionen bewirken und deshalb voll Absicht lanciert werden können. August Hennings Schrift Zwek der Journäle, die 1795 in seiner Zeitschrift Genius der Zeit erscheint, reagiert in diesem Sinne des Schlagabtausches auf die erste Rezension der Schillerschen Horen. Im Schutzraum der eigenen Zeitung verbindet Hennings allgemeine Überlegungen zum Sinn von Zeitungspublizistik mit seiner Stellungnahme zur Kritik eines anderen Publizisten an Dritten. Diese erste Rezension der Horen war in der in Jena aufgelegten Allgemeinen LiteraturZeitung erschienen und stammt vom Herausgeber eben dieses Blattes, Christian Gottfried Schütz. Sie wurde vielfach wegen ihrer ungewöhnlichen Länge und Ausführlichkeit diskutiert.110 Daran setzt auch Hennings an: Je berühmter der Herausgeber der Horen und ie vielversprechender die glänzende Liste der Mitarbeiter ist, desto weniger bedurfte diese geistige Wahre eines Epheukranzes in der Allgem. L.Z., dessen ungeheure und seltene Grösse mehr dunkelt und beschattet, als einladet. Ungeheuer ist er, denn er füllt ein ganzes Blatt aus, und selten, denn keine
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110
Vgl. dazu Regine Otto. Die Auseinandersetzung um Schillers »Horen«. In: Debatten und Kontroversen. Bd. 1. S. 385–450; vgl. insgesamt zur Kultur- und Literaturpolitik in Weimar Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Wilfried Barner, Eberhart Lämmert und Norbert Oellers. Stuttgart 1984. Vgl. dazu die Dokumente in Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. Hg. von Oskar Fambach. Berlin 1957. S. 104ff. Die Horen-Rezension von Schütz, der »seit 1779 Prof. der Poesie u. Beredsamkeit in Jena, seit 1789 sa.-weim. Hofrat« war (ebd. S. 111), erschien in den Nummern 28 und 29 am 31. Januar 1795 der Allgemeinen Literatur-Zeitung Jena/Leipzig; vgl. ebd. S. 104–111. August Hennings Schrift Zwek der Journäle erschien im April 1795.
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Journäle sind, so viel ich mich erinnere, bei der ersten Erscheinung, und nur wenige, nach längerem Daseyn recensirt.111
Hennings nimmt in seiner Auseinandersetzung mit der ›unmäßigen‹ Rezension von Schütz zugleich die publizistische Haltung der Horen kritisch in den Blick. Dieser Haltung hat Schiller bekanntermaßen in programmatischen und provozierenden Epitexten Ausdruck verliehen, die die Idee von Kreis und Zentrumsbildung auf der Argumentationslinie einer zu schaffenden Geistesaristokratie fortführen. Dazu Folgendes: Schiller hatte sich zunächst in einer im engeren Kreis zirkulierenden Einladung zur Mitarbeit und dann in einer öffentlichen Ankündigung geäußert, die auch der ersten Horen-Lieferung vorangestellt ist.112 Die Einladung, mit der Schiller sich prominenter Mitarbeiter versichern will, reflektiert über die Schwierigkeiten, die auch er mit dem Wagnis Zeitung verbunden sieht: Ist der Erfolg sicher? Lohnt sich die Anstrengung? Ist er »der unternehmende Mann«, von dem die Einladung spricht, der die richtigen Mitarbeiter zu finden versteht?113 Unter der großen Menge von Zeitschriften, ähnlichen Inhalts, dürfte es vielleicht schwer sein, Gehör zu finden, und, nach so vielen verunglückten Versuchen in dieser Art, noch schwerer, sich Glauben zu verschaffen. Ob die Herausgeber der gegenwärtigen Monatsschrift gegründetere Hoffnungen haben, wird sich am besten aus den Mitteln abnehmen lassen, die man zur Erreichung jenes Zweckes eingeschlagen hat.114
Die Ungewissheit über den praktischen Ausgang des Vorhabens wird dann durch einen Sprung aus der ökonomischen in die ideelle Zirkulationssphäre von Werten vorwegnehmend aufgelöst. Nur der innere Wert einer literarischen Unternehmung ist es, der ihr ein dauerndes Glück bei dem Publikum versichern kann; auf der anderen Seite aber ist es nur dieses Glück, welches ihrem Urheber den Mut und die Kräfte gibt, etwas Beträchtliches auf ihren Wert zu verwenden. Die große Schwierigkeit also ist, daß der Erfolg gewissermaßen schon realisiert sein müsste, um den Aufwand, durch den allein er zu realisieren ist, möglich zu machen. Aus diesem Zirkel ist kein anderer Ausweg, als daß ein unternehmender Mann an jenem problematischen Erfolg so viel wage, als etwa nötig sein dürfte, ihn gewiß zu machen. (SE 104) 111 112
113
114
[Hennings.] Zwek der Journäle. S. 116. Schillers Ankündigung erschien zuerst in dem der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 1794 beigefügten Intelligenzblatt, Sp. 1129–1136. Friedrich Schiller. Ankündigung. Die Horen, eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller (1794). In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 22. Vermischte Schriften. Hg. von Herbert Meyer. Weimar 1958. S. 106–109; vgl. den Herausgeber-Kommentar ebd. S. 380. Vgl. dazu auch Otto. Die Auseinandersetzung. Otto rekonstruiert das komplexe Netzwerk im Umfeld des Horen-Projekts. Sie unterscheidet typologisch zwischen den Reaktionen der Spätaufklärer und den Vertretern der neuen idealistischen Kunstphilosophie. Friedrich Schiller. Einladung zur Mitarbeit (1794). In: Schillers Werke. Bd. 22. S. 103–105. Hier S. 104. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Siegle SE.
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Das ökonomische Risiko und der »Verdienst«, von dem Schiller wie so viele Zeitungsleute spricht, erweist sich mit diesem Wechsel als direktes Korrelat einer Denkfigur ›Idealismus‹. Sie kreiert einen neuen Habitus für den Zeitungsmacher, dessen Absichten a priori verdienstvoll sind, wenn sie gleich auf ›das Ganze‹ zielen. Der pekuniäre Erfolg wird damit als Nebensache distanziert, was zählt ist die Denkweise, bestimmte Absichten (wie die eigenen) unbedingt realisieren zu wollen. Der Effekt sollte sein, mit innerem Wert alle anderen aus dem Feld zu schlagen, eine Rechnung höherer Potenz aufzumachen: Für Zeitschriften dieses Inhalts fehlt es gar nicht an einem zahlreichen Publikum, aber in dieses Publikum teilen sich zu viele einzelne Journale. Würde man die Käufer aller hieher gehörigen Journale zusammenzählen, so würde sich eine Anzahl entdecken lassen, welche hinreichend wäre, auch die kostbarste Unternehmung im Gange zu erhalten. Diese ganze Anzahl nun steht derjenigen Zeitschrift zu Gebot, die alle die Vorteile in sich vereinigt, wodurch jene Schriften im einzelnen bestehn, ohne den Kaufpreis einer einzelnen unter denselben beträchtlich zu übersteigen. (SE 104)
Die Werbung um Mitarbeiter und Publikum ist teleologisch auf die Bildung eines Kreises von Gleichgesinnten und darin Gleichwertigen orientiert.115 Schiller plädiert und wirbt für die notwendige Zusammenarbeit in der »Assoziation«, Kreis in einem größeren Kreis, der letztlich sich auf »die ganze lesende Welt« ausdehnen sollte. Und es ist die Zeitung als »Werk«, die hier als Gegenleistung für alle in Aussicht gestellt wird – diese Rechnung scheint die einfachste der Welt zu sein: Jeder Schriftsteller von Verdienst hat in der lesenden Welt seinen eigenen Kreis, und selbst der am meisten gelesene hat nur einen größern Kreis in derselben. So weit ist es noch nicht mit der Kultur der Deutschen gekommen, daß sich das, was den Besten gefällt, in jedermanns Händen finden sollte. Treten nun die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in eine literarische Assoziation zusammen, so vereinigen sie eben dadurch das vorher geteilt gewesene Publikum, und das Werk, an welchem alle Anteil nehmen, wird die ganze lesende Welt zu seinem Publikum haben. Dadurch aber ist man imstande, jedem einzelnen alle die Vorteile anzubieten, die der allerweiteste Kreis der Leser und Käufer einem Autor nur immer verschaffen kann. (SE 104)
Die Ankündigung hält sich gegenüber den offenen Worten der Einladung über Investitionskosten und Risiken der »kostbare[n] Unternehmung« zurück. Sie verspricht nun schon den Lesern sicheren Gewinn. Erfolg bei den Mitarbeitern muss Erfolg bei Publikum nach sich ziehen. Dem »Herausgeber«, so heißt es dort, sei es gelungen, mehrere der verdienstvollesten Schriftsteller Deutschlands zu einem fortlaufenden Werke zu verbinden, an welchem es der Nation trotz aller Versuche, die von Einzelnen bisher angestellt wurden, noch immer gemangelt hat und notwendig mangeln mußte, weil gerade eine solche Anzahl und eine solche Auswahl von Teilnehmern nötig sein
115
Vgl. zu dem Anspruch des Projekts auf seinen herausgehobenen gesellschaftlichen Status auch Ernst Osterkamp. Neue Zeiten – neue Zeitschriften. Publizistische Projekte um 1800. In: Idee: Zeitschrift für Ideengeschichte I,2 (2007). S. 62–78.
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möchte, um bei einem Werk, das in festgesetzten Zeiten zu erscheinen bestimmt ist, Vortrefflichkeit im einzelnen mit Abwechslung im ganzen zu verbinden.116
Diese Zeitschrift will Epoche machen: Was bislang nicht sein konnte, ist nun möglich.117 Die Schwelle zum Erfolg scheint mit dem Publikationsakt der ersten Horen-Lieferung für den Herausgeber und seine Mitarbeiter bereits überschritten zu sein. Die erste Lieferung signiert schon die Realität der »Assoziation«, deren Existenz sich die Epochenzäsur verdankt. Das Programm, Ideales für die Gegenwart, tritt in Erscheinung; es hat die Form Zeitung für seine Zwecke domestiziert: Nach bekundetem Selbstverständnis sind die Horen ein aktuelles Ereignis, sind eine Zäsur, die Vorher und Nachher unterscheidet, und zugleich von überzeitlicher Werthaltigkeit. Sie lassen hinter sich, was bislang bestimmend war: kontingente Herrschaft von einzelnen Interessen, die dem Allgemeinen nicht gerecht werden konnten. Diese Selbsteinschätzung erlaubt sogar die Umwertung der realpolitischen Verhältnisse und den Triumph über diese: Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. (SA 106)
Zwischen der unbegrenzten Reichweite des ›reinen‹ Menschlichen und dem »beschränkte[n] Interesse der Gegenwart« steht eine Mediatoren-Gruppe, die mit Zeitungs-Werk und Texten eigene Vorstellungen zum Sein und Sollen aller vermittelt. Die Gruppe und ihre Medien stellen Kontakt her zu den Zonen des Gemeinen mit dem Anspruch, dass die Definitionsmacht über das Allgemeine bei ihnen liege. So wird das ehrgeizige Projekt einer publizistischen Kontaktzone etabliert, die das Gewöhnliche der Vielen in einer auf Größe zielende Überbietungsgeste ausschließt und die dennoch kontaktierten Vielen mit dem Eigengewicht des Bedeutenden zugleich distanziert. Die Zeitung ist Medium, über das Berufene mit dem Publikum kommunizieren; die als notwendig gesehene Kontaktaufnahme zwecks ästhetischer Erziehung impliziert unhintergehbare qualitative Unterscheidungen. Das Programm der Herablassung von oben, das schon die Aufklärung kennt, wird so publizistisch ›erhabener‹ gestaltet: Wenige sind auserwählt, so zu handeln. Die vereinigten philosophisch-ästhetischen Leitlinien Wahrheit und Schönheit dienen kulturpolitisch nicht nur dazu, andere Zeitungen überflüssig zu machen, sondern lassen sich auch gegen die alten Unzuverlässigkeiten von Form und Prinzip Zeitung wenden: Man wird sich, soweit kein edlerer Zweck darunter leidet, Mannigfaltigkeit und Neuheit zum Ziele setzen, aber dem frivolen Geschmacke, der das Neue bloß um der Neu116 117
Schiller. Ankündigung. S. 108. Im Folgenden die bibliographische Angabe unter der Sigle SA. Vgl. dazu auch Otto. Die Auseinandersetzung. S. 391.
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heit willen sucht, keineswegs nachgeben. Übrigens wird man sich jede Freiheit erlauben, die mit guten und schönen Sitten verträglich ist. (SA 107)
Natürlich lässt sich am besten über eine Zeitung eine tagesaktuelle Adresse an die Gegenwart verschicken. Die Horen sind ihre eigene Neuheit, die sie verkündigen. Damit die Zeitung und ihre Texte aber selbst nicht nur als »das Neue bloß um der Neuheit willen« gelesen werden, müssen ihre Texte dem publizistischen Auftrag, das Beste von Wenigen für Alle, entsprechen. Schon die erste Lieferung antizipiert, was sich erst mit der Zeit für alle Menschen einstellen soll: Ihre Texte präsentieren ästhetisch geläuterte Kommunikate, die der Allgemeinheit ein Modell vor Augen führen, in dem bereits Erzogene miteinander kommunizieren. Was die erste Horen-Lieferung als Zeitungsunternehmung über ihre Funktion aussagt, die Allgemeinheit mit dem notwendig Allgemeinen zu versorgen, setzt sich mit und in den Texten fort: Die ersten neun Briefe Ueber die ästhetische Erziehung tragen zur semantischen Präzisierung des geschichtsphilosophisch eingefärbten Horizonts bei, der die Kommunikation aller Menschen über das Wichtige grundiert.118 Personale Medien wie Herausgeber und Beiträger, Zeitung und Texte vereinigen sich zu einer kulturpolitischen Aktion, die in ersten Schritten vollzieht, was ihre Arbeit verfolgt: den neuen gesellschaftlichen Zustand. Und wer die Aktualität des Gegenwärtigen geschichtsphilosophisch einbindet, dem geht es nicht mehr um eine möglichst umfängliche Sammlung dessen, was Viele interessieren könnte. Sondern die kommunikativen Gemengelagen der Gegenwart werden über das neue, symbolisch aufgeladene Profil abgefedert. Dessen idealistisch bestimmter Universalismus ist an die besondere Leistung Weniger für das Ganze gebunden. Ausgesuchte Mitarbeiter, Texte und Darstellungsverfahren sind vorgesehen, um das zu erfüllen, was Schiller schon in der Rezension der Gedichte von August Wilhelm Bürger programmatisch forderte: »das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben«.119 Das Allgemeine, das in der Herrschaft des guten, wahren und schönen Gemeinsinns sich erfüllt, soll nicht nur vom Programm vorgetragen, sondern in die Qualität der in den Horen veröffentlichten Texte eingeschrieben sein. Pars pro toto stehen diese dann wiederum für die Zeitung ein, in der sie erscheinen. Text- und Medienprofil sind notwendig aufeinander bezogen. Die damit einhergehende Aufwertung des modernen Forums Zeitung und seiner Texte wurde von der Kritik sofort wahrgenommen. Die negative Kritik an den Horen und ihren Texten nimmt nicht nur Anstoß an der sozialen Exklusivität der Gruppe, die das Projekt verfolgt, sondern reibt sich auch an der schwierigen »Schreibart« ihrer Texte. Diese gehört zum idealistischen Prospekt von Schiller und lässt die bis dahin üblichen Popularitätsbemühungen hinter sich.120 Schil-
118 119 120
Vgl. Otto. Die Auseinandersetzung. S. 394f., zum inneren Zusammenhang zwischen Horen-Programmatik und den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung. Friedrich Schiller. Über Bürgers Gedichte. In: Schillers Werke. Bd. 22. S. 245–264. Hier S. 253. Vgl. Otto. Die Auseinandersetzung. S. 407 u. S. 439.
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ler selbst macht die Horen nur gelegentlich zum expliziten Austragungsort der von außen kommenden Kritik und eigener Antikritik. In dem Aufsatz Von den nothwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten im neunten Horen-Heft des ersten Jahrgangs 1795 setzt er sich mit dem Vorwurf der schwierigen Texte auseinander.121 Seine Konzeption einer »schönen Schreibart« hält nicht nur die Mitte zwischen philosophischen und literarischen Mitteln der Sprache, sondern sie ergänzt den Einsatz einer kulturpolitischen Publizistik, wenn sie das Darstellungsmedium Text mit in die Pflicht nimmt, zu einer »generalisierten Individualität« zu gelangen.122 Der Text als Form wird so zum Komplement der publizistischen Funktion, »das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben«. Das gesellschaftlich Nützliche und das Schöne, Pragmatik und Idealismus, werden so im Mittel von Zeitung und Text aufeinander beziehbar gedacht. Und auch der Kreis der Mitarbeiter, wenn er denn symbolische Stellvertreterschaft für die Allgemeinheit erlangen könnte, wäre selbst Nachweis generalisierter Individualität. Der Kreis, den die Gruppe um das ideelle Zentrum der Unternehmung zieht, wäre selbst schön und bliebe damit notwendig auf sich selbst bezogen. Interesseloses Wohlgefallen könnte die Gruppe an sich selbst finden, blieben da nicht die unvermeidbaren Kontaktflächen zwischen Innen und Außen, die immer auch das Unschöne, die Verunreinigung durch Andere mit sich bringen. Das Wahre und Gute in der Form des Schönen bleibt auf das verwiesen, was als unwesentliches gesellschaftliches Außen auf Distanz gebracht wird. Von hier melden sich die zu Wort, deren Formen doch mit der eigenen Unternehmung sich erübrigen sollten. Man kann von einem produktiven Selbstmissverständnis einer Gruppe sprechen, die zwischen Kunstautonomie und publizistischer Vergesellschaftung agiert und mit erstaunlicher Konsequenz ihre konzentrischen Ringe um die Sinnkerne von Wahrheit und Schönheit zieht, die Allgemeinheit vorsehen, aber dabei andere Personen, Projekte und Verfahren überflüssig machen will.123 Zum Wunsch, die »politisch geteilte Welt« über die Kunst wieder zu vereinigen, tritt die Absicht, auch die »Scheidewand« zwischen der »schöne[n]« und »gelehrte[n]« »Welt« aufzuheben. Die schöne Schreibart soll die schwierige Wis121 122
123
Vgl. ebd. S. 408ff., S. 411 u. S. 440. Diesen Ausdruck gebraucht Schiller in Briefen an Christian Garve vom 1. Oktober 1794 und 25. Januar 1795 sowie an Christian Gottfried Körner in einem Brief vom 1. September und 10. November 1794; zit. n. Otto. Die Auseinandersetzung. S. 412. Ähnliche Ausschließungsgesten bei gleichzeitig adressierter Allgemeinheit kann man auch in Goethes Einleitung in die Propyläen sehen; vgl. Pompe. Botenstoffe; vgl. zur klassizistischen Weimarer Publizistik Michael Gross. Ästhetik und Öffentlichkeit. Die Publizistik der Weimarer Klassik. Hildesheim 1994. Nach Gross mündet der Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse übersteigende Ideale und kulturpolitische Ansprüche zu vereinen, zu einer entschiedenen Trennung der Sphären: »Statt durch einen Erfolg der Weimarer Publizistik die kulturpolitische Substanz des Konzepts ästhetischer Öffentlichkeit zu aktivieren, führten ›Horen‹ und ›Propyläen‹ zu einer Idealisierung der ästhetischen Autonomie, die der Weimarer Klassik epochale Bedeutung verleiht, ohne eine Epoche zu sein oder eine nach ihren Zielen zu gründen.« Ebd. S. 421.
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senschaft vom Ballast einer womöglich theoretisch fundierten Unverständlichkeit befreien. So heißt es in der Ankündigung der Horen: So weit es tunlich ist, wird man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen. Zugleich aber wird man auf dem Schauplatze der Erfahrung nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft ausgehen und da nach Gesetzen forschen, wo bloß der Zufall zu spielen und die Willkür zu herrschen scheint. Auf diese Art glaubt man zu Aufhebung der Scheidewand beizutragen, welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachteile beider trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben, und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen. (SA 107)
Das neue »man« spricht bereits als Stellvertreter im Allgemeinen, zugleich ist dieses Sprechen gesellschaftlich exzentrisch positioniert. Der hoch gestimmte Ton, der die Ankündigung der Horen von ihrem Konzept her bestimmt, ist nicht so leicht, weder philosophisch noch ästhetisch-künstlerisch zu überbieten. Die Schwierigkeit der Kritiker besteht dann auch darin, genau abzuwägen, auf welcher Ebene sie dem Projekt im Widerstreit begegnen wollen, wenn sie nicht auf den Idealismus des Schönen, der zwischen der Gruppe und ihren Formen eine notwendige Verbindung stiftet, eingehen wollen bzw. dieser ganzheitlichen Sinnstiftung ihre volle Anerkennung verweigern. August Hennings etwa antwortet mit seiner Schrift Zwek der Journäle dann auch eher auf eine bereits paraphrasierende Lektüre der Ansprüche, die die Horen verkündigen. Hennings geht auf das Lob ein, dass der Zeitungsherausgeber Schütz in seiner Horen-Rezension reichlich spendet.124 Das Zeitungslob als Horen-Lob, wie es Schütz aufbietet, verstärkt die ideologischen Implikationen des kulturpolitischen Einsatzes, dessen Konkurrenzgebahren Schiller eher vornehm versteckt hält. Schütz profiliert, vielleicht ungewollt, den sozialen Affront, der dem Horen-Projekt mit auf den Weg gegeben worden ist: Die Monatsschrift, deren erstes Stück wir jetzt anzeigen, erfüllt einen unsrer liebsten, schon lang gehegten Wünsche, daß doch endlich einmal Anstalt zu einer periodischen Schrift gemacht werden möchte, die mit Verachtung alles Mittelmäßigen und Schlechten, keine andre, als gute und vortreffliche Arbeiten aufnähme, und dadurch werth würde, nicht bloß in Lesegesellschaften geblättert, sondern wirklich mit Ernst gelesen, studirt, und mehr als Einmal gelesen zu werden. Nicht leicht konnte dermalen ein Mann in Deutschland gefunden werden, der sich an eine Unternehmung mit größrem Zutrauen des Publicums wagen dürfte, als der Herausgeber der Horen, ein Mann, den seine großen und selten so glücklich in einem Kopfe vereinigten Talente poetischer, historischer und philosophischer Darstellung berechtigten, auf die Unterstützung mehrerer vortreflichen Schriftsteller zu rechnen.125
124
125
Schon die vorausgehende Werbung für die Horen war für die Zeit ungewöhnlich; vgl. Otto. Die Auseinandersetzung. S. 392; zur Rezension von Schütz in der ALZ vgl. ebd. S. 396; Gross. Ästhetik und Öffentlichkeit. S. 366ff. [Christian Gottfried Schütz.] Tübingen, bei Cotta: Die Horen. Jahrgang 1795. Erstes Stück; zit. n. Schiller und sein Kreis. S. 104–111. Hier S. 104f. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle SRH.
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Es geht um Klassikerlektüre, nämlich wiederholendes Lesen, wie man es immer bei verdienstvollen Schriftstellern betreiben sollte.126 Endlich, folgt man Schütz’ Einschätzung, scheint dies auch bei einer Zeitschrift gelungen zu sein, wo primes inter pares agieren. Das Zeitungslob spendet der Adept, der in dem einen »Mann« den Heros der Kommunikation findet, der nun das Geschwätz, dem Fama neben dem Ruhm Raum gibt, beenden kann. Die feinen Unterschiede, die Schiller zwischen der guten und der schlechten Kultur der Neuigkeiten sowie der schönen und der unschönen Mannigfaltigkeit zu machen versteht, werden vom Parteigänger in den etwas gröberen Konturen der Kontraste aufgegriffen, die die noch andauernden Übel der Zeitungslandschaft beschreiben: Durch die übermäßige Concurrenz so vieler periodischen Schriften, verbunden mit der Pünktlichkeit, womit die festgesetzten Termine zur Ablieferung gehalten werden müssen, kann nichts anders, als die Unbequemlichkeit entstehen, daß viele gegen einen allenfalls guten Aufsatz zehn mittelmäßige oder schlechte aufnehmen müssen. Daraus entsteht wieder der Schade, daß die mehresten solcher Schriften nur flüchtig überblättert werden, und mit eben der Eile, in welchen sie die Lesegesellschaften durchlaufen, auch von jedem einzelnen Leser vergessen werden, so daß von den mehresten, selbst das Gute, was sie enthalten, kaum eine Spur in dem Gemüthe des Lesers zurückläßt. Vieles trägt dazu auch der Umstand bey, daß eine große Anzahl solcher Journale gleich von ihren Herausgebern nach keinem wohlbestimmten Plane berechnet sind, und indem sie Allen durch ihr Allerley gefallen wollen, keinem verständigen Leser recht gefallen können; denn sie gleichen den Garküchen, wo man zwar vielerley fodern kann, aber sich oft in der traurigen Verlegenheit befindet, zwischen Schlecht und noch Schlechter wählen zu müssen. (SRH 104)
Nun aber kann man das Zeitungslamento hinter sich lassen, denn Autor-Ruhm hat die »Garküchen« und Rumor-Zonen verlassen. Die neue, nämliche entschiedene Aufteilung der Kultur in hohe und niedrige Zonen ist vollzogen, weil eine repräsentative Zeitung erschienen ist, die die Beste aller Allgemeinheiten herstellt. Der Adept scheint mit dem Projekt, das ihn als Zeitungsmacher selbst verdrängen könnte, als neuem Gesellschaftsmodell für Zeitungskommunikation zufrieden zu sein: Der Geist des Herausgebers [...] wird sicherlich so zum Vortheile des Ganzen dieser periodischen Schrift walten, daß nie auch nur ein mittelmäßiger Aufsatz, (denn an Aufnahme des Schlechten ist bei einem Schiller ohnedem nicht zu denken,) in die Gesellschaft so vieler guten oder vortreflichen sich eindränge. [...] Es zeigt von großer Ueberlegung, daß der Plan dieser Zeitschrift sich auf dasjenige einschränkt, was zugleich der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung, und der gelehrten zur freyen Forschung der Wahrheit, und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen dienen kann; daß sie alles ausschließt, was bloß den gelehrten Leser interessiren, oder was bloß den Nichtgelehrten befriedigen kann; daß sie vorzüglich und unbedingt sich alles verbietet, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung, verstehet sich unsrer Zeiten, bezieht. (SRH 105) 126
Vgl. zur Stabilisierung des literarischen Kanons durch Wiederholungslektüre Georg Stanitzek. »0/1«, »einmal/zweimal« – der Kanon in der Kommunikation. In: Technopathologien. Hg. von Bernhard J. Dotzler. München 1992. S. 111–134.
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Schütz’ Rezension lässt keinen Zweifel daran, dass es gelungen ist, die Form Zeitung mit auktorialer Kühnheit zu bewältigen und den Sinn produzierenden Ausschluss an präferierte Verfahren zu binden. Seinen allgemeinen Bezugnahmen auf das Horen-Programm lässt Schütz dann eine Lektüre der einzelnen Texte der ersten Horen-Lieferung folgen, und zwar nach der Reihenfolge ihres publizistischen Auftretens in dieser Lieferung. Dabei beabsichtigt er, die Zeitschrift Horen nicht nur in ihrer publizistischen Programmatik der Ausgrenzung zugunsten des Besten zu bestätigen, sondern er geht der Spur der dort ausgelegten Texte nach, um der Form der Horen, die diese Texte und diese Rahmung als notwendige Beziehung behauptet, ebenfalls Recht zu geben. Die Texte stützen nach Schütz das Ziel der Ankündigung.127 Er berichtet, dass sich einer »Reihe poetischer Episteln« (SRH 106) »eine Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, wovon diesmal die neun ersten erscheinen« (SRH 107) anschließt, auf welche noch Anderes folgt: [...] der dritte Aufsatz enthält Untersuchungen deutscher Ausgewanderten, zu denen hier vorerst nur die Exposition der Veranlassung mitgetheilt ist, an der man aber schon die simple, edle und rührende Manier eines unsrer ersten Dichter in Composition und Ausdruck erkennt. [...] Der letzte Aufsatz: über Belehrung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit, macht sich seiner Stelle, durch tiefsinnige Bemerkungen und neue Ansichten werth, ohne durch Trockenheit oder zu große Spitzfindigkeit abzuschrecken. (SRH 109f.)128
Schütz’ Text- und Literaturkritik ebnet damit einem Prinzip der Reihung den Weg, springt er doch in seinen Beobachtung von Text zu Text. Das wäre nicht weiter von Belang, wenn Schütz’ eigenes Verfahren für Schillers Konzept der ›schönen Schreibart‹ in und mit einer Zeitung die Frage aufwürfe, ob dessen Übertragung auf die genuinen Darstellungsformen einer Zeitschrift gelingen kann. Anders gesagt, die Kritik, die Schütz schreibt, spendet zwar Lob, holt aber in ihrer eigenen Verfahrensart den Anspruch ›generalisierbarer Individualität‹ dieser Zeitungsform nicht ein. Seine konventionellen Nachrichten über Texte in einer Zeitung spiegeln die Aufeinanderfolge unterschiedlicher Texte in den Horen. Seine Rezension zeigt also die in diesem Sinne zeitungstypische und darin zugleich konventionelle Machart der Horen. Zwar versucht der Rezensent Schütz durch den Lesezusammenhang postulierende Metaphern den Sprung aus dem einen in den anderen Text zu überbrücken: »Auf diese angenehme und leichte Vorkost folgt eine stärkere Speise« (SRH 107), oder er nimmt die numerische Verkettung zur Hilfe: »Das erste Stück der Horen« (SRH 106), »[d]er dritte Aufsatz enthält« (SRH 109), »[d]er letzte Aufsatz« (SRH 110) – doch verfehlt Schütz’ 127 128
Andere Kritiker werden dieser Einschätzung widersprechen; vgl. Otto. Die Auseinandersetzung. Für die namentlich nicht genannten, aber in den Anspielungen von Schütz zum Teil schon erkennbaren Autoren sehen die Horen am Ende eines jeden Jahrgangs die Auflösung vor; vgl. Schillers Ankündigung. Die Epistel und die Unterhaltungen stammen von Goethe, die Briefe von Schiller, die Abhandlung Ueber Belebung von Fichte.
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Rezension so dennoch die idealistische Konzeption des Werk-Charakters, wo jedes Zeichen an jeder Stelle auf eine auf das Ganze abgezirkelte pars pro toto-Konstellation verweisen sollte. Die Rezension liest die Texteinträge in das Medium Zeitung nicht so, wie es sich Schiller vielleicht selbst erhofft hat, wenn denn die Form der Zeitschrift sich zur generalisierten schönen Individualität hat erheben können. Im Gegenteil scheint die Rezension eher offen zu legen, dass auch zwischen den Horen-Texten Lücken zu finden sind, die zu sprunghaft-dezentrierter Lektüre einladen. Die Abfolge von Texten mit zudem unterschiedlicher Machart trägt vielleicht mehr Spuren von Kontingenz an sich, als es der programmatische Einsatz beabsichtigt. Und ob die im ersten und den folgenden Heften vorgenommene Auswahl einhält, was die Ankündigung versprochen hat, nämlich eine schöne Zusammenarbeit der Besten für das Werk zum Wohle der Allgemeinheit, wird zumindest auch Gegenstand fast aller späterer Rezensionen sein. Auch die Distanzierung zur politischen Gegenwartsgeschichte, das »Lieblingsthema des Tages«, wie es in der Ankündigung heißt, wird als Provokation zeitgenössischer Zeitungsformen und -inhalte vielfach diskutiert. Denn gerade Zeitungen und Zeitschriften lehnen sich darin an die Zirkulationssphären des Politischen an, wo die Neuheit um der Neuheit willen hoch geschätzt ist, stellt diese doch eine Form höchst verdichteter Informationshaltigkeit dar. Schillers erste Zeitschrift, die Thalia, hatte sich dem Feld der politischen Gegenwartsgeschichte noch geöffnet; hier wurden etwa Beiträge über die Vorfälle und Entwicklungen in Frankreich veröffentlicht.129 Und Goethes Erzählung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten greift ihrerseits in den ersten Horen-Lieferungen den Diskurs über politische Neuigkeiten auf, indem diese in die erzählte Figurenrede eingebaut werden. Die Rahmenerzählung der Unterhaltungen ist zudem ein selbstreflexiver Schauplatz novellistischer Erzählkunst, wo die Neugierde auf neue Zeitungen als frivol und die Literarisierung des Neuen und Interessanten als der erzählend bewältigte Gegenentwurf vorgeführt werden.130 Mit ihrer negativen Bewertung des »Lieblingsthemas« im Kontext von Zeitungen sind die Unterhaltungen also durchaus auf der Linie der Horen-Programmatik.131 Die Ankündigung und die Unterhaltungen kontrastieren beide in ihrem Sinne schlechte Alltagskommunikation mit ästhetisch ausgezeichnetem Kunstdiskurs und beson-
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Vgl. zu den Absichten Schillers, nach Beendigung der Thalia sich zunächst auf die Herausgabe einer historisch-politischen Quartalsschrift mit dem Verleger Friedrich Cotta zu verständigen, Otto. Die Auseinandersetzung. S. 390. Herausgeber der Europäischen Annalen wurde statt Schiller dann aber Ernst Ludwig Posselt. Vgl. auch Niels Werber. Liebe als Roman. S. 238ff. Die zeitgenössische Kritik reagiert allerdings auf den Widerspruch, dass die Unterhaltungen entgegen der Absicht, die aktuelle Nachrichtenkultur über die Revolution und die Kriege auszuschließen, diese zum Einsatzpunkt der Erzählkunst machen; vgl. Otto. Die Auseinandersetzung. Insgesamt hatte auch Goethe wie so viele Zeitgenossen ein ambivalentes Verhältnis zur Zeitungsliteratur; vgl. Hansjürgen Koschwitz. Wider das »Journal- und Tageblattsverzeddeln«. Goethes Pressesicht und Pressenutzung. Münster 2002.
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deren Formen bewusster literarischer Kommunikation. Philosophische Ästhetik und ausgezeichnete Literatur stellen sich so gemeinsam anderen modernen Kommunikationsverhältnissen entgegen, die nur wirre Geräusche zu erzeugen scheinen. Schiller verbindet in seiner Ankündigung Geräuschbildung, Krieg und gesellschaftliche Wirrnisse mit dem gängigen Negativbild des zerstreuten Zeitungslesers, der sich durch das Falsche gerne ablenken lässt: Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und nur allzu oft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung ist, möchte es ebenso gewagt als verdienstlich sein, den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung von ganz entgegengesetzter Art einzuladen. In der Tat scheinen die Zeitumstände einer Schrift wenig Glück zu versprechen, die sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen und ihren Ruhm darin suchen wird, durch etwas anders zu gefallen, als wodurch jetzt alles gefällt. (SA 106)
Wie in Goethes Unterhaltungen tritt dem allzu Zerstreuten eine maßvolle »fröhliche Zerstreuung« hilfreich, wenn nicht sogar heilend zur Seite. Die Horen sind sich als »Schrift« für die Zeit, in Form einer Zeitschrift, nicht zu schade, eine Lesepädagogik anzugehen: Dies ist der Gesichtspunkt, aus welchem die Verfasser dieser Zeitschrift dieselbe betrachtet wissen möchten. Einer heitern und leidenschaftfreien Unterhaltung soll sie gewidmet sein, und dem Geist und Herzen des Lesers, den der Anblick der Zeitbegebenheiten bald entrüstet, bald niederschlägt, eine fröhliche Zerstreuung gewähren. Mitten in diesem politischen Tumult soll sie für Musen und Charitinnen einen engen vertraulichen Zirkel schließen, aus welchem alles verbannt sein wird, was mit einem unreinen Parteigeist gestempelt ist. (SA 106)
Leser und Leserinnen sind keine zu vernachlässigende Größe, sondern sollen unbedingt in den Zirkel geholt werden. Sie lockt das Versprechen, in »vertrauliche« Verhältnisse einzutreten, die verbannen, was nicht gefällt. Hier schlägt Schillers Lesepädagogik Töne an, die zeigen, dass seine Zeitschrift auch in Konkurrenz zu den nun aufkommenden Unterhaltungsblättern steht, die ihrerseits von den Horen dankbar den Ausschluss des unbequemen Politischen aus den Szenarien von Unterhaltung übernehmen werden. Die Umgehung tumultuarischer Umfelder hat Schiller auch angesichts ökonomischer Konkurrenzen im Sinn.132 Mit dem Zeitungsverbündeten Schütz verhandelt er bereits im Vorfeld seines Vorhabens über die Häufigkeit, mit der Rezensionen der Horen und ihrer Texte in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erscheinen sollen. In diesem Zusammenhang schreibt er an Schütz:
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Vgl. zu den Kaufmannsrücksichten, die Schiller sehr bewusst verfolgt, Otto. Die Auseinandersetzung. S. 390. Anm. 18.
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Um nun zugleich auch von Außen nichts zu unterlassen, was eine Schrift dieser Art in lebhaften Umlauf bringen kann, so wünschten wir, daß jedes Monathstück so bald es erscheint, und so vortheilhaft als mit einer strengen Gerechtigkeit bestehen kann, in der A. L. Z. angezeigt würde. Da bei einer solchen gemeinschaftlichen Unternehmung jedem Einzelnen daran liegen muß, daß das Ganze seine gehörige Würdigung erhalte, so müssen Alle für Einen stehen, und Jeder, wie ruhig er auch sonst der Aufnahme seiner Produkte zusehen mag, ist nun lebhaft interessirt, daß allen Uebrigen ihr Recht widerfahre. [...] Auf diese Weise, däucht mir, würden unangenehme Collisionen zwischen Ihrer Societät und der unsrigen am Besten vermieden, und der Grund zu einem wechselseitigen guten Vernehmen gelegt, bei dem unsere beiden Entreprisen in jeder Rücksicht gewinnen müßten. Ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen, wie viel Gutes man in der Welt durch Vereinigung ausrichtet, und wie mißlich es auch für litterarische Gemeinden ist, sich gegen einander im Naturstande zu befinden, der, wie Sie wissen, ein bellum omnium contra omnes ist.133
Die Befriedung des Marktes über ökonomische Absprachen läuft für Schiller auf Parteinahme für die wenigen Besten hinaus. Dieses auf die Außenseite des Projekts verlagerte politisch-ökonomische Kalkül erscheint zugleich konsequent angesichts des hochgespannten Idealismus, mit den Besten zusammen nur das Beste, was es zu geben scheint, zu veröffentlichen. Es geht damit um eine strategische Verbindung von Idealismus als philosophisch-ästhetisches Konzept mit den über Konkurrenz bestimmten Produktions- und Konsumtionssphären. Diese Kulturpolitik zielt wie neuzeitliche Staatstheorie auf Befriedung der Vielen im Naturzustand durch deren bereitwilligen Machtabtritt an Wenige. So geht es im hochgestimmten Einsatz der Horen entschieden um die Verdrängung von anderen Projekten, und wo dies öffentlich erkennbar wird, erzeugt das Projekt für andere Teilnehmer am Zeitungsspiel deshalb jede Menge Misstöne, die ihrerseits nicht einfach hingenommen werden. In diesem Sinne reagiert auch der Zeitungsmacher August Hennings empfindlich auf die vorbehaltlos Zustimmung signalisierende Rezension von Schütz. Hennings spürt an dessen den Einsatz der Horen zurechtstutzenden Paraphrasen die realitätshaltigen kulturpolitischen Anteile des Projekts auf. Hennings selbst folgt einem anderen gesellschaftspolitischen Einsatz des publizistischen Formats Zeitung. Ihm geht es darum, dass der gesamtgesellschaftliche Zugewinn als das gemeinsame Beste an eine mit vielen Seiten kommunizierende Form gebunden bleibt. Die Abgrenzung der Horen gegen das Viele sind ihm ein Skandal, da sie sozial asymmetrisch konzipiert ist und also Ausgrenzungsbewegungen mit sich führt: Die Klagen in der Recension [von Schütz] über die Menge und die Einrichtung anderer Zeitschriften geziemen mehr der erblassenden Megäre oder der zerstörenden Tisiphone, als den tanzenden Horen. Nichts ist illiberaler und anmassender, als die wiederholten Machtsprüche über das viele Schreiben, da keiner gezwungen wird, zu lesen, und keiner den andern verhindern kann, zu lesen was ihm gefällt. Am wenigsten darf der über Vielschreiberei klagen, der selbst schreibt. Welch ein Stolz, Schweigen zu gebieten 133
Schiller an Schütz. 30. September 1794. Zit. n. Schiller und sein Kreis. S. 111f.
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um allein gehört zu seyn? [...] Noch mehr befremdet es in der Recension eines neuen Journals die Behauptung zu lesen, daß die übergrosse Menge und Vervielfältigung der periodischen Schriften eine drückende Last sey. Kann denn eine noch hinzukommende periodische Schrift diese Last erleichtern, oder soll sie ältere Journale verdrängen und aufräumen um allein – nicht drücken zu können?134
Die Freiheit, die Hennings präferiert, ist nicht geschichtsphilosophisch ausgerichtet, sondern verbindet das Nebeneinander Vieler mit einer gesellschaftspolitischen Forderung nach Vielfalt. Auch Hennigs ist Visionär eines allgemeinen Gesellschaftsfriedens, der sich in einer übergreifenden Kommunikationssituation zwischen »Geben« und »Empfangen« einstellt. Darin idealisiert er seinerseits Sozialität, indem er Konkurrenzverhältnisse ausblendet und verschiedenen Interessenslagen als harmonischen Naturzustand der Gegenwart anpreist: Welch ein Stolz, Schweigen zu gebieten um allein gehört zu seyn? Einzeln mag der bessere Schriftsteller ieden unter ihm stehenden meistern und so die Kunst der Vollkommenheit näher bringen, aber im Ganzen ehrt der liberale Geist ieden Fortschritt der Kunst, von den Egyptischen Thermen bis zur Appollinischen Gottheit, von den Vogelscheuchen in Gärten bis zum Bilde der Helden auf Marktplätzen. Nicht allen gab die Gottheit gleiche Kraft zum Geben und zum Empfangen. Der schreibt für Kinder, der für Gelehrte, dem ist ein Lied aus Gellert, dem ein Gedichte deutscher Homere oder Pindare himmelerhebender Gesang, der blättert im bunten A b c Buch oder in gebilderten Calendern, dem genügt nicht Newton und Leibniz. (HZ 117)135
Auch Hennings Szenario impliziert, dass erst in der Zirkulation von Kommunikaten die Menschen aneinanderrücken und sich vereinigen. Diese Leistung wird für ihn von allen Menschen auf unterschiedlichen Wegen gemeinschaftlich erbracht. Damit geht es Hennings um die »liberale Form des Denkens«, für die eine Zeitung ihrer Form nach einstehen sollte. Und dennoch ist auch diese Form nicht aus ihren Kontexten zu isolieren, die als negative Umwelt auch seines Vorhabens mit dem aufwarten, was er zu vermeiden sucht: »Partheigeist und Vorurteil«, Arbeiten, die nicht nur »meisterhaft« sind: Gern mögte [die Zeitschrift] der Genius der Zeit den Lesern lauter meisterhafte Arbeiten vorlegen und er verspricht zu thun, was er kann. Der Erfolg hängt von der Ausbeute der Mitarbeiter ab, denen der Herausgeber das Journal darbietet. Er kann blos seinen Zwek verbürgen, allgemein nützliche Wahrheiten, von allem Partheigeist und Vorurtheil isolirt, so viel als möglich in Umlauf zu setzen. Könnte er durch eine [sic!] Gedanken Annäherung die Menschen selbst einander näher bringen, so würde er mehr gethan zu haben glauben, als durch ausgefüllte Lücken in der Litteratur, und die Masse des Gedachten ihn weniger interessiren, als die liberale Form des Denkens. Der Ton, den er hiezu wählt, ist Friede und stiller Gang eines ieden in dem Gleise der Thätigkeit. (HZ 119)
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Hennings. Zwek der Journäle. S. 117. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle HZ. Mit ähnlichen Argumenten reagiert auch Wilhelm F. Mackensen in den Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes. 118.–122. Stück. Halle/Leipzig. October 1795. In: Schiller und sein Kreis. S. 151–167.
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So gewinnt Hennings’ Appell für die »liberale Form des Denkens« Kontur angesichts der Illiberalität und Anmaßung, die das Horen-Projekt und dessen Apologeten für ihn verkörpern. Die Konkurrenz um Leser und Leserinnen bleibt aber auch für ihn bestehen, ist seine Unternehmung doch selbst immer nur Teil eines favorisieren großen Ganzen, dessen ideeller Gemeinschaft stiftender Umfang kaum noch erkennbar wird. Und schließlich gibt es auch bei ihm um die andere Außenseite, die zwar auf Distanz gebracht werden kann, aber die Spielräume der liberalen Formen des Denkens ebenso wie die »vertraulichen Zirkel« (Schiller) rahmt: die Politik, die alle publizistischen Verlautbarungen, seien sie nun liberal oder elitär eingestimmt, ihrerseits rahmt. Der Verzicht auf eine selbstbewusste Kulturpolitik des Einzelnen in den inneren Feldern des Zeitungsstreits geht für Hennings einher mit der Rolle des friedliebenden Staatsbürgers. Die Ordnung der publizistischen Liberalität ist allein aussprechbar gegenüber den Horen, aber sie ist nicht verabsolutierbar, sondern als kulturpolitische Option relativ zu den Machtverhältnissen, die von der ›wirklichen‹ Politik bestimmt werden. Die offenen Worte, mit denen Hennings in seiner Schrift Zwek der Journäle für die liberale Handhabung der Jedermanns-Kommunikation gerade im Format Zeitung plädiert, nimmt er gegenüber den Machthabenden zurück. So schreibt er auf ambivalente Weise in der Ankündigung seiner Zeitschrift Genius der Zeit, die das erste Heft 1794 dann programmatisch begleitet, über Reden und Schweigen: Wahrheit ist die sicherste Wache der Thronen. Wahrheit werde ich nie verletzen. Aber ich werde schweigen, wenn ich nicht mehr reden kann, ohne die Ordnung zu unterbrechen, deren Erhaltung die erste aller politischen Wahrheiten ist. Ich werde schweigen, so gefährlich mir auch ein solches Schweigen scheint, nicht für den, der schweigt, sondern für den, der das Schweigen gebietet.136
Das Schweigen, das er sich für seine Zeitschrift auferlegt, entspricht, so legt er nahe, dem Gebot der Stunde. Nur zwischen den Zeilen verrät Hennings Ankündigung den Lesern, zu denen ja auch die Zensoren gehören, etwas von der politischen Funktion eines publizistischen Redens und Schweigens. Damit verweist er auf den Sachverhalt, dass jede Auswahl aus dem Wissenswerten immer auch eine Funktion gegenüber dem Verschwiegenen hat, das auch wissenswert sein könnte. Der Hinweis auf die Politisierung des Nicht-Publizierten verhält sich komplementär zu der geforderten liberalen Form des Denkens, die nur als Möglichkeitsraum in den Kontexten kulturpolitischer Optionen von Publizistik von Hennings offen angesprochen wird. In die publizistische Politik des Verschweigens wird hingegen das überkommene Argument des vorsichtigen Zeitungsmachers übernommen, der sich mit den ihm unverfügbaren politischen Umständen von aller Schuld gegenüber dem, was es doch auch zu berichten gäbe, vor seinen Lesern frei spricht. Auf untergründige Weise korrespondiert so Hennings publizistische Ver-
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August Hennings. Erstes Stück. Januar 1794. Ankündigung. In: Der Genius der Zeit 1 (Jan.-Apr. 1794). S. 1–4. Hier S. 3.
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schwiegenheit, mit der er vordergründig zur Erhaltung von politischer Ordnung beitragen will, mit der Horen-Programmatik, die auf Ordnung des kulturellen Feldes zielt und dabei alles Politische vermeidet, was als Tagesgeschäft die Beschäftigung mit dem inneren Wert von Literatur und Kunst stören könnte. Beide Projektbeschreibungen verhandeln das Verhältnis von kommunikativ erzeugter Freiheit und publizistisch erzeugter Selbst-, aber auch Fremdbegrenzung im Forum von kultur- und marktpolitischen Konkurrenzen unter Zeitungsmachern, die über unterschiedliche publizistische Formgebung streiten. Im Sinne der je eigenen Art von Kultur- und Kommunikationspolitik geht es beide Male gerade nicht darum, ›das Politische‹ als Funktion loszuwerden, wohl aber darum, den Zusammenstoß mit der Politik als solcher zu vermeiden. Für den einen, Hennigs, hat das Schweigen gegenüber dieser dabei auch eine »gefährliche« Seite, und zwar nicht zuletzt für denjenigen, der Schweigen gebietet; für den anderen, Schiller, ist die Ausgrenzung des politischen Feldes geradezu notwendig, um der ›fröhlichen Unterhaltung‹ den Raum zu eröffnen. Hennings’ idealisiertes Modell einer Zirkulation im differenten Nebeneinander vieler Kommunikate impliziert bereits den utopischen Horizont offener gesellschaftlicher Interaktionen. Seine liberal-gemäßigte Auslegung dieser Idee setzt, trotz schwieriger politischer Kontexte, auf die strukturelle Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz in der publizistischen Vielfalt. Deren Existenz in der Gegenwart beweist für Hennings, dass es im Prinzip um die Gabe der Mitteilung bei der Zeitungskommunikation geht. Darin berührt sich seine Vorstellung mit den universalhistorischen Ansätzen seiner Zeit, die es ebenfalls mit vielseitigen Zeitungs-Materialitäten zugunsten aller Interessen aufnehmen wollen. Die Teilhabe der Vielen ist das Sozialmodell, das dem status quo der Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft im späten 18. Jahrhundert durchaus gerecht wird, auch wenn Vieles, gerade auch politisch gesehen, noch im Argen liegt. Der blinde Fleck der Materialisten unter den Zeitungsleuten ist nicht so sehr die realpolitische Seite aller Kommunikate, denen angesichts einer übergeordneten Staatsgewalt immer wieder Beschränkung abverlangt wird. Blindheit besteht eher in epistemologischer Hinsicht, da Auswahl und damit Ausgrenzung und Verschwiegenheit immer schon vollzogen sind, sobald etwas publiziert wird. Allerdings bahnt sich in Hennings Bemerkungen schon an, dass er um das Problem weiß, dass die Einheit des Ganzen in seiner Vielfalt allmählich den Zustand einer wohl nur wissenschaftlich neu zu begründenden ›allgemeinen Unbeobachtbarkeit‹ erreicht und eben aus diesem Grunde publizistisch nicht darstellbar ist. Gegenüber den Materialisten und ihrer Liberalität der allgemeinen Form wird die Produktion von Mitteilungen, die alle Menschen in der Gemeinsamkeit symbolisch angehen, von anderen Publizisten mit der selbstbewussten Geste der bedeutenden und darin notwendigen Auswahl aus dem Vielen inszeniert. So lässt sich der Geistesaristokratismus des Wenigen gezielt mit Form- und Adressierungsstrategien verbinden, die der Zeitung als publizistischem Medium, das prinzipiell das Kollektiv in den Blick nimmt, eigentümlich sind. Wenn nur Aus-
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wahl Informationen erzeugen kann, weil sonst Famas Rauschen überall tönte, dann lässt sich Auswahl gerade auch kulturpolitisch aufladen und die Felder kommunikativer Interaktionen können immer wieder mit Werten versehen werden. Dazu treten Personalisierungsstrategien, etwa die Arbeit im Kreis der Besten, welches Modell die Horen konzipieren. Dies werden zukunftsweisende Spielarten für die mit Fama hantierende Zeitungsarbeit und -kritik, um in dezidierten Ein- und Ausschlussverfahren die Rhetorik einer publizistischen Arbeit für das Allgemeine aufrecht zu erhalten. Im 19. Jahrhundert wird diese Haltung in einer Vielzahl von Stimmführungs- und Rederechtsansprüchen in Auseinandersetzungen über Zirkulation und Zirkelbildung münden, sei es auf den Feldern von Kunst und Literatur, sei es in der politischen Publizistik, sei es in der dezidierten Repolitisierung des literarisch-künstlerischen Einsatzes.137 Das Nebeneinander verschiedener Spielarten von Zeitungstheorie beendet also keineswegs den Streit über Famas Medium und seine Formen, sondern dieser faltet sich in einer Vielzahl von Stellungnahmen weiter aus.
V.5.
Versachlichung der Zirkulation: Joachim von Schwarzkopf
Man kann die These wagen, dass Zeitungstheorie von Beginn an mit der proteushaften Vielgestaltigkeit ihres Gegenstandes kämpft und gegen Überraschungen, die sich in ständig neuen Formen und Möglichkeiten abzeichnen, nicht wirklich gefeit ist. Vielleicht ist es deshalb auch gar nicht weiter erstaunlich, dass auf Kaspar Stielers Abhandlung über Zeitungs Lust und Nutz in den nächsten 100 Jahren keine Schrift gefolgt ist, die in ähnlich umfangreicher Weise sich auf die Bestimmung dessen, was Zeitungen sind und leisten, eingelassen hat. Der Dispersionslogik von Wissen, das zeitungsförmig zirkuliert, scheint eher eine Vielzahl von Gelegenheiten zu entsprechen, bei welchen sich Experten der Schrift- und Druckkultur über Funktionen und Formen von Zeitungen und Journalen verständigen. In diesem zeitungstheoretischen Gelegenheitsschrifttum wird durchaus gesehen, dass die zeitungsartigen Kommunikationsformate politische, soziale und kulturelle Effekte mit sich bringen, die auf vielfältige Weise das gesellschaftliche Gesamt durchdringen. Wer über die Zeitung als Form und Effekt nachdenkt, behandelt (wenn auch häufig implizit) deshalb auch die Operativität von Kommunikation überhaupt. Es entsteht so am Ort der Zeitungstheorie ein umfängliches Wissen darüber, wie Kommunikationen Wissen erzeugen und verbreiten. Selbstverständlich rahmen politische und zivile gesellschaftliche Bedingungen das Schrifttum über die Zeitung, wie umgekehrt durch Zeitungskommunikation ausgelöste Prozesse diese Rahmenbedingungen tangieren und verändern. Persönliche oder gruppenspezifische Nähen und Distanzen zur Zei137
Vgl. zur Zirkulationsmetaphorik, etwa in den Projekten der Jungdeutschen, Gedächtnis und Zirkulation.
V.5. Versachlichung der Zirkulation: Joachim von Schwarzkopf
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tung werden theoretisch mit Blick auf allgemeine und spezifische Bedingungen für Kommunikation und Publizistik thematisiert. Das viele Wissen über Zeitung und Kommunikation kann dabei nicht im Rahmen einer Zuständigkeit allein gebündelt werden. Der Ausfall einer Einheit stiftenden Theorie, womöglich an einem Ort, bezeugt umgekehrt den Reichtum an Möglichkeiten, sich auf die Phänomene Zeitung und damit verbundene Kommunikationen einzulassen. Neben den diskursiven Linien, die viele Praktiker im Amt ausziehen, ist der gelehrtakademische Diskurs gleichwohl um eine Theorie der Zeitung bemüht gewesen, die Anspruch auf Allgemeinheit hat. Um 1800 verschwinden zunächst die akademischen Bemühungen um eine solche allgemeine Zeitungstheorie, die sich auf ihre eigene Wissenschaftlichkeit berufen würde. Deren Einführung an deutschen Hochschulen wird seit dem späten 19. Jahrhundert wieder angestrebt.138 Mit Blick auf das historisch bereits Geleistete stützt sich die archivarische Erfassung dabei auf die ersten bibliographischen Verzeichnisse des 18. Jahrhunderts, die auf universalhistorische Weise den gelehrten Zugang zur Zeitungsproduktion ihrer Zeit dokumentieren.139 Die frühen gelehrten Verzeichnisse von Zeitungen und Journalen bieten außer bibliographischen Einträgen auch Auszüge aus Texten, die zuerst in Zeitungen veröffentlicht wurden. Solche bibliographischen Verzeichnisse konnten ihrerseits zeitungsförmig publiziert werden. Groth beschreibt diesen für das 18. Jahrhundert geläufigen Typus von Zeitungen über Zeitungen: [S]ie brachten mit Räsonnements ausgestattete Auszüge aus den letzten Jahrgängen von etwa vierzig Zeitschriften – meist politisch-historischen Journalen –, Auszüge, wie sie in der Folgezeit noch öfter, z.B. in dem Journal des Journaux (Mannheim, 1760), dem Journal aller Journale (Hamburg, 1786), Geist der Journale (Leipzig, 1802, Riga, 1809, Berlin und Leipzig, 1810) gemacht wurden, und wie sie sich, wenn auch in ganz anderer Gestalt und anderem Geiste, heutzutage in den Review of Reviews oder den Zeitschriftenauszügen der Zeitschriften und Zeitungen finden: sie sollten das Publikum zum Ersatz der Zeitschriften selbst über das Wichtigste in deren Inhalt unterrichten [...].140
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Vgl. Werner Storz. Die Anfänge der Zeitungskunde (Die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts über die gedruckten periodischen Zeitungen). Diss. Phil. Leipzig 1931; Groth. Die Geschichte; Kirchner. Das deutsche Zeitschriftenwesen; Medienwissenschaft. Ein Handbuch. Von Christian Juncker, der auch Christian Weises Zeitungsabhandlung ins Deutsche übertragen hat, stammt die älteste Zeitschriftenbibliographie: Schediasma historicum de ephemeridibus sive diariis eruditorum in nobilioribus Europae partibus hactemus publicatis, 1692; vgl. Groth. Die Geschichte. S. 27. Die Bibliographie von Johann Heinrich Chr. Beutler/Johann Christoph F. Gutsmuths. Raisonnierendes litterarisches Verzeichniß aller in diesem Jahrhundert bis jetzt erschienenen periodischen Blätter. Leipzig 1790, gibt »eine Gesamtübersicht über die Zeitschriften des achtzehnten Jahrhunderts, großenteils auch mit den Namen der Herausgeber und wichtigsten Mitarbeiter«; Groth. Ebd. S. 49. Die zweite große Bibliographie des späten 18. Jahrhunderts blieb unvollständig: Johann Samuel Ersch. Repertorium über die allgemeineren deutschen Journale und andere periodische Sammlungen für Erdbeschreibungen, Geschichte und die damit verwandten Wissenschaften. Lemgo 1790–99. Groth. Die Geschichte. S. 48.
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Daneben treten im frühen 18. Jahrhundert etliche Dissertationen, die den Nutzen und Schaden von Zeitungen im Allgemeinen und für universitäre Fächer im Einzelnen ausbuchstabieren.141 Dazu kommen schließlich im akademischen Bereich Zeitungskollegien, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnen und bis ins späte 18. Jahrhundert »auf den Universitäten und Ritterakademien ebenso wie auf den Gymnasien, den lateinischen Stadtschulen und den bürgerlichen Realschulen« gelesen wurden.142 In diesen Kollegien werden Anweisungen für die Zeitungslektüre ausgegeben und auch Zeitgeschichtliches aus Zeitungen vorgelesen und kommentiert. So werden die Verbindungen zwischen der universalhistorischen Wissensformation und dem gesellschaftlichen Nutzen von Zeitungen, die insbesondere auch ihre akademischen Leser weltläufig machen, vertieft. Die Akkumulation von Realienwissen und der Habitus des Informierten werden hier für die akademisch und praktisch ausgebildete Elite der Staatsverwaltung dienstbar gemacht. Die Zeitungskollegien stellen einen weiteren wichtigen zeitungstheoretischen Strang dar, der auf die seit dem 17. Jahrhundert gegebene strukturelle Verzahnung von Staat, Gelehrsamkeit, Beamtenschaft, Ereignisgeschichte und Zeitungen verweist. Universitätskanzler wie Johan Peter von Ludwig (1668–1743) in Halle,143 der Gießener Jurist und Historiker Immanuel W. Weber (1659–1726) oder auch Professoren der Reformuniversität Göttingen lasen solche Kollegien.144 Von Ludwig geht etwa in einem aus seinen Vorlesungen hervorgegangenen Traktat von 1705, Vom Gebrauch und Missbrauch der Zeitungen bei Eröffnung eines Collegii, auf die Bedeutung von Zeitungswissen in der Kabinettspolitik ein.145 Seiner Denkschrift ist zu entnehmen, dass das politische Verständnis eines allgemeinen öffentlichen Publikums neben die Wahrnehmung von speziellen ständischen Publika oder solchen in regionalen und lokalen Bezügen tritt. Wie zeitgleich im gelehrt-literarischen Diskurs wird der Publikumsbegriff zu einer generalisierten Größe.146 Von Ludwig schreibt, sein Zeitungskollegium diene dem Zweck, daß die auditores die jetzt lebende und herrschende Staaten nach jedes seinen Kräften, Schwäche, und andern Angelegenheiten kennen; und aus Kundschafft der gegenwärti-
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Nach Groth bieten die Dissertationen im frühen 18. Jahrhundert keine neuen Argumente, die nicht schon in den früheren Zeitungsschriften über allgemeine Neugier, staatliche Beaufsichtigung und allgemeinen Nutzen geäußert werden; vgl. ebd. S. 26. Ebd. S. 33. Vgl. zu von Ludwig (auch Ludewig) Skalnik. Johann Peter von Ludewig; vgl. auch Groth. Die Geschichte. S. 39. Von Ludwig gründete 1729 auch ein Intelligenzblatt (Wöchentliche Hallische Frage- und Anzeigungsnachrichten). Vgl. Groth. Die Geschichte. S. 42, 45. 1700 fand diese Vorlesung statt, 1705 erschien der Traktat in Johan Peter von Ludwig. Sammlung der Kleinen Teutschen Schrifften; vgl. Groth. Die Geschichte. S. 39f. Vgl. dazu Ursula Goldenbaum. Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik gegen Maupertuis und Friedrich II. im Jahre 1752. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005. S. 215–228.
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gen Dinge ein Urtheil auf die künfftige fassen; das ist, vernünfftig raisonniren lernen mögen; über das, publica zu tractiren, einen Vorschmack bekommen und das fundament zu einer künfftigen leichten connexion circa faciem Europae legen mögen.147
Die Staatsklugheit repräsentiert ein zeitgenössisches Wissensideal, das von der akademischen Zeitungstheorie an den Schnittstellen von Machtpolitik und Zivilverwaltung aufgegriffen wird. Zeitungskollegien und Traktatliteratur werden ihrerseits kontextuiert von Lexikonartikeln, die sich zum Zeitungsgebrauch äußern,148 wie umgekehrt Lexika und darin vermitteltes Realienwissen dem Gelehrten wie dem allgemeinen Zeitungsleser als ein die Zeitungslektüre begleitendes Wissen anempfohlen werden. Die auf die Frage des summum bonum bezogene akademische Schaden-Nutzen-Diskussion wird dabei lange noch in den aus dem 17. Jahrhundert überkommenen Stichworten weitergeführt und, wie gezeigt, moralisch belastet. Der Zugang zu Wissen, das zeitungsförmig aufkommt und sich zirkulierend ausbreitet, wird dazu als ein Politikum ersten Ranges eingeschätzt, betrifft dies doch Ansprüche des Staats und der Gelehrtenschaft in Bezug auf die Verwaltung, Kontrolle und die Öffentlichkeit von Wissen. Dieses vielfältige Ineinander von historischem, politischem, sozialem und kulturellem Wissen bei der theoretischen Einschätzung zeitungsförmiger Kommunikate bleibt in allen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts präsent. Als eigene, diskursiv breit gestreute Gemengelage, gerahmt durch zahlreiche Kontexte und Wissensumbrüche, reagiert Zeitungstheorie durchaus zeitgemäß auf immer komplexer werdende Ausdifferenzierungsprozesse. Und alles, was aus heutiger Sicht wissenshistorisch zu den Modernisierungsprozessen im 18. Jahrhundert gesagt werden kann, lässt sich unschwer auch an der durchsetzungsstarken Zeitungspraxis nachvollziehen. Einer alle Erscheinungsweisen ins ›System‹ bringenden einzigen Zeitungstheorie scheinen diese Vorgänge gerade nicht günstig gewesen zu sein. Es entsteht auch keine komplementäre Unternehmung für eine eigenständige wissenschaftliche Theorie der Kommunikation, auch wenn deren Funktionsweisen und Effekte angesichts der Druckkultur überall beobachtet und beurteilt werden. Eine solche Zeitungstheorie, die womöglich eine generalisierte Kommunikationstheorie mit einschlösse und die es mit den zeitgenössischen Diskussionen über eine neue allgemeine Geschmackskultur, eine allgemeine Ästhetik oder Wissenschaft des Wissens (wie diese mit der Transzendentalphilosophie vorliegt) aufnehmen könnte, wird auch zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht versucht. Im Gegenteil, die universitären Zeitungskollegien hören gerade in dieser Zeit auf. Der Zeitungsforscher Otto Groth vertrat in seiner Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft von 1948 die immer noch diskussionswürdige These, dass das Ende der akademischen Zeitungskollegien im späten 18. Jahrhundert mit der Erkenntnis der 147 148
Zit. n. Groth. Die Geschichte. S. 40. Vgl. Groth. Ebd. S. 37f., zu den Einträgen in Wörterbüchern und Lexika des frühen 18. Jahrhunderts. Über Zedlers Universal-Lexikon finden diese Urteile weite Verbreitung.
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praktischen politischen Bedeutung der Zeitungen, die sich in der Französischen Revolution abzeichnete, einherging. Mit den Zeitungskollegien sei auch das akademisch institutionalisierte Interesse an einer Wissenschaft der Zeitung vorerst verschwunden. Philosophie, Philologie und Historik als die Lehrgebiete, die sich noch im mittleren 18. Jahrhundert mit der Zeitung beschäftigt hatten, hätten sich, so Groth, nach 1800 als autonom begründete Wissenschaften von dem pragmatischen, schnelllebigen Medium Zeitung eher wieder abgewandt; auch hätte der (materiale) Universalismus vieler Zeitungen nicht mehr in die disziplinäre Ausfächerung gepasst.149 Folgt man Groths Überlegungen, so kann man sagen: Mit der neuen wissenschaftlichen Grundlegung von Wissenschaften und Künsten als von pragmatischen Zusammenhängen entlastete, in sich selbst begründete Bereiche und mit der Aufteilung gesellschaftlicher Anliegen in funktional differenzierte Zuständigkeiten von Politik, Wissenschaft und Kunst fallen Zeitung und Kommunikation als Gegenstände zwischen alle zu Beginn des 19. Jahrhunderts akademisch neu institutionalisierten Reflexionshorizonte. Gerade dieses Medium, seine Formenvielfalt und sein komplexer Gebrauch hätten aber schon zu der Zeit eine allgemeine Wissenschaft der gesellschaftlichen Kommunikation und ihrer Medien nahelegen können.150 Andererseits ist es die Staatswissenschaft als akademische Statistik, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (neben Zensur und Kulturkritik) das offizielle Gedächtnis dafür wach hält, dass Staat, Gesellschaft und Kommunikation in der Druckkultur aufeinander bezogen sind.151 Bürgerliche Kulturkritik und staatskritisches Schrifttum lassen sich unter diesem Aspekt als komplementäre Möglichkeiten der Zeit um 1800 ansprechen, die neben offizieller Politik den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der Zeitung theoretisch verfolgen, seine Allgemeinheiten und Ansprüche überprüfen und immer wieder auch praktisch erproben. Insgesamt entwickelt die Zeitungstheorie seit dem späten 18. Jahrhundert in diesen Kontexten Perspektiven, die den Streit für und wider die Zeitung fortsetzen: – Eine insbesondere aus den Kontexten idealistischer Geschichts- und Kulturphilosophie herrührende Betrachtungsweise verfolgt die Form Zeitung und die Zeitungskommunikation vor dem Hintergrund einer mit sich selbst im Widerstreit zerfallenden Moderne, wo nun zahlreiche Errungenschaften, wozu Publizistik gezählt wird, mit der Erzählung von Defiziten korreliert sind.
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Vgl. ebd. S. 83ff. Erst Max Weber wird auf dem ersten deutschen Soziologentag von 1909 zu bedenken geben, dass eine Wissenschaft der Gesellschaft sich besonders auch mit der Zeitungskommunikation zu beschäftigen habe; vgl. zu Max Webers Initiative ebd. S. 296– 300. Auch die Intelligenzblätter, wo kontrolliertes Anzeigenwesen mit Steuereinnahmen verbunden ist, stützen die offi zielle Beobachtung der Zeitungslandschaft durch den Staat; vgl. Thomas Kempf. Aufklärung als Disziplinierung. Studien zum Diskurs des Wissens in den Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. München 1991.
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– Die Strukturen zeitungsförmiger Kommunikate und Anschlusskommunikationen zeigen, dass die Teilhabe an Wissen sowohl limitiert als auch laufend überschritten werden können. Die zeitungsförmigen Kommunikate und Medien bleiben in diesem Sinne repräsentativer Bezugspunkt für die Diskussion über neue Reichweiten im Medium gedruckter Schrift. – Die Diagnose, dass das Format Zeitung vielen Menschen die Aneignung unterschiedlicher und gleicher Wissensbestände erlaubt, geht einher mit der Beobachtung, dass und wie das Politische mehr und mehr mit publizistischer Öffentlichkeit verschränkt ist. Publizistische Performanz lässt sich umgekehrt als konkreter Eingriff in die Zeitgeschichte verstehen, auch wo es in den Zeitungsmaterien nicht vorrangig um das Feld des Politischen geht. – Die Abwehrgesten gegenüber der Veröffentlichung von Wissen zeichnen sich schließlich auch gegenüber den neuen Formen publizistisch aufbereiteter Unterhaltungsformate ab. Positive Zeitungskritik anerkennt dagegen den Beitrag der Periodika zur medialen Konsolidierung eines allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnis nach Unterhaltung. Gegenüber dem Gelegenheitsschrifttum der bürgerlichen Kultur- und Medienkritik gelingt es zuerst in Kameralistik und Statistik des späten 18. Jahrhunderts, die moralische oder am Bedeutsamen ausgerichtete Rahmung der Zeitung zumindest in Teilen hinter sich zu lassen. So etwa trägt der Statistiker und Ökonom Joachim von Schwarzkopf in einer Abhandlung Ueber Zeitungen 1795 neuere sachhaltige Aspekte in die Debatte hinein. Schwarzkopf hat später noch weitere Zeitungsschriften veröffentlicht, die im Unterschied zu seiner Abhandlung vom 1795 im Wesentlichen statistisch-ökonomische Beschreibungen regionaler Zeitungsunternehmen liefern.152 Die heutige Forschung würdigt Schwarzkopfs ersten Abriss dagegen als einen der raren Versuche, am Ende des zweiten Zeitungsjahrhunderts zu einer Theorie der Zeitung zu kommen, die über die für den täglichen Zeitungsgebrauch entworfenen praktischen Ratschläge früherer Autoren hinausgelange.153 Joachim von Schwarzkopf hält 1795 fest, dass es zeitgenössisch keine genuin akademische Zeitungstheorie gebe. Als Grund führt er in der Einleitung zu seiner Abhandlung Ueber Zeitungen an: »Das Alltägliche entgeht bisweilen der Aufmerksamkeit mehr als eine seltene Erscheinung. – Ein
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Joachim von Schwarzkopf. Ueber politische und gelehrte Zeitungen, Messrelationen, Intelligenzblätter und ueber Flugschriften zu Frankfurt am Mayn. Ein Beytrag zu der Geschichte dieser Reichs-Stadt. Frankfurt/M. 1802; ders. Ueber politische Zeitungen und Intelligenzblätter in Sachsen, Thüringen, Hessen und einigen angränzenden Gebieten. Gotha 1802. Vgl. Rühl. Publizieren. S. 137ff.; Hans Wagner. Fach-Stichwort: Medienwirkung. In: Joachim von Schwarzkopf. Ueber Zeitungen (und ihre Wirkung). Faksimilenachdruck des Originals von 1795. Mit einer Einf. von Otto Groth. München 1993 (Ex libris Kommunikation. Klassische Texte über Medien und Kommunikation 2) S. 33*–49*.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
bekannter Erfahrungssatz, welcher sich auch in der Literatur bewähret.«154 Interessant ist an dieser Feststellung, dass hier ein Befund zum Ausgangspunkt für Zeitungstheorie gemacht wird, der in der Medientheorie von Marshall McLuhan wieder fokussiert werden wird, um neue Hinsichten zu erproben: Es geht um die unter der Schwelle bewusster Wahrnehmung liegenden medialen Verfasstheiten von Dingen, die das alltägliche Leben der Menschen bestimmen. Der geläufigen Begrifflichkeit seiner Zeit ist dabei geschuldet, dass Schwarzkopf Zeitungen zur »Literatur« rechnet, obwohl seine Aufmerksamkeit weniger den gelehrten und literarischen Journalen gilt als den Zeitungen und Intelligenzblättern, die die politische Ereignisgeschichte und das Anzeigenwesen vorführen. Schwarzkopf ist ein Schüler des Göttinger Historikers, Kameralisten und Publizisten August Ludwig Schlözer. Schlözer hatte seinerseits an der Universität Göttingen Zeitungskollegien gehalten, überzeugt davon, dass Zeitungslesen eine Kunstfertigkeit sei. So heißt es 1777 in einem überlieferten Vorlesungsentwurf von ihm, dass diese »wie andere Künste erst gelernt« und also auch unterrichtet werden müsse.155 Sein akademischer Schüler Schwarzkopf ist als diplomatischer Beamter mit den politischen Rahmenbedingungen des Zeitungsgebrauchs auch praktisch vertraut gewesen. In seiner Abhandlung von 1795 mischen sich nun überkommene Zeitungsurteile unterschiedlicher Provenienz mit einer verstärkten theoretischen Fokussierung des Mediums aus staatspolitischer Sicht. Im späten 18. Jahrhundert ist es besonders der Faktor Öffentlichkeit, der in der Zeitungskritik zwar prinzipiell anerkannt, zugleich aber als ambivalent eingeschätzt wird. Denn eine publizistisch fundierte Öffentlichkeit entwirft längst schon ihre Wirklichkeiten, auch wenn diese durchgängig in Konstellationen asymmetrischer Machtverhältnisse zwischen Obrigkeit und Untertanen eingetragen bleiben. Bei Schwarzkopf werden diese Umstände etwa in Bemerkungen erkennbar, die auf die Offenlegung oder Zurückhaltung von Wissen reflektieren, wenn es um eine berechtige Politik der Arkana geht. Umgekehrt verweisen die politischen Verhältnisse seiner Zeit auf die Öffentlichkeit von unten, die in der Französischen Revolution ihren aktuellen Kulminationspunkt gefunden habe. Die Warnungen des Diplomaten vor dem unbotmäßigem Gebrauch von Publizistik stehen in seiner Abhandlung schließlich neben den Überlegungen des Ökonomen, der auf den öffentlichen Nutzen verweist, den Zeitungen mit sich bringen, weil sie zur Wissensvermehrung und verbesserter Warenzirkulation beitragen. Mit Argumenten dieser Art schließt er an die Kameralistik seiner Zeit an, die allmählich die moralischen Lesarten eines politische Grenzen überschreitenden Warenverkehrs hinter 154 155
Schwarzkopf. Ueber Zeitungen. S. 1. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle SZ. Ludwig August Schlözer. Entwurf zu einem Reise-Collegio, nebst einer Anzeige seines Zeitungs-Collegii. Göttingen 1777; zit. n. Wilmont Haacke. »Es giebt eine Kunst, Zeitungen zu Lesen«. Anzeige des Zeitungs-Collegii von A. L. Schlözer, Professor in Göttingen. 1777. In: Publizistik 10 (1965). S. 504–514. Hier S. 509; vgl. zu Schlözer auch Rühl. Publizieren. S. 129ff.
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sich lässt.156 Und längst schon haben Zeitungen für sich die grenzüberschreitende Funktion des Informationstransfers entdeckt. Die Idee einer moralfreien Betrachtung damit einhergehender ökonomischer Vorteile zirkulierender Zeitungskommunikation findet sich explizit schon 1786 in der Einleitung zum Journal des Luxus und der Moden. Dessen Herausgeber rechtfertigen ihr neues Vorhaben damit, dass die Produktion und Konsumtion von Luxusgütern Hand in Hand mit einem freizügigen Geldverkehr und der zeitnahen Information über modische Güter gehen.157 Auch Schwarzkopf ist davon überzeugt, dass Wissenstransfer und ökonomischer Erfolg des Staatswesens miteinander verschränkt sind. Schwarzkopf verspricht seinen Lesern 1795 noch kein »System über Zeitungen«, denn dies wäre »wohl nur von vereinten Kräften zu erwarten« (SZ 5). Doch lägen seine persönlich qualifizierenden Voraussetzungen für die Unternehmung in der »Verwandtschaft« des Zeitungsthemas mit seinen anderen Studien zu »Staatscalender[n]« und seien durch »Reisen und durch die Fortdauer diplomatischer Dienstverhältnisse befördert.« (SZ 4)158 Seine Selbstbeschreibung bezieht sich also auf Wissenskontexte und Tätigkeiten, mit welchen die Zeitung in Theorie und Praxis seit ihrer Frühzeit interagiert: gelehrte Kenntnisse im Aktenwesen der Staatsverwaltung und Erfahrungen in weltläufiger Kommunikation gehören dazu. Für Schwarzkopf ist der mit den Kommunikationsidealen von Oberschichten zu verbindende homo politicus das Leitbild für den Zeitungsleser, den Zeitungsmacher und schließlich auch denjenigen, der, wie Schwarzkopf, das Kommunikations- und Informationsmittel Zeitung auf angemessene Weise wissenschaftlich und politisch beurteilen will. Die Verbindung aus Theorie, Praxis und Kommunikationskonzepten ist so alt wie die Zeitung selbst. So leitet Schwarzkopf den Erfolg des nachmalig berühmten französischen Intelligenzblattherausgebers Theophraste Renaudot aus dem Zusammenwirken von Stilkunst und praktischem Können ab. Zwar müsse man Renaudot die »Ehre« des »erste[n] Zeitungsschreiber[s] im Pantheon« absprechen, doch: »Die Erzählung politischer Neuigkeiten trug schon damals zu der Empfehlung eines angehenden Arztes bey; und ein, mit Laune und Kenntnissen gewürzter, Vortrag der Welthändel hatte auch seine Praxis befördert« (SZ 15). Akademisch angeeignetes Wissen und in diplomatischer Praxis erprobte Weltkenntnis befördern Stilsicherheit; diese Einschätzung veranlasst Schwarzkopf seinerseits, in seiner Abhandlung Ueber Zeitungen seine statistischen Darstellungsverfahren außen vor zu lassen. Tabellen zu Formen, Preisen und Dauer von Zeitungsunternehmen, »successiven Verfassern und Verlegern«, hält er zurück, um seiner Abhandlung nicht zu sehr das »Geprä156 157 158
Vgl. Schrage. Die Verfügbarkeit der Dinge. Friedrich Justin Bertuch/G.M. Kraus. Einleitung. In: Journal des Luxus und der Moden. Hg. von dens. Bd. 1. Hanau/Main 1786. S. 22–32. Auch Schlözer bindet seine Vorlesung über Zeitungen in den Kontext eines Reisekollegs; vgl. Uli Kutter. Reisen – Reisehandbücher – Wissenschaft. Materialien zur Reisekultur im 18. Jahrhundert. Mit einer unveröffentlichten Vorlesungsmitschrift des Reisekollegs von A. L. Schlözer vom WS 1792/93 im Anhang. Neuwied 1996.
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
ge der Erudition« (SZ 5) zu verleihen. Denn darin sieht er seine gelehrten Vorgänger in der Zeitungstheorie, wie etwa Christian Weise, Ahasver Fritsch oder Johann Peter von Ludwig noch befangen.159 Eine auf spezifische Weise Form gebende Verbindung von philologischen Kenntnissen, Realienwissen und politischer Erfahrung spiegelt sich in der Gliederung der Abhandlung wider. Schwarzkopf unterteilt diese in zwei Hauptabschnitte, eine »Historische Abtheilung« und eine »Politische Abtheilung«. Die Logik dieser Unterscheidung kann er dem Gegenstand seiner Untersuchung, den mit historisch-politischer Ereignisgeschichte befassten »Zeitungen«, abgewinnen. »Journale«, respektive in der nun schon möglichen zeitgenössischen Terminologie: »Zeitschriften«, streift Schwarzkopf nur mit Seitenblicken. Die zeitungstheoretischen Einlassungen seit dem späten 17. Jahrhundert bestätigen, dass die Begriffe ›Journal‹ und im späteren 18. Jahrhundert dann auch ›Zeitschrift‹ eher mit der gelehrten Zeitungstätigkeit in Räsonnement, Rezension, Bibliographie und anderen akademischen Textformen verbunden wurden, während unter ›Zeitung‹ im Zuge der Ausdifferenzierung immer mehr die referierenden Organe von Ereignisgeschichte angesprochen wurden.160 Gleichwohl wurden die semantischen Grenzen dieser Begrifflichkeiten immer wieder durch Überschreitungen in verschiedene Richtungen beweglich gehalten. Schwarzkopf möchte hier ansatzweise Klarheit schaffen und will das »Urwort« (SZ 20) »Zeitung« für die Periodika des »politischen Nachrichtenverkehrs« (SZ 21) reserviert wissen, die die »Neuheit« (SZ 20) zu ihrem Anliegen machen. Diese typologische Einschränkung auf Tageblätter mit vorrangig politischen Nachrichten erlaubt es ihm zu sehen, dass andere Periodika sich zwar »Zeitung« nennen und über »Gleichheit der Form und Spedition« an zeitungsförmiger Kommunikation partizipieren, aber »gleichzeitige Ereignisse, wenn gleich nicht der Neuheit, sondern nur der moralisch-wissenschaftlichen Anwendung wegen« (SZ 20) publizieren. In Schwarzkopfs Unterscheidung zwischen Zeitung und Journal figuriert damit der Begriff »Zeitung« als Einheitsbegriff für zeitungsförmige Kommunikationsstrukturen, zugleich wird er benutzt, um Differenzen auszumachen. So berücksichtigt Schwarzkopf Gleichförmiges, wie die »Gleichheit der Form und Spedition«, eines generalisierten Wissenstyps Zeitung, der interne Ausfaltungen übergreift. Andererseits liest er über unterschiedliche Textformen, die Materien der Periodika, Unterschiede zwischen Zeitungstypen heraus. Zugleich bindet er den Aktualitätsbezug von zeitungsförmigem Wissen an die historisch-politischen Blätter, während der »moralischwissenschaftlichen Anwendung« von Wissen dieser Aktualitätsbezug bei anderen Blättern für ihn nicht gegeben ist. Schwarzkopfs semantische Sistierung des »Ur159 160
Weitere Namen gelehrter Zeitungstheoretiker werden in einem der Abhandlung vorangestellten Namensregister aufgeführt. Vgl. zum Aufkommen des Begriffs »Zeitschrift« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Groth. Die Geschichte. S. 51ff.; Wilmont Haacke. The Origin of the word ›Zeitschrift‹. In: Gazette. International Journal for Mass Communication Studies 15 (1969). S. 43–47.
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worts« Zeitung dient auch dazu, eine erste Genealogie von historischen Zeitungstypen zu überlegen. Diese führt er nicht aus, sondern schreibt erst einmal über die Begriffsverwirrung auch bei den deutschen »Intelligenz-Zeitungen«: Ein halbes Jahrhundert lang wurde [...] politische Zeitung und Anzeigeblatt in Deutschland in eins geschmolzen, bis dass Industrie und Verkehr eine Absonderung der letzern zum Bedürfnis machten. Diese Abstammung, die Gleichheit der Form, und das gemeinschaftliche Interesse der Neuheit verpflanzte auch hier misbrauchsweise den Nahmen der Zeitungen. [...] Ausser der Verschiedenheit des Gegenstandes sollte die Fülle anderer angemessenen Benennungen vor diesem Eingriffe schützen. Intelligenz, Advis, Kundschaft und Anzeige sind die vier üblichen Epitheten, und Blatt und Zettel sind zwey Stammwörter, welche mit der Form dieser Gattung am besten übereinkommen. (SZ 22)
Mit den »Stammwörter[n]« »Blatt« und »Zettel«, die dem Urwort beitreten, wird eine systematische Einschränkung der Form Zeitung auf philologischem Wege versucht. Missbrauch bekommt in der Zeitungstheorie nun einen neuen Klang und ihre eigene Begrifflichkeiten in puncto Zeitung und deren Herleitung geraten auf den Prüfstand. Diese philologischen Bemerkungen von Schwarzkopf stehen im »historischen« Teil seiner Abhandlung, die gerade nur so viel Gelehrsamkeit aufbietet, wie unbedingt nötig zu sein scheint. Dabei läuft die Zeitungsgeschichte, die er als Staatswissenschaftler und Diplomat im Kopf hat, mit. So zeigt sich, dass die Reservierung des Begriffs Zeitung eine Sinnzentrierung zeitungsförmiger Publizistik beinhaltet, die in der Genealogie der von oben politisch beaufsichtigten Kommunikation steht: auf die historisch-politische Zeitung. Dieser machtgeschützte Rückhalt im Raum des Politischen scheint angeraten zu sein, wagt Schwarzkopf sich mit seiner Schrift doch auf ein höchst umstrittenes Terrain vor: die Kommunikation zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Das Historische an seinem Gegenstand ist damit für Schwarzkopf nicht nur im gelehrtphilologischen Wissen präsent, sondern der Begriffsumfang von Historie ist für Schwarzkopf mit der Sphäre des Politischen vermischt. Die Unterteilung der Abhandlung in einen historischen und einen politischen Teil produziert deshalb für den Staatsbeamten, der Schwarzkopf ist, keineswegs reine Felder des Wissens, Handelns und Erörterns (wie für Kant), sondern wie bei dem mit dem Urwort »Zeitung« für ihn verbundenen Zeitungstyp, der historisch-politischen Zeitung, ist und bleibt das Historische aus einer zeitungstheoretischen Perspektive immer auch das Politische. Und schließlich weiß ein Autor, der über die Zeitung und ihre gesellschaftlichen Effekte schreibt, dass mit diesem Publikationsformat die Geschichte auch die Gegenwart einholt, zur Zeitgeschichte von Zeitgenossen geworden ist, mit wiederum unsicheren Grenzverläufen zwischen dem Vergangenen, dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen. Das Historische als aktuell sich vollziehende Geschichte in der Gegenwart nimmt das Politische in sich auf, so dass in der Gegenwart nichts geschieht, das sich nicht auch politisch verantworten können sollte, etwa eine Abhandlung wie diejenige von Schwarzkopf. Ueber Zeitungen zu reflektieren, heißt für einen Gelehrten und Beamten wie Schwarz-
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
kopf also in mehrfachem Sinne sich mit Gegenwart, Politik und Geschichte und deren Korrelationen umsichtig auseinanderzusetzen. Schwarzkopfs Verweise auf die historische Genese des Gegenstandes und dessen Begriffsgeschichte nehmen nur wenige Seiten zu Beginn des ersten Teils seiner Abhandlung in Anspruch. Bereits in diesem Historische Abtheilung genannten Kapitel folgt dann die Beschreibung gegenwärtiger Zeitungsverhältnisse in Deutschland, im europäischen und außereuropäischen Ausland. Sie wird mit Hinsichten akzentuiert, die für einen Staatswissenschaftler des späten 18. Jahrhunderts die Konturen der politischen Sphäre mit Substanz füllen. So beschreibt Schwarzkopf hier u.a. die öffentliche Beförderung einer Ausbreitung von Zeitungen oder deren Behinderung durch Zensur, die in England zu beobachtende Korrelation von Zeitungsaufkommen mit Regierungswechseln,161 den Zusammenhang zwischen der Revolution in Frankreich und den »politischen Tageblättern« als »Hauptvehikel der Staatsumwälzung« (SZ 45). Mit dieser Bemerkung bedenkt Schwarzkopf Ereignisgeschichte bereits unter den medialen Bedingungen kommunizierter Kommunikationen, deren Rückkopplungseffekte Faktoren sind, die andere Handlungen beeinflussen können. Die theoretische Umsicht, mit der Schwarzkopf der gesellschaftlichen Stellung seines in vielfacher Hinsicht prekären Themas begegnet, steht nicht nur in einer Tradition typischer Unentschlossenheit gegenüber einem in vielseitige Szenarien verwobenen Gegenstand. Sondern diese Vorsicht ist auch gegenwartsbezogenes Kalkül eines diplomatischen Autors, der sich auf ein machtpolitisch höchst umstrittenes Gebiet vorwagt. Seine Untersuchung, so schreibt Schwarzkopf, greife »tief in das Triebwerk der Politik und Staatswissenschaft ein« (SZ 23). Im zweiten Teil der Abhandlung wagt er sich unter der Überschrift Politische Abtheilung an die Bestimmung neuerer politischer Momente, die er zugleich auch als Folgen der alltäglich gewordenen Zeitungskommunikation einschätzt. Die historisch neu geschärfte Brisanz des Themas ›Staat und Publizistik‹ wird damit auf den Punkt gebracht. Einerseits zieht Schwarzkopf für die Operativität von Zeitungskommunikation traditionelle Einschätzungen heran wie, dass die »Staatskunst« (SZ 69) die Zeitungen für ihre Zwecke immer schon nutzte. Andererseits benennt er den »Hauptgesichtspunkt«, der seit den Ereignissen der Französischen Revolution aus dem europäischen Gegenwartswissen nicht mehr wegzudenken sei und mit höchster »politischer Wichtigkeit« einhergehe: Die »Wirkung [der Zeitung] auf öffentliche Meinung und Denkart« (SZ 68). Damit spricht er aus, was im alltäglichen Zeitungsgebrauch dauernd aufs Neue Gestalt gewinnt und ein eigenes Neues hervorbringt, das auffällig und zugleich in seiner täglichen Präsenz leicht zu übersehen ist: Ein mediatisiertes Kräftefeld, das ungeahnte Effekte zeitigt, die die Staatskunst herausfordern. Dieser wohl auch in warnender Absicht von Schwarzkopf für seine politisch interessierten Leser eingeführte Wirkungsbegriff objektiviert den modernen sta-
161
Vgl. Schwarzkopf. Ueber Zeitungen. S. 29, 35ff.
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tus quo von Publizistik, hinter den kein Zeitgenosse mehr zurück kann. Das »Urwort« Zeitung, seine Geschichte und seine aktuelle Theorie begegnen in diesem Diskursgeflecht wiederum ihrer Frühgeschichte, hat doch schon im 16. Jahrhundert ein Staatsmann wie Francis Bacon vor den umwälzenden Wirkkräften ausgreifender Fama gewarnt, ja, schon in der Antike setzten pheme und fama unheimliche Effekte im Kollektiv frei. Angesichts der zukunftsoffenen Schauplätze sozialer, politischer und kultureller Entwicklungen, die von periodischer Publizistik nachhaltig mit verantwortet werden, geraten die Bewertungen des vorsichtigen Diplomaten Schwarzkopf ins Schwimmen. Denn es stehen in der Gegenwart die zivilen und machtpolitischen, die friedlichen und kriegerischen, die alte Mächte stützenden und neue hervorbringenden publizistischen Möglichkeiten nebeneinander. Es ist trotz Urwort und Hauptgesichtspunkt nicht klar, auf welches Telos hin die Zeichen alltäglicher Publizistik mit ihren einander entgegenstehenden Tendenzen, die Ökonomie, Politik und Kultur betreffen, gelesen werden können, außer dass sie vorrangig für sich selbst einstehen, ihre eigene Ereignishaftigkeit und Bekanntgabe von Vielfalt. Die theoretische Aufklärung über die Zeitung ist für Schwarzkopf keineswegs schon ganz bei sich selbst angekommen, das System, das diesen Gegenstand in allen Facetten einzukreisen verstände, steht eben noch aus. Orientierung soll dann auch der vergleichende Blick auf Kultur und Politik geben. Die Parameter, mit denen Schwarzkopf nationale Zeitungszustände an der Schwelle zum 19. Jahrhundert vermisst, verbinden tradierte Zeitungsurteile zwecks Differenzierung mit nationalen Eigenschaften oder bemühen diese Topik, um rhetorisch das objektive So-Sein einer Gegenwart zu beschwören, die keinesfalls mehr von der Zeitung ablassen wird: Ohne Zeitungen, wie ohne geographische Kenntnisse, würde der Mensch ein Maulwurf seyn, der dumpf in seinen Erdschollen wühlt. Eine so allgemeine, so schnelle und zugleich so wohlfeile und bequeme Verbreitung nützlicher Kenntnisse wird nie weder durch Zielschreiberey, noch durch neuere arcana [...] entbehrlich gemacht werden. (SZ 68)
Für Deutschland, das 1795 dem großen Einfluss französischer Verhältnisse ausgesetzt ist, gilt es andererseits ruhig zu überlegen, dass der »[d]eutsche[] Lesetrieb« »bey der politischen Schwerfälligkeit des Deutschen [...] kein[en] Misbrauch des Zeitungswesens befürchten« (SZ 74) lässt. Und so gewinnt bei ihm ein altes Argument der negativen Zeitungskritik den Anschein einer objektiven Bestandsaufnahme; er konstatiert »die Allgemeinheit des Zeitungslesens unter denjenigen Ständen, welche wenig oder gar keine wissenschaftliche Cultur haben« (SZ 75). Das lässt sich dennoch nicht einfach so sagen, ohne dass auch etwas Satirisches dazu kommen kann. Die überzeichnende Diktion, die aus der Ständeschelte kommt, wird mit der neuen Bildlichkeit undifferenzierter Mengen aufgeladen:
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V. Zeitungskritik als Kulturkritik
In den Dorfschenken und Werkstätten, in der Säbeltasche des Kammerhusaren und in dem Reifrocke der Zofe, findet man Zeitungen. Zu Spatens Zeiten162 mochte es wahr seyn, dass der Avisenschreiber seine Zeitung nicht um des Köhlers im Walde, noch um des Bergmanns in den Schächten willen drucken lasse. Itzt hat der Hufschmied, den uns Hogarth mit dem daily advertiser in der Hand zeichnet [....], in Deutschland das Bürgerrecht erhalten. Noch vor wenig Jahren hielt man die Zeitungspublicität für die Bekanntmachung der neuen Privilegien einer Fürstlichen Residenz aus dem Grunde nicht für hinreichend, weil die Wilden keine Zeitungen lesen. In Deutschland wenigstens möchte aus der ungestümen Menge, welche die Zeitungscomptoire bestürmt, mancher zu dieser Horde gerechnet werden können. (SZ 75f.)
Das mit populärer Bildlichkeit ausgestattete »Bürgerrecht« des allgemeinen Zeitungslesens zitiert zwar die moralische Warnung vor allzu großer Freizügigkeit an, schlägt sich aber nicht eindeutig auf die Seite eines machtpolitischen Verbots. Schwarzkopf belehrt auf diese Weise die führenden Köpfe unter seinen Lesern durch mancherlei Erkenntnisse und Beobachtungen kultureller, politischer und infrastruktureller Zusammenhänge in der Publizistik, aber er versucht, moralische und politische Einschüchterungen auf dem Feld von Zeitungskommunikation zurückzuhalten. Denn beklagt werden muss nach seiner Ansicht auch die »Zeitungs-Armuth« (SZ 29) mancher großen Stadt, und die Rücksicht auf »nächste« (SZ 26) Leser verlange ja gerade die politische Beförderung lokaler Nachrichten. Der Statistiker und Ökonom weiß, dass die »Neuigkeits-Zufuhr« am besten entlang »schiffbaren Ströhmen« (SZ 25) wie dem Rhein gelingt und dass mannigfaltige Nachrichten, in gleichförmiger Weise ausgegeben, einseitigparteiliche Berichterstattung verhindern können.163 Andererseits sind es ebenso unbestreitbar die Fliehkräfte der Französischen Revolution, die staatstreuen Zeitungstheoretikern zeigen, wohin es gehen kann, wenn Famas Macht publizistisch in andere Richtungen als gewünschte expandiert. Schwarzkopfs diplomatische Rhetorik ist nicht deckungsgleich mit der Haltung des statistisch registrierenden Beobachters empirischer Verhältnisse und doch versucht er beide Perspektiven zu verbinden: »Wer die mächtige Wirkung, die elektrische Kraft der Zeitungen in der jetzigen Krise verkennt, mag tadeln« (SZ 4), dass ein ernsthafter Autor sich überhaupt mit Zeitungen beschäftige. Das neurophysiologische Modell vermag nun etwas zu erfassen, was die moralisch bestimmte Affektenlehre, die auch staatspolitische Theorien bis ins späte 18. Jahrhundert mit ihren Erklärungsmustern versorgt hat, nicht mehr einholen konnte: Fernwirkungen, die ihrerseits Neues freisetzen.164 Mit der »elektrischen Kraft der Zeitungen« ist ein hermeneutisches Oberflächen-Tiefen-Modell verbunden. Zeitungen sind für Schwarzkopf
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Gemeint ist Kaspar Stieler. Vgl. Schwarzkopf. Ueber Zeitungen. S. 26. Vgl. zum Wechsel von humoralpathologischer zu neuronaler Metaphorik in den Kommunikationsmodellen des späten 18. Jahrhunderts Koschorke. Körperströme und Schriftverkehr.
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objektive Zeichen an der Oberfläche eines kommunikativ-medial bestimmten Raumes, den sie selbst politisch, sozial und kulturell verändert haben: Wenn die Beobachter der Oberfläche, bey diesen Bemerkungen, sich und andere damit beruhigen, dass Zeitungen doch immer nur einzelne Neuigkeitsblätter, also etwas ganz unbedeutendes seyen, so stelle man ihnen die Geschichte der neuesten Revolutionen entgegen. Jeder Abschnitt trägt darin die Spuren von ihrer politischen Allgewalt. (SZ 69)
Der 1795 hoch kodierte Referenzraum Frankreich wird nicht nur im ersten Teil der Abhandlung unter der Beschreibung gegenwärtiger Zeitungsverhältnisse in den europäischen Ländern aufgeführt, sondern im zweiten Teil in einem eigenen Abschnitt als das Paradigma für den »Revolutions-Einfluss« der Zeitungen gelesen. Hier begegnet die Metapher der umlaufenden Münze wieder. Was schon an Amerika zu beobachten wäre, wie aus einer Zeitung, dem »Constitutional Courant«, eine »constitutionswidrige Current-Münze« (SZ 70) geworden sei, sei von dort nach Frankreich gelangt. Und auch in den Vereinigten Niederlanden sei das »schleichende Gift der Couranten« (SZ 70) zu erleben. Der Umlauf der Informationsgüter mag wie derjenige anderer Waren als Ausdruck gelungener infrastruktureller Maßnahmen und politischer Rahmenbedingungen begrüßenswert sein, für den Staatstheoretiker geht es ebenso um die mögliche Zerstörung bestehender Machtverhältnisse durch Usurpatoren, die die modernen Kommunikationsmittel beherrschen. Für die philologischen Archivare unter den Lesern seiner Abhandlung, die sich auf ihre Weise für die Geschichte und ihre Veränderungen interessieren, hält Schwarzkopf auf seinen Waagschalen einen anderen Trost angesichts revolutionärer Prozesse parat: Sehr selten wird itzt ein Jahrgang von Blatt zu Blatt aufgehoben, der doch oft die brauchbarste Chronik der Welthändel ist. [...] Einzelne Blätter haben oft einen so ausgezeichneten Werth, dass deren Verlust für die Geschichte beynahe unersetzlich wäre. Von gewissen Hauptereignissen, von Pabstwahlen, Kaiserkrönungen u. s. w., sind Zeitungen oft die einzigen archivarischen Depositäre. Was liefert wohl vollständiger die Verbalgeschichte der Französischen Revolution, als eine vollständige Sammlung des bekannten Moniteur, und vielleicht wird die vorübergehende Gelegenheit des wohlfeilen Ankaufs itzt vernachlässigt [...]. (SZ 119f.)
Zeitungen und ihre Texte sind Zeichen von Zeichen; Worte sind schätzenswerte Dinge, wie Dinge und Ereignisse Kommunikate sind. Neben den Hinweisen auf die demonstrativ sich äußernde »Allgewalt« schließt Schwarzkopf, wie gesagt, an das Urteil an, dass Zeitungen zur »Universal-Lectüre« anvanciert sind: Vom Apartement bey Hofe an bis zu dem Caffé coëffé des dritten und vierten Ranges, übt die Unterhaltung über Zeitungs-Artikel ein so tyrannisches Monopol aus, dass kaum die beliebten Theatergespräche ihr das Gleichgewicht halten. (SZ 76)
So wiederholen sich die Modelle für politische Kommunikation und ökonomische Konkurrenzen in den Sphären ziviler Zusammenkünfte, und auch Schwarzkopf schreibt an der Kulturkritik seiner Zeit mit. Die Unterhaltung über Zeitungsartikel
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verscheucht, neben jedem wissenschaftlichen Ideen-Tausche, die Scherze der Freundschaft und die Spiele des Witzes. Sie setzt alles in Spannung über das beschränkte Interesse der Gegenwart, und führt so den Dämon der Staatskritik in die vertraulichsten Kreise. Der Hausfrieden im Familienzirkel und die Genesung des politischen Kannengiessers wird durch Zeitungsgespräche gestöhrt. In den Schulen richtet man politische Predigtstühle und in öffentlichen Versammlungen Englische Declamationscatheder auf. Aus dem gesellschaftlichen Leben überträgt man diese politische Kritik unvermerkt in seine bürgerlichen Verhältnisse. (SZ 76f.)
Schwarzkopfs Medien-, Kultur- und Kommunikationsdiagnostik bindet die Formen gesellschaftlicher Interaktionen trotz aller Einsichten in die objektive Alltäglichkeit von Zeitungen also wiederholt an paradigmatisch gesetzte Szenen schlechter und guter Sinnzentrierung: Französische Revolution oder vertrauliche Kreise. Dies führt ihn schließlich auch dahin, die Kritik an der Form Zeitung mit Nationalstereotypen zu belasten. Der Zweck dieser Zurichtung deutet auf kommende Diskursformationen des 19. Jahrhunderts voraus. Denn es geht darum, deutsche Zeitungsverhältnisse von solchen in anderen Nationen auf positive Weise zu distanzieren: Die kolossalische Form der Englischen Zeitungen ist für Lesedilettanten beynahe abschreckend. Fast alle sind Foliobogen, mit dreyfachen und oft mit vier Columnen angefüllt, so dass ein gewöhnliches Deutsches Blatt sechsfach in einer derselben sich fassen lässt. Diesen ungeheuren Raum füllen solche Nachrichten, wie man sie in Deutschland für die Anzeigeblätter, für geschriebene Handlungs- und gelehrte Zeitungen absondert. Ueberdem noch Anecdoten, welche der behutsamere Deutsche nur der mündlichen Tradition anvertrauet, und Abhandlungen, welche bey uns blos in Journalen und Sammlungen Platz finden. Ein weitläuftiger Ehescheidungsprocess, eine Dissertation über den Aristoteles, eine Liste von Bankeruttieren, einige dutzend Diebereyen, der Verbalprocess einer Clubbssitzung, mit Bücher-Anzeigen, Promotionen, Stadt- und Liebesgeschichten verwebt, – dieses sind der Inhalt eines Londoner Zeitungsblatts vom 8. Januar 1795. Wenn die Uebersicht dieser Polenta durch Rubriken, Absonderungszeichen und durch andere Hülfsmittel erleichtert würde, so könnte ein jeder daraus für seinen Geschmack und für sein Bedürfniss nehmen. Der Engländer bedarf der Hülfe nicht; er hat, durch die tägliche Uebung, die Uebersicht beym ersten Anblick inne. (SZ 39f.)
Bei den Engländern folgt die Organisation des Layouts dem »Polenta«-Prinzip verdächtiger Vermischungen, während deutsche Zeitungspublizistik einem gute Ordnung herstellenden Rationalismus folgt, der das Viele klassifikatorisch bereits zu trennen beginnt. Doch besteht auch beim eigenen nationalen Zeitungswesen noch Verbesserungsbedarf. Deshalb verweist Schwarzkopf auf neuere Verfahren gelungener Formgebung, die nun die Wichtigkeit einer Nachricht mit einer vernünftigen Raumordnung im Layout korrelieren. Dies ist ein neuer Aspekt im Diskurs der Zeitungstheorie, die Form beobachtet und bewertet. Raum ist keine neutrale Größe, sondern eine gestaltete symbolische Beziehungen zwischen Texten: Es findet [...] bey wohl eingerichteten Zeitungen ein topographisches Haushalts-System statt, nach welchem der innere Gehalt einer Nachricht mit dem Raum, den man ihr verleihet, in einem gewissen Verhältnisse stehen muss. (SZ 82f.)
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Die Aufmerksamkeit des Zeitungstheoretikers für das Verhältnis zwischen »Gehalt« und »Raum« ist möglicherweise auch von zeitgenössischen ästhetischen Fragen angeregt worden.165 Subjekt der internen Rangordnung unter Texten ist für Schwarzkopf der Zeitungsmacher. Zwar wird er politisch weiterhin gemaßregelt, aber er hat sehr wohl Möglichkeiten, das »topographische Haushalts-System« seiner Zeitung zu bestimmen. Diese ist sein ›ganzes Haus‹, dessen Teile unter seine Obhut gestellt sind.166 Die überkommene Frage nach der Ordnung, die in dem Format Zeitung herrscht, wird des Weiteren von Schwarzkopf mit zwei Klassen von Zeitungen bzw. Zeitungsmachern beantwortet. Statt Charakterschelte an unordentlichen Zeitungsverfasser zu üben, unterscheidet Schwarzkopf Zusammentragen, Redigieren, redaktionell Betreuen und Schreiben von Texten als unterschiedliche Arbeitsformen, in denen die Konturen sich aufspaltender professioneller Profile erkennbar werden: Im Allgemeinen lassen sich die Deutschen, so wie alle, Zeitungen in zwey Hauptclassen theilen: in zusammengetragene und in ausgearbeitete (redigées); so wie die Herausgeber, dem gemäss, entweder Zeitungsverfasser (redacteurs) oder Zeitungsschreiber im strengen Sinne des Wortes (écrivains) sind [...]. (SZ 78)
Es geht Schwarzkopf darum, Zeitungsleute auf eine Stufe mit anderen Autoren zu heben, um das Ansehen der mit der Zeitung verbundenen Berufe zu stärken. Am Ende seiner Abhandlung mahnt er entsprechend an, dass Zeitungsleute es verdient hätten, in die bekannten Autorenlexika, etwa Meusels Gelehrtes Deutschland, aufgenommen zu werden. Doch ist es nicht unbedingt der »Zeitungsschreiber«, der verdienstvoll arbeitet: Der Zeitungsschreiber wählt eine gewisse Anzahl von Zeitungen, gewöhnlich nur in seiner Landessprache, bezeichnet in jeder die ihm merkwürdig scheinenden Artikel und schickt sie, allenfalls in abgekürzter oder travestirter Manier, in die Druckerey. Von seiner Hand kommen nur einige Nachrichten des Orts und der Gegend, aus Briefen oder eingeschickt, hinzu; und ist dann noch Platz übrig, so wird zu dessen Ausfüllung ein Quodlibet von kurzen Auszügen hinzugefügt. Sein Hauptaugenmerk beschränkt sich darauf, Wiederholungen und Widersprüche zu vermeiden. Viel mühsamer und ehrenvoller ist das Geschäft des Zeitungsverfassers. Er schöpft zwar auch, und vielleicht lediglich, aus gedruckten Quellen; allein mit Auswahl und Vergleichung. Auch er entlehnt ganze Artikel, oft widersprechenden Inhalts, aus andern Blättern; aber nie ohne Zweck und ohne Zusammenstellung, und, wo möglich, mit Absonderung der Materien. Undeutliche oder unbekannte Gegenstände erläutert er statistisch,
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Vgl. zu zeitgenössischen Überlegungen zur typographischen Neugestaltung von Zeitungen Wölfle. Beiträge zu einer Geschichte; zur Gestaltung von Titelblättern bei Zeitschriften Paul Raabe. Die Zeitschriften und Almanache. In: Buchkunst und Literatur in Deutschland 1750 bis 1850. Hg. von Ernst L. Hauswedell und Christian Voigt. Bd. 1. Hamburg 1977. S. 145–195. Hier scheint mir jedenfalls die Sprache der Ökonomik Pate zu stehen; vgl. zur (von mir unterlegten) Metaphorik des ›ganzen Haus‹ Otto Brunner. Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«. In: Ders. Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1968. S. 103–127.
304
V. Zeitungskritik als Kulturkritik
und zieht aus dem Abgange irgend einer Begebenheit von längerer Dauer und selbst bey einzelnen wichtigen Vorfällen Resultate. Unter mehrern Quellen wählt er die reinste, nächste und reichhaltigste. Die Nachrichten von England wird er nicht aus dem Courrier de Londres, noch weniger aus den Deutschen Zeitungen, sondern – weil der das Englische versteht – lediglich aus den Englischen ziehen, und unter diesen die neutralsten nehmen. Die Spanischen und Portugiesischen Artikel entlehnt er aus den Italiänischen, die Nördlichen aus den Hamburgern, die Türkischen aus den Wiener Zeitungen. (SZ 78f.)
Die Beschreibung steht auf der Schwelle zum selbstbewusst Meinung und Profil demonstrierenden Redakteur und Zeitungsschreiber des 19. Jahrhunderts und ihrer Zeitung.167 Die Zeitung als Form kann, wenn jeder Zeitungsmacher bewusst damit umgeht, so an Darstellungskompetenz und gesellschaftlicher Relevanz hinzugewinnen. Schwarzkopfs nicht sehr umfängliche Abhandlung bietet ein reichhaltiges Tableau an Hinsichten auf die Form Zeitung, ihre politischen und kulturellen Möglichkeiten, ihren status quo, an und versucht sich auch an Folgeabschätzungen. Er versteht seine Textarbeit als Anfang einer kommenden, auf ein System bezogenen Zeitungstheorie, die er selbst nicht leisten kann. So ist auch seiner Zeitungsschrift vordringlich zu entnehmen, wie reichhaltig die Argumente in der Zeitungstheorie und -kritik unter Zuhilfenahme verschiedener diskursiver Bausteine am Ende des 18. Jahrhunderts geworden sind. Diese Bausteine stammen aus ökonomisch-statistischen, kulturkritischen und staatstheoretischen Diskursen, vermischen gelehrte mit literarischen Darstellungsverfahren, suchen und vermeiden aber auch die Bewertung in der Diagnose. Schwarzkopfs Abhandlung ist in gewisser Weise toleranter in Bezug auf die vielfältigen Sinnangebote, die der prekäre Gegenstand zeitungsförmige Kommunikation mit sich bringt, als die in den letzten Kapiteln behandelten Theoretiker der Zeitung, die doch den Wunsch haben, den einen Sinn für den Zusammenhang des Ganzen zu finden. Die offene Gemengelage, in der sich Zeitungstheorie am Ende des 18. Jahrhunderts befindet, scheint aber gerade nicht das zu sein, was die Mehrzahl ihrer Autoren sich gewünscht zu haben scheint. Als ungelöste Frage, die sich der Zeitungstheorie im 19. Jahrhundert aufdrängt, bleibt bestehen, wie denn alle, die alltäglich schon daran teilnehmen, gerade in zeitungsförmigen Kommunikationsformen als Einheit erfahrbar gemacht werden könnten, zumal alle Zeichen darauf hinzudeuten scheinen, dass selbst unter politischer Restriktion das Ganze auseinanderdriftet. Um 1800 hat die Reflexion auf Famas Medium einen hoch komplexen Stand erreicht, der aber nicht durch eine allgemeine Theorie eingefangen werden kann. Die Spannungen zwischen Wenigen, Vielen und Allen, zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Zirkulationsrestriktionen und unaufhaltsamer Ausweitung haben in der Zeitungstheorie zahlreiche semantische Substrate mit sich gebracht, die den Wissens- und Formtyp Zeitung mehr denn je an einen Diskurs 167
Vgl. zur weiteren Entwicklung Requate. Journalismus als Beruf.
V.5. Versachlichung der Zirkulation: Joachim von Schwarzkopf
305
binden, der viele Facetten positiver und negativer Zeitungskritik aufweist. Dies macht es schwierig, den Elementen des Diskurses auf allen seinen Ebenen zwischen Gelehrsamkeit, Kunst und Politik in der Breite nachzugehen. Die anschließenden Bemerkungen wollen deshalb nur in gebotener Kürze zu zwei umfangreichen Abhandlungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts überleiten, die in besonderer Weise zirkulierende Diskursbruchstücke von Zeitungstheorie aufnehmen, sie geschichtsphilosophisch als Zeichen ihrer Zeit deuten, um über das bisher auf diesem Gebiet Geleistete hinaus zu kommen.
VI.
Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
VI.1. Vorbemerkung: Zeitungstheoretische Schriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Joachim von Schwarzkopf entwirft erste Überlegungen für eine künftige allgemeine Zeitungstheorie, die zwischen den Erfahrungen, die mit alltäglicher Zeitungspraxis gemacht werden, und den davon tangierten Ordnungen des Wissens vermitteln könnte. Als Staatswissenschaftler und Ökonom changiert Schwarzkopf zwischen objektiver Bestandsaufnahme des Informations- und Distributionsmedium Zeitung und dessen politisch-kultureller Kritik, die überlegt, wie der Staat mit Zeitungskommunikation umzugehen habe. Schwarzkopf verschiebt die Mühe eines geschlossenen Systems von Zeitungswissenschaft auf eine später kollektiv zu erbringende Leistung und beschäftigt sich selbst in seinen nachfolgenden Zeitungsschriften im frühen 19. Jahrhundert dann mit der bibliographischen Erfassung einzelner Unternehmungen in verschiedenen Regionen. Zwischen den 1790er und 1830er Jahren lassen sich weiterhin zahlreiche Äußerungen finden, die kommunikations- und medientheoretische Aspekte des Formats Zeitung anlässlich diverser Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte kritisch ventilieren. Der politische Bezug aller Kommunikationen, Medien und Formen zeigt sich dabei im fortgesetzten öffentlichen Streit der Meinungen über diese Gegenstände und die Öffentlichkeit selbst.1 Die unterschiedlichen Pressegesetzgebungen und Zensurmaßnahmen im Deutschen Reich vor und nach den Befreiungskriegen spiegeln die Bandbreite staatspolitischer Einschätzungen in dieser Sache.2 Hier werden die Leitlinien von Presserestriktionen und Pressefreiheit in Gesetzen festgehalten, die ein sich ausdifferenzierendes publizistisches Feld in Gänze betreffen, also nicht nur politisch orientierte Meinungspresse, sondern auch gelehrtwissenschaftliche Projekte, solche, die bildende Kunst, Musik und Literatur als ihren Gegenstand haben, und schließlich die Zeitungen und Zeitschriften, die den Sektor Unterhaltung mit konstituieren.3 Intern sind es wiederum kultur1 2 3
Vgl. Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs. Vgl. Kurt Koszyk. Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse. Teil II. Berlin 1966. Zu den Programmschriften von literarischen und unterhaltenden Zeitungen und Zeitschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Estermann. Die deut-
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
kritische Überlegungen, die Formen und Funktionen derselben je nach differenten Zielsetzungen in den Bereichen Politik, Kunst und Wissenschaft begleiten. Ideelles Seitenstück von Presse- und Kulturpolitik und angewandter Zeitungsprogrammatik ist der Wissenschaftsdiskurs, wenn er sich zum Phänomen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kommunikationsinteressen, die in und mit der Zeitungslandschaft ersichtlich sind, äußert. Zwei umfangreiche Abhandlungen der Vormärzzeit haben das Interesse der Forschung immer wieder geweckt. Die eine, frühere, stammt von dem preußischen Staatsbeamten Franz Adam Löffler, Ueber die Gesetzgebung der Presse. Ein Versuch zur Lösung ihrer Aufgabe auf wissenschaftlichem Wege. Sie wurde 1837 veröffentlicht.4 Die andere von dem Literaturhistoriker Robert Eduard Prutz, die Geschichte des deutschen Journalismus von 1845.5 Otto Groth hat in seiner Studie von 1948 mit einer ausführlichen Rekonstruktion der Argumente von Löffler auf dessen lang vergessenes Buch aufmerksam gemacht. Nach Groth war Löffler enttäuscht, dass seine Schrift zu seiner Zeit keine Furore machte, sondern nur kurzfristig rezipiert wurde. Groth führt dies auf den Umfang des Werkes und die schwierige Wissenschaftssprache, die Löffler schreibe, zurück.6 Franz Adam Löfflers Abhandlung ist auch nach Groths Studie in der Wissenschaftsgeschichte insgesamt weniger beachtet worden als Prutz’ Geschichte, aber Löfflers Konzepte lohnen eine Relektüre, gerade im Vergleich zu Prutz.7 Denn beide Autoren unternehmen den Versuch, mit den Schule machenden Einsichten der Hegel’schen Philosophie mehr Ordnung in die Ansichten ihrer Zeit über das Format Zeitung und allgemeine Kommunikationsverhältnisse zu bringen. Die ältere Zeitungstheorie selbst ist bei ihnen im hohen Maße Gegenstand der Kritik, die nun als Kritik der Kritik Form und Prinzip Zeitung beobachtet. Die von beiden Darstellungen universalistisch erweiterte Perspektive auf allgemeine Verhältnisse in einer zwiespältigen Moderne, ihre Medien und Kommunikationen nimmt viele der im Umlauf befindlichen, zum Teil schon lange überlieferten Zeitungsurteile auf. Diese werden von Löffler in systematisch gedachte Gesetzmäßigkeiten eingespeist. Prutz verbindet die Gesetze des Journalismus mit einem groß angelegten entwicklungsgeschichtlichen Überblick. Für Löffler wie für Prutz sind System und Geschichtsprozess objektiv miteinander verschränkt: keine Geschichtserzählung kann ohne systematische Überlegungen ihren Wahrheitsanspruch einlösen, und jede Gegenwart und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse (und deren Formen) müssen sich selbst in ihrer Aktualität
4 5
6 7
schen Literatur-Zeitschriften; vgl. allgemein zu publizistischen Entwicklungstendenzen Manuela Günter. Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008. Franz Adam Löffler. Ueber die Gesetzgebung der Presse. Ein Versuch zur Lösung ihrer Aufgabe auf wissenschaftlichem Wege. Leipzig 1837. Robert Eduard Prutz. Geschichte des deutschen Journalismus. Erster Teil. Mit einem Nachw. von Hans Joachim Kreutzer. Göttingen 1971(Faksimilendr. der 1. Aufl. Hannover 1845). Vgl. Groth. Die Geschichte. S. 122ff. Vgl. zu beiden Abhandlungen auch Rühl. Publizieren. S. 162ff.
VI.1. Vorbemerkung: Zeitungsrheoretische Schriften in der ersten Hälfte des 19. Jh.s
309
und damit gegebenen Geschichtlichkeit begreifen. Beide Autoren stehen mit diesen Gedankenfiguren in einer Wissensformation geschichtsphilosophischer und selbstbezüglicher Kultur-, Wissens- und Kommunikationskritik, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im europäischen Kontext zu beobachten ist und die schon die Stoßrichtung von Herders und Schillers zeitungstheoretischen Äußerungen bestimmt hat.8 Im Klima zwischen Restauration und neuer politischer Empörung in Europa beziehungsweise im Deutschen Reich schließt Franz Adam Löffler nach seiner Ansicht 1837 eine bedenkliche Fehlstelle mit seinem Buch Ueber die Gesetzgebung der Presse, nämlich die eines geregelten und allgemein verbindlichen Zeitungssystems. Löffler versteht seinen Entwurf einer »Gesetzgebung« als theoretisch fundierten Vorschlag für eine künftige Praxis des Gesetzgebers, die den politisch-kulturellen Streit über Wesen, Wirken und Reglementierung der »Presse« beschließen soll. Es geht Löffler um eine im Buchstaben des Gesetzes sich verwörtlichende und zugleich absolut setzende Pressegesetzgebung. Er versteht seine Schrift in diesem Sinne als Plädoyer für die Beaufsichtigung der Presse durch den Staat und zugleich als Handlung des Wissenschaftlers für den Staat. Die Referenz, die Löffler im neutralen Begriff »Staat« erweist, gilt Preußen und dessen Vorreiterrolle: Die Wissenschaft der Presse kann es nicht geben; aber es liegt in ihrer intimsten Absicht, darauf vorzubereiten, indem sie das nothwendige Materiale dafür herbeischafft. Des grossen Staats, dem ich angehöre und dessen weise Regierung berufen scheint, in gerechter Besorgung der wahren Angelegenheiten des Volks jeder anderen zuvorzukommen, wäre diese Auffassung der Pressesache vorzugsweise würdig. Er würde das gesammte deutsche Vaterland mit einer neuen Wohlthat beschenken.9
Nach Form und Inhalt stellt sich Löfflers Buch den neuen publizistischen Umgangsformen, die längst auch die Philosophie einholt haben, insbesondere bei den Junghegelianern, entgegen.10 Prutz entfaltet dagegen das für ihn aktuelle Ganze der Zeitungskommunikation vor dem Hintergrund einer historischen Perspektivierung des »Journalismus«. Aber auch Prutz konzipiert die Gegenwart als einen aktuell ›beschließenden‹ Horizont für den überkommenen Zeitungsstreit. Beide Texte inszenieren die Autorität ihres Ansatzes und ihrer Vorschläge mit Blick auf Allgemeingültigkeit. Dies verlangt höchst präsente und konzentrierte Schreibanstrengungen, die selbstbezüglich den Ort des Wissens, von dem aus etwas Allgemeingültiges über die Presse und den Journalismus gesagt werden kann,
8 9 10
Vgl. zur Kulturkritik Georg Bollenbeck. Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007. Löffler. Ueber die Gesetzgebung der Presse. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle LG. Vgl. zum Verhältnis von politisch-philosophischer Programmatik und publizistischen Formen in der Vormärzzeit Wolfgang Bunzel. Form- und Funktionswandel der Philosophie im Vormärz. Sozial-, medien- und kommunikationsgeschichtliche Aspekte des Junghegelianismus. In: Entstehen des Öffentlichen – Eine andere Politik. Hg. von Lars Lambrecht. Frankfurt/M. u.a. 2007. S. 11–38.
310
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
schreibend bestimmen. Prutz akzentuiert die Anfänge dessen, was an der Formation »Journalismus« in seiner Zeit Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, mit dem Rekurs auf eine bestimmte historische Geisteshaltung, den Protestantismus. Löffler sieht die Idee des kritischen Anfangens für seine Überlegungen zur Pressegesetzgebung mit dem Anheben einer im höchsten Maße Selbsterkenntnis praktizierenden und zugleich weiter vorantreibenden Wissenschaft gegeben. Gewähr für die gegenwärtig mögliche Erkenntnisstufe, die alle vorliegenden Wissensformen der Zeitungstheorie überbietend auf ihre historischen Plätze verweist, leisten die Theoreme der Hegelschen Philosophie. Beide Autoren schreiben in doppeltem Sinne, zeitlich und logisch, ›nach‹ Hegel, da für sie nun die Umsetzung seiner Erkenntnisse in gültige gesellschaftliche Praxis ansteht. Löffler entfaltet seine Wissenschaft der Presse hinsichtlich der Zusammenarbeit des Wissenschaftlers mit dem Staat. Seine Lehre will selbst die Vorschriften setzen, nach welchen der Geschichtsprozess sich wissenschaftlich und gesetzmäßig angeleitet künftig gestalten sollte. Die normative Setzung von Wissen durch eine über sich selbst aufgeklärte Wissenschaft bestimmt auch die epistemologische Perspektive von Prutz’ Geschichte. Beide Autoren verstehen ihr Schreiben als einen operativen Eingriff in die tumultuarischen Verhältnisse ihrer Gegenwart. In diesem Sinne sind beide Abhandlungen Mahnschreiben an Machthaber und Volk. Zwischen diesen Polen stehend, die das gesellschaftliche Spektrum als Ganzes umfassen, wollen ihre Schriften nicht nur über den richtigen Umgang mit den Erzeugnissen der Druckkultur belehren, sondern auch das allgemeine Wissen über Presse und Journalismus um notwendige Erkenntnisse anreichern. Es geht beiden Autoren um umfassende Erklärungen für die Zusammenhänge zwischen Moderne, Druck und Publizistik. In diesem Sinne sind ihre Texte Versionen einer historisch neu konzipierten allgemeinen Medientheorie, die im Kern als allgemeine Zeitungstheorie verfasst ist. Während Löffler mit seinen Vorschlägen für eine vom Staat institutionell eingehegte Praxis der Presse rechtshegelianisch optiert, lässt sich für Prutz’ Darlegungen systematischer Aspekte und historischer Erscheinungsformen des Journalismus von einer linkshegelianischen Positionsnahme sprechen.11 Von den jeweils auf drei Bände angelegten Vorhaben haben beide Autoren nur einen ersten Teil veröffentlicht. Bei Franz Adam Löffler mag dies u.a. mit veränderten politischen Bedingungen in Preußen zusammenhängen. So ist der publizierte (erste) Band von 1837 dem preußischen Minister für Geistliche-, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Stein zum Altenstein, gewidmet. Dieser schied 1838 aus dem Ministerium aus, so dass Löffler auf diesen möglichen Protegé seiner groß angelegten Untersuchung nicht mehr zählen konnte.12 Doch sowohl für 11 12
Vgl. dazu auch Groth. Die Geschichte. S. 175; Rühl. Publizieren. S. 162. Altenstein war ein Anhänger Hegels und hat dessen Berufung an die Berliner Universität durchgesetzt. Groth sieht die Publikation Löfflers im engen ideellen und praktischen Zusammenhang mit den preußischen Reformbestrebungen der 1830er Jahre für eine neue Pressegesetzgebung. Diese wurden mit Altensteins Ausscheiden aus dem Staatsdienst wieder aufgegeben; vgl. Groth. Die Geschichte. S. 122.
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse
311
Löffler als auch für Prutz kann vermutet werden, dass es nicht zuletzt der Allgemeingültigkeit suchende Ansatz ist, der aus immanenten Gründen zum Abbruch der eigenen Darstellungen geführt hat. Bei beiden Autoren lässt sich die Generalisierung der Problemlage Presse beziehungsweise Journalismus an den ausgeführten Teilen dennoch gut erkennen. Die folgenden Analysen zu Franz Adam Löfflers Text Gesetzgebung der Presse schließen sich der Einschätzung von Groth an, dass Löfflers Konzept es hinsichtlich seiner systematischen Ausrichtung mit den Ansprüchen einer allgemeinen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft des 20. Jahrhunderts aufnehmen kann. Groth bemerkte in den Vorschlägen von Löffler, die für eine strikte Pressereglementierung plädieren, zugleich aber die Presse als eine historisch notwendige und unverzichtbare Tatsache anerkennen, einen unaufgelösten Widerspruch. In meinen Darlegungen werden Widersprüche in Löfflers Systementwurf als Folge einer Textgeste diskutiert, die die endgültige Beilegung des Streits über die Presse in allen ihren Erscheinungsweisen anstrebt, aber zugleich narrativ nicht an ein eigenes Ende kommen kann. Bei Löffler soll sich das Historische vor den wissenschaftlich herbeigeführten Gesetzmäßigkeiten rechtfertigen, wobei dieser gesetzmäßige Diskurs Bestandteil der von ihm erzählten Geschichtlichkeit ist, selbst also im Prozess der Zeit steht, den er darlegt. Die Prozesshaftigkeit ist zugleich formalästhetisches Signum des Textes und seiner ›gesetzten‹ Narrative, die in diesem Sinne dann nur noch auf sich selbst verweisen, wenn sie über die Presse reden. Bei Prutz (dies soll das übernächste Kapitel vorführen) verläuft die Geschichte des Journalismus ebenfalls nach Gesetzmäßigkeiten; damit einher geht die Anerkenntnis einer zukunftsoffenen Geschichte, die sich nicht in sich selbst beschließen kann. Der Abbruch seiner Geschichte des deutschen Journalismus in ihrer Gegenwart, ohne einen über sich hinausweisenden, prognostischen Ausblick in die Zukunft scheint mir eine Konsequenz der Narrative von Prutz zu sein.
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse Franz Adam Löffler publiziert 1837 den ersten Teil seiner auf drei Bände angelegten Gesetzgebung der Presse, die »Wissenschaft des Pressbegriffs«. Der zweite Teil sollte die »Philosophie des Pressrechts« und das dritte Buch die »Geschichte der Druckerpresse« umfassen (LG 89). Seine Beschäftigung mit dem Gegenstand »Presse« hebt also mit philosophisch-wissenschaftlicher Begriffsklärung an, geht von rechtsförmigen, politischen Ansprüchen gegenüber dem Pressewesen aus und nimmt eine logische Beziehung zwischen Wissenschaft, Politik und der Medientechnologie »Druck« an. Dieser konzeptuelle Dreischritt wird schon in den Argumenten des allein veröffentlichten ersten Teils von Löfflers Gesetzgebung der Presse erkennbar. Der Autor verbindet darin technologische und politische Aussagen mit einer geschichtsphilosophischen Ideenlehre. Mit dieser ist die Annah-
312
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
me verbunden, dass es um universelle Gesetzmäßigkeiten geht und gehen müsse. In diesem Sinne schreibt Löffler auch eine generalisierte Kulturkritik, die das Medium Zeitung konzeptuell und begrifflich zur »Presse« verallgemeinert und diese wiederum als den herausragenden Repräsentanten bestimmter historischer Entwicklungen und Zustände anspricht. Löfflers Text ist ein thetisch verfasster Kommentar zum Wesen der Presse. Zeitungstheorie wird in diesem Text idealistisch gewendet und die Form Zeitung in Argumentationsfiguren thematisiert, die zwischen Sein und Sollen Entscheidungen für und wider moderne Kommunikationsformen treffen. Die Narrative des Textes sind dabei geschichtsphilosophischen Denkfiguren verpflichtet; diese stiften einen inhärenten Sinnhorizont, der auch das Sollen des Textes, die Funktion des »Versuchs« angesichts der Gegenwart betrifft. So vereinzelt Löfflers Projekt, das eine abschließende Erfassung des Gegenstands Presse versucht, im Kontext der Auseinandersetzungen um die Publizistik seiner Zeit erscheinen mag, so ist sein Text doch typisch für die Diskursmacht der Hegel-Schule, insofern seine Darstellungsverfahren sich am Hegel’schen Systemdenken orientieren, dieses rhetorisch aufladen und an die Tat einer notwendigen Gesetzgebung appellieren. Nach Löffler ist es die Erfindung des Buchdrucks gewesen, die als historische Tatsache eine Zäsur markiert, von der an die positiven und negativen Effekte einer in ihren Medien und Kommunikationen verstrickten Moderne datieren. Von dieser technischen Zäsur und ihren Folgen ist die Gegenwart durchgängig ›geprägt‹; ihre Probleme verdanken sich einem anhaltenden kommunikativ-medial basierten und erzeugten Widerstreit. Der Zäsur und ihren Folgen hält Löffler den »Staat« als das Zentralsignifikat vernunftgeleiteter Prozesse entgegen. Das Denken des Staats gibt ihm das Telos für seine Auseinandersetzung mit den Problemen der Presse, dem Presseproblem, auf mehrfache Weise vor. So stellt der Autor seine wissenschaftliche Arbeit am Begriff in den Dienst am Staat; im Staat sieht er auch die den letzten Sinn beinhaltende Instanz für die Existenzberechtigung der Presse gegeben. Einmal in sich selbst vollendet, soll dann der wissenschaftliche »Versuch« »Staat«, »Wirklichkeit«, »Wissenschaft« und »Presse« vernünftig miteinander in Beziehung setzen. Dabei strahlt das Projekt rhetorisch im Pathos der begeisterten Sprache auf, die auf strenger Wahrheitssuche ist. Beispielsweise unter »§. 59«: Als ein solcher Versuch, eins der wichtigsten Momente gesellschaftlicher Existenz und also auch des Staats, unter die Botmässigkeit der Wissenschaft zu bringen, will denn die Wissenschaft der Presse aufgenommen seyn. Wie sehr sie als solche auf dem reellen Bedürfnisse des Staates beruht, sollte – wofern dies durch die allgemeine Zeichnung ihrer Natur und gegenwärtigen Stellung nicht schon bewahrheitet würde – schlechthin nicht bezweifelt werden, wenn anders der Staat wiederum die praktische Wissenschaft und Begriff alles Wirklichen ist. Allein sie wird durch ihre Ausführung diese Wahrheit nachdrücklich herausstellen. Unstreitig ist ihr Umfang kaum geringer, als der irgend einer andern grossen und selbstständigen Wissenschaft. Sie wird Begriff und Kritik aller geistigen und sittlichen Bewegung im Staate – Begriff und Kritik der rechtlichen Bedingungen dieser grossartigen Bewegung – endlich Geschichte derselben. Sie hat zur Aufgabe,
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse
313
die Gesellschaft über eins der allerwichtigsten und einflussreichsten Momente ihrer Existenz aufzuklären; die traurigen Verführungen, welchen sie ausgesetzt ist, die Unhaltbarkeit ihrer zu hoch gespannten Gebilde vor ihren Blicken zu enthüllen – auf Grund Rechtens zwischen den Geistern und dem vernünftigen Staatsgeiste zu vermitteln und – den correspondirenden Bildungsgang Beider mehr als die bisherige Literairgeschichte zu umfassen. Die hier überall eingeschlichenen und fühlbaren Uebel zu heilen, ihren Ursprung zu offenbaren und spätere Bearbeiter der Sache, sollten sie dabei auch von einem anderen Gesichtspunkte ausgehen, vor Verirrungen zu warnen, gehört zu dem wesentlichen Inhalt der begründeten Presswissenschaft, möchte es denn auch eins ihrer wesentlichsten Verdienste seyn. Die Wissenschaft der Presse erklärt daher vorhinein ihre qualitative Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. (LG 88f.)
Als Effekt einer sich ihres Auftrags und ihres Zweckes bewussten Wissenschaft sollen alle von dieser Wissenschaft und ihrer Sprache verwendeten Begriffe und Aussagen wie Glieder einer unauflösbaren Kette ineinander greifen. Im Sinne eines präskriptiven Systementwurfs ist Löfflers Text vom ersten bis zum letzten Wort eine Programmschrift. Die Unterteilung in Paragraphen und Unterabschnitte, die Bestimmungen des Sollens und des Seins, des Wahren und des Falschen, sind symbolischer Ausdruck für ein Gesetzgebungsverfahren, wo Schritt für Schritt Thesen und Antithesen gesetzt werden, die sich im Dritten dialektisch auflösen sollen. Permanent wird auf die Allgemeinheit eines Problemzusammenhangs Presse abgehoben und auf die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Einlassung verwiesen. Was so im Text entfaltet wird, steht bereits vor dem Text und bestimmt seine Formen: eine von Autonomiedenken und ethischer Beanspruchung gleichermaßen geprägte Wissenschaftlichkeit, der auf Prinzipien von Staatlichkeit verpflichtete Staat, die Wahrheit des Prinzipiellen, die darin sich abzeichnende allgemeine Vernunft, der darauf bezogene Rechtsanspruch, die Berechtigung von Gesetzen und die mit allem verbundene Großartigkeit einer dem Kollektiv dienenden Aufgabe. Diese Aufgabe übernimmt der Text in den gegenwärtigen Kontexten von »traurigen Verführungen« und »Übel[n]«; sein Ort ist durch die Anweisungen und Platzverweise, die er ausspricht, mit definiert. Sein Erkanntes tritt mit dem Willen zur Heilung an, Wesentliches tritt den Verirrungen entgegen: In der That will ich nur die Bahn zu einer bessern, in ihren Grundsätzen mit dem Heile des Staats übereinkommenden Behandlung brechen; ich will nur die Methode angeben oder hie und da errathen lassen, in welcher die Presse gleichzeitig vom Staate und von der Wissenschaft tractirt werden muss; ich will nur die Grundlinien zeichnen, nach welchen die Gesetzgebung sich fortan mit grösserer Zuversicht soll richten können; ich will junge Gemüther auf den Schwindelgeist der Zeit aufmerksam machen und sie für eine der wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit, die wahrlich noch für keine Zeit abgewickelt ist, im voraus mit jener Besonnenheit, Nüchternheit und Ruhe, so wie für den Staat selbst mit jener echten vernünftigen Liebe erfüllen, die nur erst die Frucht reifer und klarer Einsicht in die Natur des Staats seyn kann. Aus innigster Ueberzeugung gehe ich dabei von einem Gedanken des Platon aus, dass nur die Wissenschaft Heil bringt, ein Gedanke, der für mich die volle Gültigkeit des Grundsatzes hat. (LG 78)
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
Die sittliche Rahmung unterstützt das Projekt des gesetzmäßigen Eingriffs in die Verrückungen der Gegenwart. Epistemologie und Moralität interessieren sich für Allgemeingültiges. Thesen und Antithesen erzeugen ein Argumentationsschema, von dem Moral und Erkenntnis beide profitieren können. Dieses Schema wirkt sich strukturell aus und betrifft die Gesetzmäßigkeit der Darstellungsverfahren selbst. In die Poetologie, nach der der Text verfährt, sind zahlreiche Vorentscheidungen eingelagert, etwa was als gut und was als schlecht zu gelten hat. Löfflers Text mutet sich selbst Wahrheitsfähigkeit zu und zeigt sich darin als ein Schreibprojekt, das einen höchst konsequenten Willen zur Wahrheit entfaltet. Dessen Ansprüche machen das eigentümlich Starre von Löfflers Einlassungen aus. Es ist diese (nicht thematisierte) rhetorische Schicht einer durch und durch ›zur Wahrheit fähig gesprochenen‹ Sprache und ihrer Denkmuster, die jedes Phänomen als Sache auf der ›Stelle‹ einer urteilenden Explikation bannt. Diese Wahrheitsrhetorik kann und will ihre eigene historisch oder ästhetisch relative Formgebung nicht kritisch thematisieren, sondern glaubt zweifellos an sich selbst. Der vom Pathos der Aufgabe und dem Wahrheitsverlangen gedrängte Autor mag sich darin ganz im Einklang mit den restaurativen Tendenzen seiner Zeit gefühlt haben. Die Narrative des Textes integrieren größtenteils problemlos viele Urteile ›für‹ und ›wider‹ das Gedruckte; dazwischen steht der Autor, der aus dieser Position heraus als engagierter Mittler in zwei Richtungen adressiert: In Richtung Regierungsgewalt im (preußischen) Staat und in Richtung Verleger, Schriftsteller und Zeitungsleute, die als Produzenten alles öffentlich Gedruckten erscheinen. Dabei sollte nach Löfflers Ansicht der Staat einen über sein eigenes Können und Sollen aufgeklärten Neuanfang in einer geläuterten und nicht ständig ihre Mittel wechselnden Pressepolitik machen. Der Autor als Vermittler und Wissenschaftler schmiegt sich stärker an die Position der Macht und ihrer administrativen Kräfte an, auch wenn er zugleich versucht, die Folgen abzuschätzen, die eine allzu stark reglementierende Obrigkeit für die praktische Pressearbeit haben könnte. Es geht ihm um eine Gesetzgebung von oben, mit der sich das Anliegen, Gesetze für das Pressewesen auf wissenschaftlichem Wege zu finden, leicht verbünden kann. In dieser trilateralen Konstellation, die auf eine wechselseitige Kontrolle und Bezugnahme von Wissenschaft, Staat und gedruckter Öffentlichkeit zielt, konvergieren für den Schreibenden die »Philosophie des Staats und der Presse« (LG 90) in dem Rahmen, den die Wissenschaft um diese Bereiche und Gegenstände zieht. Sie klärt beide darüber auf, dass es auf die »in ihrer gemeinsamen Existenz gelegene[] Wechselwirkung des Staates und der Presse ankommt« (LG 91). Den Anfang setzt also, allen staatlichen Maßnahmen bereits vorauseilend, eine vernünftig argumentierende »Wissenschaft von der Presse«, indem sie die Leitsätze des eigenen wie des anderen Handelns entwirft. Obwohl die Aussagen und Erkenntnisse dieser Wissenschaft im Schreibprozess allererst entstehen, redet sie schon für den Staat, wie dieser, im richtigen Sinne genommen, die Wissenschaft und die Presse als Teile seiner selbst beinhaltet und auf seine Existenz und Ziele verpflichtet.
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse
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Die im Schreiben produzierte Gegenwart der Wissenschaft als Gesetzestext ist damit epistemologisch gesehen der Ort eines philosophischen Anfangens, das versucht, den eigenen historischen Index hinter sich zu lassen. Die Schriftsprache der Wissenschaft fungiert als eine Vergegenwärtigungsstrategie im Sinne der Bewusstmachung des Wahren. Was sie zu sagen hat, steht auf der aktuell höchsten Erkenntnisstufe, die erreicht wurde: Was sie [die Philosophie des Staates und der Presse] diesen gegenüber ist, nicht was sie ihnen gegenüber war; denn die Wissenschaft betritt hier, ausser dem der Gegenwart, kein geschichtliches Gebiet. (LG 91)
In ihrer eigenen Gegenwärtigkeit versucht die Wissenschaft aus der Geschichtlichkeit des Wissens herauszutreten; ihre Schreibpraxis spürt von diesem Un-Ort aus den Anfang des Verhältnisses zwischen Presse und Staat auf, um sich selbst wieder in diese Beziehung einzuschreiben. Gegenwart ist auf diese Weise Geschichte und Objektivität des Geistes und Wissens zugleich. Wissenschaftssprache spricht über das, »was ist«: Sie selbst, der Staat, die Presse. Ihre Wertungen verankern alles, was sie ausspricht, in einem metaphorisch verräumlichten und darin dann der Zeit letztlich entzogenen Bezugsystem: Die Wissenschaft der Presse ist gekettet: ein Glied fällt in’s andre, und sie erhebt sich zu einem grossartigen, in sich vollendeten Baue, der auf sich selbst beruht und qualitative Unabhängigkeit behält. Ganz zuerst muss sie darum den letzten Grund ihres Gegenstandes ins Auge fassen; eben darin die Grundlage sich legen, um so in die Höhe zu steigen. (LG 148)
Der »Bau« der Wissenschaft gibt sich zeitlos und grundlegend, um aktuell einzugreifen. Seine Koordinaten, die bisher Geleistetes überbieten wollen, erscheinen als Bühne, die von normativen Maßstäben für eigenes und anderes Tun bestimmt ist. So bittet die Wissenschaftsschrift die Sachen, die sie beurteilt, auf die Bühne einer theatralischen Performanz, wo das spezifische Beleuchtungsmittel Sprache der Wissenschaft die Auftritte seiner aufgeblendeten Gegenstände in Szene setzt. Etwa so: Man muss die natürlichen Einflüsse der Presse auf den Staat ermitteln können, wie man den Einfluss des Lichts auf die Gegenstände, oder die Eindrücke der Luft auf die Temperatur festsetzt, ohne dies auf historischem Wege zu thun oder thun zu können. Wenn ferner die Wissenschaft auf diesem Standpunkte die Presse in die Idee der Sittlichkeit erhebt; so hat sie auch den Staat in dem, was bisher von ihm für die Integrität dieser Idee an der Presse gethan oder versucht ward, zu begreifen. (LG 91)13
Hier scheint Marshall McLuhans medientheoretischer Ansatz, der fragt, welche Rolle etwa das elektrische Licht als Medium für historisch variable Anwendungen grundlegend spielt, auf ideologisch zementierte Weise vorweggenommen zu
13
Vgl. für die Lichtmetaphorik und die Szenarien des Be- und Erleuchtens im 19. Jahrhunderts auch Fohrmann. Der Intellektuelle, die Zirkulation. S. 375ff.
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
sein.14 Löfflers formallogischen Hinweise auf die »natürlichen« »Einflüsse« von »Licht« und »Luft« und eine in analoger Weise operierenden »Presse« rücken (wie Schwarzkopf) die Botschaft in der Vordergrund, dass es unterschwellige Kräfte gibt, die erhebliche Wirkungsmacht entfalten. Unter der Erkenntnisprämisse des gültig Erkannten, dessen, »was ist«, kann das Vergangene in den verräumlichten hermeneutischen Relationen von Löfflers Diskurs als das Ungenügende wiederkehren. Und die fest- und aufgestellten Gesetze können ebenso schon jetzt sich als Vorschriften für künftige Konstellationen entwerfen. Im Angesicht dieser selbstbewussten Inszenierung erscheinen vor dem Gesetz des Wissenschaftswissens die bislang erfolgten Reglementierungen der Presse durch den Staat und die bisherigen Manifestationen der Presse in ihrem großen Ungenügen. Was die Wissenschaft schon weiß, wissen Staat und Presse gegenwärtig noch nicht, deshalb muss Erstere es sagen und vorschreiben: Ueber sich selbst aber ist die Presse am meisten im Dunkel. Man kann von ihr sagen, dass sie alle Angelegenheiten glaubt betreiben zu können, auf ihre eigene aber sich nicht versteht; ja noch mehr, dass sie die Gesetzgebung manche Kunst gelehrt hat, nur die nicht, sie selbst unter weise Gesetze zu begreifen. Dies ist ein so auffallender und grosser, durch ihre ganze Natur und Geschichte fortlaufender Widerspruch, dass seine Betrachtung allein zureichen würde, die Wissenschaft zu rechtfertigen, wenn sie die Presse in der Selbsterkenntniss, den Staat aber in ihrer Erkenntniss glaubt unterstützen zu müssen. (LG 3)
Der Mittler als schreibender Verfasser und Gesetzgeber weist die Plätze in dem Raum an, wo er die Dinge ins Verhältnis setzt. Oben und Unten, Höhe und Tiefe, werden mit Gegenwart und Vergangenheit korreliert und moralisch beurteilt. Geschichte ist schlecht, unnatürlich, wo sie von Kontingenz und Zufälligkeit zeugt. Vergangenes, das die Gegenwart in der Form einer zu distanzierenden Vorgeschichte berührt, wird so in der Werteskala, die die Raumordnung vorgibt, als das schlechte Andere markiert. Die sittliche Erhebung der Presse aus dieser Vorgeschichte, die staatliche und vor allem die wissenschaftliche Herablassung sind in diesem Konzept komplementäre Bewegungen, die von den Koordinaten der Wissenschaftssprache narrativ organisiert sind. Im Anschluss an die eben zitierten Sätze über den die »ganze Natur und Geschichte« kennzeichnenden »Widerspruch« heißt es unter »§. 3«: Untersucht man, wie die Presse in diese unnatürliche Bahn verschlagen worden: so hat die Geschichte die Spuren davon mit verstehlichem Griffel in die Entwickelung der letzten Jahrhunderte eingezeichnet. Man muss der Presse in ihre leisesten und frühesten Irrgänge nachfolgen, um den Faden zu finden, woran sie von Grad zu Grad und fast unmerklich zu der ausserordentlichen Höhe von Gewicht, Ansehen, Gewalt und Ein-
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McLuhan. Understanding Media. Ich denke, dass Löffler hier an antike und neuzeitliche Wahrnehmungslehren anknüpft, in denen die Elemente Luft, Wasser und Feuer als Daten übermittelnde Instanzen, eben Medien, für die aufnehmenden Sinne gedacht werden; vgl. dazu Robert Jütte. Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000.
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse
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fluss sich emporwickelte, die alle ihre Arbeiten seit mehr als hundert Jahren stempeln. Sie wuchs so üppig, weil sie frei wuchs; sie wucherte so unordentlich, weil sie Raum dazu fand. Dieser wichtige Gegenstand gehört jedoch nicht hieher, da er seine vollendete Bearbeitung aus den einzelnen Punkten der Wissenschaft finden wird. Hier müssen diejenigen Fehler aufgesucht werden, welche zunächst nicht von der Presse ausgingen, sehr wesentlich jedoch aber zu ihrer Ausartung beitrugen. (LG 3f.)
Diesem Schreibenden ist der »Griffel« des Verstehens nun in die Hand gegeben, um im Selbstverstehen der eigenen Aufgabe allen »Irrgängen« und »Ausartungen«, aller Natur- und Sittenwidrigkeit gesetzgebend und darin begrenzend entgegenzutreten. Das Medium dieser begrenzenden Gesetzgebung ist die Sprache, zu der der Text als bezeichnende Schrift findet. Die Schrift, die der »Griffel« hinterlässt, versteht Löffler als objektive Materialisation einer Spur des Gesetzes; dass seine Sprache das hermeneutische Instrumentarium ist, das seine Darstellung in ihrer eigenen relativen Geschichtlichkeit bestimmt, darüber schreibt sein Text nicht in selbstbezüglicher Form. Die idealistische Konfrontation zwischen dem Sein höherer Wirklichkeit, dem damit verbundenen Sollen und davon zu unterscheidenden schlechtem Sein und dessen Verfehlungen wird von Löffler anhand verschiedener Konstellationen ausbuchstabiert. In diesen wird ein Grundwiderspruch zwischen dem Positiven und dem Negativen erkennbar, der sowohl zur Geschichte wie zur Natur des Geistes gehört. Dies wird als Sachverhalt verstanden, der in Sprache und Schrift der Wissenschaft erkennbar gemacht wird und so der Gegenwart, die, wie die Vergangenheit, noch die Spuren des Abgelehnten beinhaltet, kritisch konfrontiert werden kann. Der koordinierte Raum, den die Sprache der Wissenschaft ausschreibt und mit gesetzgebenden Wertmaßstäben versieht, produziert so unablässig Grenzmarkierungen, die das Unzulässige außen vorhalten sollen. Innerhalb des markierten Denkraums gelingt so auch die Vereinnahmung des beweglichsten aller Güter: des Handels mit Gedanken. An diesem Handel sind eine Reihe von Instanzen und Einrichtungen beteiligt, die als rechtsförmig verfasste Institute eingeführt werden: Die Presse, sofern sie in und mit dem Staate coexistirt, im Begriffe des berechtigten Gedankenhandels, fällt unter die Idee des Rechts und begründet die Philosophie des Pressrechts als Recht der Schriftstellerei, der Buchdruckerei und des Buchhandels. (LG 91)
Die durch die Verbindung von Recht und Macht bestimmte Beaufsichtigung von Handel mit Produkten des Geistes ist der positive Begriffsinhalt einer »Gesetzgebung der Presse«, wie sie der Titel von Löfflers Schrift als Absicht seiner Schrift ankündigt. Wie der absolutistische Staat im ideellen Zenit seiner größten Machtentfaltung, nämlich absolut verfährt, so hofft auch die Wissenschaft der Presse auf eine größtmögliche Reichweite. Ihr ›absolutistischer Universalismus‹ ist ernst gemeint, insofern dieser auf die Allgemeinheit der wissenschaftlichen Lehre zielt. Als Summenformel des positiv gefüllten Begriffs einer Pressegesetzgebung strebt diese Schrift »die Universalisierung des persönlichen Gedankens
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in einer vernünftigen, sittlich wie rechtlich gebildeten Ordnung der Dinge oder in einer dafür vorhandenen Ideenwelt« (LG 156) an. In ihrem Dialog mit dem Staat weist sie darauf hin, was wäre, wenn sie dies nicht verfolgte: dem Staat, dem rechtmäßigen Sachverwalter der politischen Ordnung aller Dinge, droht die ständige Bedrohung durch Anarchie. Dies schreibt der Autor erinnernd all jenen ins Stammbuch, die auf leichtfertige Weise die Gefahren, die ein unbeaufsichtigter Handel mit Gedrucktem mit sich bringt, gering schätzen: Die Geschichte hat kein zweites Beispiel, dass ein so grosses gesellschaftliches Phänomen mit dieser gleich grossen Gedankenlosigkeit behandelt worden. Man könnte sagen, dass die Gesetzgebung das Schießgewehr besser in ihre Gewalt zu bringen gewusst hat, als den großen Hebel, der den Staat, wenn er ihn berüttelt, jederzeit an seiner Grundlage berütteln wird [...]. (LG 6)
Die staatspolitische Dimension von nicht genügend beaufsichtigten Kommunikationsverhältnissen und -gütern stellt also die immer mitlaufende Kehrseite des Buchdrucks dar. Löfflers Schrift, selbst ein Kind des Buchdruckzeitalters, schlägt sich dagegen mit ihren Überwachungs- und Organisationsphantasmen auf die Seite vernünftigen Sprach-, Schrift- und Druckgebrauchs, der der Anarchie gegensteuert. Der Begriff Presse stellt sich in dieser wissenschaftlichen Gesetzessprache als Einheitsbegriff für alle Phänomene und Folgen des Buchdrucks vor. Darin werden dann »Buch« und »Blatt« sukzessive unterschieden, der Buchdruck im Buch von Buchdruck in der Zeitungen getrennt und diese mit den Realitäten und Tendenzen des Positiven und Negativen verbunden. Löfflers Begriffsnominalismus, der die erkenntniskritische Leistung einer ins System gebrachten Begriffsbildung ist, korrespondiert eine Ontologie der Sachen, um die es in den Referenzbereichen der Begriffe geht. Die Beschreibung des geschichtlichen und begrifflichen Zusammenhangs von Buchdruck, Buch und Handel lässt dies etwa erkennen. Der Begriff »Presse« ist das aktuelle Endprodukt dieser Geschichte aus Begriffen, Sachen, Handlungen und Beziehungsmustern; seine Aufhellung dient dem Ganzen, insofern auch die Sprache gewordene Erkenntnisgeschichte darin geborgen ist: Dem Wort »Presse«, das erst später in Gang gebracht wurde, noch keineswegs in allen gedruckten Sprachen nationalisirt, aber auf dem Wege ist, zur Allgemeingültigkeit ausgewickelt zu werden, scheint der Vorwurf gemacht werden zu können, dass der volle Begriff der Sache von ihm nicht ausgedrückt sei. [...] Unstreitig [aber] wird mit diesem Worte nur die eine der formellen Bedingungen der Presse (die Bedingung nämlich, dass diese in der Buchdruckerkunst oder in der pressenden Letter sich begreift) hervorgehoben. Hiebei scheint nicht nur die andre formelle Bedingung der Presse, nämlich diese, nach ihrem Gesammtinhalte im Buchhandel zu seyn, sondern auch die innere Momentirung des die Presse bedingenden Princips, ja das Princip [Handel] überhaupt unbeachtet zu bleiben. Allein dies scheint eben nur so. Denn einmal wird gerade in der Buchdruckerkunst der Inbegriff des Buchs als ein für sich Wirkliches vollbracht, das frei, ausser jeder weiteren, materiell fortwirkenden Verbindung mit dem Principe existirt – für’s andre ist aber auch in dem Begriffe des so für sich wirklichen Inhalts schon der Begriff des Buchhandels mitgegeben, weil eben das Buch alle wahre Bedingung seines freien Umlaufs nur in dem Buchhandel und durch ihn vollendet. Die Sprache, in der Vollgül-
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tigkeit ihres vernünftigen Geistes setzt den Inbegriff des Buchs als ein für sich Wirkliches; sie eröffnet darin den Begriff seiner selbstständigen Wirksamkeit, welche auch in der Trennung von dem Producenten fortdauert. Ja sie thut mehr; denn indem sie den Inbegriff dessen, was Buch und Schrift ist, als freie Existenz begreift, begreift und begründet sie denselben zugleich in seiner Coexistenz mit dem Staate, der wirklichen Welt alles Wirklichen. (LG 144f.)
Die Sprache erinnert in dem historisch späten Begriff »Presse« zunächst positiv an das »Buch«, das mit der »Buchdruckerkunst« als »ein für sich Wirkliches« vollendet worden sei. Hier fand, so Löfflers Zurechtstutzung einer höchst komplexen Mediengeschichte mit vielen Produkten und Formen, zuerst die Trennung des Drucks von einem Zweitprodukt statt, dem Buch. Im Buch-Druck verwirklichte und versachlichte sich zugleich die Freiheit des Drucks, weil das gedruckte Buch sogleich in den Buch-Handel einwandert. Die Einmaligkeit dieser historisch und medial geketteten Freisetzung beinhaltet die positive Verselbständigung des Gedachten in der gedruckten Sprache. Man kann hierin eine Antwort auf Platons Kritik an der vom Sprechenden abgelösten und umherschweifenden Schrift sehen, die nun den freien Handel mit Gedanken auf positive Weise an das Buch bindet. In Löfflers Rekonstruktion einer Geschichte der Materialitäten und Medien des Denkens verläuft dieser Prozess auf einer progressiven Linie: vom gesprochenen Sprachlaut über die Buchstabenschrift bis hin zum gedruckten »Schriftzuge«, den ein Autor wie ein Gesetz gebender Staat als Signatur in der Geschichte hinterlässt: Der Staat macht als der Erste den ersten Gebrauch von der Schreibekunst. Dieser erste Gebrauch ist ganz auf die sittliche Socialisirung der Geister berechnet, indem er das Positive im Schriftzuge lebendiget und verewigt. Das Positive im Staate ist die vom Staate gewusste und ausgedruckte Form seines inneren sittlichen Organismus. Jedes Positive ist ein sinnliches Glied seiner übersinnlichen Structur und Bildung. [...] Die Tempel, die Pyramiden und Oblisken, die Mausoleen und Katakomben, die Gesetztafel und der Orakelspruch und was sonst mit der gesammten Volksbildung verwebt ist, indem es nicht die Einzelnen, sondern die Allen betrifft, oder aber nicht von den Einzelnen, sondern von dem Directorium der Allen ausgeht, huldiget dem Schriftzuge zuerst; anerkennt in ihm das Antlitz seiner Vernünftigkeit; bemüht sich um seine Gunst und bittet, so zu sagen, den Schriftzug, in alle Jahrhunderte von ihm, über und für es hinauszusprechen. Auf diesem Standpunkte ist der Schriftgebrauch so wenig nach Form als nach Inhalt ein Besonderes – er ist die werdende Verklärung des Staats als der werdenden Vernunftwelt, welche darin ihre Individualität aus dem Lethestrom der Geschichte zu erretten sucht. (LG 130f.)
Im Zuge dieser Rekonstruktionen scheint das Telos auf, das für die Objektivierungstendenzen des Geistes im 19. Jahrhunderts weiterhin attraktiv ist: Schrift ermöglichte zunächst die Institutionalisierung von Kollektivierungsvorgängen, die nach Löffler im Buchdruck historisch gesehen zum ersten Mal in vollgültiger Weise zu sich selbst gekommen ist. Dieser Zusammenschluss von Medientechnologien und Staatsidee bindet in ungewöhnlicher Weise den Geist an den Buchstaben, die Idee an die Verwörtlichung, das Gesetz an die Religion, die politische Gemeinschaft »der Allen« an das Allgemeine.
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Auf dem Gipfel der Erkenntnis hervorbringenden Verbindung von Sprache, Begriff und Druck steht dann der Begriff »Presse«, der die menschheitsgeschichtlich prämierte Erfindung der Schrift aufs Neue würdigt. Löfflers Text praktiziert auch darin einen Akt der Selbsteinschreibung in seine geschichtsphilosophisch und ontologisch zugespitzte Mediengeschichte, wo Denken sich in der Schriftsprache realisiert sehen will und Idee und Form für sich selbst und für anderes im gedruckten Wort ineinander schlagen: Sie [die Wissenschaft] begreift die Presse daher als den wirklichen Gedankenhandel oder als die höchstmögliche Rechtsverfassung der Sprache im Staate, indem sie darin sowohl das Princip als die Form der Presse, endlich die Presse selbst wieder als Princip begreift. (LG 146)
Das gedruckte Buch als das in die Selbstständigkeit entlassene Produkt der Buchdruckerkunst geht im Prozess der Selbstverwirklichung und Materialisierung des Geistes seine Verbindung mit dem »Handel« ein, so dass es als Sache seinen »freien Umlauf[] nur in dem Buchhandel und durch ihn vollendet« (LG 145). Die Sprache als Medium der Begriffsbildung bringt diese historisch ausgezeichnete Konstellation auf den Punkt einer erkenntniskritischen Leistung in dem neuen Begriff und seiner Geschichte. So hebt der Autor mit einer großzügigen Epochengliederung zwischen Antike und Moderne auf die Zäsuren in einer Begrifflichkeit ›vor‹ und ›nach‹ dem Buchdruck ab: Aus diesem Grunde mangelt dem griechischen und römischen Alterthum jede Bezeichnung für den Inbegriff dessen, was Buch und Schrift ist; denn diese Bücher waren kein für sich Wirkliches, also auch kein für sich Berechtigtes. Das Alterthum hatte statt dessen den Begriff der Schrift, des Poem, des Verses in ihrer respectiven Besonderheit. Erst in der Buchdruckerkunst, welche die unendliche Trennung zwischen dem Producenten und dem Producte setzt, indem sie dies Letztere schlechthin als ein für sich Wirkliches darstellt, konnte das Product auch in der Eigenschaft des eigentlich thätigen, das mit dem ihm beiwohnenden Willen an sich vernünftig ist, in dem Worte »Presse« als selbständig begriffen werden. Diesen der Presse beiwohnenden vernünftigen Willen begreift die Wissenschaft als die persönliche Tendenz des Besondern in dem Allgemeinen. (LG 145f.)
Der neue Begriff »Presse« beinhaltet ein sprachliches Echo der historisch nachzuzeichnenden Trennung zwischen Produzenten und Produkt, welche mit der Buchdruckerkunst in die Welt kam. Es ist ein die Neuzeit epochal auszeichnendes medientheoretisches Entfremdungskonzept, das auf der technischen Bedingung »Buchdruck« und seinem sich emanzipierendes Produkt »Buch« aufruht. Der Begriff Presse greift dieses Entfremdungsszenario auf, und seine erzählte Geschichte enthüllt die darin sich abzeichnende Tendenz der materiellen Spuren des Geistes zur Verselbständigung. Im Verhältnis von einem durch die Technik des Drucks freigesetztem Buch und dem Handel wird so eine mediale Urszene zirkulierender Vernunft ausgemacht, die seit der Buchdruckerkunst auf unendliche Weise in der Welt ist. Das Buch des Autors und die darin in Sprache und ihrer Buchstäblichkeit sich vollziehenden Gesetzmäßigkeiten sind Teil dieser Entwicklung.
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Bis in die semantischen Unterschiede zwischen »Stellen« und »Setzen« erstreckt sich etwa für den gedruckten Autor die vernünftige Tendenz von geschichtlicher Entwicklung in den Medien Sprache und Druck, die positive Realitäten schaffen. So heißt es in den Paragraphen zur »Begriffsstellung« der »Buchdruckerei« in Abgrenzung von dem Begriff der »Schriftstellerei«: §. 139. Ist die Schriftstellerei Begriff des den reinen Inhalt producirenden Subjects: so wird die Buchdruckerei dagegen Begriff der sachlichen Objectivirung oder der Formung des an sich reinen Inhalts. §. 140. Wenn ferner die Schriftstellerei durch Eintragung ihres als Tendenz der Schrift begriffenen Willens die Vernünftigkeit des Inhalts setzt: so vermittelt die Buchdruckerei, indem sie den Inhalt formt, die Trennung des Schriftstellers und der Handschrift und setzt darin den Inhalt schlechthin selbstständig als Pressstück – Buch – Sache. Hiemit empfängt der Inhalt den zweiten Grad seiner Ersitzungsfähigkeit, als sofern er, vom Subjecte getrennt, nunmehr auch in den Verkehr tritt. (LG 272)
Im Sinne der Selbstanwendung der Begrifflichkeit von Stellen und Setzen eines Textes, der prozessoffene und abschließende kommunikative Handlungen vollzieht, handelt es sich um Aussagen zu einer Poetik des gedruckten Wortes, das mitteilen kann, weil es etwas feststellt: Das Stellen nämlich ist nicht nur kein in sich vollbrachter Akt, sondern auch in Ansehung des zu stellenden Objects noch durchaus unbestimmte Bewegung. Den aller wahren und für sich thätigen Existenz nothwendigen Ruhpunkt erlangt der Inhalt erst in der Schriftsetzerei, wie es der Sprachgeist so ausgedruckt [sic] hat, denn Setzen ist Ruh’gebung. So erst wird das Buch mittheilbar. (LG 273)
Auch am Bild und dessen Realisierung in technisch-materiellen Korrelaten wird ersichtlich, dass und wie Geist realiter in Stellung gebracht wird; auch das Bild ist ein reproduzierbares Kommunikationsgut, mit dem gehandelt wird: Die Objectivirung der ausgetragenen nicht artikulirten Gedankenmasse, zum Zwecke ihrer Universalisirung im Staate, erfolgt durch den Abdruck der Platte, die SteinStahl- Holz- Kupferplatte u. dergl. seyn kann. Erst nachdem das Bild durch den Abdruck der Platte objectivirt worden, kann es integrirender Bestandtheil, Gegenstand des Gedankenhandels als solchen werden. Die Action des Abdrucks ist daher gleichfalls von der Gesetzgebung der Presse aufzufassen. (LG 273f.)
Medientechnologie wird hier zur Medienontologie des Geistes, der sich Realisationsformen sucht, deren Da-Sein und Wirkungsmacht nicht geleugnet werden können. Diese können aber, das zeigt dann der Vergleich zwischen dem Druck in Buch und Zeitung, entgegengesetzten Bewertungen zugeführt werden. Im Sinne einer Ontologie der vom Geist bewirkten Erscheinungen ist die Sache Buch im strikten Sinne keine Zeitung – dies wäre der Logik von Löfflers Presse-Lehre zu entnehmen, die in diesem Begriff beides erfasst. Die medienontologische Sichtweise wird in den Paragraphen der Abschnitte des »Blattismus«, der »Lehre vom Blatt« (LG 290) weitergeführt. Die Lehre vom Blatt ist das ideelle Gegenstück
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zu Begriff und Sein des Buchs. Die Spaltung der Presse in Buch und Blatt, den Ideen-Handel mit dem Buch und den Ideen-Handel mit dem Blatt, ermöglicht die Sichtung negativer Entwicklungen im modernen »presslichen Zeitalter[]« (LG 278). In der Konfrontation von Buch und Blatt wiederholt sich so in nuce der Schematismus einer kritischen Relation zwischen dem Positiven, Vollgültigen und dem Negativen, Unvollständigen. Der Autor arbeitet als wissenschaftlicher Moralist mit doppelt abgesichertem Boden: Die Logik der Differenz ist nicht nur erkenntniskritisch auszubeuten, sondern auch moralisch belastbar. Der Buchdruck ist die technische Voraussetzung des »Pressezeitalters« und zeichnet die Moderne als Epoche der Kommunikation aus. Erst die Buchdruckerei habe »den Gedanken blitzschnell und wie aus der Höhe eines Geisterhimmels nach so vielen Richtungen zugleich verstreut und ihn mit der Zeit über die ganze Ideenwelt verbreitet« (LG 274). Der Buchdruck ist wie das Geld ein säkularer Allesbeweger, eine unsichtbare Hand,15 dessen grundlegende Potentialitäten in der Folge aber eher schlecht als recht zitiert wurden: Wenn die Buchdruckerkunst [...] die eine grosse Hand des einen grossen menschlichen Geistes ist, welche unaufhörlich in den tiefen Schooss der Geister greift und unaufhörlich Gedanken wie Saamen ausstreuet: so muss man wenigstens gestehen, dass diese Hand grossmüthiger ist, als Der, welcher sie schwingt, oder dass sie auf blindes Glück und ohne die Kunstfertigkeit des Säemanns geschwungen wird. (LG 275)
Formal läuft die Unterscheidung von Blatt und Buch zunächst über die Aufspaltung dessen, was Löffler als die zwei Seiten von »Inhalt« vorschlägt: Gegenüber dem im Buch vollendeten existiert der »unvollendete, sich erst noch vollendende Inhalt« (LG 290). Löffler umgeht hier den Begriff Zeitung, nimmt aber etwas von der Zeitstruktur von Ereignis und Fortsetzbarkeit in der periodischen Lieferung auf. Die Zeitstruktur des prozessförmig sich ausagierenden Inhalts wird fortgeführt beim »Verlag« desselben, in der »noch fortlaufende[n] Action, die, um in sich vollendet zu werden, noch des Fortlaufs und der Bewegung des Inhalts selbst bedarf« (LG 290). Diese Unterscheidung führt zu dem Begriffe des Blattes. Das Blatt ist nur ein Theil des Buchs. Der Verlag des Blatts ist daher nicht ein solcher in seiner Bestimmtheit; sondern Verlegung in ihrer materiellen wie formellen Unbestimmtheit. (LG 290)
Die Lehre vom Blatt sistiert den Begriff identitätslogisch in der Differenz, indem sie bestimmt, was dazu gehört. Dazu gehört eben auch, dass das Blatt Teil eines Ganzen ist, das sich in der Reihe fort und fort zeugt. In sich je abgeschlossen steht das Blatt im Differenzen übergreifenden Begriff Presse so repräsentativ für das ein, was darin selbst unabschließbar ist:
15
Vgl. zum Konzept der unsichtbaren Hand in der Ökonomik Adam Smith (1723– 1790) – Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte. Hg. von Heinz-Dieter Kurz. Marburg 1990.
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Das Blatt, wiewohl es in jedem einzelnen Stücke und eben nur so an und für sich Vernünftigkeit, d.h. Tendenz hat, entbehrt dieser Tendenz dennoch in dem Begriffe eines vollständigen Inhalts der Presse. In diesem Begriffe kommt endlich eine bisher nie aufgeworfene Rechtsfrage von nicht geringem Interesse für Staat und Gesetzgebung zur Sprache. (LG 290f.)
Rechtsfragen, die das Blatt aufwirft, liegen etwa darin, dass das Blatt, »weil es stets nur wird«, auch nur als »Theil« einer Aussagenkette vom Staat »bestraft werden kann« (LG 359): Das, was überhaupt noch nicht ist, kann für die Sünde Dessen, was ist, unmöglich haften: wenn man aber Das, was erst noch werden will, für die Sünde Dessen, was ist, verhaftet: so befindet man sich in ganz dem nämlichen Widerspruche. Warum soll die neunte und alle folgende Nummer eines Blattes nicht erscheinen dürfen, weil die achte strafbar befunden wurde? Und was haben diese mit jener gemein? So wenig man die siebente und alle vorgehenden Nummern, wegen der Strafbarkeit der achten, mit Arrest belegen kann: so wenig alle und jede späteren. (LG 359f.)
Zwar soll damit nicht einer Lässigkeit der beobachtenden Gesetzgebung und Rechtssprechung die Tür geöffnet werden, doch ergibt sich daraus das Plädoyer für einen staatlichen »Geist[] der Schonung und Mässigkeit«, der im Zensurund Beaufsichtigungswesen des Blatthandels das »Verhältnis[] zwischen Regierung und Regierten« (LG 360) neu bestimmen sollte. Diesem Schutzbrief für die Nicht-Haftbarkeit des Blattes steht andererseits das Bedenkliche des Blattes gegenüber: »Schon der im Begriff sichtbar werdende Unterschied des Buchs und des Blatts, hebt die Eigenthümlichkeit des letztern auf eine bedenkliche Weise hervor« (LG 291). Bedenklich ist das Blatt in der wesenhaften Unterschiedenheit von Buch und Blatt. Diese wird von der Maschine differenzlogischer Moralistik gewährleistet. Darstellungstechnisch sollen mit dieser Maschine andere Autoritäten des systematisch Kontrolle ausübenden Denkens und Beobachtens überboten werden: Erscheinung wie Jeremias Bentham, von Haller und Hegel, so grossartig sie sind, verrathen zu wenig Geschick, in diesem Freibeuterkriege der Principien Heere zu sammeln: sie haben Verschanzungen aufgeführt, ohne die Kunst zu verstehen, diese Verschanzungen zu – armiren. Ein Glück noch für die Wissenschaft, wenn Einzelne in dieser wirren publicistischen Conversation durch Polemik sich hervorthun – dem einzigen Mittel, die Schlafenden zu wecken und dem geheimen Räderwerke der Untersuchungen neuen Anstoss zu geben. In solcher Zeit wird die Polemik zum eigentlichen Sauerteige der Wissenschaft und der Wahrheit, ohne welchen beide vollständig verkommen würden [...]. (LG 305f.)
»Vollständigster Indifferentismus« sei letztlich bei Hegel die Konsequenz gewesen, also eigne sich »dieser in seiner Neutralität [...] zum Friedensvermittler« (LG 307). Das aber ist nicht mehr zeitgemäß, sondern Polemik begleitet wissenschaftliche Gesetzgebungsverfahren, die Unheil abwenden wollen. Löfflers Wissenschaft sucht in ihrer Pressekritik gerade auch den inneren Feind im Staatsgebilde auf. Dies gelingt nur, wenn der moralische Entscheidungswille dem wissenschaftlichen Differenzierungsvermögen Schützenhilfe leistet. Moral und Wissenschaft
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sind in ihrem Verhältnis zueinander gleichursprünglich und können abwechselnd zum gegenseitigen Vorzeichen gemacht werden. So heißt es in der Gesetzgebung des Blattes: Es ist »der moralische Gesichtspunkt, der sich zunächst aufdringt und nach dessen Erledigung jeder zweite und dritte erst kann gehört werden« (LG 326). Eine »ethische Gesetzgebung« (LG 329) ist das erklärte Ziel, dessen Ansprüchen Löfflers Schreiben genügen möchte. Seine Textperformanz stellt so die Ethik von Gesetzgebung, sei diese auf politischen, sei sie auf wissenschaftlichem Wege herbeigeführt, aus. Positiv markiert wird die ethische Gesetzgebung als notwendige Utopie vorgeführt; die komplementäre dystopische Perspektive ergibt sich in der Gegenerzählung, die den Blick auf das Unvollständige und alle Grenzen Übertretende organisiert. Die Feinde einer Wissenschaft, die zur Entschlossenheit für den Staat und diesen selbst zur Entschlossenheit aufruft, sind nicht nur die Indifferenten in den eigenen Reihen, die mit ihrer Art wissenschaftlicher Zergliederungskunst dem Geist zu viele Spielräume gewähren. Sondern Feinde des eigenen Projekts sind auch dort zu vermuten, wo zu wenig Wissenschaft praktiziert wird. Deshalb geht es Löffler auch darum, die »Pressfrage« »der Wissenschaftslosigkeit und Casuisterei« (LG 76) zu entreißen, die Signum der zu seiner Zeit zerstrittenen Presseauffassungen sind. In der dreifachen Zuständigkeit von Moral, Wissenschaft und Politik ist es Löfflers Blattkritik semantisch möglich, das topische Archiv der negativen Zeitungs- und damit verbundener Kommunikations- und Kulturkritik auszuschöpfen und die alten Fehler neu zu lesen: Diese Eigenthümlichkeit des Blattes beruht vorzugsweise auf der Unvollendetheit des blattlichen Inhalts, da eben diese Unvollendetheit in Sphären, wo die Censur entfernt worden, jede solide Bürgschaft ausschliesst: ja es giebt ohne Censur nicht leicht ein wirksames Mittel gegen blattliche Ausschweifungen und gegen die nur zu oft darin gelegenen übeln Folgen derselben. Dies ist keineswegs mit dem Buche so. Das Buch, als solches schon weniger zugänglich, wird auch als schlechthin vollendeter Inhalt irgendwie von einer bestimmten Idee geleitet, die merklicher oder unmerklicher und jedenfalls verständlich genug ausgeprägt, seine Tendenz nicht hehlt, und am Schlusse wie von selbst ein Resumé seines Eindrucks in dem Leser zurücklässt. [...] kurz das Buch kann sich nicht verstecken, kann jene Schleichwege des ideellen Lasters nicht gehen, die das Blatt wie ein beständiger Contrebandier mit so vielem Glücke geht, indem aus seiner Tendenz klug zu werden, auch der geschicktesten Prüfung nicht immer gelinge. Sagt das Blatt auch: »ich habe mir zum Gesetze gemacht, diese oder jene sittliche, politische, religiöse Grundsätze zu vertreten; nur diesen oder jenen Zweig der Kunst, der Wissenschaft, des materiellen Betriebs nach dieser oder jener Regel zu behandeln«; sagt das Blatt dies auch: so ist dies eben nur gesagt; und es wird den, der über die Natur des Blatts einmal im Klaren, gewiss nicht befremden, wenn das Blatt, aller seiner Versprechungen ungeachtet, den gerade entgegengesetzten Weg einschlägt, indem es thut, was es zu meiden versprach oder vermeidet und vernachlässige, was es thun wollte. Der Grund dieses unglücklichen Widerspruchs, dessen selbst die wissenschaftlichen Blätter nicht immer frei sind, liegt nicht sowohl in einem Nichtwollen der Unternehmer, der Redaction und dergl. als in dem wirklichen »Nichtvermögen« derselben. (LG 291f.)
Die Zeitungs- als Blattmacher benötigen den wissenschaftlichen Kontrolltext; er kann sogar ihr blindes Tun gegenüber der Staatsmacht entschuldigen, da, wo die-
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ses Tun doch nur ein gut gemeintes Sagen bleibt gegenüber dem objektiven Gang unbeherrschbarer Geschichtsverläufe. Denn hier sind Blattmacher notwendigerweise unvermögend, Teil einer in ihren Widersprüchen durchaus unglücklichen Moderne. Der Autor als Vor-Schreiber eines Gesetzestextes bezieht seine eigene Produktivität aber aus dem Differenzierungsglück des modernen Gesetzgebers und Moralisten, der mit Lust in den Archiven des Glücks wie des Unglücks gräbt. Darin gibt er immer wieder das Versprechen, eine Ordnung zu erzeugen, die strikte Kontrolle beinhaltet: Den Blattismus zu theilen, abzusondern und in einer der Gesetzgebung überschaulichen Weise vorzulegen, ist somit als die Grundbedingung jeder gesetzgeblichen Thätigkeit in dieser Sache zu betrachten. (LG 327)
Die Begrenztheit der Darstellung, die in der begrifflichen Sondierung und der Geste des Absonderns liegt, verhindert gerade nicht, dass alles, was Negatives über das Blatt gefunden wird, unendlich wuchert. In der Rede über die zwei Seiten des Blattes zeigt sich der Gegenstand Presse in seiner allgemeinen und ungeheuren modernen Produktivität: Presse ist wie eine Hydra, der die vielen Köpfe durch Auflistung und Beurteilungskünste aufgesetzt, aber noch viel mehr abgeschlagen werden müssen. Das Wuchern des Negativen ist die Kehrseite der positiven Gesetzesschrift, die der Text anstrebt. So geraten viele Textpassagen zu einem Archiv der Zeitungs- als Kultur-, Medien- und Kommunikationskritik, in das tradierte Urteile in einen geschichtsphilosophisch, erkenntnistheoretisch, moralisch und, alles in allem, sprachästhetisch definierten Rahmen eingelesen werden. Die Inventarlisten dessen, was das »pressliche Zeitalter« an Unerwünschtem hervorgebracht hat, sind lang. Ist nicht die Presse »das wirkliche Princip der Auflösung in der jüngeren Welt, die sich mittels ihrer in die Welt der berechtigten Individualität hinauszuarbeiten und als solche geltend zu machen suchet« (LG 76)? Das Blatt bietet die Option, Individualität im öffentlichen Meinungsstreit zu konsolidieren und so, wie eine gewissenlose Unterhaltung, »Jeden das Seine sagen zu lassen«: Der Ursprung des Blatts steht übrigens mit der Natur der Presse, welche vorzugsweise unterhaltend ist, in der engsten Verbindung und das Blatt ward mit ihr nothwendig. Die Presse, um werden zu können, was sie gegenwärtig ist, musste der Unterhaltung huldigen. Es konnte ihr, um die Meinung für sich zu gewinnen, nicht darauf ankommen, Jedem das Seine zu sagen, sondern vielmehr Jeden das Seine sagen zu lassen. Für diese Tendenz waren aber das Buch, oder vielmehr dessen Anfertigung mit zu grossem Aufwand von Zeit und Kräften verknüpft, anderer Unbequemlichkeiten nicht zu gedenken. (LG 294)
So wird auch das Große und gesellschaftlich Allgemeine in der »Unterhaltung« klein geredet. Das Blatt krümmte [...] sich bald in die blos zufälligen, kleinlichen, der Unterhaltung aber unentbehrlichen Gesetze. Es begann mit dem Tage, erzählte von ihm zuerst, absolvirte seine Ereignisse und Vorkommenheiten, bevor es zu andern Themen überging: kurz
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das Blatt wurde der Neuigkeitsträger und diese jederzeit neueste Waare der Presse wurde bald auch die moderne, gesuchte. (LG 294)
Das Blatt ist die mediale Instanz, die »jeden Einzelnen bediente, ohne das sittliche Verhältniss des Einzelnen zu dem Ganzen jedes Mal mit gebührender Strenge und Gewissenhaftigkeit aufzufassen« (LG 294). Hier wachsen »Beliebtheit«, »Einfluss und Mannigfaltigkeit«, und hier wird »der Keim zu einer höchst üblen Ausartung« eines »Egoismus« gelegt, der sich dem Wissen des Blattes anvertraut, das die »Aufgabe« der Wissensprüfung mit »der Eilfertigkeit des Tages, ja des Augenblicks zu lösen gedachte«. Während die Hand der Wissenschaft zur »Hand der verschiedenen Alter wurde, womit diese in ihren eigenen Busen griffen« (LG 295),16 bildet sich »[i]n der Blattleserei« »die Gesellschaft« »zum Autodidakten«, versehen mit der Geste der frechen Scheinheiligkeit: Die in den Busen der Zeit gelegte Hand des Blattes ist zur stehenden Mime geworden, mit der man so thut, als wolle man gestehen, damit man nur ja nicht aufgefordert werde, die Geständnisse, welche man sich und den vernünftigen Gesetzen schuldig ist, wirklich zu machen. (LG 298)
So wird der Staffelstab der Kritik an den Erscheinungsweisen, wie »man« redet und liest, von Löffler weitergereicht. Das Blatt, weit entfernt von Staat, Wissenschaft und Kirche, hat in solchen Formationen »gottlose Hand nach Allem« (LG 323) ausgestreckt. Statt ernsthafter Suche nach dem Grund von Allem oder politischer Selbstbesinnung auf die Größe der Aufgaben in der Zeit herrscht im Blattwesen »das Tribunal der Persiflage und des Witzes« (LG 298). Das Blatt, dieser »gedankenlose Gesell«, »plündert« »den Kern jeder Schrift« unterschiedslos, »um ihn in populairer Manier vorzutragen« (LG 324). Die Machtbereiche von Kirche und Schule werden durch das Blatt strukturell unterwandert: Hiezu kam endlich, dass das Blatt täglich wiederkehrte. Dadurch wurden Kirche und Schule in ihren natürlichen Functionen auf das Förmlichste abgelöset von ihm, indem selbst sie nicht so oft wiederkehren konnten, zu unterrichten, als jener nunmehr unzertrennliche Gesellschafter und Hofmeister eines Geschlechts, in dessen Bewusstseyn die Grundsätze mit den persönlichen Meinungen bereits zu einer sehr bestimmten Spaltung gekommen waren. Das Blatt ward das Orakel der Welt [...]. (LG 325)
Statt den Sinn des Ganzen aufzuzeigen, verweist das Blatt auf das, was strenge Gesetzessprache auszuschließen wünscht, den Zufall: Mit dem Tage gehört das Blatt vollkommen dem Zufalle. Welche auch seine Bestimmung ist: (das für Alterthumskunde nicht ausgenommen) so erklärt es sich als abhängig von den Ereignissen, Erfindungen, Entdeckungen, umlaufenden und abrollenden Ideen und Doctrinen des Augenblicks. (LG 298)
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Vgl. zur Ikonographie dieser Geste, die auf das Wahrhaftigkeitsstreben des Gelehrten verweist, Jürgen Fohrmann. Hand und Herz des Philologen. In: Manus Loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien. Hg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert und Hedwig Pompe. Köln 2003. S. 131–157.
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Der Zufall und die Abhängigkeit von heteronomen Einflüssen kennzeichnet auch die »politische« Zeitung. Hier gewinnt die Unfähigkeit der Form Zeitung, ganzheitliche Geschichtsschreibung und Politik und Wissen abschließende Urteile zu liefern, repräsentative Konturen: Die Zeitung ist weder Geschichtsschreibung, noch konnte sie dies werden. Die Ursachen davon liegen einmal schon in der Natur der Sache; dann aber auch in dem Charakter der Presse, insbesondere der Tagspresse, deren Begriff auch die Zeitung sich unterordnet. Die laufenden Begebenheiten werden nur halb und unvollständig, in der Regel ganz aus ihrem inneren Zusammenhange von der Zeitung vorgetragen: indess sie gleichwohl ein bereits fertiges Urtheil, das in seiner Frühzeitigkeit eben einseitig, öfter sogar von Grund aus falsch ist, daran anschliesst. (LG 315)
Dies wäre nur der halbe Ertrag seiner Dienstbeflissenheit, wenn Löffler daraus nicht sogleich ein positives Argument für die Arkanpolitik des Staates angesichts der Publizistik ableitete: Dann aber erhebt auch das Interesse des Staats nicht selten gewichtige Einsprüche, welche selbst diese Frühzeitigkeit der Zeitung nicht gestatten. Es muss von selbst einleuchten, dass nicht alle Angelegenheiten des Staats zur öffentlichen Mittheilung sich eignen – dass der regierenden Weisheit überlassen bleiben muss, sich hier frei zu bestimmen – sich von Dem, was sie für dienlich gefunden, nichts abzwingen zu lassen. (LG 315f.)
Bei einer »sittliche[n] Staatskunst«, die sich nicht nehmen lassen darf, »das Wann, Wie und Wo der Nachricht zu bestimmen«, tritt nun allerdings besser ein Beschweigen an die Stelle der alten Politik, die auch das Unwahre als Faktum in Umlauf brachte, denn dies würde jetzt der »Würde [der Staatskunst] widersprechen« (LG 316). Nur einem Staat, der »seine Zeitungen zu zügeln gewusst«, bleibt so »manche Verlegenheit und spätere Demüthigung erspart« (LG 316f.). Da Staatsklugheit sich selbst Schweigen gegenüber der Publizistik auferlegen muss, entspricht der »wahre[n] Geschichtschreibung«, dass sie ihre Dokumente »in die geheimen Archive verweiset«. Die »Presse« hingegen, »ist unfähig, einem so hohen Berufe zu genügen« (LG 317). In der trilateralen Verschränkung von Politik, Geschichtsschreibung und Presse im guten und schlechten Allgemeinen, finden, wie zu erwarten, auch die »sprichwörtliche Rede« über die »Lügenhaftigkeit« (LG 317) der Zeitungen und ihre Leichtgläubigkeit, die Grundlage der schnellen Kolportage ist, ihren Platz. Fama beherrscht auch in Löfflers Presselehre ihr Haus der Kommunikation, und ihre selbstgefällige Herrschaft, die sich in den Vielen verwirklicht, dringt von allen Seiten in Löfflers polemischen Bestimmungen des schlechten Seins der Zeitung ein: Die grosse Masse desselben [der von Zeitungen berichteten Ereignissse, Erfindungen, Ideen und Doktrinen] ist darum das eigentliche Asyl des gemeinen Menschenverstandes. Losgerissen von der Vergangenheit, vermiethet in eine ungewisse Zukunft, steht es da auf dem engen und spitzigen Raume der Gegenwart mit stets offenen Augen und Ohren, überall hinlauschend, überall hinspähend und Alles, was vorgeht, aus dem Stegreif erklärend. (LG 298)
328
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
Unter positivem Vorzeichen betrachtet, bezeugt medial fundierte Vielstimmigkeit zugleich die ständige Bewegtheit des Geistes: Und wenn das Zeitalter zuweilen gegen einzelne Stimmen taub erscheint: wäre es nicht ein viel grösseres Wunder, unter diesem unabbrechlichen Geschrei und untermischten Gemurmel jede einzelne Stimme herauszuhören? In dem Besitze der Buchdruckerei ist den Geistern völlig jeder Ruhstand unmöglich. Mit dieser ausserordentlichen Beweglichkeit der Schriftstellerei setzt sie selbst denn auch sich in die engste Uebereinstimmung, und wie die Buchdruckerei die Schriftstellerei lebendiget: so wirkt diese wiederum, je nachdem sie lebendig, auf jene. Daraus erklären sich Stereotypie, Polytypie, Dampfpresse und andere technische Erfindungen, welche für die Druckerpresse entstehen. Diese sind keine Producte der Speculation, die vielmehr und im Gegentheile sehr wenig dabei zu speculiren haben dürfte; sie sind die natürlichen Producte der in der Presse gesteigerten und fortwachsenden Geistesbewegung. (LG 278)
Famas allegorische Lesart erscheint in Löfflers Umschriften geläufiger Zeitungsurteile zwischen den Polen von modernem Fortschrittsglauben und Verfallsgeschichten, die sämtliche Beziehungen zwischen Wissenschaft, Staat und Presse betreffen. Im Krieg der wahren mit den falschen Kräften sollten Staat und Wissenschaft sich in einer machtpolitischen Konstellation zusammenfinden, steht doch für beide der Erfolg, der eigene Ruhm auf dem Spiel. Vernünftiger Gesetzgebung, angeleitet durch Wissenschaft, entspricht eine durchgreifende politische Kommunikationskontrolle, so dass das schlechte Überall von Fama bekämpft werden kann. Und so wie es dem Staat obliegt, zwecks Harmonisierung von »schriftstellernde[m] Geist[] und vernünftige[m] Staatsgeiste« (LG 279) ordnenden Zwang auszuüben, so arbeitet auch die »deutsche Wissenschaft« als Institut für die Positivität von Ordnung. Sie erhebt sich gegen Fama, indem sie selbst die Herrschaft über die Formen von öffentlicher Rede und Zuteilung von Ruhm beansprucht: Unsere deutsche Wissenschaft ist eine der obersten Königinnen der Welt, deren Palast unsere Universität, deren Thron unser Katheder ist: in und auf beiden hat sie zu allen Zeiten ihre Pflichten vorgefunden, in und auf beiden zu allen Zeiten ihre kostbarsten Rechte ausgeübt. (LG 332)
Die Inthronisierung der ruhmvollen Wissenschaft strebt Herrschaft im Innern wie im weltpolitischen Maßstab an. Der Feind steht politisch, kulturell und wissenschaftlich auch jenseits der eigenen Grenzen, die helfen sollen, den Binnenraum des Denkens und Handelns in Politik und Wissenschaft Gesetz gebend abzusichern. Das moderne Zeitalter der Presse hat gleichursprünglich zur Unordnung mit sich gebracht, über das Medium Druck eine verbindliche Sinnstiftung für »die Allen« herzustellen. In diesem Chiasmus seiner Medienontologie knüpft Löffler das unordentliche Sein der Vielen paradigmatisch an das bedenkliche Sein des Blattes in unvollendeten Prozessen. So wird die Kontingenz von Geschichte und die Offenheit gegenüber fortgesetzter Sinnproduktion in vielfach zirkulierenden Geschichten meta-mediologisch in Stellung gebracht, um den positiven Gegen-
VI.2. Vor dem Gesetz: Franz Adam Löffler Gesetzgebung der Presse
329
entwurf einer sistierenden Pressegesetzgebung abzusichern. Ist der Geist, der Erkenntnis hervorbringt und darin nach Hegel in der Gegenwart zu sich selbst kommt, in Löfflers Druckschrifttext noch in Bewegung, oder geht es schließlich nicht vielmehr um dessen engherzige Auslegung für eine deutsche Königin Wissenschaft? Nicht von ungefähr erhebt sich am Ende, in einer rhetorischen Hyperbel, für Löffler der Gesamtkomplex mediologischer Problemstellung in der Moderne zur »Lebensfrage des bürgerlichen Körpers« (LG 309).17 Zeigt sich dem Autor nicht in Paris oder in Spanien, was passiert, wenn es gelingt, »die Presse vom Staate los zu winden und völlig in den Willen der Einzelnen zu übergeben« (LG 289)? Sind es nicht die »Sittenverderber und Gedankenverdreher«, die nur zu gerne »den Hausir- und Strassenhandel von Zeit zu Zeit wiederaufwecken« (LG 289)? Ist es nicht »journalistische[r] Unfug«, wenn der Buchhandel durch »sogenannte Commission« seinen Inhalt »aus der Buchdruckerei in die Hand des Schriftstellers zurückverlegt« (LG 288f.)? Fordert dies nicht heraus, »dass die Schriftstellerei zum grossen Theile fabrikartig bewegt wird«? Kennt man nicht den Satz: »Wie die Waare: so der Handel« (LG 289)? Gegen Löfflers Schrift- und Stellungnahme Ueber die Gesetzgebung der Presse. Ein Versuch zur Lösung ihrer Aufgabe auf wissenschaftlichem Wege wäre also fragend einzuwenden, ob der intellektuelle Anspruch auf die Allgemeingültigkeit seines mediologischen Systementwurfs nicht durch einen Dogmatismus hintertrieben wird, der versucht, die Adäquatheit seiner Erkenntnisse rhetorisch durchzusetzen? In der Verbindung aus Logik, Moralistik und Polemik scheint Löfflers Sprachspiel doch sehr auf die Setzung unbestreitbarer Wahrheiten zu vertrauen. Und genügt es denn für die anliegende wissenschaftliche Weiterentwicklung von Theoremen für die Presse eine reduktionistische Typologie der Blätter aufzumachen, die ihren Ausgang von der Unterscheidung zwischen »politischen Blättern« und »alle[n] noch übrige[n]« (LG 312) nimmt? Zu diesen übrigen Blättern ist Löffler dann doch noch etwas eingefallen, auch wenn die Überschaubarkeit der Presseszene in dem Schematismus eines differenzlogischen Aufbaus vorrangig bleibt. Aus der Summe aller übrigen Blätter lassen sich noch einmal der »schöngeisterische« und der Typus des »Volksblatts« (LG 312) hervorheben. Dies sind Blättertypen wenigstens mit Tendenz angesichts der vielen unfertigen ohne jede erkennbare Tendenz, und so widmet Löffler ihnen immerhin je einen Paragraphen. Doch wiederholt sich hier der Grundsatz der scharfen Sichtung und Absonderung, und das »schöngeisterische« Blatt ist bei näherer Betrachtung kaum dem Projekt Sittlichkeit zu zuordnen, sondern tritt wiederum die Erbschaft schlechter Zeitungskommunikation an:
17
Löffler schließt mit der Körpermetapher konzeptuell an zeitgenössische staatspolitische Diskussionen an, die die abstrakte Einheit des bürgerlichen Staats im ›Körper der Nation‹ symbolisiert sehen; vgl. dazu Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Frank Thomas/Ethel Matala de Mazza. Der fi ktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007.
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
Dies Blatt ist der Kammerjunker des weiblichen Geschlechts und der eleganten – wenig und dies Wenige halbwissenden Jugend der Zeit. Gemeinhin wird das schöngeisterische Blatt auch von dieser Jugend nur bedient. In der modernen Welt ist es vorzugsweise dadurch wichtig geworden, dass es die Leitung des Geschmacks in der Lectüre übernommen und insbesondre die Kritik des vielgelesenen Romans und der Novelle betrieben, oder diese selbst mitgetheilt hat. In diesem Verhältnisse zur Lesewelt ist es eines noch ungleich stärkeren Einflusses fähig, als welcher bisher von ihm geübt worden. Fällt es ausserdem einer Schule anheim: so wird dies Verhältniss in einem so gemischten Publicum vollends bedenklich. [...] Sein Ton ist im Ganzen unbestimmbar: indess schmiegt es sich den besonderen Umläufen der Mode, ist gemeinhin leicht, spielend, selbstgefällig und arrogant, bei grosser Kritelei anerkannt unkritisch, oft regellos und die Sprache verhunzend. (LG 312)
Gegenüber diesem bedenklich den Moden zugeneigten Typus lässt sich das »Volksblatt« positiv profilieren, auch wenn es die große allgemeine Aufgabe, den Volkskörper zur Anschauung zu bringen, noch nicht ganz erfüllt. Der große Rest der »nichttendenziösen« Blätter ist nach Löfflers Nomenklatur zu vernachlässigende Masse, »unwerth« (LG 312) einer eingehenden Behandlung. Die Gesetzgebung der Presse dient konsequenter Weise der »Beschliessung der literairen Anarchie« (LG 337), worin sich der Anspruch auf Kathederherrschaft einer Königin »deutsche Wissenschaft« offenbart. Sie verfolgt am Ende das Konzept der engen Gemeinschaft, welches – so wäre zu kommentieren – 1837 auf die Engstirnigkeit des Strebens nach nationaler Gemeinschaft und Verkörperung verweist. An die Stelle des »Geist[es] der Person«, der (mit antiromantischem Reflex) den »Geist der Aufgelöstheit« (LG 339) repräsentiere, soll angesichts der gesellschaftspolitischen Nöte, so Löffler, nun der »Geist der Corporation« (LG 339) treten. Hier kommt Pressegesetzgebung als künftige Formgebung für nationalpolitische Ambitionen zu sich selbst. Gegenüber den gottlosen Händen, die von Vielen nach Vielem ausgestreckt wurden und werden, läge der »moralische Vorzug der Corporation« darin, dass »jeder Einzelne die wohlthätigen Eigenschaften in sich vereinige[]« (LG 339). Dieser neue Geist wirkte dann Identität stiftend auf das künftige Sein und Sollen der Wissenschaft zurück. So kündigt sich am Ende von Löfflers Buchprojekt über eine Gesetzgebung für die Presse eine neue Standpunktnahme an, die der Herrschafts(an)drohung der Vielen, die sich im Pressewesen seit dem Buchdruck abzeichnet, Contra bietet: Ich werde nicht anstehen, diese zwei Worte auszusprechen: »Die Wissenschaft gedeiht, wenn viele sich mit Einem, sie verkommt, wenn Alle sich mit Allem beschäftigen.« Nur versteht sich, dass jene Viele an ihrer Sache selbst zu nur Einem, d.h. eben zur Corporation werden sollen. Dies ist das äussere Gesetz ihrer Entwickelung. Ihr inneres Gesetz ist dem gleich und lautet: »Die Wissenschaft gedeiht, wenn sie von ihrem Mittelpunkte aus an der Species, an dem Besondern mit Vorliebe behandelt wird, weil sie von innen aus wächst und nur von innen aus sich erweitern kann; sie verkommt in der Verallgemeinerung ihres Besonderen, in dem, wenn ich so sagen darf, blossen Herumlaufen um ihren peripherischen Pol.« (LG 341)
Am Ende spielt Löffler einen Standpunkt für Wissenschaft ein, der es erlaubt, die mit Gesetzgebung verbundene Sprach- und Medienmacht neu zu perspekti-
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte
331
vieren: Der Drang zum Allgemeinen wird nun selbst peripher und äußerlich gegenüber dem sinnstiftenden Zentrum, das vom »Besonderen« besetzt werden soll. Wilhelm Dilthey wird hier weiterdenken, wenn er das Konzept Geisteswissenschaft mit einer Hermeneutik korreliert, die das Besondere zum inneren Gesetz, welches das Allgemeine aus seinem Grund heraus bestimmt, erhebt.18
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte: Robert Eduard Prutz Geschichte des deutschen Journalismus Robert Eduard Prutz’ Geschichte des deutschen Journalismus von 1845 ist ein weiterer groß angelegter Versuch aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der die Moderne epochal als ein vom Medium Druck bestimmtes Zeitalter beschreibt. Im Unterschied zu Franz Adam Löffler ist die Geschichte, die Prutz vorlegt, nicht an einer Medienontologie interessiert, auch wenn er ebenfalls mit der Differenz zwischen Buch und Zeitung arbeitet. Ihn interessiert die Entwicklungsgeschichte einer Kommunikationsform, die im Journalismus geschaffen wurde. Doch wie Löffler den Begriff Presse aus der Geschichte des Drucks historisch hervorgehen lässt, so verbindet auch Prutz den Begriff Journalismus systematisch mit dessen Geschichtlichkeit. Was dazu zu sagen ist, sagt Prutz als Literaturhistoriker, der den Journalismus in eine allgemeine Geschichte der Literatur einordnet. Der Journalismus wird über Thesen zum ›literarischen‹ Journalismus, den Prutz an das Auftreten der protestantischen Diskursformation knüpft, in seiner historischen Genese präzisiert. Auch Prutz hat nur einen ersten Band des umfänglichen Vorhabens publiziert, der die Geschichte der deutschsprachigen Zeitungen und Journale bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt. In den 1850er Jahre hat Prutz noch zwei weitere Aufsätze folgen lassen, in denen er die angefangene Geschichte des Journalismus auf knappem Raum bis in seine Gegenwart auszieht.19 In diesen Aufsätzen und insbesondere in der Darstellung von 1845 wird der Zeitungstheoriediskurs der ersten 200 Jahre sich selbst historisch. Diese Historisierung von Zeitungstheorie erfolgt im kritischen Blick eines Anhängers der Junghegelianischen Geschichtsphilosophie.20 Die Geschichte, die Prutz erzählt,
18
19
20
Vgl. zu Diltheys Neukonzeption einer Geisteswissenschaft, die sich als Gegenentwurf gerade auch zu den Kommunikationsverhältnissen ihrer Zeit versteht, Fohrmann. Der Intellektuelle, die Zirkulation. Robert Eduard Prutz. Zur Geschichte des deutschen Journalismus. In: Deutsches Museum. Hg. von dems. 1. Jg. Leipzig 1851. S. 335–354; ders. Der deutsche Journalismus, seine Vergangenheit, seine Wirksamkeit und Aufgabe für die Gegenwart. In: Ders. Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kunstgeschichte. Bd. I. Halle 1854. S. 1–103. Der Beitrag von 1854 variiert leicht den Beitrag von 1851 und führt die Darstellungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Vgl. dazu Hans Joachim Kreutzer. Nachwort. In: Prutz. Geschichte. S. 423–456, und die Kommentare von Ingrid Pepperle in Robert Eduard Prutz. Zu Theorie und Geschichte der Literatur. Bearb. und eingel. von Ingrid Pepperle. Berlin (Ost) 1981.
332
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
ist ein intellektuelles Gegenstück zu Löfflers Gesetzgebung.21 Löfflers Schrift tritt 1837 angesichts zeitpolitischer Zustände für eine der Vernunft zu ihrem Recht verhelfende, gesetzgebende Abschlussbewegung ein. Prutz spürt auch den historischen Gesetzmäßigkeiten des Journalismus nach, geht aber 1845, angesichts der politischen Spannungen, von einer absehbar offen bleibenden Geschichte aus, in der die Zeitungen und Zeitschriften ihre gesellschaftspolitisch herausragende Rolle spielen. In seine historiographische Behandlung des Themas Journalismus bezieht Prutz ebenso wie Löffler kursierende negative Urteile über das Format Zeitung ein. Doch zielt sein Kritizismus angesichts der gesellschaftlichen Tatsache Publizistik insgesamt auf ein positives Ergebnis. Die Geschichte des Journalismus, die Prutz schreibt, beinhaltet in der kritischen Würdigung ihres Gegenstandes eine Theorie der Moderne und eine Theorie des politischen Handelns. Und wie bei Löffler ist es der politische Impetus, mit dem das Schreiben über Gegenstände wie Zeitung und Journalismus zur aktuellen Herausforderung wird, auch für den Literaturhistoriker, der sein Werk in der Gegenwart und ihren Problemzusammenhängen verortet. Prutz knüpft mit seinem Versuch, erstmals eine zusammenhängende Sinngeschichte des Journalismus vorzulegen, an zeitgenössische Diskussionen über die Formen und Zwecke von Geschichtsdarstellung an. Er steht mit seinem Gegenstand, seinen Darstellungsabsichten und -verfahren zwischen verschiedenen historiographischen Positionen der 1830er und 1840er Jahre, die sich wechselseitig kritisch beobachten. Es können hier folgende idealtypische Haltungen unterschieden werden, die Theoriebildung und Darstellungsformen betreffen:22 (a) eine immer noch aggregierende Litterärgeschichte, die weiterhin auf den universalistischen Sammeleifer des Historiographen setzt; (b) eine Historiographie, die eine normative und in diesem Sinne unhistorische Ästhetik für Geschichtsschreibung zurückweist; (c) eine Historiographie, die sich von der spekulativen und damit für die eigene Gegenwart überhistorischen Philosophie abwendet; (d) eine Historiographie, die die Trennung zwischen politischer Gegenwarts- als Staatsgeschichtsschreibung und philologischer Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung befürwortet, wobei Letztere sich um die Vergangenheit des Nationalen bemüht zeigt; (e) die in der historischen Schule insgesamt unterschiedlich ausfallende Einschätzung, ob Geist und Sinn der Geschichte nun besser in den Bruchstücken des Kleinen oder eher im Großen und hinsichtlich des darzustellenden Ganzen aufzusuchen seien. Mit allen diesen Facetten zeitgenössischer Historiographie und Geschichtstheorie unterhält Prutz’ Geschichte des deutschen Journalismus ihre eigenen Verbindungen. In ähnlicher Weise wie Löffler widmet er sich einem Gegenstandsbereich, der seiner Ansicht nach mehr denn je die Aufmerksamkeit der Gegenwart beschäftigt. So liegt für seine Zeit und damit auch seine Publikation 1845 ein Kulminationspunkt der historischen Entwicklung 21 22
Vgl. auch Groth. Die Geschichte. S. 175; Rühl. Publizieren. S. 162. Vgl. dazu umfassend Fohrmann. Das Projekt. S. 35ff.
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte
333
vor. Prutz schreibt, dass »gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt« eine Geschichte, wie er sie vorlege, nötig sei.23 Und auch die späteren Beiträge, die das Thema Journalismus nach dem »Sturm des Jahres achtundvierzig« 1851 und 1854 noch einmal aufgreifen, um es noch bis in diese Jahre selbst auszuziehen, betonen diesen Gegenwarts- als Aktualitätsbezug. In idealistisch-junghegelianischer Diskurstradition stehend arbeitet Prutz für die Aufhellung der Gegenwart durch ihre Geschichte einen Geschichtsverlauf des Journalismus heraus, dessen Erzählung er über Zäsuren und Entwicklungsstufen strukturiert. Seine darin universalistischkulturpolitischen Einschätzungen sind historisch ausgerichtet, denn, so schreibt er: »Geschichte duldet keine fertigen Resultate; jedesmal die Vollendung der einen macht eben dadurch den Beginn der neuen, höheren Entwicklung nöthig« (PG 68). Die Verbindung von Geschichtsphilosophie und Erkenntniskritik holt damit auch bei Prutz die Darstellung selbstbezüglich ein. Sie muss ihre Aussagen in ihrer eigenen Geschichtlichkeit bedenken, kann darin aber zugleich ihren Aktualitätsanspruch positiv begründen. Die Option, sich als Literaturhistoriker dem Gegenstand Journalismus als einem unter anderen möglichen zu widmen, wird so mit der Pflicht des in seine Gegenwart eingreifenden Schriftstellers korreliert, der die Lücken einer noch nicht abgegoltenen Selbstaufklärung sondiert und ausfüllt. Eine Geschichte des Journalismus ist einer der noch ausstehenden Beiträge, über welche der Nachweis der generell erreichten Kultur- und Bewusstseinsstufen der Zeit erbracht werden kann. Doch zählt dieses Teilstück der progressiv fortschreitenden »[e]ine[n] Geschichte« »des Geistes« (PG 3) dabei besonders. Denn in der Geschichte des Journalismus spiegeln sich für Prutz neben kulturellen auch die politischen Momente von Geschichte in ihrer Dynamik wider. Geschichte begegnet sich hier auf umfassende Weise selbst, und zwar weil ihre Kommunikationsformen und -medien mehr und mehr Geschichte gemacht haben. Denn mit dem Journalismus ist nicht nur Famas Neugierde allgemein geworden, sondern hat sich eben medial so entäußert, dass ihre künstlichen Medien der Institution Staat kritisch gegenüber treten können. Es ist die Trias aus Staat, Medien und Publikum, die sich in der Geschichte des Journalismus als historische Formation abzeichnet. Prutz greift hier aufklärerische und demokratische Ideale auf, um diese nun in eine universelle Perspektive des Journalismus und seiner Geschichtsmächtigkeit zu rücken. Das »Zeitungswesen« steht nicht nur repräsentativ ein für die Mediatisierung des Ganzen, sondern seine Durchdringungsleistung politisiert alle Verhältnisse: Die theoretische Betheiligung des Publikums an den Ereignissen der Geschichte, diese Neugier für die Geheimnisse des Staats, dieses Interesse für alle politischen Zustände und Begebenheiten, das den Einen so unbequem fällt, während die Anderen in ihm die zwar ungenügende, aber nothwendige Voraussetzung und das gewisse Unterpfand einer künftigen praktischen Theilnahme erblicken – dieses Ganze ist erst durch den
23
Prutz. Geschichte. S. 1. Im Folgenden der bibliographische Nachweis unter der Sigle PG mit Seitenangabe.
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
Journalismus, speciell durch das Zeitungswesen, überhaupt zu Wege gebracht worden. (PG 19)
Famas Neugierde begründet Famas Ruhm: Moderne Zeitungsvernunft besteht in der externalisierten Neugierde, die der Ausweis praktischer Teilnahme der Menschen an ihrer Geschichte und ihrem Staatswesen ist. Allgemeine Teilhabe ist eine moderne politisch-kulturelle Praxis, die von Prutz als selbstbezügliche Kommunikationsstruktur in und von Geschichte erkannt wird: Publizistik bringt nicht nur sich selbst hervor, sondern kommentiert auch alles andere, sie initiiert darin historische Prozesse, die sie zugleich darstellt. In diesem Zusammenhang greift Prutz die Metapher des »Tagebuchs« auf, die schon im frühen 18. Jahrhundert für die Erläuterung der Zeitung als Medium der Schrift herangezogen wurde: Der Journalismus überhaupt, in seinen vielfachen Verzweigungen und der ergänzenden Mannigfaltigkeit seiner Organe, stellt sich als das Selbstgespräch dar, welches die Zeit über sich selber führt. Er ist die tägliche Selbstkritik, welcher die Zeit ihren eigenen Inhalt unterwirft; das Tagebuch gleichsam, in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt. (PG 7)
Geschichtsereignis und kommunikativ erzeugte Geschichte fallen in dieser Weise subjektlos und kollektiv verankert in der Form Journalismus zusammen: Die »tägliche Selbstkritik« der Zeit ist ihrer Druckschriftlichkeit anhängig, und in der Zeitungspublizistik dokumentiert Zeit auf kritische Weise ihren Selbstvollzug. Die damit verbundene Fiktion ist, dass die Gegenwart (wie die Geschichte) sich selbst im Medium der Zeitung vollkommen durchsichtig sein könnte. Prutz geht es in seiner Geschichte des Journalismus um publizistische Ereignisse, indem er unterschiedliche Zeitungen, Zeitschriften und Texte als Dokumente liest, die erscheinen und historische Zäsuren hinterlassen. Zugleich ist ihm der Begriff Journalismus eine Reflexionskategorie, die historische Details strukturell rahmt. Wie Löffler den Begriff Presse in eine Geschichte als deren jüngstes Resultat einschreibt, so wird auch von Prutz der Begriffsinhalt von Journalismus von den darin aufgerufenen publizistischen Ereignissen in deren geschichtlicher Abfolge bestimmt und als eine jüngere historische Errungenschaft nach und nach in deren strukturellen Möglichkeiten ausgefaltet. Das Selbstgespräch der Zeit im Journalismus ist entelechisch auf den Sinn des Geschichtsprozess bezogen. Frei nach Hegel heißt es in der Einleitung: Die Geschichte eines jeden Dinges ist zugleich die Entwicklung seines Begriffs; in der Vergangenheit liegt sowohl der Kern der Gegenwart, als die Blüthe der Zukunft eingeschlossen. (PG 17)
So zeigt sich an der Geschichte des Journalismus ein Allgemeines von Geschichte überhaupt, das sich der steten Wechselbeziehung von publizistischer Interaktion mit Ereignisgeschichte verdankt und historisch ihre Beziehung als Wechselwirkung beinhaltet. Die Gesetzmäßigkeiten, die Prutz für den Sinn seiner Darstel-
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte
335
lung aufbietet, sind auf diese Weise dreifach verfügt: epistemologisch, historisch und politisch. Die Geschichte des Journalismus, die erzählt werden kann und muss, konvergiert mit ihrem narrativen Vollzug im Text. Prutz geht es wie Löffler um eine Überbietung des von der Zeitungstheorie bislang Geleisteten. So hält er in seiner Geschichtserzählung die philologisch und statistisch verfahrenden Bestandsaufnahmen in der Zeitungstheorie, das Gelegenheitsschrifttum zeitungskritischer Vorgänger und spekulative Ansätze in seiner Gegenwart auf mittlerer Distanz. Einerseits schließt er an Vorarbeiten an, da er sein Projekt in einer geschichtlichen Kontinuitätsbewegung sieht. Andererseits verwirft er manche Leistung auf dem Gebiet der Zeitungstheorie im Lichte neuer Erkenntnisse und Anforderungen an Darstellungsverfahren. Da die eigene Geschichtserzählung Teil eines allgemeinen, zukunftsoffenen Prozesses ist, ist sie aktuell wichtig; indem aber Gegenwart auf kollektive Aktualität epochal verkürzt wird, wird das eigene Schreibprojekt zugleich an den Rand der Krise geführt, denn nicht eine einzelne Persönlichkeit, ein Buch, ein System, sondern der Abschluß dieser Epoche wird eine That der Völker sein und eine freie Schöpfung der Geschichte. (PG 72)
Dies gilt umso mehr, als der Geschichtsforscher und -schreiber bei dem Gegenstand Journalismus auf schiere Quantität trifft. Wie schon so vielen vorher wird auch Prutz dieser Umstand zu einem Problem, angesichts dessen die Frage der Darstellung ebenfalls nicht peripher ist: So mißlich es nun ist, diese chaotische Masse in eine übersichtliche Ordnung bringen zu wollen, so glauben wir uns doch diesem Versuche nicht entziehen zu dürfen, mit dem Vorbehalt natürlich, daß wir den Stoff keineswegs völlig zu erschöpfen meinen. (PG 158)
So dienen dem Autor die Prinzipien, die seine Erzählung strukturieren, auch zur Selbstrettung angesichts der Vielgestaltigkeit eines schier unerschöpflichen Gegenstandsbereichs. Der affektive Umgang des Autors mit seiner Geschichtsarbeit zeigt sich darin, dass er zugleich abgestoßen und beeindruckt ist von der Leistung der Vorgänger im Amte, etwa bei der Sichtung spätbarocker Zeitungstheorie. Hier spiegelt sich einerseits mit historischer Notwendigkeit wider, dass deren Zeitungsschriften so ausgefallen sind, wie sie zu ihrer Zeit möglich waren. Andererseits offenbart sich für Prutz an Kaspar Stielers Zeitungsbuch der »Geist« einer »Geistlosigkeit«, der »das Ganze entworfen und geschrieben« (PG 33) habe. Abgestoßen ist der idealistisch verfahrende Autor des mittleren 19. Jahrhunderts, weil seine eigenen Darstellungsverfahren nicht mehr auf die »Compilation« (PG 27) setzen. Der aus früheren Zeitungsdiskussionen bekannte Topos, dass im Vermischten sich die Unordnung zeige, kehrt bei Prutz als Aspekt darstellender Zeitungstheorie wieder. Er schreibt über Christian Weise, bei dem er zeittypische Vermischtheit diagnostiziert:
336
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
Zwar was das Buch selbst angeht 24, so verhält es sich damit, wie mit allen gelehrten Unternehmungen unsers Weise. Sie sind (ein buntes Gemisch von Theologischem, Grammatikalischem, Oratorischem, Statistischem, Historischem u. s. w.) sämmtlich Compilationen, wie sie dem encyclopädischen, polyhistorischen Charakter jenes Zeitalters entsprechen. (PG 27)
Positiv beeindruckt zeigt sich Prutz aber auch, wenn er über die Leipziger Acta Eruditorum sagt, dass hier die »äußerste Stufe der Universalität« (PG 277) erreicht worden sei. Und der in stofflicher Hinsicht Grenzen überwindende gelehrte Universalismus, so seine These, habe bereits eine auf kommunikativem Austausch beruhende Öffentlichkeit hergestellt, zumindest im Kollektiv einer international tätigen Gelehrtenschaft. Das publizistische Verhalten in der respublica litteraria konnte bestimmte Provinzialismen und kommunikative Selbstbeschränkungen bereits überwinden. Neben der enzyklopädisch ausgreifenden Kommunikation interessiert Prutz insbesondere das operative Verständnis von Publizistik, das parallel zu den enzyklopädischen Verfahren im späten 17. Jahrhundert auftritt. Diese historische Konstellation arrangiert Prutz kritisch über den Begriff des Charakters, der ihm für das kritische Verfahren selbst einsteht: Doch dürfen wir auch die Schattenseiten nicht verbergen. Es war nicht möglich, diesen großartig encyclopädischen Charakter zu erreichen, ohne von demjenigen einzubüßen, ja völlig darauf zu verzichten, was eigentlich Charakter ist: eigene Ansichten, selbständiges Urtheil, sogar nur eine eigne Sprache. (PG 278)
Der Held des Umschlags von enzyklopädischer Charakterlosigkeit in den eigentlichen Charakter von Kritik ist für Prutz Christian Thomasius, an dessen Person er das Wissensmodell eines literaturkritischen iudicium verhandelt, das sich nicht länger allein philologisch für Gedrucktes interessiert. Hier wird der Publizist exemplarisch als neuer historischer Typus erkennbar, streitlustig im Kampf gegen eine methodisch beharrende Orthodoxie antretend und gegenwartsbezogen, gesellschaftskritisch arbeitend. In diesem Sinne hat Thomasius für Prutz das politische Erbe der Reformation angetreten. In der Zeitungstheorie, so Prutz, habe allerdings erst Joachim von Schwarzkopf im »statistischen« auch das »politische« (PG 51) Moment des Zeitungswesen berücksichtigt. Die Behauptung, dass es in der Zeitungstheorie seit dem späten 17. Jahrhundert noch nicht um das Politische gegangen sei, hängt mit Prutz’ eigener Auffassung von Theorieschrift zusammen, die die geschichtlichen »Thatsachen« (PG 17) durch die richtige Form der Darstellung zu läutern habe. So ist es für ihn auch eher eine »Pflicht der Pietät« (PG 22), an manche gelehrte Abhandlungen auf dem Feld der Zeitungstheorie zu erinnern, im Unterschied zu Autoritäten wie Thomasius und Lessing, an die er positiv anschließt. Wie Löffler setzt Prutz darauf, dass System und Geschichte zu verbinden sind, so dass seine Darstellung sich als wissenschaftlich erweist und seine Methode 24
Gemeint ist Christian Weises Schediasma.
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte
337
notwendige Ergebnisse hervorbringt. Darin begründet seine Geschichte auch den Anspruch, korrekturbedürftige Realpolitik zu kommentieren. Das Ziel ist wie für Löffler auch für Prutz die »Erledigung der Zeitungsfrage«, doch wechselt er den Schauplatz der Erkenntnis bringenden Gesetzmäßigkeit: Hier, in der Geschichte seiner bisherigen Entwicklung, nicht in Kabinetsordres und Censurinstructionen, auch nicht in den bestgemeinten, liegt das wahre Zeitungsreglement, welchem Redacteure und Mitarbeiter zu folgen haben; hier erst gewinnen die schwankenden Kategorien, welche jene Instructionen aufzustellen pflegen, ihre wesentliche und unabweisbare Bestimmung; hier wird den Zeitungsschreibern für ihre Leistungen, den Zeitungslesern für ihre Anforderungen, ja den Censoren für die Beschränkungen, welche sie aufzuerlegen haben, ein berichtigender Maßstab in die Hand gegeben; hier endlich werden die Freunde wie die Feinde der Tagespresse über das Recht ihrer Partei, über die Wirksamkeit der erwählten Mittel, über die Wahrscheinlichkeit der gewünschten Erfolge den vollständigsten und sichersten Aufschluß finden. (PG 18)
So rettet er die Rolle der Geschichte als Lehrmeisterin für die Gegenwart, bringt die Erfahrung doch die Gesetze hervor, nach denen zu handeln ist. Die vielen Zeitungen und Zeitschriften, die sich beim ersten Augenschein in einer »unübersehbaren Zersplitterung« (PG 59) zeigen, sind von Gesetzen umstellt, deren Einhaltung zugleich die Möglichkeit der Erzählbarkeit von Ereignissen, Formen und Gesetzmäßigkeiten beinhaltet. Die Geschichte des Journalismus ist in diesem Sinne Spezialgeschichte einer umfassenderen Literaturgeschichte, die ihrerseits Teil der allgemeinen Geschichte bleibt: »Erst in der Literaturgeschichte, als Geschichte, findet auch das historische Moment des Journalismus seinen Platz.« (PG 11) So enthalten sich vorgeführte Teile und das Ganze wechselseitig und die Narration erzeugt symbolische Platzhalter für wechselseitige Inklusionen. So kommt es dann auch darauf an, den »Journalismus« als eine »Totalität« zu erfassen, wo wiederum »Politik und Literatur nur verschiedene Formen Eines Inhalts« (PG 60) sind. Die Geschichtserzählung schützt sich auf diese Weise vor dem Verlieren in Details und Zusammenhanglosigkeit, was gerade bei den »unscheinbaren Zuständen der Kleinen und Namenlosen« (PG 3) geschehen könnte, die aber zu Unrecht bislang noch nicht dargestellt worden sind. Der Text arbeitet mit einem Beziehungsnetz, das die ästhetischen Korrelate historistischer Geschichtsauffassung vorführt:25 Die moderne Literaturgeschichte dagegen hat die Continuität des Geistes zu ihrer Voraussetzung. Nicht sowohl das Wie kümmert sie, sondern viel mehr noch das Woher, die geistige Entstehung, das allmälige Werden, die allgemeinen geistigen Beziehungen des Buches. Ja mehr als das einzelne Buch kümmert sie der Autor im Ganzen, seine geistigen wie sittlichen Zusammenhänge, der Gang seiner Bildung, die Stellung, die er
25
Vgl. hierzu Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Daniel Fulda und Silvia S. Tschopp. Berlin/ New York 2002.
338
VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
zu seiner Zeit einnimmt, die Fäden, die in ihm zusammenschießen, die neuen, welche sich an ihn anknüpfen. (PG 5)
Hier grenzt sich Prutz von der ästhetischen Schule ab, die ihm als politisch überholtes Überbleibsel der Kunstperiode gilt. Deren »ästhetisch-aristokratische Phase« (PG 4), die in eine monumentale Geschichte klassischer Nationalliteratur gemündet sei, sei nun überwunden: Die frühere Geschichtschreibung fi xirte die einzelnen Productionen als fertige Thatsachen. Sie zerlegte die ästhetische Beschaffenheit der Bücher, zergliederte ihre Schönheiten, kritisirte ihre Fehler; sie suchte eine gewisse Masse klassischer Schriftsteller gleichsam auszuhülsen und, zu allgemeiner Bewunderung, auf der Zinne der Vergangenheit, im Tempel des Nationalruhms aufzustellen. (PG 5)
Nicht aber das Buch in seiner Vereinzelung, sondern die Zeitung im Kollektiv, nicht eine allein auf formale Geltungsansprüche fi xierte Ästhetik, sondern eine eingreifende Geschichtsschreibung, nicht die kritische Zergliederung, sondern die Bindung des Einzelnen in der Kontinuität, nicht die Höhenkammliteratur, sondern das Vernachlässigte stehen jetzt auf dem Programm der Literaturgeschichtsschreibung: [A]uch die unscheinbaren Thäler, die ermüdenden Einöden müssen durchwandert und überwunden werden, indem auch sie dem großen Gebiet des Geistes und der Geschichte angehören, und wir das Ziel der historischen Einsicht, des geistigen Verständnisses nicht anders erreichen können, als durch sie. (PG 4f.)
Das Interesse seiner Zeit gilt nach Prutz bereits im Allgemeinen der kleinen Literatur und Vieles wird als »Moment des Geistes und seiner innerlichen Nothwendigkeit« gewürdigt, wie Briefwechsel, Tagebücher, Memoiren und was diesem ähnlich ist [...]; daher das Gewicht, welches man auf alle persönlichen Notizen, auf die Zwittergattung literarischer Portraits und Genrebilder legt. (PG 6)
Dabei schlägt auch das Sammeln und Sichten der kleinen Momente, Ereignisse, Genres, kleiner Literatur und Medien selbst ins Monumentale um, wenn damit die Bedeutung einer Persönlichkeit gewürdigt werden soll. In Prutz’ logisch-genetischer Reihe folgt aus der Anerkenntnis von »persönlichen Notizen« und anderer kleiner Formen daher endlich die Vorliebe für Gesammtausgaben, selbst älterer und minder gelesener Schriftsteller, weil immerhin aus ihnen ein Totaleindruck, eine lebendige, vollständige Persönlichkeit entgegentritt, deren Zusammenhang mit der Gesammtheit unserer Entwicklung bei Weitem leichter zu begreifen und in ihrem Verständniß bei Weitem fruchtbarer ist, als wenn nur ein einzelnes Werk, eine abgesonderte Dichtung dargeboten wird. (PG 6)
Prutz sammelt selbst das Vernachlässigte zugunsten eines Monuments Journalismus, so dass der angestrebte »Totaleindruck« funktionales Äquivalent von Gesamtausgaben wird. Die Würdigung des Vernachlässigten ist angesichts der un-
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bestreitbaren gesellschaftlichen und historischen Persistenz von Zeitungen und Zeitschriften eine bedenkenswerte Angelegenheit. Die Schwierigkeit des Unternehmens einer Geschichtsdarstellung liegt allerdings in eben dem ungeheuren Umfang des Materials [...]; die Tausende von Bänden, die hier, wenn auch nicht jederzeit durchgelesen, doch durchblättert und geistig überwunden, die Vorräthe von Notizen, Auszügen und Anmerkungen, die hier zusammengebracht werden müssen. (PG 12)
Diese statistische Objektivität trifft bemerkenswerter Weise auf ein »superiöre Verachtung«, welche unsere Gelehrten gegen den Journalismus empfinden oder doch zu empfinden vorgeben. Was treibt der Mensch? Er schreibt in die Zeitungen – armseliger Mensch! Was liest er? Er liest Zeitungen – armselige Lectüre! (PG 11f.)
Die soziale Seite des Vorhabens wird hier wiederum mit einer ästhetisch-historistischen Einschätzung verbunden: es sind die ungehobenen Schätze, die in jeder ungeschriebenen Geschichte verborgen ruhen. So wird ein überkommenes Argument von Zeitungstheorie, die auf den publizistischen Mehrwert von bislang Ausgeschlossenem verweist, umgeschrieben. Doch handelt es sich dabei um eine schon ruinierte Geschichte, deren Wiederherstellung nur noch fragmentarisch gelingen wird, weil Vieles aufgrund der Missachtung des Journalismus verloren gegangen ist. Aber jede Ruine ist den Versuch wert, weil in den Resten des Untergegangenen die Begegnung mit dem Großen und Lebendigen Lockung und Versprechen ist. Prutz greift hier auf das zeitgenössische Bildgedächtnis zu, das sich mit dem gerade wieder ausgegrabenen Pompeji beschäftig. Ihm ist Pompeji ein ausgezeichnetes Interpretament für die Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart: Wir treten, indem wir uns in die vergelbten Jahrgänge alter Zeitungen vertiefen, wie in eine Todtenstadt, ein anderes Pompeji, in welchem wir ein längst entschwundenes Geschlecht plötzlich, als ob wir das Rad der Zeit zurückbewegen könnten, in der ganzen Unmittelbarkeit seines täglichen Daseins, im innersten seiner häuslichen Zustände überraschen. Und wie man aus dem verschütteten Pompeji Urnen und Salbgefäße ausgegraben hat, die selbst den Duft ihres Inhalts, das Arom ihrer Kostbarkeiten erhalten hatten: so weht auch aus den aufgedeckten Schachten des Journalismus uns jenes wundersame Lüftchen an, das die eigentliche Lebensluft jeder historischen That, der lebendige Athem jedes bedeutenden Ereignisses ist – jene Luft, ohne deren reinigenden Hauch der Horizont des Geschichtschreibers ewig bewölkt bleibt, und die doch in unserer eigenen Gegenwart von so Vielen so leicht verkannt wird: die öffentliche Meinung vergangener Jahrhunderte, die hier (und hier allein) ihre wandelbare Erscheinung befestigt hat. (PG 7)
Das hermeneutische Pathos, mit dem hier auf den gehaltvollen Tiefenraum des Geschichtlichen verwiesen wird, zeigt sich von ›römischer‹ Fama inspiriert: Es geht Prutz um den Ruhm des republikanischen Geistes. Dieser teilt sich in einer Geschichte der Journalistik seit der Reformation als eine Geschichte der Öffentlichkeit und des Publikums mit. Prutz verfolgt keine klassizistische Aneignung
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des Vergangenen, sondern setzt auf die republikanische Überbietung alter Zeiten. Die historisch ausgezeichnete Schwelle zwischen Alt und Neu ist wie bei Löffler technikgeschichtlich durch die Erfindung des Buchdrucks bezeichnet, die zugleich eine Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit ergibt.26 Er liest diese Zäsur frühromantisch mit Blick auf unendliche Kommunikation und wendet sich so gegen die Mittelalterverehrung anderer Zeitgenossen. Mit dem Buchdruck sieht Prutz den Vorteil der unendlichen Mitteilbarkeit gegeben, und »es ist ein Vorzug gerade des geistigen Besitzthums unermeßlich theilbar zu sein, ohne dadurch an seiner Kraft und seinem Werthe zu verlieren« (PG 84). Als Mittel von Mitteilung ist der Journalismus ein durch und durch [...] demokratisches Institut, ebenso wie die Buchdruckerkunst, die Eisenbahnen und überhaupt alle weltbewegenden, Epoche machenden Erfindungen, welche dem menschlichen Geist jemals gelungen sind. (PG 84)
Das Medium des Journalismus ist wiederum die Zeitung, die als Form und Kommunikation alles Wissen berührt: Kenntniß ist Macht: wenn überall, so namentlich in Beziehung auf die politischen Verhältnisse, die uns selbst unmittelbar umgeben. Aber diese Kenntniß stand damals, ehe der Heroldruf der Zeitungen die gefesselten Geister weckte, von Niemand zu erlangen, es sei denn von denjenigen, welche vermöge ihrer Geburt, ihres Reichthums, ihres amtlichen Einflusses, selbstschaffenden Antheil an den Ereignissen des Tages hatten. Von der Geschichte wußte nur, wer selbst Geschichte machte. (PG 84)
Die Verschränkung von individuellen und öffentlichen Kommunikations- und Verkehrstechniken zeitigte die Aufhebung einer »mönchisch mittelalterlichen Trennung« »durch die ewig rinnenden Kanäle des Journalismus«; der einsame Gelehrte kommuniziert nun mit dem Kollektiv: wohin der Gelehrte sich wendet, gebend, empfangend, fühlt er sich inmitten des Publikums, das heißt jener wundersamen Allgemeinheit, die der Journalismus geschaffen hat. (PG 87)
Das technisch fundierte Konzept der Wundermacht Buchdruck ist schließlich dehnbar bis in die Vision der globalen Völkerfamilie. Prutz’ Formulierungen nehmen in ihrem Pathos Kommunikationsutopien des 20. Jahrhunderts vorweg, die die Weltgemeinschaft als globales Dorf interpretieren. Zeitgenössisch sind seine Hinsichten wohl an Zeitungen orientiert, die mit ihren Titeln bereits auf Weltkommunikation verweisen:27 Und dagegen nun, wie mit einem Zauberschlage, das glänzende Bild unsrer gegenwärtigen Zustände! Alle Völker Europa’s, was sag ich? die Völker der Erde, von Pol zu Pol, alle vereinigt in eine einzige Familie, einen einzigen großen Leib, dessen entferntestes Glied, dessen kleinsten Nerv du nicht berühren kannst, ohne daß die leiseste Berüh-
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Vgl. Prutz. Geschichte. S. 84. Etwa das Familienblatt Über Land und Meer.
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rung, die geringste Veränderung in demselben Moment, in sympathetischem Fluge, den gesammten Leib durchzuckt! Wo ist eine Entfernung so groß, daß die Zeitungen sie nicht überwunden hätten? wo ein Winkel der Erde so entlegen, daß er nicht an Allem, was in den Mutterstätten der Bildung, den Wohnsitzen der Geschichte sich ereignet, lebendigsten Antheil nehmen könnte? Politisch, wie literarisch, ist die Physiognomie der Welt durch die Zeitungen völlig verändert und neu gebildet worden. (PG 86)
In diesem Modell von Weltkommunikation steht kein Ereignis, kein Medium, kein Kommunikat, kein Akteur mehr isoliert für sich, sondern ist Teil eines Netzwerks. Auch in seinen Vorbemerkungen ordnet Prutz abstrakte Parameter, mit denen Historiographie arbeitet, nämlich Tatsachen, Resultate und Prozesse, bestimmten Medien und Kommunikationsformen zu: Und wenn übrigens die Geschichte nur die Thatsachen, die Literatur nur die Bücher als fertige Resultate überliefert, so erhalten wir in den Journalen zugleich die Geschichte ihrer allmäligen Wirkung, der Stimmung, mit welcher man sie aufgenommen, der geistigen Umstände, die sie gefördert, der Mißverständnisse, die ihre Wirkung aufgehalten und gehindert haben. (PG 8)
Mit den Journalen gewinnt das kritische Selbstgespräch, das die Zeit als Geschichte mit sich selbst führt, eine Art Physiognomie. Prutz benutzt den Begriff »Journal« mit der Option, Zeitungskommunikation an den Bereich von Literatur zu knüpfen. So schreibt er letztlich das Selbstgespräch der Zeit symbolisch einer Tradition von literarischem Kritizismus zu, der für ihn gleichzeitig mit der Erfindung des Buchdrucks in der Reformation anhebt, zunächst die Flugblattpublizistik bestimmt hat und über Gewährsleute wie Thomasius und Lessing bis auf seine Zeit weitervermittelt wurde. Mit der Publizistik eines ›literarischen Journalismus‹ wird eine bestimmte Traditionslinie des bürgerlichen Kritizismus abgerufen, der für Prutz die Geschichte herstellende gedruckte Öffentlichkeit und darin die republikanische Teilhabe idealiter präformiert hat und sich nun in den objektiven Zügen von zeitungsgestützter Weltkommunikation in der Mitte des 19. Jahrhunderts fortzusetzen scheint. Nun schreibt Prutz aber keine allgemeine Medien- und Kommunikationstheorie, die sich überhistorisch für allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Strukturen interessiert, sondern er schreibt über allgemeine, entelechische Prozesse in historischer Perspektive. Die Darstellungsabsicht, die auf Einheit der Geschichte und deren gesetzmäßige Fortschritte zielt, steht dabei in großer Spannung zu ihrem höchst variantenreichen Gegenstand, der eben diesen Vorgaben sich immer wieder zu entziehen droht. Dieser Umstand verlangt eine erhebliche Konzentration auf die eigene Formgebung in der Darstellung. Sie soll den Ansprüchen, die sie thetisch aus ihren Erwartungen an Geschichte ableitet, in nichts nachstehen. Seinen hochgespannten Maßstab hält Prutz gleich zu Beginn für sein Schreibprojekt fest, wo er zur Eintheilung des Stoffes schreibt: [W]ie das ganze Buch, so wird auch die Ordnung, welche wir in ihm befolgen, sich durch sich selbst rechtfertigen und sich durch ihre eigne Übereinstimmung als zweckmäßig, sogar als nothwendig erweisen müssen. (PG 59)
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Dies steht in der rhetorischen Tradition von Zeitungstheorie, die hofft, über die rechte Einteilung ihres Gegenstandes habhaft zu werden, in dem Fama in monströsen Dimensionen lauert. Die Ordnung ist der Ariadnefaden, den auch der Leser benötigt: Denn beim ersten Eintritt in ein unübersehbares, labyrinthisches Gebiet, wem würde es nicht willkommen sein, wenn ihm gleich Anfangs auch an dieser scheinbaren Unordnung das Gesetz der Ordnung nachgewiesen und ein allgemeinster Aufriß des Weges gegeben wird, der ihn durch dieses Labyrinth hindurchführen soll? Ein solches Gebiet aber, bei der ungeheuren Ausdehnung seiner Grenzen, sowie namentlich bei der unübersehbaren Zersplitterung seiner Elemente, ist der Journalismus. Und so wird auch das Nachfolgende hoffentlich an seinem Platze sein. (PG 59)
Ordnung gerinnt mit der Erzählung der Geschichte zum Topos ihrer selbst, wenn die Darstellung als ästhetisches Arrangement allem, was sie vorführt, einen Platz von Rechts wegen zuweisen kann. Der »allgemeinste Aufriß«, mit dem Prutz beginnt, stimmt programmatisch auf die Verfahren seiner Ordnungsweisen ein. Drei Bücher sollen es werden, mit je drei Kapiteln, wobei Makro- und Mikrostrukturen sich aus historischen Gesetzen ergeben, die von Zäsuren, Formen der Stagnationen und der Weiterentwicklung erzählen. Es handelt sich – vergleichbar Herders fragmentarischer Zeitungsgeschichte – um einen Idealplan für eine Geschichte des Journalismus. Dieser ist dem Autor im Schreib- als Darstellungsprozess dann entglitten. Schon das Vorwort zu dem ersten und auch einzigen Band von 1845 räumt ein, dass ein Grund für das Misslingen des Geplanten in der zerstreuten Überfülle des Materials und einer komplementären Fülle kaum abschätzbarer Lücken durch Verluste zu finden sei (s. PG V). Der Widerstand, den das Material gegen Kontinuität und Vollständigkeit entfaltet, liegt also auch auf unverfügbar objektive Weise außerhalb des Schreibprojekts, das der Historiograph als Erzähler seiner Geschichte auktorial beherrscht. Prutz gelangt mit seinem ersten Buch, das schließlich allein veröffentlicht wurde, »bis auf Entstehung und Ausbreitung der belletristisch-kritischen Zeitschriften« (PG V) in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Doch bereits dieser Teil nicht geringen Umfangs lässt pars pro toto erkennen, wie die ganze Geschichte der Absicht nach entfaltet werden sollte. Und in den unterschiedlich gewichteten Details, die Prutz einmal länger, einmal kürzer ausführt oder deren Auslassung er vermerkt, bleibt der Ariadnefaden wenn nicht der einen Ordnung des Textes, so doch des einen Willens zur Ordnung erhalten. Zahlreiche erzähltechnische Strategien werden angewendet, um die historiographische Schrift sicher über die Abgründe der vielen Ruinen und Mengen zu geleiten. »Täler« werden dabei durchaus durchschritten, aber nur, um schnell wieder auf die Höhen des Ruhmes zu gelangen. Während die Einleitung rhetorisch mit einer kulturuniversalistischen Inklusionsbewegung wirbt, die auf das bislang Missachtete verweist, werden in der ausgeführten Darstellung der Geschichte des Journalismus ganz bestimmte Zeitungsprojekte favorisiert, andere dagegen zügig abgehandelt oder auch als irrelevant übergangen. Mit diesen Reduktionen und Aussparungen im Rahmen
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postulierter Allgemeinheit des »demokratischen Instituts« (PG 84) Journalismus kann diesem das Textmonument errichtet werden, das ihn in seiner historischen Bedeutung kritisch würdigt. Die Erzählung von Höhenkamm-Zeitungsliteratur, ihren Heroen, paradigmatischen Konstellationen und Momenten, die aus der Stagnation in den Fortschritt übergehen, erweist sich dann als symbolisches Korrelat von Zeitungswürde und ihrer geschichtlichen Vernunft. Die Ordnung der erzählten Geschichte sieht vor, dass das Monument »Journalismus« angesichts genuiner Vielfältigkeit nicht ausufern kann. Demokratisch bleibt die Darstellung dort, wo sie die Sinngebung von Geschichte durch das bislang missachtete Kleine und Unscheinbare in den Blick nimmt. So wappnet sich der Historist als Zeitungsapologet ästhetisch, wenn er den schwierigen Stoff und die damit verbundene Zeitungsfrage teleologisch durchdringt. Allerdings benutzt Prutz eine erhebliche Anzahl unterschiedlicher Figuren,28 um diachrone Prozesse und synchrone Gegebenheiten vorzuführen: Mit organologischer Metaphorik spricht er von Entwicklungsvorgängen zwischen »Samen«, »Keim« (PG 245) und »Blüte« (PG 142); in Phasenmodellen führt er die Ausbreitung eines bestimmten Typus, die Sättigung und schließlich Ermüdung und Erschlaffung vor (s. PG 123, 127); nach Phasen der »Konzentration« (PG 171) bestimmter Bewegungen in einem Publikationsorgan stellt er »Abspannung« (PG 246) und »Verknöcherung« (PG 247) in nachkommenden Unternehmungen fest; auf Kommunikations- und Verkehrswege spielt er an, wenn der Journalismus sich seine »Kanäle« (PG 245) sucht, in »Strömungen« (PG 89) sich verbreitet und in Ströme teilt (s. PG 341). Alles, was im Journalismus entsteht, das Gute wie das Schlechte, das erzählend Ausgebreitete oder nur kurz Vorgeführte, dehnt diesen zu einem »ungeheure[n] Körper«, zeitigt »Übergänge und Verzweigungen«, »Ansätze und Stufen« (PG 341), bestimmt »Landschaften« (PG 358) mit Zentren und Provinzen. Zeitungen (wie die Acta Eruditorum), Zeitungsleute (wie Thomasius), Herrscher (wie Ludwig XIV.) und Nationen (wie die europäischen) prägen als geschichtsmächtige Subjekte Zäsuren aus, vermitteln Übergänge oder beherrschen Epochen (s. PG 252). Sie handeln affektiv, bewirken Triumphe und Niederlagen. Die zwischen Bestandsaufnahme, Analyse und literarischer Beschreibung changierenden Narrative organisieren die Verhältnisse von Räumen und Zeiten und schreiben abstrakte Gesetzmäßigkeiten operativ ein. Das »Gesetz des Gegensatzes« (PG 260) zeigt sich etwa im Vergleich von totem und lebendigen Journalismus (s. PG 15) in Vergangenheit und Gegenwart, innerhalb einer Epoche (s. PG 246), bei unterschiedlichen Persönlichkeiten (s. PG 344), bei unterschiedlichen Landschaften (Nord- und Süddeutschland), zwischen Protestantismus und Katholizismus (s. PG 362f.). Auch in der Konfrontation von historisch-politischer Zeitung und literarischem Journalismus zeigt sich dieses Gesetz. Aus der zeitgleichen Erscheinung entgegengesetzter Formen geht die wechselseitige 28
Vgl. Hayden White. Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986.
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Durchdringung und dialektische Umkehrung von Prinzipien hervor, die ebenfalls die Konturen der historischen Prozesse bestimmen: Nun läßt sich aber ferner keine formale Entwicklung denken, die so ausschließlich nur formal wäre, daß sie nicht zugleich irgend welche Änderung, Umstellung oder Entwicklung des gesammten Inhaltes in sich schlösse. Es konnte daher auch die formale Ausbildung unsers Journalismus von der Relation zur eigentlichen Zeitung nicht vor sich gehen, ohne daß nicht gleichzeitig die gesammte Stellung dieses Journalismus eine andere geworden wäre. Oder auch umgekehrt: die gesammte Stellung unsers Journalismus mußte bereits innerlich eine andere und neue geworden sein, um diese neue Form überhaupt nur hervorzubringen. Denn diese beiden Dinge gehen allemal Hand in Hand. (PG 170)
Mittels derartigem theoretischem Innehalten angesichts der Formen, die der Geschichtsprozess hervorbringt, hebt der Erzähler diesen auf eine nächsthöhere Stufe. Die aus den dialektischen Umschlagsfiguren neu hervorgehenden Zeitungsund Zeitschriftenunternehmungen können wiederum als Ausweis der erreichten Entwicklungsstufe gesehen werden. So wird das Spätere als stete Konsequenz eines vorausgegangenen Zustands ausgewiesen und das Kommende lässt sich spekulativ aus dem Bestehenden ableiten. Die geschichtsphilosophische Erzählkunst stiftet auch den Ursprung der Geschichte des Journalismus, und zwar in der Beziehung zwischen Reformation und Flugblattpublizistik, deren Texte Prutz als modellhafte Literatur für das kritische Selbstgespräch der Zeit aufwertet: Daß zwischen beiden Ereignissen noch ein anderes und werthvolleres Band besteht, als nur die Rücksicht der Zeit, und daß daher auch diese nicht als etwas Zufälliges behandelt werden darf, werden wir späterhin erweisen. (PG 61)
So ist in den Anfang der Geschichte, die er erzählen möchte, bereits der Sinn eingetragen, dass zuerst die Geisteshaltung der Reformatoren die Geschichte des gedruckten kritischen Geistes beinhaltet, der sich seine Öffentlichkeit und sein Publikum gesucht hat. Ergänzt werden musste dies später von den strukturellen Konsequenzen der periodischen Publizistik, die ihrerseits technisch fundierte, was der Protestantismus kritisch vorsieht: die regelmäßige, persistente Teilhabe aller Menschen an Geschichte und ihrem Fortgang. Schließlich folgen Prutz’ Vergleiche zwischen einer älteren und neueren Stufe dem Modell der Analogie. Dieses erlaubt, zwischen historisch differenten Stufen der Formausprägung Gleichungen ohne Unbekannte zu bilden, auch wenn sich dazwischen etwas geändert hat. Prutz zieht gerne eine Geschichtssumme über Analogien: Der gelehrte Journalismus und die Pietisten gehen ebenso neben einander, wie die Reformation und die Zeitungen; wie dort die Theologie, in Gestalt der Flugschriften, Postreuter sc. in den politischen, so geht sie hier, in Form der theologischen Fachzeitungen, in den gelehrten Journalismus über: oder auch, nimmt den gelehrten Journalismus in sich auf. (PG 367)
Einfache Entgegensetzungen und Parallelitäten werden so wieder und wieder in das temporalisierte Stufenmodell eingetragen, das über Zäsuren und Übergänge
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Auskunft gibt, Epochen als Haupt- oder Zwischenzeiten definiert. So werden aus zweistelligen Konstellationen dreiwertige Umschriften, die im Schema der Entgegensetzung den erzählten Geschichtsprozess in Gang halten: Folgt auf a zunächst b, so existiert danach noch eine Weile a neben b, dieser Beziehung folgt c als dritte Option aus a und b, d erweist sich als verschobene Wiederaufnahme von a oder b oder ihrer Verschmelzung in c, und so fort. In diesen Prozessen bleibt, neben den die Summe ziehenden Gleichungen mit Bekannten, dann auch ein Sinnüberschuss als historischer Rest bestehen. Dieser Rest kann auf einer nächsten Stufe von einer nächsten Form als Verwirklichung eines je Neuen wieder aufgegriffen werden. Stehen sich beispielsweise Luthertum und Papsttum als gegensätzliche Tendenzen zunächst noch lebhaft gegenüber, so folgt eine Zeit der dogmatischen Erstarrung, die einerseits zur Verunmöglichung des Fortschritts führt, andererseits gilt, wie Prutz schreibt, in den »Zeiten des Kampfes« eine absichtliche Beschränktheit, eine Art vorsätzlicher Bornirtheit [...]; die Zukunft sorgt schon dafür, das Einseitige zu berichtigen und eine Bornirtheit durch die andere aufzuklären. (PG 63)
Die triadischen Figurationen halten die schematischen Entgegensetzung in der Darstellung in Bewegung und schreiben den Fortschrittsgedanken in den Geschichtsverlauf ein: [D]ie abstract-religiöse [Epoche], reicht von der Reformation bis auf Klopstock; ihre bestimmenden Mächte sind die Theologie auf der einen Seite und auf der anderen die abstracte, encyklopädische Gelehrsamkeit, die zum Supplement der inneren Öde dienen soll. Die zweite, die ideell-ästhetische, geht von Klopstock bis auf Goethe; ihr herrschender Genius ist die Kunst. Endlich die dritte und gegenwärtige, welche einerseits mit der französischen Revolution, andrerseits mit Kant beginnt, die praktischpolitische; in ihr ist die Philosophie die treibende Macht der Zeit. (PG 72)
Den drei Epochen, die von Religion, Kunst und Philosophie bestimmt sind, entsprechen drei Formationen des Journalismus: »der theologisch-gelehrte, der belletristisch-kritische und der philosophisch-politische« (PG 72) Journalismus. Der Reformation und ihrer Publizistik war es, so Prutz, vergönnt, die Moderne einzuleiten, indem hier »die Autonomie des Geistes, die unendliche Berechtigung des Individuums, als Bewußtsein der Welt, als Princip der Geschichte proclamirt worden ist.« Damit ist das »reformatorische Princip« (PG 62) gewonnen, in dem der Geist des Journalismus verankert ist. Dabei reichte es nicht hin, nur dieses Prinzip auf die Welt zu bringen. Es genügte nicht, dass vom Himmel her eine Anweisung auf Recht, Freiheit und Wohlfahrt mitgegeben wird: sondern diese Anweisung muß auch auf Erden realisirt werden. Wir müssen zum Rechte den Besitz, zum Himmel in uns die Erde um uns erwerben. (PG 66)
So tritt in den im Ursprung hervorgebrachten Differenzen ein Sinnüberschuss zu Tage. Er verweist auf unabgegoltene Reste, die seit dem reformatorischen Anfangen auf der Welt sind und die Heilung im Ganzen immer wieder durch die
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Produktion neuer Differenzen aufgeschoben haben. Prutz’ Geschichte arbeitet mit den Denkmustern idealistischer Geschichtsphilosophie, die er bis zur religiösen Überhöhung für die Epochen seiner Triade auslotet: Was jener [nämlich Lessing] gewußt hat und verkündigt, stellt dieser [nämlich Goethe] dar und lebt es. Er ist der Messias, auf den der Johannes Lessing hingewiesen hat; wie Lessing das Bewußtsein, so ist er die Energie, die lebendige Wirklichkeit des schönen, des künstlerischen Subjects. (PG 68)
Die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz wird am Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Signum der Kunst in die Immanenz selbst verlagert, denn die Kunst hat als »Darstellung des Schönen« das »Jenseits im Diesseits verkörpert«, den »Leib als Geist« und die »Erde als Himmel« (PG 66) erkannt und dargestellt. Ausgelebter Buchstabe wird aber gleichwohl wieder Geist, wo dem Zeitalter der Kunstperiode die Vermittlung zwischen dem »Irdischen und Himmlischen« gelungen ist, aber »nur in ideeller Weise« (PG 68). Im Selbstverständnis der Generation, die im Anschluss an und nach Hegel schreibt, kann Prutz seiner Gegenwart so eine letzte Münze zuspielen, die in seiner Geschichtstriade noch vorrätig ist. Inzwischen habe die Philosophie die Kunst an Erkenntniskraft überholt und einer vorläufig letzten Differenz zur Realität verholfen, hier treffen »absolute[r] Geist« und »absolute[] Praxis« aufeinander: Zu derselben Zeit, da unser politisches Leben zu erwachen anfängt, erwacht auch das philosophische; der absoluten Praxis geht, mit überholenden Schritten, die Theorie des Absoluten voraus; was wir in der Politik einstweilen noch an Terrain einbüßen, haben wir in der Philosophie doppelt und dreifach gewonnen. (PG 70)
Strukturell wiederholt sich in der Gegenwart das reformatorische Prinzip unendlicher Mitteilbarkeit in der Aufspaltung, die das Künftige der Idee nach in die Realisationsmöglichkeiten der Gegenwart einschreibt. So ist der Reflexionshorizont philosophischer Schrift auch kein bloßer »Ersatz« (PG 70) für nicht Gegebenes, sondern realitätshaltiges »Unterpfand« auf die Zukunft. Und so stellt Schrift gewordener Geist seine neuen Forderungen an die Gegenwart, die erkennen soll, was die allernächste Zukunft bringen sollte, Selbstbestimmtheit in umfänglicher Weise, nämlich politisch, national und kollektiv: Als ein Unterpfand, ein unabweisliches, unwiderrufbares, unsrer künftigen politischen Freiheit haben wir diese geistige zu betrachten, welche unsre Philosophen uns erstritten und zum eigenem Bewußtsein gebracht haben. Es ist unmöglich, daß ein geistig mündiges Volk, eine Nation von Denkern und Weisen (und wie schmeichelt es uns, wenn wir uns so nennen hören!) immerdar politisch unmündig, ein Volk von Sklaven und Knechten bleibt. Wir haben die Selbstbestimmung als die eigentlichste Wesenheit des Geistes, die Mutter aller Dinge, erkannt: und bloß in unserm staatlichen Leben sollten wir zu dieser Selbstbestimmung nicht gelangen?! (PG 70)
Der Subtext der Erlösung im umfassenden politisch-kulturellen Sinne kommt bei Prutz alles andere als verschämt daher. Die Hoffnung auf kollektive Selbstbestimmung akzentuiert das Selbstgespräch, das die Zeit in der Publizistik mit
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sich selbst führt, ideologisch; affektiv abgeleitet wird dies im rhetorischen Überschwang, der Prutz’ Darstellung kennzeichnet: Der Lessing derselben [gegenwärtigen] Periode ist Hegel, der Mann der Kritik und des Bewußtseins, das er ebenso für seine Zeit ausspricht und feststellt, wie Lessing für die frühere. Ob wir auch einen Goethe erwarten dürfen? Wir glauben nicht. Der Inhalt dieser Epoche ist zu reich, zu allumfassend, als daß ein einzelner Mensch, und sei es der höchstgestellte, der von den Göttern geliebteste, ihn so rein erschöpfen und zur Darstellung bringen könnte, wie Goethe den Inhalt seiner Zeit. Darum nicht eine einzelne Persönlichkeit, ein Buch, ein System, sondern der Abschluß dieser Epoche wird eine That der Völker sein und eine freie Schöpfung der Geschichte. (PG 72)
Der hier Schreibende sieht sich selbst wohl nicht als neuer »Goethe« oder »Hegel«, sondern eher in der Rolle eines Verkünders, der auf Kommendes verweist. Darin gleicht sein Selbstentwurf demjenigen von Löffler, insofern auch Prutz Vor-Schriften für Künftiges entwirft. Prutz’ Vorstellungen von einer möglichen Erledigung der Zeitungsfrage hängen an den Strukturen des geschichtsphilosophischen Diskurses, der den Schreibenden in einem hohen Maße in die Selbstbezüglichkeit seiner Darstellungsformen verwickelt. Sein Text antwortet auf die Zeitungsfrage in doppelter Weise: auf die Formen disparater Zeitungstheorie und die Formen von praktischer Zeitungsperformanz. Diese Verdopplung der Zeitungsfrage wird sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart bezogen. Beiden Seiten, Zeitungstheorie und Zeitungsperformanz, tritt er mit theoretischer Praxis, mit eigener Darstellung entgegen und betreibt eine archäologische Gegenlektüre, die Gesten einer monumentalen ›Aufhebung‹ des Fragmentarischen und Kleinteiligen praktiziert: Und darum am wenigsten zürne man dem Verfasser dieses Werkes, daß er diesen uninteressanten, langweiligen Relationen so vielen Raum verstattet hat! Wird doch von unsern »vaterländischen Vereinen«, unsern »historischen Gesellschaften« allerhand Abfall, alte Scherben, Lanzenspitzen, Lederriemen, mit behaglicher Vielgeschäftigkeit gesammelt und als Denkmäler unsrer Vorzeit aufgespeichert. Warum nicht dem Abfall der Literatur dieselbe Ehre erweisen? Der rarste Aschenkrug, den unsre Antiquare ausgraben, ist endlich doch nur eine Scherbe: so gönne man auch diesen Scherben der Literatur ihr Recht und verschmähe es nicht, auch aus ihnen den Geist, der einst das Ganze belebte, herauszulesen. Vielleicht, daß sie nicht ganz so unfruchtbar sind, als es scheint. (PG 169)
Die provozierende Geste, sich dem »Abfall der Literatur« zu widmen, bietet der Gegenwart die Stirn, indem sie sich ihre Autorität aus dem protestierenden Geist der Reformation und der Geschichtsphilosophie her erschreibt.29 Die Ergänzung verstreuter Teile zum Ganzen der Geschichte widerstreitet damit aber auch der Seite von Fama, die in der Publizistik komplementär zu allen Vereinheitlichungsund Kollektivierungstendenzen immer auch auf unendliche Zerstreutheit in der Menge verwiesen hat. Die Ordnung von Prutz’ Geschichte des Journalismus tri-
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Darin ist Prutz der jungdeutschen Literatur und Heinrich Heine verwandt.
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umphiert in der Darstellung selbst über das Zerstreute und Heteronome, insofern sie vorsieht, dass jedes Fragment bei richtiger Betrachtungsweise starken Sinn, pars pro toto, hervorbringt. Nicht erfasst von der Historisierung durch eine Ursprung setzende Tat des Protestantismus bleiben bei Prutz zwei Unterscheidungspaare, mit denen er (ebenfalls nach Hegel) Sinnstiftung betreibt: zwischen eigentlicher und uneigentlicher sowie innerlicher und äußerlicher Geschichte. Sie stehen dem Projekt, die Geschichtlichkeit des Journalismus mit der positiven Lesart einer unendlichen Teil- und Mitteilbarkeit zu verbinden, entgegen. Das in diesem Konzept aufscheinende formalästhetische Verständnis für eine Kommunikations- und Medienlandschaft, die fortlaufend und unbegrenzt Vieles hervorbringt, wird mit diesen Differenzpaaren erneut an ethische Hinsichten gebunden, die als ahistorische Setzungen die Werte in Prutz’ Geschichte des Journalismus bestimmen. Beide Dichotomien unterlaufen auch die spekulative Triade, die in der Interaktion von gesetzgebendem Vater, inspirierendem Geist und verwirklichendem Sohn zustande kommt. Denn ihre Logik als Gegensatzpaar lässt ein Drittes als höhere Stufe und Zugewinn gerade nicht zu. Zwar bezieht Prutz sie in jede Stufe des Entwicklungsprozesses mit ein, indem er hier eigentliche und innere von äußeren und uneigentlichen Formen der Entwicklung trennt, doch bringen diese Differenzpaare die Figur der Entgegensetzung in unterschiedlichen Formen des Journalismus dabei moralisch und darin unhistorisch auf den Punkt. So wird die Objektivität der unterschiedlichen Entwicklungen von Publizistik, die Prutz in seinem historiographischen Rapport festhalten möchte, ideologisch vereinnahmt in der Unterscheidung zwischen dem, was dem Ganzen zuträglich ist und demjenigen, was keinen oder nur einen geringen Beitrag geleistet hat. In diesen Bewertungen zerfällt die ganze Geschichte unheilbar mit sich selbst, muss sie sich doch einverleiben, was ihrem Progress immer auch entgegensteht. Darin werden die als solche vorgeführten Schattenseiten einer anderen, ungeliebten Moderne erkennbar, in der die Kluft zwischen Formen erlöster und unerlöster Geschichte bestehen bleibt –, um es einmal pathetisch im Sinne der Geschichtsphilosophie zu sagen. Sachlich handelt es sich um einen blinden Fleck ihrer Narrative, die mit ihrer differenzlogischen Epistemologie nicht von der Moral emanzipiert sind. Die Ethik, die in den Unterscheidungen von Innerem und Äußerem, Eigentlichem und Uneigentlichem kolportiert wird, markiert den ideologischen Einsatzpunkt für die Kulturkritik dieser Zeit. Da diese Setzungen in ihrer Geschichtlichkeit nicht zum Thema von Prutz’ Darstellungen gemacht wird, rückt damit sein ›linker‹ Hegelianismus, der doch so sehr auf der Beachtung des Abfalls der Geschichte besteht, in die Nähe des ›rechten‹ Hegelianismus der strikten Gesetzgebung, wie ihn Löffler angesichts der Unzulänglichkeiten von Presse, Pressepolitik und ihrer Wissenschaft vorschreibt. Und noch eine Überlegung wäre hier anzuschließen. Man kann vermuten, dass Prutz sein Projekt einer vollständigen Geschichte des deutschen Journalismus, trotz forcierter Rahmengebung durch leitende Ideen und Prinzipien, erzählend zu keinem Ende bringen konnte, weil in den besagten nor-
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mativen Spaltungen ein argumentatives Perpetuum Mobile installiert ist, das selbst auf unendliche Wiederholung programmiert ist, das Erlösungsversprechen triadischer Konstellation ständig unterläuft und die Gegenwart als aktive Einlösung des Restes außer Kraft setzt. Die strategische Antwort, die Prutz in den 1850er Jahren auf die Unabschließbarkeit seines Projekts gibt, wird sein, dass er mit den zwei nachgeschobenen Beiträgen dieses Projekt behelfsmäßig beendet und eine kulturalistische wie zugleich restaurative Hinwendung in seinem Deutschen Museum vollzieht.30 Was der Theoretiker von Journalismus und periodischer Publizistik damit macht, ist bezeichnend genug: Er setzt auf die gegenüber dem alten Vorhaben nüchterne Realität zerstreuter moderner Spezialisierungen und nutzt die zukunftsoffene Form publizistischer Sequenzen. Er verbindet so die Archivierung von Gegenwartsbeständen mit der Pragmatik eines Periodikums, welche publizistische Formgebung ihn von der emphatischen Bestimmung des gerade jetzt als Ganzes Erreichtes durch die zügige Supplementierung durch ein nächstes Neues entlastet.31 Die basale Zerfallenheit der Geschichte des Journalismus mit sich selbst in einer gespaltenen Moderne verdient im Kontext zeitungstheoretischer Implikationen besondere Aufmerksamkeit. Denn es ist unschwer zu sehen, dass die normativen Einschlüsse Prutz dazu dienen, an den Archiven der negativen Zeitungskritik weiter zu schreiben. Die erwähnten Differenzpaare gehören zu den diskursiven Bestandteilen von allgemeiner und Literaturgeschichtsschreibung seit den 1830er Jahren.32 Hier wird die äußere Geschichte mit den litterärhistorischen Verfahrensweisen, die noch das Sammeln und bibliographische Verzeichnen aller Lit(t)eratur versuchen, kritisch verbunden. In der theoretischen Zeitungsliteratur würden diesen Verfahren die bibliographischen Verzeichnisse von Zeitungen und Journalen entsprechen, die von allgemeinen Bestandsaufnahmen im 18. Jahrhundert über die ersten Spezialbibliographien, die im Kontext von wissenschaftlichen Disziplinen entstehen, bis hin zu den lokalen statistischen Bestandsaufnahmen reichen. Auch Prutz sichtet diese Verzeichnisse philologisch: wie genau sie sind, welche Lücken sie aufweisen und wie sie in der Gegenwart fortgesetzt werden. Hier erwähnt er zwei Arbeiten als vorbildlich: die Monographie von Heinrich Albert Oppermann über Die Göttinger Gelehrten Anzeigen während einer hundertjährigen Wirksamkeit von 1844 und »eine gleichfalls höchst schätzenswerthe Vorarbeit«, das Register- und Tabellenwerk von Gustaf Friedrich Constantin Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur Deutschen Literaturgeschichte von 1842 (s. PG 57f.). Gegenüber solchen Darstellungsformen geht
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Vgl. zum Projekt Deutsches Museum Ulf Eisele. Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des »Deutschen Museums«. Stuttgart 1976. Vgl. dazu die Vorworte zum Deutschen Museum. Vgl. hierzu Fohrmann. Das Projekt. S. 35ff.
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es für die sogenannte innere Literatur- und allgemeine Geschichtsschreibung um die Dokumentation von allgemeinen Prinzipien und Entwicklungsstufen des Geistes, also den Ansatz, der Prutz’ Narrative bestimmt. Prutz kopiert dabei die beiden erwähnten Gegensatzpaare in seine Erzählung einer inneren Geschichte des Journalismus hinein. Sie geben den leitenden Gesichtspunkt eines kulturkritischen Schemas ab, das es erlaubt, Kandidaten für eine eigentliche Geschichte zu bestimmen und zugleich über diejenigen zu schreiben, die zu dieser Geschichte nicht viel Eigentliches beigetragen haben: Unendlich selten ist Einem Journal eine solche Entwicklungsfähigkeit zu Theil geworden, daß es verschiedene neue Phasen geistig zu begleiten, geschweige denn sie zu repräsentiren vermag. Meist spricht jede einzelne Zeitschrift eine gewisse einzelne Idee aus, die einmal, zu ihrer Zeit, die richtige war. Nachher schreitet die Entwicklung weiter, das Journal bleibt auf dem alten Fleck, es existirt vielleicht noch hundert Jahre in seiner alten Weise; aber hat es darum ein Recht, noch in der Geschichte mitzuzählen? (PG 77)
Die Tragweite dieser Matrix darf nicht unterschätzt werden. Der hier schreibt, teilt zu: nicht nur politische, soziale, kulturelle und wissenshistorische Rechtsund Machtansprüche, sondern auch, wie viel Erzählraum dem historischen Phänomen im Einzelnen zur Verfügung gestellt wird. Diese Matrix greift nicht nur bei einzelnen Zeitungen und Journalen, sondern auch in der Vorführung zeitungstheoretischen Schrifttums. So gilt etwa resümierend für die barocke Zeitungstheorie eines Christian Weise oder das umfängliche Buch von Kaspar Stieler: Sie prunken mit Gelehrsamkeit, wiewohl ihnen die Kenntniß gebricht. Daher sehen wir sie auch, trotz des modernen Bewußtseins, welches sie zum Theil absichtlich und übermäßig zur Schau tragen, sämmtlich in eine inhhaltlose und unfruchtbare Bocksbeutelei ausarten; dergestalt, daß sie für die eigentliche Geschichte des Journalismus, insofern es dieser um einzelne geschichtliche oder wenigstens bibliographische Angaben zu thun ist, von gar keinem und nur für die Culturgeschichte ihrer Zeit und für die Stellung des Publikums zu den Zeitungen von einem gewissen beiläufigen Werthe sind. (PG 34)
Interessant ist, dass der von Prutz nur beiläufig gebrauchte Terminus Kulturgeschichte noch als Auffangbecken für das herhalten muss, was die Darstellung nun selbst auf den Abfallhaufen der Geschichte wirft. Die von den Gelehrten des 17. Jahrhunderts betriebene Polyhistorie ist in dem Gegenspiel unterschiedlicher Wissensordnungen das historische Paradigma einer sinnentleerten Sammelleidenschaft, die nichts von der Sinnstiftung durch eine ordentliche, und d.h. dann geschichtsphilosophische Bestandaufnahme weiß. Diese Einschätzung betrifft ebenso die Enzyklopädisten unter den Zeitungstheoretikern wie die Zeitungsprojekte des 17. Jahrhunderts. Prutz nimmt die Distanzierung der Historik von der Zeitung auf, die seit dem 18. Jahrhundert Historiographie an neue Darstellungsformen knüpfte und der Zeitungshistoriographie eher ablehnend gegenüber stand und Zeitungstexte allenfalls als Quellenmaterial für ihre ordentliche Geschichts-
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schreibung einschätzte. Andererseits schätzt Prutz die Journalistentradition, die das Medium Text als Operator von moderner Kommunikation entdeckt hat und die er an seinen Literaturbegriff bindet. Diese Verschränkung von bevorzugten Textformaten und dem Geist der Geschichte, der hier auf die richtige Weise zum Zuge kommt, lässt sich bereits der Skizze der drei Epochen des Journalismus entnehmen, die Prutz in seinen Vorbemerkung macht. Sein eigenes Textprojekt greift auf das Potential dieses Ursprungs erinnernd zurück, um den Verfall erneut aufzuhalten: Nicht nur wurde durch sie [die Reformation] zuerst unser Journalismus innerlich möglich gemacht, sondern lange Zeit hindurch war sie es auch, welche, vermöge der geschichtlichen Ereignisse, der Schlachten und Kriege, zu denen sie die Veranlassung wurde, dem Journalismus auch äußerlich seinen hauptsächlichsten, ja seinen einzigen Stoff darbot; wobei zugleich die atomistische Zersplitterung, der inhaltlose Schematismus des damaligen Zeitungswesens uns zum Spiegelbilde dienen kann für die Zersplitterung und den todten Formalismus, welcher allmälig, in Folge der unterbrochenen reformatorischen Bewegung, jenes ganze Zeitalter überkam. (PG 72f.)
Die mimetische Interaktion von Geschichte und Medium führt im Sinne von Prutz vor Augen, dass die Zeit eine Physiognomik hat, die sie im Angesicht des Journalismus selbst erkennt. Wie schon gesagt, erst Thomasius tritt für Prutz gegen den ästhetizistisch erstarrten Schematismus des frühen Zeitungswesens an, als »der erste Stifter des specifisch deutschen gelehrten Journalismus«, »so daß wir also in ihm einen lebendigen und unzweideutigen Repräsentanten jenes Zusammenhangs haben.« (PG 73) Der Stifter unterbricht das Allgemeine; er ist zwar geschichtliche Erscheinung, agiert aber überhistorisch, indem er aus dem, was alle dominiert, heraustritt. Auf diese Weise eilt Prutz mit seiner Geschichte von Stifter zu Stifter: Luther, Thomasius, Lessing, Klopstock, Goethe, Schiller, Kant, Fichte, Hegel, und von ihren Dokumenten: religiösen Streitschriften, der Gesprächsjournalistik von Thomasius, Klopstocks Messias, Goethes Werken, Hegels Philosophie in großen Schritten auf die eigene Gegenwart zu. Andererseits ergeben sich epochenartige Zwischenstufen, wo innere, eigentliche und äußere, uneigentliche Geschichte nebeneinander stehen. Erste bewirkt den Progress, während die uneigentlichen Zeitungsleute und ihre Zeugnisse Erstarrung, Tod oder allenfalls Nachahmung der Originale dokumentieren. So ergibt sich auch, dass etwas längst Überwundenes sich gleichwohl hält und als Gespenst dem Fortschritt entgegentritt, gleichwohl aber zu dulden ist: Nachher schreitet die Entwicklung weiter, das Journal bleibt auf dem alten Fleck, es existirt vielleicht noch hundert Jahre in seiner alten Weise; aber hat es darum ein Recht, noch in der Geschichte mitzuzählen? Man denke z.B. an ein Journal, wie die Göttinger Gelehrten Anzeigen oder das Journal des Sçavans, die Nestoren das eine des deutschen, das andere des französischen Journalismus. Beide gehören durch die Zeit ihrer Gründung, wie durch ihren Charakter der frühesten, der gelehrt encyklopädischen, relatorischen Periode an; Beide haben, allen Entwicklungen der Zeit zum Trotz, diesen Charakter durch Jahrhunderte hindurch unverändert beibehalten; Beide, obwohl geistig längst todt, existiren dennoch bis auf den heutigen Tag. Aber wird durch
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
das Factum dieser Existenz der Fortschritt der übrigen Welt geläugnet? Und ist daher unsre Anordnung weniger richtig, weil dieser Ballast der Vergangenheit nicht überall in sie hineinpaßt? Wir bezweifeln es. (PG 77)
Ähnliches gilt für die Ausschreiber genialer Entwürfe oder diejenigen, die schlechte Wiederholungen liefern. Im strikten Sinne kennt die Geschichte für Prutz keine Wiederholungen, es gibt sie nur als »fait accompli«, aber es gibt die »Caprice derer, die sie mißverstehen« (PG 67). Journalismus ist also auch ein Papierkorb, den es aufzuräumen gilt, um die Bruchstücke zu sichten und zu sichern, die den monumentalen Zug der Geschichtsphysiognomie hervorbringen und verhindern, dass die eigene Darstellung zur »Caprice« wird. Die Eingrenzung betreibende Sinngebung des auch Sinnlosen ermöglicht es Prutz, Vieles, das in seinem Gegenstandsbereich lauert, nicht einfach zu übergehen, aber eben nur kurz abzuhandeln. Darüber hinaus riegelt die kritische Registratur eigentlicher und uneigentlicher Geschichte sich gegen die Störung durch den Zufall ab: »wir appeliren von der Zufälligkeit des historischen Documents an die Nothwendigkeit der historischen Idee« (PG 83), heißt es unter Eingemeindung des Lesers in das Projekt. Der Zufall verstört nicht nur alle Historiographie, sondern, geht man auf ihn ein, mit ihm offenbart sich manches factum brutum in der Realität, die darin mit der positiven Sinn herstellenden Geschichtsphilosophie widerstreitet. Da muss dann die Hegelsche Idee herhalten, dass die Weltgeschichte auch ein Weltgericht ist. Und was wäre besser, als hierfür die nationale Seite des Projekts Journalismus hervorzukehren, mit der sich alles Schlechte der Geschichte exterritorialisieren lässt. Es sei, so Prutz, eine genuine Leistung des deutschen Geistes, der auf theoretischem Gebiet eingelöst habe, was sich bei anderen Nationen ganz anders verwirklicht habe: Dem deutschen Geist ist durch die philosophische Arbeit, welche er bewältigt hat, nicht bloß der Lohn politischer Selbständigkeit überhaupt gesichert: sondern gesichert ist er dadurch auch gegen die Fehlgriffe und Verirrungen, die Zeitverluste und Kraftverschwendungen, in welche die brutale Empirie anderer Nationen dieselben verwickelt hat. Freilich wir studiren etwas langsam und etwas gründlich; das ist deutsche Natur. Aber dafür, am Tage der Prüfung, werden wir um so glänzender bestehen; wir werden, mitten im Chaos der Thatsachen, uns vom Stern des Bewußtseins geleitet, von der Schwinge der Erkenntniß getragen fühlen: und die die Letzten waren, werden die Ersten sein. (PG 71)
Die Exterritorialisierung des Sinnlosen ermöglicht es, deutsche Gründlichkeit als Bewährung auszuweisen und der verspäteten Nation ihre eigene geschichtliche Notwendigkeit zuzugestehen. Untergründig korrespondiert die »brutale Empirie« anderer Nationen mit einer Textstelle, wo Prutz einige Sätze aus Kaspar Stielers Zeitungs Lust und Nutz kommentiert. Hier findet er etwas Brutales im Horizont von Stielers individueller Lebensgeschichte: Die »Zeitungslust« hat er [Stieler] bereits zur Zeit der literarischen Muße abgefaßt. Er selbst nennt sie einen »Rumpelschuß«, den er »auf der Reise, in der Eile und gleichsam auf der Flucht« gemacht [...]. Mit andern Worten also: der gute Spate ist, wie praktisch
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in seinem bürgerlichen Leben, so auch literarisch ein Industrieritter und die »Zeitungslust« ein derartiges, auf Bestellung unternommenes Machwerk. Interessant ist die selbstgewisse, beinah brutale Weise, mit welcher er den modernen Standpunkt seiner Zeit, die zeitgemäße, leichtbewegliche, journalistische Bildung, gegen die alte gründliche, aber schwerfällige Gelehrsamkeit geltend macht. »Wir ehrliche Leute«, sagt er in der Vorrede, »die wir itzt in der Welt leben, müssen auch die jetzige Welt erkennen: und hilft uns weder Alexander, Cäsar, noch Mahomet nichts, wenn wir klug sein wollen«. Von dieser Klugheit aber seien »Plato und Aristoteles mausestill«: nur »die Zeitungen sind der Grund, die Anweisung und Richtschnur aller Klugheit [...] in der Wissenschaft der Welt und ihrem Spielwerk, indem, wer heute klug ist, morgen, nach der Sachen Lauf, stracks eine andere Klugheit annehmen und sich selbst widerlegen, ja verdammen muß«. Es ist merkwürdig, wie man solch ein modernes Bewußtsein, ja ein übertriebenes, haben kann und doch gleichzeitig, in der Ausführung des Buches selbst, die gelehrte Bocksbeutelei, die altmodische Schwerfälligkeit so weit treiben, wie dieser Spate es thut. (PG 31f.)
Prutz leitet aus dem pragmatischen Zug in Stielers Argumentation dessen Modernität ab, die bewegliches Zeitungswissen an gelehrt-politisches iudicium bindet. Doch ist Prutz irritiert von Stielers »brutal« erscheinendem Fatalismus, mit dem sich der spätbarocke Autor dem Schicksal zu ergeben scheint, das heute so, morgen so ausfällt. Es ist der Topos carpe diem, der Stielers Zeitungsurteile rahmt. Das geschickt Werden in den Dingen der Welt und die kluge Handhabung von Wissen angesichts der undurchdringlichen Reste eines fatum, das von göttlicher oder politischer Macht abhängig ist, produziert eine Haltung, die sich (zumindest in ihrer Selbstbeschreibung) nicht vor der ständig möglichen Widerlegung des Heute durch ein Morgen fürchtet. Diese Haltung spricht völlig gegen Geist und Buchstabe der gültigen Geschichtsgesetze, an denen Prutz mitschreibt. Deren Geist schwebt nicht mehr wie bei Stieler in Teilen unerreichbar über den Buchstaben, sondern verdankt sich sinnstiftenden Textunternehmen in der Welt. Der innerweltlichen Spekulation auf den Sinn alles Seins und medialen Handelns erscheint das Konzept politischer Klugheit um 1700 damit unernst und bedrohlich zugleich. Der kluge Weltmann, so »modern« er erscheinen mag, ist kein Vorbild mehr für das Welthaben in den 1840er Jahren. Und auch die Idee nationaler politischer Emanzipation durch Publizistik kann sich mit dem Konzept individuellen Glückstrebens kaum mehr befreunden. Der Vorwurf, dass bei Stieler und anderen Zeitungstheoretikern des späten 17. Jahrhunderts immer auch etwas Übertriebenes, spätere Züge der Moderne geradezu als Karikatur Vorwegnehmendes am Werk sei, deckt sich mit den Topoi der Barockkritik des 19. Jahrhunderts. Doch ist diese Kritik von Prutz auch als Abwehr historisch differierender Möglichkeiten, sich mit der Welt darstellend auseinanderzusetzen, gestaltet. Damit sind die Bemerkungen des Historikers Prutz medienhistorisch tiefer gelegt, als es in seinen Distanzierungsgesten erscheinen mag. Denn hier wird die Form der Zeitung mit ihrem Nebeneinander selbst zum factum brutum von objektiver Realität. Wenn Prutz eine kritische Theorie der Zeitung in seiner Geschichte liefert, so ist diese, wie vorgeführt, von der Idee einer in ihren Narrativen teleologisch aus-
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
gerichteten Textarbeit beherrscht. Zeitungstheorie ist bei Prutz deshalb keine positive Medientheorie der Zeitung, die etwa heterogene und diskontinuierliche Erscheinungsweisen von Famas Medium akzeptieren könnte. Der Ordnung von Geschichte, die Prutz im Sinn hat, ist vielmehr die Wendung gegen eine Kontingenz abstrahlende Form Zeitung eingeschrieben. So bekommt er neben unordentlicher Zeitungstheorie in analoger Weise die unordentliche Textur des Mediums in den Blick, indem er Zeitungstexte liest. Wieder liest er in zweifacher Ausrichtung: Einerseits, bei den frühen Relationen und historisch-politischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts auf Unordnung hin, die er in der typischen Gleichordnung der frühen historisch-politischen Zeitungen findet, ein andermal, wie bei den protestantischen Streitschriften oder bei Thomasius’ Zeitschriften, mit Blick auf den Zusammenhang, den eine charaktervolle Autorstimme schafft. Die doppelte Figuration von Fama als überindividueller kollektiver Stimme und Person, die über die Geschichtskommunikationen bestimmt, ist darin mit verhandelt. Für das erste Lektüremodell lässt Prutz etwa eine Relation des 17. Jahrhunderts Revue passieren, wobei der Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Referenzbereiche, auf die die Zeitungsmaterien sich beziehen, seine besondere Aufmerksamkeit gilt. Es sind die historisch-politischen aulica, die Peucer in seiner Dissertation über die Zeitung als den vornehmsten Bereich der Relationen behandelt. Prutz hebt nun auf die Gleichzeitigkeit der berichteten Geschehnisse ab: Da ist nun Alles zusammen, was von dem Hoflager des Kaisers, gewöhnlich also von Wien, sowohl vom Hofe selbst, wie aus der Stadt, Denckwürdiges oder Neues zu melden ist: Diplomatisches, Militärisches, Hoffeste, persönliche Erlebnisse der hohen Herrschaften u. s. w.: Alles in buntestem Gemisch, wobei denn nicht selten sehr pikante Gegensätze zum Vorschein kommen. Namentlich aus dem Anfang der achtziger Jahre, wo bekanntlich das Haus Österreich, durch die Aufstände in Ungarn, wie durch die Eroberungszüge der Türken, an den Rand des Untergangs gebracht schien, wechseln die Nachrichten von Lustbarkeiten bei Hofe und Niederlagen im Felde, von Annäherung der Feinde und Lustreisen der Kaiserlichen Familie, Übergabe der Festungen und prächtigen Auffahrten fremder Gesandten so jählings mit einander ab, daß wir noch heutzutage, indem wir diese vergilbten Hefte durchblättern, uns eines gewissen unheimlichen Eindruckes nicht erwehren können. Oder welche Satire könnte grimmiger sein, als wenn z. B. in der Oster-Relation von 1680 erzählt wird, erstlich, daß im Jahre zuvor zu Wien mehr denn fünfzigtausend Menschen an der Pest gestorben: und gleich darauf wird geschildert, wie Ihro Kaiserlichen Majestäten zu Prag »Dero hertzliebster Gemahlin der Reg. Käiserin Geburts-Tag herrlich celebrirt, auch eine schöne Comoedia gehalten, mit gutem Contento des Hofes: gleichfalls ist daselbsten, in dem Königl. Löwenhauß ein Kampff zwischen einem wilden Schwein und Tyger-Thier zu sehen gewesen, welchen beiden Ihr Käiserl. Majest. mit grossem Vergnügen beigewohnet«. Und inzwischen, wie gesagt, starben zu Wien fünfzigtausend Menschen an der Pest, loderte in Ungarn die Fackel des Aufruhrs, bewältigten die Türken eine Festung nach der andern und bahnten sich freien Weg nach Wien, riß Frankreich den Elsaß an sich, drohte das Reich in Trümmer zu zerfallen! Aber »Ihro Maj. saßen im Löwenhauß« u. s. w. Der Zeitungsschreiber freilich hat den entsetzlichen Spott, der in diesen Zusammenstellungen liegt, nicht gefühlt, ja nicht geahnt; er erzählt das Eine so gelassen, so »unparteiisch« wie das Andere: Beides sind Neuigkeiten und es ist noch die Frage, welches die interessantere! (PG 195f.)
VI.3. Die Zeitung im Text der Geschichte
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Handelt es sich bei der schrecklichen Größe von Niederlagen, Tod und Leiden der Untertanen, die sich im Kontrast zu den Siegen und Lustbarkeiten der Herrschenden im ungefügen Nebeneinander früher Zeitungen auftut, um ein negativ Erhabenes der Geschichte? Wird hier zwischen den Zeilen ein Hinweis auf die ungeheure Ungefügtheit der eigenen Gegenwart untergebracht? Oder ist die Gleichbehandlung von Nachrichten unterschiedlicher Referenzbereiche nur ein »entsetzlicher Spott« auf das, was ein ernstes Geschichtsreferat der Form nach eigentlich sollte? Gespenster, Unheimliches und Monströses begegnen einem beim Gang durch die Ruinen, und was so gerne auf die Spur des Äußerlichen, Exterritorialen gebracht wird, bleibt im Innern erhalten. Die historisch-politischen Zeitungen, die die Ereignisgeschichte in ihren kruden Realitäten unparteiisch berichten, versagen sich der ordentlichen Narration, die Prutz anwendet, sind ein eingeschlossenes Ausgeschlossenes des Interesses an Zusammenhang von Allem mit Allem: Auf diese äußerlichen Notizen nun hat die Geschichte der deutschen politischen Zeitungen, bis in das letzte Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, sich zu beschränken; eine Geschichte ihrer innerlichen Entwicklung, ihrer geistigen Fortbildung giebt es nicht, weil sie selbst, bis zu dem angegebenen Zeitpunkte, keine Entwicklung oder Fortbildung hat, sogar weil kein geistiger Kern in ihr ist, der sich hätte entwickeln können. Was sie ursprünglich, in ihrer rohesten Form, gewesen waren, das blieben sie getreulich drei Jahrhunderte hindurch: Relationen, Neuigkeitsboten, ohne Urtheil, ohne Gesinnung und ohne Geist. (PG 239)
So bleibt auch der Politikbegriff zwischen Text und Medium Zeitung gespalten, denn was äußerlich nur zusammengestellt wird, hat nichts mit der »Sphäre unsers Journalismus, der eigentlichen Zeitungsliteratur« (PG 217) zu tun. Mit dem Ursprungsszenario reformatorischer Publizistik ist für Prutz auch nicht die Periodizität der Zeitung das herausragend Merkmal, das einen neuen Wissenstyps hervorgebracht und bestimmt hat. Periodizität wird von ihm zwar nicht übersehen und auch als Folge eines vermehrten Bedürfnisses nach Nachrichten eingeschätzt – aber sie gehört zu den Fakten der äußeren Geschichte von Publizistik. Dies ermöglicht ihm, seine Zeitungstheorie aus den Anfängen dessen zu entwickeln, was er unter literarischer Publizistik versteht. Prutz vernachlässigt dabei auch die Begriffsgeschichte des Wortes »Zeitung«, welche ihn bei seiner Rekonstruktionsarbeit der ideellen Ursprünge vielleicht hätte irritieren können. Denn der Begriff verweist historisch zunächst auf die Funktion eines Textes, Nachricht von einem Ereignis zu geben, und geht nicht mit der Präferenz einer Textsorte einher. Im Gegenteil, die ohne jedes iudicium daher kommende ›bloße‹ Berichterstattung wird von Prutz’ Konzept des literarischen Journalismus geradezu ausgeklammert. So findet er bezeichnenderweise Kaspar Stieler dort besonders geschmacklos, wo dieser die »erste Zeitung – Gott selber« (PG 33) zuschreibt. Dabei hätte Prutz der Ersetzung der göttlichen Heilsbotschaft durch moderne Journalisten, die zur richtigen Zeit das richtige Wort mit der richtige Wirkung für die Welt finden, durchaus zustimmen können.
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VI. Zeitung und Kommunikation, geschichtsphilosophisch
In dieser über die Anfänge eines Periodikums Zeitung historisch und systematisch hinausgehenden Geschichte des literarischen Journalismus greift also ein Literaturbegriff, der selbst erst aus der Perspektive von Prutz’ Zeit eine kritisch fundierte Traditionsgeschichte besitzt. Leider erscheint Deutschland dabei gegenüber anderen Nationen schon irgendwie verspätet. Auch wenn Thomasius hier Stifter geworden ist, gab es doch in anderen Nationen wie Frankreich, England und Italien eine frühere Verbindung aus gelehrt-literarischen Verfahrensweisen und periodischer Zeitungspublizistik, die Deutschland im 17. Jahrhundert so nicht aufzuweisen hatte und, nach Prutz, erst mit den Acta Eruditorum realisiert wurde (s. PG 256). Andererseits kann sich Deutschland das Verdienst zuschreiben, zuerst historisch-politische Zeitungen hervorgebracht zu haben: Freilich wohl sind die politischen Zeitungen dafür eine ursprünglich deutsche, auf deutschem Boden und allein unter deutschen Einflüssen gereifte Frucht; wogegen der gelehrte Journalismus aus fremder Erde zu uns herübergetragen worden ist. – Doch waren die Elemente zu seiner Entstehung auch in Deutschland vorhanden. (PG 244)
Die journalistisch-literarische Reformation in Deutschland beinhaltet dagegen die erste Szene der Kollektivierung der Deutschen im positiven Sinne, die Versetzung der »von allem höheren Pathos verlassene[n] Nation plötzlich auf den äußersten Gipfel gemeinsamer geistiger Bewegung« (PG 244f.). Damit geht die Neubestimmung der Bildungsidee in der Anverwandlung antiken Geistes durch deutsche Humanisten einher, so dass endlich diese freiere Anschauung der antiken Welt, die heitere Klarheit klassischer Bildung durch tausend und aber tausend Kanäle auch in solche Schriften übergegangen war, die für das eigentliche Volk bestimmt waren: so daß also dasjenige, was anfänglich das einsame Studium einer geistlichen Brüderschaft, das Ergötzen eines einzelnen Gelehrten gewesen war, sich schließlich als Bildungsmittel einer neuen Zeit und eines lebendigen Volkes praktisch bewährte. (PG 245)
In all den fehlgehenden Entwicklungen, die die folgenden beiden Jahrhunderte für das seit der Reformation anhängige nationale Projekt politisch und intellektuell mit sich gebracht haben, bleibt der »literarische Journalismus« das »Gegengift«, das allmählich Heilung brachte: Die aufgespeicherte, todte Wissenschaft wurde in Fluß gesetzt; die Bildung, die sich, zu unfruchtbarer Selbstbespiegelung, in sich selber concentrirt hatte, wurde zu einem Gemeingut Aller, die da lesen konnten, erweitert. Mit Einem Worte: den vielen kleinen gelehrten Republiken, die damals, hier und dort, in der Stille vegetirten und sich mit ihrer vermeintlichen Freiheit nicht weniger wußten, als die sogenannten freien Städte mit der ihrigen, setzte der literarische Journalismus die einzig wahre Republik des Publikums und der öffentlichen Meinung gegenüber. (PG 256)
Mit diesen Überlegungen zur prozessförmigen Aneignung in nationaler und historischer Differenz gegebener Ursprünge zwischen Text und Medium Zeitung erschreibt sich Prutz’ eigene »Geschichte« ihr Sinnpotential, das als die positive Geschichte des literarischen Journalismus bis auf die Gegenwart ausbuchstabiert
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werden kann: Verbreitung von Texten in Journalen, die kommunikativ verbinden; Ideengut, das von vielen Berufenen geteilt wird; Bildung, die vereinheitlicht; Adressierung des Volkes als Stiftung eines Nationalkörpers, der das »eigentliche Volk« repräsentiert. Die Beziehung der Gelehrten und Gebildeten zum Volk lässt sich damit ebenfalls als eine Geschichte von Annäherung oder Verlust des Kontaktes zum eigentlichen Volk erzählen, und die Menge der gelehrten Bildungseinrichtungen in anderen Nationen macht dort noch keine Volksbildung aus.33 In dieser Weise wächst im Textverlauf das semantische Archiv, mit dem Prutz seine Kultur- und Geschichtskritik organisiert, um eingelöste und ausstehende Kollektivierungsprozesse gegen mächtige Zersplitterungstendenzen in der Gegenwart zu setzen. Die auf diese Weise erzählte Geschichte des Journalismus wird zur Text-Tat für das Kollektiv, mit der die Frage nach dem Allgemeinen von individueller Seite aus positiv beantworten werden soll. Sein »Werk«, so Prutz, wendet sich also im Allgemeinen sowohl an diejenigen, welche Zeitungen und Journale schreiben, als an die, welche sie lesen. Und da zu den Einen oder den Andern (ja nächstens wird man sagen können: zu Beiden zugleich) Alles gehört, was überhaupt lesen und schreiben kann: so ist es das Publikum im Allgemeinen, was wir bei diesem Buche im Auge haben. (PG 21)
Dass das Allgemeine kommunikativ insbesondere den Zeitungen gehört, ist eine Lehre, die Prutz von seinen Vorgängern in der Zeitungstheorie übernehmen konnte. Dass damit aber das Glücksversprechen im Allgemeinen, für alle Zeit und für Alle keineswegs schon eingelöst sei, muss er zu seinem eigenen Bedauern dennoch zugestehen. Er fährt angesichts der allgemeinen Aufgabe fort: Wie glücklich, wenn wir sagen dürften, das Volk! Allein es fehlt noch viel, ehe nicht bloß einige wenige, durch Wohlstand und Bildung bevorzugte Stände, ehe die wirkliche große Masse der Nation sich für den Gegenstand unsres Buches, ja nur für die äußersten praktischen Zielpunkte desselben wird interessiren können [...]. (PG 21)
Am Anfang wie am Ende steht ein Rest, dessen Unaufgelöstheit neue Antworten auf die Zeitungsfrage stimuliert.
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So etwa die »Sündfluth« der Akademien in Italien, Prutz. Geschichte. S. 251.
VII. Epilog: Zeitung Lesen mit McLuhan
Zum Ende der bislang vorgestellten Geschichte wurden zwei große Entwürfe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutiert, in denen die überkommenen Urteile zur Zeitung geschichtsphilosophisch ›geläutert‹ und in den Horizont allgemeiner Kultur- und Modernetheorie gestellt werden. Löffler und Prutz treten ein für die neue wissenschaftliche Perspektive ihrer Zeit, wo der Theorieaufbau sich in ein durch ihn selbst begründetes Verhältnis zum Einzelfall in seinem Gegenstandsbereich setzen kann. Die Zeitungsfrage, auf die sie ihre Antworten geben, setzt sowohl an dem Artefakt Zeitung wie den Verhältnissen von Zeitungskommunikation an. Für heutige Kommunikations- und Medienwissenschaft ist daran interessant, dass Löffler und Prutz den Druck als Phänomen ansprechen, dem eine paradigmatische Rolle in der Epistemologie der Moderne zukommt. Beide Autoren sehen in der Erfindung des Buchdrucks die historisch-technische Zäsur gegeben, die die Moderne als Epoche signiert. Die Form, die der Buchdruck mit der periodischen Publizistik annimmt, steht dann auf repräsentative Weise für die Folgeerscheinung einer in sich gespaltenen Moderne ein, die gute und schlechte Entwicklungen aufweist. Die Zeitung wird als Form und Funktion haftbar gemacht für die neuere Geschichte, die sich kommunikativ zunehmend mediatisiert, in ihren Medien und Kommunikationen aber auch die Möglichkeit entdeckt, sich selbst wahrnehmend zu begegnen.1 Heute kann die von Löffler und Prutz überlegte epochale Zäsur, die in die Zeit vor und nach dem Buchdruck trennt, wieder mit einem verstärkten wissenschaftlichen Interesse rechnen.2 An die geschichtsphilosophische Auslegung dieser Zäsur würde dabei wohl nicht
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Die seit dem späten 18. Jahrhundert sich abzeichnende Formation einer engen Verbindung von Kultur- und Medienkritik, die insbesondere als Presse- und Sprachkritik auftreten kann, belegt auch die Studie von Johanna Bertsch. Wider die Journaille. Aspekte der Verbindung von Sprach- und Pressekritik in der deutschsprachigen Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.a. 2000. Vgl. die wissenschaftshistorische Diskussion des Schwellenwerts des Buchdrucks, die Winfried Schulze, Werner Faulstich, Michael Giesecke, Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann geführt haben: Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck? Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei? Podiumsdiskussion unter der Leitung von Winfried Schulze. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. S. 11–38.
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VII. Epilog: Zeitung Lesen mit McLuhan
mehr angeschlossen werden. Doch haben sich manche heutige Kommunikationsund Medientheorien weder von einem utopiefähigen Überschuss, der mit den gesellschaftlichen Inklusions- und Vereinheitlichungsbewegungen von Medien verbunden wird, verabschiedet, noch fehlen kulturkritische Einschätzungen des Nebeneinanders von mediatisierten Paralleluniversen, die auf die Negativität von Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit globaler Kommunikationsverhältnisse verweisen, oder, umgekehrt, die Homogenisierung von Wissen und Habitūs als Folgeerscheinungen massenkommunikativer Verhältnisse beklagen. Löffler und Prutz bringen das Medium Buchdruck zum Sprechen, indem sie generalisierbare Phänomene von Moderne anhand der Zeitung, die Formen hat und Funktionen erfüllt, beobachten. Die Erkenntnis, dass in und mit der Zeitung allgemeine Welt-, Medien- und Kommunikationsverhältnisse sich abzeichnen, bahnt sich schon in den zeitungstheoretischen Diskussionen des späten 17. Jahrhunderts an. Hinsichtlich der Beobachtung von Form und Funktion Zeitung ist dabei die Unterscheidung, die zwischen Text und Medium Zeitung aufgemacht wird, besonders spannend. Denn darin werden Forderungen an Geschlossenheit in der Darstellung und Offenheit in der Struktur mitverhandelt und das Medium Zeitung als die Einheit der Differenz von geschlossenen und offenen Formen erkannt. Diese Erkenntnis schlägt sich in zahlreichen kritischen Fragen an Form und Funktion der Zeitung nieder, deren Beantwortung in negativer und positiver Zeitungskritik erfolgt. Die unterschiedlichen Ökonomien von Text und Medium Zeitung, darin sich abzeichnende geschlossene und offene Formen, kommentieren sich auf der Innenseite des Mediums wechselseitig. Zeitungstheorie verfolgt, wie Zeitungen in der Einheit von Text und Medium sammeln, speichern und distribuieren. Sie diskutiert, dass nicht nur die Ereignisse, sondern auch das Zeitungsarchiv, das sie vorführt, selbst der Zeit verfallen sind, dass die Zeitung die Möglichkeit für vielfältige, wenn nicht sogar unbegrenzbare Anschlusskommunikationen zur Verfügung stellt und diese Möglichkeit symbolisch in ihrer Vielgestaltigkeit immer wieder vor Augen führt. Die Einschränkung von kommunikativen Anschlüssen wird mit der Zeitung aber ebenso ausgestellt: Abbrüche, Lücken unterwandern die Kontinuität, programmatische Einschränkungen versuchen, der Vielfalt Einhalt zu gebieten. Mit der Zeitung kann gegen die Zeitung gearbeitet werden. Auch der Text, den Zeitungstheorie schreibt, hadert leicht mit Famas Medium und entfaltet auch Widerstand gegen den Proteus Zeitung. Die Rettung vor der Zeitung in der Zeitungstheorie scheint u.a. darin zu bestehen, die Darstellungskompetenz der Form Zeitung in Frage zu stellen und die Textur des Mediums über die Textur von Text, den Zeitungstheorie, Geschichtsschreibung oder Literatur hervorbringt, auf kritischer Distanz zu halten. Mit Löfflers und Prutz’ Texten wird die Ethik der Darstellung im Diskurs über Einheitlichkeit und Ganzheit von Geschichte und ihren Formen zugespitzt, nicht zuletzt, um auch vorgängige Zeitungstheorie als ungenügend zu verurteilen. Ihre Texte entfalten kritische Vor-Schriften, die die Gesetzmäßigkeiten und Beschlossenheit von Geschichte in ihren Narrativen anstreben, allerdings dabei
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widerwillig Bericht über eine inkonsistente und ungefüge Moderne geben, an der die Zeitung mit ›schuldig‹ ist. In den kommunikations- und medientheoretischen Überlegungen, die in den ersten 200 Jahren deutscher Zeitungstheorie begegnen, tritt neben die Unterscheidung zwischen Text und Medium Zeitung die zwischen Text, Zeitung und Buch. In dieser Konstellation ist die Zeitung das Dritte in einer Mittelstellung. Gedruckte Zeitungen entstehen aus gesprochenen und geschriebenen sprachlichen Einheiten, die an ihrem Ort als gedruckte Texte erscheinen, dort über das publizistische Datum zeitungstypisch im Neben- und Nacheinander zusammengehalten werden. Aus dieser Ordnung können einzelne Elemente wiederum herausgelöst werden und in Bücher einwandern. In diesen Ketten medialer Sinnstiftung wird Famas Erbe durch fortgesetzte Anschlusskommunikationen in alle möglichen Richtungen figurativ wach gehalten. Die Zeitung als Famas Medium agiert ihrerseits kollektiv und subjektlos als die Stimme der Vielen; andererseits können Zeitungsverfasser und Zeitungsleser auch als personale Platzhalter von Fama angesprochen werden. Kollektivierungsprozesse und personale Strategien werden in der Zeitungstheorie vielfach thematisch, vorzugsweise entlang der Achsen von vertikalen und horizontalen Kommunikationsprozessen. Beide Achsen bestimmen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert die politischen und sozialen Hinsichten und führen in die moralische Einschätzung von Dignität und Vergehen der Zeitung. So wird die Stimme der Vielen und der Öffentlichkeit anstrebenden Einzelnen zum Scheidepunkt restriktiver oder liberaler Zeitungspolitik, die auch von der Zeitungstheorie mitgeschrieben wird. Was eine liberale Haltung gut zu heißen vermag, dass Viele an offenen Kommunikationsprozessen und -verhältnissen teilnehmen, entlastet nicht davon, dass die Zeitung materialiter ständig neue Fragen für Zeitungstheorie aufwirft. Das Ansinnen, Famas monströses Wuchern zumindest theoretisch in den Griff zu bekommen, interagiert mit der historischen Umstellung vom Universalarchiv, das der gelehrte Enzyklopädismus aufbaut, auf den operativen Theoriebaustein Kommunikation, die als universelle Produktivkraft gerade in und mit der periodischen Publizistik begegnet. Für die gelehrte Historia Litteraria stellt die fortgesetzte Zeitung zunächst die formale Bewältigung des sich ständig vergrößernden Archivs in Aussicht, nämlich in der Sukzession die Reste auf Dauer einzuspeisen. Die Möglichkeit, das Nächste über Kommunikation anzuschließen, wird im 18. Jahrhundert aber zunehmend als generalisierte Lizenz für grenzüberschreitende Interaktionen interessant. Die Archive des Wissens, die nun an vielen Orten und in vielen Formaten mehr und mehr geöffnet werden, können kaum noch erneut abgeschlossen werden. Zumindest wird der Anspruch auf Öffentlichkeit und Allgemeinheit des Wissens insgesamt zum Aushängeschild einer Publizistik, die Wissen und bürgerliche Zivilgesellschaft engführen will. Wissen, das in den Periodika publizistisch zirkuliert, meint potentiell alle Menschen. Die Aufklärung vereinnahmt gerade die Kultur der Zeitungskommunikation für die Teloi ihrer sozialen, bildungsgeschichtlichen und politischen Anliegen, die Integration und universelle Adressierung auf ihre
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Fahnen schreiben. ›Alles für Alle‹ führt den materialen mit dem kommunikativen Universalismus zusammen und generiert eine spezifische Zeitungsutopie. Dort, wo diese Utopie als Form ganz ernst genommen wird, droht manchem Projekt bei der Realisation der Kollaps. Was sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts hier im Scheitern zeigt, ist der Versuch, offene Form und offene Gegenstandsfelder am Ort der Zeitung zusammenfallen zu lassen. Eine Strategie programmatischer Zeitungstheorie besteht dann darin, Formverlust und Formversagen dem je anderen Projekt vorzuwerfen und das eigene Vorhaben in seiner notwendigen Begrenztheit zu salvieren. Die Zeitungsprogrammschrift ist lange Zeit der bevorzugte Ort für Zeitungstheorie bei Gelegenheit. Die Möglichkeit aktueller Positionsmarkierung auf den Feldern von Politik und Ästhetik nutzen auch die avancierten Vertreter von Kunsttheorie, die über die Frage an die Form und Funktion von Zeitung Kulturpolitik zu betreiben. Diese sanktioniert um 1800 in Zeitungsprojekten ästhetisch den Ausschluss von bestimmten Themen und Teilnehmern, richtet sich aber mit dem elitären Selbstverständnis des Bedeutenden gleichwohl an alle Menschen. Kulturpolitik wird unter dem Vorzeichen von Politikabstinenz betrieben; das Moment des Politischen wird aber verallgemeinert und in die vertikalen und horizontalen Verflechtungen einer von ihren Kommunikationen und Medien bestimmten Kultur hineingetragen. Kunst selbst, das bezeugen gerade die Zeitungsprojekte kultureller Eliten, ist nicht von ihren gesellschaftlichen Aufgaben zu entlasten und weist immer eine soziale Seite auf. Eine allgemeine Kommunikations- und Medientheorie, die sich aus dem aufklärerischen Imperativ ›Alles für Alle‹ vielleicht hätte ableiten lassen können, bleibt demgegenüber eine theoretische Leerstelle, die sich wohl auch einer Kulturkritik verdankt, die eben längst noch nicht den Möglichkeitsspielraum, den Kunst für die Herstellung von Formen eröffnet, für alles Mögliche und dessen Kulturfähigkeit freigibt. Der epistemologische Anspruch einer allgemeinen Zeitungstheorie, die Kulturelles systematisch in seiner Allgemeinheit und in neutraler Weise verzeichnete, wird von dem Statistiker und Ökonomen Joachim von Schwarzkopf erspürt, wenn er auf die unterbeleuchtete Alltäglichkeit der Zeitungen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse verweist. Als Wissenschaftler, der für den Staat arbeitet, bleibt Schwarzkopf aber der Kommunikationskontrolle von oben, die den realpolitischen Rahmenbedingungen seiner Zeit nicht widerstreiten kann und will, diskursiv verhaftet. Löffler und Prutz nehmen es in ihren Darlegungen mit der Leerstelle allgemeine Zeitungs- als Presse- und Journalismustheorie wieder auf. Dass sie ihre umfänglichen Vorhaben nicht zu Ende bringen, mag mit persönlichen Lebensverhältnissen zusammenhängen. Interessanter aber ist, dass der Widerstand der Zeitung sich auch bei ihnen in der Vielfalt der Menge zeigt, die dem Theorie-Text, der alles kategorial vereinnahmen möchte, entgegentritt. Die massive ethische Distanzierung unerwünschter Folgeerscheinung einer von ihren Medien und Kommunikationen geprägten Moderne ist die ideologische Antwort, die ihre Narrative darauf geben. Dabei ist die Gesetzesmacht ihrer beider Texte und deren Vor-Schriften von der eingestandenen Ge-
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schichtlichkeit ihrer ›Schreibtaten‹ angegriffen. Gerade der Wunsch nach Aktualität ihrer Theoriegebäude setzt diese ihrer historischen Relativität aus. Prutz scheint sich darüber hinaus der Ansicht zu nähern, dass künftige Zeitungs- und Journalismustheorie es mit der Weltkommunikation aufnehmen müsste, wenn sie selbst eine Reichweite entwickeln möchte, die der Gegenstand Zeitung als kommunikatives Artefakt für sich selbst gerne behauptet. Diese Option auf eine Theorie von Weltkommunikation in der Zeitungstheorie im historischen Längsschnitt nun weiter zu verfolgen, ist nicht mehr das Anliegen der vorliegenden Arbeit. Um es mit Worten des Diskurses zu sagen, der hier vorgeführt wurde: Dies wäre etwas für Viele! Aber es bleibt eine Überlegung offen, der der Epilog zur historischen (deutschen) Zeitungstheorie gelten soll: Wie kann denn weiterhin Zeitungstheorie geschrieben werden und wie kann sie in der Darstellung kommunikations- und medienhistorische Fragestellung mit einander vermitteln? Deutlich ist, wenn man den Spuren zeitungstheoretischer Einlassung seit dem 17. Jahrhundert folgt, dass immer mehr der Text der Zeitungstheorie zur Kommentarinstanz einer Form wird, die zwar auch aus Texten besteht, aber deren Formaspekte nicht darin aufgehen. Um das Nebeneinander und die Nachbarschaft von Texten, die eine Zeitung synchron publiziert, als Möglichkeit dieser Form in den Blick zu bekommen, muss man eine Seite, die Seiten eines Blattes auch ›wie ein Bild‹ anschauen und die Gleichzeitigkeit des Vielen wahrnehmen. Dies konnte Zeitungskritik des frühen 17. Jahrhunderts noch besser als spätere diskursive Zeitungstheorie erfassen, insofern erstere ihre Kritik an der Zeitung allegorisch in Text- und Bildzeichen durchführt und der wechselseitigen Bezogenheit von Text und Bild in der Zeitung einen intermedialen Kommentar zugesellt. Ich denke, dass es erst mit der Medienwissenschaft des späten 20. Jahrhunderts wieder gelingen konnte, die Aufmerksamkeit für die Form Zeitung und ihre intermedialen Implikationen in der Nachbarschaft und Durchdringung von Text und Bild neu auszurichten. Dabei ist zu bedenken, dass die Bildlichkeit der Zeitung nicht erst dort beginnt, wo, wie im 17. Jahrhundert, standardmäßig ikonische Elemente die Zeitungstitel mitbestimmen oder, wie seit den 1830er Jahren, Zeitungstext massiv von Bildern durchsetzt wird, sondern auch dort, wo in der ›bildlosen‹ Zwischenzeit der Spaltendruck, die Auszeichnungsschriften, ja, die Anordnung von unterschiedlich langen Zeitungstexten in ihrem Neben- und Nacheinander einen Bildraum organisieren. In diesem Sinne widmet sich mein Epilog auch einer wissenschaftshistorischen Leerstelle der jüngeren Zeit, nämlich dem in den Kommunikations- und Publizistikwissenschaften doch eher wenig beachteten frühen Buch von Marshall McLuhan The Mechanical Bride. Folclore of Industrial Man, das 1951 bei Vanguard-Press in New York erschien.3 Diese Publikation liest nicht nur Zeitungstexte und schreibt dazu 3
McLuhan. The Mechanical Bride; dt.: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Aus dem Amerik., mit Anm. und einem Essay von Rainer Höltschl, Jürgen Reuß, Fritz Böhler und Martin Baltes. Amsterdam 1996. Die He-
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Kommentare, sondern bietet eine Theorie der Zeitung an, die die Bildlichkeit des publizistischen Formats Zeitung mitreflektiert. So macht McLuhan in The Mechanical Bride die Zeitung nicht zur zum Thema eines Buchs über die Presse seiner Zeit, sondern die Form Zeitung hat offensichtlich die Darstellungsverfahren des Buches zwischen Text und Bild inspiriert und die erkenntnistheoretischen Ansprüche von McLuhans Medientheorie beeinflusst. Verfahren der Zeitung, aber auch anderer medialer Konstellationen in Werbung oder Comic werden für die Gestaltung der Seiten eines Buchs übernommen, das darin anerkennt, dass es als Buch Teil einer übergreifenden Verfahrensgeschichte ist, die das Medium Druck nach und nach hervorgebracht hat. So nimmt dieses Buch performativ Theoreme von McLuhans Medientheorie voraus, die er seit den 1960er Jahren dann vielfach als die Botschaft des Mediums ausgibt und in Szene setzt: dass der Inhalt eines Mediums immer andere Medien sind. McLuhan gibt seinem Buch als Artefakt eine medienhistorische Signatur mit auf den Weg: Es erscheint in der Schwellenzeit zwischen der Noch-Herrschaft des Buchdruckzeitalters und der diese Epoche schon länger überschattenden Herrschaft des elektronischen Zeitalters, als deren Repräsentant McLuhan das Fernsehen gilt. Das Buch und seine Lehren über die Zeitung und Druckkultur kamen in den Augen des Verfassers, der ein skeptizistischer wie emphatischer Theoretiker der Moderne war, schon verspätet in der Öffentlichkeit an, »vor allem das Fernsehen habe seine Attacke gegen die mechanische Braut inzwischen irrelevant gemacht, da es die elektronische Braut an ihre Stelle habe treten lassen.«4 Die Verspätung eines Artefakts gegenüber einem anderen ist mit medientechnischen Zäsuren verbunden, denn die Fernsehkultur verhält sich agonal zur Zeitung aufgrund neuer technischer Möglichkeiten, die etwa den schnelleren Zugang zu Informationen, die breitere Konsumtion täglich neu generierter Geschichten und anderes mehr betreffen. Beschleunigungsverhältnisse an das Aufkommen neuer Medien zu binden, führt auf theoretische Einsichten der frühen Zeitungstheorie zurück. Denn schon ihr gilt die Zeitung als ein im Vergleich mit dem Buch recht schnell veröffentlichendes Medium, das eine neue Herrschaft über die Geltungsdauer von Wissen ausübt. McLuhan, der von Haus aus Literaturwissenschaftler ist, greift selbst auf Diskussionen von Literaten des 19. Jahrhunderts zurück, um die Konkurrenzsituation zwischen Buch und Zeitung zur Sprache bringen. So etwa in einem Aufsatz von 1954, Joyce, Mallarmé and the Press.5 Hier zieht er Einschätzungen des französischen Dichters Alphonse de Lamartine heran, um Form- als Medienfragen zu diskutieren. Lamartine hatte seinerseits 1831 an in
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rausgeber dieser Ausgabe äußern sich zur Rezeptionsgeschichte, Reuss/ Höltschl. Mechanische Braut und elektronisches Schreiben. Zur Entstehung und Gestalt von Marshall McLuhans erstem Buch. In: Ebd. S. 233–247. Hier S. 238. So äußert sich McLuhan 1953, zit. n. Reuss/Höltschl. Ebd. Dt.: Marshall McLuhan. Joyce, Mallarmé und die Presse. In: Ders. Die innere Landschaft. Literarische Essays. Hg. von Eugene McNamara. Düsseldorf 1974. S. 21–38.
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Europa kursierende Urteile über das Verhältnis von Buch, Zeitung und Journalistik angeschlossen: Noch vor Ende dieses Jahrhunderts wird die ganze Presse und das ganze menschliche Denken in Journalismus bestehen. [...] Die Gedanken werden mit Lichtgeschwindigkeit in der Welt verbreitet, sofort aufgenommen und in den entferntesten Erdteilen verstanden werden [...]. Es wird keine Zeit bleiben, sie [die Ideen] reifen zu lassen oder in einem Buch einzufangen, denn es würde zu spät ankommen. So wird die Zeitung das einzig mögliche Buch der heutigen Zeit werden.6
McLuhan interessiert sich in seinem Aufsatz von 1954 dafür, wie der Gedanke von Lamartine über die Zeitung als das künftig »einzig mögliche Buch« auf die Schreibweisen von Mallarmé und Joyce anzuwenden sei. Sein eigenes Buch The Mechanical Bride von 1951 steht darstellungstechnisch in der Tradition ästhetischer Verfahren der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Dazu kommen zeitgenössische Anleihen bei Film, Fernsehen, Comic und Zeitung. Wissenschaft wird so als Teil eines größeren Zusammenhangs erkennbar, in dem Kulturgüter aller Art unaufhörlich miteinander in Raum und Zeit kommunizieren. Bekanntermaßen falten die späteren Publikationen McLuhans wie The Gutenberg Galaxy (1962) und Understanding Media (1964) die epochalen Signaturen, die Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck und elektronische Medien im Allgemeinen gesetzt haben, genauer aus. Die Prämierung bestimmter Einzelmedien, die Epoche gemacht haben, mündet bei McLuhan in die Erzählung einer medial bestimmten Zeitalterfolge. Diese wird zudem mit evolutionshistorischen Annahmen verbunden, die es dem Medienhistoriker McLuhan erlauben, die gesamte Menschheitsgeschichte ab dem Zeitalter der Mündlichkeit auszufalten. Die Evolutionsgeschichte der Medien verbündet sich als Menschengeschichte mit einer historischen Anthropologie, die selbstbezüglich den Ort, von dem aus in der Gegenwart erzählt wird, mit einschließt. Doch werden die auf den Menschen bezogenen Einzelmedien eher versuchsweise dominant gesetzt, als dass sie in McLuhans Erzählungen wirklich eine historische Alleinherrschaft behaupten. Seine Medienevolutionsgeschichten, die Technik, Medien und Menschen verbinden, sind weniger dogmatisch und einsinnig als manche Rezeptionsgeschichte es von seiner Medientheorie später behauptet hat. Für mich ist McLuhans Medientheorie immer noch dort spannend, wo es ihr gelingt, die Epochensignatur durch ein technisch ausgezeichnetes Medium in Widerstreit mit anderen Formausprägungen und Techniken zu bringen und seine Medienbeobachtungen sich der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen aussetzen. Die nachfolgenden Bemerkungen zu den Verfahren von The Mechanical Bride setzen in diesem Sinne an Differenzen auf verschiedenen Ebenen an, die das Buch nicht zuletzt als spannungsvolle Beziehung verschiedener ästhetischer Möglichkeiten ausspielt. Mein besonderes Interesse gilt den Anteilen, die ich an dem Buch als zeitungstheoretische verstehe.
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Alphonse de Lamartine; zit. n. ebd. S. 21.
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Technisch fundierte Epochensignaturen, Anthropologie und ästhetische Postulate bestimmen die Formgebung der Publikation The Mechanical Bride. Das gedruckte Buch steht zwischen den Dingen und Zeiten: Es wird in einem Umfeld publiziert, das längst von den elektronischen Medien beherrscht wird. Seine ästhetischen Verfahren, Formen und Diskurse bilden Schnittstellen zu kybernetischer Informationstheorie und sozialpsychologischer Massenkommunikationsforschung, Radio- und Pressewerbung, Politik, Wissenschaft und Populärkultur. Die Machart von The Mechanical Bride knüpft an das selbstbezügliche Formbewusstsein an, das die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts pflegen. Es ist ein Künstlerbuch, das Montage und Zitat schätzt, Zusammenhänge, Brüche und Diskontinuitäten inszeniert; es ist das Buch eines Wissenschaftlers, der nach neuen Formen für Theoriebildung und -darstellung sucht. Der »aesthetic approach« wurde zum Kennzeichen der Toronto School of Communication; über ihn tauschte sich McLuhan mit dem Wirtschafts- und Kommunikationshistoriker Harold A. Innis zu der Zeit aus, als McLuhan The Mechanical Bride veröffentlicht.7 So schreibt er an Innis, dass er »ein Experiment über Kommunikation im Auge habe, das verschiedene Spezialgebiete durch das, was man eine Methode ästhetischer Analyse gemeinsamer Merkmale nennen könnte, verbinde[t].«8 Es geht McLuhan im Gespräch mit Innis insbesondere um den Bruch mit gewohnten Herangehensweisen an den Forschungsgegenstand Medien und Kommunikation. So verstehen Marshall McLuhan und der Ethnologe Edmund Carpenter im Rückblick die Konzepte der TorontoSchool als Paradigmenwechsel, der auch ihre Zeitschrift Explorations. Studies in Culture and Communication ab 1953 bestimmte.9 In einem Sammelband von 1960 mit Aufsätzen dieser Zeitschrift wird die neue Perspektive, die Wissenschaft einnehmen sollte, noch einmal vorgestellt: [D]ie heutige elektronische Revolution ist schon so allgemein und verbreitet, daß es schwerfällt, aus ihr herauszutreten und sie objektiv zu untersuchen. Das ist aber gleichwohl möglich und ein aussichtsreicher Ansatz besteht darin, das eine Medium durch ein anderes zu analysieren: den Druck aus der Perspektive elektronischer Medien oder das Fernsehen aus der des Drucks.10
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Vgl. Karlheinz Barck. Harold Adam Innis – Archäologie der Medienwissenschaft. In: Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Hg. von K. Barck. Wien/New York. 1997. S. 3–13. Hier S. 11. Zur ästhetischen Konzeption vgl. auch Reuss/Höltschl. Mechanische Braut. Zit. n. Barck. Ebd. S. 11f. Zu der interdisziplinären Gruppe der Toronto School of Communication gehörten Edmund Carpenter, Eric A. Havelock, Jack Goody, Ian Watts, Harold A. Innis und McLuhan; vgl. dazu Erhard Schüttpelz. Von der Kommunikation zu den Medien/In Krieg und Frieden (1943–1960). In: Gelehrte Kommunikation. S. 483–551. Explorations in Communication. An Anthology. Hg. von Edmund Carpenter und Marshall McLuhan. Boston 1960. Vgl. zum Wechsel von kybernetischer Kommunikationsforschung zur Medienwissenschaft in der Toronto-School Schüttpelz. Von der Kommunikation zu den Medien. Zit. n. Barck. Harold Adam Innis. S. 11.
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Gegenüber diesem Perspektivwechsel, der die Machart eines (neuen) Mediums zur Beobachtung eines anderen (alten) nutzt, behaupten sich in nordamerikanischer Kybernetik und Massenkommunikationsforschung in den 1940er Jahren und später Modelle, die von der gerichteten und einsinnig vom Sender zum Empfänger verlaufenden Wissensvermittlung ausgehen und über dem Inhalt die Botschaft der Form und der Materialitäten des Mediums zu vergessen scheinen.11 Hier bestimmt Merkur Famas Flug; historisch nachvollziehbar für eine Zeit, die dieses Modell mit der Kriegstechnik ›Propaganda‹ exemplarisch verband, die ihrerseits ›gezielte‹ Fehlinformationen und Gerüchte verbreiten sollte.12 Propagandastudien verstanden sich in der Nachkriegszeit dann als zivile Aufklärung über die Machttechniken von Kriegskommunikation und die Macht der öffentlichen Kommunikation.13 McLuhan geht in The Mechanical Bride ebenfalls auf die Macht der Presse ein, kritisiert aber die Konzepte der Massenkommunikationsforschung als ungenügend, um es mit dieser Macht aufnehmen zu können. Die Frage für ihn bleibt aber, wie es gelingen kann, als beobachtender Teilnehmer das zu fokussieren, was seinem Verständnis nach alle umfängt: das allgemein Übliche und Alltägliche, das Medien und Kommunikationen machtvoll erzeugen und das sich in Sozialtechnologien niederschlägt und insgesamt den Horizont des dem Menschen allein Möglichen vorgibt. Diese vielschichtige Inkludiertheit stellt für ihn eine universelle Gegebenheit dar. Umso ehrgeiziger fällt das Vorhaben aus, Bedingungen und Möglichkeiten des Menschen unter Beobachtung zu stellen. Inszenierte Form, die reflektierte Beobachtung an die Weise der Darstellung bindet, scheint hier einen gangbaren Weg für Medien-Theorie zu weisen. Die Idee zu dem Buch The Mechanical Bride entstand aus einer Reihe von Vorträgen, die McLuhan in den 1940er Jahren gehalten hatte. Hier hatte er gesellschaftskritische Reden über die Macht der Werbung mit Dias illustriert. Für das beabsichtigte Buch sollte »[n]eben Ausschnitten aus Werbeanzeigen und Comics [...] jeweils ein kurzer analytischer Kommentar abgedruckt werden, so daß das Buch praktisch eine gedruckte Version seiner Diavorträge ergab.«14 Dies klingt überzeugend einfach gedacht, doch die Vorlage, die der Autor bei Vanguard Press in New York ablieferte, lässt etwas von dem Auftrag ahnen, den dieses Buch als Publikation bewältigen sollte. Die Unterlagen kamen in einer Kiste bei dem Verlag an. Diese enthielt ein fünfhundertseitiges Manuskript, außerdem Hunderte von vergilbten Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten, die mit Büroklammern an verschiedene Blätter
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Vgl. zur Umpolung von kriegstechnisch behandelten Kommunikationskonzepten in zivile Kommunikationsmodelle Schüttpelz. Von der Kommunikation zu den Medien. S. 514 u.ö. Vgl. dazu auch Neubauer. Fama. S. 171ff. Vgl. Hagemeyer. Die Entstehung von Informationskonzepten. Philip Marchand. Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Stuttgart 1999. S. 159.
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geheftete waren. Diese Ausschnitte, hat McLuhan später einmal ausgerechnet, repräsentierten lediglich 0,01 Prozent seiner privaten Sammlung.15
Die Lektoren des renommierten New Yorker Verlages sind gleichermaßen entsetzt wie fasziniert von der Vorlage des leidenschaftlichen Sammlers. Vor jedem Buch steht ein Archiv, so auch hier.16 Doch hatte das Unternehmen und sein operativer Enzyklopädismus nicht schon seinen schönsten Ausdruck in einem Manuskript mit verklammerten Zeitungsausschnitten in einer Kiste gefunden? Und wer anders als der Autor selbst sollte dies alles adäquat für den Druck neu zusammenfügen? Und wie verhielten sich die Ausschnitte aus Text und Bild in der Ordnung einer gedruckten Buchversion? War der Inhalt des Buches viele andere Medien, wie konnte dieses Viele dann den Wechsel in das eine Medium Druck überleben? Was waren die Argumente, die zwischen Zettel und gedruckter Seite, zwischen Text und Bild, Zeitung und Buch, Text und Kontext, Innen und Außen entfaltet werden sollten? Die Publikation sollte sicherstellen, dass das Anliegen einer neuen Perspektive auf Medien und Kommunikation auf dem Weg vom Einen zum Anderen nicht verloren ging. Das Verständnis für dieses Anliegen, Formgewinn ohne Erkenntnisverlust in der Mediendifferenz zu praktizieren, scheint bei den Redakteuren von Vanguard Press in New York nicht allzu groß gewesen zu sein. McLuhan schreibt in einem Brief über die Auseinandersetzung mit dem Verlagshaus: Sie sind besessen von den alten eindimensionalen, monolinearen Geschichten und Ausführungen und stellen sich unter Verständlichkeit vor, verschiedene Stoffe unter ein einziges Konzept zu zwingen. Es anders zu sehen würde für sie bedeuten, alles, was sie bisher über die meisten Dinge wußten oder empfanden, zu revidieren. Und das ist die Krux.17
Die Redakteure müssen erst daran gewöhnt werden, dass das vertraute Publikationsformat ›wissenschaftliches Buch‹ aus polymorphen Umständen hervorgeht und mit dieser Botschaft auch wieder entlassen werden soll. Es sind die Szenarien der Gutenberg-Galaxis, die sich in der Gestalt spiegeln sollen und als deren Botschafter McLuhan fortan immer wieder auftreten wird.18 Diese Galaxis spannt Netze von symbolischen Bezugnahmen über Kulturen und Zeitalter aus und fort, umfasst Merkur wie Fama. Zeichen und Formen, die Sprache und Schrift setzen, müssen gedeutet werden, auch wenn dieses genau die hermeneutische Prägung des Menschen durch die Gutenberg-Galaxis ist. McLuhan versteht es als Auftrag an Wissenschaft, die Verstrickungen des Menschen in die kommunikativ-medialen Bedingungen seines Handelns zu erforschen. Die Geschichte der Zeitungs15 16
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Ebd. S. 160. Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass Zeitungen und andere Druckwerke auseinander genommen und neu zusammengefügt werden; vgl. dazu Anke te Heesen. Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt in der Moderne. Frankfurt/M. 2006. Zit. n. Reuss/Höltschl. Mechanische Braut. S. 238. Vgl. zum Sendungsbewusstsein von McLuhan Marchand. Marshall McLuhan.
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theorie hält hier ebenfalls eine betagte Lehre bereit: Seit dem späten 17. Jahrhundert wird dem gedruckten Periodikum der Effekt zugesprochen, die Entfernung zwischen den Räumen zu verkürzen und die Nähe der Menschen zu den Dingen, Ereignissen und zueinander durch publizistische Beteiligung zu ermöglichen. Neben der Beschleunigung und der Historizität alles Wissens wird darin eine dritte große Botschaft der Zeitung und Zeitungskommunikation vermittelt: Nähe. Die technisch-soziale Inklusionsvermutung ließ sich moralisch-topisch auswerten. Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte und ihre Macher gingen davon aus, dass die selbst bestimmte Nähe von Zeitungslesern und -leserinnen zu den publizierten Gegenständen, Wissensformen und menschlichen Aktivitäten ein wichtiges Kriterium des eigenen Erfolgs war und sogar dazu dienen konnte, kollektive Einheiten zum Besten des Ganzen herzustellen. Seit dem 18. Jahrhundert wird diese Einschätzung von einer Anthropologie unterstützt, die das Soziale im allgemeinen Menschlichen fundamentalisiert. Die Nähe der Menschen als Menschen kann so zum starken Sinnzentrum des Allgemeinen werden und Zeitungspublizistik Trost des Einzelnen in der Ähnlichkeit mit anderen Menschen bereit stellen. Diese Spur eines Allgemeinen, das auf dem Konzept Nähe beruht, scheint mir auch in McLuhans Zeitungstheorie, die The Mechanical Bride mit sich führt, greifbar zu sein. Die Geschichte der menschlichen Nähe und ihre technisch-sozialen Voraussetzungen führen zu dem Wissenstransfer von der alten in die neue Welt (und zurück) und zu den historischen Konstellationen zwischen Massenkultur und kulturellen Eliten respektive dem Verständnis und der Interpretation dieser Konstellationen. Die wissenschaftlichen und politischen Einschätzungen dessen, was allen Menschen gemeinsam ist und sie darin zu Nachbarn macht, gelangen auf vielen Wegen aus dem alten Europa in die neue Welt und prägen nicht zuletzt die nordamerikanische Utopie von Gemeinschaft stiftenden und stabilisierenden Diskursen, Technologien und kulturellen Praktiken.19 Hier muss auch der periodischen Zeitung ein prominenter Platz eingeräumt werden, ist es doch bereits Thomas Jefferson selbst, der 1781 die Gründung einer ersten National Gazette anregt, um das neue kollektive Projekt voranzutreiben.20 Und auf dem amerikanischen Zeitungsmarkt des 19. Jahrhunderts vollziehen sich schneller als in Europa die Entwicklungen hin zu den großen Zeitungsimperien, die das nationale Projekt der Vereinigten Staaten mit den industriellen Formen der Moderne zusammenbringen.
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Vgl. zu den Transferbewegungen zwischen Europa und Nordamerika und zu den historischen Voraussetzungen von Kommunikationsforschung in Statistik und Kulturtheorie des 18. Jahrhunderts Horst Reimann. Die Anfänge der Kommunikationsforschung. Entstehungsbedingungen und gemeinsame europäisch-amerikanische Entwicklungslinien im Spannungsfeld von Soziologie und Zeitungswissenschaft [1989]. In: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung. Hg. von Wolfgang R. Langebucher. Wien 1994. S. 7–23. Vgl. WGr 300.
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Der Soziologe Robert Ezra Park 21 zitiert 1925 in seinem Aufsatz The Natural History of the Newspaper eine Bemerkung des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten, die auf den Sozialvertrag zielt, der mit publizistischer Interaktion verbunden werden kann: »›I would rather live,‹ said Thomas Jefferson, ›in a country with newspapers and without a government than in a country with government and without newspapers.‹«22 Park beschäftigt sich in seinem Aufsatz von 1925 nun damit, wie sich das Verständnis einer publizistisch stabilisierten Nahkommunikation mit gesteigerter gesellschaftlicher Komplexität in Beziehung setzen lässt. Er geht dazu auf das Konzept des »village« ein, das in Nordamerika zu der Zeit bereits die symbolische Interaktion unter Teilnehmern aus der »city« regelt, die sich einander nahe fühlen: It is not practicable, in a city of 3,000,000 and more, to mention everybody’s name. For that reason attention is focused upon a few prominent figures. In a city where everything happens every day, it is not possible to record every petty incident, every variation from the routine of the city life. It is possible, however, to select certain particularly picturesque or romantic incidents and treat them symbolically, for their human interest rather than their individual and personal significance. In this way news ceases to be wholly personal and assumes the form of art. It ceases to be the record of the doings of individual men and women and becomes an impersonal account of manners and life. The motive, conscious or unconscious, of the writers and of the press in all this is to reproduce, as far as possible, in the city the conditions of life in the village. In the village everyone knew everyone else. Everyone called everyone by his first name. The village was democratic. We are a nation of villagers. Our institutions are fundamentally village institutions. In the village, gossip and public opinion were the main sources of social control. »I would rather live«, said Thomas Jefferson, »in a country with newspapers and without a government than in a country with government and without newspapers.« […].23
Diese Bemerkungen verweisen auf die Attraktivität von publizistisch erzeugter Nähe, die mit den Rahmenbedingungen des politischen Projekts Demokratie abgestimmt ist. Eine Stände und Schichten übergreifende Inklusionsbewegung ist schon die Utopie eines revolutionär gestimmten Europas, das die regelmäßige Publizistik als die technische Voraussetzung des politischen wie des kulturellen Projekts Demokratie erfasst. Fama besitzen in diesem Projekt zwar nur einzelne 21
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Robert Ezra Park promovierte bei dem Philosophen Wilhelm Windelband in Heidelberg 1904 mit der Arbeit Masse und Publikum, die sich aus soziologischer Sicht mit den städtischen Formen von Nachbarschaften und Gruppenbildungsprozessen beschäftigte. Er hörte auch bei Georg Simmel in Berlin; vgl. zu Parks Forschungsansätzen Lars Lierow. Masse, Publikum und das Ding genannt Öffentliche Meinung. Robert Ezra Parks Heidelberger Dissertation. In: Zeitung, Werbung, Öffentlichkeit. Biographisch-systematische Studien zur Frühgeschichte der Kommunikationsforschung. Hg. von Stefanie Averbeck und Arnulf Kutsch. Köln 2005. S. 55–87. Robert E. Park. The Natural History of the Newspaper (1925). In: The City. Mit einer Einl. von Morris Janowitz. Hg. von Robert W. Park, Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie. Chicago 1976. S. 80–89. Hier S. 85. Ebd. S. 84f.
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Persönlichkeiten; sie werden in ihrer publizistischen Darstellung aber zu generalisierten unpersönlichen Personen. Sie stehen symbolisch ein für die Werte, die allen Menschen gemeinsam sind. Es ist gerade nicht die unauslotbare und in diesem Sinne nicht verallgemeinerbare Individualität, die Dilthey in Europa im späten 19. Jahrhundert gegen Massenkommunikation stark macht und die in der neuen Welt noch zum Zuge kommen soll.24 Hier soll umgekehrt die Repräsentanz des Allgemeinen durch öffentlich ausgezeichnete Personen erreicht und so die Spiegelung aller Menschen in der publizistischen persona ermöglicht werden. Der Preis dieser Spiegelung – als ob man einander ähnlich sei – ist nach Park ein Phänomen, das kritisch zu sehen ist: »gossip« und »public opinion« gehen in der »social control« ineinander über.25 Alle Menschen kontrollieren nun wechselseitig, ob sie einander ähnlich sind und bleiben und ob somit die Teilnahme als verstehende Teilhabe am großen Ganzen gelingt. Die amerikanische Zeitungspublizistik des 20. Jahrhunderts nähert sich nach Park als symbolisches System zugleich den Möglichkeiten von Kunst an. Zeitungs-Kunst, die Nähe herstellt, kann gemeinsam mit Politik die Ansprüche auf das Allgemeine in der Demokratie verwalten, und beide Bereiche müssen sich den öffentlichen Ansprüchen auf das Gemeinsame stellen. Diese Verbindung von Politik, Kunst und Massenkommunikation gehört zum Kernbestand nordamerikanischer Kultur. Es bietet den zeitgleich präsenten alteuropäischen Kunst- und Elitendiskursen, die auf Distanz zu Formen von Massenkommunikation gehen, die Stirn. Parks Konzept von Nähe durch symbolisch verwaltete Ähnlichkeit lässt aber auch die Kunstszenen der europäischen Avantgarden seiner Zeit, die sich mehr oder weniger polemisch Verbindungen zwischen Eliten und Massen erarbeiten, schon hinter sich.26 Geht man von Parks sozio-kulturellen Überlegungen zu dem ›Dorf‹, das in der ›Stadt‹ durch Zeitungspublizistik entsteht, zu McLuhan über, so sieht man die Kontinuitäten im Argument. Sie betreffen die Familiarisierung von Geschichte und Politik durch Massenkommunikation, die dem nordamerikanischen Traum von der Einheit aller Menschen, der ›family of man‹, symbolisch Ausdruck verschafft. Bei McLuhan wird Nähe konsequent zur Welt-Botschaft der Medien ausgefaltet: Massenkommunikative Verhältnisse bringen das Global Village hervor: Sicherlich [...] haben die elektromagnetischen Entdeckungen das simultane »Feld« in allen menschlichen Bereichen wieder erstehen lassen, so dass die Menschenfamilie jetzt unter den Bedingungen eines »globalen Dorfes« lebt. Wir leben in einem einzigen komprimierten Raum, der von Urwaldtrommeln widerhallt. Somit ist unser heutiges
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Vgl. Fohrmann. Der Intellektuelle, die Zirkulation. S. 435ff. Vgl. Zum Phänomen Klatsch aus evolutionsbiologischer Sicht Matthias Uhl. Der Klatsch der Yellow-Press – Immer neu und doch das Gleiche. In: Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000. Hg. von Ralf Schnell und Georg Stanitzek. Bielefeld 2005. S. 157–167. Vgl. hierzu Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders. Stuttgart/Weimar 1995.
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Interesse für die »Primitiven« ebenso selbstverständlich wie das Interesse des 19. Jahrhunderts am »Fortschritt« – und gleichermaßen belanglos für unsere Schwierigkeiten.27
So gehen bei McLuhan kanadischer aesthetic approach und nordamerikanisches Demokratieverständnis eine Synthese ein, deren analytisches Potential für die komplexen Zusammenhänge moderner Medien- und Kommunikationsverhältnisse freigesetzt wird.28 Der Vorschlag von Carpenter und McLuhan, ein Medium mit Hilfe eines anderen Mediums zu analysieren, ist eine erkenntnistheoretische Reaktion auf die Einsicht, dass alle Menschen nur als teilnehmende Beobachter über den Zusammenhang von Moderne und Massenkommunikation sprechen können. Was aber wäre das ›andere‹ Medium der Zeitung in The Mechanical Bride im Sinne operationalisierter Mediendifferenz? Wie zeichnet sich die Spur eines Anderen unterbrechend in das allzu geläufige Eigene ein? Sind es nicht mehr die Bücher, weil diese wie Zeitungen nur unterschiedliche Ausprägungen einer hegemonialen Technik Druck wären? Das Buch The Mechanical Bride ist tatsächlich holistisch auf das Medium Druck ausgerichtet und negiert in seiner eigenen Monomedialität im Druck Unterschiede zwischen Zeitung und Buch. Aber hat nicht die Zeitung im mechanischen Zeitalter des Buchdrucks Unterschiede zum Buch hervorgebracht, etwa indem sie mehr Informationen schneller und mit größeren gesellschaftlichen Reichweiten distribuierte als Bücher dies je konnten? Diese Unterschiede zwischen Zeitung und Buch könnten aber hinlänglich auch in den Parametern einer Kommunikationswissenschaft beschrieben werden, die die Funktionalität gedruckter Artefakte hinsichtlich gesteigerter Leistungen in Zeit und Raum erklärt.29 Was aber stellen ästhetisch aufbereitete Formen an Potential bereit, um methodisch die Analyseform: ›ein Medium durch ein anderes‹ auf der Binnenseite des Gedruckten durchzuführen? Ein anderes Medium im Sinne von McLuhans medienevolutionären Thesen wäre gegenüber gedruckter Sprache gesprochene Sprache. Der menschliche Körper und seine kommunizierenden Sinne werden als die Ausgangsszene für jede kulturelle Errungenschaft, jede neue Technik, jeden Vorgang von Ausdifferenzierung von McLuhan ernst genommen. Die Erkundung von Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Druck und Elektrizität, die Licht in das Vertraute bringen soll, partizipiert noch am Projekt Aufklärung über ›den Menschen‹: In einer Kultur wie der unseren, die es schon lange gewohnt ist, alle Dinge, um sie unter Kontrolle zu bekommen, aufzusplittern und zu teilen, wirkt es fast schockartig,
27 28 29
McLuhan. Die Gutenberg-Galaxis. S. 38. Vgl. zur Positionsnahme der Toronto-School an der kanadischen ›Peripherie‹ (gegenüber Nordamerika und Europa) Barck. Harold Adam Innis. Auf diese Weise bezieht etwa Harold A. Innis die Zeitung in seine Geschichte von Verkehrs- und Kommunikationswegen und ihre politischen, ökonomischen und kulturellen Effekte ein, s. Harold A. Innis. Empire and Communications. Toronto 1972.
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wenn man daran erinnert wird, daß in seiner Funktion und praktischen Anwendung das Medium die Botschaft ist. Das soll nur heißen, daß die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder Ausweitung unsrer eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird.30
Der Unterschied der gedruckten Zeitung zur mündlichen Kommunikation könnte dann ebenso von kulturellen wie anthropologischen wie ontologischen Differenzen bestimmt sein, deren analytische Offenlegung die intrinsischen Selbstverständlichkeiten einer gedruckten Zeitung genauer zu erkennen gäbe. Nun geht schon die frühe Zeitungstheorie darauf ein, dass Zeitungskommunikation eine verdächtige Angleichung an Formen und Phänomene mündlicher Interaktion praktiziert. Kategorial gezogene Grenzen zwischen mündlicher und druckschriftlicher Kommunikation geraten dabei ins Schwimmen, weil Differenzen nur im Zusammenhang mit Übergängen und Effekten des Einen im Anderen sichtbar werden, historisch gerahmt und diskursiv erzeugt werden. Nur, wer etwa wie Franz Adam Löffler versuchte, Unterschiede zwischen Blatt und Buch als allein ontologische zu behandeln, könnte prekäre Grenzverläufe einigermaßen stabil halten. Geht es aber nicht um ontologisch ausgewiesene und in diesem Sinne beherrschbare Grenzverläufe bei der Behandlung von Mediendifferenz, so käme dem Versuch, Unterschiede zwischen einer gedruckten Zeitung und mündlicher oder elektronischer Kommunikation zu verfolgen, kein größerer Erkenntnisgewinn zu als der Beobachtung, wie gedruckte Zeitung und gedrucktes Buch sich zueinander verhalten. Auf der Innenseite des Buchdruckzeitalters und seiner Medien müssten sich allein schon viele medial-kommunikative, soziale, ästhetische und anders erzeugte Differenzen finden lassen, die zeigen, wie ein Medium in einem anderen stecken kann. Im Sinne von Medienanthropologie kann der Formgewinn des Mediums Druck im Buch die menschlichen Sinne etwa anders ansprechen als mit einer Zeitung, mit einem Text anders als über ein Bild. Und wie die Mündlichkeit auf nicht aufgegebene Reste einer uranfänglichen menschlichen Disposition zur Kommunikation in den späteren Zeitaltern technischer Neufassungen von Kommunikation verweist und »Urwaldtrommeln« mitten in der modernen Stadt widerhallen, verbleiben Reste eines Buchs in der Zeitung oder einer Zeitung im Buch. Insofern werde ich Mediendifferenzen im Folgenden für die Beschreibung der Buchpublikation The Mechanical Bride behaupten, und zwar in dem Verständnis, dass unterschiedliche Formen Effekte von technisch und sozial integrierten Verfahren sind, die dieses Buch sich von anderen Medien abschaut und in seine Machart hereinnimmt, sich darin anderen Medien wie der Zeitung, dem Comic oder dem Plakat annähert und gleichwohl eine Form hat, die es zum Buch zwischen anderen Formen gestaltet. Eine Möglichkeit, das
30
McLuhan. Die magischen Kanäle. Aus dem Englischen von Meinrad Amann. Düsseldorf 1968. S. 13. Vgl. zum Schulterschluss von Human- und Sozialwissenschaften in der Toronto-School Barck. Harold Adam Innis. S. 10.
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ästhetische Heraustreten des teilnehmenden Beobachters aus den Bannungen im Zeitalter des Buchdrucks mit dessen Mitteln zu ermöglichen, scheint für The Mechanical Bride die Differenz von Schrift und Bild zu sein. Über sie kann eine weitere Unterscheidung zwischen Lesen und Sehen angenommen werden, wobei beide Wahrnehmungsformate den Gesichtssinn betreffen. Wie also ›liest‹ und ›sieht‹ McLuhan die Zeitung in der Differenz von Text und Bild? Zunächst gehe ich von einer hermeneutischen Einstellung aus, die McLuhan an Texte und Bilder heranträgt, die sich mit einer semiotischen Einstellung verbindet, die Texte und Bilder dann auch auf Zeichen befragt, die diese auf den Seiten seines Buches zu setzen vermögen. Einen Schwerpunkt seiner medienkritischen Einlassungen bildet zunächst die zeitgenössische nordamerikanische Presse- und Radiowerbung. Texte, Bilder und akustische Szenarien werden in ihren kulturellen Folgen diskutiert, die Wechselbeziehungen zwischen Werbung, Film, Comic, Zeitung, Büchern, literarischen, populären und wissenschaftlichen Darstellungsweisen betreffen. Einer wissenschaftlichen Buchpublikation scheint ein Vorwort angemessen zu sein. Im Vorwort zu The Mechanical Bride entwirft sich der Schreibende eine Sprecherrolle. Als rhetorisch versierter vir bonus schlägt der Autor den Vorhang zurück vor einem kollektiven Theater: WIR leben in einem Zeitalter, in dem zum ersten Mal Tausende höchstqualifi zierter Individuen einen Beruf daraus gemacht haben, sich in das kollektive öffentliche Denken einzuschalten, um es zu manipulieren, auszubeuten und zu kontrollieren. Ihre Absicht ist es, Hitze, nicht Licht zu erzeugen.31
Die Vielen arbeiten für die »Werbung« und die »Unterhaltungsbranche«. Deren öffentlichen Institute sind Presse und Radio. Hier sind Werbung und Unterhaltung propagandistisch tätig, hier suchen Täter ihre Opfer. Alles scheint allein von ökonomischen und politischen Interessen durchdrungen. Wie eine herkömmliche Propagandastudie über die Verteilung von Macht und Ohnmacht soll das Buch dann darüber aufklären, wie solche Täter-Opfer-Konstellationen zustande kommen und im Interesse herrschender Gruppierungen stabil gehalten werden. Wer das Know-how von Propaganda beherrscht, vermag Gegenpropaganda zu betreiben. Deren »Licht« wendet sich dann gegen die »Hitze« der anderen. Der Prozess der Beeinflussung und Erziehung soll seine Richtung ändern, auch unter Benutzung der Waffen des Gegners: Warum nicht einfach die neue kommerzielle Erziehung dazu nutzen, ihre anvisierten Opfer über ihre Rolle aufzuklären? Warum nicht die Öffentlichkeit darin unterstützen, das Drama bewußt wahrzunehmen, das unbewußt auf sie einwirken soll? (MB 7)
31
McLuhan. Die mechanische Braut. S. 7. Der bibliographische Nachweis im Folgenden nach dieser Ausgabe unter der Sigle MB.
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Die Dramaturgie des eigenen Auftritts legt offen, dass im öffentlichen Drama bewusstes mit unbewusstem Tun vermischt ist: So findet die Erziehung durch Werbung zwar vor aller Augen statt, doch ihre Strategien werden öffentlich nicht bekannt gemacht. Öffentlichkeit ist in sich gespalten, ebenso Sehen, Hören und Erkennen. Politik und Werbung, Demokratie und Propaganda, Kommerz und Erziehung sind in konkreten, die kollektive Wahrnehmung betreffenden Mustern miteinander verwoben. Der Analyst des modernen Dickichts schreibt und engagiert sich als Betroffener mitten im Geschehen, seine Fremdbeschreibung enthält immer auch die Selbstbeschreibung. Der kollektiv ausgreifende Gestus, ›wir sind alle betroffen‹, durchzieht mit seiner Emphase das ganze Buch: ›Hört, lest und seht, was ich zu sagen, zu schreiben und zu zeigen habe, denn es steht etwas auf dem Spiel‹. In diesem Sinne beerbt die Erzählerstimme die Rhetorik einer kulturkritischen Teilhabe, die noch aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu stammen scheint. Doch ist bereits im Titel des Buchs der Ernst aufklärenden Hinweisens ironisch gebrochen: In dem Buch ist außer »mechanical brides« vieles andere Merkwürdige versammelt, das der multiplen »Folklore of Industrial Man« entstammt. Der Leser als Betrachter darf mit Witzen, Humor und Spannung rechnen, die schon den Fundstücken selbst anhaften und im Verfahren der angehäuften Ausschnitte gesteigert werden. Rhetorische Aufklärung als intellektuelles Projekt verachtet keineswegs das Unterhaltsame der Form, und Populärkultur und Bildung gehen durchaus zusammen. So schreibt McLuhan seiner Mutter im Herbst 1952, sein Buch The Mechanical Bride sei eine neue Form von Science Fiction, mit der Personage aus Anzeigen und Comics als Protagonisten. Da es eher mein Ding ist, die Gemeinschaft in Aktion zu zeigen, als etwas zu beweisen, kann man es tatsächlich als eine neue Romanform ansehen [...]. (MB 238)
Der Auftritt und die Schau der Akteure Autor, Anzeige, Comic oder Zeitung ist auf die unbestimmte Menge der Vielen berechnet, die sich vielleicht auch deshalb für das Buch interessieren könnten, weil dieses sich mit dem Alltäglichen abgibt. Die Abrechnung mit den auch beim Namen genannten Mächtigen und ihren Entäußerungsformen geht Hand in Hand mit der Zurschaustellung kollektivanonymer Produktivkräfte der »industrial folklore«. Deren symbolisches Kapital reicht wiederum über die Tätigkeit namentlich identifizierbarer Agenten weit hinaus. Neben Pressezaren und gewöhnlichem Publikum zielt die Publikation auf die Kollegen und Kolleginnen in der Wissenschaft. Der Autor teilt mit ihnen das Anliegen ›Bildung durch Aufklärung‹, auch wenn er eine Gelehrtensatire auf Kollegen aus Chicago im Kapitel Große Bücher schreibt (vgl. Abb. 29): DIE DIENSTE, die Dr. Hutchins und Professor Adler der Bildung erwiesen haben, werden zu Recht gerühmt. Mit ihrem Enthusiasmus haben sie Bildung zu einem Nachrichtenthema gemacht. Deshalb ist es nicht ohne Ironie, daß der Bericht aus dem LifeMagazin vom 26. Januar 1948 eine solche Grabesstimmung verbreitet, als ob Professor Adler und seine Mitarbeiter angetreten wären, um Plato und andere große Männer zu begraben statt sie zu rühmen. Die »großen Ideen«, die als Grabsteine in alphabetischer Reihenfolge oberhalb der sargförmigen Ordner angebracht wurden, sind Auszüge aus den großen Büchern – ein Schlagwortregister als Werkzeug, um diese Bücher selbst
Abbildung 29: Der Dienst am Geist (MB 64f.)
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zurechtzubiegen. Mittels dieses Registers werden die Bücher für eine sofortige Nutzung aufbereitet. Haben wir nicht Grund zu fragen, worin sich diese Art des Zugangs zu Inhalten und Bedingungen menschlichen Denkens von allen anderen bloß verbalen und mechanisierten Bildungsformen unserer Zeit unterscheidet? (MB 66)
Allerdings wirken kulturkritische Beweisverfahren dieser Art hilflos angesichts kollektiver Zustände: Weil so viele Köpfe an der Herstellung dieses Zustands allgemeiner Hilflosigkeit arbeiten und weil diese kommerziellen Erziehungsprogramme so viel aufwendiger und einflußreicher sind als die relativ schwächlichen Angebote, die die Schulen und Universitäten machen, erschien es angebracht, eine Methode zu entwickeln, um diesen Prozeß umzudrehen. (MB 7)
Die Methode, die das Buch in seinen Umkehrbewegungen verfolgt, vereinigt stattdessen die Verfahren der Kulturkritik mit denen von Unterhaltungsindustrie. Das der Wissenschaft zugewandte Ethos eines methodischen Einsatzes stellt sich in eine intellektuelle Traditionslinie, die die Selbst- und Fremdbeobachtung mit Verfahren ästhetischer Bewusstmachung koppelt. Hier gibt es die Fama der künstlerischen Avantgarden, wobei sich McLuhan, der in den 1930er Jahren in Cambridge Literaturwissenschaft studiert hat, besonders an die englischsprachigen und romanischen Literaturen und bildenden Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts hält. Mit bestimmten Namen sind für ihn ausgezeichnete Stile und Gesten als Mittel von gesellschaftlicher Beobachtung verbunden. Autoren wie Edgar Allan Poe, Stéphane Mallarmé, James Joyce oder (aus der Gruppe der englischen Vorticisten) Ezra Pound, T. S. Eliot, Wyndham Lewis und kubistische Maler wie Picasso ermöglichen ihm Referenzen, die er für sein Anliegen ausmünzt. Im Vorwort von The Mechanical Bride wird das gegenwärtige Geschehen mittels einer Szene skizziert, deren analogische Verweiskraft McLuhan immer wieder verwendet hat. Er liest moderne Zustände allegorisch über Edgar Allen Poes Erzählung Der Sturz in den Malstrom: »Während der Arbeit an diesem Verfahren [für sein Buch] rief sich mir immer wieder Edgar Allen Poes ›Sturz in den Malstrom‹ ins Bewußtsein.« (MB7) Es geht hier auch um die Sogkraft der Erzählung selbst, die McLuhan als Nahkommunikation für sein eigenes Denken zulässt. Man kann darin ein ›gewendetes‹ Verfahren des close-reading sehen, dessen Konzepte er bei seinen Lehren der Cambridge-School in den 1930er Jahren kennen gelernt hat. Poes Erzählung gewinnt McLuhan eine Schlüsselszene des rettenden Umgangs mit der Moderne ab. Denn der Seemann in Poes Erzählung hat den Sturz in den Malstrom überlebt. Er erzählt später einem anderen, wie er auf der Wasseroberfläche treibend mit seinem Schiff immer tiefer in den Strudel hinab gezogen wird, und zwar so lange, bis er erkennt, dass die leichteren Gegenstände allmählich wieder nach oben, an den Rand des Malstroms wandern. Er bindet sich deshalb an ein Fass, springt vom nach unten abdriftenden Schiff und gelangt allmählich wieder an den Rand des Strudels. Als der Malstrom sich wieder schließt, treibt der Seemann auf der Strömung der Wasseroberfläche dem rettenden Ufer zu. McLuhan kommentiert:
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Poes Seemann rettete sich, indem er die Dynamik des Strudels studierte und sie sich zunutze machte. In ähnlicher Weise unternimmt auch das vorliegende Buch weniger den Versuch, gegen die beachtlichen Strömungs- und Druckkräfte anzukämpfen, die sich durch die mechanischen Einwirkungen von Presse, Radio, Kino und Werbung um uns herum aufgebaut haben. Vielmehr versucht es, den Leser in den Mittelpunkt eines durch diese Kräfte in Rotation versetzten Bildes zu stellen, von wo aus er die Vorgänge beobachten kann, die gerade ablaufen und in die jeder verwickelt ist. Aus der Analyse dieser Vorgänge werden sich hoffentlich viele individuelle Strategien von selbst ergeben. (MB 7)
Die Beobachtung eines gewaltigen Naturschauspiels und die Rettung des Involvierten aus dieser Gewalt spielen bei Poe auf die Ästhetik des Erhabenen an. Seit Kants Bestimmung des Erhabenen geht es um die ästhetische Rettung des Beobachterstandpunkts. Die über Kunst verbürgte Möglichkeit weltimmanenter Beobachtbarkeit von Welt sichert die Rettung aus den Katastrophen der Geschichte.32 Im transzendentalpoetisch bestimmten Verhältnis von Katastrophe und Rettung inszeniert Literatur mit ihren Möglichkeiten die ›Szene der Beobachtbarkeit‹. An Poes Erzählung scheint McLuhan zu faszinieren, dass der Sturz in den Malstrom nicht in den unendlichen Regress einer nicht mehr zu unterbrechenden Induktionsschleife führt, sondern Beobachtung als Praxis wieder aus der Katastrophe herausführen kann. In späteren Publikationen wird McLuhan die Möglichkeit herauszutreten mit der Schriftlichkeit verbinden. Die Kulturgeschichte der Schriftlichkeit beinhaltet für ihn die Möglichkeit der Distanznahme durch die Einnahme eines perspektivischen Standpunkts.33 So könnte der Bericht des Seemanns auch für die Szene der Schriftlichkeit ausgedeutet werden, die sich in der literarischen Kunst der Standpunktnahme selbst auslegt und Gehör verschafft. Texte und Bücher, die sich mit den katastrophischen Anmutungen von Moderne auseinandersetzen, erhalten die Kommunikation in teilnehmender Distanznahme zu dieser aufrecht. Die Dynamik des »Wirbels« ist in der Erzählung von Poe Ausdruck einer unbeherrschten Naturkraft. Ihr gegenüber positioniert sich die intradiegetische Erzählerstimme eines Überlebenden, der im Nachhinein erzählt, wie er sich hat retten können. Diese erzähltechnische Konfiguration, dass im Nachhinein das Erlebnis einer Sinndeutung unterzogen wird, umgeht McLuhan. Damit wird die heikle erkenntnistheoretische Frage, ob es nur auf dem Wege der Kunst gelingt, das Innere eines Geschehens wie von außen zu beobachten, beiseite geschoben. Der neue Rahmen, den McLuhan um Poes Erzählung zieht, macht aus der Fiktion, dass Überleben möglich ist, eine Art von Tatsachenbericht eines Überlebenskünstlers. Der Erzählte wird so zum belehrenden Beispiel für die Gegenwart. Die Erzählung berichtet Lebenspraxis und führt Strategien für das reale Überleben vor. Und so preist auch der Autor McLuhan sein eigenes Buch als
32 33
Vgl. dazu Jürgen Fohrmann. Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der »Kunstperiode«. München 1998. Vgl. McLuhan. Die Gutenberg-Galaxis.
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Rettungsmittel angesichts der Gefahren der Moderne an. Er schreibt so, als ob es die Realität wäre, von der er erzählt und für die er Ratschläge erteilt: Es war [das] aus der rationalen Distanz als Beobachter der eigenen Lage geborene Vergnügen, das ihm [dem Seemann] den Faden in die Hand spielte, der ihn aus dem Labyrinth führte. Im gleichen Sinne bietet sich dieses Buch als Vergnügen an. (MB 7)
Distanz und Vergnügen, Ratio und Emotion, verhalten sich in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht komplementär. Die Gegenwart sollte sich wieder um eine technische Einstellung bemühen, wie Kunst als techné lehrt. Die bequeme Perspektive ist allerdings verloren: Da die Einheit der modernen Welt immer mehr eine eher technische als soziale Angelegenheit wird, liefern die Techniken der Kunst die nützlichsten Mittel zur Einsicht in die wirkliche Richtung unserer eigenen kollektiven Ziele. Umgekehrt können die Künste zu den primären Hilfsmitteln gesellschaftlicher Orientierung und Selbstkritik werden. [...] Der moderne Mensch kann weder individuell noch kollektiv länger in einem abgeschlossenen Segment menschlicher Erfahrung oder gewohnter sozialer Ordnung leben. Der moderne Geist ist in seinem unbewußten Kollektivtraum oder in seiner intellektuellen Zitadelle klaren Bewußtseins eine Bühne, auf der die ganze Erfahrung der menschlichen Gattung festgehalten und neu inszeniert wird. Es gibt keine zurückgezogenen und bequemen Perspektiven mehr, weder künstlerisch noch national. Alles ist im Vordergrund anwesend. Diese Tatsache wird gleichermaßen in der zeitgenössischen Physik, im Jazz, in der Presse und der Psychonanalyse betont. Es ist keine Frage der Vorliebe oder des Geschmacks. Diese Flut ist bereits über unseren Köpfen zusammengeschlagen. (MB 118f.)
An die Stelle von geschichtsphilosophischen Läuterungen moderner Probleme und Befindlichkeiten treten bei McLuhan Präferenzen für Konzepte. Simultaneität ist ein avantgardistischer Konzeptbegriff, der vom Zustand Aller im Zugleich von Allem ausgeht: Ein noch besseres Konzept als die Sozialbiologie, die durch Technologie entstehenden menschlichen Probleme zu lösen, scheint die symbolistische Ästhetik des späten 19. Jahrhunderts anzubieten. Diese Theorie führt zu einem Konzept, das die menschlichen Künste, Interessen und Beschäftigungen orchestriert, statt sie in einer funktionellen biologischen Einheit zu verschmelzen [...]. Orchestrierung erlaubt Diskontinuität und endlose Vielfalt ohne die allumfassende Last irgendeines Sozial- oder Wirtschaftssystems.34 Dieses Konzept findet sich nicht nur in der symbolistischen Kunst, sondern auch in der Physik der Relativitäts- und Quantentheorie. Im Gegensatz zur Newtonschen Physik kann es für eine Harmonie eintreten, die weder einseitig noch monistisch oder tyrannisch ist. Es ist weder progressiv noch reaktionär, sondern umfaßt alle bereits verwirklichten großen menschlichen Leistungen, während es die neuen mit Freude in einer Gegenwart der Simultaneität aufnimmt. (MB 52)
Der »Freude in einer Gegenwart der Simultaneität«, sei er, so der Autor als Erzähler, besonders in dem Kapitel Titelseite nachgegangen. Es handelt sich dabei um 34
Also die Last, die auch Harold A. Innis Buch Empire and Communication zu bewältigen versucht.
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Abbildung 30: Schau auf die Titelseite einer Zeitung! (MB 12)
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das erste Kapitel von The Mechanical Bride, das sich mit einer Titelseite der New York Times beschäftigt (Abb. 30). Das Vorwort von The Mechanical Bride äußert sich poetologisch zu dem Akt des Einhaltens, der Stillstellung, die den Wirbel bannt: Eine wirbelnde Phantasmagorie kann nur begriffen werden, wenn sie zur genauen Betrachtung festgehalten wird. Und genau dieses Festhalten ist zugleich eine Befreiung aus dem sonstigen Zusammenhang [...]. (MB 8)
Diese Bemerkung folgt den vielfach signierten Spuren, die über Poes Seemannsgeschichte, Henri Bergson, den italienischen Futurismus, die englischen Vortizisten und ihre Konzeption des poetischen »image« zu den eigenen Theoremen von McLuhans Medientheorie führen. Dazu folgende kursorische Bemerkungen.35 Henri Bergson hat den Begriff Simultaneität am Ende des 19. Jahrhunderts in die kultur- und lebensphilosophischen Reflexionen eingebracht. Im »élan vital«, dem auf Dauer fließenden Strom des Lebens, durchdringen sich die Raum- und Zeitverhältnisse und deren Wahrnehmung. Dies ist nach Bergson als »Wirbel des Lebens« zu denken, den er gegen die chronometrisch gestückelte Vermessung der Zeit setzt. Denn Letztere sei eine auf falsche Weise verräumlichende Zeitauffassung, die statt von einer Durchdringung unterschiedlicher Bewusstseinszustände von einem distinkten Nebeneinander der Dinge im wahrnehmenden Bewusstsein ausgehe. Bergsons Ideen fanden u.a. Eingang in die literarischen Techniken der Darstellung des Bewusstseinsstroms (bei Schnitzler, bei Joyce). Die kubistische Malerei versucht, den Einbruch der Gleichzeitigkeit in die chronologische Zeit aufzunehmen, indem ein Gegenstand mit mehreren Ansichten im synchronen Bildraum dargestellt wird. Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti und die englischen Vortizisten, deren Theorien McLuhan während seines Literaturstudiums in Cambridge in den 1930er Jahren kennenlernte, konzeptualisieren beschleunigte moderne Kommunikationen ebenfalls im Bild des Wirbels.36 Der Wirbel, lateinisch vortex, hält alles simultan in Bewegung. In diesem Zustand ist nicht mehr allein die Psyche des wahrnehmenden Subjekts die Quelle von Energieflüssen und Kräfteverhältnissen, sondern Materie und Technik tragen ebenfalls zum Wirbel bei.37 Verkehr, Technik und Medien sind in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu sehen und bestimmen die Zeit- und Raumkoordinaten, in denen der Mensch sich bewegt, nachhaltig mit. Marinetti beschreibt »die Menschen von
35
36
37
Vgl. zur Programmatik der europäischen Avantgarden und zu den im Folgenden von mir angesprochenen Konzepten Eva Hesse. Die Achse Avantgarde–Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound. Zürich 1992. S. 61ff. Vgl. zur Gruppe der Vortizisten unter medientheoretischer Perspektive Ralf Schnell. Die Avantgarde als Retrogarde. Aporien der Medienavantgarden. In: Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen. Hg. von Josef Fürnkäs, Masato Izumi, K. Ludwig Pfeiffer und dems. Bielefeld 2005. S. 121–142. Vgl. Hesse. Die Achse. S. 53.
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heute«, die sich der Dinge bedienen, die sich zugleich auf ihre Wahrnehmungen und Praktiken auswirken: Die Menschen von heute benutzen den Telegrafen, das Telefon, den Phonographen, die Eisenbahn, das Fahrrad, das Motorrad, das Automobil, das Luftschiff, das Flugzeug, das Kino, die große Zeitung (Synthese eines Tages im Leben des Erdballs), ohne zu begreifen, daß diese vielfältigen Mittel der Kommunikation, des Transports und der Information wesentliche Auswirkungen auf ihre Psyche haben. Ein einfacher Mann kann an einem einzigen Tag mit der Eisenbahn von einer toten Kleinstadt, wo auf menschenleeren Plätzen Sonne, Staub und Wind spielen, in eine große, lichterstarrende, lärmende, hektische Weltstadt gelangen. Beim Lesen einer Zeitung kann der Bewohner eines Bergdorfs, geschüttelt vor Erregung, den Volksaufstand in China, die Demonstrationen der Suffragetten in London und New York, den Doktor Carrel und die heldenhaften Hundeschlitten der Polarforscher miterleben. Der ängstliche und stubenhockerische Einwohner einer Provinzstadt kann sich dem Rausch der Gefahr hingeben, wenn er einen Film über die Großwildjagd im Kongo anschaut. Er kann japanische Athleten, schwarze Boxer, unermüdliche amerikanische Spaßmacher, elegante Pariser Damen bewundern, indem er den Eintritt von einem Franc fürs Varieté berappt. Dann, in einem bequemen Bett liegend, kann er der fernen sündteuren Stimme eines Caruso oder einer Burzio lauschen.38
Schon Kaspar Stieler erkennt, dass die Zeitungslektüre eine Teilhabe an dem räumlich Entfernten ermöglicht, und was Prutz noch als die gespenstische Gleichzeitigkeit des Schrecklichen mit dem Schönen stört, wird seit den 1910er Jahren von den Avantgarden vielfach zum Signum moderner Lebensverhältnisse erklärt. Sie entfalten ihren Schrecken und ihre Faszination zugleich. McLuhan nimmt die Sensationen der modernen Welt in ihrer Simultaneität auf. Die »wirbelnde Phantasmagorie« muss zur »genaueren Betrachtung« festgehalten werden; es gehört also auch ein kühler Blick auf das Verwirrende dazu. Er knüpft für die Sistierung an Ezra Pound und Wyndham Lewis und ihre Idee vom poetischen »image« an.39 Dazu heißt es bei Pound: Ein image ist etwas, das einen intellektuellen und emotionalen Komplex innerhalb eines Augenblicks darstellt. [...] Die Darstellung eines solchen Komplexes innerhalb eines Augenblicks erzeugt ein Gefühl plötzlicher Befreiung und Lösung aus zeitlichen und räumlichen Schranken, ein Gefühl jähen Wachsens, wie wir es vor großen Kunstwerken erleben. Es ist besser, im Leben ein einziges image dargestellt zu haben, als dicke Bände zu verfassen.40
Pound denkt an die symbolisch verdichtete, von Alltag und Pragmatik befreite dichterische Sprache in Lyrik und Prosa. Deren poetische Kraft liegt sowohl in der Metapher als auch in der Verwendung realitätsgesättigter Sprachbilder, verstanden als semantisch verdichtete Ikonen. Pounds Konzept des literarischen
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Zit. n. ebd. S. 52f. Vgl. Reuss/Höltschl. Mechanische Braut. Ezra Pound. Motz el Son /Wort und Weise. Übers. von Eva Hesse. Zürich 1957. S. 63.
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»image« wurde inspiriert von der chinesischen logographischen Schrift.41 Ihre Ideogramme spannen die bildliche Repräsentation von Dingen mit Begriffen zusammen, szenische Bewegungskomplexe und Stillstellung im Zeichen bilden eine graphische Einheit. Die phonographische Kunst des literarischen image soll im Wirbel des Gleichzeitigen den ästhetisch beschworenen Augenblick einer vorübergehenden Stillstellung hervorbringen. Was von der Poesie angehalten wird, wird einer kontemplativen, mystischen Schau unterzogen, womit ein gesteigerter Bewusstseinszustand, wie außerhalb von Raum- und Zeitbedingungen, erreicht werden soll.42 Gegenwart wird als erfahrene Gegenwärtigkeit des Verschiedenen von McLuhan im Sinne der Avantgarden emphatisch gesetzt; hier und jetzt findet auch die Distanznahme der Wissenschaft statt, die ihre Momentaufnahmen des Gegebenen hervorbringt. Die später berühmt gewordene Doktrin von der Welt als Global Village geht aus einem funktionalen Verständnis von Medien und Kommunikation und einer ästhetischen Betrachtungsweise hervor. Dieser Ansatz zeichnet sich in The Mechanical Bride in Metaphern wie Mosaik oder Orchestrierung bereits ab: »Orchestrierung erlaubt Diskontinuität und endlose Vielfalt ohne die allumfassende Last irgendeines Sozial- oder Wirtschaftssystems.« (MB 52) McLuhans Metaphern sind Konzeptbegriffe, insofern sie auf die in der Machart der Zeitung sich offenbarenden Struktur von simultaner Weltkommunikation verweisen. Das Medium Zeitung konfiguriert bereits, was der neue aesthetic approach als Funktion des Medialen reflektiert: Wie bereits angedeutet, besteht die alles umfassende Wirkung der Presse bis heute darin, die Vorstellung von der Welt als einer einzigen Stadt zu entwickeln. Diese Wirkung ist nicht beabsichtigt. Sie ist bloß ein Nebenprodukt der Techniken des Sammelns und Aufbereitens von Nachrichten. (MB 21)
Dorf und Stadt, Vertrautheit und Fremdheit, bilden einen Zusammenhang, einen Komplex, in dem die Menschen in ihrer Vielfalt und Differenz einander gleichen. Dem Nebenprodukt Form der Zeitung, von der die Konzentration auf die damit publizierten Texte ablenkt, gilt nun die neue Aufmerksamkeit des Medientheoretikers McLuhan. Dieser Blick auf die Zeitung organisiert auch die Polemik gegen professionelle Presseleute. Denn viele unter ihnen bedienen sich der Illusion Nähe, um sich der »anonymen und unpersönlichen Tendenz der Kommunikationstechniken unserer Tage« (MB 21) zu widersetzen. Sie reagieren darin gegenläufig zur Modernität der Form Zeitung. Beim »Weekly Newsmagazine« Time geschieht dies etwa, indem von der Diskontinuität durch das Persönliche abgelenkt wird: Time ist absolut persönlich. Betrachten Sie den altertümlichen Stolz von Time: »wie von Mensch zu Mensch«. Läßt das auf eine in hohem Maße abwechslungsreiche und
41 42
Vgl. etwa Ezra Pound. Ernest Fenollosa und Serge Eisenstein: Nō – Vom Genius Japans. Hg. von Eva Hesse. Zürich 1963. Vgl. Hesse. Die Achse. S. 77.
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nuancierte Methode schließen? Auf einen stark totalitären Beigeschmack in dieser Redensart? Mit Sicherheit ist das nicht die Formel für eine Weltgesellschaft, sondern für die Herrschaft einer kleinen Gruppe und für Indoktrinierung. In seiner intensiven Atmosphäre aus privatem Klatsch, Bösartigkeit und dem Eifer, mit dem es heftige Schläge an seine Gäste (Menschen der Woche) wie an sein Publikum austeilt, erinnert Time an verschiedene Quizsendungen. (MB 21)
Nähe ist in McLuhans Zeitungs- und Medientheorie kein semantisch zu besetzendes Feld, sondern Effekt einer objektiven Struktur, die durch Medien und Kommunikation erzeugt wird. Auch bei ihm ist Fama also in sich gespalten in Kommunikationen erster und zweiter Ordnung, deren Erkenntnis McLuhans Medienaufklärung dient: Das allzu Gewohnte und Vertraute, von dem etwa der Klatsch ausgeht, soll durch die Denkfiguren struktureller Abstraktionen hindurchgehen, und mit diesem Durchgang durch die medialen Bedingungen von Kommunikation überhaupt lässt sich das Gemeinsame aller Menschen auf zweiter Ebene auffinden. So werden auch narrative Techniken, die eine Kontinuitätsillusion verfolgen, von ihm angegriffen, da sie die Menschen in der Traumbefangenheit halten: [M]an beachte, wie die Technik der »fortlaufenden Geschichte« – eine Methode des 19. Jahrhunderts und des Hearst-Journalismus – absichtlich den spontanen Kubismus zurücknimmt, der auf der Titelseite der New York Times erreicht wurde. An die Stelle der Vogelsperspektive, des gleichzeitigen, vielfältigen Anblicks der Titelseite, tritt bei Time das »Als-ob-sie-alle-von-derselben-Person-erlebt-Würden«, was auf die atemlosen Ergüsse eines geheimen Tagebuchs hinausläuft. (MB 22)
Der Blick auf den spontanen Kubismus der Form Zeitung dient dazu, bestimmte Textstrategien zu konterkarieren. Die von der Zeitung vorgeführte Interaktion zwischen Text und Medium wird so in die theoretische Konfiguration von McLuhans Medientheorie der Zeitung hinein genommen. Statt wie Löffler und Prutz den Text und seine Narrationen gegen die Diskontinuitäten und Abbrüche in der Form Zeitung zu organisieren, wird das ästhetische Arrangement aus Text und Bild, das dieses Buch vorlegt, in Analogie zur Formlehre, die die Zeitung bietet, durchgeführt. Dies lässt sich gut an dem Kapitel Titelseite demonstrieren. Der Kubismus zeigt sich spontan an der Oberfläche der Zeitungsseite, wenn man sie entsprechend betrachtet: Es ist die Unterscheidung zwischen Lesen und Sehen, mittels welcher textuelle und ikonische Zeichen wahrgenommen, interpretiert und analytisch behandelt werden können. Texte lassen sich lesen und ansehen, Bilder werden gesehen und gelesen (Abb. 31). Montage, Unterbrechung und Umkehrung sind für den intellektuellen Beobachter des Wirbels Stilmittel, deren reflexive Potentiale McLuhan für seine Darstellung nutzt. Im Unterschied zu Pound und dessen image-Konzept geht es ihm nicht darum, das ästhetische Erlebnis im Augenblick des Innehaltens einer exklusiven Begegnung mit dem »großen Kunstwerk« (Pound) abzugewinnen und die Darstellung dieser Erfahrung der poetischen Sprache anzuvertrauen. Sondern das Anhalten ist in das exoterisch ausgesponnene Netz von »industrial folklore« ein-
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gebettet. Diese Wortfindung gilt dem all inclusive der Weltgesellschaft, die unzählige Übergänge und Konvergenzen zwischen high und low culture zeitigt. Die unpersönliche Persönlichkeit des »industrial man« wird mit Fragen aufgemuntert, sich mit den Thesen des Buches aktiv auseinander zu setzen: »Können Sie sich etwas Effektiveres vorstellen als diesen Kubismus der Titelseite, um eine Berichterstattung von China bis Peru bei gleichzeitiger Bildschärfe zu erreichen?« (MB 13) Die Schärfe des Bildes, das eine Zeitungsseite liefert, ist konzeptuell mehrfach auszulegen: Es geht nicht nur um die technische Präzision in der typographischen Präsentation und die Exaktheit von Nachrichten, die hier gleichzeitig erscheinen, sondern auch um den verdichtenden Akt symbolischer Repräsentation, die Titelseite als professionelles image. Dies sehen zu können, bedeutet Erkenntnisgewinn für den Leser, wenn er sich denn belehren lässt. Auch andere Fragen des Kapitels Titelseite zielen auf die Belehrung durch den Zeit anhaltenden Ausschnitt und den damit vermittelten Standpunkt eines Betrachtes, der zum Innehalten angeregt wird: »Was ist hier Partitur? Warum ist eine Nachrichtenseite ein Problem der Orchestrierung?« »Dachten Sie nie, daß eine Zeitungsseite eine symbolistische Landschaft ist?« (MB 13) Die Antworten, die links und rechts von diesen Fragen positioniert in Texten und Bildern gegeben werden, spielen mit Ähnlichkeitsrelationen und Differenzen zwischen Bild und Text, Struktur und Ereignis, Bewegung und Stillstand, Kontinuität und Abbruch. Gegen die in einem Text zitierte, anonyme Behauptung: »Diskontinuität ist die Wiederkehr des Chaos. Sie ist der Irrationalismus. Sie ist das Ende« (MB 13), soll sich der neue Leser als schnell lernender Medienanalyst auf eine Art kubistischen Historismus einlassen, dem Vieles gleichzeitig zur Verfügung steht: Auf die gleiche Weise läßt uns die Technik Toynbees zu Zeitgenossen aller Zivilisationen werden. Die Vergangenheit wird als Versuchsmodell für ein politisches Experiment in der Gegenwart unmittelbar verfügbar gemacht. Margaret Meads Mann und Weib veranschaulicht eine ähnliche Methode. Die kulturellen Muster verschiedener Gesellschaften werden, ohne jede Verbindung zueinander oder zu unserer eigenen, im Stil des Kubismus oder im Stil Picassos sprunghaft überlagert, um ein großartig erweitertes Bild menschlicher Möglichkeiten zu liefern. [....] Und genauso verhält es sich mit der modernen Presse – trotz all ihrer Fehler. (MB 13f.)
Aber es ist nicht die einfache Einfühlung in die Nah-Welt des Gegenwärtigen gemeint, sondern Einfühlung und Unterbrechung, das Nahe und das Ferne erfahren zu können, ist das Lernziel der Medienanalyse. Medienerziehung soll den Blick für die Techniken der Massenkommunikation schärfen. Sie ist dann nicht mehr das Aufspannen eines Fragerahmens, wie ihn die Massenkommunikationsforschung in Meinungsumfragen einsetzt und der die Teilnehmer in ihren Antworten in den Horizont normierender Konzepte einpflegt. Sondern es geht emphatisch darum, Moderne erst in ihren Techniken, die Diskontiniutät und Vielschichtigkeit erzeugen, als einheitliche Moderne zu erweisen. Für The
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Abbildung 31: Sehen und Lesen, Text und Bild (MB 20)
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Mechanical Bride scheint dies insbesondere zu bedeuten, eine Schule des Sehens wach zu halten. Botschaft und Erziehungsauftrag konvergieren materialiter: was angesehen wird, vermittelt die Einsicht, wie gesehen werden muss. Auf das Potential, das im Material der Zeitung zur Verfügung gestellt wird, lenkt das erste Kapitel hin: Diese gewaltige Landschaft der menschlichen Gattung, die einfach hergestellt wird, indem getrennte Informationen von China bis Peru nebeneinander gesetzt werden, präsentiert täglich sowohl das Bild der Komplexität als auch der Vergleichbarkeit menschlicher Angelegenheiten. In seiner Wirkung als Ganzes führt das zur Beseitigung jeder provinziellen Anschauung. (MB 14)
Hier kommt der Weltbürger wieder, den die Zeitungstheorie immer schon geschätzt hat. Abwechslung stimuliert die Aufmerksamkeit und hat in den Montage-, Unterbrechungs- und Zitationsverfahren von The Mechanical Bride Methode. Als typographische Komposition im Medium Druck adressiert das Buch vor allem den Sehsinn: gedruckte diskrete Einheiten sind auf der zweidimensionalen Fläche einer Seite angeordnet. Auf dieser Oberfläche wird unterschieden, um hinweisen zu können: Hier die Zeichen eines Textes, dort ein Bild! Die Gestaltung der Seiten ist u.a. dem Spaltendruck von Zeitungslayout abgeschaut. Mit der Zeitung verbindet McLuhan auch in späteren Publikationen sein kulturpolitisches Anliegen, Medientheorie einen gesellschaftlichen Ort zu geben. In Understanding Media von 1963 heißt es etwa zu den Unterschieden von Buch und Zeitung: Ich muß hier wieder feststellen, daß die Zeitung von allem Anfang an nicht zur Buchform tendiert hat, sondern zum Mosaik oder der zum Mitmachen bestimmten Form. Mit der Beschleunigung des Druckverfahrens und des Nachrichtensammelns ist dieses Mosaik zu einem sehr wichtigen Aspekt menschlichen Zusammenlebens geworden; denn die Mosaikform drückt nicht einen distanzierten »Standpunkt« aus, sondern ständiges Mitmachen. Aus diesem Grund ist die Demokratisierung untrennbar mit der Presse verbunden, aber von einem literarischen oder »Bücher«-Standpunkt durchaus zu verwerfen.43
Für Demokratie steht die Zeitung ein. So wird die Vorstellung vom zerstreuten Leser in ein positives Konstrukt von Teilhabe umgedeutet. Die Möglichkeiten des kommunikativen Mitmachens in der Flut, die über allen zusammengeschlagen ist, stehen komplementär zum Innehalten, dem Bücher-Standpunkt: Das gewaltige Thema der Presse kann nur in direktem Zusammenhang mit den formalen Schemata dieses Mediums behandelt werden. So muß gleich einmal festgestellt werden, daß »menschliches Interesse« ein Fachausdruck ist, der das bedeutet, was geschieht, wenn viele verschiedene Buchseiten oder viele verschiedene Zeitungsmeldungen mosaikartig auf einem Blatt zusammengestellt werden.44
43 44
McLuhan. Die magischen Kanäle. S. 244. Die Ausdrucksform »mitmachen« zeichnet in den Magischen Kanälen die »heißen« Medien aus; vgl. ebd. S. 29ff. Ebd. S. 237.
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Mosaik der Seite und Presseartikel teilen sich die Möglichkeiten des Mitmachens. So heißt es in dem ›Presse‹-Kapitel von Understanding Media: Die Presseartikel, welchen sich alle Leser zuerst zuwenden, sind jene, von welchen sie schon wissen. [...] Warum? Die Antwort ist für das Verständnis aller Medien von größter Bedeutung. Warum plappert ein Kind, wenn auch brockenweise, so gerne über seinen Tagesablauf? Woher kommt unsere Vorliebe für Romane und Filme mit vertrauten Szenen und Rollen? Weil die Einsicht und das Erkennen der Erlebnisse in einer neuen Gewandung für den rationalen Menschen eine geschenkte Gnade des Lebens ist. Das in ein neues Medium übertragene Erlebnis läßt zu unserer Freude frühere Bewußtseinsinhalte wieder aufklingen. Die Presse wiederholt das erregende Gefühl, das wir kennen, wenn wir unseren Verstand gebrauchen, und wenn wir das tun, können wir die äußere Welt in den Stoff, aus dem wir selbst gemacht sind, übersetzen. Dieses erregende Erleben des Übertragens erklärt, warum die Menschen ganz natürlich danach verlangen, ihre Sinne dauernd zu gebrauchen. Jene äußeren Ausweitungen unserer Sinne und Fähigkeiten, die wir Medien nennen, verwenden wir genauso beständig wie unsere Augen und Ohren und auch aus denselben Beweggründen.45
Es gibt die Gnade des Kollektivwissens! Im Kollektiv zu agieren ist nicht nur Kennzeichen von Demokratie, sondern des Menschlichen schlechthin. Hier bekommt das Projekt Medientheorie und -erziehung religiöse Züge: Geteilte Erfahrungen, davon gesättigtes Wissen, die Erregung, im Fremden das Eigene wieder anzutreffen durch Übertragung, – dies alles überträgt englischen moral sense in das späte 20. Jahrhundert. Schon das Buch The Mechanical Bride ist in diesem Sinne eine Gabe, die aus dem Kollektiv kommt und an dieses zurück gegeben wird. Der Gabentausch, der das Sinnzentrum ethnologischer Sozialmodelle darstellt, wird in diesem Buch mit den Elementen praktiziert, die vielen Menschen aus ihrem täglichen Umgang mit Medien vertraut sind. Der ideale Leser als Mitmacher lernt zugleich neues Sehen, wenn er von Seite zu Seite blättert. Dann wird in der Abwechslung die wiederholende Wahrnehmung des typographischen Grundmusters ebenfalls zu etwas Bekanntem, mit welchem Vorgang sich die Struktur der Welt als Mosaik herausbilden soll. Der Leitfaden führt zwischen Lesen und Sehen durch verschiedene Räume und Schichtungen des massenkulturellen Wissens, dessen Teilnehmer der Leser ist. Es wechseln sich dabei textuelle und bildliche Einheiten im Schwarzweißdruck ab, zum Teil stehen sich Bilder und Texte auch auf Doppelseiten gegenüber. Gesetzt sind alle Seiten im Spaltenlayout. Vergleichbar zu Aufmachungen von Tageszeitungen wechseln die Schriftgrößen, Überschriften und Fragen sind in einer größeren Punktzahl als die Fließtexte gedruckt. Die jedes Kapitel begleitenden Fragen sind wie gelehrte Glossen am Rand der Druckspalten platziert. Die Schrift in den Fließtexten läuft gleichmäßig durch, Absätze sind Gliederungselemente. In der Nachbarschaft zu ikonischen Elementen und Bildausschnitten gewinnen die textuellen Einheiten dabei ihre Bildlichkeit, wie die Bilder Zeichensinn entfalten. Im Sinne der konkreten Poesie könnte man von einer Konstellation sprechen, die Bild und Text 45
Ebd. S. 245.
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eingehen.46 Für den idealtypischen Leser und Betrachter ergeben sich so mediale Strudel. Sie bannen das visuelle Interesse durch optische Reize und narrative Sequenzen, die zum Lesen verführen, machen für den Moment vergessen, dass nebenan oder auf der nächsten Seite schon etwas Anderes wartet. Dabei regt das Prinzip Abwechslung an, lesend und sehend zu wechseln, Brüche zu vollziehen, Einheiten herzustellen, die Aufmerksamkeit über die Oberfläche flüchtig gleiten zu lassen oder sie an anderen Stellen und Gelegenheiten zu konzentrieren. Das Vorwort gibt dazu eine Leseanweisung, die den ästhetischen Mehrwert der Form rationalisiert. Sie fokussiert das Projekt rezeptionsästhetisch so, dass das Mosaik zeitungsförmig in Bewegung versetzt wird: Wegen seines kreisenden Blickpunktes muß das Buch in keiner bestimmten Reihenfolge gelesen werden. Jeder Abschnitt liefert eine oder mehrere Perspektiven auf die gleiche gesellschaftliche Landschaft. (MB 9)
Dieser »kreisende Blickpunkt«, der Kontinua oder besser Netze ohne Anfang und Ende in Aussicht stellt, ist nicht mit der Sogkraft identisch, die Produkte der Massenpresse in normalen Lesevorgängen entfalten und auf die sie in der Regel abzielen: Der industrielle Mensch ist der Schildkröte nicht unähnlich, die für die Schönheit des Panzers, der auf ihrem Rücken gewachsen ist, ganz blind ist. [...] Für die Schildkröte ist der Panzer keine sprachliche Äußerung, sondern nur ein Gefühl. Diese im Inneren befangene Wahrnehmung stimmt mit der praktischen Anschauung des Menschen überein, der die Schildkröte eher verspeisen würde, als das Muster auf ihrem Rücken zu bewundern. Derselbe Mensch würde lieber in die Zeitung eintauchen, als irgendein ästhetisches oder intellektuelles Verständnis ihrer Beschaffenheit und Bedeutung zu besitzen. (MB 14)
Zu ›unserem Glück‹ also eröffnet und ermöglicht dieses Buch den Blick auf das Muster auf dem Rücken, verhilft zum Auftauchen aus dem Malstrom allein verführerischer Bild- und Textwelten ohne reflexiven Bruch. Im Sinne des Berichts des überlebenden Seemanns kann jede typographische Einheit in der Einheit komplexer Orchestrierung das Fass sein, auf dem man leicht aus der Tiefe wieder an die Oberfläche kommt. Das Buch nimmt darin vorweg, was McLuhan später im Bild des Surfens für den Umgang mit elektronischen Massenmedien vorschlägt. Der kreisende Blickpunkt stellt sich dem Wirbel, ist sein ästhetisches Komplement. So leicht es nun zu sagen ist, dass in dem Buch The Mechanical Bride bildliche und textuelle Einheiten in ihren Konstellationen sich jeweils voneinander unterscheiden und ein Szenario zwischen Lesen und Sehen bestimmen, so komplex bleibt in dieser differenzlogischen Medientheorie die Konstellation von Figur und Grund, Rahmen und Inhalt, Form und Argument. Ist das Bild ein Anderes als Text 46
Vgl. zum Konzeptbegriff Konstellation: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie von eugen gomringer. Stuttgart 1972.
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und umgekehrt? Und wäre es dann eine semiotische Zumutung, Bilder wie Texte zu entziffern?47 Aber was ist der Rahmen, unter dem die Konstellation Gestalt annimmt? Fungiert allein der unbedruckte Raum einer Seite als gemeinsamer Rahmen für gedruckte Bilder und Texte? Sind die Zeitung, das Buch Medien oder ist allein Druck das Medium? Ist die Leere, das Weiße der Druckseite ein transzendentaler Grund für die Figurationen, die die gedruckten Bilder und Texten als Zeichen darstellen? Wie aber verläuft die Grenze zwischen dem Bedruckten und dem Unbedruckten, wie verhalten sie sich zu semantischen Begrenzungen, wo hört Textualität auf, wo fängt Bildlichkeit an, wo fängt Lesen an und hört Sehen auf? Gibt es reines Lesen und reines Sehen? Wie verhalten sich ästhetisches Ereignis und Struktur zu einander, Zeit und Raum? Vertraut man der suggestiven Metaphorik des kubistischen Mosaiks und seiner Orchestrierung des Gleichzeitigen, so kann sich eine Zeitungsseite formalästhetisch in den Seiten eines Buches widerspiegeln. Die Zeitung als Buch, das Buch als Zeitung handeln exemplarisch von einem fortwährenden Perspektivwechsel, der im flächigen Layout angelegt ist. Er setzt sich in der Textualität des hermeneutisch les- und deutbaren Textes und seiner sprachlichen Figuren und in ikonischen Elementen fort, die gesehen und gelesen werden wollen, um Bedeutung zu produzieren.48 Dies beinhaltet aber schon eine Tiefenstruktur, die mit der Unterscheidung Text / Bild auf der Oberfläche einer zweidimensionalen, gedruckten Seite nicht einfach konvergiert. Die Texte verweisen in das ›Innere‹ des Sinn produzierenden Lesevorgangs; Bilder tragen in sich einen Bezug auf Bildlichkeit, der über ihre ›illustrative‹ Funktion zu Texten hinausgeht. Die Fläche, der wir bei Bildern und Texten, die auf einem Grund platziert sind, begegnen, wäre so ein dialektischer Umschlagsplatz für Tiefe, der wir auf den Grund gehen können, oder nicht? Ist dies alles zusammen genommen der Einsatzpunkt von Medientheorie? In dem Vorwort, das Marshall McLuhan und Edmund Carpenter 1960 ihrer Anthologie aus der Zeitschrift Explorations voranstellen, wird das Projekt der neuen Medientheorie universalistisch eingeführt: Explorations untersuchte die Grammatik solcher Sprachen wie Druck, Zeitungsformat und Fernsehen. Der Ausgangspunkt war, daß die Revolutionen in der Speicherung und Verteilung von Ideen und Gefühlen nicht nur die Beziehung zwischen den Menschen verändern, sondern auch die Wahrnehmung und Empfindung selbst.49
Von den Kontexten strukturaler Linguistik und Anthropologie umgeben, liegt der Ausdruck »Grammatik« für die Sprachen von Druck, Zeitung und Fernsehen nahe. Damit schließt ihre Medientheorie an das transzendentale Projekt einer
47 48 49
Rezente Bildtheorien setzen genau an dieser Zumutung an, vgl. etwa Gottfried Boehm. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. Vgl. Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Brigitte Weingart. Köln 2005. Edmund Carpenter/Marshall McLuhan. Introduction. In: Dies. Explorations in Communication. An Anthology. London 1970. S. IX–XII. Hier S. IX; dt. Übers. zit. n. Barck. Harold Adam Innis. S. 10.
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Universalgrammatik an, in dem die Wissenschaft vom Menschen ihren Ursprung in der Sprachfähigkeit findet. Als Universalgrammatik verstanden, hätten auch in den Verfahren von The Mechanical Bride nur ›schwarze‹ Zeichen auf ›weißen‹ Untergründen ihre Spuren hinterlassen. Auf dieser sprach- und zeichentheoretischen Folie machte allerdings der Unterschied der Medien keinen Unterschied mehr, auf den es ankäme. Die Medientheorie der Zeitung würde aufgehoben in einer allgemeinen Medientheorie von lesbaren und sichtbaren Zeichen im Druck. Sie stößt damit als Differenztheorie an die Grenze einer transzendentalen Entgrenzung durch universelle Strukturen und die Grammatik von allgemeiner Medientheorie, die in ihrer absoluten Einheit die Unterschiede, auf die es ankommen könnte, in sich bereits beinhalteten.50 Wie aber könnten dann die künftigen Antworten auf die Frage nach den Eigenarten von Famas Medium aussehen?
50
Vgl. zur Kritik an universalistischer Sprach- und Medienkritik Sibylle Krämer. Die Heteronomie der Medien. Versuch einer Metaphysik der Medialität im Ausgang einer Reflexion des Boten. In: Phänomenologie 22 (2004). S. 18–38.
VIII. Literaturverzeichnis
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