Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert 9783110345391, 9783110345285

States configure and shape migration processes, channel migratory movements, and categorize migrants. This handbook surv

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German Pages 1070 Year 2015

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Table of contents :
9783110345285_Oltmer_I-IV
Handbuch_Oltmer_Druckfassung_1-10-2015
1_Handbuch_Oltmer_Widmung_Vorwort_Inhaltsverzeichnis
2_Handbuch_Oltmer_Teil I_Einleitung_Härter_Asche_Schunka_Niggemann
3_Handbuch_Oltmer_Teil II und III_Fahrmeir_Hitzer_Plass_Reinecke_Thiel
4_Handbuch_Oltmer_Teil IV_Oltmer 5 Aufsätze
5_Handbuch_Oltmer_Teil V_Rass_Schmiechen_Spoerer_Leniger
6_Handbuch_Oltmer_Teil VI_1_Franzen_Sternberg_Wolff_Mattes
7_Handbuch_Oltmer_Teil VI_2_Poutrus_Panagiotidis_Berlinghoff
8_Handbuch_Oltmer_Teil VII_Dietz_Kolb_Autorenverzeichnis
9_Handbuch_Oltmer_Verzeichnis
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Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert
 9783110345391, 9783110345285

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Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert

Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert Herausgegeben von Jochen Oltmer

Gedruckt mit Unterstützung des Niedersächsischen Vorab der VolkswagenStiftung

ISBN 978-3-11-034528-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034539-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039663-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Spanische Arbeitsmigranten in einem Zugabteil auf der Fahrt nach Deutschland; die Männer betrachten ihre Reisepässe, 1970. Quelle: ullstein bild Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Klaus J. Bade gewidmet

Vorwort Staaten nehmen Einfluss auf Migration. Staaten ermöglichen, beschränken, verhindern Migration, fügen räumliche Bevölkerungsbewegungen in spezifische Bahnen, produzieren Wissen über Migrantinnen und Migranten, kategorisieren diese, vergeben daraufhin Rechte und Pflichten, wirken auf die gesellschaftliche Aushandlung dessen ein, was auf welche Weise als Migration verstanden wird. Migration nimmt Einfluss auf Staaten. Migrantinnen und Migranten suchen die erstrebte Wahrnehmung von Chancen andernorts umzusetzen, passen sich an, weichen aus, leisten Widerstand – sie besitzen Handlungsmacht und nötigen Staaten zum Handeln, die bemüht sind, räumliche Bewegungen zu kontrollieren und zu regulieren. Staat und Migration stehen mithin in einem weitreichenden Wechselverhältnis. Gegenstand des vorliegenden ›Handbuchs Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert‹ ist die Ausgestaltung dieses sehr komplexen Wechselverhältnisses. Es war auf der einen Seite gekennzeichnet durch das Agieren zahlloser unterschiedlich motivierter und verschieden handlungsmächtiger Migrantinnen und Migranten. Auf der anderen Seite formten es zahlreiche unterschiedlich situierte, verschieden mächtige staatliche Institutionen vor dem Hintergrund eines über die Jahrhunderte wirkenden tiefgreifenden Wandels von Staatlichkeit und Staatsverständnis, von Staatsform und Staatstätigkeit, von staatlicher Legitimation und staatlicher Repräsentation. Das Handbuch ist eines der Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das der Niedersächsische Vorab der VolkswagenStiftung dankenswerterweise ermöglichte. Zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben auch die hervorragenden Arbeitsbedingungen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, dem ich seit vielen Jahren angehöre. Den Autorinnen und Autoren gilt mein herzlicher Dank für ihre Geduld bei dieser Publikation, deren Vorbereitung und Durchführung sich als sehr zeitaufwändig erwies. Zu danken habe ich außerdem Jutta Tiemeyer, die mit großer Sorgfalt und kompetent die Schlussbearbeitung und Druckvorbereitung durchführte. Prof. Dr. Klaus J. Bade möchte ich dieses Handbuch widmen. Er trieb nicht nur national und international die (Historische) Migrationsforschung seit den 1970er Jahren weit voran, sondern lehrte auch mich, was Migrationsgeschichte ist.

Osnabrück, Ende September 2015

Jochen Oltmer

Inhalt Vorwort | VII Jochen Oltmer  Einleitung: Staat im Prozess der Aushandlung von Migration | 1

Teil I: Territoriale Landeshoheit und verdichtete Verwaltungsstaaten: innere Staatsbildung und Migration von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Karl Härter  Grenzen, Streifen, Pässe und Gesetze. Die Steuerung von Migration im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reiches (1648–1806) | 45 Matthias Asche  Bellizität, Staat und Migration im Alten Reich | 87 Alexander Schunka  Konfession, Staat und Migration in der Frühen Neuzeit | 117 Ulrich Niggemann  ›Peuplierung‹ als merkantilistisches Instrument: Privilegierung von Einwanderern und staatlich gelenkte Ansiedlungen | 171

Teil II: Obrigkeitliche Reformvorhaben und repressive Verfassungsstaaten: innere Marktbildung und Migration vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Andreas Fahrmeir  Staatliche Abgrenzungen durch Passwesen und Visumzwang | 221 Bettina Hitzer  Freizügigkeit als Reformergebnis und die Entwicklung von Arbeitsmärkten | 245 Uwe Plaß  Überseeische Massenmigration zwischen politischem Desinteresse und Staatsintervention | 291

X | Inhalt

Teil III: Autoritärer Nationalstaat und imperiales Machtstreben: innere Nationsbildung und Migration im Kaiserreich Andreas Fahrmeir Migratorische Deregulierung durch Reichseinigung | 319 Christiane Reinecke Staatliche Macht im Aufbau: Infrastrukturen der Kontrolle und die Ordnung der Migrationsverhältnisse im Kaiserreich | 341 Jens Thiel Kriegswirtschaftliche Interventionen: die Etablierung von Zwangsarbeitsregimen im Ersten Weltkrieg | 385

Teil IV: Demokratischer Wohlfahrtsstaat und revisionistische Mittelmacht: Protektionismus und Migration in der Weimarer Republik Jochen Oltmer Abwicklung einer Kriegsfolgelast: die Repatriierung der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs| 419 Jochen Oltmer Schutz für Flüchtlinge in der Weimarer Republik | 439 Jochen Oltmer Zuwanderung von Deutschen aus den abgetretenen Gebieten: Aufnahme und Abwehr von ›Grenzlandvertriebenen‹| 463 Jochen Oltmer ›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹. Grenzen privilegierter Migration in der Weimarer Republik | 483 Jochen Oltmer ›Schutz des nationalen Arbeitsmarkts‹: grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik | 503

Inhalt | XI

Teil V: Interventionistischer Führerstaat und Imperium im Vernichtungskrieg: Rassismus und Migration im nationalsozialistischen Deutschland Christoph Rass Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939 | 537 Detlef Schmiechen-Ackermann Rassismus, politische Verfolgung und Migration: Ausgrenzung und Austreibung ›unerwünschter‹ Gruppen aus dem nationalsozialistischen Deutschland | 573 Mark Spoerer Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft | 643 Markus Leniger ›Heim ins Reich‹: Deutsche Minderheiten als Objekte nationalsozialistischer Migrationslenkung | 691

Teil VI: Doppelte Staatlichkeit im Systemkonflikt des ›Kalten Krieges‹: wirtschaftliche Rekonstruktion, Sozialstaat und Migration 1945–1989 K. Erik Franzen Migration als Kriegsfolge: Instrumente und Intentionen staatlicher Akteure nach 1945 | 721 Jan Philipp Sternberg Überseeische Auswanderung als Problem politisch-territorialer Souveränität | 741 Frank Wolff Deutsch-deutsche Migrationsverhältnisse: Strategien staatlicher Regulierung 1945–1989 | 773 Monika Mattes Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren | 815

XII | Inhalt

Patrice G. Poutrus Zuflucht im Nachkriegsdeutschland. Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er Jahren bis zur Grundgesetzänderung im vereinten Deutschland von 1993 | 853 Jannis Panagiotidis Staat, Zivilgesellschaft und Aussiedlermigration 1950–1989 | 895 Marcel Berlinghoff Die Bundesrepublik und die Europäisierung der Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren | 931 Patrice G. Poutrus Aufnahme in die ›geschlossene Gesellschaft‹: Remigranten, Übersiedler, ausländische Studierende und Arbeitsmigranten in der DDR | 967

Teil VII: Staat um die Jahrtausendwende: die Aushandlung nationaler Souveränitätsrechte im europäischen Integrationsprozess und Migration im vereinigten Deutschland seit 1990 Barbara Dietz Die Bundesrepublik Deutschland im Fokus neuer Ost-West-Wanderungen | 999 Holger Kolb Migrationsverhältnisse, nationale Souveränität und europäische Integration: Deutschland zwischen Normalisierung und Europäisierung | 1021 Die Autorinnen und Autoren | 1041 Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte | 1051

Jochen Oltmer

Einleitung: Staat im Prozess der Aushandlung von Migration Die Historische Migrationsforschung hat insbesondere seit den späten 1980er Jahren eine Vielzahl von Migrationsformen und Wanderungsvorgängen erschlossen. Weiterhin dominiert zwar der Blick auf Entwicklungen des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, seit Jahren aber haben sich im Feld auch jene Forschungsaktivitäten verstärkt, die auf die Neuzeit insgesamt1, auf das Mittelalter2 und die Antike3 gerichtet sind. Damit entsteht gegenwärtig ein epochenübergreifendes Bild der historischen Wanderungsverhältnisse, das in weitem Umfang regionen- und länderübergreifende sowie globale Bezüge zur Kenntnis nimmt.4 Auf eine solche Weise vermag die Historische Migrationsforschung lange Entwicklungslinien zu verdeutlichen, die einen Beitrag leisten, die migratorischen Prozesse und Strukturen der Gegenwart zu verstehen und zu erklären. »The history of European migration is the history of European social life«, hob Charles Tilly 1978 in einem programmatischen Aufsatz hervor, der zu den Referenztexten moderner Historischer Migrationsforschung zählt. Individuelles und kollektives Handeln von (potenziellen) Migranten unterlag immer institutionellen Einflüssen und Einflussnahmen. Weit verbreitet war in diesem Kontext die Vorstellung, durch die Nötigung zur Migration, durch die Abwehr von Bewegungen, aber auch durch die Anwerbung beziehungsweise Zulassung etwa von Siedlern oder Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten ließe sich Macht gewinnen, Herrschaft stabili-

|| 1 Überblickend Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Leslie Page Moch, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, 2. Aufl. Bloomington 2003; Christiane Harzig/Dirk Hoerder/Donna Gabaccia, What is Migration History, Cambridge 2009; Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010; Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt a.M. 2012. 2 Zuletzt zusammenführend Michael Borgolte (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin 2014. 3 Jüngst: Patrick Sänger (Hg.), Minderheiten und Migration in der griechisch-römischen Welt: Politische, rechtliche, religiöse und kulturelle Aspekte, Paderborn 2016. 4 Dazu siehe im knappen Aufriss in globalhistorischer Perspektive Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012; siehe auch überblickend Robin Cohen (Hg.), The Cambridge Survey of World Migration, Cambridge 1995; Wang Gungwu (Hg.), Global History and Migrations, Boulder 1997; Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002; Adam McKeown, Global Migration 1846–1940, in: Journal of World History, 15. 2004, S. 155–189; Albert Kraler u.a. (Hg.), Migrationen. Globale Entwicklungen seit 1850, Wien 2007; Immanuel Ness (Hg.), The Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Malden, MA 2013; Patrick Manning, Migration in World History, 2. Aufl. London 2015.

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sieren oder politisches Interesse durchsetzen. Gewalt- und Zwangsmigration verweisen auf die Akzeptanz der Beschränkung von Freiheit, Freizügigkeit und körperlicher Unversehrtheit durch Staaten und Gesellschaften. Aufgerufen ist mithin die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen, Formen und Folgen der Beeinflussung von Migrationsverhältnissen und damit insbesondere nach den Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen unterschiedlicher, zum Teil unabhängig, zum Teil abhängig voneinander agierender institutioneller Akteure in Migrationsregimen, die zum Teil in Kooperation, zum Teil aber auch im Konflikt operierten. Antworten auf diese Frage bietet das vorliegende Handbuch, das sich aus der Vielzahl der in Migrationsregimen an der Aushandlung von Migration beteiligten Institutionen auf staatliche Akteure fokussiert, die in der Regel zu den besonders machtvollen Handelnden zählten beziehungsweise als solche erschienen. Der einleitende Beitrag erläutert zunächst Beobachtungsperspektiven der Historischen Migrationsforschung. Der zweite Abschnitt stellt grundlegende Bedingungen, Formen und Folgen von Migration im Überblick vor und arbeitet auf diese Weise zentrale Muster im Wanderungsgeschehen heraus. Der dritte Abschnitt skizziert das Konzept der Migrationsregime. Das Zusammenwirken von institutionellen (insbesondere staatlichen) Akteuren auf der einen Seite sowie (potenziellen) Migrantinnen und Migranten auf der anderen Seite erörtert der vierte Abschnitt, der der Analyse von Aushandlungsprozessen gilt, die Migration formten und herstellten. Vor diesem Hintergrund erklärt der fünfte und letzte Abschnitt im knappen Zugriff die Gliederung des Handbuchs. Das Handbuch überblickt das Wechselverhältnis von Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Es setzt mit dem Dreißigjährigen Krieg an, der die Ausprägung relativ fest abgegrenzter Territorialstaaten mit relativ weitreichender Handlungsmacht nach innen und außen unter dem Schirm eines Reiches beschleunigte, das Züge von Staatlichkeit insbesondere seit dem 16. Jahrhundert angenommen hatte. Die Frage nach der zeitlichen Einordnung lässt zugleich das Problem der räumlichen Abgrenzung hervortreten: ›Deutschland‹ ist im Beobachtungszeitraum ein Gebilde mit fließenden Grenzen. Der Wandel in den Grenzverläufen (und damit die Veränderung der staatlichen Zugehörigkeit bestimmter Regionen und Bevölkerungen) sowie die Verfestigung von Grenzen und die Etablierung von Grenzregimen hatte weitreichenden Einfluss auf die räumliche Bewegung von Individuen oder Kollektiven. Das Alte Reich vor 1806 und weithin auch der Deutsche Bund der Jahrzehnte 1815–1866 bildeten keine politischen Systeme mit festen Grenzen, sondern rahmten und beschirmten vielmehr eine Vielzahl mehr oder minder autonomer Territorien. Ein Teil dieser Territorien innerhalb des Alten Reiches entwickelte sich zwar nach dem Dreißigjährigen Krieg – mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit und Reichweite – zu Flächenstaaten mit festgefügten Institutionen. Aber auch auf dieser Ebene gab es selten scharfe Grenzen. Hintergrund waren vielfältige Herrschaftsüberschneidungen, die aus wei-

Einleitung: Staat im Prozess der Aushandlung von Migration | 3

terhin wirksamen lehnsrechtlichen Bindungen, komplexen dynastischen Beziehungen und Klientelorientierungen resultierten. Die Ergebnisse des Wiener Kongresses 1814/15 führten zwar zu schärferen territorialen Grenzziehungen. Angesichts der spezifischen Struktur des neuen politischen Systems als Staatenbund gab es aber auch weiterhin zentrale territoriale Überschneidungszonen: Teile des Staatsgebiets von Österreich und Preußen etwa lagen außerhalb des Bundesgebiets, zugleich waren europäische Staaten wie Großbritannien, die Niederlande und Dänemark in Personalunion mit deutschen Territorien verbunden und damit Teil des Deutschen Bundes. Erst die Reichsgründung von 1870/1871 verfestigte die Grenzen eines mitteleuropäischen Nationalstaats, womit aber bekanntlich die Geschichte der Grenzverschiebungen und der Auseinandersetzungen um Minderheiten keineswegs endete.

1 Beobachtungsperspektiven der Historischen Migrationsforschung Historische Migrationsforschung untersucht räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlichster Größenordnung auf den verschiedensten sozialen Ebenen.5 Das gilt beispielsweise für die vor allem mit Hilfe von prozess-produzierten Massendaten und quantitativen Methoden in ihren Dimensionen, Formen und Strukturen erfassbaren europäischen überseeischen Massenabwanderungen des ›langen‹ 19. Jahrhunderts6 oder für die zwischen Land und Stadt beziehungsweise den verschiedenen Städtetypen und -größen fluktuierenden intra- und interregionalen Arbeitswanderungen im Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung.7 Es gilt aber auch

|| 5 Begriffe und Ansätze: McNeill/Adams (Hg.), Human Migration; Dirk Hoerder/Leslie Page Moch (Hg.), European Migrants. Global and Local Perspectives, Boston 1996; Virginia Yans-McLaughlin (Hg.), Immigration Reconsidered. History, Sociology and Politics, New York 1990; Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004; Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 28–53; Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, 3. Aufl. Bern 2005; Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013; Caroline B. Brettel/James F. Hollifield (Hg.), Migration Theory. Talking across Disciplines, 2. Aufl. New York 2015. 6 Überblickende Perspektiven zur europäischen überseeischen Migration: Walter Nugent, Crossings. The Great Transatlantic Migrations 1870–1914, Bloomington 1992; Dudley Baines, Emigration from Europe 1815–1930, Cambridge 1995; Bade, Europa in Bewegung, S. 121–168. 7 Ad van der Woude/Akira Hayami/Jan de Vries (Hg.), Urbanization in History. A Process of Dynamic Interactions, Oxford 1990; Paul M. Hohenberg/Lynn Hollen Lees, The Making of Urban Europe 1000–1994, 2. Aufl. Cambridge 1995; Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, 2. Aufl. München 2014, Kap. II und III; zum deutschen Beispiel Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale,

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für die Frage nach den Motiven sowie nach den Migrations- beziehungsweise Integrationsstrategien einzelner Kollektive, Familien oder Individuen, wie sie sich beispielsweise für die zunehmende Beschäftigung aus anderen Staaten zugewanderter Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den west-, mittel- und nordeuropäischen Industriestaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie mit deutlich größeren Dimensionen seit den 1950er Jahren beobachten lassen.8 Für die Untersuchung solcher historischen Prozesse und Strukturen kann eine große Zahl unterschiedlicher Materialien herangezogen werden, die sich mit verschiedenen Methoden untersuchen lassen: Hermeneutische Methoden erschließen Motive und Ziele der Migrantinnen und Migranten, ihr Handlungswissen, ihre Handlungsstrategien, Selbstkonstruktionen und identitären Verortungen auf der Grundlage insbesondere von Ego-Dokumenten (beispielsweise Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Zeitungsanzeigen) oder auch, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, von visuellem Material (vor allem Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Filme). Für den Kontext zeithistorischer Forschungen treten insbesondere lebensgeschichtliche Interviews hinzu. Von der Mehrzahl der (potenziellen) Migrantinnen und Migranten der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte sind keine EgoDokumente überkommen oder nur mehr in Spuren verfügbar. Deshalb entstammt ein Großteil des Materials, das unter Nutzung inhaltsanalytischer Methoden von der Historischen Migrationsforschung mit dem Ziel erschlossen wird, Handlungen von Migrantinnen und Migranten sowie deren Erfahrungen, Erwartungen, Motive und lebensgeschichtliche Verortungen zu untersuchen, Beständen, Beobachtungen und Bewertungen anderer, insbesondere institutioneller Akteure: Solche liegen schriftlich vor (zum Beispiel: Protokolle von Verhören und aus Gerichtsverfahren, Pässe, Einbürgerungsurkunden, Fallakten zu Einbürgerungen, Ausweisungen, Einreisen und Aufenthaltstiteln, amtliche, ärztliche oder wissenschaftliche Berichte etc.) oder bestehen – deutlich seltener – aus mündlichen Informationen (Experten- beziehungsweise Akteursinterviews). In aller Regel entstammen diese Überlieferungen den Diskursen und Diskurssystemen von Herrschenden und von Eliten, erfordern also spezifische hermeneutische Herangehensweisen, um beispielsweise die Aspirationen sowie die Welt- und Situationsdeutungen, die das Handeln von Migrantinnen und Migranten formierte, erschließen zu können. Darüber hinaus ermöglicht dieses in der Regel in recht großem Umfang vorzufindende Material die Rekonstruktion des

|| interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880–1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 64. 1977, S. 1–40; Steve Hochstadt, Mobility and Modernity. Migration in Germany, 1820–1989, Ann Arbor 1999. 8 In europäischer Perspektive Jochen Oltmer/Axel Kreienbrink/Carlos Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2011.

Einleitung: Staat im Prozess der Aushandlung von Migration | 5

Agierens und Regierens institutioneller Akteure, darunter insbesondere staatlicher Macht- und Amtsträger. Historische Migrationsforschung untersucht sowohl Wanderungsprozesse, die auf dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet ausgerichtet waren (und entsprechender Vorbereitungen in den Herkunftsgebieten bedurften), als auch die zahlreichen Formen zeitlich befristeter Aufenthalte – von den saisonalen oder zirkulären Bewegungen über die mehrjährigen Arbeitsaufenthalte in der Ferne bis hin zu dem in der Regel zeitlich begrenzten Umherziehen als ortloser Wanderarbeiter. Damit überwindet sie eine lange in der historischen Forschung dominierende Sicht, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum über die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte.9 Auch die Entwicklung von Wanderungssystemen10 gehört zum Gegenstandsbereich moderner Historischer Migrationsforschung. Ein Wanderungssystem wird als eine relativ stabile und lang anhaltende migratorische Beziehung zwischen einer Herkunfts- und einer Zielregion verstanden. Die Historische Migrationsforschung fragt danach, warum und auf welche Weise sich solche zum Teil über Jahrzehnte oder Jahrhunderte existierenden inter- und transregionalen Migrationsbeziehungen etablierten und stabilisierten – und verweist in der Regel auf bereits bestehende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Verbindungen und Beziehungen, die einen engen interregionalen Güter-, Dienstleistungs-, Informations- und Personenaustausch ermöglichten und strukturierten. Untersuchungen zu Migrantennetzwerken und zur Etablierung von Wanderungstraditionen, insbesondere im Kontext von Arbeits- und Siedlungswanderungen, zeigen, mit welcher Dynamik Migration die bestehenden Austauschbeziehungen transformierte. Beiträge aus der Historischen Migrationsforschung bieten darüber hinaus Momentaufnahmen der gesamten Migrationssituation in einem Raum, bei der Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Wanderungsformen in einer spezifischen sozialen, ökonomischen, demographischen und politischen Konstellation ausgeleuchtet werden. Der Erschließung dienen in diesem Kontext vor allem veröffentlichte und unveröffentlichte Unterlagen der amtlichen Statistik auf den verschiedenen Ebenen: Den großen räumlichen Bevölkerungsbewegungen wurde in der Regel unmittelbare statistische Aufmerksamkeit zuteil, denn sie galten als bevölkerungs-, wirtschafts-, sozial- und sicherheitspolitisch relevante Phänomene und Probleme. Kern des Aufstiegs der modernen amtlichen Statistik seit dem 17. Jahrhundert bilde|| 9 Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, in: Ernst Hinrichs/Henk van Zon (Hg.), Bevölkerungsgeschichte im Vergleich: Studien zu den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Aurich 1988, S. 63–74. 10 Jan Lucassen, Naar de Kusten van de Noordzee. Trekarbeid in Europees perspektief 1600–1900, Gouda 1984; Mary M. Kritz/Lin Lean Lim/Hania Zlotnik (Hg.), International Migration Systems. A Global Approach, Oxford 1992.

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te die Bevölkerungsstatistik, die insbesondere wegen der Erfassung von Steuer- und Militärpflichtigkeit für die Planung und Durchführung staatlicher Aktivitäten ein hohes Gewicht hatte. In diesem Kontext bildete von Beginn an auch die Registrierung von Umfang, Dynamik, Zielrichtung und sozialer Zusammensetzung von Migrationsbewegungen ein wichtiges Element. Das gilt sowohl für Volkszählungen, die zunächst sporadisch, fallweise und wenig differenziert, seit dem 19. Jahrhundert dann regelmäßig und mit hohem Aufwand die Bevölkerung vermaßen.11 Für die Historische Migrationsforschung nutzbare Daten bieten aber auch meldestatistische Angaben (Bevölkerungs-, Melderegister) auf der Ebene von Staaten oder Kommunen sowie Informationen über den Umfang von Grenzübertritten, Ausweisungen und die Ausgabe von Dokumenten (Pässe, Visa). Seit dem späten 19. Jahrhundert gewannen darüber hinaus arbeitsmarktstatistische Angaben an Gewicht. Prozess-produzierte Daten zu den verschiedensten migratorischen Phänomenen liegen für die Neuzeit in unterschiedlichster Güte und Reichweite vor. Die Bandbreite kann dabei als enorm bezeichnet werden: Die Angaben verweisen auf relativ schlichte Einschätzungen über den Umfang einzelner Bewegungen, stellenaber mit dem beschleunigten Verwaltungsausbau und mit dem Aufstieg interventionsstaatlicher Maßnahmen seit dem (späten) 19. Jahrhundert auch hochdifferenzierte Daten dar, die eine detaillierte quantitative Analyse ermöglichen – von der Arbeitsmarktbeteiligung von Migrantinnen und Migranten, über die soziale Zusammensetzung, demographische Kennziffern bis hin zu Heiratsverhalten, Medienkonsum und Ernährungsgewohnheiten. Verfahren der deskriptiven Statistik dominieren dabei methodisch gegenüber solchen der explorativen Statistik. Historische Migrationsforschung fragt vornehmlich nach 1. Migrationsaspirationen, den Hintergründen von Migrationsentscheidungen, der Entwicklung von Migrationsstrategien im Kontext individueller und kollektiver Migrationsprojekte unter je spezifischen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen sowie kulturellen und sprachlichen Bedingungen; 2. den vielgestaltigen Mustern räumlicher Bewegungen zwischen Herkunfts- und Zielgebieten im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen beiden Räumen; 3. der Konstitution und der Funktionsweise von migrantischen Netzwerken und von migrantischen Organisationen; 4. den Erwartungen und Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten; 5. den Dimensionen, Formen und Folgen der Zuwanderung im Zielgebiet, die temporären Charakter haben, aber auch in einen Generationen übergreifenden Prozess dauerhafter Ansiedlung und Integration münden konnte; 6. den Lebensverhältnissen und Lebensverläufen von Migrantinnen und Migranten; 7. den Selbstkonstruktionen, Praktiken und Herausforderungen

|| 11 Hierzu siehe beispielsweise Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M. 2013; Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahl. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005.

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der Identitätsbildung im Prozess von Migration und Integration; 8. den Bemühungen von Obrigkeiten, Staaten und nicht-staatlichen Organisationen um Einflussnahme auf Migration und Integration; 9. der (wissenschaftlichen) Wissensproduktion über Migration und der Genese von Migration als Medienereignis sowie 10. den Rückwirkungen der Abwanderung auf zurückbleibende Angehörige von Familien und Kollektiven sowie wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen und Dynamiken in den Ausgangsräumen.12

2 Hintergründe und Erscheinungsformen von Migration Der Begriff Migration verweist auf räumliche Bewegungen von Menschen. Er meint jene Muster regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden hatten und aus denen Veränderungen sozialer Institutionen resultierten. Je nach historischer und gesellschaftlicher Konstellation bezieht sich eine solche weite Definition auf sehr verschiedene Zusammenhänge: Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen mit der Folge des Ausschlusses aus einem beziehungsweise der Inklusion in einen anderen Rechtsverband meinen. In diesen Kontext gehören auch die großen transatlantischen Wanderungen des ›langen‹ 19. Jahrhunderts, die 55 bis 60 Millionen Europäer auf andere Kontinente führten und die ihren Höhepunkt in den drei, vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg fanden.13 Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines politisch-territorialen Gebildes können als Migration gefasst werden: Sie brachten zwar keinen Wechsel des Untertanenverbandes oder der Staatsangehörigkeit mit sich, verwiesen die Migrantinnen und Migranten dennoch aber darauf, sich mit anderen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinanderzusetzen und Teilhabe in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu erreichen oder zu erringen. So waren beispielsweise die räumlichen Bewegungen im Rahmen der deutschen, europäischen oder globalen Urbanisierung, insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert, meist Orts|| 12 Beispielhaft auf Deutschland bezogen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 13 Datenquelle: Bade, Europa in Bewegung, S. 121–168. Über den Umfang der europäischen transatlantischen Migration sind nur unsichere Angaben überkommen. Das ist ein Resultat sehr unterschiedlicher Erfassungsbedingungen in den Herkunfts- und in den Zielländern, aber auch einer hohen Dunkelziffer aufgrund einer großen Zahl von Migranten, die kein Interesse daran hatten, sich erfassen zu lassen, nicht zuletzt, weil sie mit Hilfe der Abwanderung dem Militärdienst zu entgehen strebten.

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wechsel innerhalb eines Territoriums beziehungsweise eines Staates. Obgleich keine Staatsgrenzen überschritten wurden, ergaben sich für die Migrantinnen und Migranten weitreichende Herausforderungen hinsichtlich der Integration in andere wirtschaftliche Segmente und Sektoren (Industrie oder Dienstleistungsbereich anstelle von Landwirtschaft) und mündete die Wanderung in veränderte Lebensformen (urban statt rural), Einstellungen und Orientierungen. Solche enorm umfangreichen inter- und intraregionalen Migrationen waren mithin eine Folge sozialen Wandels und führten ihn zugleich herbei. Von den rund 62 Millionen Menschen im Deutschen Reich 1907 lebten rund 49 Prozent nicht am Ort ihrer Geburt.14 Im Jahr 1815 hatten in Preußen 24 Prozent der Bevölkerung in Gemeinden mit mehr als 2.000 Einwohnern gelebt, im Jahr 1910 waren es im Deutschen Reich insgesamt bereits 60 Prozent, wobei vor allem der Aufstieg der Großstädte ins Auge fällt: Großstadtbewohner stellten 1816 in Preußen mit 2 Prozent eine randständige Minderheit, im Deutschen Reich des Jahres 1910 aber lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bereits bei mehr als 21 Prozent. Für jenes Jahr ermittelte die Volkszählung 45 Großstädte, während es 1800 derer nur zwei gegeben hatte, nämlich Berlin und Hamburg. Die preußische Metropole, deren Bevölkerung um 1800 bei 172.000 und 1850 bei 419.000 gelegen hatte, erreichte 1910 eine Einwohnerzahl von 2,3 Millionen. Hamburgs Bevölkerung stieg von ca. 128.000 um 1800 auf rund 930.000 im Jahre 1910.15 Im Jahr 1800 ermittelte die Statistik 23 Großstädte in Europa mit mehr als 100.000 Einwohnern, in denen insgesamt 5,5 Millionen Menschen lebten. 100 Jahre später zählten die nun 135 Großstädte 46 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl Berlins wuchs im 19. Jahrhundert um 872 Prozent, jene Wiens um 490 Prozent, Londons um 340 Prozent und jene von Paris um 345 Prozent.16 Nicht selten führte die Bewegung in die Städte sowie zwischen verschiedenen Städtetypen und -größen die Migrantinnen und Migranten außerdem in einen andersgearteten Rechtsverband. Viele Kommunalverfassungen gestanden ihnen bürgerliche und soziale Rechte nicht per se zu, sondern richteten Hürden auf, die beispielsweise durch längerfristige Anwesenheit, Steuer- und Geldleistung überwunden werden mussten. Das gilt beispielsweise sowohl für das Bürgerrecht und die Herausforderungen des Bürgerrechtserwerbs in europäischen Städten bis in das 19. Jahrhundert als auch für die Folgen des Meldesystems (›hukou‹) in der Volksrepublik China, das seit Ende der 1950er Jahre den Millionen von chinesischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den Städten, in die sie zugewandert waren,

|| 14 Wolfgang Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und ›Soziale Frage‹. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert, in: ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deuschlands, Göttingen 1974, S. 106– 124, hier S. 117. 15 Hierzu in überblickender Perspektive Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 16 Page Moch, Moving Europeans, S. 128f.

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nur einen Status der Duldung bot und sie von grundlegenden sozialen und politischen Rechten ausschloss.17 Migration konnte den Wechsel des Lebensmittelpunktes18 umfassen, war aber auch häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzten – im Falle einer Rückwanderung nach Jahren oder Jahrzehnten des Aufenthalts in der Ferne lässt sich zwar zweifelsohne von mehrfachen Wechseln des Lebensmittelpunktes sprechen.19 Saisonale Migrationen, die mehr oder minder regelmäßig (meist: Jahr um Jahr) zu wochenoder monatelangen Aufenthalten andernorts führten, lassen sich aber kaum als Verlagerung des Lebensmittelpunktes verstehen, zumal sie in der Regel darauf ausgerichtet waren, Geld zu verdienen, um die Existenz am Lebensmittelpunkt aufrechterhalten zu können. In ein solches Muster fügt sich beispielsweise das seit dem frühen 17. Jahrhundert ausgeformte und bis weit in das 19. Jahrhundert existierende landwirtschaftliche Arbeitswanderungssystem der Hollandgängerei in Nordwestdeutschland: Die Hollandgänger stammten vorwiegend aus einem Kerngebiet, das das nördliche Westfalen, das Osnabrücker Land, das Oldenburger Münsterland und das Emsland umschloss. Sie verdingten sich alljährlich für einige Wochen oder Monate in den niederländischen Küstengebieten und im nordwestdeutschen Ostfriesland als Grasmäher und Heumacher in der intensiven Viehwirtschaft oder als Torfstecher, die die steigende Nachfrage nach Brennstoffen für die gewerbliche Produktion und für den privaten Bedarf befriedigten. Im 18. Jahrhundert lag die Zahl der Hollandgänger bei rund 30.000 pro Jahr. In einigen Gemeinden des Herkunftsgebietes erreichte der Anteil der Hollandgänger an der männlichen Erwerbsbevölkerung ein Viertel. Zahlreiche landwirtschaftliche Kleinstellenbesitzer in Nordwestdeutschland, vor allem aber Pächter (Heuerlinge), nutzten die Wochen, in denen sie in den auf Getreideproduktion ausgerichteten agrarischen Betrieben entbehrlich waren, um in den Niederlanden Bargeld zu verdienen, das das Weiterbestehen der Fami|| 17 Rumin Luo, Across the Institutional Passage of Migration: The Hukou System in China, in: InterDisciplines, 3. 2012, Nr. 1, S. 120–147; Jianfa Shen, Migrant Labour under the Shadow of the Hukou System. The Case of Guangdong, in: Tai-Chee Wong/Jonathan Rigg (Hg.), Asian Cities, Migrant Labour and Contested Spaces. London/New York 2011, S. 223–245. 18 Zu den Dimensionen bzw. Bereichen, auf die der Begriff des Lebensmittelpunktes in diesem Kontext verweist, siehe Ingrid Oswald, Migrationssoziologie, Konstanz 2007, S. 14–16. 19 J.D. Gould, European Inter-Continental Emigration. The Road Home: Return Migration from the U.S.A., in: Journal of European Economic History, 9. 1980, S. 41–112; Mark Wyman, Round-trip to America. The Immigrants Return to Europe, 1880–1930, Ithaca 1993; zum deutschen Beispiel Günter Moltmann, American-German Return Migration in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Central European History, 13. 1980, S. 378–392; Walter D. Kamphoefner, Umfang und Zusammensetzung der deutsch-amerikanischen Rückwanderung, in: Amerikastudien, 33. 1988, S. 291–307; Karen Schniedewind, Begrenzter Aufenthalt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Bremer Rückwanderer aus Amerika 1850–1914, Bremen 1991.

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lienwirtschaften im Herkunftsraum ermöglichte.20 Eine ganze Anzahl weiterer Arbeitswanderungssysteme, die auf saisonaler Lohnarbeit basierten, hat die Historische Migrationsforschung erschlossen.21 Migration konnte unidirektional eine Migration von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasste aber nicht selten auch Zwischenziele beziehungsweise Etappen, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienten. Weil der Migrationsprozess grundsätzlich ergebnisoffen blieb, stellte die dauerhafte Ansiedlung andernorts nur eine seiner möglichen Ergebnisse dar: In der Bundesrepublik Deutschland wuchs der Umfang der aus dem Ausland zugewanderten Erwerbsbevölkerung von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973, als die Ausländerbeschäftigung den Gipfelpunkt erreichte, von ca. 550.000 auf rund 2,6 Millionen an. Das Wanderungsvolumen war dabei erheblich: Vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, ca. 11 Millionen, also 80 Prozent, kehrten wieder zurück.22 Fluktuation, zum Beispiel zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer ein zentrales Kennzeichen von Migration. Aber auch dauernde räumliche Bewegungen ohne Wechsel von Rechtsverband und Gemeinschaft zählen zu den Migrationen der Vergangenheit: Die Lebens- und Wirtschaftsweise der Nomaden als mobile größere und große Gruppen mit festen Sozialstrukturen war beispielsweise ganz auf die Bewegung im Raum ausgerichtet, permanente Mobilität erschloss in ihrem Fall natürliche, ökonomische und soziale Ressourcen, die die Sicherung der Subsistenz ermöglichten. Die dauernde Bewegung schloss aber keineswegs vielfältige Wechselbeziehungen und zum Teil intensive Kontakte mit sesshaften Kollektiven aus: Nomaden waren sehr häufig auf Viehwirtschaft (zumeist Rinder, Pferde, Schafe, Rentiere oder Kamele) spezialisiert. Um pflanzliche Nahrungsmittel, darunter vor allem Getreide, oder auch Güter des täglichen Bedarfs und Luxusprodukte zu erwerben, suchten sie den ökonomischen Austausch mit Bevölkerungen, die nicht durch Mobilität als Strukturelement ihrer Existenz gekennzeichnet waren. Vertiefte wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Beziehungen zu sesshaften Kollektiven ergaben sich zudem vor allem dann, wenn Nomaden die Viehwirtschaft als Zentralelement ihrer Ökonomie mit Tätigkeiten als Händler oder Handwerker kombinierten. Darüber hinaus bildeten Nomaden für sesshafte Bevölkerungen häufig wichtige Träger von Nachrichten und

|| 20 Lucassen, Naar de Kusten van de Noordzee. 21 Referenztexte: Klaus J. Bade, Massenwanderung und Arbeitsmarkt im deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg. Überseeische Auswanderung, interne Abwanderung und kontinentale Zuwanderung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 20. 1980, S. 265–323; Dirk Hoerder, Arbeitswanderung und Arbeiterbewußtsein im atlantischen Wirtschaftsraum: Forschungsansätze und -hypothesen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 28. 1988, S. 391–425; zahlreiche Beispiele sind dokumentiert in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. 22 Rainer Münz/Wolfgang Seifert/Ralf Ulrich, Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1997, S. 35–42.

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Informationen. Neben die Kooperation trat allerdings nicht selten die Konfrontation: Insbesondere über Landnutzung und Landnutzungsrechte entbrannten in der langen Geschichte nomadischer Kollektive immer wieder Konflikte, die in langwährende kriegerische Auseinandersetzungen münden konnten.23 Die räumliche Bewegung der Nomaden folgte häufig mehr oder minder langen Zyklen und war geprägt durch zum Teil ausgesprochen langlebige Wanderungstraditionen. Die migrationshistorische Forschung beobachtet eine ganze Anzahl verschiedener Formen von Migration, die Ergebnis unterschiedlicher Hintergründe und Ziele von Migrantinnen und Migranten waren. Tabelle 1 fasst die wesentlichen Migrationsformen zusammen und erläutert sie mit Verweis auf spezifische Merkmale, Teilphänomene und Beispiele. Migrantinnen und Migranten strebten häufig danach, durch den dauerhaften oder temporären Aufenthalt andernorts Erwerbs-, Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt- oder Bildungschancen zu verbessern beziehungsweise sich neue Chancen zu erschließen.24 Die räumliche Bewegung sollte ihnen also zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. Migration verband sich sehr oft mit (erwerbs-)biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Partnerwahl und Familiengründung, Eintritt in einen Beruf oder Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz; der überwiegende Teil der Migranten waren folglich Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung bedingten spezifische sozial relevante Merkmale, Attribute und Ressourcen von Individuen beziehungsweise Angehörigen von Kollektiven (Familien, Haushalten, Gruppen, Bevölkerungen), darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale (Stände, Schichten) und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu ›Ethnien‹, ›Kasten‹, ›Rassen‹ oder ›Nationalitäten‹, die sich nicht selten mit Privilegien und (Geburts-)Rechten verbanden. Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erwiesen sich damit die Autonomiegrade von Migranten als Individuen beziehungsweise in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften beziehungsweise Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung || 23 Überblickende Perspektiven: Fred Scholz, Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozioökologischen Kulturweise, Stuttgart 1995; Stefan Leder/Bernhard Streck (Hg.), Shifts and Drifts in Nomad-Sedentary Relations, Wiesbaden 2005; Jörg Gertel/Sandra Calkins (Hg.), Nomaden in unserer Welt. Die Vorreiter der Globalisierung. Von Mobilität und Handel, Herrschaft und Widerstand, Bielefeld 2012. 24 Tilly, Migration in Modern European History, S. 72.

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Tabelle 1: Migrationsformen Formen

Merkmale, Teilphänomene und Beispiele

Arbeitswanderung

Migration zur Aufnahme unselbstständiger Erwerbstätigkeit in Gewerbe, Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungsbereich

Bildungs- und Ausbildungswanderung

Migration zum Erwerb schulischer, akademischer oder beruflicher Qualifikationen (Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrlinge/Auszubildende)

Dienstmädchen-/ Hausarbeiterinnenwanderung

Migration im Feld der haushaltsnahen Dienstleistungen, häufig gekennzeichnet durch relativ enge Bindung an eine Arbeitgeberfamilie, ungeregelte Arbeitszeiten und prekäre Lohnverhältnisse

Entsendung

Grenzüberschreitende, temporäre Entsendung im Rahmen und im Auftrag von Organisationen/Unternehmen: ›Expatriates‹/›Expats‹; Kaufleute und Händlerwanderungen zur Etablierung/Aufrechterhaltung von Handelsfilialen; Migration im Rahmen eines militärischen Apparates (Söldner, Soldaten, Seeleute), von Beamten oder von Missionaren

Gesellenwanderung

Wissens- und Technologietransfer durch Migration im Handwerk, Steuerungsinstrument in gewerblichen Arbeitsmärkten durch Zünfte

Heirats- und Liebeswanderung

Wechsel des geographischen und sozialen Raumes wegen einer Heirat oder einer Liebesbeziehung

Kulturwanderung

Wechsel in kulturell attraktive Städte und Stätten (›Künstlerkolonien‹, Weltstädte / ›Global Cities‹ als kulturelle Zentren)

Nomadismus/ Migration als Struktur

Permanente oder wiederholte Bewegung zur Nutzung natürlicher, ökonomischer und sozialer Ressourcen durch Viehzüchter, Gewerbetreibende, Dienstleister oder brandrodende Bauern

Siedlungswanderung

Migration mit dem Ziel des Erwerbs von Bodenbesitz zur landwirtschaftlichen Bearbeitung

Sklaven- und Menschenhandel

Migration (Deportation) zur Realisierung von Zwangsarbeit, das heißt jeder Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Strafandrohung verlangt wird

Wanderarbeit

Arbeitswanderung im Umherziehen, ortlose Wanderarbeitskräfte finden sich vor allem im Baugewerbe (Eisenbahnbau, Kanalbau)

Wanderhandel

Handelstätigkeit im Umherziehen, meist Klein- und Kleinsthandel, zum Beispiel Hausierer

Wohlstandswanderung

Migration finanziell weitgehend unabhängiger Personen aus vornehmlich klimatischen oder gesundheitlichen Erwägungen (Rentner- und Seniorenwanderung, ›lifestyle migration‹)

Zwangs- bzw. Gewaltmigration

Migration, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt (Flucht, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung)

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oder Ausnutzung von Chancen dienten keineswegs immer der Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden ›Rücküberweisungen‹ oder anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Die in diesem Kontext mehr oder minder regelmäßig erfolgenden ›Remittances‹ hatten folglich eine ausgesprochen hohe Bedeutung für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien und selbst für ganze Volkswirtschaften.25 Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass solche translokalen ökonomischen Strategien funktionierten, bildete die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Die bereits angesprochene saisonale Migration von Mitgliedern eines Haushaltes war häufig in agrarische und industrielle Arbeitszyklen eingebunden und deshalb hinsichtlich von Dauer und Frequenz in einen festen Rahmen gefügt: Der temporäre Aufenthalt andernorts diente der Sicherung der Subsistenz durch ökonomische Diversifizierung und musste in die Arbeitszyklen eingepasst werden. Das Ziel der Risikominimierung durch das Verbinden verschiedener Strategien zum Erwerb des Haushaltseinkommens begrenzte ebenfalls die migratorische Handlungsmacht des Einzelnen beziehungsweise von Kollektiven. Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wurde, hing entscheidend ab vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten. Damit Arbeits-, Ausbildungs- und Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichten, bedurfte es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Ein zentrales Element bildete die mündliche oder schriftliche Übermittlung von Wissen über Beschäftigungs-, Ausbildungs-, Heirats- oder Siedlungschancen durch vorausgewanderte (Pionier-)Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein hoher Informationswert beigemessen wurde. Sie etablierten Kettenwanderungen, bei denen Migrantinnen und Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgten. Herkunftsräume und Zielgebiete von Migration waren mithin in der Regel über Netzwerke, also über durch Verwandtschaft, Bekanntschaft und Herkunftsgemeinschaften zusammengehaltene Kommunikationssysteme miteinander verbunden. Loyalität und Vertrauen bildeten zentrale Bindungskräfte solcher Netzwerke. Die Bedeutung der Informationsvermittlung mit Hilfe verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht überschätzt werden: Mindestens 100 Millionen private ›Auswandererbriefe‹ sind zum Beispiel 1820–1914 aus den USA nach || 25 Historisches Beispiel Gary B. Magee/Andrew S. Thompson, Lines of Credit, Debts of Obligation. Migrant Remittances to Britain, c. 1875–1913, in: Economic History Review, 59. 2006, S. 539–577.

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Deutschland geschickt worden und kursierten in den Herkunftsgebieten im Verwandten- und Bekanntenkreis.26 Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungsentschlusses zureichende Informationen standen potenziellen Migranten häufig nur für einen Zielort beziehungsweise für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Erwerbsbereiche zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Zielen nicht gegeben waren. Die migratorische Handlungsmacht des Einzelnen blieb damit zwar einerseits beschränkt, andererseits aber beherbergte das Zielgebiet ein umfangreiches Netzwerk verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Beziehungen, das Risiken minimierte und Chancen offerierte: 94 Prozent aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen, suchten beispielsweise zuerst Verwandte und Bekannte auf27, verringerten damit ihre Verwundbarkeit und erhöhten ihre Handlungsmacht vor Ort. Migrantennetzwerke28 boten einerseits translokal Wissen über Chancen und Gefahren der Ab- oder Zuwanderung, über sichere Verkehrswege sowie über psychische, physische und finanzielle Belastungen der Reise. Am Zielort garantierten Migrantennetzwerke Schutz und Orientierung im fremden Raum, vermittelten Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten, halfen auch bei Kontakten mit Obrigkeiten, staatlichen und kommunalen Institutionen. Je umfangreicher ein Netzwerk war und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gepflegt wurden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bot es – die Attraktivität eines Migrationszieles bemaß sich mithin auch an der Größe des Netzwerkes, auf das Migranten am Zielort rekurrieren konnten, und an der Intensität der im verwandtschaftlichbekanntschaftlich konstituierten Netz gepflegten sozialen Beziehungen bei hoher Kommunikationsdichte und weitreichendem Vertrauen.29 Vor diesem Hintergrund

|| 26 Wichtige Briefedition, die Formen und Ausmaß der transatlantischen Informationsvermittlung anschaulich vermittelt: Wolfgang Helbich/Walter D. Kamphoefner/Ulrike Sommer (Hg.), Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930, München 1988. 27 Hoerder/Lucassen/Lucassen, Terminologien und Konzepte. 28 Für die Perspektive der Migrationsforschung allgemein Michael Bommes, Migrantennetzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, in: ders./Veronika Tacke (Hg.), Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 241–259; zu den Reichweiten und Grenzen historischer Netzwerkforschung: Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften. Warum und Wie? in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 23. 2012, H. 1, S. 16–41. 29 Vertrauen fasst Niklas Luhmann als »Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität« (ders., Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Aufl. Konstanz 2014) und »eine Lösung für spezifische Risikoprobleme« (ders., Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a.M. 2001, S. 143–160, hier S. 144); siehe auch Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013. Für die Neue Institutionenökonomie bietet Vertrauen ein Potenzial zur Verringerung von Transaktionskosten und zum Aufbau ökonomischer Beziehun-

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erhöhte ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfand. Vielmehr konstituierte es auch Wanderungstraditionen und beeinflusste damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet, die über lange Zeiträume und zum Teil über Generationen existieren konnte. Die Migrantennetzwerke wurden nicht nur durch Kommunikation und durch den Austausch von Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrechterhalten, sondern reproduzierten sich insbesondere auch durch (nicht selten translokal und transkontinental ausgehandelte) Eheschließungen30, durch die Etablierung von Vereinen und Verbänden31, eine spezifische Geselligkeitskultur32, aber auch gemeinsame ökonomische Aktivitäten: Die Historische Migrationsforschung hat beispielsweise eine Anzahl von Migrantengruppen mit identischem Herkunftsgebiet ausgemacht, für die bestimmte Berufe charakteristisch zu sein scheinen: Beispielsweise liegen beinahe alle Fish-and-Chips-Imbisse der Republik Irland heute in der Hand von Personen, die aus dem Ort Casalattico in der italienischen Provinz Frosinone stammen beziehungsweise aus einem Umkreis von rund 10 Kilometern um diesen Ort. Der erste von Italienern aus diesem eng begrenzten Herkunftsgebiet betriebene Fishand-Chips-Imbiss in Irland wurde 1904 eröffnet. Heute stammen drei Viertel aller Migrantinnen und Migranten italienischer Herkunft in Irland aus Casalattico, das heißt gleichzeitig auch, dass beinahe alle Italiener in Irland Fish-and-Chips-Imbisse betreiben.33 In der Frühen Neuzeit und bis in das 19. Jahrhundert finden sich Führer dressierter Bären aus der italienischen Provinz Caserta in weiten Teilen des europäischen Kontinents, im 18. Jahrhundert europaweit wandernde Musikkapellen aus Böhmen, bis in die 1930er Jahre auf Gemüseanbau spezialisierte Wandergärtner aus Bulgarien34, Wanderhändler für Setzlinge und Blumenzwiebeln stammen aus dem französischen Département Isère.35 Sie übten ihr Gewerbe nicht nur in ganz Europa,

|| gen (Friedrich L. Sell, Vertrauen. Auch eine ökonomische Kategorie, in: Gerold Blümle u.a. (Hg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster 2004, S. 399–410. Ein weiterreichender Bezug zu Aspekten der Migrationsforschung wird allerdings nirgendwo hergestellt. 30 Robert Fuchs, Heirat in der Fremde. Deutschamerikaner in Cincinnati im späten 19. Jahrhundert, Paderborn 2014. 31 Tobias Brinkmann, Von der Gemeinde zur ›Community‹. Jüdische Einwanderer in Chicago 1840– 1900, Osnabrück 2002. 32 Heike Bungert, Festkultur und Gedächtnis. Die Konstruktion einer deutschamerikanischen Ethnizität 1848–1914, Paderborn 2016. 33 Russell King/Brian Reynolds, Casalattico, Dublin and the Fish and Chip Connection. A Classic Example of Chain Migration, in: Studi emigrazione, 31. 1994, H. 3, S. 298–426; Markus Walz, Region – Profession – Migration. Italienische Zinngießer in Rheinland-Westfalen, Osnabrück 2002, S. 16, 435. 34 Vasil A. Mutafov, Der bulgarische Gartenbau in Europa (ethnokulturelle und gegenseitige Einflüsse), in: Ethnologia Slavica, 21. 1989, S. 167–194. 35 Walz, Region – Profession – Migration, S. 17f., 437–449.

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sondern sogar in Asien bis nach Japan aus. Die ›lippischen Ziegler‹, die aus dem kleinen Fürstentum Lippe-Detmold kamen, dominierten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert die Ziegel- und Dachpfannenherstellung in bestimmten Segmenten der Produktion in ganz Nordwesteuropa.36 Ausgemacht werden kann bei diesen Formen berufsspezifischer Migration, für die sich im neuzeitlichen Europa viele weitere Beispiele finden lassen, dass die in bestimmten Nischen angebotenen Qualifikationen nicht auf die jeweilige, in der Regel sehr eng umgrenzte Herkunftsregion zurückzuführen sind. Arbeitswanderung war mithin nicht Wanderung von Fachkräften, spezifisches berufliches Wissen war vielmehr erst Ergebnis der Arbeitswanderung. In weiten Teilen Europas tätige Zinngießer aus den italienischen Alpen erwarben ihre Kenntnisse beispielsweise erst mit dem Verlassen des Herkunftsgebietes, in dem es keine Tradition dieses Handwerks gab.37 Das galt gleichermaßen für die ›lippischen Ziegler‹, die über viele Generationen hinweg den spezifischen ›Migrantenberuf‹ Ziegler erst in den Zielgebieten erlernten. Vermittelt wurden die beruflichen Spezialkenntnisse fest umrissener Migrantengruppen innerhalb verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Kommunikationsnetze, die auch die Arbeitsmöglichkeiten innerhalb des spezifischen Berufssegments boten. Pioniermigranten nahmen, mehr oder minder zufällig, Arbeitsmarktchancen wahr und vermittelten, falls sich denn das Segment als geeignet für die Entwicklung weiterer Marktchancen erwies, spezifisches Wissen an Bekannte und Verwandte. Diese wiederum standen nach erfolgter Ausbildung als Anbieter von Wissen für neue Migranten aus dem Kommunikationsnetz zur Verfügung. So konnte es geschehen, dass eine Gruppe bestimmte Arbeitsmarkt- oder Produktnischen dominierte und mit Hilfe stabiler verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Kommunikationsnetzwerke über lange Zeiträume in bestimmten Regionen diese Dominanz aufrechterhielt. Schutz und Chancen, die Migrantennetzwerke boten, bedeuteten für den Einzelnen immer auch soziale Zwänge und Verpflichtungen. Die Aufrechterhaltung des Netzwerkes, das im Kontext der Migration existenzielle Bedeutung haben konnte, forderte Loyalität und die mit Leistung und Gegenleistung verbundene Akzeptanz kollektiver Verantwortung. Migrantinnen und Migranten wurden genötigt, spezifische Normen, Handlungsrationalitäten und Handlungsziele zu teilen, Mitglieder der Netzwerke unterlagen wegen der Geschlossenheit der verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Verbindungen enger sozialer Kontrolle, selbst über Tausende von

|| 36 Piet Lourens/Jan Lucassen, Arbeitswanderung und berufliche Spezialisierung. Die lippischen Ziegler im 18. und 19. Jahrhundert, Osnabrück 1999. 37 Walz, Region – Profession – Migration.

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Kilometern Entfernung hinweg. Vertrauen wurde erzwungen38, Sanktionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen gab es viele: Verlust von Reputation aufgrund des Schwundes von Vertrauenswürdigkeit, Entzug von Leistungen, soziale Isolation und Exklusion, die im Kontext der Migration die soziale Verletzbarkeit und die Risiken enorm erhöhten sowie die Wahrnehmung von Chancen durch räumliche Bewegungen minimierten. Im Kontext von Entsendungen als spezifischer Migrationsform ersetzte der Rahmen der Organisation beziehungsweise Institution (zum Beispiel Handelsfilialen oder multinationale Unternehmen, diplomatischer Dienst, Streitkräfte), die räumliche Bewegung initiierte, organisierte und Teilhabe am Zielort offerierte, das verwandtschaftlich-bekanntschaftliche Netzwerk. Entsendungen waren in der Regel auf begrenzte Aufenthalte andernorts zur Beschäftigung in Unternehmensfilialen, Tochter- oder Drittunternehmen ausgerichtet. Sie waren Ausdruck langfristiger Unternehmensstrategien, die auf die konstante Präsenz von Spezialisten in den verschiedensten Unternehmensstandorten zielten39, und rahmten den Aufenthalt andernorts durch spezifische Infrastrukturen, die aufgerichtet oder mindestens unterstützt wurden (Schulen, Clubs, Vereine, Verbände). Auch Formen der Lebensstil-Migration (›lifestyle migration‹), die auf räumliche Ziele ausgerichtet waren, die höhere Lebensqualität und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zu bieten schienen, verweisen auf Bewegungen innerhalb von Netzwerken und Herkunftsgemeinschaften. Kennzeichnend waren der (relative) Wohlstand der Migrantinnen und Migranten und die Orientierung an Möglichkeiten des Konsums, nicht des Erwerbs. Nicht selten war ihre räumliche Bewegung privilegiert, Probleme des Übertritts von Grenzen, des Zugangs zu Visa und Aufenthaltstiteln gab es für Lebensstil-Migrantinnen und -migranten in der Regel nicht, das gilt gegenwärtig weiter. Während in einem solchen Kontext von Wohlstandsmigrationen die Handlungsmacht des Einzelnen zur Umsetzung eines Migrationsprojekts sehr hoch war40, galt das für andere Konstellationen weit weniger; denn Migration stellte auch eine mögliche Reaktion auf Krisenkonstellationen dar, etwa dort, wo Abwanderung das Ergebnis von Umweltzerstörung oder akuter wirtschaftlicher und sozialer Notlagen bildete.41 Darüber hinaus konnten die Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen

|| 38 Alejandro Portes/Julia Sensenbrenner, Embeddedness and Immigration: Notes on the Social Determinants of Economic Action, in: American Journal of Sociology, 98. 1993, H. 6, S. 1320–1350, hier S. 1332. 39 Allan Findley, A Migration Channels Approach to the Study of High Level Manpower Movements: A Theoretical Perspective, in: International Migration, 28. 1990, S. 15–23. 40 Michaela Benson/Karen O’Reilly (Hg.), Lifestyle Migration. Expectations, Aspirations and Experiences, Farnham 2009. 41 Zur Frage möglicher Reaktionen auf Umweltveränderungen siehe die interdisziplinären Beiträge in Carsten Felgentreff/Martin Geiger (Hg.), Migration und Umwelt (IMIS-Beiträge, H. 44), Osnabrück

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institutioneller Akteure die Handlungsmacht und damit die Freiheit und Freizügigkeit von Einzelnen oder Kollektiven so weit beschränken, dass Formen von Gewaltund Zwangsmigration (Flucht, Vertreibung, Deportation usw.) die räumliche Mobilität dominierten. Gewalt- und Zwangsmigration war durch eine Nötigung zur Abwanderung verursacht, die keine realistische Handlungsalternative zuließ. Sie konnte Flucht vor Gewalt sein, die Leben und Freiheit direkt oder erwartbar bedrohte, zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen. Zwangsmigration konnte aber auch gewaltsame Vertreibung, Deportation oder Umsiedlung bedeuten, die sich oft auf ganze Bevölkerungsgruppen erstreckte. Nicht selten verbanden sich solche Formen mit Zwangsarbeit.42 Eine Typologie von Gewalt- und Zwangsmigrationen erschließt eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe, die wiederum mit Abgrenzungsproblemen eigener Art verbunden sind, wie Tabelle 2 zeigt. Zwangsmigration war zumeist Ergebnis von Krieg, Bürgerkrieg oder Maßnahmen autoritärer Systeme – vor allem die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bildeten elementare Katalysatoren in der Geschichte der Zwangswanderungen in der Neuzeit. Allein die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten im Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf 50 bis 60 Millionen Menschen geschätzt und damit auf nicht weniger als 10 Prozent der Bevölkerung des Kontinents.43 Die Nachkriegszeit beider Weltkriege war zudem durch millionenfache Folgewanderungen gekennzeichnet. Dazu zählten zum einen Rückwanderungen von Flüchtlingen, Evakuierten, Vertriebenen, Deportierten oder Kriegsgefangenen sowie zum andern Ausweisungen, Vertreibungen oder Fluchtbewegungen von Minderheiten aufgrund der

|| 2013; historische Perspektiven Jochen Oltmer, Aus der Vergangenheit lernen. Fehlende Geschichte der Umweltmigration, in: Politische Ökologie, 20. 2002, H. 79, S. 20–22; Uwe Lübken, Chasing a Ghost? Environmental Change and Migration in History, in: Global Environment, 2012, H. 9, S. 5–24; zum Kontext von ökonomischer Krise und Migration siehe beispielsweise Jan Kaufhold, Migration und Weltwirtschaftskrise. Ausgewählte Binnenwanderungen im Deutschen Reich in der Endphase der Weimarer Republik und den ersten Jahren der NS-Herrschaft, Diss. Osnabrück 2015. 42 Jochen Oltmer, Krieg, Migration und Zwangsarbeit im 20. Jahrhundert, in: Hans-Christoph Seidel/Klaus Tenfelde (Hg.), Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, Essen 2007, S. 131–153; ders., Migration, Krieg und Militär in der Frühen und Späten Neuzeit, in: Matthias Asche/Michael Herrmann/Ulrike Ludwig/Anton Schindling (Hg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Münster 2008, S. 37–55. Alexander Betts geht im Blick auf die Begriffsverwendung nicht vom Hintergrund der Bewegungen aus (also Zwang bzw. Gewalt), sondern vom Ziel: Alexander Betts, Survival Migration. Failed Governance and the Crisis of Displacement, Ithaca 2013. 43 Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes, 1917–47, New York 1948, S. 264.

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Bestrebungen von Siegerstaaten, die Bevölkerung ihres (zum Teil neu gewonnenen) Territoriums zu homogenisieren.44 Aber auch die Prozesse von Kolonisation und Dekolonisation brachten umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Im Kontext der Dekolonisation bildete der rasche Rückzug Großbritanniens vom indischen Subkontinent 1947 Beginn und Höhepunkt: Die nationalistisch aufgeheizte, von zahllosen Gewalttaten gekennzeichnete Atmosphäre mündete 1947/48 in eine riesige Welle von Flucht und Vertreibung, die 14 bis 16 Millionen45 Menschen betraf. Später führten vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande (in den späten 1940er Jahren), Frankreichs (in den 1950er und frühen 1960er Jahren) sowie Portugals (Anfang der 1970er Jahre) zu millionenfachen Gewalt- und Zwangsmigrationen.46

Tabelle 2: Typologie der Gewalt- und Zwangsmigrationen Form

Merkmale

Deportation

Zielgerichtete räumliche Mobilisierung durch Gewalt, häufig von Zwangsarbeitskräften

Evakuierung

Zwangsmaßnahme in einer als unmittelbare Notlage perzipierten Situation in kurzer Frist, auf Rückführung nach der Beendigung der nicht für dauerhaft erachteten Notlage ausgerichtet. Flucht und Evakuierung lassen sich oft kaum voneinander abgrenzen

Flucht

Ausweichen vor einer lebensbedrohlichen Zwangslage aufgrund von Gewalt

Umsiedlung

Zwangsmaßnahme zur zielgerichteten Verlagerung von Siedlungsschwerpunkten von (Minderheiten-)Gruppen

Vertreibung

Räumliche Mobilisierung durch Gewalt ohne Maßnahmen zur Wiederansiedlung

|| 44 Vielfältiges Wissen stellt hierzu zur Verfügung: Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln 2010. 45 Die Literatur verweist auf zahlreiche unterschiedliche Umfangsangaben. Laut Ian Talbot verursachte die Teilung bzw. Unabhängigkeit Indiens 18 Millionen Flüchtlinge; Ian Talbot, The End of European Colonial Empires and Forced Migration: Some Comparative Case Studies, in: Panikos Panayi/Pippa Virdee (Hg.), Refugees and the End of Empire, Basingstoke 2011, S. 28–50, hier S. 29; Joya Chatterji berichtet von allein knapp 15 Millionen Grenzübertritten zwischen Westpakistan und Indien von August bis einschließlich Dezember 1947; Joya Chatterji, The Spoils of Partition. Bengal and India 1947–1967, Cambridge 2007, hier S. 105. 46 Hierzu siehe die einzelnen Beiträge in Andrea L. Smith (Hg.), Europe’s Invisible Migrants, Amsterdam 2003.

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3 Migrationsregime Individuelles und kollektives Handeln von (potenziellen) Migrantinnen und Migranten unterlag immer Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen unterschiedlicher institutioneller Akteure. Sie beschränkten oder erweiterten die Handlungsmacht (Agency47) von Individuen oder Kollektiven, mit Hilfe von Bewegungen zwischen geographischen und sozialen Räumen Arbeits-, Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Bildungs- oder Ausbildungschancen zu verbessern beziehungsweise sich neue Chancen zu erschließen. Die Versuche der Einflussnahme reagierten auch auf beobachtete Handlungsweisen von Migrantinnen und Migranten, auf konkurrierende Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen anderer institutioneller Akteure sowie auf durch Migrationsprozesse induzierten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel. Migrationsbewegungen wurden mithin durch ein Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure mitgeprägt, das als Migrationsregime gefasst werden kann.48 Migrationsregime sind

|| 47 Mustafa Emirbayer/Ann Mische, What is Agency?, in: American Journal of Sociology, 103. 1998, S. 963–1023. 48 Der Begriff des Regimes verweist auf sehr unterschiedliche Verwendungszusammenhänge. Allgemein, auch in wissenschaftlichen Kontexten, wird von Regimen im Sinne von autoritären politischen Systemen gesprochen, ohne dass sich allerdings eine systematische, an einer klaren wissenschaftlichen Definition orientierte Begriffsverwendung nachweisen ließe. Eine reflektierte Verwendung des Begriffes Regime und die Fundierung in einem wissenschaftlichen Konzept lässt sich für die Forschung zu internationalen Beziehungen seit den 1970er Jahren ausmachen. Sie verweist auf Prinzipien, Normen, Regeln und Prozeduren, die für spezifische Politikfelder auf Dauer die Kooperation zwischen den beteiligten Staaten regeln (Stephen Krasner, Structural Causes and Regime Consequences: Regimes as Intervening Variables, in: International Organization, 36. 1982, S. 185–205; A. Hasenklever/P. Mayer/Volker Rittberger, Theories of International Regimes, Cambridge 1997). In die Migrationsforschung sind Regimebegriffe über die politikwissenschaftlichen Untersuchungen zu Governance bzw. zum Management von Migration eingegangen (unter vielen Beiträgen siehe z.B. Bimal Gosh, Managing Migration. Time for a New International Regime?, Oxford 2000; Kristof Tamas/Joakim Palme (Hg.), Globalising Migration Regimes. New Challenges to Transnational Cooperation, Aldershot 2004). Eine kritische Position gegenüber den hier häufig gepflegten Vorstellungen von den Erfordernissen einer weitreichenden Kontrolle und Steuerung grenzüberschreitender Migrationen hat den Begriff aufgenommen und hervorgehoben, dass die gängigen Überlegungen zum ›Management‹ von Migration Migrantinnen und Migranten ausschließlich als bloße Objekte des Kategorisierens, Verwaltens und Steuerns sehen (unter vielen Beiträgen Russell King/Ronald Skeldon, ›Mind the Gap!‹ Integrating Approaches to Internal and International Migration, in: New Community, 36. 2010, S. 1619–1647, hier S. 1621f.; Martin Geiger (Hg.), Disciplining the Transnational Mobility of People, Basingstoke 2013). Demgegenüber betont die Grenzregimeforschung in sozialkonstruktivistischer Perspektive die Agency von Migrantinnen und Migranten gegenüber staatlichen Institutionen, hat die Forschung im Anschluss an Perspektiven der Border Studies auch methodisch deutlich vorangebracht, neigt aber vor dem Hintergrund einer stets her-

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integrierte Gestaltungs- und Handlungsfelder institutioneller Akteure, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussierten, Migrationsbewegungen kanalisierten und die (potenziellen) Migrantinnen und Migranten kategorisierten. Jedes Migrationsregime hatte eigene institutionelle Akteure und spezifische migratorische Objekte, problematisierte, plante und handelte anders als andere Migrationsregime, umfasste mithin spezifische Regeln und Verfahren, Bedingungen und Formen des Sammelns von Informationen über einen migratorischen Sachverhalt, bewertete diese Informationen anders und vermittelte die Ergebnisse je verschieden in und zwischen institutionellen Akteuren, gegenüber den (potenziellen) Migranten und der Öffentlichkeit.49 Institutionelle Akteure konnten staatliche (legislative, exekutive, judikative), suprastaatliche sowie internationale Instanzen sein oder kommunale Apparate, aber auch private Träger (Unternehmen, Vereine, Verbände). Ihre Interessen, Beobachtungsweisen, Normen und Praktiken brachten sehr unterschiedliche Kategorisierungen von Migrantinnen und Migranten hervor, die gesellschaftliche, ökonomische, politische oder kulturelle Teilhabe am Zielort beeinflussten. Hilfsorganisationen und Interessenverbände wiederum leisteten folgenreiche Beiträge zu der Frage, welche Menschen beziehungsweise welche Kollektive in Bewegung mit welchen Erwartungen verbunden, in welche Erfahrungshorizonte gefügt und mit welchen Fremdbildern und Stereotypen bedacht wurden. Auch die modernen Massenmedien gehörten in diesen Kontext, bestimmten sie doch die Sichtbarkeit von Migrationsprozessen in erheblichem Maße mit und nahmen durch Wirklichkeitskonstruktionen Einfluss auf deren Wahrnehmung und Deutung. Migrationsregime wandelten sich permanent – schleichend vor dem Hintergrund lang währender Veränderungen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, umweltbedingter oder mentaler Strukturen oder sprunghaft in Reaktion auf Ereignisse oder als Wechsel von Paradigmen. Sie konnten Räume unterschiedlichen Umfangs umschließen, nur innerhalb politisch-territorialer Grenzen wirken, diese

|| vorgehobenen aktivistischen Positionierung zu einer grundsätzlichen Perhorreszierung staatlicher Akteure (siehe unter zahlreichen Beiträgen etwa: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007). 49 Hierzu und zum Folgenden Jochen Oltmer, Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Ute Frevert/Jochen Oltmer (Hg.), Europäische Migrationsregime (Themenheft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009, H. 1), S. 5–27; ders., Einführung: Migrationsverhältnisse und Migrationsregime nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Oltmer/ Kreienbrink/Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System, S. 9–21; ders., Einführung: Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹ im nationalsozialistischen Deutschland, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, Paderborn 2012, S. 9–25; ders., Das europäische Arbeitsmigrationsregime seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Christian Kleinschmidt/Jan-Otmar Hesse/Alfred Reckendrees/Ray Stockes (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Baden-Baden 2014, S. 127–157.

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aber auch überschreiten. Migrationsregime unterschieden sich in den Möglichkeiten, Maßnahmen durchzusetzen, weil sie unterschiedlich ausgestattet und machtvoll waren, ihr Wissen verschieden erwarben und vermittelten sowie je spezifisch nutzten, um Migration zu modellieren und zu prognostizieren. Jedes Regime und jeder Regimetyp also kannte, kategorisierte und bearbeitete ›seine‹ Migrationen jeweils unterschiedlich. Regimezuschnitte und Handlungen institutioneller Akteure mussten dabei keineswegs untereinander harmonisieren; denn Regime und verschiedene Regimetypen ragten ineinander, überlappten sich, wandelten sich zueinander, unterhielten konflikthafte oder kooperative Austauschbeziehungen. Migrationsregime verfügten immer über zwei elementare und miteinander verflochtene Felder: Erstens ›Mobilitätsregime‹, die auf die Einflussnahme auf den Zugang zu beziehungsweise der Abwanderung aus einem Raum oder von einem Territorium verweisen, sowie zweitens ›Präsenzregime‹, die die Normen und Praktiken der Einbeziehung beziehungsweise des Ausschlusses von Zuwanderern in gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie beispielsweise Politik, Recht, Wirtschaft oder Erziehung umfassten. Präsenzregime rahmten mithin Integration, die als das permanente Aushandeln von Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe verstanden werden kann. Die Analyse von Migrationsregimen leistet einen Beitrag zur Autopsie von Bedingungen, Formen und Folgen von Migration, indem sie Antworten gibt auf die grundlegende Frage, welche institutionellen Akteure aus welchen Gründen, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Migration beobachteten und beeinflussten. Sie zielt darauf, der Vielzahl der beteiligten Akteure klare Konturen zu geben und ein möglichst differenziertes Bild einerseits der beteiligten Akteure und Akteursgruppen zu bieten sowie andererseits die je spezifischen Akteurskonstellationen herauszuarbeiten. Als zentral erweist sich dabei die Untersuchung von Relationen und damit von Machthierarchien: Migrationsregime bildeten Arenen von Konflikt und Kooperation institutioneller Akteure, deren Handlungsinteresse und Handlungsmacht stets im Wandel begriffen waren. Zu berücksichtigen gilt dabei, dass institutionelle Akteure, die häufig pauschalisiert werden (›der Staat‹, ›die Administration‹, ›die Unternehmer‹, ›die Kommune‹, ›die Presse‹), in sich wiederum als sehr heterogen zu beschreiben sind und über zahlreiche Einzel- und Kollektivakteure verfügten, deren Interessen, Normen, Handlungen und Handlungsmacht aufeinandertrafen, zusammenwirkten und ausgehandelt wurden. Ein solches offenes Konzept bietet nicht nur weitreichende Perspektiven für die Makroebene und damit beispielsweise für die Untersuchung lang währender und Kontinente übergreifender Migrationsregime sowie die Verflechtung verschiedener regionaler, grenzüberschreitender und globaler Zuständigkeitsräume (etwa im Kontext der Einflussnahme auf Wanderungsbewegungen in den Imperien der Neuzeit wie beispielsweise den spanischen, portugiesischen, britischen und niederländischen Kolonialreichen oder dem Osmanischen und dem Russischen Reich). Es lässt

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sich gleichermaßen auf die Mikroebene anwenden, die beispielsweise einen Blick auf einen Aspekt des Alltags des Regimebetriebs umfassen kann (etwa im Kontext des Versuchs, die Routinen der Selektion von Migranten im Rahmen der Tätigkeit einer Grenzpolizeibehörde als Teil eines Mobilitätsregimes zu entschlüsseln) oder auf die Fundamente eines Regimes als Wissensapparat (dort wo beispielsweise nach medizinischen Kriterien für die Anwerbungen von Arbeitskräften gesucht wurde oder Statistiken zusammengestellt worden sind, um die Zusammensetzung von Migrantenbevölkerungen zu erschließen). Solche Blicke auf den Alltag des institutionellen Umgangs mit Migration und Mikroperspektiven auf Wissens- und Machtapparate helfen Potenziale und Perspektiven institutioneller Einflussnahme auf Migration einzuordnen und die Reichweite von Sinn- und Steuerungskonzepten in neuzeitlichen Gesellschaften zu erfassen. Sie ermöglichen es, die je spezifischen, von Akteur zu Akteur unterschiedlichen, stets im Wandel befindlichen Paradigmen, Konzepte und Kategorien zu verstehen, die genutzt worden sind, um Migration vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen zu benennen, zu beschreiben und daraus Wirklichkeitskonstruktion und Handlungen zu formen. Ein zentraler Untersuchungsbereich ergibt sich darüber hinaus mit dem Blick auf Bedingungen, Formen und Folgen des Regimewechsels.

4 Migration als Ergebnis von Aushandlungsprozessen Für Migrationsregime waren Migrantinnen und Migranten Objekte von Aufgaben sowie Anlässe für Problematisierungen und Maßnahmen, bildeten aber auch Konkurrenten in Konflikten oder Umworbene: (Potenzielle) Migranten reagierten auf restriktive Interventionen (zum Beispiel Ab- oder Zuwanderungsverbote), auf Zwangsmaßnahmen (zum Beispiel Ausweisung, Vertreibung) oder auf attrahierende Angebote (zum Beispiel Anwerbung durch Unternehmen, Zuwanderungspolitik zur Gewerbeförderung, Gewinnung von Hochqualifizierten). Migrantinnen und Migranten forderten mithin das Migrationsregime individuell oder kollektiv heraus. Sie entwickelten Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen strukturierten Feld eigene räumliche Bewegungen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, Aspirationen geltend zu machen, Gründe vorzubringen sowie Lebensläufe zu präsentieren und anzupassen. Migrantinnen und Migranten agierten als Individuen beziehungsweise in Netzwerken oder Kollektiven (unter anderem Familien) mit unterschiedlichen Autonomiegraden vor dem Hintergrund verschiedener Erfahrungshorizonte im Gefüge von gesellschaftlichen Erwartungen und Präferenzen, Selbst- und Fremdbildern, Normen, Regeln und Gesetzen. Sie verfolgten dabei ihre eigenen Interessen und Ziele,

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verfügten über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume gegenüber dem Migrationsregime. Migrantische Infrastrukturen und Interessenmanager entwickelten unter anderem Selbstbilder, die Vergemeinschaftungsprozesse von Migrantinnen und Migranten identitätspolitisch steuerten. Beobachten lassen sich unterschiedliche Reichweiten und Wirkungsgrade im Wechselverhältnis von einerseits Normen, Strategien und Maßnahmen institutioneller Akteure des Migrationsregimes und andererseits Taktiken, Aktivitäten und Handlungen (potenzieller) Migranten. Auf diese Weise prägten, formten, produzierten institutionelle und individuelle Akteure in Konflikt und Kooperation Migration. Mit einer solchen Perspektive kann auch der Versuch unternommen werden, der Tendenz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens entgegenzuwirken, isolierte Einzelperspektiven zu entwickeln, die keinen erheblichen Wert darauf legen, Relationen, Hierarchien und Wechselverhältnisse offenzulegen, also das Handeln Einzelner oder das Gewicht von Mikrostrukturen in Meso- und Makrokontexte und -strukturen zu fügen.50 Die Fokussierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens als integriertes Handlungsfeld von Akteuren mit ihren je spezifischen Freiheitsgraden und Relationen reduziert auf eine bestimmte Weise Komplexität, bietet damit einen komplexitätserschließenden Ansatz und hat von daher auch eine erkenntnistheoretische Funktion: Migrationsregime und Aushandlungsprozesse bezeichnen Forschungsobjekte, sie bilden Ergebnisse der Beobachtung und Beschreibung historisch arbeitender Migrationsforscherinnen und Migrationsforscher. Diese wissen, dass die beteiligten Akteure im Kontext der Herstellung und Aushandlung von Migration aufgrund von »routinierten alltäglichen Handlungsvollzügen das allermeiste der sie umgebenden Umwelt als fraglos gegeben« annahmen51, also auf der Basis von Handlungsdispositionen und aufgrund von internalisierten Erfahrungen formierten standardisiert-spontanen Situationsdeutungen agierten.52 Die Grenzen des Migrationsregimes und der Arena der Aushandlung mit, gegen oder über Migrantinnen und Migranten definiert die Historikerin beziehungsweise der Historiker vor dem Hintergrund einer problemorientierten Fragestellung. Diese legt offen, auf welche Weise, mit welchem Ziel und mit welchen Instrumenten Komplexität reduziert wird, Vorgänge erklärt und auf diese Weise Muster, Modelle und Ansätze entwickelt werden. Die problemorientierte Fokussierung auf die Erschließung von || 50 Dirk Hoerder, Segmented Macro Systems and Networking Individuals: The Balancing Functions of Migration Processes, in: Lucassen/Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History, S. 73– 84. 51 Ludger Pries, Soziologie, Weinheim 2014, S. 109. 52 Clemens Kroneberg, Die Erklärung sozialen Handelns. Grundlagen und Anwendung einer integrativen Theorie, Wiesbaden 2011, S. 119–164.

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Interessen, Zielen und Handlungen als Ko-Produktion von Migration konstituiert den Forschungsgegenstand. Das vergangene Migrationsregime und die vielfältigen Aushandlungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen sind allerdings eben nicht bloße Konstruktionen der historisch arbeitenden Migrationsforschung. Sie bilden vielmehr eine fokussierende Rekonstruktion historischer Strukturen; denn nur diese Strukturen haben Überreste und Spuren hinterlassen. Informationen über das Handeln von Einzelnen, von Kollektiven und von Institutionen, deren Motive und Praktiken, sind in unterschiedlicher Form (siehe oben) dokumentiert worden, weil sie den jeweiligen Zeitgenossen als berichtenswert galten und deshalb Gegenstand von zeitgenössischer Wissensproduktion wurden, auf die die Historische Migrationsforschung heute zurückgreifen kann (und muss). Die Überlieferungssituation des Materials ist dabei höchst selektiv, nicht nur weil die Lagerung immer mit Risiken behaftet war, sondern vor allem auch deshalb, weil in der Regel nur das Material aufbewahrt wurde, das insbesondere vor dem Hintergrund der Reproduktion von Herrschafts- und Machtstrukturen erhaltenswert schien. Daraus ergab sich eine dreifache Reduktion von Komplexität: 1. Zeitgenössische Wissensproduzenten waren weder motiviert noch in der Lage, ihre Gegenwart vollständig abzubilden. 2. Die Produzenten entstammten in der Regel höheren gesellschaftlichen Segmenten und nahmen vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen oder beruflichen Position (nicht selten als ›Macht-haber‹) eine spezifische und damit eingeschränkte Sicht ein. 3. Überliefert wurde vornehmlich das Material, das rechtlich oder geschäftlich relevant war und aus der Sicht von Obrigkeiten oder staatlichen Institutionen als überlieferungswürdig galt. Eine erkenntniskritische historiographische Position hat auf die Bedingungen, Formen und Folgen dieser Reduktion von Komplexität zu reagieren.53 Erforderlich sind dafür einerseits die Rekonstruktion der Erzeugungs- und Überlieferungsbedingungen der verwendeten Quellen und andererseits die möglichst weitreichende Heranziehung unterschiedlichen historischen Materials verschiedenster Herkunft und Reichweite. Dieser Kontext verweist noch einmal auf die Perspektive, mit Hilfe von akteurszentrierten und handlungsorientierten Ansätzen zu arbeiten, die die Positionierungen und Handlungen der einzelnen Akteure auch deshalb zu erschließen sucht, um die Formen der je spezifischen Wissensproduktion zu verstehen, die fundamentale Folgen für Erzeugung und Überlieferung des Materials hatte, auf das die Untersuchung der Aushandlung von Migration in der Vergangenheit aufruhen kann.

|| 53 Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004.

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5 Wechselverhältnis von Staat und Migration im Wandel Das Wechselverhältnis im Handeln staatlicher Akteure (›Staat‹) und (potenzieller) Migrantinnen und Migranten vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts unterlag markanten und grundlegenden Prozessen, an denen sich die Ordnung des Handbuchs orientiert. Die Gliederung mit ihren insgesamt sieben Teilen verweist auf grundlegende und folgenreiche Veränderungen der politischen Systeme in ›Deutschland‹, die die Motive, das Interesse, die Handlungsoptionen und Handlungskapazitäten staatlicher Akteure im Hinblick auf die Richtung und das Ausmaß der Einflussnahme auf das Wanderungsgeschehen formierten. Mithin werden sieben Migrationsregime unterschieden: 1. Territoriale Landeshoheit und verdichtete Verwaltungsstaaten: innere Staatsbildung und Migration von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: Der Westfälische Friede von 1648 bildete im deutschsprachigen Mitteleuropa einen wesentlichen Schritt im Prozess der Staatsbildung. In den frühneuzeitlichen Flächenstaaten mit ausgebauter territorialer Landeshoheit deutete sich in der Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Ständen zunehmend eine Entscheidung zugunsten der Landesherren an – wobei sich in den verschiedenen Territorien des Alten Reiches ein weiter Variationsspielraum unterschiedlicher Muster ständischer Mitregierung und Mitherrschaft ergab. Die Einhegung formaler ständischer Partizipation ging einher mit dem Auf- und Ausbau der Territorialverwaltung in den fast autonomen Flächenstaaten, die in den Verband des Alten Reiches eingebunden waren. Staatliche Gewalt blieb dabei eng mit konfessionspolitischer Autorität verbunden. Konfessionelle Orientierung (des Fürsten und damit seiner Untertanen) bildete in der Regel noch mindestens ein Jahrhundert nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ein wesentliches Moment des Handelns staatlicher Akteure. Die fürstlichen Regierungen strebten in der Regel zur Festigung und zur Legitimation ihrer Herrschaft nach einer konfessionspolitischen Schließung ihrer Territorien und nach der Abwehr anderskonfessioneller Einflüsse und Bevölkerungen. Konfessionspolitik wurde damit ein zentrales migrationspolitisches Orientierungsmuster, konfessionelle Orientierung formte einen Großteil der Bewegungsrichtungen grenzüberschreitender Migrationen in den Jahrzehnten nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Berücksichtigt werden muss der Bedeutungsverlust konfessionell orientierten Argumentierens und Handelns im Verlauf des 18. Jahrhunderts, bei allen Unterschieden in den verschieden verfassten Territorien des Alten Reiches.54

|| 54 Hierzu siehe den Beitrag von Alexander Schunka, Konfession, Staat und Migration in der Frühen Neuzeit, in diesem Band.

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Konsolidierung territorialer Herrschaft verweist auf das Streben nach der Abgrenzung und Demarkation des eigenen Herrschaftsgebietes, auf die autonome Kontrolle über die Grenze und damit auch auf die Überwachung des Grenzverkehrs und die Etablierung des Passwesens. Konsolidierung der territorialen Herrschaft verweist aber auch auf den Ausbau einer relativ effizient agierenden staatlichen Verwaltung, die sich in der Lage zeigte, Steuern zu erheben, Soldaten auszuheben, die konfessionelle und politische Orientierung der Bevölkerung zu beeinflussen.55 Ihr oblag auch die Einflussnahme auf die natürliche (Heiratsbeschränkungen) und räumliche (Freizügigkeitsbeschränkungen) Bevölkerungsbewegung. Dabei begrenzte unter anderem der weiterhin schwelende, zum Teil auch offen zutage tretende Konflikt zwischen fürstlichen Obrigkeiten und ständischen Gewalten die Möglichkeiten der Etablierung einheitlicher Verwaltungen und die Durchsetzung einheitlicher administrativer Vorgaben. Das galt auch deshalb, weil ein Großteil der Bevölkerung primär an Grund- und Gutsherren gebunden war, was auch die Freizügigkeit des Einzelnen begrenzen konnte. Die ›Untertänigkeit‹ gegenüber dem Landesherrn blieb in ihrer Reichweite für die Gestaltung der alltäglichen Lebenspraxis demgegenüber von zunächst geringerer Bedeutung, nahm aber vor allem im Verlauf des 18. Jahrhunderts mit der zunehmenden Etablierung landesherrlicher Verwaltung zumindest in den größeren Flächenstaaten immer weiter zu. Mit dem Prozess der Konstituierung von Staatsbevölkerungen verbanden sich die langfristige Entwicklung von Freizügigkeitsrechten und die ebenfalls langfristige – mit der Beseitigung intermediärer Gewalten verbundene – Entwicklung von Staatsangehörigkeiten und daraus erwachsenen Rechten und Pflichten.56 Als ein zentrales Mittel zur Steigerung fürstlicher Macht galt den Obrigkeiten die Erhöhung der Staatseinnahmen. Damit verbanden sich eine Reihe von Interventionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Bevölkerungsentwicklung. Mit dem Streben nach Durchsetzung politisch-territorialer Autonomie ging mithin das Ziel wirtschaftlicher Autonomie einher. Nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges zählte die Förderung des Bevölkerungswachstums zu den zentralen Zielen von lokal und überlokal agierenden Obrigkeiten. In diesen Kontext konnten Anordnungen zur Verhinderung oder Verminderung von Ab- und Auswanderungen ebenso gehören wie eine aktive Besiedlungspolitik, die insbesondere auf die Förderung von Zuwanderung zielte. Sie operierte mit Anwerbungen und Privilegierungen als zentralen Instrumenten. Grenzen setzten solchen Handlungen aber unter anderem außenpolitische Bindungen, die vor dem Hintergrund allfälliger Wanderungsbeschränkungen Anwerbungen in fremden Territorien nicht opportun erscheinen ließen. Darüber

|| 55 Hierzu siehe den Beitrag von Matthias Asche, Bellizität, Staat und Migration im Alten Reich, in diesem Band. 56 Hierzu siehe den Beitrag von Karl Härter, Grenzen, Streifen, Pässe und Gesetze. Die Steuerung von Migration im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reiches (1648–1806), in diesem Band.

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hinaus konnte die Privilegierung von Zuwanderern Widerstände Einheimischer hervorrufen, womit sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Konflikten um die Durchsetzung fürstlicher Autorität gegen ständische Autonomie innenpolitisch brisante Fragen verbinden konnten.57 2. Obrigkeitliche Reformvorhaben und repressive Verfassungsstaaten: innere Marktbildung und Migration vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Aufklärung und die Atlantischen Revolutionen bedeuteten für die Legitimation von fürstlicher Macht und monarchischem Prinzip in den deutschen Territorien am Ende des Alten Reiches eine fundamentale Herausforderung. Das bald als ›liberal‹ bezeichnete Modell einer ständelosen, auf ›Volkssouveränität‹ und ›Gewaltenteilung‹ ruhenden Herrschaft drängte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Diskussion um legitime Formen staatlicher Herrschaft in den Vordergrund. Diese Diskussion stand in einem Wechselverhältnis zu den als Reaktion auf die neuen politischen Herausforderungen eingeleiteten Reformen in Verwaltung, Rechtssetzung und Rechtsprechung, in Agrar- und Gewerbepolitik. Wechselbeziehungen ergaben sich zugleich zu dem dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der in der Spätphase des 18. Jahrhunderts einsetzte: Agrarmodernisierung, zunehmende Mechanisierung sowie Marktexpansion mit weitreichenden Folgen für Handel und Gewerbe, aber auch die Entwicklung eines neuen, wirtschaftlich starken Bürgertums, das nach der Überwindung geburtsständischer Aufstiegsblockaden strebte, um die Realisierung einer Marktwirtschaft und Marktgesellschaft kämpfte und nach einer gesellschaftlichen Positionierung strebte, die seiner (zunehmenden) wirtschaftlichen Kraft entsprach. Staatliches Handeln sollte einen rechtlich-institutionellen Rahmen schaffen, der wirtschaftliche Autonomie auf freien Märkten ermöglichte und die Voraussetzungen für die Entwicklung einer bürgerlichen Eigentümergesellschaft schuf: Ablösung feudaler Bodenrechte und Durchsetzung freier und privater Eigentumsrechte an landwirtschaftlichem Grundbesitz, Etablierung eines landwirtschaftlichen Arbeitsmarktes durch die ›Bauernbefreiungen‹, Einführung von ›Gewerbefreiheit‹ durch die Aufhebung ständisch-korporativer Schranken und Realisierung von größeren, nicht durch Zölle und andere Handelsbarrieren behinderten Wirtschaftsräumen. Erleichtert wurde die Durchsetzung dieses rechtlich-institutionellen Rahmens durch die Mediatisierung einer großen Zahl kleiner und kleinster Territorien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie veränderte die politisch-territoriale Landschaft in Mitteleuropa von Grund auf und beschränkte die Zahl der selbstständigen Herrschaftsgebilde von mehreren Hundert auf rund 30 territorial geschlossene Staaten. Diese Arrondierungen ermöglichten weitere Herrschaftsverdichtungen.

|| 57 Hierzu siehe den Beitrag von Ulrich Niggemann, ›Peuplierung‹ als merkantilistisches Instrument: Privilegierung von Einwanderern und staatlich gelenkte Ansiedlungen, in diesem Band.

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Mit der langsamen Ablösung ständischer Bindungen ging der Wandel vom ›Untertanen‹ zum ›Staatsbürger‹ einher. Staatsangehörigkeit vermittelte grundlegende Rechte und Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Staat. Damit wurde auch die Frage der Verleihung beziehungsweise der Entziehung von Staatsangehörigkeit zu einem rechtlichen Problem, das in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Einführung von Staatsangehörigkeitsgesetzen und den Abschluss von Staatsangehörigkeitsverträgen zwischen den verschiedenen Staaten geregelt wurde. Die Kodifizierung von Staatsangehörigkeitsregelungen bedingte die Entwicklung von staatlichen Vorstellungen über die Ein- und die Ausbürgerung. Daraus ergaben sich vor allem für die Aufnahme von Zuwanderern tiefgreifende rechtliche und soziale Folgen. Sie ergaben sich aber auch aus den im Rahmen der Staatsangehörigkeitsregelungen entwickelten Verfahren zur Entlassung aus dem Verband der Staatsangehörigen im Falle einer Auswanderung. Die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien forderte die Lösung von feudalen Bindungen der Arbeitskräfte und die Entwicklung eines freien Arbeitsmarktes, auf dem der Ausgleich von Angebot und Nachfrage wesentlich auch über die freie Bewegung der Arbeitskräfte im Raum geleistet werden sollte. Die Ablösung persönlicher Bindungen, die zumindest in einigen Regionen auch eine Bindung an einen Ort bedeutet hatten, setzte neue Migrationspotenziale frei. Zugleich trug das Reformwerk aber auch an zentraler Stelle dazu bei, dass Migrationsmuster sich änderten: Mit der Gewerbereform begann die Endphase der vielfach obligatorischen Gesellenwanderungen. Der wirtschaftsliberalen Lehre nach mussten zwar Wanderungsbarrieren die Entwicklung von Märkten behindern, dennoch folgte daraus nicht die Entwicklung eines alle Wanderungsbewegungen übergreifenden migratorischen Laisser-faire58; denn der Forderung nach umfassender ›Freizügigkeit‹ auf dem Arbeitsmarkt entgegen standen die zunehmenden Bindungen des Einzelnen an die Staatsangehörigkeit als rechtliche Institution, die über die Vergabe von Rechten und Pflichten neue Bindungen schuf oder deren Bedeutungsinhalt verformte: Das galt beispielsweise für die Umsetzung des liberalen Modells der Bürgerarmee mit dem zentralen Element der Wehrpflicht aller (männlichen) Staatsangehörigen. Auch wenn im 19. Jahrhundert in den deutschen Staaten das liberale Modell bei Weitem nicht umgesetzt wurde, bedeutete der Ausbau der Wehrpflicht ein wesentliches Element der Verfestigung von staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen – nicht zuletzt, um die Kontrolle über die kriegsdienstfähige männliche Bevölkerung trotz der Ablösung ständischer Bindungen weiterhin gewährleisten zu können. In den Kontext der Überwachung der Kriegsdienstpflichtigen gehört auch die in allen deutschen Staaten verbreitete Praxis der Erteilung von Auswanderungskonsensen. || 58 Hierzu siehe den Beitrag von Andreas Fahrmeir, Staatliche Abgrenzungen durch Passwesen und Visumzwang, in diesem Band.

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Migratorisches Laisser-faire gab es in diesem Zusammenhang erst dort, wo die staatliche Einwilligung zur Auswanderung vorlag und es um die Frage der Reisebedingungen ging: Seit den 1840er Jahren immer lauter werdende Forderungen nach einem Schutz von Auswanderern auf ihrem Weg nach Übersee wurden nicht oder nur sehr peripher in administrative Maßnahmen umgesetzt; deshalb kam es im 19. Jahrhundert auch nur in sehr beschränktem Maße zur Entwicklung von staatlichen Institutionen zur Verwaltung des Phänomens ›Auswanderung‹. Auch das einheitliche deutsche ›Auswanderungsgesetz‹ wurde erst 1897 in Kraft gesetzt, als die deutsche Massenauswanderung schon der Vergangenheit angehörte.59 Den Forderungen nach umfassender ›Freizügigkeit‹ auf dem Arbeitsmarkt standen aber auch Antworten auf die Frage nach dem staatlichen Umgang mit dem Phänomen der Massenarmut entgegen: Für die Legitimität staatlicher Herrschaft und die Aufrechterhaltung der Loyalität der Staatsangehörigen bildete die Abwehr von Armen anderer Staatsangehörigkeit ein wesentliches Ziel. Es hatte eine zentrale Bedeutung für die staatliche Perzeption von Migration und formte den staatlichen Umgang mit grenzüberschreitenden Wanderungen mit. Hinzu kam in diesem Zusammenhang die Beschränkung der ›Freizügigkeit‹, die sich aus der Existenz der Ortsarmenverbände ergab und Arme auf den Unterstützungswohnsitz verwies. Abwanderung (in diesem Kontext als Verlassen des Ortsarmenverbandes) war damit ebenso wie Zuwanderung (der Aufenthalt in den Grenzen eines Ortsarmenverbandes, der keine Unterstützung zu leisten hatte) auch ein weitreichendes Problem fürsorgerechtlicher Bestimmungen im Rahmen der ›Sozialen Frage‹, die weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert hatte.60 3. Autoritärer Nationalstaat und imperiales Machtstreben: innere Nationsbildung und Migration im Kaiserreich: Das deutsche Kaiserreich von 1871 ist als asymmetrischer Kompromiss zwischen den konstitutionellen Vorstellungen der bürgerlichliberalen Nationalbewegung und denen der monarchisch-autoritären politischen Eliten verstanden worden. Das politische System war durch das Nebeneinander von (starken) autoritären und (schwächeren) demokratischen Elementen sowie von (starken) föderalen und (schwächeren) unitarischen Elementen gekennzeichnet. Partikulare Herrschaftsgewalt verlor dabei im Laufe der Jahrzehnte an Gewicht: Das galt nicht nur, weil die Kompetenzen und Handlungsspielräume von Reichsbehörden und Reichsverwaltung wuchsen und das Rechtssystem sowie der Justizapparat reichseinheitlich geordnet wurden, sondern auch, weil sich das Amt des Kaisers von der Bundespräsidialgewalt zum Reichsmonarchen verschob und auch

|| 59 Hierzu siehe den Beitrag von Uwe Plaß, Überseeische Massenmigration zwischen politischem Desinteresse und Staatsintervention, in diesem Band. 60 Hierzu siehe den Beitrag von Bettina Hitzer, Freizügigkeit als Reformergebnis und die Entwicklung von Arbeitsmärkten, in diesem Band.

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innerhalb des Parteisystems ›reichische‹ Orientierungen und Organisationsformen an Bedeutung gewannen. Mit diesen politisch-staatlichen gingen nationale Integrationsprozesse einher. Zur Absicherung der Legitimität staatlicher Herrschaft entwickelte sich die innere Nationsbildung zu einem zentralen Projekt der politischen Elite des Reiches. Das galt vor allem angesichts der Ablehnung der kleindeutschen Staatsgründung unter preußischer Hegemonie durch jene weiten Teile der Bevölkerung, die sich als politische, konfessionelle oder nationale Minderheiten verstanden. Die zentrale Integrationsfunktion übernahm der Nationalismus als Mobilisierungsideologie, der umso mehr Wirkung entfalten konnte, je stärker sich ein politischer Massenmarkt etablierte. Der im deutschen Kaiserreich seit den 1870er Jahren verbandlich ›organisierte Nationalismus‹ fügte dem ein neues, politisch und ideologisch schlagkräftiges Element hinzu, das die Massenwirksamkeit nationaler und nationalistischer Vorstellungen durch neue propagandistisch-manipulative Methoden noch wesentlich erhöhte. Mit der Integration nach innen war eine Abgrenzung nach außen verbunden. Für die Perzeption von Migration hatte das im Deutschen Reich vor allem für die Polen als größter nationaler Minderheit weitreichende Folgen. Zwar unterlagen sie nicht rechtlichen Migrationsbarrieren in Gestalt einer Einschränkung ihrer Freizügigkeit im Innern, doch führte ihre Perzeption als ›Reichsfeinde‹ auch bei den starken Ost-West-Binnenwanderungen von Polen (›Ruhrpolen‹) zur Aufrichtung von informellen Integrationsbarrieren, die ein Ergebnis des nationalstaatlichen Homogenisierungsprojekts waren. Folgenreicher noch war die Perzeption der polnischen Minderheit im Reich als ›Reichsfeinde‹ für die ganz überwiegende Zuwanderung von Auslandspolen ins Reich, die seit den 1880er Jahren an Dynamik gewann: Ausschluss durch Massenausweisung und Entwicklung einer systematischen Integrationsblockade sollten die vermeintlich gefährliche Stärkung der polnischen Minderheit im Reich durch Zuwanderung von außen verhindern. Ähnliche Muster lassen sich auch für den staatlichen Umgang mit jüdischen Zuwanderern, besonders über die preußischen Ostgrenzen, ermitteln. Wie der polnischen Minderheit wurde den deutschen Juden mangelhafte Anpassungsbereitschaft beziehungsweise sogar Integrationsunfähigkeit unterstellt, weshalb eine weitere Zuwanderung von außen als Gefahr für die Umsetzung des nationalen Homogenisierungsprojekts angesehen wurde.61 Ein wesentliches Element nationalistischer Vorstellungen in der Auseinandersetzung um die Rolle Deutschlands als ›weltpolitischem‹ Akteur wurde in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die zunehmende Prägung durch ›großdeutsche‹, dann ›alldeutsche‹ Orientierungsmuster. Die ›deutsche Nation‹ wurde immer häufiger ethnisch, das heißt ›volksdeutsch‹ verstanden. Nationalis|| 61 Hierzu siehe den Beitrag von Christiane Reinecke, Staatliche Macht im Aufbau: Infrastrukturen der Kontrolle und die Ordnung der Migrationsverhältnisse im Kaiserreich, in diesem Band.

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mus wurde zu kulturalistischem Ethno-Nationalismus, der mit der ideologischen Integration aller ›Deutschstämmigen‹ außerhalb des Reichsgebiets weit über die Grenzen des Nationalstaates hinauswirken sollte und damit grundsätzlich expansiv auftrat. Die Zuwanderung von ›Volksdeutschen‹, die keine deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wurde gefördert, weil sie als nationale Konsolidierung in bewusster Frontstellung gegen ›fremdvölkische‹ Einwanderung verstanden wurde. Die Verbindung von ethno-nationaler Konstruktion und der Perzeption von transnationaler Migration zeigte sich im späten deutschen Kaiserreich auch in der Entwicklung des neuen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913, das ›Volksdeutsche‹ gegenüber anderen Nationalitäten privilegierte und zum Beispiel auslandspolnische und jüdische Zuwanderer zu benachteiligen suchte. Vor allem der Erste Weltkrieg, der als ein Ergebnis des übersteigerten imperialen Machtstrebens der europäischen Staaten – und insbesondere Deutschlands – seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann, förderte mit seinem extremen Nationalismus die Fremdenfeindlichkeit, einen ausgesprochen restriktiven Umgang mit Angehörigen anderer Staaten (insbesondere ›feindlichen Ausländern‹) sowie die Ausgrenzung und zum Teil auch die staatlich betriebene oder zumindest geförderte Austreibung von Minderheiten.62 Auf die nationale Integration zur Stabilisierung des politischen Systems zielte der Auf- und Ausbau des Interventions- und Sozialstaates, der auf die Massenpolitisierung und die weit ausgreifende Organisation politischer Interessen reagierte. Vor allem nach dem ›Gründerkrach‹ von 1873 wuchsen die Forderungen organisierter politischer Interessen gegenüber den politischen Eliten, die Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Probleme als staatliche Aufgabe zu verstehen. Der damit ansteigenden Ordnungs- und Interventionsbereitschaft des Staates stand das Anwachsen der Ordnungs- und Interventionskapazitäten gegenüber – der Ausbau und die Professionalisierung der Leistungsverwaltung sowie die Entwicklung von Instrumenten zur Umverteilung wachsender Teile des Sozialprodukts. Am Beginn sozialstaatlichen Handelns standen die Verstaatlichung der Sozialfürsorge und die Entwicklung eines Sozialversicherungswesens. Wohlfahrtsstaatliche Interventionen dienten der Sicherung und Förderung der Loyalität der Staatsbürger durch soziale Ausgleichsfunktionen, verfolgten damit also auch eine Integrationsfunktion. Sie nötigten zugleich aber zu staatlichen Entscheidungen über die Eingrenzung des Kreises der Empfangsberechtigten, die sich in aller Regel an deren Staatsangehörigkeit orientierte. Zuwanderung konnte in diesem Kontext als Gefahr für die Leistungsfähigkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates bei der Integration seiner eigenen Staatsbürger erscheinen.

|| 62 Hierzu siehe den Beitrag von Jens Thiel, Kriegswirtschaftliche Interventionen: Die Etablierung von Zwangsarbeitsregimen im Ersten Weltkrieg, in diesem Band.

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Die Reichseinigung entwertete die bis dahin bestehenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Bestimmungen der Einzelstaaten weithin, ohne sie doch ganz aufzuheben. Viele Wanderungsbewegungen, die bis dahin als grenzüberschreitende Migrationen mit rechtlichen und sozialen Folgen für die Migranten verbunden gewesen waren, galten nun als Binnenwanderungen, die wegen des Wegfalls innerdeutscher Passregelungen und Grenzregime unter die Freizügigkeitsregelungen im neuen, wesentlich erweiterten (Arbeits-)Markt fielen. Die politische Integration führte aber auch mit allgemeinen Rechts- und Verwaltungsvereinheitlichungen zu einer Deregulierung, die mit dazu beitrug, dass Mobilitätsbarrieren aufgehoben wurden.63 4. Demokratischer Wohlfahrtsstaat und revisionistische Mittelmacht: Protektionismus und Migration in der Weimarer Republik: Im Konflikt um die Entwicklung einer neuen Staatsform setzte sich mit dem Untergang der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 eine parlamentarische Republik durch, die die föderale Struktur des Kaiserreichs im Wesentlichen beibehielt, auch wenn die unitarischen Tendenzen stärker als zuvor ausgeprägt waren und zentrale Elemente des Herrschaftsapparates (Bürokratie, Militär, Polizei) weithin monarchistisch orientiert blieben. Als Kompromiss von parlamentarischen, präsidialen und plebiszitären Elementen ausgearbeitet, war das politische System von Beginn an schweren innenund außenpolitischen Belastungen ausgesetzt bei einer insgesamt krisenhaften Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund von Demobilisierung, Inflation und weltwirtschaftlicher Desintegration. Der Erste Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse an seinem Ende hatten einen erneuten Schub der politischen Massenmobilisierung mit sich gebracht, die Etablierung einer parlamentarischen Republik ließ die Möglichkeiten der politischen Partizipation enorm anwachsen. Dennoch blieb die Reichweite dieser zentralen Veränderungen für die Perzeption von Migration durch politische Akteure sehr begrenzt. Politische Partizipationsrechte wurden nicht über die Gruppe der Staatsangehörigen ausgeweitet, der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit keineswegs grundsätzlich erleichtert. Die Parlamentarisierung erhöhte auch nicht die Transparenz der Maßnahmen staatlicher Akteure, die auf die Entwicklung der Migrationsverhältnisse Einfluss zu nehmen versuchten. Und die Demokratisierung ließ keine offene Republik entstehen, die die dauerhafte Niederlassung der in seinen Grenzen lebenden Zuwanderer akzeptierte. Die Grundmuster von Perzeption und Handeln staatlicher Akteure in Bezug auf Migration blieben weiterhin auf Abwehr, Ausgrenzung und Benachteiligung ausgerichtet, das galt auch gegenüber migratorischen Folgen des Ersten Welt-

|| 63 Hierzu siehe den Beitrag von Andreas Fahrmeir, Migratorische Deregulierung durch Reichseinigung, in diesem Band.

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kriegs64 und den Flüchtlingen, die in großem Umfang Schutz in der Weimarer Republik suchten.65 Mit der veränderten europäischen außenpolitischen Konstellation seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verbunden war der Bedeutungsgewinn der deutschen Minderheitenpolitik nach außen im Vergleich zum kaiserlichen Deutschland.66 Die Instrumentalisierung ›deutschstämmiger‹ Minderheiten im Ausland diente dem in den politischen Parteien weithin übereinstimmend vertretenen Ziel einer Revision der Bestimmungen des Versailler Vertrages. Sie galt darüber hinaus der Sicherung und Ausdehnung außenwirtschaftlicher Absatzgebiete sowie ethno-kulturellen Bestrebungen durch die Stärkung einer ›deutschen‹ Kultur im Ausland und war insoweit eine Verlängerung wirtschafts-, sozial- und kulturimperialistischer Vorstellungen im Kaiserreich.67 Die grundsätzlich konfliktbereite deutsche Politik gegenüber Polen war in hohem Grade ideologisch aufgeladen und durch einen ethnonational motivierten Konfrontationskurs gekennzeichnet, der insbesondere die Perzeption der jährlich fluktuierenden Arbeitsmigration über die deutsch-polnische Grenze prägte. Kriegsniederlage, die Etablierung eines neuen politischen Systems und die krisenhafte Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt ließen den Druck wachsen, zur Loyalitätssicherung staatliche Interventionen durchzuführen. Die Weimarer Republik war ein entwickelter Wohlfahrtsstaat, der sich in der Reichsverfassung von 1919 auch explizit als solcher zu erkennen gab. Er sah sich in der Verantwortung, zum einen den Ausgleich kollektivierter Interessen im Verteilungskampf um wirtschaftliche und soziale Ressourcen in verschiedenen Verhandlungssystemen zu gewährleisten. Zum andern wollte er die Aufgabe übernehmen, den weiteren Ausbau des Sozialversicherungssystems voranzutreiben. Damit verband sich die zunehmende protektionistische Abgrenzung der Wirtschaft – bis hin zur immer weiter an Bedeutung gewinnenden Zielvorstellung einer durch politische Maßnahmen ermöglichten Autarkie. Der Protektionismus fand im Bereich des Arbeitsmarkts in der Formel vom ›Schutz des nationalen Arbeitsmarktes‹ durch die Bindung der Ausländerzulassung an die Arbeitsmarktlage ihren besonderen Ausdruck. Diese protektionistische Tendenz ging mit dem weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates einher: Grundlegendes Kriterium für die Beschäftigung auf den seit der Zwischenkriegszeit zunehmend stärker national abgegrenzten, staatlich kontrollierten und strukturier|| 64 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer, Abwicklung einer Kriegsfolgelast: Die Repatriierung der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs, in diesem Band. 65 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer, Schutz für Flüchtlinge in der Weimarer Republik, in diesem Band. 66 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer, Zuwanderung von Deutschen aus den abgetretenen Gebieten: Aufnahme und Abwehr von ›Grenzlandvertriebenen‹, in diesem Band. 67 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer, ›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹. Grenzen privilegierter Migration in der Weimarer Republik, in diesem Band.

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ten Arbeitsmärkten war die Privilegierung der eigenen Staatsbürger durch den ›Inländerprimat‹. Wichtige und im Vergleich zur Vorkriegszeit neue Instrumente waren dabei Grenzsperren und Sichtvermerkzwang, Kontingentierungen und binationale Wanderungsabkommen. Solche Abkommen sicherten die Rekrutierung von ausländischen Arbeitswanderern insbesondere für den landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt, erhöhten aber auch den Einfluss des Reiches auf die Größe der rekrutierten Arbeitskräftegruppen und auf ihre Zusammensetzung nach beruflicher Qualifikation.68 5. Interventionistischer Führerstaat und Imperium im Vernichtungskrieg: Rassismus und Migration im nationalsozialistischen Deutschland: Das Handeln staatlicher Akteure zielte in Deutschland 1933–1945 auf die Durchsetzung dreier zentraler Ziele der nationalsozialistischen Führung: die dauerhafte Absicherung der nationalsozialistischen Herrschaft, die Herstellung von Kriegsfähigkeit und die Durchsetzung einer rassistischen Ordnung der ›Volksgemeinschaft‹. Alles andere war relativ dazu. Der Umbau zum autoritären Führerstaat entsprang auch der nationalsozialistischen Vorstellung, nur der autoritäre Staat sei militärisch handlungsfähig. Das Deutsche Reich sollte innerhalb kurzer Zeit in die Kriegsfähigkeit geführt werden, um die als unrechtmäßig aufgefasste Ordnung von Versailles, die die politische Handlungsautonomie Deutschlands nach innen und außen extrem zu begrenzen schien, zu beseitigen und eine massive Expansion des vorgeblich zu kleinen deutschen ›Lebensraums‹ zu ermöglichen. Diese Kriegsfähigkeit konnte nur hergestellt werden durch tiefgreifende staatliche Eingriffe in die innen- und außenpolitische, finanz- und wirtschaftspolitische, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Ordnung. Der nationalsozialistische Maßnahmenstaat war, so betrachtet, ein extrem interventionistischer Staat, dessen Interventionsbereitschaft und Interventionskapazität im Zuge des Zweiten Weltkriegs nach dem Scheitern der ›Blitzkriegstrategie‹ noch wesentlich gesteigert wurde. Die Herstellung von Kriegsfähigkeit erfolgte dabei in einem auf Autarkie mit zunehmend planwirtschaftlichem Charakter ausgerichteten System, das nur durch fortgesetzte territoriale Expansion vor dem Zusammenbruch bewahrt werden konnte. Der autoritäre Führerstaat mit ausgeprägter Interventionsbereitschaft und ausgebauten Interventionsmöglichkeiten verstand ungeregelte beziehungsweise unkontrollierte Migrationen als Gefährdung staatlicher Handlungsfähigkeit. Er strebte sowohl bei grenzüberschreitenden Bewegungen als auch bei Binnenwanderungen nach repressiver Steuerung. Sie wurde unter anderem mit Hilfe des Kompetenzzuwachses der Arbeitsverwaltung, verschärfter Grenzkontrollen und restriktiver Anwendung der Pass- und Visabestimmungen erreicht. Die Aufhebung liberaldemokratischer Freiheitsrechte ermöglichte die Etablierung eines weitreichenden || 68 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer, ›Schutz des nationalen Arbeitsmarkts‹: Grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik, in diesem Band.

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migratorischen Lenkungssystems. Die rüstungswirtschaftliche Expansion und die Konzentration staatlicher Investitionen auf den militärischen Sektor veränderten die Situation am Arbeitsmarkt und nahmen damit erheblichen Einfluss auf das Binnenwanderungsgeschehen, das zunehmend stärker staatlicher Lenkung unterworfen wurde.69 Rüstungswirtschaftliche Expansion veränderte aber auch die Arbeitskräftesituation selbst so tiefgreifend, dass der Arbeitskräftemangel in einigen Sektoren in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nur mehr durch die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland ausgeglichen werden konnte – ein Lösungsversuch, der dem staatlichen Streben nach autarkistischer Wirtschaftsführung strikt entgegenstand. Das änderte sich mit der Expansion der Reichsgrenzen im Zweiten Weltkrieg, die den direkten Zugriff auf das Arbeitskräftepotenzial der besetzten Gebiete erlaubte. Nach Kriegsbeginn verschärfte sich der Arbeitskräftemangel so stark, dass die Etablierung eines Zwangsarbeitersystems für ausländische Arbeitskräfte weitere Kapazitäten für die kriegerische Expansion schaffen musste. Der im 19. Jahrhundert durchgesetzte bürgerlich-liberale Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz wurde seit 1933 außer Kraft gesetzt. Als zentrale Maxime staatlicher Maßnahmen galt nunmehr die Durchsetzung einer gesellschaftlichen Hierarchisierung als zentrales Ziel des rassistisch-antisemitischen Programms der NSDAP. Sie wirkten im Kontext von Migration zum einen insofern, als die Ausgrenzung und Entrechtung von Teilen der deutschen Bevölkerung zur indirekten Vertreibung in Gestalt der Emigration insbesondere von Deutschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft führte. Eine Entrechtung vollzog sich dabei auch im Blick auf die Staatsangehörigkeit; denn die ›Nürnberger Gesetze‹ von 1935 etablierten Elemente rassistischer Hierarchisierungen, mit der Folge, dass ›rassisch‹ unerwünschte Deutsche auch ohne Emigration staatsbürgerliche Rechte verloren.70 Zum andern unterlag auch die restriktiv gesteuerte Zuwanderung einer rassistischen Hierarchisierung. Das galt für die gezielte und streng begrenzte Zulassung von Arbeitskräften in der Vorkriegszeit, dann aber vor allem für den staatlichen Umgang mit den Millionen von Zwangsarbeitskräften, die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland deportiert wurden.71 Jenseits dessen hatten rassistische Hierarchisierungen massive Folgen für die Entwicklung des Migrationsgeschehens in Europa; denn in den besetzten Gebieten insbesondere Ostmittel- und Osteuropas wurden millionenfache Zwangswanderungen in Gang gesetzt, um im Sinne der nationalsozialistischen ›Lebensraum‹|| 69 Hierzu siehe den Beitrag von Christoph Rass, Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939, in diesem Band. 70 Hierzu siehe den Beitrag von Detlev Schmiechen-Ackermann, Rassismus, politische Verfolgung und Migration: Ausgrenzung und Austreibung ›unerwünschter‹ Gruppen aus dem nationalsozialistischen Deutschland, in diesem Band. 71 Hierzu siehe den Beitrag von Mark Spoerer, Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft, in diesem Band.

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Vorstellungen die Zusammensetzung der Bevölkerungen in den annektierten und eroberten Gebieten grundlegend zu verändern. In diesen Kontext gehört auch die ›Umsiedlung‹ von ›Volksdeutschen‹ aus ihren ostmittel-, südost- und südeuropäischen Siedlungsgebieten zur Ansiedlung in den annektierten Gebieten, was dem Ziel der Weimarer Republik nach der Erhaltung der Siedlungsgebiete deutscher Minderheiten diametral widersprach.72 6. Doppelte Staatlichkeit im Systemkonflikt des ›Kalten Krieges‹: wirtschaftliche Rekonstruktion, Sozialstaat und Migration 1945–1989: Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte zur Beseitigung einer deutschen Regierungsgewalt und zur Unterwerfung des um erhebliche Gebietsteile reduzierten Rest-Deutschlands unter die Hoheit der vier Siegermächte. Staatlichkeit war damit zunächst militärisch geformt, und militärische Organisation prägte auch den Umgang mit den massenhaften kriegsfolgebedingten Wanderungen. Die Transporte der Millionen von vertriebenen Deutschen beziehungsweise ›Volksdeutschen‹ aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa wurden ebenso militärisch organisiert wie die Zwangseinweisungen in Wohnungen und Lagerunterkünfte. Militärischen Charakter hatte auch die Repatriierung der über zehn Millionen Menschen umfassenden Gruppe der Displaced Persons, die die nationalsozialistischen Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt hatten, und der ebenfalls über zehn Millionen deutschen Kriegsgefangenen.73 Vor allem in den ersten beiden Nachkriegsjahren strebten die alliierten Militärbehörden aus sicherheitspolitischen Gründen nach einer strikten Kontrolle räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Die Reichweite dieser Maßnahmen blieb aber begrenzt angesichts der starken Migrationen, der hohen Kosten für den Überwachungsapparat und der bald nach Kriegsende einsetzenden Reduzierungen der Truppenstärken. Weder gelang es, das Überschreiten der Grenzen der Besatzungszonen flächendeckend zu kontrollieren, noch konnten die Bewegungen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Displaced Persons den Konzeptionen entsprechend umfassend gesteuert werden. In der Diskussion um den Neuaufbau deutscher Staatlichkeit gewannen alliierte Vorstellungen über die verfassungs- und innenpolitische, außen- und kulturpolitische, wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung Deutschlands maßgebliches Gewicht. Die beiden deutschen Staaten wurden von den Besatzungsmächten in die Blöcke der neuen bipolaren Weltordnung eingebunden und blieben so in ihren außenpolitischen Handlungsspielräumen begrenzt. Angesichts der Kriegsniederlage verlor im Deutschland der Nachkriegszeit Nationalismus als außenpolitisches Orientierungsmuster abrupt an Bedeutung. Die Instrumentalisierung deutscher

|| 72 Hierzu siehe den Beitrag von Markus Leniger, ›Heim ins Reich‹: Deutsche Minderheiten als Objekte nationalsozialistischer Migrationslenkung, in diesem Band. 73 Hierzu siehe den Beitrag von K. Erik Franzen, Migration als Kriegsfolge: Instrumente und Intentionen staatlicher Akteure nach 1945, in diesem Band.

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Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland fand wegen der Flucht und der Vertreibung eines Großteils der deutschen beziehungsweise ›deutschstämmigen‹ Bevölkerung in diesen Großräumen ihr Ende. Dennoch knüpfte die Bundesrepublik im Staatsangehörigkeitsrecht an die ethno-nationale Tradition des Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 an, die ehemaligen Deutschen und ›Volksdeutschen‹ insbesondere als ›Aussiedlern‹ privilegierte Wege zur deutschen Staatsangehörigkeit bot, andere Nationalitäten hingegen mit restriktiven Aufnahmebedingungen konfrontierte.74 Demgegenüber war die Diskussion um die Etablierung eines eigenständigen Staatsangehörigkeitsrechts in der DDR, die erst in der Verfassung von 1974 festgeschrieben wurde, vor allem ein Ergebnis der Bemühungen um die Abgrenzung von der Bundesrepublik und erwies sich damit als eine Demonstration des Bemühens um Eigenstaatlichkeit. Die weltwirtschaftliche Rekonstruktionsperiode führte in beiden deutschen Staaten zu einem relativ raschen Wiederaufbau wirtschaftlicher Kapazitäten vor dem Hintergrund einer großen und stark wachsenden Nachfrage nach Investitionsund Konsumgütern. Der Wiederaufbau und die ökonomische Expansion gewannen dabei im Zeichen von neuer Globalisierung und Konsumgesellschaft in Westdeutschland eine wesentlich höhere Dynamik als in der zentralisierten sozialistischen Planwirtschaft in Ostdeutschland. Während in der DDR staatliche Institutionen eine weithin verstaatlichte Wirtschaft unmittelbar lenkten, einschließlich der Frage der Arbeitskräfteversorgung der Betriebe, sicherte das Grundgesetz der Bundesrepublik das Privateigentum und garantierte Wettbewerb am Markt. Direkte konjunkturpolitische Eingriffe zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Nachfragesituation mit Hilfe staatlicher Investitionen und Subventionen entwickelten sich in Westdeutschland – jenseits von geld-, kredit- und steuerpolitischen Maßnahmen – erst seit dem Ende der 1960er Jahre. Seither wuchs die Bedeutung des Staates in der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung ständig weiter. Ein tiefgreifender Funktionswandel im Verhältnis von Nationalstaat und Wirtschaft ergab sich dabei allerdings aufgrund der beschleunigten Integrationsprozesse in Europa, die von der schrittweisen Delegation nationaler Rechte an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beziehungsweise Europäische Gemeinschaft begleitet waren. Der schnelle wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik hob über die fundamentale Verbesserung der Beschäftigungssituation und vor dem Hintergrund des starken Anstiegs der Löhne angesichts der großen Nachfrage nach Arbeitskräften die soziale Position benachteiligter Gruppen. Hinzu traten die staatlichen Sozialleistungen zur Abstützung der ›Sozialen Marktwirtschaft‹. Die frühen sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesrepublik hatten sich mit Lastenausgleichsgesetz, Woh|| 74 Hierzu siehe den Beitrag von Jannis Panagiotidis, Staat, Zivilgesellschaft und Aussiedlermigration 1950–1989, in diesem Band.

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nungsbauförderung und Kriegsopferversorgung insbesondere auch der durch den Krieg und die Kriegsfolgen betroffenen Gruppen angenommen. Der weitere forcierte Ausbau des aus der Weimarer Republik übernommenen wohlfahrtsstaatlichen Instrumentariums begann mit der Rentenreform 1957 und führte zu Neuregelungen im Bereich des Sozialrechts und der Sozialhilfe, des Familienrechts und der Familienunterstützung, des Arbeitsrechts, der materiellen Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsversorgung. In der nivellierten Gesellschaft der DDR bildeten umfangreiche staatliche Maßnahmen zur Daseinsvorsorge ebenfalls ein zentrales Mittel zur Absicherung der Loyalität der Bevölkerung. Das Missverhältnis von sozialpolitischem Anspruch der SED und der Realität der fundamentalen Probleme in der Finanzierung der Leistungen führten zu einer Delegitimierung des Systems und trugen seit den 1970er Jahren ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Niedergang bei, der einen entscheidenden Faktor für den Zusammenbruch der DDR 1989 bildete. Beide deutsche Staaten verstanden sich als Schutzmächte politisch Verfolgter, etablierten von Beginn an Asylsysteme und – stets umstrittene und permanent neu ausgehandelte – Politiken und Praktiken der Aufnahme von Schutzsuchenden.75 Und beide deutsche Staaten waren nach ihrer Gründung mit der Aufgabe konfrontiert, die Integration erheblicher neu zugewanderter Bevölkerungsteile zu gestalten. Während in der parlamentarischen Demokratie des Westens vielfältige staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Flüchtlinge und Vertriebene ausgehandelt werden konnten, versuchte die SED-Diktatur des Ostens, vornehmlich aus innen- und bündnispolitischen Gründen, auf separierte Integrationsmaßnahmen zu verzichten und Integration als politisches Thema zu tabuisieren. Neben der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen war in beiden deutschen Staaten in den 1950er Jahren grenzüberschreitende Abwanderung ein zentrales Kennzeichen der Entwicklung der Migrationsverhältnisse. In der Bundesrepublik blieben dabei vor dem Hintergrund der im Grundgesetz garantierten Auswanderungsfreiheit die staatlichen Einflussmöglichkeiten eng begrenzt.76 Die DDR hingegen strebte nach der restriktiven Bekämpfung der vornehmlich in die Bundesrepublik gerichteten Abwanderung, vor allem weil sie als Gefahr für die Funktionsfähigkeit der DDR-Wirtschaft verstanden wurde. Der forcierte Ausbau von Grenzsperranlagen seit Anfang der 1950er Jahre, die zugleich als ein Scheitern anderer staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung von Abwanderung zu verstehen ist, mündete schließlich in die Abriegelung des gesamten DDR-Territoriums nach Wes-

|| 75 Hierzu siehe den Beitrag von Patrice G. Poutrus, Zuflucht im Nachkriegsdeutschland. Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er Jahren bis zur Grundgesetzänderung im vereinten Deutschland von 1993, in diesem Band. 76 Hierzu siehe den Beitrag von Jan Philipp Sternberg, Überseeische Auswanderung als Problem politisch-territorialer Souveränität, in diesem Band.

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ten mit dem Bau der Mauer 1961, wenngleich damit der Prozess der Aushandlung von Abwanderung in der DDR keineswegs endete.77 Weil Arbeitskräftemangel ein konstitutiver Faktor für die Entwicklung der DDR-Wirtschaft blieb, intensivierte die DDR die Beschäftigung von Angehörigen anderer sozialistischer Staaten. Diese ›ausländischen Vertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer‹ waren restriktiven Regelungen unterworfen. Ihren Aufenthalt prägte eine Politik der Inklusionsverhinderung.78 Der migrationspolitischen Tradition der Weimarer Republik folgend gestaltete die Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre ihre ›Ausländerpolitik‹ vor allem als ein Problem der Arbeitsmarktpolitik. Die durch bilaterale Anwerbeverträge mit diversen Herkunftsländern gerahmte ›Gastarbeiterzuwanderung‹ wurde von der Bundesrepublik nicht unter der Perspektive längerfristiger oder gar dauerhafter Aufenthalte gesehen. Das Ende der Anwerbepolitik der Bundesrepublik 1973 trug insgesamt nicht dazu bei, die Zahl nicht-deutscher Staatsangehöriger zu reduzieren. Der ›Anwerbestopp‹ verweist vielmehr auf die beschränkten Möglichkeiten staatlicher Migrationssteuerung in einem demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat.79 Diese als ›Steuerungsverlust‹ des westdeutschen Staates beschreibbare – und auch in der Konfrontation anderer entwickelter liberal-demokratischer Industriestaaten mit dem Problem der grenzüberschreitenden Migration als »liberales Paradox« (James Hollifield) umschriebene – Entwicklung resultierte vor allem aus der Herausbildung starker aufenthalts- und sozialrechtlicher Bindungen der Zuwanderer an die Bundesrepublik. Sie waren dafür verantwortlich, dass die Dispositionsmacht einer auf ›Rückkehrförderung‹ ausgerichteten Migrationspolitik relativ gering blieb: Nicht-deutsche Staatsangehörige mit einem verfestigten Aufenthaltsstatus verfügten im Kern über die gleichen wirtschaftlichen und sozialen Rechte wie deutsche Staatsangehörige. Das galt auch für Leistungen aus der Kranken-, Pflege, Unfallund Rentenversicherung, für die Arbeitslosenversicherung und andere staatliche Sozialleistungen. Im politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik wurden diese vielfältigen Bindungen und die Entwicklung von Daueraufenthalten negiert. Seit den 1970er Jahren waren zunehmend mehr staatliche Maßnahmen der Bundesrepublik, die auf eine Kontrolle und Regulierung der Migrationsverhältnisse zielten, durch die informelle Abstimmung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gekennzeichnet. In den 1980er Jahren traten wegen der weiter voranschrei|| 77 Hierzu siehe den Beitrag von Frank Wolff, Deutsch-deutsche Migrationsverhältnisse: Strategien staatlicher Regulierung 1945–1989, in diesem Band. 78 Hierzu siehe den Beitrag von Patrice G. Poutrus, Aufnahme in die ›geschlossene Gesellschaft‹: Remigranten, Übersiedler, ausländische Studierende und Arbeitsmigranten in der DDR, in diesem Band. 79 Hierzu siehe den Beitrag von Monika Mattes, Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, in diesem Band.

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tenden Vergemeinschaftung nationaler Kompetenzen zunehmend formelle Abstimmungsprozesse hinzu.80 7. Staat um die Jahrtausendwende: die Aushandlung nationaler Souveränitätsrechte im europäischen Integrationsprozess und Migration im vereinigten Deutschland seit 1990: Die deutsche Wiedervereinigung 1990 führte nicht zu einem tiefgreifenden Wandel des politischen Systems in der neuen Bundesrepublik. Die politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung der alten Bundesrepublik wurde vielmehr ohne wesentliche Einschränkungen auf das Territorium der ehemaligen DDR übertragen. Wesentlich stärker als der Wandel des politischen Systems waren die Veränderungen in der Positionierung der Bundesrepublik in der europäischen und globalen Staatenwelt. Die Öffnung des ›Eisernen Vorhangs‹, die Auflösung der UdSSR und das Ende des ›Kalten Krieges‹ führten dazu, dass die Souveränitätsbeschränkungen der Nachkriegszeit beendet wurden. Zugleich bedeutete der beschleunigt voranschreitende europäische Einigungsprozess, der in die Gründung der Europäischen Union mündete, eine intensivierte Aushandlung über die weitere Abgabe nationaler Souveränitätsrechte. Die Etablierung eines europäischen Binnenmarktes, der auch den Arbeitsmarkt umschloss, und die Aufhebung der Grenzkontrollen verminderten die nationalen Einflussmöglichkeiten auf die räumlichen Bevölkerungsbewegungen weiter: Migrationen innerhalb Europas wurden zu Binnenwanderungen, woraus sich eine Dynamisierung der weiteren Gleichstellung aller EU-Bürger vor allem im Sozialrecht, im Arbeitsrecht und in den politischen Rechten ergab. Einen wesentlichen Teilbereich staatlicher Reaktionen auf den rapiden Systemwandel im sowjetischen Einflussbereich, die Öffnung des ›Eisernen Vorhangs‹ und das Ende des ›Kalten Krieges‹ im Übergang zum letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bildeten die Migrationsverhältnisse. Das rasche und massive Anwachsen der Zuwanderung von ›Übersiedlern‹ aus der DDR mit der Grenzöffnung 1989 forcierte die Wiedervereinigung. Die bereits seit 1986/87 stark angestiegene Zuwanderung von Aussiedlern aus Polen, Rumänien und der UdSSR sowie der starke Anstieg der Zuwanderungen von Flüchtlingen vornehmlich aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa seit 1989/90 wurde in der Bundesrepublik in der Übergangsphase der deutsch-deutschen Vereinigung als ›Migrationskrise‹ perzipiert und mit einschneidenden Zuwanderungsbeschränkungen und Rückführungen (Roma, Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien) beantwortet.81 Als einschneidend erwiesen sich die wirtschaftlichen Folgen, die sich aus dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und der Tatsache ergaben, dass nur geringe Segmente der DDR-Wirtschaft als national und international konkurrenzfähig gal-

|| 80 Hierzu siehe den Beitrag von Marcel Berlinghoff, Die Bundesrepublik und die Europäisierung der Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren, in diesem Band. 81 Hierzu siehe den Beitrag von Barbara Dietz, Die Bundesrepublik Deutschland im Fokus neuer Ost-West-Wanderungen, in diesem Band.

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ten. Der Umgang mit den Folgelasten der Integration der DDR-Ökonomie wurde vor allem als staatliche Aufgabe verstanden. Sie schränkten die finanziellen Handlungsspielräume staatlichen Handelns, nicht zuletzt in der Arbeitsmarktpolitik, stark ein. In gleichem Maße führten die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung zu einer Anspannung der sozialstaatlichen Kapazitäten, die mit einer Verminderung der Leistungen beantwortet wurde. Wegen der hohen strukturellen Erwerbslosigkeit galten weitere Zuwanderungen als Gefahr für das Gelingen des Projektes ›Wiedervereinigung‹, zumal die fremdenfeindlichen Gewaltexzesse in Ost- und Westdeutschland zur Zeit des Vereinigungsprozesses die Verschärfung eines ohnehin bereits restriktiven Zuwanderungsregimes zu fordern schienen. Ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts standen erleichterte Einbürgerung, die Entwicklung eines Zuwanderungsgesetzes und die Etablierung umfassenderer Integrationsprogramme auf der Agenda. Diese Konzepte waren Ergebnis der Diskussion um als ›Integrationsprobleme‹ perzipierte Entwicklungen in der Migrationsgesellschaft, um die Bedeutung demographischer Faktoren für die Entwicklung der Sozialsysteme und um die Perspektiven einer gesteuerten Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Sie mündeten ein in den laufenden Prozess der Aushandlung eines migrationspolitischen Modernisierungsprojekts in der Bundesrepublik Deutschland.82

|| 82 Hierzu siehe den Beitrag von Holger Kolb, Migrationsverhältnisse, nationale Souveränität und europäische Integration: Deutschland zwischen Normalisierung und Europäisierung, in diesem Band.

| Teil I: Territoriale Landeshoheit und verdichtete Verwaltungsstaaten: innere Staatsbildung und Migration von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Karl Härter

Grenzen, Streifen, Pässe und Gesetze. Die Steuerung von Migration im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reiches (1648–1806) Seit dem Spätmittelalter vollzog sich in Europa die Verfestigung und Ausdifferenzierung des (vor-)modernen Staates, idealtypisch gekennzeichnet durch institutionalisierte Herrschaft, Staatsgebiet, Staatsgrenzen, Untertanenverband, innere und äußere Souveränität, Gesetzgebungs-, Gewalt- und Justizmonopol und professionalisierte Verwaltungen. Frühmoderne Staatsbildung, Wanderungsbewegungen und obrigkeitliche Migrationssteuerung standen dabei in einem engen Wechselverhältnis. Die nach dem Dreißigjährigen Krieg zunehmenden Migrationsbewegungen – manifest in und bedingt durch Entwurzelung aufgrund von Kriegen, Konfessionalisierung, Vertreibung, Zunahme der Arbeitsmigration, Wachstum der Bevölkerung, insbesondere der Unterschichten und Randgruppen, wachsende Armut, einsetzende Auswanderung aus dem Alten Reich und Peuplierungspolitik – evozierten Steuerungsbedarf, der sich in obrigkeitlich/staatlichen Ordnungsgesetzen und Verwaltungsmaßnahmen als den wesentlichen Steuerungsinstrumenten manifestierte. Die meisten europäischen Staaten und Territorien des Alten Reiches entwickelten in der Frühen Neuzeit grundlegende Normen, Institutionen und Instrumentarien zur Migrationssteuerung, die wichtige Elemente der vormodernen Staatsbildung und den damit verbundenen Prozessen der Monopolisierung von Herrschaftsrechten, Professionalisierung, Verrechtlichung und Ausdifferenzierung von staatlicher Verwaltung bildeten.1 Diese staatlich-obrigkeitliche Migrationspolitik wirkte kurz- und langfristig sowie direkt und indirekt auf Wanderungsbewegungen ein, wobei es durchaus zu nicht intendierten Wirkungen kam und nicht nur die Wandernden, sondern auch die mehr oder weniger sesshafte Gesellschaft von Steuerungsmaßnahmen – beispielhaft sei hier nur an Passwesen und Grenzregime erinnert – tangiert wurde.

|| 1 Vgl. als Überblick zur Steuerung und Verwaltung von Migration in historischer Perspektive: Jochen Oltmer, Einführung: Steuerung und Verwaltung von Migration in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 9–56; Andreas Fahrmeir/Olivier Faron/ Patrick Weil (Hg.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York/Oxford 2003; Andreas Fahrmeir, Klassen-Grenzen: Migrationskontrolle im 19. Jahrhundert, in: Rechtsgeschichte, 12. 2008, S. 125–138.

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Der hier idealtypisch skizzierte Prozess der Staatsbildung führte im 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und seinen Territorien allerdings nicht zur Durchsetzung des ›absolutistischen‹ oder gar des modernen Staates.2 Weder das Alte Reich als ein ›supranationales‹, europäisch vernetztes föderales Rechts- und Verfassungssystem noch seine vielfältigen Obrigkeiten lassen sich mit dem idealtypischen Modell des modernen Staates erfassen, das ein einheitliches Staatsgebiet, eindeutige Staatsgrenzen, territorial definierte Souveränität, ein staatliches Gewaltmonopol und ein Staatsvolk voraussetzt.3 Den Reichsständen hatte der Westfälische Frieden zwar die volle Landesherrschaft in ihren Territorien eingeräumt und die Reichsstandschaft (Sitz und Stimme im Reichstag) auf das Territorium und nicht mehr die Person des Herrschers radiziert. Bei den reichsständischen Territorien handelte es sich jedoch meist nicht um geschlossene, abgerundete Flächenstaaten, sondern um zersplitterte und zerklüftete, zum Teil unzusammenhängende und weit voneinander entfernt liegende Herrschaftsgebiete, gelegentlich mit unterschiedlichen rechtlichen, politischen und sozialen Strukturen, verklammert durch die Herrscherdynastie. Neben den rund 150 dynastisch regierten Landesherrschaften (davon allein 89 Grafschaften) existierten ca. 80 ›geistliche Staaten‹, in denen gewählte und damit wechselnde Bischöfe, Prälaten oder Äbte die Landesherrschaft ausübten, 50 Reichsstädte (mit sehr unterschiedlichen Territorien und Einwohnerzahlen) sowie reichsritterschaftliche Herrschaften, die nicht einmal die Reichsstandschaft besaßen.4 Zudem mussten sich die Obrigkeiten des Reiches staatliche Hoheitsrechte sowohl mit dem Reich als auch mit intermediären Gewalten und Inhabern von Herrschaftsrechten (Adel, Geistlichkeit, Städte beziehungsweise Landstände) teilen. Überschneidungen gab es auch mit anderen europäischen Ländern, da deren Herrscher entweder Herrschaftsrechte im Reich ausüben konnten oder Reichsstände über außerhalb des Reiches liegende Länder herrschten. Die Außengrenzen des Reiches blieben in zahlreichen Regionen ›unscharf‹, und auch die ›Landesgrenzen‹ der Obrigkeiten und Territorien entsprachen kaum dem Begriff einer modernen (Staats-)Grenze. Es existierten vielmehr vielfältige Überschneidungen von Rechtsräumen und Herrschaftsbeziehungen sowohl zwischen als auch || 2 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. 3 Zur (umstrittenen) Struktur des Alten Reiches: Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999; Peter Claus Hartmann, Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486–1806, Stuttgart 2005; Karl Härter, The Early Modern Holy Roman Empire of German Nation (1495–1806): A Multi-layered Legal System, in: Jeroen Duindam/Jill Harries/Caroline Humfress/Nimrod Hurvitz (Hg.), Law and Empire. Ideas, Practices, Actors, Leiden/Boston 2013, S. 111–131. 4 Hier zugrundegelegt die Zahl der Reichsstände am Ende des Reiches, die freilich nur eine Momentaufnahme darstellt: Karl Härter, Reichstag und Revolution 1789–1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992, S. 37–42, 655–658.

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innerhalb der reichsständischen Territorien, die gerade in den kleinen und mittleren Territorien Wanderungsbewegungen und territorialstaatliche Migrationspolitik beeinflussen konnten. Seit dem 16. Jahrhundert vollzog sich allerdings in den meisten Territorien ein langwieriger und keineswegs geradliniger Prozess der Staatsbildung durch Ausbau der Landesherrschaft, Monopolisierung von Herrschaftsrechten, Verdrängung oder Verstaatlichung intermediärer Gewalten, Aufbau einer professionalisierten Verwaltung, Schaffung eines homogenen Untertanenverbandes und Rechtsraums und eines möglichst geschlossenen, abgegrenzten Territoriums. Der Dreißigjährige Krieg als ›Staatsbildungskrieg‹ und der Westfälische Frieden mit seiner reichsrechtlichen Verankerung der Landeshoheit der Reichsstände bildeten eine entscheidende Wegmarke in dieser Entwicklung, die in keinem Territorium bis zum Ende des Alten Reiches 1806 zu voller moderner staatlicher Souveränität führte, bei den meisten mittleren und größeren Landesherrschaften jedoch hinsichtlich Gesetzgebung, Justiz und innerer Verwaltung weitgehend autonome, handlungsfähige Territorialstaaten hervorbrachte.5 Diese spezifische Konstellation von Reich und Landesherrschaft bildete zwischen 1648 und 1806 eine wesentliche Rahmenbedingung für die vielfältigen und sich verändernden Wanderungsbewegungen und die sich allmählich entwickelnde obrigkeitliche Migrationspolitik, die unter den schwierigen Bedingungen des Reichssystems steuernd einwirken wollte. Staatliche beziehungsweise obrigkeitliche Dispositionen und Interventionen im Umgang mit Migrationsvorgängen manifestierten sich insbesondere in der (auch insgesamt stark) zunehmenden Ordnungsund Policeygesetzgebung6 sowie in dem Auf- und Ausbau staatlicher Institutionen und Instrumente zur Unterbindung, Kontrolle oder auch Förderung von Migration. Die Territorialstaaten konnten unter den Bedingungen unterschiedlichster Wanderungsbewegungen, territorialer Zersplitterung, ›offener‹ Grenzen und defizitärer Staatlichkeit kaum souverän handeln, sondern mussten den Rechts- und Verfassungsrahmen des Reichssystems ebenso einbeziehen wie die Interessen ihrer jeweiligen Nachbarn und der intermediären Gewalten im eigenen Territorium. Daraus resultierten Spannungen, Zielkonflikte, Ambivalenzen und Defizite der jeweiligen territorialen Migrationspolitiken, die (aus der Perspektive moderner Betrachter) inkonsequent, schwankend, wenig effektiv, tentativ und experimentierend erscheinen. Andererseits stimulierten gerade die spezifischen Probleme und die Vielfalt der || 5 Zusammenfassend: Harm Klueting/Wolfgang Schmale (Hg.), Das Reich und seine Territorien. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinander, Münster 2004; als Fallbeispiel: Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, Frankfurt a.M. 2005. 6 Michael Stolleis unter Mitarbeit von Karl Härter und Lothar Schilling (Hg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1996; Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000.

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Migrationsbewegungen im Alten Reich die Ausdifferenzierung eines obrigkeitlichstaatlichen Instrumentariums der Migrationssteuerung, das sich bis zum Ende das Alten Reiches verfestigt hatte und darüber hinaus wirkte.

1 Migrationsbewegungen 1648–1806 Die Obrigkeiten des Alten Reiches begriffen die frühneuzeitliche Ständegesellschaft seit dem 16. Jahrhundert zunehmend als immobilen, sesshaften Untertanenverband eines abgrenzbaren Territoriums – Freizügigkeit existierte nicht und es galt prinzipiell die Schollenpflicht der Untertanen – und wollten Migration unterdrücken oder zumindest kontrollieren. Dennoch nahmen in der Frühen Neuzeit Wanderungsbewegungen zu, wobei auch eine qualitative Ausdifferenzierung zu beobachten ist.7 Bevölkerungswachstum, Krisenerscheinungen wie Seuchen, Kriege, Klimaverschlechterung, Preisanstieg und Hungerkrisen und daraus resultierend Armut, Arbeitssuche und auch Arbeitsausübung sowie Ausgrenzung und Vertreibung von konfessionellen, ethnischen und sozialen Minderheiten oder Unterschichten bildeten im frühneuzeitlichen Alten Reich wesentliche Gründe für Wanderungsvorgänge. Besonders der Dreißigjährige Krieg brachte nicht nur erhebliche Bevölkerungsverluste mit sich, sondern verstärkte Mobilität und Entwurzelung, was sich in einer Zunahme vagierender Randgruppen und Unterschichten äußerte, die teilweise aus der Gruppe der abgedankten Söldner gespeist wurde. Hinzu kam nach 1648 eine sich allmählich entfaltende obrigkeitliche Peuplierungspolitik, die Bevölkerungsverluste durch Förderung der Einwanderung und Neuansiedlung ausgleichen wollte und schließlich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen Bevölkerungswachstum und damit auch Wanderungsbewegungen bedingt förderte. Die dann seit Ende des 17. Jahrhunderts wieder stark wachsende Bevölkerung führte allerdings nicht nur im Sinne der Peuplierungspolitik zu einer Vermehrung nützlicher Untertanen, sondern betraf gerade Unterschichten und Randgruppen in überproportional hohem Maße. Auf die zunehmenden ›Nahrungsprobleme‹ reagierten die Menschen mit verstärkten Wanderungsbewegungen, um primär durch intra- und interregionale Wanderungen, eine mehr oder weniger mobile Lebensweise und seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch durch Fernwanderung nach Ungarn und Amerika neue beziehungsweise überhaupt ›Nahrung‹ zu finden, wobei neben der Arbeitsuche die unterschiedlichsten ambulanten Tätigkeiten und Dienstleistungen sowie nicht zuletzt

|| 7 Winfried Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988; Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800, München 1994; Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995.

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Almosensuche, Betteln und Kriminalität zur sozialen (Überlebens-)Praxis der Wandernden gehörten.8 Zwar nahmen auch im Alten Reich im 18. Jahrhundert die Migrationsbewegungen vom Land in die ›größere‹ Stadt zu, doch ist der Umfang hinsichtlich der Entstehung von Zentren und Metropolen nicht mit dem in anderen europäischen Staaten wie Frankreich, Italien oder England vergleichbar – zumal sich gerade die Reichsstädte eher gegen Zuwanderung vom Land abschlossen und teilweise geringere Arbeitsmöglichkeiten boten, da das Handwerk ›überbesetzt‹ war, der Handel zurückging und die Arbeitsmöglichkeiten insgesamt abnahmen. Im 18. Jahrhundert ging die Bevölkerung der größten Reichsstädte zurück oder stagnierte, und nur wenige Städte wie Hamburg, Augsburg oder Frankfurt am Main wuchsen moderat an.9 Sogar bei den prosperierenden Landstädten und Residenzen größerer Territorien, welche die höchsten Zuwanderungsraten aufwiesen, versuchten die Landesherren, den Zuzug auf ›erwünschte‹ Personen mit ›nützlichen‹ Berufen zu beschränken. Immerhin lagen in den Residenzen die Zuwachsraten zwischen 1700 und 1800 meist über 100 Prozent mit durchaus hohen Anteilen von Zuwanderern, die allerdings in der Regel aus dem unmittelbaren Umfeld der Städte (5 bis 10 Kilometer) stammten.10 Reichsstädtische Magistrate wie Landesherren setzten bei der Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung vom Land in die Stadt auf eine Verschärfung des Bürgerrechts und auf Ordnungsgesetze, die Randgruppen und Unterschichten, aber auch unerwünschte Fremde, Handwerker, Dienstboten und sonstige Arbeitsmigranten von Ansiedlung und längerem Aufenthalt in der Stadt ausschlossen. Lediglich konfessionell und wirtschaftlich erwünschten Migranten wurde Zuzug und Ansiedlung gestattet; im Fall der Hugenotten auch mittels Privilegierung und Gründung eigener Siedlungen.11

|| 8 Vgl. zu dem knappen Überblick über die Migrationsbewegungen in Mitteleuropa zwischen 1648 und 1806 umfassend: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992; ders., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 17–59; Harald Kleinschmidt, Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen 2002; Leslie Page Moch, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, 2. Aufl. Bloomington 2003; Rosmarie Beier-de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005, Deutsches Historisches Museum, Berlin 2005; Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Deutschland, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 141–170; Sylvia Hahn, Österreich, in: ebd. S. 171–188. 9 Heinz Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit, München 1993, S. 11f. sowie S. 7 mit Vergleichszahlen zu den europäischen Großstädten. 10 Pfister, Bevölkerungsgeschichte, S. 45–49, 79f.; Schilling, Stadt, S. 8–17. Bevölkerungswachstum und Wanderungsbewegungen im Alten Reich sind allerdings aufgrund der extremen territorialen Zersplitterung noch immer unzureichend erforscht. 11 Joachim Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Münster 2008; Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hg.),

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Insgesamt war der ländliche Raum, in dem im 18. Jahrhundert mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des Alten Reiches lebte und der ein höheres Bevölkerungswachstum aufwies, stärker von Migrationsvorgängen betroffen – boten doch die zahlreichen kleinen und mittleren Dörfer und Städte unter der Bedingung territorialer Zersplitterung bessere Überlebenschancen, geringere staatliche Kontrolle und Möglichkeiten für ambulante Tätigkeiten, die nachgefragt wurden und der Versorgung der Bevölkerung dienten. Neben dem jährlich seinen Arbeitsplatz wechselnden, mobilen Gesinde und den wandernden Handwerkern zogen Wanderhändler/ Hausierer, Sammler (Lumpen, Glas, Asche), Tagelöhner, Landarbeiter, Scherenschleifer, Kesselflicker, Heilmittelverkäufer und sonstige medizinisch-magische ›Dienstleister‹ und eine große Vielfalt an Unterhaltungskünstlern umher, um nur einige wichtige Gruppen aus dem breiten Spektrum der Arbeitsmigration zu nennen (die selbstverständlich auch die größeren Städte nicht ausließ). Hinzu kamen noch andere Gruppen wie Pilger, Bettelmönche, umherziehende Kleriker, Scholaren/Studenten, Adelige und sonstige ›Bildungsreisende‹, Söldner/Soldaten, ethnisch-religiöse Minderheiten wie Juden und Zigeuner und die amorphe Gruppe der Armen und Vaganten, die keiner spezifischen Tätigkeit nachgingen und keinem Stand zuzuordnen waren. Allen Umherziehenden und Wandernden war gemeinsam, dass ambulante Tätigkeiten, Betteln beziehungsweise Almosen und auch Subsistenzkriminalität mehr oder weniger zur sozialen Praxis des Vagierens und Migrierens gehörten. Unter den Bedingungen des kleinräumig fragmentierten Reichssystems und defizitärer Staatlichkeit (im modernen Sinn) waren die meisten dieser Wanderungsbewegungen grenzüberschreitend. Denn auch die intra- und interregionale Migration im Reich und in den Territorien durch Wechsel vom Land in die Stadt oder in einen anderen Amtsbezirk sowie die Wanderungsbewegungen der Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen unterwegs waren, konnten ›innere Grenzen‹ und Rechtsbeziehungen tangieren: Wer sich im Alten Reich über nennenswerte Strecken bewegte, musste zwangsläufig zahlreiche territoriale, rechtliche und kulturell-religiöse Grenzen überqueren. Dies bot Chancen für Wandernde, die sich dem obrigkeitlichen Zugriff entziehen, Grenzen überqueren, sich kurz- oder längerfristig in einem Territorium aufhalten, in manchen Fällen auch niederlassen, aber auch dauerhaft wandern konnten. Obwohl es Umherziehenden auch gelang, sich niederzulassen oder sich zumindest über Jahre an einem Ort aufzuhalten, blieb für viele Wanderungsbewegungen kennzeichnend, dass sie nicht zu einem dauerhaften Wohnsitzwechsel in einem anderen ›Staat‹ führten. Viele Menschen fanden keinen oder nur einen befristeten Aufenthalt und lebten permanent vagierend ›auf der

|| Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010; Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2006.

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Straße‹, andere hielten sich oft nur eine begrenzte Zeit an ihren ›Heimatorten‹ auf und versuchten mittels einer mobilen Lebensweise einen meist kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Insgesamt wird der Anteil dieser mobilen Bevölkerungsgruppe, die keine einheitliche Schicht bildete, auf mindestens fünf bis zehn Prozent geschätzt, wobei die eigentlichen Aus- und Einwanderer, die einmal dauerhaft ihren Wohnsitz veränderten, nicht berücksichtigt sind.12 Die komplexen verfassungsrechtlichen Verhältnisse, die Vielgestaltigkeit der räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich ausfallenden Wanderungsbewegungen wie die Vielzahl der mehr oder weniger dauerhaft migrierenden beziehungsweise vagierenden Gruppen erschweren im Hinblick auf das frühneuzeitliche Alte Reich und dessen Territorien eine strikte Anwendung der klassischen soziologischen Definition von Migration als einer zielgerichteten Wohnsitzveränderung von einer gewissen Dauer über (Staats-)Grenzen hinweg. Im Folgenden werden ›Grenze‹, ›Ein-, Aus- und Binnenwanderung‹, Migration und Migrierende als offene und breite historische Begriffe verwendet, die auch Wanderungsbewegungen einschließen, die nicht zu einem dauerhaften Wohnsitzwechsel führten oder andere als ›Staatsgrenzen‹ tangierten und die breite Schicht der Fahrenden Leute einschließt. Als entscheidendes Kriterium wird dabei die zeitgenössische Perzeption – insbesondere durch Obrigkeit und Staat – und die Absicht zur Steuerung/Reglementierung der jeweiligen Wanderungsvorgänge zugrundegelegt.13 Auf dieser Basis werden im Folgenden zentrale Normen, Maßnahmen und Instrumente der obrigkeitlichen Migrationssteuerung und Migrationspolitik im Raum des Alten Reiches dargestellt, die || 12 Carsten Küther, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983; Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a.d. Aisch 1983; Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit, Göttingen 1993, S. 75; Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 89f.; Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt a.M. 2000, S. 30–33; Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime, München 2003, S. 17f.; Gerhard Ammerer/Gerhard Fritz (Hg.), Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Zur Lebenswelt vagierender Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert: Beiträge der Tagung vom 29. und 30. September 2011 im Kriminalmuseum Rothenburg ob der Tauber, Affalterbach 2013. 13 Zum Problem historischer Begrifflichkeiten/Modelle von Migration und Grenze: Gerhard Jaritz/Albert Müller, Migrationsgeschichte. Zur Rekonzeptualisierung historiographischer Traditionen für neue sozialgeschichtliche Fragestellungen, in: dies. (Hg.), Migration in der Feudalgesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 9–20; Kleinschmidt, Menschen, S. 13–20; Klaus J. Bade, Historische Migrationsforschung, in: ders., Sozialhistorische Migrationsforschung, hg.v. Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004, S. 27–48; Wilfried Fiedler, Die Grenze als Rechtsproblem, in: Wolfgang Haubrichs/Reinhard Schneider (Hg.), Grenzen und Grenzregionen, Saarbrücken 1993, S. 23–35; Andreas Gestrich/Marita Krauss, Einleitung, in: dies. (Hg.), Migration und Grenze, Stuttgart 1998, S. 10–14; Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010.

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überwiegend auf eine Unterbindung und Kriminalisierung von Migration abzielten, notwendige und geduldete Wanderungsbewegung kontrollieren und reglementieren wollten und lediglich einzelne Wanderungsformen für besondere Gruppen unter spezifischen Bedingungen gestatteten oder gar förderten. Dieser ›obrigkeitlichetatistisch-normative‹ Zugang bedeutet notwendigerweise – darauf sei hier zumindest hingewiesen –, dass die Perspektive der Wandernden ebenso wie die ›soziale Realität‹ des Migrierens in den Hintergrund treten.

2 Migrationspolitik und Gesetzgebung 2.1 Ordnungsgesetze: Intentionen, Ziele, Normen Staatliche Perzeption von Wanderungsbewegungen, Begründung und Intentionen staatlicher Migrationspolitik wie auch der Umgang mit Migration lassen sich für die frühneuzeitlichen Territorialstaaten insbesondere an den Normsetzungen beziehungsweise der Ordnungs- und Policeygesetzgebung ablesen.14 Die obrigkeitliche Gesetzgebung bildete ein wichtiges Element der Migrationspolitik und des allgemeinen ›Migrationsdiskurses‹, welche sich darüber hinaus in Zeitschriften und anderen publizistischen Erzeugnissen, wissenschaftlichen Texten (der Kameralistik und Policeywissenschaft) sowie den Kommunikationen der diversen Verwaltungsorgane untereinander und mit der Bevölkerung (zum Beispiel in Berichten, Anweisungen, Gutachten, Bittschriften, Kriminalakten, Fahndungs- beziehungsweise Diebslisten usw.) entfalteten.15 Die föderale und komplexe Struktur des Reichssystems bedingte, dass sich zwischen 1648 und 1806 weder auf der Ebene der Territorien noch gar des Reiches eine konsistente, einheitliche, reichsweite Migrationssteuerung entwickelte. Aber trotz territorialer und politischer Zersplitterung, divergierender Interessen, ›Territorialegoismus‹ und Konkurrenz weisen die Normen/Gesetze, Maßnahmen und Instrumente in den Grundzügen übereinstimmende Merkmale und Strukturen auf (die sich im Übrigen auch in anderen europäischen Ländern finden). Neben den gemeinsamen Migrationsproblemen trugen auch der allgemeine Migrationsdiskurs, die Kommunikationen der Obrigkeiten untereinander || 14 Achim Landwehr, Norm, Normalität, Anomale. Zur Konstitution von Mehrheit und Minderheit in württembergischen Policeyordnungen der Frühen Neuzeit: Juden, Zigeuner, Bettler, Vaganten, in: Mark Häberlein/Martin Zürn (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001, S. 41–74; Karl Härter, Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft: Reglementierung – Diskriminierung – Verrechtlichung, in: Beier-de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland, S. 50–71. 15 Vgl. exemplarisch: Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, 7 Teile, 2. Aufl. Hannover 1802–1809, hier Teil 2, S. 47–60, 260–287; Teil 3, S. 191–197, 492–507; Teil 4, S. 604–691, 710–731.

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und das Dach des Reichsverbandes zu einer gewissen Homogenisierung von Normen und Maßnahmen bei. Blickt man auf die zeitliche Entwicklung der Ordnungsgesetzgebung exemplarisch ausgewählter elf Territorien und zweier Reichsstädte, zeigt sich bei den Migrationsvorgänge betreffenden Regelungsbereichen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine deutliche Intensivierung, wobei sich die Normierungsintensität bei einzelnen Migrationsformen durchaus wandelte, wie Schaubild 1 zeigt.16

Schaubild 1: Ordnungsgesetze/Policeynormen nach Migrationsformen in 11 Territorien und 2 Reichsstädten 1650–1806 (n = 3.543)

|| 16 Grundlage der quantitativen Auswertung der Regelungsmaterien: Karl Härter/Michael Stolleis (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bde. 1–8, Frankfurt a.M. 1996–2007 (danach werden im Folgenden Policeygesetze nur noch in Kurzform mit Angabe des Territoriums, der Nr., der Form und des Datums zitiert); es handelt sich um die Territorien (mit ›Nebenterritorien‹): Kurmainz, Kurköln, Kurtrier, Brandenburg-Preußen, Kleve-Mark, Kurpfalz, Bayern, PfalzZweibrücken, Jülich-Berg, Baden und Württemberg sowie die Reichsstädte Frankfurt a.M. und Köln. Einzelnachweise können im Folgenden aufgrund der großen Zahl der ausgewerteten Gesetze lediglich bei wörtlichen Zitaten gegeben werden.

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An allgemeinen Tendenzen kann festgehalten werden, dass die Normen zur Einwanderung (Gesamtanteil 10 Prozent) eine relative Konstanz aufweisen, proportional aber nach dem Dreißigjährigen Krieg und dann zwischen 1710 und 1719 eine etwas größere Rolle spielen, was auf eine in diesem Zeitraum wachsende Aufmerksamkeit der Obrigkeit im Rahmen der Peuplierungspolitik schließen lässt. Deutlich zeichnet sich ebenfalls die zunehmende Bedeutung der Auswanderungsthematik (Gesamtanteil 17 Prozent) seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts ab, wobei sowohl die Verbote als auch die bedingte Ermöglichung im Rahmen biterritorialer Verträge eine Rolle spielen. Die jeweils höchste Normierungsintensität bis etwa 1780 weist der Bereich der Vaganten, Bettler und sonstiger verdächtiger und ›illegal‹ Umherziehender auf (Gesamtanteil 37 Prozent), mit der höchsten Intensität zwischen 1700 und 1740. Die Arbeitsmigration von Handwerkern, Gesinde und Wanderhändlern (Gesamtanteil 22 Prozent) gewinnt ebenfalls seit Beginn des 18. Jahrhunderts einen höheren Stellenwert in der obrigkeitlichen Migrationsgesetzgebung, wobei die höchste Normierungsdichte in den 1750er und 1760er Jahren erreicht wird, was auch mit den wirtschaftspolitischen Reformen des ›aufgeklärten Absolutismus‹ zusammenhängt, die zwar auf eine Erleichterung der Arbeitsmigration zielten, jedoch gleichzeitig die Kontrollmaßnahmen ausbauten. Schließlich unterstreicht die Zunahme der Normierungsintensität in den 1790er Jahren den Einfluss der Französischen Revolution, die eine Zunahme von Wanderungsbewegungen bewirkte. Quantitativ überwiegen nun Regelungen zum Aufenthalt Fremder (Gesamtanteil 14 Prozent) beziehungsweise der französischen Emigranten. Die bedingte Abnahme in den Jahren 1800–1806 (nach 1806 sind keine Daten erfasst) deutet dann auf einen stärkeren Wandel nicht nur der Migrationsgesetzgebung, sondern überhaupt der staatlichen Strukturen und Verwaltungen der Territorien des Reiches, die bekanntlich nach 1800 mit grundlegenden Reformen begannen und 1806 volle Souveränität erlangten. Sowohl bezüglich der Normen als auch der Maßnahmen etablierten die Territorialstaaten mittels Ordnungs- und Policeygesetzgebung die wesentlichen Instrumente der Migrationssteuerung. Reichsrecht und Reichsgesetzgebung gaben insgesamt nur wenige reichsweite Grundsatznormen vor; hinzu kamen weitere gemeinund partikularrechtliche Normen, die sich mit der Rechtsstellung von Fremden, Leibeigenen und Bürgern oder dem Geleitsrecht beschäftigten.17 Für die leibeigenen Untertanen galt die lehens- beziehungsweise gemeinrechtlich verankerte ›Schollenpflicht‹ und das daraus abgeleitete Abzugsverbot. Ein ›Recht auf Migration oder Mobilität‹ existierte nicht, und die Aus- wie Einwanderung aus einem Territorium

|| 17 Karl Härter, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: Ius Commune, 20. 1993, S. 61–141, hier S. 102–116; Karl Härter, Fremde, Fremdenrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1791–1798.

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oder dem Reich war Einzelnen nur mit besonderer Approbation der Obrigkeit gestattet.18 Im Rahmen des Bürgerrechts war es Bürgern zwar möglich, nach dessen Niederlegung auszuwandern. Dies war jedoch ebenfalls von der Zustimmung des jeweiligen Stadtherrn oder Magistrats abhängig und der Abzug wurde mit einer Abgabe belegt. Die Wiederansiedlung in einer anderen Stadt bedurfte zudem der erneuten Erteilung des Bürgerrechts oder eines Beisassenstatus‘ durch die jeweilige Obrigkeit, die wiederum zahlreiche Bedingungen vorgab, wie ein ausreichendes Vermögen, die ›richtige‹ Konfession, ein zünftiges oder ›nützliches‹ Handwerk/Gewerbe und die Zahlung eines Aufnahme- beziehungsweise Bürgergeldes. Fremde blieben meist von den Bürgerrechten ausgeschlossen, und bestenfalls wurde ihnen zeitlich begrenzt Aufenthalt oder eine Ansiedlung mit dem minderen Rechtsstatus eines Beisassen gewährt.19 Zwar wurden Wanderungsbewegungen bestimmter Gruppen (Adlige, Geistliche/Pilger, Kaufleute, Studenten) privilegiert, aber lediglich für emigrationswillige, konfessionsverschiedene Untertanen hatte der Augsburger Religionsfriede (1555, 1648 bestätigt durch den Westfälischen Frieden) ein Auswanderungsrecht gewährt, das freilich weder kostenlos zu haben war noch ein subjektives Recht auf Einwanderung sicherte.20 Auch im Fall der unter kaiserlichem Schutz stehenden Juden waren Migration, Aufenthalt und Ansiedlung nur im Rahmen des Judenregals möglich, das einzelne Reichsstände inne hatten, die mittels Judenordnungen und Schutzbriefen restriktive Bedingungen (Verbot Grunderwerb, Einschränkung der Erwerbstätigkeit, zeitliche Begrenzung des Aufenthalts, Schutzgelder) festschrieben.21 || 18 Rudolf Möhlenbruch, ›Freier Zug, jus emigrandi, Auswanderungsfreiheit‹. Eine verfassungsgeschichtliche Studie, Bonn 1977; Ulrich Scheuner, Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: Festschrift Richard Thoma zum 75. Geburtstag am 19. Dezember 1949, Tübingen 1950, S. 199–224; Klaus Gerteis, Auswanderungsfreiheit und Freizügigkeit in ihrem Verhältnis zur Agrarverfassung. Deutschland, England, Frankreich im Vergleich, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 162–182; ders., Auswanderungsfreiheit und Freizügigkeit in Deutschland. Das 18. und 19. Jahrhundert im Vergleich, in: ders. (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 330–344. 19 Vgl. exemplarisch Anne E. Dünzelmann, Vom Gaste, den Joden und den Fremden. Zur Ethnographie von Immigration, Rezeption und Exkludierung Fremder am Beispiel der Stadt Bremen vom Mittelalter bis 1848, Münster 2001. 20 Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, S. 118–123, 216–218; Karl Härter, Religion, Frieden und Sicherheit als Gegenstand guter Ordnung und Policey: Zu den Aus- und Nachwirkungen des Augsburger Religionsfriedens und des Reichsabschieds von 1555 in der reichsständischen Policeygesetzgebung, in: Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/Nicola Schümann (Hg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung, Augsburg 2005, S. 143–164. 21 Vgl. zusammenfassend J. Friedrich Battenberg, Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriß, in: Rolf Kießling u.a. (Hg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte

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Im 18. Jahrhundert erließ Kaiser Joseph II. auf Wunsch der Reichsstände ein Mandat, das generell die Auswanderung aus dem Reich sowie entsprechende Werbungen untersagte und unter Strafe stellte.22 Es basierte auf Beschlüssen und Mandaten der aktiven ›vorderen‹ Reichskreise, die im 18. Jahrhundert eine – mehr oder weniger – intensive überterritoriale Migrationspolitik betrieben, die primär auf das Problem umherziehender mobiler Randgruppen und Unterschichten (Bettler, Vaganten, Diebsbanden) fokussierte und sich in zahlreichen, überterritoriale Geltung besitzenden Ordnungsgesetzen niederschlug.23 Auch diese Normen stützen sich teilweise auf entsprechende Bestimmungen der Reichspoliceyordnungen des 16. Jahrhunderts, die bereits einige wenige rudimentäre Normen hinsichtlich vagierender Armer/Bettler und der Zigeuner im Besonderen vorgegeben hatten. Die Reichskreise organisierten seit Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls einzelne Maßnahmen zur Kontrolle und Unterbindung der Wanderungsbewegungen von Randgruppen und Unterschichten (Bettlern und Vaganten). Die mit der Migrationskontrolle und Festnahme von Vaganten befassten paramilitärischen Polizeiorgane wie die Kreis- und Landleutnants oder die Generalstreifen konnten jedoch aufgrund ihrer begrenzten Zahl und des ›Territorialegoismus‹ eine lediglich geringe Wirksamkeit entfalten.24 Schließlich reglementierten Reichskreise und Reichsgesetzgebung noch die Handwerkermigration beziehungsweise Gesellenwanderung in wenigen grundlegenden Normen, die in der Reichshandwerksordnung von 1731 zusammen-

|| im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007, S. 207–216; ders., Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 53–79; Karl Härter, Jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich: Rechtliche Rahmenbedingungen, Geleit und Rechtsnutzung, in: Stefan Ehrenpreis/Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hg.), Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte, München 2013, S. 67–92. 22 Deutsches Reich 247, Patent, 7.7.1768; vgl. auch Möhlenbruch, Freier Zug, S. 108. 23 Karl Härter, Die Reichskreise als transterritoriale Ordnungs- und Rechtsräume: Ordnungsnormen, Sicherheitspolitik und Strafverfolgung, in: Wolfgang Wüst/Michael Müller (Hg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn, Frankfurt a.M. 2011, S. 211–249. 24 Wolfgang Wüst, Grenzüberschreitende Landesfriedenspolitik im Schwäbischen Kreis: Maßnahmen gegen Bettler, Gauner und Vaganten, in: ders. (Hg.), Reichskreis und Territorium, die Herrschaft über die Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Stuttgart 2000, S. 153–178; Karl Härter, Der Kreisleutnant des Oberrheinischen Reichskreises. Entwicklung, Praxis und Scheitern eines supraterritorialen paramilitärischen Polizeiorgans im 18. Jahrhundert, in: André Holenstein/Frank Konersmann/Josef Pauser/Gerhard Sälter (Hg.), Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002, S. 267–288; Gerhard Fritz, Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches, Ostfildern 2004.

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gefasst wurden, die insbesondere die Handwerkskundschaften standardisierte und formalisierte.25 Destilliert man aus Ordnungsgesetzgebung und Rechtsnormen der einzelnen Territorien und Obrigkeiten des Alten Reiches Perzeption von und zentrale Intentionen im Umgang mit Migration, lässt sich zunächst festhalten, dass zahlreiche Wanderungsformen und migrierende Gruppen als ›verdächtig‹, ›unerwünscht‹ oder gar gefährlich eingestuft, reglementiert, verboten oder mit Strafen bedroht wurden. Wesentliche Ziele der territorialen Migrationspolitik und Migrationssteuerung, die sich in konkreten Maßnahmen niederschlugen, waren: – die Verhinderung unerwünschter Wanderungsbewegungen von Vaganten, Bettlern und sonstigen ›unerwünschten‹ Wandernden aus Nachbarterritorien und gegebenenfalls deren Ausweisung oder Bestrafung; – die Exklusion devianter, ›unnützer‹ Untertanen mittels Ausweisung; – die Verhinderung der Abwanderung ›nützlicher‹ Untertanen und seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts auch die Unterbindung von Auswanderung aus dem Reichsgebiet; – ein kontrollierter, begrenzter Zuzug und die Ansiedlung konfessionell und wirtschaftlich erwünschter Migranten, die eventuell gezielt geworben wurden und Ansiedlungsprivilegien (wie die Glaubensflüchtlinge) erhielten oder aufgrund gegenseitiger vertraglicher Vereinbarungen mit anderen Reichsständen mirgrieren durften; – die Privilegierung (und fiskalische Abschöpfung) spezifischer ›nützlicher‹ Migrationsformen sowie der Reisen von ›Standespersonen‹ (Adel und höhere Geistlichkeit), Bürgern/Kaufleuten oder anderer notwendiger Formen der Arbeitsmigration mittels Geleit, Konzessionen oder Privileg. Die eigenen ›nützlichen‹, arbeitsfähigen und abgabepflichtigen Untertanen wollten die jeweiligen Landesherren und Obrigkeiten nicht an ein konkurrierendes Nachbarterritorium verlieren. Wer heimlich auswanderte oder auch nur zeitweilig das Territorium ohne zwingenden Grund beziehungsweise Erlaubnis verließ, um woanders einer Tätigkeit nachzugehen, machte sich strafbar: Auswanderungsverbote galten sowohl für das Nachbarterritorium als auch die Auswanderung aus dem Reich. Besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts bildeten Bevölkerungsknappheit und eine ›Peuplierungspolitik‹, die aus Bevölkerungswachstum staatlichen Machtzuwachs folgerte, zentrale Motive der Verhinderung von Auswanderung und der Förderung der Einwanderung neuer, ›nützlicher‹ Untertanen. Dabei spielten Kriterien wie Arbeitsfähigkeit, besondere handwerkliche Fertigkeiten, Tauglichkeit für den Militär- beziehungsweise Miliz|| 25 Kristina Winzen, Handwerk – Städte – Reich: Die städtische Kurie des Immerwährenden Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung, Stuttgart 2002.

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dienst, ausreichendes Vermögen, die Konfession, sozialer Status/Ehre (keine ›vorbestraften‹ Kriminellen, herrenlose Menschen ohne Untertanenstatus, Angehörige von Randgruppen/Minderheiten), Alter (keine Jugendlichen oder alte Menschen), Familienstand (bevorzugt wurden verheiratete oder eine Eheschließung beabsichtigende Migranten) und auch das Geschlecht (möglichst militärdienstfähige Männer oder Familien) eine wesentliche Rolle. Um diese Form erwünschter Migration zu fördern, gingen einige Territorien zu einer aktiven Werbungspolitik über und beauftragten Werber mit der Anwerbung aus- beziehungsweise einwanderungswilliger Menschen. Dies führte wiederum zu Gegenmaßnahmen betroffener Reichsstände, die mit Ordnungsgesetzen und Strafen gegen illegale Werbung und Auswanderung vorgingen. Auch aus diesem Grund schlossen zahlreiche Reichsstände untereinander Freizügigkeitsverträge, die es den Untertanen gestatteten, in die Territorien der Vertragspartner auszuwandern. Diese den Untertanen häufig per Gesetz publizierten Verträge beinhalteten meist auf Gegenseitigkeit beruhende Aus- beziehungsweise Einwanderungserleichterungen, insbesondere ein Erlass oder Nachlass von Abgaben.26 Umgekehrt tolerierten die meisten Territorien die Auswanderung ›unnützer Müßiggänger‹ – worunter auch arbeitsunfähige und verarmte Menschen fielen – oder wiesen verurteilte Verbrecher und Angehörige von Randgruppen, Minderheiten oder Unterschichten aus. Mit einer dauerhaften Wohnsitzänderung einhergehende Aus- und Einwanderung wurde folglich nur in Ausnahmefällen unter spezifischen Bedingungen mittels Freizügigkeitsverträgen, Privilegierung oder im Rahmen des Bürgerrechts gestattet, wobei in der Regel biterritoriale Vereinbarungen zwischen den betreffenden Obrigkeiten vorhanden sein mussten. Diese nahmen erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts, bedingt auch durch Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit und ›Nahrungsmangel‹ zu, und insbesondere die südwest- und mitteldeutschen Territorien lockerten ihre restriktive Auswanderungspolitik. Während viele katholische Territorien eine begrenzte Auswanderung ins kaiserlich-habsburgische Ungarn gestatteten, blieb die Auswanderung nach Russland und nach Übersee beziehungsweise Amerika weitgehend untersagt oder wurde in einem nur eng begrenzten Rahmen zugelassen. Insgesamt sind zwischen 1648 und 1806 wohl nicht mehr als 200.000 Menschen aus dem Reich ausgewandert; die intra- und interregionale Migration hatte dagegen einen deutlich größeren Umfang, der allerdings (schon aufgrund der großen Zahl mehr oder weniger dauerhaft Vagierender) nicht einmal zuverlässig geschätzt werden kann.27

|| 26 Vgl. Franz Joseph Bodmann, Äußeres oder nachbarliches Territorialverhältniß des Abzugs- und Nachsteuerrechts in Deutschland überhaupt und im Erzstifte Mainz insbesondere, Mainz 1795, besonders S. 6–9 und mit zahlreichen Beispielen. 27 Zusammenfassend: Norbert Wenning, Migration in Deutschland. Ein Überblick, Münster 1996, S. 50.

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Hinsichtlich der gestatteten oder gar geförderten Aus- und Einwanderung zwischen Territorien des Reiches kam es im 18. Jahrhundert vermehrt zwischen benachbarten oder verbündeten Reichsständen zu Freizügigkeitsverträgen, die gezielte Auswanderungswerbung und eine dauerhafte Aus- beziehungsweise Einwanderung in begrenztem Maße zuließen und häufig als Ordnungsgesetze publiziert wurden. Dafür waren neben religiös-konfessionellen Motiven vorwiegend fiskalisch-ökonomische Gründe ausschlaggebend. Aus- und Einwanderer mussten gebührenpflichtige Auswanderungskonzessionen erwerben, zahlreiche Bedingungen erfüllen und insbesondere Freikaufgeld, Abzugsgeld, Nachsteuer und Aufnahmegelder an ihre alten und neuen Landesherren oder auch den Grundherrn zahlen. Überwachung des Immobilienverkaufs und des Vermögenstransfers ins Ausland bildeten folglich wichtige Maßnahmen, um Emigranten zu entdecken oder die fiskalischen Ansprüche der Obrigkeit zu sichern. Wer ohne Erlaubnis illegal auswanderte, musste mit Vermögenskonfiskationen, Rückkehrverbot und einer Strafe rechnen, und illegale Werber wurden ebenfalls mit hohen Strafen bedroht. Die von der Aufklärung wie den Kameral-, Policey- und Staatswissenschaften mehrheitlich geforderte Liberalisierung der Ein- und Auswanderung realisierten die Obrigkeiten nur sehr begrenzt in dem durch Privilegien, Konzessionen und fiskalische Abschöpfung vorgegebenen Rahmen. Unterbindung von Migration und territoriale Abschließung prägten auch die Migrationspolitik gegenüber Menschen, die als Arme oder Bettler, herrenlose Vaganten, Angehörige mobiler Randgruppen oder allgemein als ›unnütz‹, deviant, gefährlich oder kriminell eingeschätzt wurden. Bereits im 16. Jahrhundert schrieb die Ordnungs- und Policeygesetzgebung des Reiches Grundsatznormen fest, die zwischen einheimischen und fremden sowie zwischen würdigen (›wirkliche Not leidenden‹) und unwürdigen (›arbeitsfähigen‹) Armen (im weitesten Sinne) unterschieden. Mit dem Augsburger Religionsfrieden kamen noch die Konfession und die Ausschließung von ›Sekten‹ als wichtiges Kriterium hinzu. Anspruch auf Fürsorge sollten nur einheimische würdige Arme genießen, fremde und/oder unwürdige oder konfessionsverschiedene jedoch davon ausgeschlossen werden. Wanderung und die zugehörigen sozialen Praktiken, zu denen auch das Betteln gehörte, wurden mit ›Müßiggang‹, betrügerischem ›Erschleichen‹ von Fürsorge und deviantem Verhalten gleichgesetzt und die Politik einer territorialen Abschließung gegen Vagierende beziehungsweise Migrierende verstärkt. Hintergrund waren als krisenhaft wahrgenommene Entwicklungen wie Bevölkerungswachstum, Seuchen, Kriege, Ressourcenknappheit, Hungerkatastrophen, Preisanstiege und die Konfessionskonflikte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg nahmen diese Abschließungsbestrebungen noch zu, da die Politik der Landesherren sich auf das abgeschlossene souveräne Territorium mit einem disziplinierten, konfessionell homogenen Untertanenverband ausrichtete, während gleichzeitig die Zahl der umherziehenden ›herrenlosen‹ Men-

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schen zunahm, die als Gefährdung der merkantilistisch orientierten Wirtschaft und der öffentlichen Sicherheit wahrgenommen und eingestuft wurden.28 Migration wurde folglich verstärkt unter den Gesichtspunkten territorialer (innerer) Sicherheit und (merkantilistischer) Ökonomie wahrgenommen, wobei durchaus Ambivalenzen und Zielkonflikte auftraten. Aus kameralistisch-merkantilistischer Perspektive war die Zuwanderung von qualifizierten Einwanderern ebenso wie eine flexible Arbeitsmigration erwünscht, um die Manufakturen mit genügend Arbeitskräften zu versorgen und deren Absatz zum Beispiel durch Wanderhandel und Hausierer zu sichern, Neustädte gründen zu können, Gewerbe außerhalb der alten Zunftschranken zu fördern oder auch die Versorgung der Landbevölkerung zu gewährleisten. Im Kontext der Aufklärung erfuhr das Reisen als eine Bildung und auch wirtschaftliche Aktivitäten fördernde Unternehmung zunehmende Wertschätzung. Umgekehrt bedeutete die verstärkte ökonomische Einschätzung von Wanderungsbewegungen aber auch, dass Almosengeben, Betteln und Vagieren nicht nur territoriale Ressourcen verbrauchen und die Wirtschaft schädigen, sondern auch die Untertanen zu einem müßiggängerischen Leben ›verführen‹ und damit die Leistungsbereitschaft beeinträchtigen würden. Da Vagierende pauschal als deviant galten, war es nach Auffassung der Obrigkeit nur ein kleiner Schritt von Betteln und Subsistenzdiebstahl zu Betrug, Diebstahl, Raub und Bandenbildung. Allerdings fehlte es an Kriterien und Definitionen, um die Vielzahl der Menschen auf der Straße nach obrigkeitlichen Vorstellungen kontrollieren und legitime von illegitimen oder zumindest unerwünschten Wanderungsbewegungen unterscheiden zu können.

2.2 Differenzierung, Kategorisierung, Etikettierung und Kriminalisierung von Migrationsvorgängen und migrierenden Gruppen Nach dem Dreißigjährigen Krieg wird in der Ordnungsgesetzgebung der Territorien des Alten Reiches eine deutliche Tendenz erkennbar, Migrationsformen und migrierende Gruppen immer feiner und präziser zu identifizieren und normativ zu kategorisieren, um zwischen illegitimen Wanderungsformen beziehungsweise ›kriminellen Vaganten‹, erwünschten oder gar förderungswürdigen Wanderungsbewegungen

|| 28 Karl Otto Scherner, Das Recht der Armen und Bettler im Ancien Régime, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 96. 1979, S. 55–99; Wolfgang Wüst, Bettler und Vaganten als Herausforderung für die Staatsräson im Hochstift und in der Reichsstadt Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte, 21. 1987, S. 240–279; Ernst Schubert, Mobilität ohne Chance. Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Schulze (Hg.), Gesellschaft und soziale Mobilität, S. 113–164; Karl Härter, Recht und Armut: Normative Grundlagen und Instrumentarien der Armenpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Christoph Kühberger/Clemens Sedmak (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Wien 2005, S. 91–125.

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und den sonstigen ›harmlosen‹, meist aber als verdächtig eingeschätzten Umherziehenden unterscheiden und jeweils differenzierte Maßnahmen umsetzen zu können. Bezüglich der gestatteten Wanderungsbewegungen führte dies dazu, dass für die jeweiligen Formen und Gruppen spezifische Gesetze erlassen wurden, die Identifikationsmerkmale (Heimatort, Untertanen- beziehungsweise Bürgerstatus, Zunftzugehörigkeit, Profession/Wanderungsgründe) enthielten, Bedingungen und Regeln für das Wandern, den Aufenthalt und eine ambulante Tätigkeit festschrieben und ein rudimentäres allgemeines Kontrollinstrumentarium – meist Reisedokumente, Pässe, Konzessionen – festlegten. Spezielle Normen entstanden so in den meisten Territorien für wandernde Handwerker/Gesellen, Gesinde und Dienstboten, Händler, Kaufleute und Hausierer, Glas-, Asche- und Lumpensammler, ›Unterhaltungskünstler‹/Schausteller sowie sonstige ambulante Gewerbe (zum Beispiel Kesselflicker, Korbmacher, Handwerkschirurgen, Söldner usw.), Geistliche beziehungsweise aus religiösen Gründen Wandernde (Bettelmönche, Prediger, Wallfahrer), sonstige Reisende (Adelige, Studenten) sowie ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch für die erlaubten Formen der Auswanderung. Einen gemeinsamen Zug bildeten das Verbot des Bettelns, die zeitlichen Befristungen von Durchzug, Aufenthalt oder Tätigkeit, die Meldepflicht und das Gebot, Dokumente mit sich zu führen, welche die Wanderungsbewegungen legitimierten und eine Identifikation ermöglichten. Exemplarisch für das Ausmaß und die Differenziertheit, die normative Kategorisierung und Klassifizierung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erreichten, ist eine Kurmainzer Verordnung von 1801, die 22 »Klassen von Personen« beschrieb, die »der Polizeiaufsicht besonders unterworfen« waren und für die spezifische Merkmale, Maßnahmen und Sanktionen festgesetzt wurden. Die Unterscheidungskriterien blieben jedoch weitgehend amorph: Neben sozialen und ethnisch-religiösen Merkmalen (Zigeuner und Juden, »Standespersonen«) waren dies ambulante Gewerbe oder Tätigkeiten sowie Herkunftsort und Reisedokumente (Pässe). Als potenziell kriminell und gefährlich galten fremde »Wilddiebe«, »Zigeuner«, »Betteljuden« und die »fremden umherziehenden Bettler«. Unter der Voraussetzung legitimierender Dokumente stufte die Verordnung alle anderen Gruppen als harmlos und teilweise als nützlich ein, darunter Wandergewerbe und Wanderhandel, Pilger, kollektierende Geistliche, verarmte Edelleute, verabschiedete, angebliche Offiziere und Bedienstete und die »fremden vacirenden« Handwerksburschen.29 Die Ordnungsgesetzgebung der Territorien weist daneben aber auch eine pauschalisierende, kriminalisierende Tendenz auf und schrieb Umherziehen beziehungsweise ›Vagabondage‹ als strafbares Delikt fest. So wie bereits Ein- und Auswanderung ohne obrigkeitliche Zustimmung grundsätzlich verboten waren, stellten die Territorien nun auch das nicht genehmigte Umherziehen unter Strafe, das mit Subsistenzkriminalität, Eigentums- und sonstigen schweren Delikten in Verbindung || 29 Mainz 2698, Verordnung, 4.12.1801; dazu Härter, Policey und Strafjustiz, S. 953f.

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gebracht wurde. Als Merkmale unerwünschter, verdächtiger oder illegitimer Migrationsformen beziehungsweise ›krimineller Vaganten‹ nannten die meisten Ordnungsgesetze: einen fehlenden Untertanenstatus (›Herrenlosigkeit‹) und nicht nachweisbare Heimatorte (›auf der Straße geboren‹), fehlende Reisedokumente, Pässe und sonstige, die Wanderung legitimierende obrigkeitliche Dokumente, eine generelle mobile Lebensweise, die nicht nur der Ausübung eines bestimmten Berufes oder Dienstes diente, fehlende ›Berufe‹ beziehungsweise Genehmigungen für ambulante Tätigkeiten, das Betteln, die Bildung ›größerer‹ Gruppen (als ›Bande‹ galten bereits zwei und mehr erwachsene Männer), auffällige Kleidung, Bewaffnung und sonstige mitgeführte verdächtige Werkzeuge, Widerstand oder Flucht bei Kontrollen, Nähe/Beziehungen zum soldatischen Milieu sowie eine ›kriminelle‹ Vergangenheit und eventuell zum Zeitpunkt der Kontrolle begangene, nicht aufgeklärte Delikte. Dabei kristallisierte sich in den Policeynormen zunehmend die Kategorie des ›Jauner- und Diebsgesindels‹ heraus, das nicht nur mit der für Vaganten wohl typischen Klein- und Subsistenzkriminalität, sondern mit schweren Delikten wie Raub, Brandstiftung/Branddrohung und Raubmord in enge Verbindung gebracht wurde. Zeitweise fungierten Zigeuner und Juden gleichsam als Konkretisierung des Etiketts des ›kriminellen Vaganten‹, weil ihnen Merkmale wie Gruppenidentität und Gruppenbildung, Bewaffnung, ›Geheimsprache‹ oder äußere Erscheinung (dunkles Gesicht) zugeschrieben werden konnten.30 Insgesamt sollte die im frühneuzeitlichen Ordnungsdiskurs entwickelte und in der Policeygesetzgebung normativ fixierte Differenzierung und Kategorisierung von Migrationsvorgängen beziehungsweise wandernden Gruppen nicht unterschätzt werden: Sie war zwar teilweise widersprüchlich, wenig konsistent und bildete die soziale Realität des Wanderns nicht oder nur unter spezifischen Gesichtspunkten ab – aber sie ermöglichte den Territorien eine utilitaristischen Zielen folgende flexible Migrationspolitik sowie eine flexible Etikettierung und gegebenenfalls auch Kriminalisierung unerwünschter Migrationsvorgänge. Und die negative Stereotypisierung Migrierender als deviante ›arbeitsscheue‹ Müßiggänger, die den Sesshaften Lohn und Brot nehmen, sich von Almosen und Betteln ernähren und Eigentumsdelikte begehen würden, sollte gesellschaftliche Attitüden im Umgang mit dem Phänomen Migration auch langfristig prägen.31

|| 30 Thomas Fricke, Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand süddeutscher Quellen, Pfaffenweiler 1996; Karl Härter, Kriminalisierung, Verfolgung und Überlebenspraxis der Zigeuner im frühneuzeitlichen Mitteleuropa, in: Yaron Matras/Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart, Berlin 2003, S. 41–81; Fritz, Rotte. 31 Schubert, Fahrendes Volk, S. 360–371; Karl Härter, Prekäre Lebenswelten vagierender Randgruppen im frühneuzeitlichen Alten Reich. Überlebenspraktiken, obrigkeitliche Sicherheitspolitik und strafrechtliche Verfolgung, in: Ammerer/Fritz (Hg.), Gesellschaft der Nichtsesshaften, S. 21–38.

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3 Maßnahmen und Instrumentarium Unter der generellen Vorgabe einer differenzierenden Kategorisierung und Kontrolle geduldeter und gestatteter Migrationen einerseits und der pauschalen, auf Exklusion abstellenden Kriminalisierung aller unerwünschten Wanderungsbewegungen insbesondere von Randgruppen und Unterschichten andererseits etablierte der frühneuzeitliche Territorialstaat ein differenziertes Instrumentarium der Migrationskontrolle und -steuerung.32 In der alltäglichen Praxis konnten die ambivalenten, teilweise widersprüchlichen normativen Ziele der vormodernen Migrationspolitik allerdings häufig nur unzureichend umgesetzt werden, und die konkreten Maßnahmen entfalteten unter den Bedingungen frühmoderner Staatlichkeit und vielfältiger, kaum überschaubarer Wanderungsbewegungen eine lediglich begrenzte Wirkung. Nach den Maßstäben moderner staatlicher Verwaltung erscheinen sie als wenig koordiniert und ›ineffektiv‹: Fehlten doch häufig ein geschlossenes Territorium mit überschaubaren Grenzen, eine koordinierte Zusammenarbeit mit den Nachbarterritorien, standardisierte Identifikationsmöglichkeiten, professionelle staatliche Exekutiv- und Verwaltungsorgane und nicht zuletzt die finanziellen Mittel. Der frühneuzeitliche Territorialstaat blieb zudem vielfach auf die Mitarbeit und Dienste der Bevölkerung und intermediärer Gewalten angewiesen, um Ordnungsgesetze und Maßnahmen umzusetzen, und konnte unter den gegebenen Voraussetzungen Maßnahmen und Institutionen zur Migrationssteuerung nur tentativ experimentierend entwickeln. Langfristig führte dies allerdings durchaus zur Etablierung eines Instrumentariums, das in seinen Grundzügen Migrationssteuerung und Migrationspolitik bis ins 20. Jahrhundert prägte. Systematisch können die folgenden Maßnahmen und Instrumente unterschieden werden, die freilich in der Praxis eher selten koordiniert und stringent umgesetzt wurden: – Verhinderung der Einreise unerwünschter Migrierender durch Grenzkontrollen sowie präventive und abschreckende Maßnahmen; – Kontrolle des Territoriums bzw. Raumes mittels Streifen und Visitationen; – Überwachung von möglichen Aufenthaltsorten (Gaststätten), Meldepflicht, Belohnung und sonstige auf die aktive Mitwirkung der ansässigen Bevölkerung zielende Maßnahmen;

|| 32 Soweit nicht anders angegeben stützt sich das Folgende auf: Härter, Policey und Strafjustiz, S. 1000–1072; sowie meine Fallstudie für Hessen: Karl Härter, Arbeit, Armut, Ausgrenzung: Rechtliche Reglementierung von Wanderungsbewegungen und Migrationspolitik im hessischen Raum zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Bd. 43: Zuwandern, Einleben, Erinnern. Beiträge zur historischen Migrationsforschung. Referate des 7. Forums für hessische Landesgeschichte am 22.9.2007 in Hanau-Steinheim, hg.v.d. Hessischen Vereinigung für Volkskunde durch Siegfried Becker und Joana M. C. Nunes Pires Tavares, Marburg 2009, S. 28–55.

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– – – –



Genehmigungsverfahren, Freizügigkeitsverträge, Privilegien, Geleitserteilung, Zertifizierung und Konzessionierung legitimer/erwünschter Wanderungsbewegungen und ambulanter Tätigkeiten; Identifikation mittels Reisedokumenten und Pässen und Ausbau des Passwesens; Fahndung nach sowie Erfassung und Kennzeichnung von devianten/kriminellen Migranten insbesondere mittels Steckbriefen und Diebslisten; Ausbau der inter- beziehungsweise überterritorialen Zusammenarbeit; Strafen und sonstige Sanktionen gegen illegal Wandernde bzw. Auswandernde, Vaganten, Rückkehrer oder Werber, die auf Exklusion und Abschreckung zielten; darunter Vertreibung und Ausschließung mittels Zwang, Gewalt, Ausweisung/Landesverweis, Zerstörung von Familien- und Gruppenverbänden, Konfiskation des Besitzes und der organisierte ›Schub‹; fiskalische Abschöpfung und indirekte Steuerung geduldeter/erwünschter Wanderungsbewegungen mittels Geleit, Zöllen, Steuern, Nachsteuer, Abzugsgeld, Manumissionsgebühren und sonstiger Abgaben sowie Privilegierung und Förderung von Ein- und Auswanderung mittels spezifischer Privilegien oder Freizügigkeitsverträgen.

Blickt man zunächst auf die Entwicklung der betreffenden Ordnungsgesetze, die für die einzelnen Maßnahmen die normativen Grundlagen und zahlreiche Ausführungsbestimmungen festschrieben, so zeigt sich neben einer deutlichen Intensivierung seit Mitte des 17. Jahrhunderts, dass zumindest für die Entwicklung von Streifen, Passwesen und Grenzkontrollen der Kontext der Vagantenmigration prägend war und sich die Normierungsintensität nahezu parallel entwickelte. Die starke Intensivierung der Maßnahmen ab etwa 1707 ist auch auf die Furcht vor der Verbreitung der Pest und eine verstärkte interterritoriale Zusammenarbeit insbesondere im Rahmen der Reichskreise zurückzuführen. Die Entwicklung der Normierungsdichte zeigt weiterhin, dass Pässe und vor allem Streifen eine größere Rolle als die Grenzkontrolle spielten, die Streifen allerdings gegen Ende des 18. Jahrhunderts zurückgingen und das Passwesen bei abnehmender Vagantengesetzgebung im Verhältnis eine größere Bedeutung gewann, wie im Folgenden näher ausgeführt wird.

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180 Streifen Grenzkontrolle Paßwesen

160

Fahrende Leute 140

120

35

100

80 22

44 40

60

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16

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7 0 7

10 5 2

8

8

8

6

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18

18

8 10 2 3

4 0 4

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33

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7 24

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16

31 23

28

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3

1600 1610 1620 1630 1640 1650 1660 1670 1680 1690 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 1800

Schaubild 2: Policeynormen zu Streifen, Passwesen und Grenzkontrollen in 11 Territorien und 2 Reichsstädten 1600–1806

3.1 Grenzkontrolle und Abschreckung Die meisten Territorien verfolgten zunächst das Ziel, unerwünschte und verdächtige Vagierende und Fremde ›abzuhalten‹, also Einreise und Durchzug durch abschreckende Maßnahmen und Kontrollen zu verhindern, oder diese möglichst sofort aufzugreifen und unmittelbar aus dem Territorium abzuschieben. Meist fehlte es allerdings an Personal, um Einreiseverbote und Grenzkontrollen als präventive Maßnahmen wirksam durchzuführen und die Identitäten von Wandernden festzustellen. Professionelle beziehungsweise als solche benannte ›Grenzbeamte‹ wurden zwar seit Beginn des 18. Jahrhunderts von einigen Territorien eingesetzt, doch handelte es sich bei diesen häufig um Amtsträger, die noch andere Exekutivaufgaben als Wächter, Zoll- oder Geleitsbeamte zu erledigen hatten.33 In der Regel wurden aus

|| 33 Vgl. z.B. Braunschweig-Lünebeurg, Instruktion, 18.10.1680 (Instructio, Wornach sich die unter denen Stadt-Thoren/wie auch an den Pässen bestellte Schreiber und übrige Wächter/bey herannahender Pest-Gefahr/der ankommenden Persohnen und Güter halber/bey Vermeidung Leibes- und

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Untertanen gebildete Streifen oder exekutive Sicherheitsorgane wie Zollreiter, Landreiter, Husaren oder Landjäger mit der Überwachung der Grenzen beziehungsweise der Grenzregionen betraut, die diese aber nur sporadisch durchführen konnten. Lediglich die ummauerten Städte konnten an den Stadttoren eine dauerhafte Einreisekontrolle durchführen, wobei auch hier meist Bürger als Wächter eingesetzt wurden und ›professionelle‹ Sicherheitsorgane oder das Militär eher selten und nur in den größeren Städten die Überwachung der Stadttore beziehungsweise der diese passierenden Menschen übernahmen. Eine effektive Überwachung der Landesgrenzen war folglich mangels professionellen Personals und aufgrund der territorialen Zersplitterung nahezu unmöglich.34 Mit der Etablierung paramilitärischer Polizeiorgane (Landleutnant, Husaren, Jäger), die bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen Ausformungen in nahezu jedem größeren Territorium Streifen, Straßen- und Grenzkontrollen durchführten, verstärkten sich Überwachungsdichte und repressive Abschreckung.35 Um eine Einreise oder auch Rückkehr unerwünschter Migrierender, ›krimineller‹ Vaganten oder illegaler Werber zu verhindern, drohten zahlreiche Territorien mit abschreckenden Maßnahmen wie Prügel, Beschlagnahme von Besitz und Pässen, Zerstörung des Familien- und Gruppenverbandes durch Ausweisung Einzelner über unterschiedliche Grenzen zu verschiedenen Zeiten, Brandmarkung und sogar die standrechtliche Tötung des ›Zigeuner-, Jauner- und Diebsgesindel‹. Meist blieb es allerdings bei Ausweisung, Prügel und Beschlagnahme. Mit gedruckten Verordnungen konnte man gerade Vagierende kaum erreichen und schon gar nicht abschrecken. Aus diesem Grund platzierten viele mittel- und südwestdeutsche Territorien an den Grenzen beziehungsweise dortigen Straßen und Ortseingängen ›Zigeuner- und Vagabundenstöcke‹ mit Warntafeln aus Blech, auf die Abbildungen von Strafen (Galgen, Prügel) mit der Aufschrift »Strafe der Diebe, Zigeuner und Landstreicher« gemalt waren.36 Ihre Wirkung ist sicher zweifelhaft, doch korrespondierte die symbolische Darstellung durchaus mit dem insgesamt repressiven und gewaltsamen Umgang der Amtsträger und paramilitärischen Polizeiorgane mit verdächtigen und illegitimen Migrierenden. Falls diese bei Kontrollen in Grenzregionen gefasst wurden und sich beziehungsweise die Wanderungsbewegung nicht legitimieren konnten, griffen ›Grenzbeamte‹, Polizeiorgane, Amtsträger und Streifen zu

|| Lebens-Straffe/zu verhalten); Mainz 592, Verordnung, 28.2.1727. Einen Überblick über die Ordnungskräfte, die meist auch die Grenzen kontrollieren sollten, bieten die Beiträge in Holenstein/ Konersmann/Pauser/Sälter (Hg.), Policey in lokalen Räumen. 34 Vgl. z.B. Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner, S. 285. 35 Peter Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe, 1700–1814, Münster/New York 1990; Holenstein/Konersmann/Pauser/Sälter (Hg.), Policey in lokalen Räumen. 36 Abbildung: Beier-de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland, S. 197; zahlreiche Nachweise in Härter/Stolleis (Hg.), Repertorium, Bde. 1–8.

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Leibesvisitationen, Prügel, verhörten zum Teil unter Anwendung von Foltermethoden (Husaren führten Daumenschrauben mit sich), schossen auf Fliehende und trieben Vagantengruppen über die Grenze zurück; davon konnten auch umherziehende Handwerker, Dienstboten oder Händler betroffen sein, falls sie sich nicht ausreichend legitimieren konnten. Allerdings erwiesen sich auch diese Maßnahmen als begrenzt: Ausgewiesene wurden im nächsten Territorium erneut vertrieben oder kehrten zu einem späteren Zeitpunkt und an einer anderen Stelle zurück. Abschreckung, Vertreibung und Ausweisung und der dabei praktizierte ›Territorialegoismus‹ gerieten daher im 18. Jahrhundert zunehmend in die öffentliche (und teilweise auch verwaltungsinterne) Kritik und wurden als letztlich wirkungslos erkannt, aber schon aufgrund finanzieller Erwägungen weiterhin praktiziert.37

3.2 Streifen und Visitationen Da Grenzen kaum abgeschottet werden konnten, erlangten Patrouillen (in den Städten) und Streifen (auf dem Land) wesentliche Bedeutung für die Migrationskontrolle, um Wanderungsbewegungen, mobile Gruppen und allgemein Räume zu observieren und deviante beziehungsweise verdächtige Wandernde aufzuspüren und festzunehmen.38 Streifen und Patrouillen wurden zunächst im Bedarfsfall organisiert, um zum Beispiel flüchtige Verbrecher zu verfolgen, entwickelten sich aber im 18. Jahrhundert zu einer periodischen, organisierten Überwachung von (Land-) Straßen und ›verdächtigen‹ Orten. Dabei wurden auch Visitationen von Gebäuden (vor allem Gasthäuser) vorgenommen, in denen die Obrigkeit verdächtige Vaganten, Bettler und sonstige ›Verbrecher‹ vermutete. Streifen und Patrouillen wurden noch im 17. Jahrhundert auf der Grundlage der Landfolgepflicht überwiegend von bewaffneten Untertanen und Bürgern unter der Leitung von Amtspersonen durchgeführt (›Untertanenstreifen‹), entwickelten sich aber im 18. Jahrhundert zu einer mehr oder weniger organisierten Sicherheitsmaßnahme, zu der reguläres Militär und die diversen paramilitärischen Sicherheitsorgane mit hinzugezogen wurden. Auch die weiterhin teilnehmende Bevölkerung (das heißt die militärfähigen Männer) wurde meist in Form von Milizen (Landmiliz) und Mannschaften organisiert sowie ein Streifenplan mit Mannschaften, zu kontrollierenden Räumen, Wegen und

|| 37 Vgl. Gerd Schwerhoff, Vertreibung als Strafe. Der Stadt- und Landesverweis im Ancien Régime, in: Sylvia Hahn/Andrea Komlosy/Ilse Reiter (Hg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa: 16.–20. Jahrhundert, Innsbruck 2006, S. 48-72; Helga Schnabel-Schüle, Die Strafe des Landesverweises in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Gestrich/Gerhard Hirschfeld/Holger Sonnabend (Hg.), Ausweisung und Deportation. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 73–82. 38 Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner, S. 313–330; Fritz, Rotte, S. 501–557; Ammerer, Heimat Straße, S. 201–209; Härter, Reichskreise als transterritoriale Ordnungs- und Rechtsräume.

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Uhrzeiten festgelegt. Im Rahmen der Reichskreise oder der interterritorialen Zusammenarbeit kam es auch zu koordinierten Generalstreifen, bei denen mehrere Territorien beziehungsweise Obrigkeiten große Teile ihrer Länder durch ein Großaufgebot an Mannschaften durchstreifen ließen. Permanente organisierte und koordinierte Durchführung, paramilitärische Organisation sowie Militarisierung und Professionalisierung der Streifenorganisation markieren folglich wesentliche Entwicklungstendenzen auch im Hinblick auf die Migrationskontrolle. Denn zentrales Ziel der Streifen blieb das Aufspüren verdächtiger und illegaler Migrierender, insbesondere von ›kriminellen Vaganten‹, Deserteuren, illegalen Auswanderern oder umherziehenden ›Räuber- und Diebsbanden‹. Tatsächlich ergriffen solche Streifen eine Vielzahl aus den unterschiedlichsten Gründen wandernder Menschen, darunter häufig Familien und Kleingruppen, die auf Arbeitsuche waren und sich durch ambulante Tätigkeiten oder Betteln ernährten. Häufig konnten weder Wanderungsgründe noch Identitäten der Betreffenden genau überprüft und diese den normativ vergebenen Kategorien (mit den entsprechenden Konsequenzen) nicht zugeordnet werden. Gleichwohl erlangten Steckbriefe, Fahndungslisten, mitgeführte Reisedokumente und Pässe bei Kontrollen durch Streifen im 18. Jahrhundert eine zunehmende Bedeutung. Darüber hinaus konnten auch die Größe einer Gruppe, die mitgeführte Habe und sonstige verdächtige Umstände zur Einstufung ›legal reisend‹ (mit der Konsequenz der Fortsetzung der Reise), ›unerwünscht, aber harmlos‹ (meist zur mit weiteren repressiven Maßnahmen verbundenen Ausweisung führend) oder ›verdächtig/kriminell‹ (mit der Konsequenz der Festnahme und gegebenenfalls Durchführung eines Strafverfahrens) führen. Widersetzten sich Vagierende einer Kontrolle oder flohen, hatten die Streifen das Recht, mit Waffengewalt vorzugehen. Neben der Frage der Identifikation und Einstufung war das Streifenwesen mit grundsätzlichen, aus der Struktur der vormodernen ständischen Gesellschaft und der territorialen Zersplitterung resultierenden Problemen belastet, die eine effektive Migrationskontrolle erschwerten: Die aufgrund feudaler Dienstpflichten zum Streifendienst verpflichteten Untertanen versahen diesen ungern oder wollten ihn umgehen, da er sie an der Ausübung ihrer sonstigen Tätigkeiten hinderte und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Umherziehenden führen konnte. Eine völlige Professionalisierung durch Ausbau und Heranziehung staatlicher Polizeiorgane scheiterte jedoch an der meist prekären Finanzlage der Territorien und dem Widerstand der Landstände, intermediären Gewalten und Untertanen, die nicht zur Finanzierung beitragen wollten. Zudem mussten die Streifen Rücksicht auf die Herrschafts- und Hoheitsrechte von Adel und Kirche nehmen und konnten ohne Erlaubnis oder Absprache weder ein adeliges Gut visitieren noch die Grenze zu einer Nachbarherrschaft übertreten, um zum Beispiel Verdächtige zu verfolgen. Die ›Nacheile‹ über Grenzen hinweg galt als ›violatio territorii‹ und konnte erhebliche Konflikte nach sich ziehen. Territorial übergreifend konzertierte Streifaktionen waren zeit- und verwaltungsintensiv und scheiterten häufig an den Eigeninteressen

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der Territorien, die unerwünschte Vaganten möglichst ins Nachbarterritorium abschieben wollten. Als langfristige Tendenz kann dennoch festgehalten werden, dass sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts Professionalisierung des Streifenwesens und Zusammenarbeit der Territorien verstärkten und zu einer ›effektiveren‹ Kontrolle von Migrationsvorgängen führten.39

3.3 Durchreise, Aufenthaltsgenehmigungen, Meldepflicht Neben Streifen und Visitationen sollten weitere, häufig auf die Mitwirkung der Bevölkerung aufbauende Maßnahmen innerhalb eines Territoriums die Kontrolle von Wanderungsbewegungen und das Aufspüren illegaler Migrierender gewährleisten.40 Die meisten Territorien gestatteten auch berechtigten Reisenden nur einen zeitlich und örtlich begrenzten Aufenthalt beziehungsweise die Durchreise. Hierzu hatten sie an der Grenze oder den entsprechenden ›Grenzstädten‹ Durchreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen (Geleitsbriefe, Geleitsscheine, Taschenbriefe) zu erwerben; neben dem allgemeinen Geleit für Kaufleute und Reisende gab es spezifische Geleitsformen wie das Messegeleit, das sichere Geleit für verfolgte Straftäter (salvus conductus) oder das sogenannte Judengeleit. Das Geleit war meist mit einer Abgabe beziehungsweise einem ›Zoll‹ oder dem Geleitsentgeld verbunden und baute auf eine ältere Tradition der fiskalischen Abschöpfung von Handel und Reisen auf.41 Auch die teils ausgedehnten und lang dauernden Wanderungsbewegungen und Aufenthalte von Handwerkern und Dienstboten wurden durch spezifische Legitimationen – Handwerkskundschaften, Gesindebriefe oder Zeugnisse – gestattet und kontrolliert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Durchreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen stärker formalisiert und enthielten zusätzliche Angaben zu Wanderungsgründen, Aufenthaltsdauer und Zielorten, um die Kontrolle zu erleichtern. Zusätzlich untersagten die meisten Landesherren ihren Untertanen die Beherbergung ›Fremder‹ ohne obrigkeitliche Genehmigung und forderten die Meldung aller Fremden und gegebenenfalls auch die Anzeige verdächtiger Personen. Strafen drohten insbesondere bei Verstößen gegen Melde- und Anzeigepflicht und bei Um-

|| 39 So das Ergebnis der Fallstudie: Härter, Policey und Strafjustiz, S. 1111–1122; die Wirkung dagegen kritischer beurteilend: Fritz, Rotte, S. 624–635; Ammerer, Heimat Straße, S. 201–209. 40 Zu dieser in der Forschung hinsichtlich der Verhältnisses von Einheimischen zu Wandernden umstrittenen Thematik: Ammerer, Heimat Straße, S. 476–495; Härter, Policey und Strafjustiz, S. 1031–1046; zahlreiche Nachweise entsprechender gesetzlicher Regelungen finden sich in: Härter/ Stolleis (Hg.), Repertorium, Bde. 1–8. 41 Vgl. beispielhaft Gebhard Weig, Das Jus conducendi der Bischöfe zu Würzburg. Eine Studie zur Rechtsstruktur, politischen Funktion und Organisation des Geleitsrechtes im Hochstift Würzburg während des 15. und 16. Jahrhunderts, Würzburg 1970; Härter, Jüdische Migrationen, S. 81–84.

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gang, Beherbergung oder Zusammenarbeit mit beziehungsweise von herrenlosen Vaganten, Bettlern und sonstigen illegal Migrierenden. Herbergen, Gasthäuser und teilweise auch ›Privatleute‹, falls diesen überhaupt die Beherbergung von Fremden gestattet war, mussten die Legitimationen von Fremden prüfen und einen ›Nacht-‹ beziehungsweise ›Übernachtungszettel‹ ausfüllen, der den zuständigen Amtsträgern vorzulegen war, die wiederum eine Erlaubnis erteilten. Meldezettel und Meldepflicht waren in den meisten Territorien zunächst für die konzessionierten Gasthäuser eingeführt und dann allgemein ausgedehnt worden. Sie galten ebenfalls für die Zünfte, die in der Zunftherberge oder auf der Gesellenstube logierende Handwerker erfassen und melden mussten. Die Meldungen wurden ebenso wie Durchreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen von den zuständigen lokalen Verwaltungsorganen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Listen erfasst und diese gelegentlich auch an die nächst höhere Verwaltungsbehörde oder gar die jeweilige Landesregierung weitergeleitet. Viele Territorien und Städte hatten allerdings auch Schwierigkeiten bei der Umsetzung, weil sich Wirte und Privatleute der Meldepflicht entzogen oder häufig nicht eindeutig geregelt war, wer übernachten durfte, gemeldet werden sollte und wer melden musste: waren doch Adel, Geistlichkeit, ›vornehme‹ Bürger oder Kaufleute häufig ausgenommen, während Bettlern und Vaganten gar kein Aufenthalt gestattet war, sodass sie nicht regulär gemeldet, sondern angezeigt werden sollten. Das sogenannte ›Meldewesen‹ entwickelte sich jedoch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einer durchaus funktionierenden allgemein angewandten Kontrollmaßnahme, zumal Visitationen, Strafen und Lizenzentzug insbesondere die Gastwirte zur Mitarbeit bewogen. Das formalisierte Verfahren der Meldepflicht kann als Modernisierungsschritt gelten, der zusammen mit weiteren Instrumenten der Konzessionierung, Zertifizierung und Identifikation von Wanderungsbewegungen beziehungsweise Wandernden eine wichtige Grundlage für eine in der Praxis realisierbare Aufenthalts- und Migrationskontrolle legte, auch wenn bis 1806 kaum ein Territorium spezifische Meldebehörden einrichtete.

3.4 Förderung, Konzessionierung und Zertifizierung Über Meldepflicht und allgemeine Reisegenehmigungen hinaus entwickelte der frühmoderne Staat weitere spezifische Verwaltungsmaßnahmen der Förderung, Konzessionierung, und Zertifizierung erlaubter Wanderungsbewegungen, die der Legitimierung und Identifizierung dienten und auch auf traditionelle Mittel zurückgriffen. Hierzu zählen – wie erwähnt – Bürgerrecht, Privilegien und Freizügigkeitsverträge, die Einwanderung und Ansiedlung ermöglichten, sowie die Handwerkskundschaften der wandernden Handwerksgesellen, Gesindebriefe und -zeugnisse, Bettelbriefe und Bettelerlaubnisse für ›würdige‹ Arme, Taschenbriefe, Geleitsscheine oder Geleitszeichen, mit denen sich wandernde Juden ausweisen mussten, oder Geleitsbriefe für Kaufleute. Die Aufzählung macht bereits deutlich, dass solche spe-

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ziellen Reisedokumente nicht allein von der Obrigkeit oder einer staatlichen Stelle, sondern auch von anderen – meist intermediären Gewalten – ausgestellt wurden. Die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser spezifische Wanderungsbewegungen räumlich und zeitlich legitimierenden Dokumente, die mit der Vielfalt der Wanderungsgründe und mobilen Menschen korrespondierte, erschwerten allerdings eine zentrale staatliche Kontrolle und Steuerung im Hinblick auf erwünschte beziehungsweise unerwünschte Wanderungsbewegungen. Die Territorialstaaten versuchten folglich im 18. Jahrhundert, entweder die Ausstellung solcher Legitimationen staatlichen Stellen vorzubehalten oder doch zumindest eine Kontrolle und Formalisierung durchzusetzen und Wanderungsbewegungen mittels ›Zöllen‹, ›Steuern‹ und sonstigen Abgaben fiskalisch abzuschöpfen, was zusätzlich einen indirekten Steuerungseffekt produzierte. Dabei lassen sich zwei Bereiche unterscheiden: a) die Ein- und Auswanderung; b) unterschiedliche Formen der Arbeitsmigration beziehungsweise ambulanter Gewerbe. a) Wie erwähnt schlossen viele Territorien im 18. Jahrhundert untereinander Freizügigkeitsverträge ab und gestatteten unter bestimmten Bedingungen auch die Auswanderung nach Ungarn oder nach Übersee. In einem formalisierten bürokratischen Verfahren mussten Auswanderungswillige Anträge stellen, Auswanderungsgrund und Ziel angeben und ihre sozialen, rechtlichen und finanziellen Verhältnisse beziehungsweise Verbindlichkeiten darlegen. Der Antragstellung folgte meist eine Nachfrage bei den zuständigen Lokalbehörden, die das Gesuch und die Angaben beurteilten. Wesentlich für die Erteilung einer Auswanderungsgenehmigung war die Zahlung der Gebühren: Nachsteuer, Abzugsgeld, Abschoss, Freigeld und Manumissionsgebühren wurden für die Entlassung aus der Leibeigenschaft und den mit der Auswanderung verbundenen ›Abgang‹ von Hab und Gut (inklusive möglicher Erbschaften) erhoben, um den Landes- und gegebenenfalls auch Grundherrn für das Ausscheiden aus dem Untertanenverband und die damit verbundenen ›Verluste‹ an Menschen, Einkünften und Vermögen zu entschädigen.42 Dabei entstand ein charakteristischer Zielkonflikt: Einerseits mussten die Auswanderungswilligen über genügend Vermögen verfügen, um die Gebühren zahlen zu können, andererseits wollte die Obrigkeit möglichst Arme und nicht Vermögende ziehen lassen. Das gerade aufgrund der fiskalischen Interessen formalisierte, bürokratische Verfahren entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in vielen Territorien zu einer umfangreichen administrativen Erfassung der Auswanderung, bei der durch die jeweiligen Lokalverwaltungen Auswanderungswünsche, Personendaten, Berufe, Vermögensverhältnisse, Zielorte usw. formalisiert erfasst und an die Zentralbehörden (wie Landesregierung, Hofrat, Geheimer Rat, Kanzlei, Hofkammer) ge|| 42 Bodmann, Territorialverhältniß des Abzugs- und Nachsteuerrechts; Möhlenbruch, Freier Zug; Scheuner, Auswanderungsfreiheit, S. 204–211; Gerteis, Auswanderungsfreiheit.

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meldet wurden, sodass allmählich (Aus-)Wanderungsstatistiken auf mehr oder weniger zuverlässiger Datengrundlage entstanden. Parallel hierzu setzten sich ebenfalls standardisierte Ausreisedokumente (Abzugsbriefe) durch, die relativ einheitliche Angaben enthielten, die auch von den Durch- und Einreiseländern – beispielsweise durch Rückfrage bei und ›Datenabgleich‹ mit dem Auswanderungsland – kontrolliert werden konnten. Auch die ›Einwanderungsterritorien‹ erteilten häufig in Form von Privilegien Einwanderungsgenehmigungen und erhoben Gebühren und Abgaben wie Bürgeraufnahmegelder.43 Die Steuerung der Ein- und Auswanderung wurde folglich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verrechtlicht und professionalisiert, was allerdings weder zur Schaffung spezifischer professioneller Behörden noch gar zu allgemeiner rechtlich gewährter Freizügigkeit führte. Gemessen an der Vielzahl der Territorien und der Wanderungsbewegungen im Alten Reich blieb die Zahl der legitimen, lediglich auf Einzelfallgenehmigungen und Privilegien beruhenden Aus- und Einwanderungen sowohl zwischen Obrigkeiten des Reiches als auch in Länder außerhalb des Reichsverbandes vergleichsweise gering.44 b) Eine ähnliche Entwicklung der Professionalisierung und Verstaatlichung lässt sich auch im Bereich der (legitimen) Arbeitsmigration beobachten. Zahlreiche Ordnungsgesetze (Handwerks-, Zunft-, Gesindeordnungen) reglementierten im 18. Jahrhundert zunehmend die Wanderungsbewegungen von Handwerkern, Gesinde und Dienstboten, schrieben Dienst- und Aufenthaltsdauer, erlaubte Reiserouten, maximale Dauer des Wanderungsvorgangs und weitere zeitliche Regelungen vor und regelten Genehmigungsverfahren, Ausstellung und Form der mitzuführenden Dokumente (Handwerkskundschaften, Gesindebriefe, Entlassungsscheine). Gesindezeugnisse sollten zum Beispiel persönliche Daten (Name, Geburtsort, Alter, Familienstand) und Arbeitsbeurteilung, aber auch charakteristische Angaben zum Äußeren (Größe, Statur, Haarfarbe, besondere Kennzeichen) und zu Stellenwechsel und Wanderung enthalten, die über das Arbeitszeugnis hinaus Identifikation, Kontrolle des Wanderungsverhaltens und || 43 Vgl. z.B. für die Hugenotten: Barbara Dölemeyer, Die Aufnahmeprivilegien für Hugenotten im europäischen Refuge, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 303–328; Harald Schätz, Die Aufnahmeprivilegien für Waldenser und Hugenotten im Herzogtum Württemberg. Eine rechtsgeschichtliche Studie zum deutschen Refuge, Stuttgart 2010; und als Fallstudie zu Hessen: Härter, Arbeit, Armut, Ausgrenzung, S. 36–40. 44 Vgl. exemplarisch die Fallstudien: Wolfgang von Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984; Mark Häberlein, Vom Oberrhein zum Susquehanna. Studien zur badischen Auswanderung nach Pennsylvania im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993; Andreas Brinck, Die deutsche Auswanderungswelle in die britischen Kolonien Nordamerikas um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1993; Georg Fertig, Lokales Leben, atlantische Welt. Die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach Nordamerika im 18. Jahrhundert, Osnabrück 2000.

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Sanktionierung des ›Auslaufens‹ (Verlassen des Dienstherrn und illegitime Wanderung) ermöglichen sollten. Auf der Basis der ländlichen Termine verordnete beispielsweise Bayern eine Kündigungsfrist von sechs bis acht Wochen, die Beurkundung des Wechsels mit Datumsangabe in einem obrigkeitlichen ›Pass‹, einen ungesäumten Wechsel, eine maximale Wanderungsdauer von vier Tagen und drohte mit Zuchthausstrafen.45 In den Städten waren die ›Ziehtage‹ nur auf ein bis zwei Tage begrenzt, größere Territorien gewährten dagegen acht bis 14 Tage für Wanderung und Stellenwechsel, setzten aber wie zum Beispiel Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert amtliche Gesindevermittler ein, welche die Führung der Gesindezeugnisse, das Wanderungsverhalten und auch das Gesinde während der ›Ziehtage‹ in speziellen Gesindeherbergen beaufsichtigen sollten. Kennzeichnend ist insgesamt die Tendenz zu formalisierten, einheitlichen Dokumenten, deren Ausstellung durch obrigkeitlich-staatliche Behörden erfolgen oder doch zumindest durch diese kontrolliert werden sollte. Diesbezüglich brachte im Bereich des Handwerks die Reichshandwerksordnung von 1731 eine deutliche Vereinheitlichung, da sie für die Handwerkswanderung nicht nur das Mitführen beglaubigter Abschriften der Geburts- und Lehrbriefe, sondern auch spezieller gedruckter Atteste nach einem vorgegebenen Formular anordnete, das Angaben zu Name, Geburtsort, Alter, Statur, Haaren, Aufenthaltsort, Aufenthalts-/Arbeitsdauer und dem allgemeinen Verhalten enthielt. Diese formalisierten einheitlichen Atteste beziehungsweise Handwerkerpässe lösten die formlosen handschriftlichen Kundschaften ab und waren – in Verbindung mit einer Meldepflicht – bei jedem Aufenthalt vorzulegen. Sie erlaubten lokalen Amtsträgern, Behörden und Polizeiorganen zusätzliche Einträge (zum Beispiel mittels Stempel), um die Gesellenwanderung räumlich und zeitlich zertifizieren und damit auch kontrollieren zu können. Allerdings blieben Ausstellung, Meldung und Kontrolle weitgehend in den Händen der Zünfte, sodass eine staatliche Steuerung der Arbeitsmigration erst nach 1806 durch die Wander- und Arbeitsbücher realisiert wurde, deren Kontrolle in der Regel staatlichen beziehungsweise kommunalen Behörden zukam.46

|| 45 Bayern 650, Landes- und Policeyordnung, 28.9.1616; Bayern 963, Ehehaltenordnung, 15.11.1654; Bayern 1212, Mandat, 4.6.1682; Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinderecht vornehmlich im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, hier besonders S. 35f.; Renate Dürr, Die Migration von Mägden in der Frühen Neuzeit, in: Marita Krauss/Holger Sonnabend (Hg.), Frauen und Migration, Stuttgart 2001, S. 117–132, hier besonders S. 121–126. 46 Reichs-Gutachten. Wegen der Handwercks-Mißbräuche. Anno 1731, mit Beilage: Handwerksordnung 4.9.1731, in: Johann Jakob Schmauss/Heinrich Christian Senckenberg (Hg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede […], Teil I–IV, Frankfurt a.M. 1747, Teil IV, S. 376– 385; Winzen, Handwerk – Städte – Reich; Klaus J. Bade, Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey: Gesellenwanderungen zwischen Zunftökonomie und Gewerbereform, in: ders., Sozialhisto-

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Auch für Wanderhandel und Wandergewerbe lassen sich solche Entwicklungen beobachten.47 Briefe ›bürgender‹ Kaufleute und obrigkeitliche Geleitsbriefe wurden im 18. Jahrhundert zunehmend durch staatliche Konzessionen und Zertifikate ersetzt oder zumindest ergänzt. Hintergrund war insbesondere das Ziel, den Wanderhandel und das Wandergewerbe zu kontrollieren, die häufig pauschal verdächtigt wurden, als Camouflage für ›kriminelle Vaganten‹ und ›Diebsbanden‹ zu dienen oder diese zumindest zu unterstützen. Andererseits galten Wanderhandel und Wandergewerbe auch als ›nützlich‹, um Waren aus staatlichen Manufakturen zu vertreiben und deren Rohstoffversorgung sowie die Versorgung der Landbevölkerung zu sichern. Die große Bandbreite der erwünschten, geduldeten oder verdächtigen gewerbetreibenden Fahrenden verursachte allerdings erhebliche Klassifizierungs- und Kontrollprobleme. Im 18. Jahrhundert schrieben zahlreiche Territorien vor, dass alle ausländischen/fremden Händler und Gewerbetreibenden und teilweise auch die eigenen Untertanen in einem mehr oder weniger formalisierten Verfahren standardisierte Konzessionen, Zertifikate, Patente, Lizenzen oder sonstige staatliche Genehmigungen beantragen und erwerben (und auch bezahlen) mussten, die ihnen eine meist zeitlich und räumlich begrenzte ambulante Tätigkeit und entsprechende Wanderungsbewegungen in dem jeweiligen Territorium gestatteten. Die formalisierten Konzessionen durften nur von staatlichen Stellen erteilt werden und hatten meist den Charakter von Pässen, da sie auch Angaben zur Person enthielten und eine Identifikation ermöglichen sollten. Da die erteilten Konzessionen beziehungsweise die entsprechenden Daten zentral gesammelt und die betreffenden lokalen Amtsträger informiert wurden, ermöglichte diese Verfahrensweise eine Kontrolle und rudimentäre Steuerung des Wanderhandels und der ambulanten Gewerbe: Je nach Einschätzung der wirtschaftlichen Nützlichkeit und des ›Sicherheitsrisikos‹ konnten im Einzelfall Genehmigungen erteilt werden, die zudem den Vorzug boten, dass sie einen fiskalischen Zusatznutzen brachten. Umgekehrt galten alle Wandergewerbe und Wanderhändler, die keine Konzession erwarben oder überprüfbare obrigkeitliche Genehmigungen vorweisen konnten, zumindest als verdächtig, wurden ausgewiesen oder bei weiteren Verdachtsmomenten auch verfolgt und bestraft. Zumindest erwähnt werden soll hier noch, dass einige, insbesondere katholische Territorien im 18. Jahrhundert auch zeitweise weitere, geduldete

|| rische Migrationsforschung, S. 49–87, hier S. 83–85; Wilfried Reininghaus, Wanderungen von Handwerkern zwischen hohem Mittelalter und Industrialisierung. Ein Versuch zur Analyse der Einflußfaktoren, in: Jaritz/Müller (Hg.), Migration in der Feudalgesellschaft, S. 179–215, hier S. 188f.; Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2005. 47 Wilfried Reininghaus, Wanderhandel in Deutschland. Ein Überblick über Geschichte, Erscheinungsformen und Forschungsprobleme, in: ders. (Hg.), Wanderhandel in Europa, Dortmund 1993, S. 31–45; Laurence Fontaine, History of Pedlars in Europe, Cambridge 1996; Ammerer, Heimat Straße, S. 384–397.

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und häufig mit Almosen beziehungsweise Betteln verbundene Wanderungsbewegungen von Bettelmönchen, Pilgern, Wallfahrern, würdigen Armen oder Juden einer staatlichen Konzessionierungs- und Zertifizierungspflicht unterwarfen und damit im begrenzten Rahmen gestatteten. Grundsätzlich wurden jedoch Armut und Betteln nicht als legitime Gründe für Wanderungsbewegungen anerkannt und allen Gruppen, die zwecks Ausübung einer Arbeitstätigkeit wanderten, das Betteln verboten. Solche Verbote konnten zwar nur bedingt umgesetzt werden, im Einzelfall aber durchaus Strafen und Ausweisungen nach sich ziehen. Auch wenn die beschriebenen Entwicklungen bis 1806 keineswegs zu einer einheitlichen, konsistenten, und vor allem nicht zu einer effektiven bürokratischen Kontrolle führten, so kann doch im 18. Jahrhundert für die meisten Territorien der Übergang zur staatlichen Steuerung von Arbeitsmigration mittels Konzessionierung und Zertifizierung ausgemacht werden. Damit wurden intermediären Gewalten (Zünften, Grundherren) Zuständigkeiten im Bereich der Arbeitsmigration allmählich – bis 1806 jedoch kaum vollständig – entzogen und auf den Staat verlagert, der nicht zuletzt für die Ausstellung der entsprechenden Dokumente Gebühren und Abgaben erhob und damit zunehmend eine fiskalische Abschöpfung und indirekte Steuerung der jeweiligen Wanderungsvorgänge etablierte.

3.5 Reisedokumente, Passwesen und Identifikation Ein Kernproblem der Migrationssteuerung bildete die möglichst präzise Unterscheidung zwischen illegitimen und legitimen Wanderungen beziehungsweise wandernden Gruppen, die durch die Vielfalt der Wanderungsbewegungen und der für die Ausstellung von Reisedokumenten und die Kontrolle zuständigen Amtsträger und intermediären Gewalten erschwert wurde. Bereits ein Reichsgesetz von 1551 hatte als erste allgemeine reichsweite Passbestimmung angeordnet, dass die meist von lokalen Obrigkeiten und Adeligen ausgestellten ›Paßporten‹ der Zigeuner zu konfiszieren seien und künftig nicht mehr ausgestellt werden dürften.48 Es folgten zwar einige wenige territoriale Gesetze, die meist im Kontext der Kontrolle von Zigeunern, Vaganten und umherziehenden Söldnern sowie der Seuchenprävention Passbestimmungen enthielten, aber erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts setzte in den Territorialstaaten des Reiches wie in nahezu allen europäischen Ländern die allmähliche Ausformung eines staatlichen Passwesens ein, das die Zertifizierung, Identifikation und Registrierung migrierender/reisender Menschen mittels eines formalisierten standardisierten Dokumentes allein dem Staat vorbehielt, der damit auch die staatliche Erfassung der sesshaften einheimischen Bevölkerung verband und Fremde/

|| 48 Deutsches Reich, Reichsabschied, 14.2.1551, § 82.

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Ausländer wie Untertanen/›Staatsangehörige‹ definierte.49 Im Passwesen fließen allerdings unterschiedliche, teilweise bis ins späte Mittelalter zurückreichende historische Entwicklungen zusammen: die ›Reisedokumente‹ und Empfehlungsbriefe, die beispielsweise Pilger und Händler mit sich führten und von intermediären Gewalten ausgestellt wurden, die Geleitsbriefe, die gegen Entgelt obrigkeitlichen Schutz und Begleitung bei der Durchreise zusicherten, die Kundschaften der Handwerker, die obrigkeitliche Erfassung und Registrierung grundlegender ›Sozialdaten‹ der Untertanen in Listen und Statistiken und schließlich die Steckbriefe und Fahndungslisten, in denen vorwiegend kriminelle Vagierende erfasst wurden.50 Zwischen 1648 und 1806 prägte die Unterscheidung, Identifikation, Registrierung und Verfolgung illegitimer Wanderungen beziehungsweise ›krimineller‹ Vaganten wesentlich die Entwicklung von Identifikations- und Ausweistechniken als einem wichtigen allgemeinen Instrument der Migrationskontrolle, das schließlich auch die ganze Gesellschaft als Maßnahme sozialer Kontrolle erfassen sollte: »Der Paß ist die Urkunde, wodurch jeder Fremde gleich an der Grenze seine Verdachtlosigkeit, und im Innern aller Orten seinen gesetzmäßigen Eingang bescheinigen soll. Eine solche Urkunde muß zuverlässig sein, also eine genaue Beschreibung ihres Inhabers und seine eigenhändige Unterschrift enthalten. Sie muß an jedem Ort, wo der Fremde verweilt, untersucht, vidirt und registrirt werden«, formulierte Günther Heinrich von Berg am Ende des 18. Jahrhunderts die Prinzipien des Passwesens.51 Gesetzliche Bestimmungen zu Ausstellung und Form der Pässe sowie Passkontrollen beim Grenzübertritt oder durch Polizeiorgane und Streifen finden sich insbesondere in Ordnungsgesetzen, die sich mit Vaganten, Bettlern, Deserteuren und anderen als verdächtig oder kriminell eingeschätzten Umherziehenden beschäftigten. In diesem Kontext entwickelte sich ein Fahndungs- und Identifikationsinstru-

|| 49 »Pässe unterschieden sich – außer durch ihre relativ einheitliche Form – vor allem dadurch von rein privaten Empfehlungsschreiben, daß sie von Personen oder Institutionen ausgegeben wurden, die eine offizielle Funktion besaßen […]; den Mitgliedern sozialer Randgruppen konnten Pässe als Beleg dafür dienen, daß sie aus legitimen Gründen unterwegs waren«, so Andreas Fahrmeir, Paßwesen und Staatsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 271. 2000, S. 57–91, hier S. 61. Vgl. weiterhin grundsätzlich Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789–1870 New York/Oxford 2000; Hannelore Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft, in: Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien 2000, S. 3–172; John Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000; Jane Caplan/John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity: The Development of State Practices in the Modern World. Princeton, NJ 2001. 50 Zur Vorgeschichte des Passwesens: Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004. 51 Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Teil 4, S. 633, hier zitierend Niemann, in: Blätter für Policey und Cultur, 1801, VII, S. 56.

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ment, das auf dem bereits im späten Mittelalter gebrauchten Steckbrief fußte und auch die Entwicklung des Passwesens stark beeinflusste: die sogenannten ›Gaunerund Diebslisten‹. Sie enthielten nicht nur Personenbeschreibungen gesuchter Verbrecher, sondern ausführliche Angaben zu umherziehenden Menschen und dienten der obrigkeitlichen Sammlung und Verbreitung von Informationen über das ›Vagantenmilieu‹, der Identifikation einzelner, verdächtiger Umherziehender und damit der Durchsetzung der auf die Verhinderung und Kontrolle illegitimer Wanderungsbewegungen zielenden Ordnungsgesetze. Solche Listen wurden im 18. Jahrhundert gedruckt und innerhalb eines Territoriums sowie in Nachbarterritorien verbreitet, und zwar bevorzugt in Grenzregionen. Sie enthielten zwecks Identifikation detaillierte Personenbeschreibungen einzelner ›Gauner und Vagabunden‹ und Informationen zum vagantischen Milieu, mit (variierenden) Angaben zu Name und Aliasname, Personenstand (verheiratet, Kinder), Alter, Gesichtszügen, Länge und Farbe der Haare, Statur und Kleidung, besonderen Kennzeichen (wie Narben, Buckel, Hinken, Brandmarkungen), Herkunftsorten beziehungsweise -ländern, Berufen und ambulanten Tätigkeiten/Gewerben, Art des Umherziehens, familiären und sozialen Bindungen/Beziehungsnetzen, Bewaffnung, Delikten und früheren Verfahren/Strafen sowie bevorzugten Aufenthaltsorten und ›Routen‹. Diese Listen dienten Amtsträgern, Streifen und paramilitärischen Polizeiorganen nicht nur zur Identifikation gesuchter Verbrecher, sondern sie waren ein wichtiges Instrument, um verdächtige Umherziehende identifizieren oder auch nur einschätzen zu können. Sie wurden im Kontext von Strafverfahren auch zu gedruckten ›Aktenmäßigen Berichten‹ ausgebaut und können als eine rudimentäre obrigkeitliche Informationssammlung über mobile Randgruppen und das ›vagantische Milieu‹ charakterisiert werden, das der Registrierung, Kategorisierung, Identifizierung und auch Kriminalisierung von Wanderungsbewegungen und Wandernden diente.52 Obrigkeitliche Sammlung von Personendaten Umherziehender und Identifikationsmerkmale der Diebslisten beeinflussten Form und Funktion der Pässe, ermöglichten allerdings nur die Identifikation ›krimineller‹, nicht aber der sonstigen verdächtigen oder harmlosen Umherziehenden. Die Unterscheidung zwischen ›harmlosen‹ und ›kriminellen‹ beziehungsweise legitimen, geduldeten und illegitimen Wanderungsbewegungen und die Identifikation der unterschiedlichen Gruppen und Personen stellte die Amtsträger und Polizeiorgane vor erhebliche Proble|| 52 Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung, S. 141–144; Andreas Blauert/Eva Wiebel, Gauner- und Diebslisten: Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert. Mit einem Repertorium gedruckter südwestdeutscher, schweizerischer und österreichischer Listen sowie einem Faksimile der Schäffer‘schen oder Sulzer Liste von 1784, Frankfurt a.M. 2001; Eva Wiebel/Andreas Blauert, Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staats, in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.–18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 67–96.

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me, da die auch noch im 18. Jahrhundert gebräuchlichen, in der Regel handschriftlichen Reisedokumente von völlig unterschiedlicher Gestalt waren und eher ›Empfehlungsschreiben‹ glichen. Sie erlaubten meist keine eindeutige Identifikation einer Person und ihres Wanderungsgrundes, sodass die Überprüfung von Identitäten und Herkunftsorten zeit- und kostenintensive Nachfragen erfordern konnte. Schon aufgrund der mannigfaltigen Obrigkeiten des Alten Reiches konnten solche ›Pässe‹ nur schwer auf ihre Echtheit hin überprüft werden, stellten doch die unterschiedlichen Herrschaften, Amtsträger, Gemeindevorsteher, Pfarrer oder auch Standes- und Privatpersonen Bescheinigungen und Atteste für wandernde Menschen aus. Viele Territorien bemühten sich folglich darum, diese ›Pässe‹ zu vereinheitlichen und die Ausstellung möglichst staatlichen Zentralbehörden vorzubehalten, was in der Praxis allerdings schwierig zu realisieren war. Wollten doch intermediäre Gewalten wie Kirche, Zünfte oder Grundherren nicht auf ihr Recht verzichten, Reisedokumente auszustellen, und hatten lokale Amtsträger ein Interesse an den Gebühren, die sie für die Ausstellung erheben konnten.53 Ein erster Schritt, wie er zum Beispiel in Kurmainz 1721 vollzogen wurde, war die Verordnung eines Passzwangs für ausreisende eigene Untertanen, die bei den Regierungsbehörden einen formalisierten, beglaubigten ›Reisepass‹ beantragen mussten. Dieser war freilich nur für die jeweilige Reise und eine begrenzte Dauer gültig. In einem zweiten Schritt wurde lokalen Amtsträgern und sonstigen intermediären Gewalten die Ausstellung von Pässen für Fremde und Durchreisenden untersagt beziehungsweise von der Zustimmung der Zentralbehörden abhängig gemacht. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts forderten viele Territorien insbesondere von Menschen, die aus anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Polen einreisten, einen ›Gesundheitspass‹, der bei der Einreise beziehungsweise Grenzkontrolle vorzulegen war; auch für Waren aus dem Ausland mussten teilweise Atteste vorgelegt werden und fanden entsprechende Kontrollen statt. Hintergrund war die Angst vor Seuchen, wie sie die letzte europäische Pestwelle, die sich allerdings nicht von Frankreich aus in das Reich ausbreiten konnte, ausgelöst hatte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten dann die meisten Territorien das Passwesen beziehungsweise die Ausstellung von Reisedokumenten weitgehend verstaatlicht und durch entsprechende Gesetze reglementiert, so auch beispielsweise 1801 in Kurmainz: Jeder Reisende (auch ›Standespersonen‹) musste einen ›Reisepass‹ mit sich führen, der Beamten auf Verlangen vorzuzeigen war und von einer dazu legitimierten Behörde seines Herkunftsortes ausgestellt sein musste; bei der Passkontrolle hatten die Beamten die Personenbeschreibung genau zu prüfen und eventuell eine Unterschriftenprobe zu verlangen; konfiszierte Pässe sollten nicht

|| 53 Zum frühneuzeitlichen Passwesen: Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner, S. 313–330; Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung, S. 135–141; Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft; Torpey, Invention of the Passport, S. 4–20; Härter, Policey und Strafjustiz, S. 1016–1020.

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vernichtet, sondern zu Kontrollzwecken aufbewahrt werden. Bezüglich der Kurmainzer Pässe galt: Nur noch die Regierung beziehungsweise in Ausnahmefällen die Oberämter durften für Fremde befristete Pässe zur Durchreise ausstellen; die Beamten hatten den Pass nach einem Formular auszufüllen, insbesondere musste eine Personenbeschreibung (›Signalement‹) enthalten sein und der Pass vom Inhaber eigenhändig bei der Behörde unterzeichnet werden; Bestimmung, Zweck sowie die Reiseroute mussten genannt werden; die Pässe waren maximal sechs Monate und nur für eine Person gültig; Familienangehörige und Reisegefährten mussten einen eigenen Pass beantragen.54 Dauerhaft gültige, streng formalisierte Pässe, deren Ausstellung lediglich eine zentrale Passbehörde vornahm, die auch die zugrundeliegenden Personenstandsdaten verwaltete, sowie einen Passzwang für alle Einwohner eines Territoriums etablierte allerdings kein Territorium vor 1806, auch wenn das revolutionäre Frankreich seit 1792 den Weg hierzu vorgezeichnet hatte. Pässe blieben zeitlich und räumlich begrenzt gültige Reisedokumente, die unterschiedliche staatliche Behörden ausstellten und die bezüglich der jeweils betroffenen Stände, Gruppen und Migrationsformen beträchtliche Variationen aufweisen konnten.55 Insofern entwickelte sich in Mitteleuropa erst nach 1806 mit dem Durchbruch zu moderner Staatlichkeit und zur Staatsbürgerschaft allmählich das moderne Passwesen mit standardisierten Reisepässen, Passpflicht, allgemeinem Ausweiszwang, staatlicher Registrierung der Personenstandsdaten und zentralem Passbüro.56 Dennoch kann festgehalten werden, dass »die Entwicklung zum modernen Paß und Personalausweis […] durch die Vagantenbekämpfung entscheidende Anstöße« erfuhr und bereits im 18. Jahrhundert in den meisten Territorien des Alten Reiches zu einer weitgehenden Verstaatlichung und Etablierung von Identifikations- und Ausweistechniken geführt hatte, die zumindest eine rudimentäre staatliche Kontrolle, Kategorisierung/ Klassifizierung und Identifizierung der vielfältigen Migrationsbewegungen erlaubten.57

|| 54 Mainz 2698, Verordnung, 4.12.1801; vgl. allgemein: Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Teil 4, S. 637–640. 55 Vgl. z.B. für Österreich: Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft, S. 32–87. 56 Hierzu grundlegend Fahrmeir, Paßwesen und Staatsbildung; und die Beiträge in: Caplan/Torpey, Documenting Individual Identity; siehe auch den Beitrag von Andreas Fahrmeir über die staatlichen Abgrenzungen durch Passwesen und Visumzwang in diesem Band. 57 Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner, S. 313; Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung, S. 135–141.

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4 Umsetzung und Wirkung Beleuchtet man abschließend Umsetzung und Wirkung der Normen und Maßnahmen zur Migrationssteuerung, ergibt sich ein ambivalentes Bild, in dem Sanktionen, Zwang und Exklusion dominieren, aber auch Ansiedlung und Integrationsbemühungen genannt werden können, wobei die Steuerungswirkung der staatlichen Migrationspolitik insgesamt empirisch nur schwierig bestimmt werden kann.58 Zwar entwickelten sich Grenzkontrollen, Patrouillen, Streifen, Zertifizierungs-, Identifizierungs- und Kennzeichnungstechniken in kaum einem Territorium zu reibungslos funktionierenden, ›effektiven‹ Maßnahmen, um alle Wanderungsbewegungen lückenlos zu kontrollieren. Dennoch sollte die damit verbundene allgemeine Kontrollund Präventivwirkung nicht unterschätzt werden. Der frühneuzeitliche Territorialstaat entwickelte und etablierte in diesem Kontext wichtige allgemeine Techniken und Maßnahmen einer staatlichen Kontrolle von Migrationen, Räumen und sozialen Gruppen, die auch heute noch Bedeutung besitzen. Meldepflicht, Kennzeichnung, Pässe, Konzessionen, Aufenthaltsbeschränkungen etc. ermöglichten zwar keine ›effektive‹ Lösung im Sinne einer verwaltungstechnisch anwendbaren genauen Unterscheidung der Fahrenden, dennoch unterwarfen sie alle Wanderungsbewegungen und insbesondere alle Formen der Arbeitsmigration staatlicher Sozialkontrolle und förderten deren pauschale Diskriminierung als potenzielle Sicherheitsgefährdung und Destabilisierung der sesshaften Gesellschaft beziehungsweise des Staates. Die pauschale Etikettierung aller Umherziehenden als ›verdächtig‹ hatte zur Folge, dass sie permanent Kontrollen ausgesetzt waren, ihre mitgeführten Habseligkeiten und Pässe überprüft wurden und bei ›verdächtigen Umständen‹ die Wahrscheinlichkeit bestand, verhaftet zu werden. Zumindest bei einigen als verdächtig festgenommenen und ein ambulantes Gewerbe betreibenden Fahrenden führte dies zur ›Entdeckung‹ einer Straftat und zum Teil zu massiven Sanktionen. Ordnungsgesetzgebung und Maßnahmen schränkten insofern generell die Lebensmöglichkeiten Umherziehender ein und verschärften den Verfolgungsdruck. Grundsätzlich waren alle Formen ›illegaler‹ oder auch nur ›verdächtiger‹ Wanderungsbewegungen und sonstige Verstöße gegen Melde- und Passpflicht mit zahlreichen sehr unterschiedlichen Strafen bedroht, konnten darüber hinaus aber auch eine große Bandbreite an Sanktionen und Reaktionen nach sich ziehen, die von der Duldung und Ermahnung über Ausweisung und Prügelstrafen bis zu Zuchthaus und Todesstrafen reichten. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass viele illegal Wandernde von der sesshaften, einheimischen Bevölkerung – insbesondere in ländlichen Regionen beziehungsweise Dörfern und kleinen Städten – toleriert und teil|| 58 Denn zur ›alltäglich‹ funktionierenden Migrationskontrolle und -steuerung liegt nur eine spärliche Quellenüberlieferung vor, wohingegen sich aufgetretene Probleme und Verstöße eher in Verwaltungs-, Policey- und Kriminalakten niedergeschlagen haben.

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weise sogar aktiv (etwa durch Beherbergung) unterstützt wurden: Bettler, Vaganten, Wanderhändler, Gesellen und andere mehr erhielten Almosen, konnten sich zeitweise aufhalten, einfache Arbeiten verrichten, Kleinhandel treiben, oder ihre Dienstleistungen wurden in Anspruch genommen.59 Ebenso finden sich Beispiele, dass sich Menschen ohne obrigkeitliche Erlaubnis niederließen, eine Ehe schlossen und zum Beispiel als Beisassen oder sogar als Bürger aufgenommen wurden.60 Der alltägliche Umgang mit Wandernden im ländlichen Raum und teilweise sogar in größeren Städten folgte nicht linear den obrigkeitlichen Migrationsnormen, sondern kann als eine pragmatische Praxis beschrieben werden, die im Einzelfall je nach den lokalen Umständen abwich und von den jeweiligen Zentralbehörden der Territorialstaaten kaum lückenlos kontrolliert werden konnte. Zudem wich die Obrigkeit selbst (beziehungsweise Amtsträger und Behörden) aus utilitaristischen und fiskalischen Gründen von den eigenen Vorgaben ab und ließ relativ häufig als illegal migrierende eingestufte ›Vaganten‹, falls sie kein weiteres Verbrechen begangen hatten, ›nur‹ ausweisen. Abschiebung und Ausweisung über die Grenze hinweg in das Nachbarterritorium waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Praxis und letztlich die quantitativ dominierende Reaktion der Obrigkeit auf unerwünschte Wanderungsbewegungen, die – falls sie nicht mit weiteren Sanktionen verbunden war – auch nicht als Strafe, sondern als Verwaltungs- und Policeymaßnahme galt. Allerdings war sie eng verwandt mit der Strafe des Stadt- und Landesverweises, die zusammen mit öffentlichen Schandstrafen wie Pranger und Prügel vollzogen und mit weiteren ›Rechtsfolgen‹ wie der Urfehde und der Brandmarkung verbunden sein konnten.61 Damit sollten ausgewiesene kriminelle Vaganten oder auch Werber von einer Rückkehr abgeschreckt und dem ›Publikum vorgestellt‹ werden, um bei Rückkehr eine Wiedererkennung zu ermöglichen. Während der Bruch des Urfehdeschwurs mit einer Todesstrafe geahndet werden konnte (die allerdings sehr selten tatsächlich verhängt wurde), stellt die Brandmarkung eine Extremform der polizeilichen Kennzeichnung meist als kriminell oder gefährlich eingeschätzter Vaganten dar, um diese bei Grenzkontrollen oder Streifen durch unmittelbaren Augenschein von sonstigen ›harmlosen‹ (ohne Pass) Migrierenden unterscheiden und anhand dieses ›Relegationszeichens‹ auch den Ort der

|| 59 Vgl. Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten; Ammerer, Heimat Straße. 60 Vgl. die Beispiele bei Härter, Arbeit, Armut, Ausgrenzung; Dünzelmann, Ethnographie von Immigration; Rainer Chr. Schwinges (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), Berlin 2002. 61 Ilse Reiter, Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000; Schwerhoff, Vertreibung als Strafe; Schnabel-Schüle, Strafe des Landesverweises, S. 73–82; Härter, Policey und Strafjustiz, S. 639–648.

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Bestrafung beziehungsweise Ausweisung identifizieren zu können.62 Eine im Zusammenhang mit der Ausweisung häufig praktizierte Sanktion war auch die Zerstörung des Familien- beziehungsweise Gruppenverbandes, indem einzelne Gruppenmitglieder zu verschiedenen Zeiten über unterschiedliche Grenzen ausgewiesen wurden. Um die Rückkehr illegaler ›harmloser‹ Vagierender zu verhindern, setzten südund südwestliche Territorien sowie der preußische und habsburgische Länderverband auch den sogenannten ›Bettelschub‹ und gegen Ende des 18. Jahrhunderts den sogenannten ›Laufpass‹ ein.63 Im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert war der ›Schub‹ eine weithin praktizierte Form der organisierten Ausweisung, bei der die zum Beispiel von Streifen oder Patrouillen gefassten Vagierenden in Gruppen gesammelt, ein Protokoll mit Namen, Herkunftsorten und später auch Routen angelegt, die Ausgewiesenen auf einem ›Schubkarren‹ von Ort zu Ort und über die Landesgrenzen hinweg transportiert und – so jedenfalls die idealistische Vorstellung – an ihren ›Heimatort‹ zurückgebracht wurden. Kamen keine größeren Transporte zusammen, erhielten Einzelne auch einen sogenannten ›Laufzettel‹ oder ›Laufpass‹, in dem neben einer Personenbeschreibung auch Route, tägliche Wegstrecken, Übernachtungs- und Zielorte angegeben waren. Der Laufpass kombinierte die Funktion von Pässen und Steckbriefen und sollte bei allen ›unerwünschten‹ beziehungsweise ›illegal‹ Wandernden eine kontrollierbare Aus- und Zurückweisung von Amt zu Amt beziehungsweise Territorium zu Territorium an den Heimat- oder Herkunftsort ermöglichen. Die Laufzettel erhielten hierzu Angaben zu den jeweiligen lokalen Behörden und Amtsträgern, bei denen sich die Ausgewiesenen jeweils melden sollten. Das Verfahren wies folglich ähnliche organisatorische Schwächen wie der Schub auf, denn abgesehen von den verwaltungsorganisatorischen Problemen einer solchen grenzübergreifenden Maßnahme konnten oder wollten viele Vaganten keinen Herkunfts- oder Geburtsort nennen, machten falsche Angaben oder wichen von den Strecken ab. Insofern fungierten die Laufpässe kaum als ›integrative‹ Maßnahme, die eine Rückführung und Wiederansiedlung der Betreffenden an ihrem Heimatort gewährleistet hätte. Neben der Ausweisungs- und Abschiebungspraxis kam in der Verwaltungs- und Strafpraxis ein breites Spektrum von Sanktionen und Strafen zum Einsatz, die nach ›Umständen‹ beziehungsweise Form der Wanderung und Klassifizierung der Wandernden flexibel und selektiv angewandt wurden: Illegal Auswandernde konnten || 62 Andreas Blauert, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. 63 Robert Jütte, Bettelschübe in der frühen Neuzeit, in: Gestrich/Hirschfeld/Sonnabend (Hg.), Ausweisung und Deportation, S. 61–71; Martin Scheutz, Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts, St. Pölten 2003; Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Heindl/Saurer (Hg.), Grenze und Staat, S. 173–343; Ammerer, Heimat Straße, S. 209–220.

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mit der Konfiskation zurückgebliebenen Eigentums und bei Rückkehr auch mit Zuchthaus bestraft werden; gegen ›kriminelle Vaganten‹ kamen zum Beispiel in Württemberg und Kurmainz neben Zuchthaus und Zwangsarbeit auch Todesstrafen zum Einsatz; verdächtige oder harmlose Wandernde wurden bei kleineren Verstößen gegen die Migrationsgesetze mit Geldbußen, kurzen Haftstrafen, Zwangsarbeit, Pranger und Prügel und vor allem mit der Landesverweisung bestraft.64 Auch wenn die territorialen Strafgerichte die angedrohten schweren Strafen nicht immer verhängten, so bedeuteten ausgrenzende Maßnahmen wie Abschiebung, Landesverweisung, Prügel, Pranger, Konfiskation der Habe oder Desintegration von Familienund Gruppenstrukturen für die Betroffenen eine massive Bestrafung. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich im Kontext der ›guten Policey‹ und Peuplierungspolitik allerdings ebenfalls die Idee einer (Re-)Integration devianter, aber ›nützlicher‹ Menschen, die sich auf die Migrationspolitik auswirkte. Umherziehende ›herrenlose‹ Bettler und Vaganten wollte der frühneuzeitliche Territorialstaat mit spezifischen Maßnahmen in die Gesellschaft eingliedern, wobei Integration mittels Zwang, Repression, Disziplinierung und Arbeit erfolgen sollte: Kinder und Jugendliche sollten zum Beispiel den ›Vaganteneltern‹ weggenommen werden und bei Handwerkern oder Bauern arbeiten.65 Als zentrale Institution der Disziplinierung Umherziehender fungierten die Zucht- und Arbeitshäuser, in denen besonders Bettler und Vaganten durch Freiheitsentzug, Zwangsarbeit und Disziplinierung von ihrem ›unsteten‹ Wanderleben abgebracht und für ein Leben als sesshafte, arbeitsame nützliche Untertanen ›erzogen‹ werden sollten. Doch gerade hinsichtlich der Disziplinierung und Integration Vagierender erwies sich das Zuchthaus als wenig wirksam und zudem sehr kostenintensiv, sodass es die meisten Territorien gegen Ende des 18. Jahrhunderts überwiegend als Strafvollzugsanstalt bei einheimischen Delinquenten einsetzten.66

|| 64 Vgl. zur Strafpraxis die Fallstudien von: Ammerer, Heimat Straße, S. 221–257; Fritz, Rotte, S. 732–845; Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner, S. 289–298; Härter, Policey und Strafjustiz, S. 1074–1080; ders., Zum Verhältnis von ›Rechtsquellen‹ und territorialen Rahmenbedingungen in der Strafgerichtsbarkeit des 18. Jahrhunderts: Vagabondage und Diebstahl in der Entscheidungspraxis der Kurmainzer Landesregierung, in: Harriet Rudolph/Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003, S. 433–465. 65 Fritz, Rotte, S. 845–850. 66 Bernhard Stier, Fürsorge und Disziplinierung im Zeitalter des Absolutismus. Das Pforzheimer Zucht- und Waisenhaus und die badische Sozialpolitik im 18. Jahrhundert, Sigmaringen 1988; Ulrich Eisenbach, Zuchthäuser, Armenanstalten und Waisenhäuser in Nassau. Fürsorgewesen und Arbeitserziehung vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1994; Dirk Brietzke, Arbeitsdisziplin und Armut in der frühen Neuzeit. Die Zucht- und Arbeitshäuser in den Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck und die Durchsetzung bürgerlicher Arbeitsmoral im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Gerhard Ammerer/Falk Bretschneider/Alfred Stefan Weiss (Hg.),

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Auch die verschiedentlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Preußen oder den Habsburgischen Ländern unternommenen Versuche, Zigeuner in sogenannten Zigeunerkolonien anzusiedeln, zielten auf repressive Integration. Diese von drastischen Zwangsmaßnahmen (Arbeits- und Schulpflicht, Verbot des Namens, der Sprache, der Kleidung, des Wanderns, der Eheschließung, des Pferdehandels) begleitete Ansiedlungspolitik scheiterte jedoch, und nur in einigen kleineren Territorien konnten sich Zigeuner und sonstige Vagierende mehr oder weniger dauerhaft niederlassen.67 Die obrigkeitliche Migrationspolitik seit Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte kaum neue, ›moderne‹ oder gar ›sozialpolitische‹ Maßnahmen der Integration von Migranten. Vielmehr wurden die traditionellen Formen und Möglichkeiten weiterhin angewandt, die allerdings eine durchaus beachtliche Zahl an Menschen als Sesshafte dem Untertanenverband des frühmodernen Territorialstaates eingliederte: Der ›gewöhnliche‹ Einwanderer wurde nach Bewilligung einer meist in Form einer Bittschrift beantragten Aufnahme als Untertan, Beisasse oder Bürger angenommen, zahlte die jeweiligen Abgaben und leistete einen Untertanen- oder Bürgereid. Besondere Gruppen wie die Religionsflüchtlinge wurden per Privileg angesiedelt und eingegliedert, wobei sie auch eigene Gemeinden bilden konnten und Selbstverwaltungsrechte erhielten. Im Bereich der traditionellen Arbeitsmigration der Handwerker und des Gesindes regelten die obrigkeitliche Ordnungsgesetzgebung (Handwerks- und Gesindeordnungen) sowie die jeweils abzuschließenden Verträge die Arbeits-, Aufenthalts- und Ansiedlungsbedingungen. Lediglich im Bereich des Asyls für ›Verbrecher‹, Verfolgte und Flüchtlinge führte die durch die Französische Revolution ausgelöste erste politische Massenfluchtbewegung der französischen Emigrés in zahlreiche Territorien des Alten Reiches zu neuen Verfahren der Integration und Kontrolle für den im Prinzip als zeitlich begrenzt gedachten Aufenthalt: Die Kategorisierung als ›wahrer‹ politischer Flüchtling, die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigung bei Prüfung der Flucht- beziehungsweise der Asylgründe, die zeitliche Beschränkung des Aufenthalts und die Einschränkung der Freizügigkeit beziehungsweise die Zusammenlegung der Flüchtlinge an spezifischen Orten, geringe Fürsorgeleistungen, aber prinzipielle Arbeitserlaubnis sowie Überwachung und Einschränkung der politischen Aktivitäten und Ausweisung wurden in mehreren Territorien als charakteristische Maßnahmen im

|| Gefängnis und Gesellschaft. Zur (Vor-)Geschichte der strafenden Einsperrung (Comparativ, 13. 2003, H. 5/6), Leipzig 2003; Härter, Policey und Strafjustiz, S. 677–711. 67 Ulrich Friedrich Opfermann, »Daß sie den Zigeuner-Habit ablegen«. Die Geschichte der ›Zigeuner-Kolonien‹ zwischen Wittgenstein und Westerwald, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1997; Karl Härter, Zigeuner, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1998, Sp. 1699–1707; bei der angeblichen Ansiedlung von Zigeunern durch Friedrich II. in Friedrichslohra handelt es sich sogar um eine nicht verifizierbare Legende: Barbara Danckwortt, Friedrich II. von Preußen und die Sinti von Friedrichslohra, in: Udo Engbring-Romang/Wilhelm Solms (Hg.), ›Diebstahl im Blick‹? Zur Kriminalisierung der ›Zigeuner‹, Seeheim 2005, S. 116–140.

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Umgang mit politischen Flüchtlingen etabliert. Preußen verfolgte mit solchen Maßnahmen eine Politik der Abschreckung und Abschiebung über die Grenze in ›Drittstaaten‹; die Auslieferung französischer Emigrés an das revolutionäre beziehungsweise napoleonische Frankreich lehnten die deutschen Territorien beziehungsweise Staaten jedoch grundsätzlich ab.68 Im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons verstärkten und veränderten sich nicht nur die Migrationsformen durch das Hinzukommen politischer Motive und die dadurch ausgelösten Wanderungsbewegungen, sondern auch die Steuerungsmaßnahmen im Bereich der Migration begannen sich allmählich zu wandeln. Das Ende des Alten Reiches mit seiner territorialen Vielfalt und Fragmentierung, der Durchbruch der Einzelstaaten zu moderner souveräner Staatlichkeit und Staatsbürgerschaft sowie die administrativen Reformen – insbesondere die Schaffung staatlicher Polizeiorgane – schufen die Voraussetzung für eine (mehr oder weniger) effektivere Umsetzung migrationspolitischer Normen und Maßnahmen und die Entstehung moderner Migrationsregime.69 Zentrale Ziele, Motive und auch das Instrumentarium der Migrationssteuerung hatten sich allerdings bereits in den Territorialstaaten des Alten Reiches herausgebildet und prägten auch nach 1806 noch den staatlichen Umgang mit Migration. Im 18. Jahrhundert hatte sich Migrationssteuerung als ein zentrales Handlungsfeld des frühmodernen Staates entwickelt, der wesentliche Normen, Maßnahmen und Instrumente etablierte und damit »the legitimate means of movements« verstaatlichte und weitgehend monopolisierte.70 Nur ansatzweise gelöste Probleme der Justiz- und Verwaltungspraxis der Migrationskontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reiches blieben allerdings die territoriale Zersplitterung und Fragmentierung, die ›unscharfen‹ Grenzen, die fehlenden exekutiven Staatsorgane und die Angewiesenheit der Obrigkeit auf die Mitwirkung intermediärer Gewalten und der Bevölkerung. Zwar entwickelten sich Ansätze einer interterritorialen Zusammenarbeit hinsichtlich der Verfolgung ›verdächtiger‹ und ›krimineller‹ Vaganten, der Durchführung gemeinsamer Streifen, dem Austausch von Informationen und auch bezüglich der durch Verträge geregelten legalen Ein- und Auswanderung. Letztlich dominierten jedoch die ›eigenstaatlichen‹ Interessen der Territorien bis zum Ende des Reiches die Migrationspolitik und die jeweiligen Steuerungsmaßnahmen. Die ›Nacheile‹ oder das

|| 68 Thomas Höpel, Emigranten der Französischen Revolution in Preußen 1789–1806. Eine Studie in vergleichender Perspektive, Leipzig 2000; Karl Härter, Vom Kirchenasyl zum politischen Asyl: Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Martin Dreher (Hg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln 2003, S. 301– 336. 69 Jochen Oltmer, Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Ute Frevert/Jochen Oltmer (Hg.), Europäische Migrationsregime (Themenheft von: Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009), S. 5–27. 70 Torpey, Invention of the Passport, S. 4.

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Streifen über Territorialgrenzen hinweg wurden als Verletzung des Territoriums und Beeinträchtigung der Landesherrschaft gewertet, aber umgekehrt setzten die meisten Landesherren auf die kostengünstige Politik der Abschreckung, Vertreibung und Ausweisung ohne Rücksicht darauf, dass dies in der Regel nur eine Verschiebung der Probleme in das Nachbarterritorium bedeutete und weitere Wanderungsbewegungen generierte. Fiskalisch-finanzielle Motive waren maßgebend dafür, dass den zahlreichen Normen und Maßnahmen kein entsprechender Ausbau eines Verwaltungsapparates folgte und die meisten Territorien sich auf die Mitarbeit von intermediären Gewalten und der Bevölkerung stützten, zumal Erstere vielfach auf ihren Mitwirkungsrechten beharrten oder sogar Maßnahmen boykottierten. Die staatlichen Sicherheits-, Grenz- und Polizeiorgane erreichten dagegen eine nur geringe Personaldichte, hatten eine Fülle allgemeiner Verwaltungsaufgaben zu bewältigen und waren häufig nur unzureichend in die allgemeinen Verwaltungsstrukturen eingebunden. Die Praxis der Migrationssteuerung war daher durch einen flexiblen Umgang und exemplarische Sanktionen geprägt, wobei die Wirkung repressiver Maßnahmen und Strafen auf die Lebenswelt der Migrierenden nicht unterschätzt werden sollte. Aber auch wenn man die unmittelbaren ›Erfolge‹ im Sinne der normativ vorgegebenen Ziele teilweise als eher gering einschätzen kann, trug gerade die Schwäche der Staatsgewalt mit dazu bei, dass die Obrigkeiten – eher experimentierend als effektiv zielstrebig – ein breites Instrumentarium der Migrationssteuerung entwickelten und einsetzten. Insofern kann die Entwicklung der vormodernen Migrationssteuerung in den Territorialstaaten des Alten Reiches als wichtiges Element im Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung charakterisiert werden, das die Basis für die Etablierung moderner Grenz- und Passregime der deutschen Einzelstaaten bildete, die nach dem Ende des Alten Reiches entstanden. Freilich hatten auch Österreich, Preußen, die Mitglieder des Rheinbundes und schließlich des Deutschen Bundes weiterhin mit ähnlichen Problemen wie der vormoderne Territorialstaat zu kämpfen und konnten zunächst weder abgeschlossene Grenzen noch ein nationales Passwesen oder gar eine effektive staatliche Migrationssteuerung etablieren.

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Bellizität, Staat und Migration im Alten Reich Die Frühe Neuzeit bietet für den Problemzusammenhang von Krieg und Mobilität reiches Anschauungsmaterial, denn gerade diese Epoche war durch eine besonders ausgeprägte Bellizität und Friedlosigkeit gekennzeichnet.1 Die auffällige Kriegsdichte in weiten Teilen Europas im »Iron Century«2, auch und insbesondere in Mitteleuropa, kann als eine Erscheinungsform der vor allem von der englischsprachigen Forschung vielfach noch immer vertretenen These einer gesamteuropäischen, viele Lebensbereiche der Menschen umfassenden »General Crisis« im ›langen‹ 17. Jahrhundert gedeutet werden.3 Aus klassisch militärgeschichtlicher Perspektive ist vor allem auf die bis heute anhaltende Debatte der »Military Revolution« zu verweisen.4 Zweifellos stellten dabei der Dreißigjährige Krieg – ein Krieg, der aufgrund der mit vielen anderen Mächtekonflikten verstreuten Schauplätze keineswegs nur ein losgelöster mitteleuropäischer oder gar ein bloßer deutscher Krieg gewesen ist5 – sowie die spezifischen Erfahrungen und Deutungen dieses Krieges6 eine wirkmächtige Zäsur in der deutschen und europäischen Kriegs- und Militärgeschichte dar. Dies

|| 1 Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 24. 1997, S. 509–574. 2 Begriff nach Henry Kamen, The Iron Century (1560–1660), London 1971. 3 Die These wurde aus marxistischer Perspektive entwickelt von Eric Hobsbawm, The General Crisis of the European Economy in the 17th Century, in: Past & Present, 5. 1954, S. 33–53; ders., The Crisis of the 17th Century, in: ebd., 6. 1954, S. 44–65. 4 Der Begriff wurde geprägt von Michael Roberts, The Military Revolution 1560–1660, Belfast 1956, und die Theorie vor allem seit den 1970er Jahren substantiell weiterentwickelt von Geoffrey Parker, Military Revolution. The Military Revolution and the Rise of the West, Cambridge 1988. Zum Stand der Forschung vgl. Clifford J. Rogers (Hg.), The Military Revolution Debate. Reading on the Military Revolution of Early Modern Europe, Oxford 1995. 5 In diesem Sinne pointiert vgl. die neueste deutschsprachige Gesamtdarstellung von Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte des europäischen Konflikts, Stuttgart 2008. 6 Die Erforschung der Erfahrungsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, die nach individuellen Motiven und Wahrnehmungsmustern, nach Legitimationszusammenhängen von Krieg und kriegsbedingter Gewalt sowie nach der Konstruktion von Erinnerung fragt, war eines der Schwerpunkte des mittlerweile ausgelaufenen Tübinger Sonderforschungsbereiches 437 ›Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit‹ (1999–2008), vgl. den Bilanzband von Georg Schild/Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn 2009, vgl. dazu die Homepage mit einer Gesamtbibliographie: http://www.unituebingen.de/SFB437/index.htm. Zur Erfahrungsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges vgl. insbesondere Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, 2. Aufl. Münster 2002.

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gilt nicht nur für die Zeitgenossen7, sondern eben auch für die Tradierung von starken, populären Geschichtsbildern, die diesen Krieg als die ›Urkatastrophe des deutschen Volkes‹ vor dem Ersten Weltkrieg deuteten.8 Den Zäsurcharakter des Dreißigjährigen Krieges für die deutsche und mitteleuropäische Geschichte betont auch die seit den 1980er Jahren betriebene moderne, sozial- und kulturwissenschaftlich fundierte Militärgeschichte, deren Vertreter sich längst von Paradigmata der älteren deutschen Militär- und Kriegsgeschichtsforschung verabschiedet haben.9 Das Interesse dieses jungen, äußerst fruchtbaren Zweiges der Geschichtswissenschaft gilt der sozialen und kulturellen Rückbindung des Militärs und des Kriegswesens sowie der von diesen ausgehenden Praktiken und Gewaltkulturen in die Gesellschaft, mithin der Berührungspunkte zwischen Militärund Zivilgesellschaft sowie der sozio-kulturellen Verortung gleichermaßen der Angehörigen der Führungsgruppen wie der militärischen Unterschichten10, auch unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten.11 Aus diesem Grund ist es nicht überraschend, dass die ersten Überlegungen zum Problemkomplex von Krieg, Militär und Migration auch aus der Feder von Vertretern dieser neuen Militärgeschichte stammen.12 || 7 Zuletzt vgl. etwa Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg als Erfahrung und Memorie. Zeitgenössische Wahrnehmung eines Ereigniszusammenhangs, in: Peter Claus Hartmann/Florian Schuller (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche, Regenburg 2010, S. 158–173, vgl. etwa auch Geoff Mortimer, Did Contemporaries Recognise a ›Thirty Years War‹?, in: English Historical Review, 116. 2001, S. 124–136. 8 Zusammenfassend noch immer Konrad Repgen, Der Dreißigjährige Krieg im deutschen Geschichtsbild vor Schiller, in: ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg.v. Franz Bosbach/Christoph Kampmann, 2. Aufl. Paderborn 1999, S. 112–134; ders., Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges. Begriff und Konzeption, in: ebd., S. 21–111; auch Bernd Schoenemann, Die Rezeption des Westfälischen Friedens durch die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 805–825. 9 Hier ist insbesondere auf die neueren einschlägigen Handbücher aus der Reihe ›Enzyklopädie Deutscher Geschichte‹ hinzuweisen: Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006; Bernhard R. Kroener, Militär, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2011; ders., Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300–1800, München 2013. 10 Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992. 11 Programmatisch vgl. Karen Hagemann/Ralf Pröve (Hg.), Landsknechte. Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1998; Karen Hagemann/Gisela Mettele/Jane Rendall (Hg.), Gender, War and Politics. Transatlantic Perspectives 1775–1830, Basingstoke 2010. 12 Hinzuweisen ist insbesondere auf Bernhard R. Kroener, Krieg und Karriere. Geographische Mobilität als Voraussetzung sozialen Aufstiegs in der militärischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in: Mathias Beer/Dittmar Dahlmann (Hg.), Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert, Essen 2004, S. 45–65; Ralf Pröve, Migration, Kulturtransfer und Militärsystem in der Frühen Neuzeit, in: Cornelia

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Aufgrund des einerseits noch immer sehr unsystematischen Forschungsstandes, andererseits wegen der überreichen Fülle von Hinweisen zum Untersuchungsgegenstand in der vorliegenden Forschungsliteratur können auch die im Folgenden präsentierten Beobachtungen nur Bausteine eines noch weiter zu vervollständigenden Mosaiks in Form eines ausführlich gehaltenen kommentierten Literaturberichtes sein. Dabei handelt es sich im Folgenden um den Versuch eines Überblicks über den Komplex Staat, Bellizität und Migration, dem eine breite Definition von Migration im Sinne von vorrangig räumlich-geographischen Mobilitätsphänomenen aller Art zugrunde liegt.13 Aus den genannten Gründen ist die Darstellung im Wesentlichen auf die Auswertung von Literatur aus neuerer Zeit konzentriert, insbesondere seit den 1980er Jahren, und stellt die Summe der Eindrücke des Verfassers dar. Sie behandelt – bezogen auf die Thematik Staat, Bellizität und Migration – ausschließlich die Perspektive von Krieg und Militär, nicht aber die Sicht der Zivilgesellschaft. Diese Fokussierung ist höchst künstlich, zumal die moderne Militärgeschichtsforschung längst herausgearbeitet hat, dass Militär- und Zivilgesellschaft keineswegs so scharf voneinander zu trennen sind, wie es noch in der älteren Forschung konstatiert wurde. Es gab vielmehr zwischen Zivil- und Militärgesellschaft zahlreiche Berührungspunkte, sodass beide Sphären gewissermaßen in einem symbiotischen – jedenfalls nicht ausschließlich einem sich gegenseitig ablehnenden oder gar feindlichen – Verhältnis zueinander standen14, auch im Falle kriegsbedingter Einquartierungen15 oder in Festungs- und Garnisonstädten.16 Dies soll hier allerdings nicht

|| Klettke/Ralf Pröve (Hg.), Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa. Identitäten und Alteritäten eines Kontinents, Göttingen 2011, S. 139–151, vgl. zudem Matthias Asche/Michael Herrmann/Ulrike Ludwig/Anton Schindling (Hg.) Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, darin insbesondere die grundsätzlichen Überlegungen von Matthias Asche, Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Einleitende Beobachtungen zum Verhältnis von horizontaler und vertikaler Mobilität in der kriegsgeprägten Gesellschaft Alteuropas im 17. Jahrhundert, S. 11–36, und Jochen Oltmer, Migration, Krieg und Militär in der Frühen und Späten Neuzeit, S. 37–55; demnächst: Christoph Rass (Hg.), Militärische Migration vom Altertum bis zur Gegenwart, Paderborn 2015. 13 In etwa angelehnt an den Handbuchartikel von Jan Lucassen/Leo Lucassen, Mobilität, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 8. 2008, Sp. 224–244. 14 Hierzu vgl. einschlägig Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Paderborn 1996; Ralf Pröve (Hg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln 1997; Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster 2000; Bernhard R. Kroener, Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Thomas Kühne (Hg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 283–299; Ralf Pröve, »Die Schule der Nation«? Staat, Militär und Gesellschaft in Brandenburg, in: Ortstermine. Zwischen Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in Brandenburg-Preußen. Die Garnisonstadt Prenzlau, Berlin 2001, S. 24–42. 15 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Ralf Pröve, Der Soldat in der »guten Bürgerstube«. Das frühneuzeitliche Einquartierungssystem und die sozioökonomischen Folgen, in: ders., Lebenswelten.

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weiter thematisiert werden, ebenso wenig wie die Bevölkerungsverschiebungen in Nachkriegszeiten beziehungsweise die Rolle von Glaubensflüchtlingen in Krieg und Frieden.17 Eine der grundlegenden Beobachtungen ist in diesem Kontext der Zusammenhang zwischen regionaler (vertikaler) und sozialer (horizontaler) Mobilität.18 Dieser Konnex gilt gleichermaßen für die einfachen Söldner (Landsknechte) und Soldaten wie für die höheren militärischen Chargen. Der hohe geographische Mobilisierungsgrad und damit verbunden auch die enormen Migrationsleistungen19 ist ein generelles Charakteristikum aller Militärangehörigen. Dies ist von der Migrationsgeschichtsforschung bislang jedoch kaum beachtet worden. So hatte der – mittlerweile nicht mehr unbekannte, sondern als Peter Hagendorn identifizierte – Söldner im Dreißigjährigen Krieg im Jahresdurchschnitt immerhin knapp tausend Kilometer

|| Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen, hg.v. Bernhard R. Kroener/Angela Strauß, Berlin 2010, S. 39–68; ders., Einquartierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 3. 2006, Sp. 130– 132; dazu exemplarisch die lokalen Querschnittstudien von Gerhard Quaas, Belastungen der Landbevölkerung Kursachsens durch das stehende Heer (1682–1786), Diss. Humboldt-Universität Berlin 1984; Jörg Rathjen, Soldaten im Dorf. Ländliche Gesellschaft in den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1625–1720. Eine Fallstudie anhand der Ämter Reinbek und Trittau, Kiel 2004. 16 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Ralf Pröve, Soldiers in Eighteenth-Century German Towns. Civil-Military Relationships, in: Shingo Minamizuka (Hg.), Cities in the 18th Century. Comparison between European and Japanese Cities, Chiba 1999, S. 93–103; dazu exemplarisch die instruktiven Einzelstudien: ders., Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713–1756, München 1995; Stefan Kroll, Stadtgesellschaft und Krieg. Sozialstruktur, Bevölkerung und Wirtschaft in Stralsund und Stade 1700 bis 1715, Göttingen 1997; Dorit Schneider, Soldaten in der Stadt. Militär und Gesellschaft in Nauen 1763–1806, Aichach 2003; Stephan Schwenke, Die gezähmte Bellona? Bürger und Soldaten in den hessischen Festungs- und Garnisonsstädten Marburg und Ziegenhain im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg 2004. Freilich florierten in Garnisons- und Festungsstädten zur Versorgung der Soldaten Parallelwirtschaften, welche zuweilen das einheimische Gewerbe und Handwerk erheblich schädigte, vgl. Angela Giebmeyer, Gewerbe und Militär in der Garnisons- und Festungsstadt Wesel im 18. Jahrhundert, in: Dietrich Ebeling (Hg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Gewerbe, Staat und Unternehmer in den Rheinlanden des 18. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 220–260. 17 Diese beiden Themen werden für die Frühe Neuzeit in den Beiträgen von Ulrich Niggemann und Alexander Schunka in diesem Handbuch erschöpfend (mit-)behandelt. 18 Kroener, Krieg und Karriere; Asche, Krieg, Militär und Migration, S. 11–36; vgl. auch Hanna Sonkajärvi, Mobility between Risk and Opportunity. The Military Profession in the Eighteenth Century, in: Mélanges de l’École française de Rome. Italie et Méditerranée, 123. 2011, S. 45–52. 19 Bezogen auf das Söldnerwesen vgl. jetzt zusammenfassend Reinhard Baumann, Feldzugs- und Gartmigration von Kriegsleuten im 16. Jahrhundert, in: ders./Rolf Kießling (Hg.), Mobilität und Migration in der Region, Konstanz/München 2014, S. 65–84; Jan Willem Huntebrinker, ›Gartknecht‹ und ›Passport‹. Zum Problem von Mobilität, Zugehörigkeit und Kontrolle (15.–17. Jahrhundert), in: PoliceyWorkingPapers. Working Papers des Arbeitskreises Policey/Polizei in der Vormoderne, 14. 2007, http://www.univie.ac.at/policey-ak/pwp/pwp_14.pdf.

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zurückgelegt20, und er war keineswegs ein Einzelfall.21 Insgesamt wird davon ausgegangen, dass ein Söldnerheer – freilich abhängig vom Umfang des mitgeführten Trosses22 – in entsprechend gutem Zustand zwischen fünf und sechs Kilometer am Tag zurücklegen konnte.23 Bezogen auf das gemeine Landsknechtswesen vor der Entstehung der stehenden Heere ist zusätzlich auf den Spannungsbogen hinzuweisen, dass die Mobilität von Söldnern von obrigkeitlicher Seite zwar einerseits ausdrücklich erwünscht war, welche diese ja als Arbeitsmigranten – in ihrem eigenen Selbstverständnis als gelernte »Kriegshandwerker«24 – anwerben wollte. Andererseits stellten einzelne mobile Söldner oder marodierende Söldnergruppen auch eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung dar25, weshalb sie und ihre Lebensweise – wie bei ›Zigeunern‹, Wanderhändlern, Hausierern und anderen als deviant begriffenen Gruppen – Gegenstand von Regelungen in frühneuzeitlichen Policey-Ordnungen wurden.26 Diese herrenlosen Söldner wurden als ›Gartknechte‹ bezeichnet, als herrenlose Söldner, die nach zeitgenössischer Terminologie auf der Suche nach einer neuen Anstellung

|| 20 Nämlich in 24 Jahren 22.400 Kilometer quer durch (Mittel-)Europa. Mittlerweile liegt eine neue Edition dieses eindrucksvollen Selbstzeugnisses vor, vgl. Jan Peters (Hg.), Peter Hagendorf. Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, Göttingen 2012. Freilich hatten die Soldaten der Russland-Armee Napoleons allein im Kriegsjahr 1812 weitaus größere Märsche zu unternehmen – allein die Luftlinie zwischen Paris und Moskau liegt bei knapp 2.500 Kilometern, vgl. etwa zum beschwerlichen Soldatenalltag Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Rußlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 107–116. 21 Dies zeigen auch andere überlieferte Selbstzeugnisse von Militärangehörigen aus dem Dreißigjährigen Krieg, vgl. die Bibliographie von Benigna von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, Berlin 1997; vgl. auch Fritz Wolff, Feldpostbriefe aus dem Dreißigjährigen Kriege. Selbstzeugnisse der kleinen Leute, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897–1997, Bd. 1, Marburg 1997, S. 481–512. 22 Zum Tross vgl. die Literaturhinweise in Anm. 34. 23 Herbert Langer, Kulturgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 1978, S. 96. 24 Jan-Willem Huntebrinker, ›Fromme Knechte‹ und ›Garteteufel‹. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert, Konstanz 2010, S. 201 und passim. 25 Monika Spicker-Beck, Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1995; vgl. exemplarisch Robert W. Scribner, The Mordbrenner Fear in Sixteenth-Century Germany. Political Paranoia or the Revenge of the Outcasts?, in: Richard J. Evans (Hg.), The German Underworld. Deviants and Outcasts in German History, London 1988, S. 29–56. 26 Huntebrinker, ›Gartknecht‹ und ›Passport‹. Bedauerlicherweise ist der Band der Konferenz auf welcher dieser Vortrag gehalten wurde, nie erschienen, vgl. lediglich den Tagungsbericht von Hanna Sonkajärvi, Mobilität, Migration und Policey. Policeyliche Ordnungs- und Politikvorstellungen, Verordnungen und Maßnahmen im Umgang mit ›Fremden‹, in: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=1724. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Daniel Schönmann, Juden und gartende Knechte (Artikel 4, 52–54, 62, 72), in: Peter Blickle/Peter Kissling/Heinrich Richard Schmidt (Hg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt a.M. 2003, S. 198–205.

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»auf der Gart lagen«.27 Trotz dieser unscharfen Trennlinie wurde also von Seiten des Staates zwischen legitimer und nicht-legitimer Mobilität von Söldnern unterschieden, wobei seit dem späten 15. Jahrhundert allmählich das Instrument des ›Passports‹ verwendet wurde, um diejenigen Söldner, die zu festen Regimentern gehörten, identifizieren zu können.28 Auch die Vorstellung, dass die Söldner- und Landsknechtsheere vor der Entstehung stehender Heere29 keineswegs prinzipiell undisziplinierte Formationen darstellten, ist ein wichtiges Ergebnis des neuen Bildes vom Söldnerwesen in der modernen Militärgeschichtsforschung.30 Vielmehr gab es bei der Annahme von Söldnern feste Verträge mit dem Dienstherrn, die ein militärrechtliches Verhältnis begründeten, das etwa auch die Plünderung im Kriegsfall reglementierte und die Dienstleistungen exakt fixierte, da Verluste zusätzlich ökonomische Risiken darstellten.31 Auch das soziale Leben innerhalb von Söldnerheeren war geregelt, zumal

|| 27 Zum Problem der Gefahr der Sicherheit von Staat und Gesellschaft, die von den ›Gartknechten‹ ausging, vgl. Hans-Joachim Behr, Garden und Vergardung. Das Problem der herrenlosen Landsknechte im 16. Jahrhundert, in: Westfälische Zeitschrift, 145. 1995, S. 41–72, Udo Gittel, Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren ›Friedenssicherung‹ und ›Policey‹ (1555– 1682), Hannover 1996, S. 253 und passim; Horst Carl, Landfriedensbrecher und ›Sicherheitskräfte‹? Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit, Köln 2013, S. 273–287, hier S. 283–287. 28 Zu den frühen Formen des ›Passports‹ für Söldner in Italien (›Licenza‹) und Frankreich sowie dem Gesamtzusammenhang von obrigkeitlicher Mobilitätskontrolle von Söldnern durch ›Passports‹ vgl. Huntebrinker, »Fromme Knechte« und »Garteteufel«, S. 173–200. 29 Zu diesem bedeutsamen Prozess, der freilich auch zu einer Veränderung der obrigkeitlichen Rekrutierungspraxis, Kriegsführung und Heereslogistik geführt hatte, ist seit jeher viel gearbeitet worden, vgl. etwa die knappen Darstellungen von Bernhard Sicken, Der Dreißigjährige Krieg als Wendepunkt. Kriegsführung und Heeresstruktur im Übergang zum ›miles perpetuus‹, in: Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede, S. 581–598; Lothar Höbelt, Vom militärischen ›saisonnier‹ zum ›miles perpetuus‹. Staatsbildung und Kriegführung im ›ancien régime‹, in: Kolnberger (Hg.), Krieg in der europäischen Neuzeit, S. 59–79. 30 Einschlägige Monographien: Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelater bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994; Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Douglas Miller/John Richards, Landsknecht Soldier 1486–1560, Oxford 2002; Huntebrinker, »Fromme Knechte« und »Garteteufel«; Michael Sikora, Söldner. Historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft, 29. 2003, S. 210–238. 31 Aus jüngerer Zeit vgl. insbesondere Jan Willem Huntebrinker, Geordneter Sozialverband oder Gegenordnung? Zwei Perspektiven auf das Militär im 16. und 17. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 10. 2006, S. 181–199; für die spätere Zeit Robby Fichte, Die Begründung des Militärdienstverhältnisses (1648–1806). Ein Beitrag zur Frühgeschichte des öffentlichrechtlichen Vertrages, Baden-Baden 2010.

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zu den militärischen »Lagergesellschaften«32 nicht nur die Soldaten, sondern auch die mitgeführten, im Laufe des Krieges immer größer werdenden Trosse – zuständig gewissermaßen für die rückwärtigen logistischen Dienste – gehörten. In der Endphase des Dreißigjährigen Krieges umfasste beispielsweise die kaiserlich-bayerische Armee rund 40.000 Söldner, aber allein etwa 100.000 Frauen, was die Mobilität der Truppen erheblich einschränkte.33 Die innere Ordnung der Trosse wurde – sofern diese eine gewisse Größe erreicht hatten – durch eine eigene Aufsichtsperson aufrechterhalten, welcher den leicht missverständlichen Titel eines ›Hurenwaibels‹ führte.34 In der Zeit der Söldnerheere gehörten vor allem die Frauen und Kinder der Militärpersonen zum hochmobilen Tross, aber auch Handwerker, ›Marketender‹35 und Prostituierte sowie Feldgeistliche36 und Wundärzte (›Feldscher‹)37, dazu zivile || 32 Begriff ›Lagergesellschaft‹ nach Bernhard R. Kroener, »…und ist der jammer nit zu beschreiben.« Geschlechterbeziehungen und Überlebensstrategien in der Lagergesellschaft des Dreißigjährigen Krieges, in: Hagemann/Pröve (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger, S. 279–296. 33 Langer, Kulturgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, S. 96. Insgesamt ist über die Trosse in den vormodernen Heeren und deren innere Struktur – meist mangels Quellenüberlieferung – kaum gearbeitet worden, vgl. etwa Ralf Pröve, Landsknechte, Huren und Marketender. Heer und Tross im Dreißigjährigen Krieg, in: Pax Geschichte, 1. 2007/I, S. 26–31. 34 Gerhard Quaas, Das Handwerk der Landsknechte. Waffen und Bewaffnung zwischen 1500 und 1600, Osnabrück 1997, S. 53–73. 35 Unter diesen Wanderhändlern und -handwerkern handelte es sich nicht selten um Angehörige unterer Schichten oder der soziale Randgruppen wie Juden und ›Zigeuner‹, die innerhalb der militärischen ›Lagergesellschaft‹ einen geschützten Raum fanden, während sie ansonsten wegen ihrer fortgesetzten nichtsesshaften, devianten Lebensweise ins Visier der disziplinierenden Obrigkeiten gerieten, dauerhaft stigmatisiert und sozial ausgegrenzt wurden; vgl. etwa die Hinweise bei Thomas Fricke, Zigeuner im Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand südwestdeutscher Quellen, Pfaffenweiler 1996; Stefan Kroll, Kursächsisches Militär und ländliche Randgruppen im 18. Jahrhundert, in: ders./Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft, S. 275–295. 36 Hierzu liegen – abgesehen von einem Handbuchartikel von Angela Strauß, Militärseelsorge, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 8. 2008, Sp. 518–519 – bislang lediglich Spezialstudien vor, vgl. zu Preußen insbesondere die wichtige Studie von Benjamin Marschke, Absolutely Pietist. Patronage, Factionalism, and State-Building in the Early Eighteenth-Century Prussian Army Chaplaincy, Tübingen 2005; Friedrich Karl Scheel, Preußische Feldpröpste, in: »Ein Kriegesmann und guter Christ …«. Historische Skizzen aus der Soldatenseelsorge, Hannover 1990, S. 81–94; vgl. auch Márta Fata, »Wider den grausamen Erbfeind deß Christlichen Nahmens«. Lutheran Military Chaplains from Württemberg in the Hungarian Wars against the Ottoman Empire in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Jaroslav Miller (Hg.), Friars, Nobles and Burghers – Sermons, Images and Prints. Studies of Culture and Society in Early-modern Europe. In Memoriam István György Tóth, Budapest/ New York 2010, S. 73–89. 37 Ralf Vollmuth, Die sanitätsdienstliche Versorgung in den Landsknechtsheeren des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, Würzburg 1991. Hinzuweisen ist auf das – noch nicht abgeschlossene – biographische Nachschlagewerk von Eduard Hinze, Feldscherer und Feldmedici in deutschen wie fremden Heeren und Flotten. Biographisches Lexikon deutscher Militärärzte in sechs Jahrhunderten bis 1870/71, 3 Bde., Garbsen/Neustadt a.d. Aisch 1979/85.

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Kriegsflüchtlinge, Vertriebene und Herden von Nutztieren. Bei Frauen war die Tätigkeit als ›Marketenderin‹ zuweilen mit dem Prostitutionsgewerbe verbunden – literarisch am bekanntesten die Figur der ›Mutter Courage‹ mit ihren Kindern bei Bertolt Brecht. Dabei war freilich die Rolle der Frauen keineswegs auf sexuelle Dienstleistungen festgelegt. Die Frauen lebten in den von Krieg und Militär geprägten Gesellschaften nicht nur innerhalb des Trosses, sondern auch in Garnisonsorten oft in Form von devianten, weil rechtlich unsicheren oder zeitlich befristeten Paarbeziehungen.38 Daneben hatten sie wichtige logistische sowie soziale Funktionen und bildeten zum Beispiel in Kriegzeiten Versorgungs- und Beutegemeinschaften mit den ihnen verbundenen Soldaten, weil der karge Söldnerlohn oft nicht zum Unterhalt einer Familie ausreichte. Aus diesem Grunde waren es vielfach Frauen aus sozial schwachen Gruppen, denen die Soldatenpartnerschaft erst die Möglichkeit auf ein auskömmliches Leben ermöglichte, auch wenn die Frauen letztlich das Risiko einer solchen Verbindung trugen.39 Es gab aber durchaus auch tatsächlich kämpfende Frauen in Armeen.40 Sowohl für die einfachen Landsknechte, als auch für erfahrene Offiziere und Söldnerführer gab es bis ins späte 17. Jahrhundert internationale Arbeitsmärkte an Orten längerfristiger Konflikte, mithin regelrechte »Söldnerlandschaften« und »Gewaltmärkte«.41 Diese waren durch eine hohe Fluktuation von an- und abgeworbe|| 38 Exemplarisch Markus Meumann, Soldatenfamilien und uneheliche Kinder. Ein soziales Problem im Gefolge der stehenden Heere, in: Kroener/Pröve (Hg.), Krieg und Frieden, S. 219–236; Jutta Nowosadtko, Soldatenpartnerschaften. Stehendes Heer und weibliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert, in: Hagemann/Pröve (Hg.), Landsknechte. Soldatenfrauen und Nationalkrieger, S. 297–321; Ralf Pröve, Zwangszölibat, Konkubinat und Eheschließung. Durchsetzung und Reichweite obrigkeitlicher Ehebeschränkungen am Beispiel der Göttinger Militärbevölkerung im 18. Jahrhundert, in: Jürgen Schlumbohm (Hg.), Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20. Jahrhundert, Hannover 1993, S. 81–95; Beate Engelen, Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garnisonsgesellschaft im späten 17. und 18. Jahrhundert, Münster 2005. 39 Zum Gesamtzusammenhang vgl. etwa Peter H. Wilson, German Women and War 1500–1800, in: War in History, 3. 1996, S. 127–160; Franz Seidler, Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, 2. Aufl. Bonn 1998, S. 15 und passim; John A. Lynn, Women, Armies, and Warfare in Early Modern Europe, Cambridge 2008; Karen Hagemann, Militär, Krieg und Geschlechterverhältnisse. Untersuchungen, Überlegungen und Fragen zur Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Pröve (Hg.), Klio in Uniform?, S. 35–88. 40 Exemplarisch vgl. Marian Füssel, Frauen in der Schlacht? Weibliche Soldaten im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Dissimulation und Sensation, in: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.), Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 159–178. 41 Hierzu vgl. neuerdings Philippe Rogger/Benjamin Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich, Berlin 2014; vgl. auch die Übersicht von Philippe Rogger, Söldnerhandel. Europäische Gewaltmärkte in historisch-vergleichender Perspektive (15.–18. Jahrhundert), in: Holger Thomas Gräf/Andreas Hedwig/Annegret Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783). Neue Quellen, neue Medien, neue Forschungen, Marburg 2014, S. 3–22. Der Terminus ›Gewaltmarkt‹ ist freilich der soziologischen Forschung

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nen, aber auch entlassenen Militärpersonen gekennzeichnet, die darauf angewiesen waren, zwischen verschiedenen Kriegsschauplätzen hin- und herzureisen.42 Eine solche ›Söldnerlandschaft‹ war – neben den stark urbanisierten oberdeutschen Territorien43 und den böhmischen Ländern44 – vor allem die Eidgenossenschaft, wo die Kantone dank des anhaltend hohen Bevölkerungswachstums langfristige Geschäftsbeziehungen mit Kriegsunternehmern aus ganz unterschiedlichen europäischen Ländern als feste Abnehmer unterhalten konnten.45 Auch in der Zeit der stehenden Heere war die Eidgenossenschaft ein Ort für Soldatenwerbungen, insbesondere für die Armee Brandenburg-Preußens46 oder Österreichs.47 Das sogenannte

|| entlehnt, meint allerdings in diesem ursprünglichen Verständnis gerade keinen realen geographischen Ort, vgl. Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Köln 1997, S. 86–101. 42 Einen Eindruck von der hohen Frequenz von Anwerbung und Abdankung vermittelt etwa Jürgen Kraus, Das Militärwesen der Reichsstadt Augsburg 1548–1806. Vergleichende Untersuchungen über städtische Militäreinrichtungen in Deutschland vom 16.–18. Jahrhundert, Augsburg 1980, S. 172f. 43 Reinhard Baumann, Süddeutschland als Söldnermarkt, in: Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften, S. 67–83. 44 Uwe Tresp, Die »Quelle der Kriegsmacht«. Böhmen als spätmittelalterlicher Söldnermarkt, in: Stig Förster/Christian Jansen/Günther Kronenbitter (Hgg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2010, S. 43–61; ders., Böhmen als Söldnermarkt/»Böhmen« als Söldnertypus im späten Mittelalter, in: Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften, S. 119–142. 45 Das sogenannte ›Reislaufen‹ Schweizer Untertanen war schon im Spätmittelalter weit verbreitet, vgl. aus neuerer Zeit Jean-René Bory, Die Geschichte der Fremdendienste. Vom Konzil von Basel (1444) bis zum Westfälischen Frieden (1648), Neuchâtel 1980; John McCormack, One Million Mercenaries. Swiss Soldiers in the Armies of the World, London 1993, Norbert Furrer/Lucienne Hubler/ Marianne Stubenvoll/Daniéle Tosato-Rigo (Hg.), Gente ferocissima. Mercenariat et société en Suisse (XVe–XIXe siècle)/Solddienst und Gesellschaft in der Schweiz (15.–19. Jahrhundert). Recueil offert à Alain Dubois, Lausanne/Zürich 1997, Hans Rudolf Fuhrer/Robert-Peter Eyer (Hg.), Schweizer in ›Fremden Diensten‹. Verherrlicht und verurteilt, 2. Aufl. Zürich 2006; Rudolf Jaun/Pierre Streit/ Hervé de Wec (Hg.), Schweizer Solddienst. Neue Arbeiten, neue Aspekte/Service étranger suisse. Nouvelles études, nouveaux aspects, Birmensdorf 2010. 46 Zu den Schweizern in preußischen Militärdiensten – darunter auch der berühmte ›Arme Mann im Tockenburg‹ Ulrich Bräker – vgl. aus jüngerer Zeit Max Schneebeli, Die Schweizergarde in brandenburg-preußischen Diensten 1696–1713, in: Der Tanzbödeler. Magazin für den Uniform- und Militariasammler, 28. 1990, S. 29–34; Rudolf Gugger, Preußische Werbungen in der Eidgenossenschaft. Ein nicht-avouirter Dienstort auf dem schweizerischen Söldnermarkt im 18. Jahrhundert, Berlin 1997; Marcus Kradolfer, Die Werbung und Rekrutierung am Beispiel der preußischen Werbung in Schaffhausen im 18. Jahrhundert, in: Fuhrer/Eyer (Hg.), Schweizer in ›Fremden Diensten‹, S. 173–181, Gerd-H. Zuchold, Die Schweizer Garde König Friedrichs I. in Preußen. Mit biographischen Notizen zum Personalbestand des Offizierskorps, in: Herold-Jahrbuch, N.F. 15. 2010, S. 199– 276. 47 Zur ›Schweizergarde‹ vgl. Rolf M. Urrisk-Obertyński, Die k.u.k. Leibgarden am österreichischungarischen Hof 1518–1918, Gnas 2004, S. 53 und passim.

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›Reislaufen‹ Schweizer Söldner – letzter Ausläufer dieser Praxis ist die ›Schweizergarde‹ im Vatikan48 – folgte im Übrigen ebensolchen ökonomischen und transnationalen Logiken49 wie etwa die jahrhundertelangen Fremdendienste der Schotten für zahlreiche europäische Armeen.50 Generell ist über Söldner und Soldaten in landsmannschaftlich geschlossenen Militärverbänden wenig explizit gearbeitet worden. Unter die auf den deutschen Kriegsschauplätzen der Frühen Neuzeit agierenden Gruppen zählten – über die bislang genannten Schweizer und Schotten hinaus – insbesondere Finnen- und Lappen-Regimenter in schwedischen Diensten51, KroatenRegimenter in kaiserlichen Diensten52 oder die erst später auf deutschen Schlacht-

|| 48 Aus der reichen Literatur zur päpstlichen ›Schweizergarde‹ vgl. etwa Ulrich Nersinger, Soldaten des Papstes. Eine kleine Geschichte der päpstlichen Garden (Nobelgarde, Schweizergarde, Palatingarde, Gendarmerie), 2. Aufl. Ruppichteroth 1999. 49 Hierzu vgl. etwa aus neuerer Zeit Hans Conrad Peyer, Die wirtschaftliche Bedeutung der Fremden Dienste für die Schweiz vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: ders., Könige, Stadt und Kapital, hg.v. Ludwig Schmugge/Roger Sablonier/Konrad Wanner, Zürich 1982, S. 219–231; Werner Meyer, Eidgenössischer Solddienst und Wirtschaftsverhältnisse im schweizerischen Alpenraum um 1500, in: Kroll/Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft, S. 23–39; Benjamin Hitz, Wer ging überhaupt und weshalb? Die Eidgenossenschaft als Söldnerlandschaft. Das Beispiel von Luzern im späten 16. Jahrhundert, in: Rogger/Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften, S. 203–222; Christian Koller/Peter Huber, Armut, Arbeit, Abenteuer. Sozialprofil und Motivationsstruktur von Schweizer Söldnern in der Moderne, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 102. 2015, S. 30–51. 50 Zusammenfassend zu den auswärtigen Militärdiensten schottischer Söldner vgl. aus jüngerer Zeit Robert Bartlett, Scottish Mercenaries in Europe 1570–1640. A Study in Attitude and Policies, in: The Scottish Tradition, 13. 1986, S. 13–24; Grant G. Simpson (Hg.), The Scottish Soldier abroad 1247– 1967, Edinburgh 1992; Steve Murdoch/Andrew Mackillop (Hg.), Fighting for Identity. Scottish Military Experiences c. 1550–1900, Leiden u.a. 2002; David Worthington, Scots in Habsburg Service 1618– 1648, Leiden 2004; James Miller, Swords for Hire. The Scottish Mercenaries, Edinburgh 2007; Steve Murdoch, Schottische Soldaten in Europa der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 948–952. 51 Zu den Finnen im schwedischen Heer während des Dreißigjährigen Krieges entsteht von Detlev Pleiss gerade eine ausführliche Studie, vgl. derweil noch dessen zahlreichen Einzelstudien: Detlev Pleiss, ›Finnen‹ und ›Lappen‹ in Stift und Stadt Osnabrück 1633–1643, in: Osnabrücker Mitteilungen, 95. 1990, S. 41–94; ders., Finnische Musketiere in fränkischen Garnisonen 1631–1634, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst, 44. 1992, S. 1–51; ders., Der Zug der finnischen Reiter in die Niederlande via Wesel 1633, in: Jutta Prieur (Hg.), Stadt und Festung Wesel. Beiträge zur Stadtgeschichte der frühen Neuzeit, Wesel 1998, S. 9–48; ders., Friedensquartiere der Schweden und Finnen in Franken und Coburg 1648–1650, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung, 43. 1998, S. 149–197; 44. 1999, S. 87–128; ders., Die Friedensquartiere der Schweden und Finnen um Nürnberg 1648/49, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 86. 1999, S. 115–171; Jussi T. Lappalainen, Finland’s Contribution to the War in Germany, in: Klaus-Richard Böhme (Hg.), 1648 and European Security Proceedings, Stockholm 1999, S. 179–191. 52 Holger Schuckelt, Kroatische Reiter. Schrecken und Faszination in Sachsen, in: Uwe Fiedler (Hg.), Der Kelch der bittersten Leiden. Chemnitz im Zeitalter von Wallenstein und Gryphius. Ausstellungskatalog, Chemnitz 2008, S. 100–107. Darüber hinaus sind v.a. die ›Panduren‹ zu nennen, die ursprünglich Leibwächter kroatischer Adliger in Slawonien, seit den Schlesischen Kriegen aber

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feldern präsenten Kosaken-Regimenter in polnischen und russischen Armeen.53 Gleiches gilt auch für die zahlreichen deutschen Regimenter im Dienst ausländischer Kronen.54 Die Vorteile solcher landsmannschaftlich – und im Idealfalle auch konfessionell – geschlossener Fremdenregimenter lag in der Wahrung des inneren Zusammenhalts der Truppe aufgrund gleicher Sprache, Konfession und Kultur, zumal landsmannschaftliche und familiäre Beziehungen besondere Vertrauensverhältnisse und starke Kohärenzen bildeten.55 Lange Zeit akzeptierte und durch Reichsrecht legalisierte Praxis war der vor allem von den Landesherren kleinerer Reichsterritorien betriebene sogenannte ›Soldatenhandel‹, wobei die angemessenere Bezeichnung für dieses Phänomen ›Vermietung‹ von Truppenkontingenten gemäß Subsidienverträgen ist.56 Die gegen Ende des Ancien Régime wachsende Kritik an dieser Praxis, etwa von Christian Friedrich Daniel Schubart oder Friedrich Schiller – Johann Gottfried Seume verarbeitete seine

|| reguläre Truppenteile der kaiserlich-österreichischen Armee waren, vgl. Liselotte Popelka, Martin Engelbrecht und die Hilfsvölker Maria Theresias, in: Maria Theresia als Königin von Ungarn. Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1980, S. 45–51. 53 Marian Füssel, Die Aasgeier des Schlachtfeldes. Kosaken und Kalmücken als russische Irreguläre während des Siebenjährigen Krieges, in: Förster/Jansen/Kronenbitter (Hg.), Rückkehr der Condottieri?, S. 141–152; ders., Panduren, Kosaken und Sepoys. Ethnische Gewaltakteure im 18. Jahrhundert zwischen Sicherheit und Stigma, in: Rogger/Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften, S. 181–202. 54 Hierzu grundlegend vgl. Georg Tessin, Die Regimenter der europäischen Staaten im Ancien Régime des XVI. bis XVIII. Jahrhunderts, 3 Bde., Osnabrück 1986/95. Zu den aus deutschen Territorien angeworbenen Regimentern in französischen Diensten vgl. Hans-Joachim Kühn, Deutsche Fremdenregimenter in königlich französischen Diensten, in: Saarländische Familienkunde, 28. 1995, S. 439–448; Bernhard R. Kroener, Deutsche Offiziere im Dienste des ›allerchristlichsten Königs‹ (1715–1792). Aspekte einer Sozialgeschichte der Elite deutscher Fremdenregimenter in Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Jean Mondot/Jean-Marie Valentin/Jürgen Voss (Hg.), Deutsche in Frankreich – Franzosen in Deutschland 1715–1789. Institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austausches, Sigmaringen 1992, S. 53–71. Zu den aus deutschen Territorien angeworbenen Regimentern in britischen Diensten vgl. zusammenfassend Stephen Conway, Continental European Soldiers in British Imperial Service c. 1756–1792, in: English Historical Review, 129. 2014, S. 79–106; dazu vgl. auch die Literaturhinweise zu den deutschen Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in Anm. 66 und 67. 55 Dies wurde exmplarisch für die französische Armee untersucht, vgl. André Corvisier, Clientèles et fidélitités dans l’armée français au XVIIe et XVIIIe siècles, in: ders., Les hommes, la guerre et la mort, Paris 1985, S. 191–214. 56 Aus der reichen Literatur zu diesem Themenkomplex vgl. zuletzt v.a. Peter H. Wilson, The German ›Soldier Trade‹ of the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Reassessment, in: International History Review, 18. 1996, S. 757–792; Ludolf W.G. Pelizaeus, Gewaltexport zwischen ›Ausschaffung‹ von Straftätern, Soldatenhandel und obrigkeitlichen Interessen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Rogger/Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften, S. 243–259; Christoph Kampmann, Zwang zum ›Soldatenhandel‹? Hessen-Kassel und die Spielräume reichsfürstlicher Politik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gräf/Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians, S. 22–40; Michael Sikora, Soldatenhandel, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 12. 2010, Sp. 167–172.

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persönlichen Erfahrungen in seiner posthum erschienenen Autobiographie ›Mein Leben‹ (Leipzig 1813) –, entzündete sich allerdings weniger an der Praxis der Vermietung von Soldaten, sondern an einer vermeintlichen Freiheitsberaubung und dem skrupellosen Menschenhandel, die teilweise mit einer (Zwangs-)Rekrutierung einherging. Die Kritik richtete sich aber auch gegen die Verwendung der Einnahmen aus dieser lukrativen Praxis, war mithin auch eine Form der aufgeklärten Regierungskritik.57 Für die amerikanische Publizistik war der Soldatenhandel hingegen lange Zeit ein typisches Beispiel für die Willkür der britischen Krone, die mit Hilfe von verhassten europäischen Soldknechten das nach Freiheit strebende amerikanische Volk unterdrücken wollte.58 Sowohl die Subsidientruppen, als auch die Subsidienzahlungen von Großmächten an mindermächtige Fürsten waren im späteren 17. und im 18. Jahrhundert jedoch wichtige politische Instrumente.59 Dies gilt gleichermaßen für den militärisch potenteren Partner, der einerseits mit fremden Auxiliartruppen seine eigene Truppenzahl erhöhen konnte, andererseits damit aber in der Lage war, einen Mehrfrontenkrieg zu führen, wie etwa im Siebenjährigen Krieg, als auf britischer und französischer Seite in Übersee neben den regulären Truppen auch Subsidienregimenter kämpften, auf dem europäischen Kontinent aber mindermächtige, wenngleich armierte Staaten finanziell unterstützt wurden, um auf Seiten der beziehungsweise anstelle der beiden Großmächte zu kämpfen. Insbesondere für die politisch mindermächtigen Reichsfürsten war die Vermietung von Soldaten ein probates Mittel, nicht nur ihren Bündnisverpflichtungen nachzukommen, sondern nebenher auch eine kräftige Finanzspritze aus den Subsidien zu erhalten. Einzelne Reichsfürsten wurden durch diese einträgliche Praxis sehr wohlhabend, insbesondere der Landgraf von Hessen-Kassel, der bereits 1677 ein erstes Regiment nach Dänemark entsandten, sodann auch Truppen an Spanien, den Kaiser, die Republik

|| 57 Zusammenfassend vgl. zuletzt Christine Braun, Soldaten zu verkaufen? Zur Diskussion über die Subsidienpolitik deutscher Fürsten in der gebildeten deutschsprachigen Öffentlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts, in: Gräf/Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians, S. 187–202. 58 Zuletzt ausführlich Erik Simpson, Mercenaries in British and American Literature 1790–1830. Writing, Fighting, and Marrying for Money, Edinburgh 2010. Heute spielen die sogenannten ›Hessians‹ freilich eine prominente Rolle in der kollektiven Erinnerungskultur der USA, vgl. zuletzt Mark Häberlein, Die ›Hessians‹ in der amerikanischen Kulturgeschichte. Vom populären Feindbild zum geschätzten Vorfahren, in: Gräf/Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians, S. 259–284; Christoph Mauch, Images of America – Political Myths – Historiography. Hessians in the War of Independence, in: Amerikastudien/American Studies, 48. 2003, S. 411–423. 59 Offenbar begann der Münsteraner Bischof Christoph Bernhard von Galen seit dem Jahre 1665 als erster einen systematischen Soldatenhandel. Während des Türkenkrieges – namentlich im Krieg um die Halbinsel Morea (Peloponnes) – erlebte der Soldatenhandel einen ersten Höhepunkt, als etwa der sächsische Kurfürst Johann Georg III. 1685 rund 3.000 Soldaten an die Republik Venedig vermietet hatte, vgl. Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuordnung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Stuttgart 2006 S.151f. Insofern war diese Praxis bereits längst vor den Schlesischen Kriegen und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verbreitet.

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Venedig und an die Niederlande vermietete, bevor seit den 1690er Jahren der englische König zum Hauptabnehmer hessen-kasselischer Truppen wurde.60 Mit der Ausrichtung auf britische Subsidien entwickelte sich Hessen-Kassel seit der Mitte des 18. Jahrhundert zu einem regelrechten »Söldnerstaat«61, in dem – nach dem Muster des preußischen Kantonsystems62 – absichtlich ein erheblicher Überschuss an Soldaten ausgehoben wurde. Um die Landeskinder möglichst zu schonen, wurden zur Erfüllung der Subsidienverträge neben den regulär ausgehobenen Soldaten zunehmend durchreisende Ausländer als Freiwillige angeworben, denen die staatlichen Werber Reichtum und Grundbesitz sowie eine finanzielle Versorgung für die Hinterbliebenen – so die explizite Regelung in den Subsidienverträgen mit der britischen Krone – versprachen. Da die Zahl der freiwillig Geworbenen aber oft nicht ausreichte, um das Fremdenregiment ständig wehrfähig zu erhalten, wurden zunehmend auch Zwangsrekrutierungen gegen den Willen der eigenen Untertanen vorgenommen und damit zuweilen sowohl ein Mangel an Arbeitskräften in HessenKassel, als auch soziale Tragödien produziert. Durch die massenhafte Rekrutierung entstand in Hessen-Kassel eine Armee, die – bezogen auf die Einwohnerzahl – sogar proportional größer war als die preußische. Den Höhepunkt des Soldatenhandels bildete der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, an welchem sowohl auf britischer, als auch auf französischer Seite eine erhebliche Zahl gemieteter deutscher Soldaten teilnahmen, unter denen der Kasseler Landgraf mit zwischen 1776 und 1783 etwa 19.000 Soldaten das größte Kontingent stellte – übrigens rund ein Drittel der gesamten britischen Militärpräsenz in Nordamerika.63 Die rechtliche Grundlage || 60 Die Tradition der Vermietung von Soldaten begründete der auch sonst sehr ökonomisch denkende Landgraf Karl (reg. 1670–1730), vgl. die Überblicke von Holger Thomas Gräf, Die ›Fremden Dienste‹ in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (1677–1815). Ein Beispiel militärischer Unternehmertätigkeit eines Reichsfürsten, in: Jaun/Streit/de Wec (Hg.), Schweizer Solddienst, S. 83–103; ders., »Ce corps de troupes fait notre Perou.« Die Subsidienverträge der Landgrafen von Hessen-Kassel im Uberblick, in: ders./Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians, S. 41–58. 61 Begriff nach Charles W. Ingrao, The Hessian Mercenary State. Ideas, Institutions and Reform under Frederick II 1660–1785. Cambridge 1987; vgl. auch Peter Keir Taylor, Indentured to Liberty. Peasant Life and the Hessian Military State 1688–1815, Ithaca 1994. 62 Zum preußischen ›Kantonsystem‹ vgl. die Literaturhinweise in Anm. 91. 63 Insgesamt ist dieses Phänomen gut erforscht – sowohl von deutscher wie von US-amerikanischer Seite. Gerade in jüngster Zeit sind an der Universität Marburg vermehrt Projekte zu den hessischen Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in Angriff genommen worden, unter anderem Editionen von Tagebüchern und Korrespondenzen, u.a. auch eine umfangreiche OnlineDatenbank ›HETRINA‹ (http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/index/sn/hetrina), vgl. dazu zuletzt Stephan Giersch, Die HETRINA-Datenbank und ihr Nutzen für die militärgeschichtliche Forschung, in: Gräf/Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians, S. 129–142. Unter den neueren Gesamtdarstellungen zu diesem Thema sind – neben dem ganz aktuellen Sammelband von Gräf/ Hedwig/Wenz-Haubfleisch (Hg.), Die Hessians – zu nennen: Rodney Atwood, The Hessians. Mercenaries from Hessen-Kassel in the American Revolution, Cambridge 1980; Inge Auerbach, Die Hessen in Amerika 1776–1783, Marburg 1996.

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für den hessischen Soldatenhandel bildete der Subsidienvertrag zwischen dem Kasseler Landgraf Friedrich II. (reg. 1760–1785) mit seinem britischen Schwager König Georg III. In der Summe kämpften auf britischer Seite etwa 30.000 gemietete deutsche Soldaten.64 Eine besondere Erscheinung waren übrigens die sogenannten ›Black Hessians‹, mithin die der Sklaverei durch Rekrutierung seitens der hessischen Truppen entronnenen schwarzen Soldaten, von denen nach dem Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges einzelne mit den Kasseler Truppen nach Deutschland gingen.65 Als letzte deutsche Subsidientruppe vor dem Ende des Alten Reiches gilt übrigens das 1786 ausgehobene sogenannte württembergische ›Kapregiment‹ im Dienst der ›Niederländischen Ostindien-Kompanie‹.66 In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Söldner- oder Subsidiendienste nicht nur obrigkeitlicher Kontrolle unterlagen, sondern auch demographischer, ökonomischer und transnationaler Logiken folgten. Dabei konnten konfessionelle Kriterien insofern eine Rolle spielen, als die ›wahre Religion‹ gegen vermeintliche Häretiker oder Heiden verteidigt werden sollte, mithin die Anwerbung von Söldnern und Soldaten als moralische Pflicht christlicher Monarchen || 64 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dietmar Kügler, Die deutschen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775–1783, Stuttgart 1980; Jean-Pierre Wilhelmy, Soldiers for Sale. German ›Mercenaries‹ with the British in Canada during the American Revolution (1776–83), Montreal 2012; dazu Melody Andrews, »Myrmidons from abroad.« The Role of the German Mercenaries in the Coming of American Independence, Ann Arbor 1994; Daniel Krebs, Recruiting German Subsidy Troops for British Service during the American War of Independence. Patterns, Policies, and Practice, in: The Hessians. Journal of the Johannes Schwalm Historical Association, 12. 2009, S. 36–43; Chen Tzoref-Ashkenazi, Deutsche Hilfstruppen in Imperialkriegen 1776–1808, in: Tanja Bührer (Hg.), Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen, Akteure, Lernprozesse, Paderborn 2011, S. 345–361; vgl. auch die exemplarische Studie von Stephan Huck, Soldaten gegen Nordamerika. Lebenswelten Braunschweiger Subsidientruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, München 2011. 65 George Fenwick Jones, The Black Hessians. Negroes recruited by the Hessians in South Carolina and other Colonies, in: The South Carolina Historical Magazine, 83. 1982, S. 287–302; Uwe-Peter Böhm, Farbige in hessischen Diensten, in: Zeitschrift für Heereskunde, 47. 1983, S. 81–84; Maria Diedrich, From American Slaves to Hessian Subjects. Silenced Black Narratives of the American Revolution, in: Mischa Honeck/Martin Klimke/Anne Kuhlmann (Hg.), Germany and the Black Diaspora. Points of Contact 1250–1914, New York 2013, S. 92–111. 66 Zum ›Kapregiment‹ vgl. zuletzt Christine Bührlen-Grabinger, Verkauft und verloren. Das württembergische ›Kapregiment‹ in Südafrika, Ceylon und Java 1787–1808. Begleitbuch zur Ausstellung, Stuttgart 1987; Hans-Martin Maurer, Das Württembergische Kapregiment. Söldner im Dienste früher Kolonialpolitik (1787–1808), in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte, 47. 1988, S. 291–307; Frederic Groß, Nur für den Profit? Der Subsidienvertrag von 1786 über die Aufstellung des »Kapregiments« zwischen Herzog Karl Eugen von Württemberg und der Niederländischen Ostindienkompanie, in: Portal Militärgeschichte, http://portal.akmilitaergeschichte.de/sites/ default/files/pdf/Gross,%20Kapregiment.pdf. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Roelof van Gelder, Das ostindische Abenteuer. Deutsche in Diensten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC) 1600–1800, Hamburg 2004, S. 102 und passim; Tzoref-Ashkenazi, Deutsche Hilfstruppen.

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betrachtet wurde. Dies war beispielsweise bei der Aufstellung der aus verschiedenen europäischen, auch aus deutschen Ländern geworbenen protestantischen Soldaten des niederländischen Generalstatthalters Wilhelm III. von Oranien der Fall.67 Hugenottische Offiziere gab es freilich auch in Armeen (protestantischer) deutscher Fürsten, vor allem in Brandenburg-Preußen68, aber auch andernorts.69 Bei den von den Habsburgern seit den 1520er Jahren massenhaft an der ›Militärgrenze‹ zum Osmanischen Reich angesiedelten ›Wehrbauern‹ fanden sich viele aus ihrer Heimat vertriebene und geflohene orthodoxe Soldaten, namentlich Serben, Bosnier und Walachen.70 Mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen orthodoxen Glaubens als

|| 67 Zu den Hugenotten-Regimentern Wilhelms III. von Oranien und Hugenotten-Offizieren in europäischen Armeen vgl. zuletzt Matthew Glozier/David Onnekink (Hg.), War, Religion and Service. Huguenot Soldiering 1695–1713, Aldershot/Burlington 2007; zudem Philip Rambaut/Randolph Vigne (Hg.), Britain’s Huguenot War Leaders. The Service Careers of Feversham, Galway and Ligonier from Sedgemoor to Quebec, London 2002; Matthew Glozier, The Huguenot Soldiers of William of Orange and the Glorious Revolution of 1688. The Lions of Judah, Brighton 2002; Vivien Costello/Matthew Glozier, Huguenots in European Armies, in: Asche/Herrmann/Ludwig/Schindling (Hg.), Krieg, Militär und Migration, S. 91–104; demnächst Ulrich Niggemann, Wissens- und Kulturtransfer durch importierte Militäreliten? Das Beispiel der Hugenottenoffiziere, in: Matthias Asche/Marian Füssel (Hg.), Militärische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit [Göttingen 2015]. Zum Gesamtzusammenhang vgl. David J.B. Trim, The Huguenots and the European Wars of Religion, c. 1560–1697. Soldiering in National and Transnational Context, in: ders. (Hg.), The Huguenots. History and Memory in Transnational Context. Essays in Honour and Memory of Walter C. Utt, Leiden/Boston 2011, S. 153–192. 68 Helmut Schnitter, Unter dem roten Adler. Réfugiés im brandenburgischen Heer Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhundert, Berlin 1996; Detlef Harms, Das Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685. Die Integration und der soziale Aufstieg von Ausländern in der preußischen Armee des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Bernhard R. Kroener (Hg.), Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußischdeutschen Militärgeschichte, Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 159–171; Jürgen Kloostenhuis, Officiers, Cadets et Mousquetaires. Réfugiés in kurbrandenburgischen Diensten. Ein Beitrag zur Geschichte des Regiments de Varenne, zugleich zu den westfälischen Wurzeln des späteren Garderegiments zu Fuß, in: Zeitschrift für Heereskunde, 59. 1995, S. 128–136; Alain Hilbold, Des Messins dans l’armée du Brandenbourg, in: Philippe Hoch (Hg.), Huguenots. De la Moselle à Berlin. Les chemins de l’exil, Metz 2006, S. 89–108; Matthias Asche, Huguenot Soldiers in Brandenburg-Prussia under Friedrich Wilhelm and Friedrich III (1640–1713). The State of Research in German Military, Migration and Confessional History, in: Glozier/Onnekink (Hg.), War, Religion and Service, S. 175–193. 69 Ausgeprägt war die Präsenz hugenottischer Offiziere insbesondere am Hof Herzog Georg Wilhelms von Braunschweig-Lüneburg in Celle, vgl. u.a. Andreas Flick, »Der Celler Hof, so sagt man, ist ganz französisch.« Hugenotten am Hof und beim Militär Herzog Georg Wilhelms von BraunschweigLüneburg, in: Celler Chronik. Beiträge zur Geschichte und Geographie der Stadt und des Landkreises Celle, 12. 2005, S. 65–98. Zu den hugenottischen Offizieren im Dienst des Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth, vgl. Sylvia Ostertag-Henning/Michael Peters, »Ist ein Frantzos.« Hugenotten im Dienst des markgräflichen Militärs und im Fränkischen Reichskreis unter Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth 1686–1712, in: Hugenotten, 74. 2010, S. 51–63. 70 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Norbert Spannenberger, Transimperiale Migration zwischen Osmanen und Habsburgern. Die Serben in den Neoacquistica-Gebieten im 16. bis 18. Jahrhundert,

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›Wehrbauern‹ im entvölkerten westkroatischen Sichelburg (Žumberak) durch König Ferdinand I. in den späten 1520er und 1530er Jahren – darunter auch die vor der dalmatischen Küste als Piraten agierenden orthodoxen Uskoken (1535) – wird gemeinhin die Entstehung der ›Militärgrenze‹ terminiert.71 Dennoch muss hier betont werden, dass – der spezifischen zweckrationalen Logik des Militär- und Kriegswesens folgend – selbst bei expliziten Religionskriegen konfessionelle Uniformität der Regimenter nicht zwingend im Vordergrund stehen mussten.72 Konfessionalisierung war in der Militärgesellschaft zwar einerseits ein propagiertes Instrument zur Austragung religiöser Konflikte nach innen und außen, andererseits zeigt die soziale Realität durchaus partielle Toleranzphänomene.73 Die Realität hugenottischer Offiziere in fremden Diensten verweist auf das Phänomen, dass es bis in die Zeit der stehenden Heere nicht nur für die einfachen Söldner und Soldaten, sondern eben auch für kriegserfahrenes militärisches Führungspersonal einen gesamteuropäischen Arbeitsmarkt gab.74 Dies gilt für die Zeit vor der Errichtung stehender Heere in besonderem Maße für die Kriegsunternehmer (›Condottieri‹, ›Söldnerkapitäne‹ oder ›-führer‹)75, die als Organisatoren militärischer Leis|| in: ders./Varga Szabolcs (Hg.), Ein Raum im Wandel. Die osmanisch-habsburgische Grenzregion vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 2014, S. 87–114. 71 Zu den Uskoken vgl. zuletzt Marija Wakounig, Ferdinand I. und die Uskoken, in: Martina Fuchs/ Alfred Kohler (Hg.), Kaiser Ferdinand I. Aspekte eines Herrscherlebens, Münster 2003, S. 191–201; Catherine Wendy Bracewell, The Uskoks of Senj. Piracy, Banditary and Holy War in the SixteenthCentury Adriatic, Ithaca 2010; Wolfgang Gruber, Die Lebenswelt der Uskoken von Senj. Eine unbequeme Gemeinschaft im Adriaraum der Frühen Neuzeit, in: Andreas Obenaus/Eugen Pfister/Birgit Tremml (Hg.), Schrecken der Händler und Herrscher. Piratengemeinschaften in der Geschichte, Wien 2012, S. 79–99. 72 Die Implikationen von Militär und Religion sind bislang nur in Ansätzen erforscht worden, vgl. v.a. Kaiser/Kroll, Militär und Religiosität. 73 Hierzu vgl. die grundsätzlichen Überlegungen von Ralf Pröve, Reichweiten und Grenzen der Konfessionalisierung am Beispiel der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, in: Kaspar von Greyerz/Hartmut Lehmann/Manfred Jakubowski-Tiessen/Thomas Kaufmann (Hg.), Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2003, S. 73–90; Michael Kaiser, Cuius exercitus, eius religio? Konfession und Heerwesen im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 91. 2000, S. 316–353. In einer aktuellen Studie wird argumentiert, dass Söldner zwar nicht gänzlich unreligiös gewesen seien, aber ihre Frömmigkeit auch nicht gemäß strikten konfessionellen Propria praktiziert hätten, vgl. Nikolas Maximilian Funke, Religion and the Military in the Holy Roman Empire c.1500–1650, Diss. University of Sussex 2011. 74 Erste systematische Überlegungen hierzu bei Bernhard R. Kroener, »Der Krieg hat ein Loch ...« Überlegungen zum Schicksal demobilisierter Söldner nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede, S. 599–630, hier S. 619–621; ders., Krieg und Karriere. 75 Zum Typus des Kriegsunternehmers vgl. aus jüngerer Zeit v.a. Reinhard Baumann, Von Frundsberg zu Wallenstein. Die Entwicklung des Söldnerunternehmertums in der frühen Neuzeit, in: Georg Jenal (Hg.), Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, München 1993, S. 11–30, ders.,

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tungen für Rekrutierung, Mobilisierung und Logistik ihrer Truppen im Auftrag ihres Dienstherrn selbst verantwortlich waren. Ein typischer Kriegsunternehmer war in der Regel kein regierender Adliger, sondern oft ein nachgeborener Sohn einer kinderreichen Familie aus dem höheren, dem reichsritterschaftlichen oder dem niederen Adel.76 Weil er mangels ungünstigem Platz in der Erbfolge kaum Aussichten auf ein standesgemäßes Auskommen hatte, trat ein solcher Adliger früh in Dienste eines zumeist bedeutenden Kriegsherrn – etwa des Kaisers, der Kronen Schweden, Frankreich oder Spanien oder der Republik Venedig –, wobei die Konfession keine zentrale Rolle spielen musste. Im Verlauf einer Militärkarriere waren nicht nur politische, sondern auch konfessionelle Seitenwechsel der Kriegsunternehmer, oft auch mehrfache, nicht unüblich. Entscheidender für einen sozialen Aufstieg war ohnehin militärische Professionalität.77 Das bekannteste Beispiel eines ausgesprochenen

|| Die deutschen Condottieri. Kriegsunternehmertum zwischen eigenständigem Handeln und ›staatlicher‹ Bindung im 16. Jahrhundert, in: Förster/Jansen/Kronenbitter (Hg.), Rückkehr der Condottieri?, S. 111–125; Lothar Höbelt, Götterdämmerung der Condottieri. Der Dreißigjährige Krieg, in: ebd., S. 127–140; Geoff Mortimer, War by Contract, Credit and Contributions. The Thirty Years War, in: ders. (Hg.), Early Modern Military History, Basingstoke 2004, S. 101–117; demnächst Matthias Meinhardt/Markus Meumann (Hg.), Die Kapitalisierung des Krieges. Kriegsunternehmer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen [2015]. 76 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Georg Schmidt, Voraussetzung oder Legitimation? Kriegsdienst und Adel im Dreißigjährigen Krieg, in: Otto Gerhard Oexle/Werner Paravicini (Hg.), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, Göttingen 1997, S. 431–451; Wolfgang Bockhorst, Westfälische Adelige als Kriegsunternehmer im Dreißigjährigen Krieg, in: Gunnar Teske (Hg.), Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Forschungen aus westfälischen Adelsarchiven, Münster 2000, S. 9–26; Michael Kaiser, »Ist er vom Adel? Ja. Id satis videtur.« Adelige Standesqualität und militärische Leistung als Karrierefaktoren in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges, in: Franz Bosbach/Keith Robbins/Karina Urbach (Hg.), Geburt oder Leistung? Elitenbildung im deutsch-britischen Vergleich, München 2003, S. 73–90. Bekannte Beispiele für solche adligen Kriegsunternehmer aus dem 16. Jahrhundert sind die Reichsritter Franz von Sickingen (1481–1523), Konrad von Bemelberg (eigentlich Boyneburg; 1494–1567) oder der im Bauernkrieg als ›Bauernjörg‹ berüchtigte Georg III. Truchsess von Waldburg-Zeil. Aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges ragt insbesondere der nicht regierende Graf Ernst von Mansfeld (1580–1626) heraus. Aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wären daneben zu nennen der aus dem niederländischen Adel stammende Johann t’Tserclaes Graf von Tilly (1559–1632) oder der im kaiserlichen Diensten stehende Graf und Reichserbmarschall Gottfried Heinrich zu Pappenheim. 77 Bernhard R. Kroener, Militärischer Professionalismus und soziale Karriere. Der französische Adel in den europäischen Kriegen 1740–1763, in: ders. (Hg.), Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen. Wirtschaft, Gesellschaft, Kriege, München 1989, S. 99–132; ders., Krieg und Karriere; PeterMichael Hahn, Aristokratisierung und Professionalisierung. Der Aufstieg der Obristen zu einer militärischen und höfischen Elite in Brandenburg-Preußen von 1650–1725, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 1. 1991, S. 161–208; Michael Hochedlinger, Mars Ennobled. The Ascent of the Military and the Creation of a Military Nobility in Mid-EighteenthCentury Austria, in: German History, 17. 1999, S. 141–176; Bernhard Schmitt, Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten in den habsburgischen und preußischen Teilungsgebieten 1772–

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Sozialaufsteigers aus dem Niederadel war Albrecht von Wallenstein, der ähnlich wie die Familie Liechtenstein auch zu den ökonomischen Profiteuren des Dreißigjährigen Krieges gezählt werden muss.78 Es gibt aber auch prominente Beispiele für Kriegsunternehmer, die nicht adliger, sondern bürgerlicher oder gar bäuerlicher Herkunft waren.79 Zuweilen hatte das Kriegsunternehmertum auch eine Generationen lange Tradition, etwa bei einigen Familien in der Eidgenossenschaft.80 Erfolgreiche Feldherren und Kriegsunternehmer wurden gezielt angeworben81, wobei

|| 1830, in: Karsten Holste (Hg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 49–62; Frank Göse, »Es war mir wie einem armen Gemeinen zu Muthe.« Überlegungen zur Professionalisierung adliger Offiziere ausgewählter deutscher Reichsterritorien im 17. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 14. 2010, S. 185–214; Sonkajärvi, Mobility between Risk and Opportunity. 78 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Winfried Becher, Profiteure des Dreißigjährigen Krieges, in: Pulheimer Beiträge zur Geschichte, 34. 2009, S. 34–60. 79 Geradezu spektakulär verlief der soziale Aufstieg von Peter Melander (1589–1648), der es im Dreißigjährigen Krieg als reformierter Kriegsunternehmer in kaiserlichen Diensten immerhin bis zum Reichsgrafen von Holzappel brachte. Zu nennen ist hier auch der aus ganz einfachen Verhältnissen stammende Reitergeneral Jan van Werth (1591–1652). 80 Nathalie Büsser, A Family Affair. Das Soldgeschäft als erbliches Verwandtschaftsunternehmen, in: Hans Jaun/Streit/de Wec (Hg.), Schweizer Solddienst, S. 105–114. Ein bekanntes Beispiel ist die seit dem Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution im Kriegsgeschäft tätige Familie Zurlauben aus Zug, vgl. Daniel Schläppi, »In allem Übrigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissen.« Akteure in der eidgenössischen Außenpolitik des 17. Jahrhunderts. Strukturen, Ziele und Strategien am Beispiel der Familie Zurlauben von Zug, in: Der Geschichtsfreund, 151. 1998, S. 5–90. Aus der Zeit der Kriege Kaiser Karls V. gegen Frankreich sind auch Georg von Frundsberg (1473– 1528) und dessen Sohn Kaspar (1501–1536) zu nennen, vgl. Reinhard Baumann, Georg von Frundsberg, der Vater der Landsknechte, 2. Aufl. München 1991. 81 Ein Beispiel für einen solchen Makler bietet Pfalzgraf Johann Kasimir von Zweibrücken-Kleeburg (1589–1652) der aufgrund seiner exzellenten personellen Vernetzung im Reich, vor allem am Oberrhein, geeignete Offiziere für den schwedischen König Gustav II. Adolf besorgte, vgl. demnächst die Dissertation von Andreas Kappelmayer, vorab: Andreas Kappelmayer, »da ich mich sambt meinen kindern als frembde sehe.« Fremdheitserfahrungen Johann Casimirs von Pfalz-Zweibrücken und seiner Kinder in der höfischen Gesellschaft Schwedens (1622–1652), in: Otfried Czaika/Heinrich Holze (Hg.), Migration und Kulturtransfer im Ostseeraum während der Frühen Neuzeit, Stockholm 2012, S. 182–200. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Göran Göransson, Der deutsche Einfluß auf die Professionalisierung des schwedischen Offizierskorps und die Herausbildung eines Offiziersideals 1560–1718, in: Kulturelle Beziehungen zwischen Schweden und Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Stade 1990, S. 52–61. Der Kaiser warb demgegenüber vor allem in Italien um geeignetes (katholisches) militärisches Führungspersonal, vgl. Raoul Guete, Uomini d’arme italiani in Boemia e Moravia all’epoca della battaglia della montagna Bianca (1612–1621), in: Sante Graciotti (Hg.), Italia e Boemia nella cornice des Rinascimento europeo, Florenz 1999, S. 391–402; Robert Rebitsch, Italienische Militärs im Dienste des Hauses Habsburg im 17. Jahrhundert. Die Integration ins Habsburgische Staatswesen, in: Marco Bellabarba (Hg.), Le corti come luogo di comunicazione. Gli Asburgo e l’Italia (secoli XVI–XIX), Bologna 2010, S. 155–176; Claudio Donati, Soldaten und Offiziere italienischer Herkunft von den Erbfolgekriegen des 18. Jahrhunderts bis zum napoleonischen Zeital-

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deren Marktwert stieg, wenn sie beim Übertritt in ein neues Dienstverhältnis möglichst viele Soldaten ihrer Truppe vom selben Schritt überzeugen konnten. Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges war der Höhepunkt des Kriegsunternehmertums erreicht. Aber auch noch in den Anfangszeiten stehender Heere waren kriegserfahrene Offiziere umworben.82 Erst im 18. Jahrhundert wurden die Führungsschichten in der Regel im eigenen Land an Militärbildungsanstalten rekrutiert. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Söldner in den Landsknechtsheeren und die Soldaten in den stehenden Heeren typische Arbeitsmigranten waren. Schon lange vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im frühen 19. Jahrhundert hatten sich in den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches verschiedene Rekrutierungsformen herausgebildet, etwa schon seit dem Spätmittelalter in den für den Landesherrn zur Verteidigung des Territoriums nach außen aufgebotenen Bürger- und Bauernaufgeboten der ›Landesdefensionen‹, die ›Landmilizen‹ und ›Landwehren‹.83 Systematische und leistungsstarke staatliche Rekrutierungssysteme ent-

|| ter. Eine politische und soziale Betrachtung, in: Andreas Gestrich/Bernhard Schmitt (Hg.), Militär und Gesellschaft in Herrschaftswechseln, Potsdam 2013, S. 21–39. Exemplarisch sei verwiesen auf den aus Italien stammenden kaiserlichen Feldherrn Ottavio Piccolomini (1599–1656). Nach den Teilungen Polens spielten zunehmend auch Militärpersonen aus dem vormals Polnisch-Litauischen Reich eine Rolle in der kaiserlichen Armee, vgl. Bernhard Schmitt, Der polnische Adel in den Armeen Preußens und der Habsburgermonarchie. Inklusion und Exklusion neuer Untertanen im Militär (1772–1806), in: Hans-Jürgen Bömelburg/Andreas Gestrich/Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsebenen – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013, S. 361–378; Andreas Gestrich, Die galizischen adeligen Leibgarden am Wiener Hof. Ein Beispiel habsburgischer Inklusionspolitik nach den Teilungen Polen-Litauens, in: ders./Schmitt (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 41–63. 82 Ein Beispiel für eine solche Übergangsfigur ist Frédéric-Armand de Schomberg (eigentlich Graf Friedrich Hermann von Schönberg; 1615–1690), der zwischen 1633 und 1690 auf praktisch allen west- und südeuropäischen Kriegsschauplätzen Erfahrungen gesammt hat. Schomberg diente nacheinander dem calvinistischen Generalstatthalter der Niederlande, dem lutherischen König von Schweden, dem katholischen König von Portugal, dem anglikanischen König von England, dem katholischen König von Frankreich und dem reformierten Kurfürsten von Brandenburg und fiel schließlich 1690 in der Schlacht am Boyne als ›General of all Her Majesty’s forces‹ – zwischenzeitlich als englischer Adliger naturalisiert, vgl. zuletzt die ausführliche biographische Würdigung von Matthew R. Glozier, Marshal Schomberg 1615–1690. »The ablest Soldier of his Age.« International Soldiering in Seventeenth-Century Europe, Brighton/Portland 2005. Eine ähnliche Karriere – nämlich als Generalissimus aller englischen Armeen und späterer ›Lord High Admiral‹ in englischen Diensten – machte in etwa zeitgleich Prinz Ruprecht von der Pfalz (1619–1682), der dritte Sohn des entthronten böhmischen ›Winterkönigs‹. 83 Zu den vielfältigen Erscheinungsformen des Landesdefensionswesens vgl. zuletzt zusammenfassend Winfried Schulze, Die deutschen Landesdefensionen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Johannes Kunisch (Hg.) Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 129–149; Helmut Schnitter, Die überlieferte Landesdefension. Vorformen der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, in: Roland G. Foerster (Hg.), Die Wehrpflicht.

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standen allerdings erst mit der Errichtung der stehenden Heere.84 Zweifellos das bekannteste Rekrutierungssystem war das 1733 von König Friedrich Wilhelm I. eingeführte und später in mehreren deutschen Territorien übernommene preußische ›Kantonreglement‹,85 bei welchem es sich erstmals in einem deutschen Territorium um den Versuch handelt, flächendeckend die Militärdienstpflicht für alle männlichen Untertanen zwischen sechzehn und dreißig Jahren durchzusetzen, mithin um eine Vorform der allgemeinen Wehrpflicht – und zwar einzelstaatsübergreifend, denn Brandenburg-Preußen war ja kein Einheitsstaat, sondern ein aus mehreren Territorien zusammengesetzter Staat. Gemäß ›Kantonreglement‹ wurde das Gesamtterritorium in ›Enrolierungskantone‹ unterteilt und die Soldaten regimentsweise zusammengestellt. Diese Kantone waren in Distrikte mit bis zu zehn Dörfern unterteilt, und die Militärdienstpflichtigen wurden in der Regel durch den zuständigen Pfarrer in einem ständig aktualisierten Register eingetragen (›enroliert‹). Die bis zu zwanzig Jahre zum Militär Bestellten waren nach ihrer zweijährigen Ausbildung auch in Friedenszeiten jährlich bis zu drei Monaten dienstpflichtig, während sie für die übrige Zeit unbesoldet beurlaubt waren. Der Vorteil des Kantonsystems gegenüber den älteren Musterungsverfahren bei Söldnerrekrutierungen86 oder bei den daneben durchaus noch üblichen Zwangsrekrutierungen87 war die staatliche Auf-

|| Entstehung, Erscheinungsform und politisch-militärische Wirkung, München 1994, S. 29–37; knapp auch Ralf Pröve, Landesdefensionswesen, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 7. 2008, Sp. 471–473. 84 Hierzu vgl. zusammenfassend Peter H. Wilson, The Politics of Military Recruitment in Eighteenth-Century Germany, in: English Historical Review, 117. 2002, S. 536–568; Ralf Pröve, Rekrutierung, in Enzyklopädie der Neuzeit, 10. 2009, Sp. 1040–1042. In vergleichender Perspektive vgl. Jan Lucassen/Erik Jan Zürcher, Introduction. Conscription and Resistance. The Historical Context, in: Erik Jan Zürcher (Hg.), Arming the State. Military Conscription in the Middle East and Central Asia 1775–1925, London/New York 1999, S. 1–20. 85 Zum preußischen ›Kantonsystem‹ vgl. noch immer die klassische Studie von Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713–1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Frankfurt a.M./Berlin 1981, dazu kritisch Martin Winter, Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2005; Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und ländliche Gesellschaft, in: Kroener/Pröve (Hg.), Krieg und Frieden, S. 137–165; Jürgen Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur. Katalysatoren des preußischen Militärsozialisierungsprozesses im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2014, S. 77–140. 86 Zur Söldnerrekrutierung bis zur Errichtung stehender Heere vgl. demnächst knapp zusammenfassend Matthias Asche, Musterung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 3, [Berlin 2016]. 87 Diese betrafen etwa Angehörige der mobilen Armut, vgl. die Hinweise bei Mikko Huhtamies, Ersatzsoldaten in Europa in der Frühen Neuzeit, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 5. 2001, S. 29–35. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Ralf Pröve, Zum Verhältnis von Militär und Ge-

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sicht und vor allen die quasi Gleichbehandlung der Angehörigen der niederen Stände, wobei versucht wurde, bei der Rekrutierung auf bereits voll Berufstätige zu verzichten. Dadurch konnte auch die Desertionsrate im brandenburg-preußischen Heer deutlich reduziert werden88 – insbesondere im Vergleich zu den Söldnerheeren des 16. und 17. Jahrhunderts.89 Freilich muss hier auch das restriktive Vorgehen gegen Deserteure betont werden.90 Bereits die Rekrutierung war freilich eine staatliche Zwangsmaßnahme, deren Zuwiderhandeln als Landesverrat gedeutet und schwer bestraft wurde – von Güterkonfiskationen und Ausweisungen von Familienangehörigen bis hin zu Zwangsrekrutierungen von Blutsverwandten des Deserteurs, mithin Praktiken einer ›Sippenhaft‹ für ›unsichere Kantonisten‹. Sofern ein Regiment in Kampfhandlungen deutlich dezimiert worden war, wurden in demjenigen Kanton oder Ort, die bereits den gefallenen Dienstpflichtigen gestellt hatte wiederum Rekrutierungen vorgenommen, was in Kriegszeiten zuweilen zu lokalem temporären Arbeitskräftemangel und ›Landflucht‹ aus Sorge vor einer Einberufung führen konnte. Trotz des Anspruchs einer allgemeinen Militärdienstpflicht wurden allerdings viele Bevölkerungsgruppen nicht durch das Kantonsystem erfasst.91 Hierzu zählten neben den Pfarrern vor allem Studenten und Professoren-92 sowie Bürgersöhne aus beson-

|| sellschaft im Spiegel gewaltsamer Rekrutierungen (1648–1789), in: Zeitschrift für historische Forschung, 22. 1995, S. 191–223. 88 Grundlegend vgl. Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996; Jörg Muth, Flucht aus dem militärischen Alltag. Ursachen und individuelle Ausprägung der Desertion in der Armee Friedrichs des Großen. Mit besonderer Berücksichtigung der Infanterie-Regimenter der Potsdamer Garnison, Freiburg i.Br. 2003; Marcus von Salisch, Treue Deserteure. Das kursächsische Militär und der Siebenjährige Krieg, München 2009. 89 Das Phänomen der Desertion ist für die Zeit vor der Errichtung der stehenden Heere nur unzureichend erforscht, vgl. Michael Kaiser, Ausreißer und Meuterer im Dreißigjährigen Krieg, in: Bröckling/Sikora (Hg.), Armeen und ihre Deserteure, S. 49–71; Peter Burschel, Die Erfindung der Desertion. Strukturprobleme in deutschen Söldnerheeren des 17. Jahrhunderts, in: ebd., S. 73–85; Michael Kaiser, »...würdt allso die Armee gewaltig ruinirt...« Die Lebenswelt der Söldner und das Phänomen der Desertion im Dreißigjährigen Krieg, in: Osnabrücker Mitteilungen, 103. 1998, S. 105–124; Peter Burschel, Desertion in deutschen Söldnerheeren des 17. Jahrhunderts, in: Peter Aufgebauer (Hg.), Festgabe für Dieter Neitzert zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1998, S. 305–317. 90 Hierzu vgl. Martin Winter, »Zum besten der Invaliden Casse.« Der Zugriff auf das Vermögen entwichener kantonpflichtiger Untertanen aus Brandenburg im 18. Jahrhundert, in: Markus Meumann/Ralf Pröve (Hg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004, S. 195–229; ders., »Der Untertan auf Posten.« Deserteursverfolgung an der brandenburgisch-mecklenburgischen Grenze im 18. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 10. 2006, S. 139–180. 91 Zusammenfassend vgl. ders., Die Exemptionkriterien im preußischen Kantonsystem und die Verfolgung abwesender Kantonpflichtiger im 18. Jahrhundert, in: Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Ich dien’ nicht. Wehrdienstverweigerung in der Geschichte, Berlin 2008, S. 33–55. 92 Die Befreiung von allen Militärdiensten, Kriegssteuern und Einquartierungen gehörten in ganz Europa zu den Privilegien der Universitätsangehörigen vgl. zusammenfassend Matthias Asche,

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ders privilegierten Städten, außerdem Angehörige staatlich relevanter Gewerbegruppen, aber auch Mennoniten93 und Juden.94 Neben den im eigenen Land ausgehobenen ›Kantonisten‹ (ca. 60 Prozent) setzte sich das altpreußische Heer in einem zweiten Teil auch aus – mehr oder weniger freiwillig – im In- und Ausland geworbenen Soldaten zusammen (ca. 40 Prozent).95 Das prominenteste Beispiel eines || Akademische Freiheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 1. 2005, Sp. 156–159. In besonderen Fällen gab es aber durchaus akademische Aufgebote von Studenten und Professoren, z.B. während des Dreißigjährigen Krieges, vgl. etwa Susanne Häcker, »...sogar Kriegskameraden trifft man unter euch an.« Die Verteidigung von Stadt, Lehre und Glauben durch Heidelberger, Tübinger und Freiburger Universitätstheologen im Dreißigjährigen Krieg, in: Franz Brendle/Anton Schindling (Hg.), Geistliche im Krieg, Münster 2008, S. 89–100, weitere Beispiele bei Matthias Asche, Der Dreißigjährige Krieg und die Universitäten im Heiligen Römischen Reich. Ein Fazit und viele offene Fragen, in: Thomas Kossert/Matthias Asche/Marian Füssel (Hg.), Universitäten im Dreißigjährigen Krieg, Potsdam 2011, S. 147–182; ders./Susanne Häcker/Patrick Schiele, Studieren im Krieg. Die Universitäten entlang des Rheins im (Wind-)Schatten des Dreißigjährigen Krieges, in: Andreas Rutz (Hg.), Krieg und Kriegserfahrung am Rhein, [erscheint Göttingen 2015]. Zu den akademischen Aufgeboten während der Belagerung der Stadt Wien durch die Osmanen vgl. Hubert Reitterer, Eine zeitgenössische Quelle zum Aufgebot der Wiener Universität im Jahre 1683, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, 39. 1983, S. 104–129. Darüber hinaus sind allerdings auch Zwangsrekrutierungen von Studenten nachweisbar, vgl. etwa Danuta Bogdan, Przymusowe wcielanie studentów Uniwersytetu Królewieckiego do wojska pruskiego w pierwszej połowie XVIII wieku [= Zur Zwangseinziehung der Studenten der Königsberger Universität zum preußischen Militär in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts], in: Komunikaty mazursko-warminskie 2000/II, S. 209–233; Sandro Wiggerich, Der Fall des Johann Theodor von Hüls, Student und Deserteur. Ein Beitrag zum Verhältnis von Universität und Militär in Duisburg unter Friedrich Wilhelm I., in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 211. 2009, S. 87–101. 93 James Jakob Fehr, Kriegsdienstverweigerung im Militärstaat Preußen. Ein Bericht über neue Forschungen, in: Mennonitische Geschichtsblätter, 59. 2002, S. 173–179; Mark Jantzen, Mennonite German Soldiers. Nation, Religion, and Family in the Prussian East 1772–1880, Notre Dame 2010. Freilich haben gerade die Mennoniten immer wieder auf die biblischen Verbote von Militärdiensten und von Soldateneiden (Fahnen- und Diensteide) – dies war bei der Verpflichtung zum Soldaten notwendig – hingewiesen, vgl. zum Gesamtzusammenhang Eberhard Fritz, »Kriege seien Sünde und ein Greuel vor Gott.« Religiös begründete Militärdienstverweigerungen in Württemberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert im Kontext gesellschaftlicher Werthaltungen, in: Müller/Walter (Hg.), Ich dien’ nicht, S. 57–68. 94 Traditionell galten Juden in der Vormoderne nicht als waffenfähig und waren damit vom Kriegsdienst befreit, vgl. etwa Stefan Litt, Juden und Waffen im 16. Jahrhundert. Anmerkungen zu einem Alltagsphänomen, in: Aschkenas, 13. 2003, S. 83–92; B. Ann Tlusty, »Seit ir Juden oder Landtsknecht?« Waffenpflicht, Waffenrecht und gesellschaftliche Ausgrenzung, in: Bergien/Pröve (Hg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre, S. 325–345. Juden wurden erst am Vorabend der bürgerlichen Emanzipation zum Militärdienst herangezogen, vgl. exemplarisch Michael Hochedlinger, ›Verbesserung‹ und ›Nutzbarmachung‹? Zur Einführung der Militärdienstpflicht für Juden in der Habsburgermonarchie 1788–89, in: Kaiser/Kroll (Hg.), Militär und Religiosität, S. 97–120; jetzt Erwin A. Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten 1788–1918, Wien 2014. 95 Exemplarisch vgl. Anneliese Triller, Preußische Soldatenwerbungen im Ermland 1747–1755, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, 43. 1985, S. 77–85; Bernhard Sicken,

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solchen mehrheitlich durch Ausländer bestehenden Truppenteils ist das 1675 aufgestellte preußische Infanterieregiment Nr. 6 mit seinen sogenannten ›Langen Kerls‹, die gezielt für König Friedrich Wilhelm I. in ganz Europa zusammengesucht wurden.96 Obwohl das Problem der Abdankung von Söldnern und Soldaten sowie deren weiteres Schicksal – zumindest aus sozialgeschichtlicher Perspektive97 – bislang noch nicht systematisch erforscht ist98, kann als gesichert gelten, dass es erstens keine personellen Kontinuitäten in den seit 1680er Jahren errichteten stehenden Heeren gab, weil unmittelbar nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges aus Kostengründen über einen längeren Zeitraum die meisten Söldner abgedankt wurden.99 Zweitens ist festzuhalten, dass die ehemaligen Söldner keineswegs ein ge-

|| Die preußische Werbung in Franken, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Friedrich der Große, Franken und das Reich, Köln/Wien 1986, S. 121–156; Johannes Kistenich, »Junge wolgewachsene Kerle geheim selbst aufzusuchen.« Lippische Rekrutierung für Preußen während des Spanischen Erbfolgekrieges, in: Westfälische Zeitschrift, 154. 2004, S. 423–439. Besonders hinzuweisen ist auf die Rekrutierung von Soldaten aus der Eidgenossenschaft und zwar nicht nur in dem an die Hohenzollern gefallenen Fürstentum Neuchâtel, vgl. die Literaturhinweise in Anm. 47; dazu auch Martin Winter, Ewald von Kleist. Seine preußische Offizierskarriere und sein Werbeaufenthalt in Zürich 1752/53, in: Lothar Jordan (Hg.), Ewald von Kleist. Zum 250. Todestag, Würzburg 2010, S. 59–85. Zur regionalen Zusammensetzung der Ausländer im preußischen Heer vgl. die quantitative Studie von Willerd R. Fann, Foreigners in the Prussian Army, 1713–56. Some Statistical and Interpretive Problems, in: Central European History, 23. 1990, S. 76–84. 96 Zur sogenannten ›Potsdamer Riesengarde‹ vgl. zuletzt Helmut Schnitter, Die ›Potsdamer Riesengarde.‹ Auswärtige Werbung und Kantonreglement unter Friedrich Wilhelm I., in: Kroener (Hg.), Potsdam, S. 191–202; Kurt Zeisler, Die Langen Kerls. Das Leib- und Garderegiment Friedrich Wilhelms I., Frankfurt a.M. 1993; Rolf Fuhrmann, Die Langen Kerls. Die preußische Riesengarde 1675/1713–1806, Berlin 2007; Volker Schobeß, Die Langen Kerls von Potsdam. Die Geschichte des Leibregiments Friedrich Wilhelms I. 1713–1740, Berlin 2007. Freilich waren allerorten großwüchsige Soldaten umworben, da diese beim Laden der Gewehre und im Bajonettkampf Vorteile hatten. 97 Hierzu liegen ausschließlich ältere, klassisch militärgeschichtliche Studien vor, vgl. insbesondere für die erst sehr spät abgedankten schwedischen Truppen Theodor Lorentzen, Die schwedische Armee im dreißigjährigen Kriege und ihre Abdankung, Leipzig 1894; für das kaiserliche Heer vgl. Philipp Hoyos, Ernst von Traun, Generalkriegskommissär und die Abdankung der kaiserlichen Armee nach dem Westfälischen Frieden, Diss. Wien 1970. In beiden Darstellungen gibt es zahlreiche verstreute Hinweise auf das Schicksal abgedankter Söldner. 98 Grundlegend vgl. Kroener, »Der Krieg hat ein Loch ...«. 99 Insbesondere wegen der ungeklärten Satisfaktion für die schwedischen Truppen, aber auch insgesamt hatte sich die Abdankung der Söldnerheere bis weit in die 1650er Jahre hingezogen, wodurch auch nach dem Westfälischen Frieden noch die öffentliche Sicherheit durch marodierende Söldnergruppen in Gefahr war, vgl. zum Gesamtzusammenhang Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991; Bernhard R. Kroener, Der ›Zweiunddreißigjährige Krieg‹. Kriegsende 1650 oder wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?, in: Bernd Wagner (Hg.), Wie Kriege enden. Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2002, S. 67–91.

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meinsames Schicksal teilten, also etwa in Rotten ›Gartender Knechte‹ gewissermaßen als ›Strandgut des Krieges‹ die Dörfer unsicher machten, mithin sich als dauerhaft sozial Entwurzelte den sich vor allem in Nachkriegszeiten zahlreich bildenden Räuberbanden anschlossen oder etwa als Bettler für immer in die mobile Armut abrutschten100 – so ein lange Zeit populäres Geschichtsbild, das Teil des generellen Negativ-Topos von Söldnern ist.101 Zweifellos konnte für den einfachen Söldner die Entlassung aus dem Militärdienst bei der Demobilisierung von Truppenteilen die Gefahr eines sozialen Abstiegs bergen.102 Und dennoch ist davon auszugehen, dass bei der Abdankung, der ›Reduktion‹ (Auflösung einzelner Kompanien und Verteilung der verbleibenden Mannschaften auf die restlichen Kompanien eines Regiments) und ›Reformation‹ von Heeren (Auflösung personell schwacher Regimenter mit Verteilung der verbliebenen Mannschaften auf andere Regimenter, das sogenannte ›Unterstoßen‹), die Soldaten sehr wohl eine persönliche Abwägung trafen zwischen der Fortsetzung des Militärdienstes unter einem anderen Dienstherrn oder – dies war wohl bei vielen Söldner mit Familie der Fall – einer dauerhaften Niederlassung. Die bisherigen Forschungsergebnisse legen zumindest den Befund nahe, dass wohl die überwiegende Zahl abgedankter Söldner entweder in ihre Heimatorte und damit in ihre traditionellen sozialen Bezugssysteme zurückkehrte103 oder diese einen anderen Ort für eine dauerhafte Niederlassung suchten, wobei auch die in

|| 100 Zusammenfassend vgl. Robert Jütte, Bettelschübe in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Gestrich/Gerhard Hirschfeld/Holger Sonnabend (Hg.), Ausweisung und Deportation. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 61–71. 101 Jutta Nowosadtko, Der Militärdienst als Räuberschule? Anmerkungen zu einer verbreiteten Argumentationsfigur der historischen Kriminalitätsforschung, in: Westfälische Forschungen, 54. 2004, S. 167–175; Steffi Bahro, »Solange der Krieg dauerte, ging alles gut ...« Der abgedankte Soldat im Märchen, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 11. 2007, S. 174–180. 102 Zu diesem Spannungsfeld vgl. zahlreiche Studien von Bernhard R. Kroener, etwa ders., »Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder.« Der Soldat des Dreißigjährigen Krieges. Täter und Opfer, in: Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, S. 51–67; ders., »Die Soldaten sind ganz arm, bloß, nackend, ausgemattet.« Lebensverhältnisse und Organisationsstruktur der militärischen Gesellschaft während des Dreißigjährigen Krieges, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hg.), 1648: Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungskatalog. Textbd. 1, Münster/Osnabrück 1998, S. 285–292. 103 Hierzu vgl. die allgemeinen, aber unsystematischen Beobachtungen – exemplarisch zum Magdeburger Land und zur Mark Brandenburg nach dem Dreißigjährigen Krieg – bei Carola Lehmann, Die Überwindung der im Dreißigjährigen Krieg eingetretenen Bevölkerungsverluste und Zerstörungen in den westelbischen Kleinstädten des Erzstifts Magdeburg bis zu Beginn der 80er Jahres des 17. Jahrhunderts, Diss. Magdeburg 1985; Michael Herrmann, Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg. Sozialstruktur und Wirtschaft des brandenburgischen Kreises Beeskow im 17. Jahrhundert, in: Kersten Krüger (Hg.), Der Festungskurier. Beiträge zur Mecklenburgischen Landesund Regionalgeschichte, Rostock 2002, S. 11–21; Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land – Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 143–375.

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den stark kriegszerstörten und entvölkerten Städten verbreitete Praxis einer liberalisierten Bürgerrechtsvergabe eine Rolle spielte. Dabei wurde in und nach Kriegen in vielen Städten kein Nachweis der ehrlichen Abstammung verlangt, das Bürgereinkaufsgeld ermäßigt oder gleich ganz erlassen. Vor allem wurden wegen des hohen Arbeitskräftebedarfs wohl Soldaten, die vor dem oder im Krieg bereits einen Beruf erlernt hatten, bevorzugt aufgenommen, besonders in Mangelberufen. Insofern lag unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg oder dem Pfälzischen Erbfolgekrieg das ›Migrationsregime‹ nicht beim Landesherrn, sondern bei der lokalen Obrigkeit.104 Alternativ gab es Bemühungen, die demobilisierten Soldaten als Einzelpersonen oder in Gruppen mit anderen Regimentsangehörigen geschlossen anzusiedeln. Die Einrichtung von Militärkolonien war offenbar besonders in der schwedischen Armee verbreitet, wobei die abgedankten Soldaten in den neuerworbenen Provinzen an Nord- und Ostsee angesiedelt wurden.105 Dass die Ansiedlung ehemaliger Soldaten in der Zeit der stehenden Heere sehr verbreitet war, zeigt das Beispiel Preußens.106 Ein vorzeitiges Ende des Militärdienstes konnten hingegen Desertion107, Verwundung und Invalidität bedeuten108, aber auch Kriegsgefangenschaft.109 In diesem || 104 Exemplarisch vgl. Gudrun Kling, Die Ein- und Ausbürgerungen der Stadt Konstanz während des Dreißigjährigen Krieges (1620–1650), Friedrichshafen 1989. 105 Kaj Janzon, Aristokraten och hans bönder. Karl Karlsson Gyllenhielms kolonisationsprojekt i 1620-talets Ingermanland [= Der Adlige und seine Bauern. Karl Karlsson Gyllenhielms Kolonisationsprojekt im Ingermanland der 1620er Jahre], in: Bebyggelsehistorisk tidskrift, 23. 1992, S. 87–105; Ingvar Eriksson, Nils Bielke (1644–1716). Firad i nådens dagar, fälld i onådens [= Nils Bielke (1644– 1716). In Gnaden gefeiert, in Ungnade verurteilt], Stockholm 2000; Mikko Huhtamies, Die schwedischen Militärkolonien im Baltikum während der so genannten schwedischen Großmachtsperiode (1620–1720), unter besonderer Berücksichtigung von Axel Oxenstiernas Grafschaft Wolmar-Wenden in Livland, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 9. 2005, S. 29–47. Weitere Hinweise zur Praxis der Ansiedlung abgedankten Soldaten – auch außerhalb des Schwedischen Reiches – finden sich bei Kroener, »Der Krieg hat ein Loch ...«. 106 Hier ist lediglich auf ein angekündigtes Dissertationsprojekt von Markus Hien, Zwischen Aktion und Reaktion. Grenzen und Möglichkeiten der Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert am Beispiel der Ansiedlung und Niederlassung aktiver und ehemaliger Soldaten, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 12. 2008, S. 89–95, hinzuweisen, in welchem genau diese Peuplierungsmaßnahme der flächendeckenden Ansiedlung ehemaliger Soldaten seit den 1750er Jahren thematisiert wird. 107 Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 95. 108 Zwar wurden auch Kriegsinvaliden angesiedelt, etwa vom preußischen König Friedrich II., aber oft stellte sich für die zivilen Obrigkeiten die Rückeingliederung der Kriegsversehrten in die Gesellschaft als Problem dar. Über dieses Thema ist bislang kaum gearbeitet worden, vgl. das angekündigte Dissertationsprojekt von Michael Reiff, Strandgut des Krieges. Die soziale Lage Kriegsversehrter in deutschen Armeen des Absolutismus und der napoleonischen Zeit (1648–1815), in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 5. 2001, S. 55–60. Zur Frage nach dem Verbleib der invaliden Soldaten exemplarisch für Straßburg vgl. Hanna Sonkajärvi, Die unerwünschten Fremden. Ehemalige Söldner in Straßburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Asche/Herrmann/ Ludwig/Schindling, Krieg, Militär und Migration, S. 105–115; vgl. auch die Hinweise von Achim

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Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es auch Beispiele für Ansiedlungen von Kriegsgefangenen gibt, etwa die von den russischen Zaren Verschleppten, welche in der sogenannten ›Deutschen Vorstadt‹ (Nemezkaja sloboda) von Moskau seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zunächst erzwungenermaßen angesiedelt wurden. Die deutsche Gemeinde in der später zum Stadtteil Lefortowo gehörigen Vorstadt wuchs seit der Mitte des 16. Jahrhundert durch gezielte Anwerbung von Handwerkern, Kaufleuten, Militärtechnikern und Söldnern kontinuierlich an.110 Auch viele der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gefangen genommenen deutschen Soldaten111 blieben dauerhaft als Siedler in Nordamerika.112 Für die Chris-

|| Hölter, Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1995, S. 62–97; Martin Dinges, Soldatenkörper in der Frühen Neuzeit. Erfahrungen mit einem unzureichend geschützten, formierten und verletzten Körper in Selbstzeugnissen, in: Richard van Dülmen (Hg.), Körpergeschichten, Frankfurt a.M. 1996, S. 71–98. 109 Generell zur Problematik der Kriegsgefangenschaft in der Frühen Neuzeit vgl. die Überblicksdarstellungen von Daniel Hohrath, »In Cartellen wird der Werth eines Gefangenen bestimmet.« Kriegsgefangenschaft als Teil der Kriegspraxis des Ancien Regime, in: Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 141–170; Bernhard R. Kroener, Der Soldat als Ware. Kriegsgefangenenschicksale im 16. und 17. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt/Patrice Veit (Hgg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Mainz 2000, S. 271–295; Peter H. Wilson, Prisoners in Early Modern European Warfare, in: Sibylle Scheipers (Hg.), Prisoners in War, Oxford/NewYork 2010, S. 39–56. Gut untersucht ist dieses Phänomen für den Siebenjährigen Krieg, namentlich die Rechtsgrundlagen, die Verwahrung, der Austausch und die Rückführung von Kriegsgefangenen sowie die Differenzierung im Umgang mit einfachen Mannschaftsangehörigen und Offizieren, vgl. Lutz Voigtländer, Die preußischen Kriegsgefangenen der Reichsarmee 1760–1763, Duisburg 1995; Marian Füssel, »Als Gefangener in ein ganz fremdes, abergläubisches Land gebracht zu werden, stimmte meine Seele trübe«. Kriegsgefangene in fremdkonfessionellem Umfeld und militärische Migration während des Siebenjährigen Krieges, in: Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010, S. 355–373. 110 Jelena Petrovna Miklaševkaja/Marianna Samuilovna Cepljaeva, Leforto. Deutsche Siedlung in Moskau, 3. Aufl. Moskva 2000; Wera Kowrigina, »…Deutsche Stadt. Groß und belebt…« Das Deutsche Viertel in Moskau im 17. und 18. Jahrhundert, in: Alexander Lewykin/Matthias Wemhoff (Hg.), Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur. Ausstellungskatalog, Essaybd., Berlin 2012, S. 244–249. 111 Zu deutschen Subsidientruppen in Kriegsgefangenschaft vgl. insbesondere Daniel Krebs, A Generous and Merciful Enemy. Life for German Prisoners of War during the American Revolution, Norman, OK 2013. 112 Exemplarisch für Kanada vgl. Virginia Easley DeMarce, The Settlement of Former German Auxiliary Troops in Canada after the American Revolution. A Monograph, Sparta, WI 1984; JeanPierre Wilhelm, Les Mercenaires allemands in Québec du XVIIIe siècle et leur apport à la population, Beloeil/Québec 1984; Clifford Neal Smith, British and German Deserters, Discharges and Prisoners of War who may have Remained in Canada and the United States 1774–1783, McNeal, AZ 1988; Johannes Helmut Merz, The Hessians of Upper Canada. The History of King George III’s Loyal German Auxiliary Soldiers, who Fought for the British Cause during the American Revolution, and after

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ten, die während der Türkenkriege in Kriegsgefangenschaft der Osmanen gerieten oder von den nordafrikanischen Korsaren versklavt wurden113, wurden ritualisierte Formen des Gefangenenaustausches und vor allem Hilfskassen (Sklavenkassen) eingerichtet.114 Entgegen älterer Forschungsmeinung gab es auch direkte deutsche Beteiligungen am atlantischen Sklavenhandel, vor allem der Stadt Hamburg seit der Mitte des 17. Jahrhunderts115, aber etwa auch des Kurfürsten von Brandenburg mit der kurzzeitig zwischen 1682 und 1711 bestehenden ›Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie‹, welche von Kurfürst Friedrich Wilhelm zur Beteiligung am Überseehandel gegründet wurde und zugleich auch den Beginn der brandenburg-preußischen Marinepolitik markierte. Zu diesem Zweck wurden – nach Verhandlungen mit der Fürstin von Ostfriesland – auch Garnisonen in Emden und Greetsiel eingerichtet. Die ›Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie‹ beteiligte sich am sogenannten ›Dreieckshandel‹.116 Der Sklavenhandel wurde seit 1685 über die Festung GroßFriedrichsburg an der Guineaküste, die Insel Arguin vor der Küste Mauretaniens und die vom dänischen König gemieteten Kolonie St. Thomas in der Karibik (heute Teil der Jungferninseln) abgewickelt.117 Die Überseebesitzungen Brandenburg|| the War in 1783 decided to settle and raise their Children in the new Province of Upper Canada, Hamilton 1997; ders., The Hessians of Nova Scotia, Hamilton/Ontario 1997. 113 Zu der lange Zeit von der Forschung unterschätzten Barbareskenproblematik für den vormodernen Seehandel Dänemarks und der Hansestädte vgl. neuerdings die Studie von Magnus Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit, Berlin 2012. Zum Gesamtzusammenhang vgl. den aktuellen Literaturbericht von Stefan Hanß, Sklaverei im vormodernen Mediterraneum. Tendenzen aktueller Forschungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 40. 2013, S. 623–661. 114 Zum Forschungsstand zur Freikaufsforschung vgl. Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen, S. 17–40. Zur Bedeutung geistlicher Orden für den Gefangenenloskauf am Beispiel des bereits im späten 12. Jahrhundert zum Freikauf und der Austausch christlicher Gefangener und Sklaven gegründeten Trinitarierordens vgl. Elisabeth Pauly, Befreiung aus tyrannischer Gefangenschaft. Der Trinitarierorden in der Habsburgermonarchie und die Rückführung der Sklaven aus dem Osmanischen Reich und seinen Vasallenstaaten (1683–1783), in: Archiv für Kulturgeschichte, 90. 2008, S. 351–378. 115 Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen; ders., Hamburger Sklavenhändler als Sklaven in Westafrika, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 96. 2011, S. 33–69; ders., Hamburg und die Niederelbe im atlantischen Sklavenhandel der Frühen Neuzeit, in: Doris Bulach/Juliane Schiel (Hg.), Europas Sklaven, Essen 2015, S. 75–96. 116 Hierzu vgl. zuletzt Sven Klosa, Die Brandenburgische-Africanische Compagnie in Emden, Frankfurt a.M. 2011; Malte Stamm, Das Koloniale Experiment. Der Sklavenhandel BrandenburgPreußens im transatlantischen Raum 1680–1718, Diss. Düsseldorf 2011. 117 Till P. Koltermann, Zur brandenburgischen Kolonialgeschichte. Die Insel Arguin vor der Küste Mauretaniens, Potsdam 1999; Rainer D.K. Bruchmann, Zur brandenburgischen Kolonialgeschichte. Die Insel St. Thomas in der Karibik, Potsdam 1999; Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika. 2. Aufl. Berlin 2001; ders., Die Wüsteninsel Arguin, in: ders./Joachim Zeller (Hg.), »...Macht und Anteil an der Weltherrschaft.« Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 55–62.

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Preußens wurden bald nach dem Regierungsantritt von König Friedrich Wilhelm I. verkauft. Nicht nur versklavte Afrikaner118, sondern auch die vor allem seit dem Großen Türkenkrieg (1683–1699) gefangenen ›Türken‹119 waren bedeutende Agenten des östlich-westlichen Kulturtransfers. Die meisten dieser ›Beutetürken‹ – nicht aber die Frauen und Kinder, die als (temporäre) Sklavinnen oft in der Hand der Sieger blieben und manchmal weiterverkauft und -verschenkt wurden –, erhielten durch Gefangenenaustausch oder Lösegeldzahlung die Freiheit zurück. Bei den ›türkischen‹ Kriegsgefangenen handelte es sich keineswegs nur um ethnische Türken, sondern auch um Angehörige anderer im osmanischen Heer dienender Gruppen mit typisch ›türkischen‹ Rufnamen, die freilich im Falle einer Taufe christliche Namen erhielten, manchmal bei Beibehaltung des türkischen Nachnamens.120 Gefangene Türken gab es allerdings weniger in der bürgerlichen Welt121, sondern vor allem an

|| 118 Hierzu vgl. die neueren Überblicksdarstellungen von Vera Lind, Africans in Early Modern German Society, in: Bulletin of the German Historical Institute, 28. 2001, S. 74–82, Horst Gründer, Indianer, Afrikaner und Südseebewohner in Europa. Zur Vorgeschichte der Völkerschauen und Kolonialausstellungen, in: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte, 3. 2003, S. 65–88; Monika Firla, AfrikanerInnen in Deutschland vor der Zeit der Kongokonferenz und ihrer Folgen. Bemerkungen zur Forschungsproblematik, in: Marianne Bechthaus-Gerst/Reinhard Klein-Arendt (Hg.), AfrikanerInnen in Deutschland und schwarze Deutsche. Geschichte und Gegenwart, München 2004, S. 9–24; Mark Häberlein, Mohren, ständische Gesellschaft und atlantische Welten. Minderheiten und Kulturkontakte in der Frühen Neuzeit, in: Claudia Schnurmann/Hartmut Lehmann (Hg.), Atlantic Understandings. Essays on European and American History in Honor of Hermann Wellenreuther, Hamburg 2006, S. 77–102; Anne Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration, Hof, Göttingen 2013. 119 Überblicksdarstellungen stammen von Hartmut Heller, Beutetürken. Deportation und Assimilation im Zuge der Türkenkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Gerhard Höpp (Hg.), Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, S. 159–167; Olaf Mußmann, Zwischen Verschleppung und sozialem Aufstieg. Türken im Deutschland des 17. Jahrhunderts, in: sowi. Sozialwissenschaftliche Informationen, 30. 2001, S. 10–13; Markus Friedrich, ›Türken‹ im Alten Reich. Anmerkungen zur Präsenz und zu den Lebensumständen von ›Heiden‹ und ›Ungläubigen‹ in Mitteleuropa, in: Historische Zeitschrift, 294. 2012, S. 329– 360; Manja Quakatz, »... denen Sclaven gleich gehalten werden.« Muslimisch-osmanische Kriegsgefangene im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1683–1699), in: Bulach/Schiel (Hg.), Europas Sklaven, S. 97–118. 120 Z.B. im Falle der späteren preußischen Beamtenfamilie Aly, vgl. Hermann Aly/Horst-Peter Aly, Aus dem Leben des königlich preußischen Kammertürken Friedrich Aly 1664 bis 1716, Gräfeling 1977. 121 Eine der bekannten Ausnahmen bildet der aus Ghana stammende, von der ›Niederländischen Westindien-Kompanie‹ versklavte und nach Amsterdam verkaufte Anton Wilhelm Amo (um 1703– 1784), der am Hof des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im christlichen Glauben erzogen wurde und an den Universitäten Helmstedt, Halle und Wittenberg studiert hatte. Eine gewisse Zeit lehrte Amo an den Philosophischen Fakultäten in Halle, Wittenberg und Jena, bevor er 1747 – offenbar als Opfer einer Spottkampagne – nach Ghana zurückkehrte. Zu Amo vgl. zuletzt Burchard Brentjes, Anton Wilhelm Amo zwischen Frühaufklärung und Pietismus, in: Höpp (Hg.),

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den deutschen Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts122, wobei es einige durchaus zu einem gewissen Ansehen brachten.123 In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die an vielen Höfen des 18. Jahrhunderts präsenten ›Hofmohren‹ hinzuweisen, die keineswegs nur eine marginalisierte Existenz fristeten.124 Von einiger Bedeutung waren an den Barock-Höfen auch ›türkische‹ Musiker beziehungsweise orientalische Musikergruppen (›mehterhâne‹-Ensembles).125 Dies alles gehört freilich in den kulturellen Kontext einer spezifischen Faszination der höfischen Barockgesellschaft vom Orient nach dem Ende der für das christliche Abendland so traumatischen Türkenkriege. So gab es durchaus eine gewisse Zahl von ehemaligen ›Beutetürken‹, die sich in der christlichen Welt integrieren konnten.126 Dabei spielte die Taufe die entscheidende Rolle, zumal sich zwischen den ›Besitzern‹ und den ›Türken‹ oft das Leibeigenschafts- zu einem Fürsorgeverhältnis wandeln und damit den Weg zur

|| Fremde Erfahrungen, S. 29–32; Monika Firla, Anton Wilhelm Amo (Nzema, Rep. Ghana). Kammermohr, Privatdozent für Philosophie, Wahrsager, in: Tribus, 51. 2002, S. 55–90. 122 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Veronica Buckley, Afrikaner an den Höfen Europas. Biografien und Bilder, in: Blom/Kos (Hg.), Angelo Soliman, S. 49–65; Anne Kuhlmann, Ambiguous Duty. Black Servants at German Ancien Régime Courts, in: Honeck/Klimke/Kuhlmann (Hg.), Germany and the Black Diaspora, S. 57–73; Rashid-S. Pegah, Real and Imagined Africans in Baroque Court Divertissements, in: ebd., S. 74–91. 123 Leben und Wirken des aus dem heutigen Nigeria stammenden Angelo Soliman (um 1721–1796) ist unter den schwarzen Afrikanern im Heiligen Römischen Reich wohl am besten dokumentiert. Soliman erfuhr eine exzellente Erziehung am Wiener Hof, war dort Kammerdiener, Freimaurer und Erzieher des Erbprinzen Alois von Liechtenstein, vgl. die neueste biographische Würdigung von Monika Firla, Angelo Soliman. Ein Wiener Afrikaner im 18. Jahrhundert, Baden bei Wien 2004. 124 Hierzu vgl. etwa Eva Verma, Hofmohren, in: dies. (Hg.), »…wo Du auch herkommst.« Binationale Paare durch die Jahrtausende, Frankfurt a.M. 1993, S. 73–80; Weygo Comte Rudt de Collenberg, Haus- und Hofmohren des 18. Jahrhunderts in Europa, in: Gotthardt Frühsorge/Rainer Gruenter/Beatrix Freifrau Wolff-Metternich (Hg.), Gesinde im 18. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 265–280; Monika Firla, ›Hof-‹ und andere ›Mohren‹ als früheste Schicht des Eintreffens von Afrikanern in Deutschland, in: Hartmut Heller (Hg.), Neue Heimat Deutschland. Aspekte der Zuwanderung, Akkulturation und emotionalen Bindung, Erlangen 2002, S. 157–176. 125 Hierzu vgl. den Überblick bei Ralf Martin Jäger, Türkische Musik und Musiker in Mitteleuropa im 17. und 18. Jahrhundert, in Höpp (Hg.), Fremde Erfahrungen, S. 421–433. 126 Zahlreiche Beispiele finden sich in den Studien von Hartmut Heller: Hartmut Heller, Fränkischtürkische Berührungen zwischen 16. und 19. Jahrhundert. Panikstimmung, kulturelle Öffnung und frühe Minderheitenassimilation, in: Johannes Lähnemann (Hg.), Erziehung zur Kulturbegegnung. Modelle für das Zusammenleben von Menschen verschiedenen Glaubens. Schwerpunkt Christentum – Islam, Hamburg 1986, S. 179–192; ders., Um 1700: Seltsame Dorfgenossen aus der Türkei. Minderheitsbeobachtungen in Franken, Kurbaden und Schwaben, in: Hermann Heidrich/Ralf Heimrath/Otto Kettemann/Martin Ortmeier/Ariane Weidlich (Hgg.), Fremde auf dem Land. Ausstellungskatalog, Bad Windsheim 2000, S. 13–44; ders., Auf der Suche nach Türken in Franken. Zur Historisierung aktueller Migrationsprozesse, in: Bayerische Blätter für Volkskunde, N.F. 5. 2003, S. 160–178. Exemplarisch zu Brandenburg-Preußen vgl. Stephan Theilig (Hg.), »Türcken, Mohren und Tartaren.« Muslime in Brandenburg-Preußen. Ausstellungskatalog, Freiburg i.Br. 2014.

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Integration bahnen konnte. Die Taufe, die oft am Ende einer Lehrzeit durch Pfarrer oder Hauslehrer stand, galt als Reinwaschung der Seele vom Heidentum und bildete – gemeinsam mit dem Erlernen eines Berufes und womöglich einer Ehrschließung – die zentrale Voraussetzung für die Aufnahme der Türken in die christliche Gesellschaft.127 Die skizzierten Befunde belegen nicht nur, dass Militärdienste sowohl temporäre, als auch dauerhafte Phänomene von Arbeitsmigration darstellten, sondern deuten auch auf den zumeist wohl unproblematischen Übergang abgedankter Söldner und Soldaten von der Militär- in die Zivilgesellschaft hin. Erzwungene oder freiwillige, zeitlich begrenzte oder dauerhafte Gruppen- oder Einzelwanderungen von Zivilpersonen zum Militär konnten im frühneuzeitlichen Europa durchaus selbstverständliche Bestandteile ihres Daseins sein, insbesondere in existentiell bedrohlichen, unsicheren Kriegsjahren und in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Militärdienste waren nur in wenigen Fällen dem individuellen Wunsch nach Ausbruch aus geordneten sozialen Bahnen oder gar der Lust an Abenteuern und Plünderungen geschuldet. Vielmehr stand die Erwartung eines – freilich mehr oder weniger regelmäßig bezahlten – hohen Soldes und vor allem die Hoffnung auf reiche Kriegsbeute im Vordergrund, welche durchaus in der Summe höher sein konnten als die Verdienstmöglichkeiten in einem zivilen Beruf. Der Schutz des Einzelnen innerhalb eines Kampfverbandes, der ja nicht nur aus der eigentlichen Kampftruppe, sondern auch aus einem Tross bestand, dem auch wehrlose Frauen und Kinder angehörten und eine eigene Lebenswelt darstellten, war – zumindest in Kriegszeiten – höher einzuschätzen als die Hilflosigkeit von zivilen Stadt- oder Dorfgemeinschaften.

|| 127 Türkentaufen sind derzeit verstäkt Gegenstand von Frühneuzeit-Forschungen, vgl. Manja Quakatz, »Gebürtig aus der Türckey.« Zu Konversion und Zwangstaufe osmanischer Muslime im Alten Reich um 1700, in: Barbara Schmidt-Haberkamp (Hg.), Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 417–432; dies., »Conversio Turci.« Konvertierte und zwangsgetaufte Osmanen. Religiöse und kulturelle Grenzgänger im Alten Reich (1683–1710), in: Spannenberger/Szabolcs (Hg.), Ein Raum im Wandel, S. 215–231; Markus Friedrich, Türkentaufen. Zur theologischen Problematik und geistlichen Deutung der Konversion von Muslimen im Alten Reich, in: ders./Alexander Schunka (Hg.), Orientbegegnungen deutscher Protestanten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2012, S. 47–74; Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer, S. 219–225.

Alexander Schunka

Konfession, Staat und Migration in der Frühen Neuzeit 1 Zum Stellenwert konfessioneller Migrationen Denkt man an frühneuzeitliche Migrationsbewegungen, so kommen einem rasch die Hugenotten, die Salzburger Emigranten oder andere Gruppen in den Sinn, bei denen die Konfessionszugehörigkeit Hintergrund eines dauerhaften Ortswechsels war. Konfessionelle Migrationen in Mitteleuropa sind unzweifelhaft ein Phänomen der Frühen Neuzeit. Sie sind mit der konfessionellen und territorialen Ausdifferenzierung Europas eng verknüpft. Massencharakter erreichten sie rund um das 17. Jahrhundert: angefangen mit den Abwanderungen aus den Niederlanden ins Heilige Römische Reich deutscher Nation im ausgehenden 16. über die Wanderungsbewegung aus den habsburgischen Territorien und die Hugenottenemigration im 17. Jahrhundert bis zum Zug der Salzburger Protestanten nach Preußen im frühen 18. Jahrhundert.1 Ausgehend von diesen Vorgängen wurden frühneuzeitliche Wan|| 1 Einen Überblick bieten: Heinz Schilling, Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: Klaus J. Bade (Hg.), Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter (IMIS-Beiträge 2002, H. 20), Osnabrück 2002, S. 67–89; Alexander Schunka, Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 56. 2005, S. 547–564; ders., Konfession und Migrationsregime in der Frühen Neuzeit, in: Ute Frevert/Jochen Oltmer (Hg.), Europäische Migrationsregime (Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009), Göttingen 2009, S. 28–63; ders., Lutherische Konfessionsmigration, in: Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2012, URL: http://www.ieg-ego.eu/schunkaa-2012-de [2013-02-22]; Thomas Klingebiel, Vorreiter der Freiheit oder Opfer der Modernisierung? Zur konfessionell bedingten Migration im frühneuzeitlichen Europa, in: Christoph Friedrich (Hg.), 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen. Vom Nutzen der Toleranz, Nürnberg 1986, S. 21–28; ders., Migrationen im frühneuzeitlichen Europa. Anmerkungen und Überlegungen zur Typologiediskussion, in: Thomas Höpel/ Katharina Middell (Hg.), Réfugiés und Émigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert (Comparativ, 7. 1997, H. 5/6), Leipzig 1997, S. 23–38; Matthias Asche, Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit – Versuch einer Typologie, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Beiträge und Nachrichten für die Unterrichtspraxis. Zeitschrift für historisch-politische Bildung, 32. 2004, S. 74–89; ders., Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer. Perspektiven für die Forschung aus der Sicht der sozialhistorischen Migrations- und der vergleichenden Minderheitenforschung, in: Michael North (Hg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln/Wien 2009, S. 89–114. Zu den meisten der im Folgenden angesprochenen einzelnen Migrantengruppen und Migrationsvorgängen finden sich Artikel in Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007. Auf diese Artikel wird im Folgenden nicht mehr gesondert verwiesen. Die angloamerikanische Forschung bettet die Konfessionsmigranten traditionell stärker in allgemeine

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derungsbewegungen mitunter fast ausschließlich auf den Aspekt der ›Glaubensflucht‹ reduziert. Die Prominenz des konfessionellen Faktors2 in der Geschichte von Migrationen der Frühen Neuzeit hat mehrere Gründe: Zum einen handelt es sich bei den konfessionell konnotierten Wanderungen der Zeit von 1500 bis 1800 häufig um große Gruppen, bei denen eine entsprechende religiöse Markierung Kohärenz erzeugen konnte. Diese Emigrationen hingen oft mit bestimmten konfessionspolitischen Stichdaten zusammen, in deren Gefolge die Migrantenzahlen sprunghaft in die Höhe schnellten: 1567 der Beginn der Herrschaft des katholischen Herzogs von Alba für die Niederländer, 1620 die Schlacht am Weißen Berg für die Böhmen, 1685 der Widerruf der konfessionellen Freiheiten des Edikts von Nantes in Fontainebleau für die Hugenotten und 1731/32 die Salzburgeremigration – um nur einige solcher Daten zu nennen. Tatsächlich waren diese Auswanderungen zwar Massenphänomene, aber dennoch keine plötzlichen Fluchten oder Reisen ins Ungewisse. Vielmehr hatten in der Regel bereits zuvor erhebliche Migrationsbewegungen stattgefunden, an deren Kontaktnetze und Erfahrungen sich nun anknüpfen ließ. Zum zweiten wird bei diesen Migrationsvorgängen oft eine mehr oder minder große Einheitlichkeit vorausgesetzt, die sich auf die Herkunft aus einem gemeinsamen Kulturraum, auf eine gemeinsame Sprache, Lebensweise und ein gemeinsames Schicksal der Migranten als Glaubensflüchtlinge reduziert. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass eine derartige Einheitlichkeit in gewissem Umfang ein Konstrukt darstellt, die diesen Migrantengruppen bisweilen erst in der Rückschau zugewiesen wurde. Verantwortlich dafür waren zu einem Gutteil die Politik und Gesellschaft der Aufnahmeländer, denen an einer klaren konfessionellen und sozioökonomischen Einordnung der Neuankömmlinge gelegen sein musste, darüber hinaus aber auch die Zuwanderer selbst: Für sie bildeten in der Fremde der Rückgriff auf ein gemeinsames Erbe oder eine einheitliche Heimatsprache wichtige Fak|| Migrationszusammenhänge ein: vgl. z.B. Leslie Page Moch, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, Bloomington 1992, S. 27–31; Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham/London 2002, S. 101–107; Steve Hochstadt, Migration in Preindustrial Germany, in: Central European History, 3. 1983, S. 195–224. Vgl. aber neuerdings: Timothy G. Fehler u.a. (Hg.), Religious Diaspora in Early Modern Europe. Strategies of Exile, London 2014; Jesse Spohnholz/Gary K. Waite (Hg.), Exile and Religious Identity, 1500–1800, London 2014. – Die Abfassung großer Teile des vorliegenden Beitrags wurde ermöglicht durch einen Forschungsaufenthalt an der Johannes a Lasco-Bibliothek Emden, deren Angehörigen ich zu Dank verpflichtet bin. Ulrich Niggemann unterzog den Beitrag einer kritischen Lektüre. Auch ihm sei herzlich gedankt. 2 Der vorliegende Beitrag beschränkt sich aufgrund seiner Themenstellung explizit auf Migrationen von Angehörigen christlicher Konfessionen. Das in der Forschung der letzten Jahre immer stärker feststellbare Interesse an Wanderungen von Nichtchristen (Muslime, Juden, Afrikaner etc.) und deren Implikationen auf das frühneuzeitliche Mitteleuropa muss daher in diesem Rahmen ausgeblendet bleiben.

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toren zur Herstellung von kollektiver Identität und Gruppenkohärenz. Die Betroffenen waren somit gleichzeitig die Produzenten einer gruppenkonstituierenden Gedächtniskultur. Dies schlug sich nicht zuletzt in der eigenen Publizistik und Geschichtsschreibung nieder und fand so Eingang in die Historiographie. Mit der konfessionspolitisch aufgeladenen Publizistik und mit den Kontakten der Migranten innerhalb ihrer Konfessionsgemeinschaften, aber auch innerhalb einer europäischen gelehrt-literarischen Öffentlichkeit hängt drittens zusammen, dass die konfessionsbedingten Wanderungsbewegungen in weit überwiegendem Maße Protestanten oder Angehörige heterodoxer reformatorischer Bekenntnisse (Täufer, Antitrinitarier und andere) zu umfassen scheinen, die auf die eine oder andere Weise der Rekatholisierung und der katholischen Gegenreformation entkommen wollten. Betrachtet man die großen konfessionspolitischen Verschiebungen im frühneuzeitlichen Europa, so ist zwar eine Dominanz protestantischer Migrationen plausibel. Dies rechtfertigt jedoch nicht das weitgehende Fehlen neuerer Forschungen zu katholischen Migrationen, vor allem für den deutschsprachigen Raum.3 Zugleich muss festgehalten werden, dass auch die protestantischen Wanderungsbewegungen häufig an ihren konfessionellen Rändern gleichsam ausfransten, dass sich also immer auch eine gewisse Zahl von Katholiken unter vermeintlich protestantischen Emigranten befand.4 || 3 Die Forschung zu Migrationen von Katholiken hat in den letzten Jahren gleichwohl Fortschritte gemacht, vgl. u.a. Geert H. Janssen, The Exile Experience, in: Alexandra Bamji u.a. (Hg.), The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation, Farnham 2013, S. 73–90; Harm Klueting, Katholische Konfessionsmigration, in: Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2012, URL: http://www.ieg-ego.eu/kluetingh-2012-de [2013-02-22]; David Worthington, British and Irish Experiences and Impressions of Central Europe, c. 1560–1688, Farnham 2012; Bettina Braun, Katholische Glaubensflüchtlinge. Eine Spurensuche im Europa der Frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch, 130. 2010, S. 505–576. Beispiele für Migrationen von Katholiken im Reich finden sich ferner v.a. in der älteren regionalhistorischen Forschung. Einblicke bietet z.B. die Zusammenfassung von Mark Häberlein, Konfessionelle Grenzen, religiöse Minderheiten und Herrschaftspraxis in süddeutschen Städten und Territorien in der Frühen Neuzeit, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, S. 151–190. Für Skandinavien vgl. Tore Nyberg, Das religiöse Profil des Nordens. Die Entwicklung von Kirchlichkeit und Frömmigkeit in den skandinavischen Ländern vom späten Mittelalter bis zum Konfessionellen Zeitalter; in: Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1660, Münster 2003, S. 245–310, hier S. 302–304; für Westeuropa siehe Karin Schüller, Die Beziehungen zwischen Spanien und Irland im 16. und 17. Jahrhundert. Diplomatie, Handel und die soziale Integration katholischer Exulanten, Münster 1999; Edward Corp u.a., A Court in Exile. The Stuarts in France, 1689–1718, Cambridge 2004; Patrick Clarke de Dromantin, Les réfugiés jacobites dans la France du XVIIIe siècle. L’exode de toute une noblesse »pour cause de religion«, Bordeaux 2005. 4 Beispiele finden sich nicht nur unter den konfessionell extrem heterogenen ›Pfälzern‹ (siehe unten), sondern etwa auch im Bereich der habsburgischen Auswanderungen; siehe Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen

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Schließlich entbehrte es lange Zeit nicht eines gewissen Reizes und Schauders für die Nachgeborenen, am Beispiel konfessioneller Migrationen der Frühen Neuzeit auf die angebliche religiöse Engstirnigkeit und Intoleranz früherer Epochen zurückzublicken, ähnlich wie sich die Hexenverfolgungen bequem als Zeugnisse einer finsteren Geschichtsperiode verwenden lassen. Von den im 19. und 20. Jahrhundert etablierten Standards vermeintlich klar umrissener staatlich-politischer oder wirtschaftlicher Einflusszonen5 und vom Standpunkt aufgeklärter Glaubens- und Meinungsfreiheit aus betrachtet, war es lange Zeit schwer vorstellbar, dass die Konfessionszugehörigkeit mehr als eine reine Privatsache darstellen konnte und dass Migranten nicht in den entsprechenden territorialpolitisch vorgegebenen Bekenntnisstrukturen ihrer Aufnahmeländer aufgingen. Aus vormoderner Perspektive sind demgegenüber politische, sozioökonomische und religiöse Strukturen auf das Engste miteinander verwoben, und so auch Mobilitätsphänomene mit Bekenntnisfragen.

2 Konfession und Staatlichkeit in der Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit Bei den sogenannten Glaubensflüchtlingen und Konfessionsmigranten der Frühen Neuzeit werden in der Regel die konfessionellen Verhältnisse im Herkunftsgebiet, das heißt eine obrigkeitlich angeordnete und durchgesetzte Konfessionsvereinheitlichung, ursächlich mit dem Ortswechsel Andersgläubiger in Verbindung gebracht. In den zeitgenössischen Begründungen territorialer (oft katholischer) Obrigkeiten verknüpften sich konfessionelle mit staatspolitischen Argumenten: Ein geordnetes Staatswesen sei nur denkbar bei einheitlichem Bekenntnisstand, alles andere würde zu Unordnung und Rebellion führen. Mehrfach findet man daher Aussagen folgenden Inhalts: »Solang die widerwärtige Religion toleriert wird, so lange kann der Fürst bei seinen Untertanen den vollkommenen Gehorsam nicht haben; denn so oft er ihnen etwas befehlen wird, das ih-

|| 18. Jahrhundert, Münster 2006, Kap. 6, sowie ders., Konfessionelle Liminalität. Kryptokatholiken im lutherischen Kursachsen des 17. Jahrhunderts, in: Joachim Bahlcke/Rainer Bendel (Hg), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln/Wien 2008, S. 113–131. 5 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Charles S. Maier, Transformations of Territoriality, 1600–2000, in: Gunilla Budde u.a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55.

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nen nicht schmeckt oder gefällt, so fliehen sie zu ihrem großen Gewissen und mißbrauchen die Schrift[stelle] ›Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‹.«6

Der niederländische Gelehrte Justus Lipsius schlug dementsprechend den territorialen Obrigkeiten vor, nur »unam religionem in uno regno« zu tolerieren, um die Macht der Einzelstaaten zu stärken und damit das öffentliche Wohl in Europa zu sichern.7 Die typische Struktur frühneuzeitlicher Gemeinwesen und deren vielfältig abgestufte obrigkeitliche Sanktionsgewalten (vom Landesherrn über die Landstände und Grundherren bis zur Geistlichkeit sowie den städtischen oder dörflichen Gewalten) gaben den Rahmen für die Duldung anderskonfessioneller Untertanen oder für deren Nichtakzeptanz vor. Dies konnte bis zur Ausweisung und sogar bis zur gezielten Vertreibung oder gewaltsamen Umsiedlung Andersgläubiger gehen. Administrative und politische Rahmenbedingungen des werdenden frühneuzeitlichen Staates definierten darüber hinaus auch den Ablauf von Migrationen und die Ansiedlung an einem anderen Ort, etwa beim Verlassen einer Grundherrschaft und der Auflösung feudaler Bindungen8, bei der Erfassung von Neuankömmlingen oder beim Ausmaß und Organisationsgrad des eigentlichen Wanderungsvorgangs: das heißt bei der Ausstellung von Dokumenten, dem Einsatz eigener Verwaltungsbeamter, der Bildung von ›Migrantenzügen‹ und anderem. Im Fall der Salzburger Emigration von 1731/32 illustriert ein Migrationsereignis innerhalb eines kurzen Zeitraums den Mobilisierungsgrad der politischen Gewalten im Alten Reich – vom katholischen Salzburger Fürstbischof als Landesherrn über den Regensburger Reichstag und den Habsburgerkaiser bis zum Aufnahmeland Brandenburg-Preußen.9 Die migrationsfördernde Politik eines Aufnahmelandes konnte zudem in die Herkunftsgebiete zurück wirken und weitere sogenannte Glaubensflüchtlinge produzieren, indem sie anderskonfessionelle Untertanen zur Emigration ermutigte. Dies gilt besonders für die großen Migrantengruppen wie die Hugenotten, die bisweilen gleichsam ins Land geholt wurden.10 Im aufnehmenden Staatswesen fungierte dann die territoriale

|| 6 Zit. bei Arno Herzig, Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus, in: Joachim Köhler/Rainer Bendel (Hg.), Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Teilbd. 1, Münster 2002, S. 493–509, hier S. 500; vgl. die zeitgenössischen Stimmen in: Albrecht P. Luttenberger (Hg.), Katholische Reform und Konfessionalisierung, Darmstadt 2006. 7 Justus Lipsius, Politicorum libri VI, Buch IV, Kap. 3 § 2; zitiert bei Heinz Schilling, Die Neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten, 1250 bis 1750, Berlin 1999, S. 520. 8 Vgl. den Beitrag von Karl Härter in diesem Band. 9 Mack Walker, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997. 10 Vgl. u.a. Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006; siehe auch den Beitrag von Ulrich Niggemann in diesem Band.

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oder geographische Herkunft der Einwanderer als Merkmal zur Kennzeichnung, Abgrenzung und Identitätsbildung gegenüber der Aufnahmegesellschaft: als ›Böhmen‹, ›Holländer‹, ›Franzosen‹ usw. Untrennbar mit den Strukturen des werdenden Staates in der Frühen Neuzeit verbunden war der konfessionelle Faktor. Dies spiegelt sich in zahlreichen Migrationsvorgängen wider. So verweisen viele zeitgenössische Bezeichnungen ebenso wie spätere Typisierungen von Migrantengruppen nicht nur auf eine bestimmte geographische, nationale oder territoriale Herkunft, sondern auf einen ganz besonderen konfessionellen Status. Begriffe wie Exulanten oder Glaubensflüchtlinge waren schon bei den Zeitgenossen Kennzeichen dafür, dass ein Mensch aufgrund seiner Bekenntniszugehörigkeit seine Heimat verlassen hatte. Armut und Fremdheit waren in der Frühen Neuzeit eng miteinander verbunden und häufig konfessionell konnotiert: Darauf deutet die doppelte Verwendung des Begriffes ›Elend‹ hin, der gleichermaßen Bedürftigkeit wie (religiös motivierte) Heimatlosigkeit ausdrücken konnte.11 Das aus dem Römischen Recht stammende Instrument des Asyls erhielt in der Frühen Neuzeit eine religiöse Aufladung. Demnach begaben sich Einwanderer unter den Schutz eines ihnen konfessionell wohlgesonnenen Landesfürsten, an den sie sich im Fall der Not mit Hilfe einer Bittschrift (›Supplikation‹) wenden konnten. Häufig sollte der Landesherr dann auch für sie durch eine ›Interzession‹ bei Nachbarfürsten intervenieren, etwa wenn es sich um die Herausgabe zurückgelassenen Besitzes oder den Nachzug von Familienmitgliedern handelte. Nach allgemeiner Auffassung berechtigte die Bittsteller primär ihr Status als Konfessionsverfolgte zu einer solchen Inanspruchnahme von Hilfen des Aufnahmelandes. Dies schlug sich in der Argumentation der Zuwanderer nieder: Einem aufnehmenden Landesherrn kam in entsprechenden Bittschriften bisweilen ein geradezu religiöser Status zu.12 Die Konfession lässt sich in der Frühen Neuzeit kaum von Politik und Gesellschaft trennen, weder in der politischen Theorie noch in der Praxis. Die historische Forschung hat sich entsprechend ausgiebig dem Verhältnis von Religion und Staatsgesellschaft in der Vormoderne gewidmet. Auf einen Nenner bringt dies der Begriff der Konfessionalisierung. Von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard eingeführt, ist das Modell der Konfessionalisierung als Erklärung des eigentümlichen Zusammenwirkens von Bekenntnis, Staat und Gesellschaft der Frühen Neuzeit seit

|| 11 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 406–411; Alexander Schunka, Exulanten, Konvertiten, Arme und Fremde. Zuwanderer aus der Habsburgermonarchie in Kursachsen im 17. Jahrhundert, in: Frühneuzeit-Info, 14. 2003, S. 66–78; Renate Blickle, Das Land und das Elend. Die Vier-Wälder-Formel und die Verweisung aus dem Land Bayern. Zur historischen Wahrnehmung von Raum und Grenze, in: Wolfgang Schmale/Reinhard Stauber (Hg.), Menschen und Grenzen in der frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 131–154. 12 Alexander Schunka, Immigrant Petition Letters in Early Modern Saxony, in: Bruce Elliott/David A. Gerber/Suzanne Sinke (Hg.), Letters across Borders. The Epistolary Practices of International Migrants, New York/Basingstoke 2006, S. 271–290; ders., Gäste, Kap. 3.

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den 1980er Jahren populär. Schilling versteht unter Konfessionalisierung einen »gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte, und zwar in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenläufiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates und mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft«.13 Konfessionalisierung betont also das Zusammenwirken von Politik und Konfessionskirchen bei der Ausprägung staatlicher Strukturen und einer einheitlichen Untertanenschaft. Forschungen dazu konzentrierten sich zunächst auf die Zeit von 1555 bis 1648. Wolfgang Reinhard hat sich gar für eine Ausweitung des konfessionellen Zeitalters über 1648 hinaus bis zur Zeit der Salzburger Emigration von 1731/32 ausgesprochen.14 Den großen Wanderungsbewegungen fällt demnach im Rahmen der Konfessionalisierungsdebatte eine gewisse Bedeutung zu. Das Modell der Konfessionalisierung war gleichwohl von Anfang an nicht unangefochten. Wichtige Kritikpunkte waren die dahinterstehende Modernisierungstheorie, der Vorwurf impliziter Teleologie, ein latenter Etatismus, der zu suggerieren schien, dass ein Konfessionalisierungsvorgang von oben ausgehen müsse, das heißt von den kirchlichen beziehungsweise staatlichen Gewalten initiiert gleichsam über die Untertanen hereinbreche und letztere zu weitgehend hilflosen Objekten der Konfessionalisierung mache, und schließlich der umfassende Erklärungsanspruch des ›Fundamentalvorgangs‹, der zu wenig Raum für gegenläufige konfessionelle, politische und soziale Entwicklungen lasse. Mittlerweile scheint die Frühneuzeitforschung zu einer kritischen, behutsamen Verwendung des Begriffs Konfessionalisierung übergegangen zu sein, und sei es nur, um damit die Rolle der Konfession als politischen und sozialen Faktor zu betonen. Heinz Schillings Begriff der ›Konfessionsmigration‹ verknüpft sich mit dem Konfessionalisierungsparadigma und ist bedeutsam für die Analyse frühneuzeitlicher konfessioneller Wanderungsbewegungen geworden.15 Hier standen Fragen nach dem innovatorischen und modernisierenden Potenzial von Konfessionsflüchtlingen im Mittelpunkt, die am Zuzugsort aus ihrem sozialen Minderheitenstatus heraus für

|| 13 Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift, 246. 1988, S. 1–45, hier S. 6; zum Konzept, seiner Rezeption und der Kritik daran vgl. stellvertretend Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002, S. 63–75. 14 Wolfgang Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: ders./Heinz Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung, Gütersloh 1995, S. 419–452, hier S. 435f.; vgl. auch Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster, 1570–1800, Paderborn 2000. 15 Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972.

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wirtschaftlichen Erfolg sowohl für sich selbst als auch für das Gastland sorgten.16 Anzumerken ist dazu, dass konfessionspolitische Faktoren zwar häufig einen wichtigen Anlass zur Emigration boten und dass die Auswanderer gemäß dem Konfessionalisierungsparadigma gleichsam als Opfer einer obrigkeitlichen Konfessionalisierung im Abwanderungsland betrachtet werden können; außerdem unterstützten konfessionspolitische Absichten auch die Wahl des Zielortes und die Aufnahmepolitik vieler Landesherren. Zugleich muss man aber feststellen, dass die konkrete Ansiedlung und das Sozialleben meist nicht unmittelbar auf eine Integration in eine konfessionalisierte Untertanenschaft hinausliefen, sondern dass in den Zuwanderergemeinden für einige Zeit und manchmal über Generationen hinweg ein kultureller, rechtlicher, sozialer, wirtschaftlicher, ja bisweilen auch kirchlicher Sonderstatus beibehalten wurde. In konfessioneller Hinsicht wiederum entsprachen die aufzunehmenden Migranten häufig wiederum nicht einer Minderheit, sondern der Mehrheit beziehungsweise dem Bekenntnis des Landesherrn. Hinzu kommt, dass man unter den Migranten bei genauerem Hinsehen oft nicht nur die propagierte konfessionelle Standhaftigkeit vorfindet, die dann – so die berühmte These Max Webers – in wirtschaftlichen Eifer mündet, sondern ein Bündel ganz verschiedener Migrationsmotive, genau wie alle möglichen sozialen Schichten unter den Migranten vertreten waren: nicht nur Menschen, die einen unmittelbaren Nutzen für das Aufnahmeland versprachen. Anders als die anglo-amerikanische räumt die deutschsprachige Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit der konfessionellen Migration traditionell einen besonderen Stellenwert ein. Dies ist teilweise den historischen Besonderheiten geschuldet, es hängt aber auch mit den Nachwirkungen einer konfessionell geprägten, protestantischen Geschichtsschreibung aus dem Umfeld der Migranten und in den letzten Jahrzehnten mit der Dominanz des Konfessionalisierungsparadigmas zusammen. Neuere Versuche, frühneuzeitliche Wanderungen zu systematisieren und zu typisieren, sind davon häufig nicht unbeeinflusst. In jüngerer Zeit erhöhte sich hier zwar der Abstraktionsgrad der Kategorien, als empirische Beispiele dienten aber oft weiterhin einzelne konfessionell konnotierte Migrantengruppen (vor allem Hugenotten und Salzburger). Viele mehr oder weniger populäre Versuche einer Systematisierung frühneuzeitlicher Migrationen sind zudem nicht unproblematisch, wenn man sie mit den historischen Quellen konfrontiert. So wirft bereits eine Trennung zwischen religiösen beziehungsweise konfessionellen Migrationsanlässen einerseits und säkularen, etwa wirtschaftlichen oder politischen Migrationsmotiven andererseits gewisse Probleme auf; ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen Freiheit und Zwang oder für eine Typologie, die zwischen erzwungenen, gelenkten

|| 16 Zugespitzt bei: ders., Die niederländischen Exulanten des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur frühneuzeitlichen Konfessionsmigration, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43. 1992, S. 67–78.

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und markt- beziehungsweise lebensweltbedingten Migrationen trennt.17 Auf welch komplexe Weise die Konfession als gesamtgesellschaftlicher respektive lebensweltlicher Faktor mit frühneuzeitlichen Migrationen verknüpft war, mögen die folgenden Beispiele illustrieren: In der Forschung sind konfessionelle Auswanderungsbewegungen häufig implizit oder explizit nicht den markt- oder lebensweltlichen Migrationen, sondern dem Bereich der Zwangswanderungen zugeordnet worden – konfessionspolitisch motivierte Ansiedlungsmaßnahmen dagegen den gelenkten Migrationen. Das würde freilich konkret bedeuten, dass etwa die Migranten des hugenottischen ›Refuge‹ je nach Blickwinkel beiden Kategorien angehören. Darüber hinaus ist gegen eine solche Unterscheidung einzuwenden, dass sich frühneuzeitliche Migranten immer auch den Gesetzlichkeiten eines ›Marktes‹ oder lebensweltlichen Konventionen zu unterwerfen hatten. Dies betrifft nicht nur Erwerbsmigration, Heiratsmigration und schichtspezifische Migrationsmuster (etwa bei Studenten, Künstlern, Handwerksgesellen usw.), sondern annähernd jede frühneuzeitliche Wanderungsbewegung. Jeder Migrationsvorgang ist in gewisser Weise marktbedingt, denn man darf auch bei Migrantengruppen im Umfeld konfessioneller Vereinheitlichung weder das ökonomische Moment noch das Sozialkapital vernachlässigen, das im Migrationsverlauf immer neu verhandelt werden musste. Wie weit der Einfluss der Konfession in das tägliche Leben reichte, wie komplex aber auch das Motivbündel war, das zu einer Migrationsentscheidung führen konnte, machen Stimmen von Zeitgenossen wie die eines böhmischen Emigranten des 17. Jahrhunderts deutlich: Unter den Vorzeichen der Rekatholisierung vermischten sich Zwang und ›Marktbedingungen‹, wenn Andersgläubigen zunächst »der Ehestand, ein ehrlich Begräbnüß, Tauffe und dergleichen« verboten wurde. »Deßgleichen wurden ihnen […] alle Handtierung und Kauffmannschafft, wie sie Namen haben möchte, dadurch sie ihres Lebens Auffenthalt hätten haben können, verbotten. Endlich durfften sie auch nicht mehr für ihr Geld ihnen Nahrung einkauffen […]. Derowegen wurden sie also durch Dürfftigkeit und grossen Hunger gedrücket, daß sie entweder nothwendig darvon lauffen, oder aber verzweiffeln, apostasiren und abfallen musten, wie dann ihrer viel gethan«.18

Nicht nur die Biographie dieses Autors, eines zum Luthertum konvertierten Katholiken, der nach seiner Auswanderung zum Exulantenpfarrer und -schriftsteller, zum Verfasser antikatholischer Pamphlete, zum europaweit tätigen ›Fundraiser‹ für seine Pfarrgemeinde und schließlich zu einem recht erfolgreichen Produzenten von || 17 So die Typologien bei Klingebiel, Migrationen im frühneuzeitlichen Europa; Asche, Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit. 18 Georg Holyk, Kurtze und wahrhafftige Erzehlung Des betrübten und gar traurigen Zustandes Des König-Reichs Böhmen, In welchem es, insonderheit in den letzten Verfolgungs-Jahren der Religion halben gerathen […], Amsterdam 1679, S. 40f.

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Gartenbauliteratur werden sollte, wirft Licht auf komplizierte Interessengeflechte und Motivlagen im Kontext konfessioneller Migrationen.19 Vor allem beschreibt der Protagonist hier am Beispiel Böhmens, wie sich in Verbindung mit der Konfessionszugehörigkeit unter den Bedingungen der Rekatholisierung für Andersgläubige die Teilnahme an den Sakramenten und damit das Gemeindeleben, die Heiratsoptionen und die soziale Basis des Zusammenlebens auflösen konnten. Gleichzeitig wurde die Berufsausübung erschwert oder unmöglich gemacht und die wirtschaftliche Grundlage bis hin zu jeglicher Existenzmöglichkeit in Frage gestellt. Ungeachtet der naheliegenden Vermutung, dass eine solche Aussage in agitatorischer und dramatisierender Absicht getroffen wurde, führt sie ein in die Lebens- und Gedankenwelt eines ›Konfessions‹-Migranten und verdeutlicht, dass in frühneuzeitlichen Staatswesen die Mechanismen eines sozio-ökonomischen ›Marktes‹ kaum unabhängig von konfessionspolitischen Strukturen vorstellbar waren. Dies gilt gleichermaßen für die Einwanderung: Man denke etwa an den sozioökonomischen Regelungsbedarf des Zusammenlebens von Zuwanderern und Einheimischen in Zunft- oder Policeyordnungen, an die Zuweisung freier Bauernstellen für Migranten, eine fürstliche Privilegienpolitik mit Steuerbefreiungen und vieles mehr.20 Hier überschneidet sich eine ›marktbedingte‹ Migration mit dem Typus der ›gelenkten‹ Migration. Wenn nun gelenkte Migration tendenziell eher auf das Einwanderungsgeschehen fokussiert und umgekehrt erzwungene Migration den Blick auf die Auswanderung richtet, dann kommt dabei zu kurz, dass bei der Aufnahme von Zuwanderern häufig recht chaotische Zustände herrschten und von einer tatsächlichen Lenkung nur selten die Rede sein kann. Daneben sind in der Frühen Neuzeit auch erzwungene Einwanderungen feststellbar, etwa bei der Besiedlung von Grenzgebieten und Sträflingskolonien durch religiös abweichende beziehungsweise ›rebellische‹ Untertanen21, ferner bei der Zwangsansiedlung von christlichen Gefangenen und Piraten-

|| 19 Siehe Marie Ryantová, Der Konvertit und Exulant Jiří Holík und seine antikatholischen Schriften, in: Acta Comeniana 25. 2011, S. 199–219; Ilmar Talve, Georgius Franciscus Holyk. Ein Beitrag zur Geschichte der landwirtschaftlichen Literatur des Baltikums im 17. Jahrhundert, Bonn 1955. 20 Vgl. die Beiträge von Karl Härter und Ulrich Niggemann in diesem Band sowie Alexander Schunka, Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit, in: Karl Peter Krauss (Hg.), Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2014, S. 29–55. 21 Vgl. etwa Pentti Laasonen, Der Einfluß A.H. Franckes und des hallischen Pietismus auf die schwedischen und finnischen ›Karoliner‹ im und nach dem Nordischen Krieg, in: Johannes Wallmann/Udo Sträter (Hg.), Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus, Tübingen 1998, S. 5–18; Karl Kaser, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535–1881), Wien 1997. Siehe ansonsten stellvertretend: Hoerder, Cultures, S. 216–220 für Nordamerika, S. 309–312 für Sibirien und das Russische Reich, jeweils mit weiterer Literatur. Zum Kontext frühneuzeitlicher Deportationspraktiken jetzt: Stephan Steiner, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext, Wien 2014.

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opfern in den Barbareskenstaaten Nordafrikas, die dort teilweise zum Islam konvertierten, Händlerdynastien begründeten und als kulturelle Mittler fungierten, oder bei ehemaligen Christen in der Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches.22 In Bezug auf die Migrationen entlang der habsburgisch-osmanischen Militärgrenze oder vor allem bei den sogenannten Transmigrationen der Habsburger nach Siebenbürgen im 18. Jahrhundert wäre zu fragen, ob es sich hier nicht um ebenso erzwungene Auswanderungen wie erzwungene Einwanderungen handelte. Darüber hinaus existierte neben Zwangsauswanderungen auch und gerade im 18. Jahrhundert eine gelenkte Auswanderung, denkt man etwa an die Nordamerika-Emigration aus dem Heiligen Römischen Reich, die teils über Halle, Augsburg und London organisiert wurde, und zwar durch das Zusammenwirken von internationaler Konfessionspolitik, Kirchen, Diplomatie, Wirtschaftsunternehmen und Missionsgesellschaften.23 Nach dem bisher Gesagten scheinen konfessionelle Migrationen weiterhin am plausibelsten in den Bereich der ›erzwungenen‹ Wanderungsbewegungen zu fallen: die Salzburger Emigranten, die Hugenotten oder die rekatholisierungsbedingten Auswanderungen aus dem habsburgischen Bereich bieten hierzu auf den ersten Blick genügend Anschauungsmaterial. Gerade die Hugenottenmigration von Frankreich durch das Reich bis nach Brandenburg-Preußen im späten 17. Jahrhundert oder der Zug der Salzburger nach Preußisch-Litauen im frühen 18. Jahrhundert erscheinen allerdings als ebenso erzwungen wie gelenkt und marktbedingt, wenn man aus der Sicht der Migranten einerseits nach deren Notwendigkeiten zur Lebensbewältigung am Herkunftsort (soziale, wirtschaftliche und rechtliche Sicherheiten und ihre mögliche Einschränkung angesichts konfessionspolitischer Homogenisierungsmaßnahmen) und andererseits nach den jeweiligen Möglichkeiten am Ankunftsort fragt. Dies bedeutet, den Blick von den administrativen Organen stärker auf die Optionen, Praktiken und Erfahrungen der Betroffenen zu richten. Thomas Klingebiel definiert frühneuzeitliche Wanderungen dann als »konfessionell bedingt«, wenn sie »durch Maßnahmen der Obrigkeit im Zuge der Konfessionalisierungspolitik ausgelöst wurden; im weiteren Sinne handelt es sich dabei um Vertreibungen von konfessionell definierbaren Minderheiten aus staatspoliti-

|| 22 Linda Colley, Captives. Britain, Empire and the World 1600–1850, London 2002, S. 43–134; Felix Konrad, Soziale Mobilität europäischer Renegaten im frühneuzeitlichen Osmanischen Reich, in: Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010, S. 213– 234; Maurus Reinkowski, Kryptojuden und Kryptochristen im Islam, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, 54. 2003, S. 13–37; Wolfgang Kaiser, Kaufleute, Makler und Korsaren. Karrieren zwischen Marseille und Nordafrika im 16. und 17. Jahrhundert, in: Ursula Fuhrich-Grubert/ Angelus H. Johansen (Hg.), Schlaglichter Preußen – Westeuropa. Festschrift Ilja Mieck, Berlin 1997, S. 11–31, hier S. 21f. 23 Ausführlich siehe unten.

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schen Erwägungen, bei denen Bekenntnismotive legitimatorische Funktion besitzen.« Hier geht es also um die Indienstnahme der Konfession durch den frühmodernen Staat.24 Die Kehrseite der Medaille ist jedoch die Indienstnahme frühmoderner Staatlichkeit durch die Protagonisten einer Konfession: Die habsburgischen Maßnahmen zu konfessioneller Vereinheitlichung, die eben nicht auf Entvölkerung eines Territoriums, sondern auf den Erhalt steuerzahlender Untertanen und konfessionspolitisch treuer Unterstützer der kirchlichen (und territorialen) Autorität zielten, gehen in großen Teilen auf das Umfeld gegenreformatorischer Geistlicher, insbesondere jesuitischer Beichtväter wie Adam Contzen oder William Lamormaini zurück.25 Dass aus solcherlei Homogenisierungsversuchen faktisch große Auswanderungsbewegungen resultierten, war eine nicht immer intendierte Folge der staatlichen Umsetzung konfessioneller Vorgaben, das heißt der Rekatholisierung ganzer Regionen durch Überzeugungsarbeit oder Gewalt.26 Auf der Seite der Zuwanderungsländer lässt sich etwa die Agitation protestantischer Geistlicher wie Matthias Hoё von Hoёnegg in Sachsen anführen, denen allenfalls an der selektiven Unterstützung bestimmter Gruppen glaubenskonformer Migranten gelegen war: entsprechend nahm man in Kursachsen Lutheraner auf, man wehrte sich aber entschieden gegen eine Zuwanderung anderskonfessioneller Protestanten (Calvinisten, Böhmische Brüder).27 Wenn es zur Gründung von Exulantengemeinden kam, dann besaßen deren Prediger häufig ein besonders enges Verhältnis zu den obersten Kirchenbehörden eines Staatswesens: so bei den Hugenotten in Berlin oder in der böhmischen Exulantengemeinde im sächsischen Pirna.28

|| 24 Klingebiel, Vorreiter der Freiheit, S. 23; zit. ebd., S. 28, Anm. 11. 25 Ernst-Albert Seils, Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, Beichtvaters Kurfürst Maximilian I. von Bayern, Lübeck/Hamburg 1968; Robert Bireley, Maximilian von Bayern, Adam Contzen S.J. und die Gegenreformation in Deutschland 1624–1635, Göttingen 1975; ders., Religion and Politics in the Age of the Counterreformation. Emperor Ferdinand II, William Lamormaini, S.J., and the Formation of Imperial Policy, Chapel Hill 1981. 26 Regina Pörtner, The Counter-Reformation in Central Europe. Styria 1580–1630, Oxford 2001; Gernot Heiss, Princes, Jesuits and the Origins of Counter-Reformation in the Habsburg Lands, in: Robert J.W. Evans/Trevor V. Thomas (Hg.), Crown, Church and Estates. Central European Politics in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, London 1991, S. 92–109. 27 Zur Haltung Hoёs vgl. die umgearbeitete Schrift seines Vorgängers: Polycarp Leyser [d.Ä.], Eine wichtige und in diesen gefährlichen Zeiten sehr nützliche Frage: Ob/ wie/ und warumb man lieber mit den Papisten gemeinschafft haben/ und gleichsam mehr vertrawen zu ihnen tragen solle/ denn mit/ und zu den Calvinisten, Sampt einer Missiv Herrn D. Matthiae Hoen […], Leipzig 1620; vgl. Wolfgang Sommer, Die lutherischen Hofprediger in Dresden. Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündigung im Kurfürstentum Sachsen, Stuttgart 2006, S. 155–157. 28 Zur kirchlichen Situation der Berliner Hugenotten vgl. Eduard Muret, Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preussen, unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde [1885], ND Berlin 1990, S. 19f.; Karl Manoury, Die Geschichte der französischen Kirche in Berlin. Hugenottenkirche 1672–1955, Berlin 1955; Eckart Birnstiel, Die Hugenotten in Berlin. Eine Gemeinde

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Diese Beispiele mögen verdeutlichen, dass die hier beschriebenen Migrationsprozesse keine eindimensionalen, auf religiöse Faktoren reduzierbare Phänomene sind, innerhalb derer territoriale Konfessionspolitik gleichsam vom Auswanderungsentschluss bis zur Ansiedlung unterschiedslos und unmittelbar bis auf die Ebene der Betroffenen durchschlägt. Daraus folgt, dass es zu kurz greift, im vorliegenden Zusammenhang von staatlichen Maßnahmen gegenüber anderskonfessionellen ›Opfern‹ zu sprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier wie bei allen frühneuzeitlichen Migrationen so gut wie unmöglich ist, zu gesicherten Angaben über deren Umfang zu gelangen. Dies hängt mit den ungenügenden Erfassungsmöglichkeiten im frühneuzeitlichen Staat, mit der Ungenauigkeit der Überlieferung, daneben aber auch schlicht mit der Frage zusammen, wie man etwa im selben zeitlichen und geographischen Raum bestimmte lebensweltliche Phänomene wie Erwerbs- oder Heiratsmigration von konfessioneller Migration trennen will. Jede Art von Quantifizierung muss schon deshalb in Ansätzen stecken bleiben, weil sich eine kontinuierliche grenzüberschreitende Migration mit konfessionellen Motivlagen vermischte und man zudem kaum über die Ab-, Weiter- und vor allem Rückwanderungsströme informiert ist. Somit sind quantitative Angaben in der Literatur manchmal nicht mehr als optimistische Fiktionen oder grobe Schätzungen, die bisweilen auf die Zeitgenossen, auf genealogische Arbeiten oder auf einen kleinen Ausschnitt administrativer Quellen zurückgehen. Man wird daher in der Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit künftig vielleicht noch stärker als bisher das Handeln, die Sichtweisen und die Erfahrungen der Akteure berücksichtigen müssen – sowohl auf der Seite der Migrierenden wie der Aufnehmenden.29 Gefragt werden könnte danach, welche Optionen für eine Abwanderung und für die Wahl eines bestimmten Ziels sprachen, für eine Ansiedlung und Integration in bestimmte Teilzusammenhänge und für die Segregation in anderen. Demnach wäre noch genauer zu untersuchen, wie ein Migrant mit staatlichen Strukturen zurechtkam, nicht nur, wie ein Staatswesen mit Migranten umging. Der konfessionelle Bereich ist vor diesem Hintergrund kein analytisch abtrennbares Gesellschaftssegment, sondern eine zentrale gesamtgesellschaftliche Bedingung der Vormoderne. Zugleich gilt es allerdings, die konfessionellen Wanderungsfaktoren an das allgemeine Migrationsgeschehen der Vormoderne rückzubinden und nicht den Son-

|| auf der Suche nach ihrer Kirche, in: Rudolf von Thadden/Michelle Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten 1685–1985, München 1985, S. 115–126; zu Pirna vgl. Schunka, Gäste, S. 159–163. 29 In diese Richtung gehen einige Beiträge in: Jürgens/Weller (Hg.), Religion und Mobilität; vgl. auch Alexander Schunka/Eckart Olshausen (Hg.), Migrationserfahrungen – Migrationsstrukturen, Stuttgart 2010. Siehe ferner die Beiträge in Spohnholz/Waite (Hg.), Exile and Religious Identity, sowie Schunka, Normsetzung.

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derfallcharakter einzelner Migrantenströme über Gebühr zu betonen. Bei allem heuristischen Nutzen von Typenbildungen oder der analytischen Abgrenzung einzelner Migrationsvorgänge und Migrantengruppen von anderen besteht ansonsten die Gefahr, auf Kosten der historischen Vielfalt zeitgenössischen oder historiographischen Konstrukten aufzusitzen.

3 Konfessionelle Migrationen und das Heilige Römische Reich vor 1648 Konfessionell veranlasste Migrationen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation beginnen mit der Aufspaltung der christlichen Bekenntnisse, der Ausformung konfessioneller Lager und konfessionsgebundener Territorien, allerdings strenggenommen nicht mit der Reformation Martin Luthers. Neben – oft unfreiwilligen – Ortswechseln nonkonformistischer Gruppen im Mittelalter30 sorgte schon die böhmische Glaubensspaltung des 14. und 15. Jahrhunderts für religiös konnotierte Fluchtbewegungen in die Nachbarländer, aus denen Ansiedlungen von einiger Dauer werden konnten.31 Die Folgen der lutherischen Reformation (1517) brachten eine neue Quantität und Qualität religiös oder konfessionell motivierter Migrationen mit sich. Von nun an reklamierten die Landesherren das Recht zur Reformation ihrer Untertanen für sich. Im Anschluss an die Reformation wurde in protestantischen Territorien der Landesherr zugleich als Notbischof das kirchliche Oberhaupt; gemäß dem Augsburger Religionsfrieden und dem Westfälischen Frieden konnte ein Herrscher die Konfession seiner Untertanen bestimmen. Ihm wuchs dadurch – im katholischen wie im protestantischen Bereich – auch die Rolle zu, die Konfession des Landes im Sinne der heilsbringenden Wahrheit zu schützen und zu stärken. Parallel dazu diskutierte schon Martin Luther auf Basis des Matthäusevangeliums (Matth 10,23) eine Auswanderung aus Gewissensgründen: »Und wo ein Fürst odder herr das Euangelion nicht wil leyden, Da gehe man ynn ein ander Fuersten-

|| 30 Stellvertretend: Malcolm Lambert, Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten [1992], Darmstadt 2001. 31 Andreas Rüther, Böhmische Altgläubige nach der Flucht vor den Hussiten in ihrer neuen Umwelt. Schlesien, Lausitzen und Mähren, in: Bahlcke/Bendel (Hg.), Migration und kirchliche Praxis, S. 1–18; Franz Machilek, Datum tempore exilii nostri in materia fidei. Zur Emigration von Welt- und Ordensgeistlichen aus Böhmen in der Hussitenzeit, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Gesellschaftsgeschichte. Festschrift Karl Bosl, Bd. 1, München 1988, S. 206–226. Zur Einordnung der Vorgänge in Böhmen in einen europäischen Kontext und in den Vorgang der Konfessionalisierung vgl. die Beiträge in: František Šmahel (Hg.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, München 1998.

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thum, da es geprediget wird, wie Christus spricht: ›Verfolgen sie euch ynn einer stad, so fliehet ynn die andere‹«.32 Die Kirchenlehre Luthers sah allerdings ursprünglich aufgrund ihres Konzepts der beiden getrennten weltlichen und geistlichen Regimenter kein Reformationsrecht der Obrigkeit vor, sondern vielmehr eine Reformationspflicht durch das Wort. Dies änderte sich erst mit Philipp Melanchthon zugunsten einer stärkeren ›cura religionis‹ durch die Obrigkeiten und der Rechtfertigung eines energischeren Vorgehens gegen Andersgläubige.33 Daraus wiederum resultierte die Auseinandersetzung einiger Reformatoren mit dem Problem, wie sich der Gläubige angesichts einer ihm aufgezwungenen Konfession verhalten solle.34 Das Reformationsrecht eines Landesherrn und die Freistellung des Glaubens der Untertanen bis hin zum Recht oder Zwang einer Auswanderung Andersgläubiger erhielten in diesem Rahmen unmittelbare politische Relevanz und wurden kontrovers erörtert. Der berühmte Paragraph des Augsburger Religionsfriedens von 1555, der das später so genannte ›Ius emigrandi‹ festschrieb, sollte in der Folge vor allem für Protestanten bedeutsam werden, die sich gegen katholische Obrigkeiten zum Abzug aus einem anderskonfessionellen Territorium entschlossen. Er geht aber ausgerechnet auf eine katholische Initiative am Reichstag in Augsburg 1530 zurück und war ursprünglich zum Schutz katholischer Untertanen in protestantischen Herrschaften gedacht.35 Der Paragraph des Religionsfriedens lautete: »Wo aber unsere, auch der Churfürsten, Fürsten und Stende Undertonen, der alten Religion oder Augspurgischen Confession anhengig, von sölcher irer Religion wegen aus unsern, auch der Churfürsten, Fürsten und Stende des heil. Reichs Landen, Fürstentumben, Stetten oder Flecken mit iren Weib und Kindern an andere Ort ziehen und sich nider tun wölten, denen sol solcher Ab- und Zuzug, auch verkaufung irer Haab und Güter gegen zimblichen billichen Abtrag der Leibaigenschaft und nachsteuer, wie es jedes Orts von alters anhero ublichen, herpracht, und gehalten worden ist, unverhindert meniglichs zugelassen und bewilligt, auch an iren Ehrn und Pflichten allerding unentgolten sein, doch sol den Obrigkeiten an iren Gerech-

|| 32 Martin Luther, Ob kriegsleutte auch ynn seligem stande seyn kuenden [1526] (Weimarer Ausgabe, Schriften, Bd. 19, S. 623–663, hier 634). 33 Bernd Christian Schneider, Ius reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Tübingen 2001, S. 74–81; Johannes Heckel, Cura religionis – Ius in sacra – Ius circa sacra, in: Festschrift Ulrich Stutz zum siebzigsten Geburtstag [1938], ND Amsterdam 1969, S. 224–298. 34 Erika Rummel, The Confessionalization of Humanism in Reformation Germany, Oxford 2000; M.A. Overell, Vergerio’s Anti-Nicodemite Propaganda and England, 1547–1558, in: Journal of Ecclesiastical History, 51. 2000, S. 296–318. 35 Schneider, Ius reformandi, S. 99–104. Die grundlegenden Arbeiten zum Reichskirchenrecht um den und nach dem Augsburger Religionsfrieden stammen von Martin Heckel, jetzt leicht greifbar in: Martin Heckel, Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, hg.v. Klaus Schlaich, 5 Bde., Tübingen 1989–2004.

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tigkeiten und Herkommen der Leibeignen halben, dieselbigen ledig zu zelen oder nit, hirdurch nichts abgesprochen oder benomen sein.«36

Der Augsburger Religionsfrieden schrieb also ein Recht auf freie Auswanderung aus konfessionellen Gründen gegen die Ablösung feudaler Bindungen fest. Dies gilt gemeinhin als evangelische Errungenschaft und wurde sogar als »erstes Grundrecht« der Reichsbevölkerung dargestellt, denn der Paragraph habe die Basis für eine individuelle Willensentscheidung der Untertanen gelegt, nach ihrem Glauben leben und gegebenenfalls auswandern zu dürfen.37 Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass sich diese Regelung nicht auf eine (etwas anachronistische) Vorstellung von Toleranz und Gewissensfreiheit gründete, sondern vielmehr auf die Vorstellung, ein konfessionell einheitliches Staatswesen bürge für Stabilität. Die Festschreibung einer Option zur Abwanderung aus konfessionellen Motiven in den Verfassungsgesetzen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation jedenfalls entstand nicht aus dem Bedürfnis nach Toleranz gegenüber konfessionellen Minderheiten, sondern aus der Vorstellung, dass konfessionelle Pluralität einem Gemeinwesen mehr schadete als nützte. Zudem besaß der gesamte Augsburger Religionsfrieden einige Unklarheiten und Leerstellen, die besonders in migrationshistorischer Sicht von gewisser Bedeutung waren: So schloss er nur das römisch-katholische und das Augsburgische Bekenntnis ein. In der Folge wurde die reichsrechtliche Anerkennung der immer stärker werdenden Reformierten, also der Anhänger Calvins und Zwinglis, nicht zuletzt von lutherischer Seite bestritten, ebenso wie Täufer und andere heterodoxe Gruppen nicht in den Religionsfrieden einbezogen waren. Ferner war der Geltungsbereich des Friedens gerade in habsburgischen Territorien umstritten, insbesondere dort, wo die Reformation sich nicht auf landesherrlicher, sondern auf grundherrschaftlicher Ebene durchgesetzt hatte. In der katholischen Auslegung war der Frieden zwischen Reichsständen geschlossen worden, nach protestantischer Lesart sollte er das Verhältnis von Obrigkeiten und Untertanen bestimmen.38 Die Diskussion um das ›Ius reformandi‹ des Landesherrn und die Freistellung in Glaubenssachen beziehungsweise das ›Ius emigrandi‹ der Untertanen war auch nach dem Augsburger Religionsfrieden, der die obrigkeitliche Entscheidung über || 36 Reichsabschied. Artikel des Religionsfriedens, Auszug, Augsburg 25.9.1555; zit. nach: Ruth Kastner (Hg.), Quellen zur Reformation 1517–1555, Darmstadt 1994, S. 523–531, hier S. 528. 37 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1983, S. 47f., Zit. S. 48. 38 Vgl. Horst Dreitzel, Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter. Zur Diskussion im Reich zwischen Augsburger Religionsfrieden und Aufklärung, in: Dieter Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Teilbd. 1, Wiesbaden 1995, S. 115–128; Helmut Gabel, Der Augsburger Religionsfriede und das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenveld (Hg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, S. 83– 98.

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die Konfession der Untertanen festschrieb, keineswegs beendet. Sie zog sich vielmehr über die konfessionellen Auseinandersetzungen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden und sogar in die Konflikte hinein, mit denen sich das ›Corpus Evangelicorum‹ als Forum der protestantischen Reichsstände auf dem Reichstag des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts herumschlug. Dabei führten die Auslegung und Umsetzung des Rechts auf Freistellung und Abzug immer wieder zu politischen und juristischen Streitigkeiten. Flankiert wurden diese Differenzen durch freiwillige oder unfreiwillige Massenauswanderungen, Fluchtbewegungen sowie Vertreibungen Andersgläubiger und einer entsprechend umfangreichen und dramatisierenden Publizistik. Für einige der großen protestantischen Migrationsschübe im frühneuzeitlichen Mitteleuropa sollte das ›Ius emigrandi‹ aber letztlich gar keine besondere Bedeutung erlangen, oder es diente allenfalls als argumentative Unterstützung. Dies lag daran, dass sich der Augsburger Religionsfrieden nach allgemeiner Auslegung auf Reichsstände bezog, dass die Wandernden aber entweder aus Gegenden außerhalb des Reiches stammten oder dass ihr Abzug nicht mit der Reformation beziehungsweise Rekatholisierung reichsständischer, sondern landständischer Territorien verbunden war. Die Problematik in habsburgischen Gebieten verdeutlicht dies: In Böhmen etwa, dessen Zugehörigkeit zum Reich und seinen Institutionen ohnehin umstritten war39, hatte sich die Reformation vielerorts auf grundherrschaftlicher beziehungsweise landständischer Ebene durchgesetzt. Hier argumentierte der katholische Habsburgerkaiser als Territorialherr, dass schon dieser Glaubenswechsel unzulässig gewesen sei, da er gleichsam durch habsburgische Untertanen vorgenommen worden war. Demnach hätte nur der Kaiser das Recht gehabt, für seine Erb- und Kronterritorien die Reformation einzuführen; bei allem anderen handelte es sich folglich aus Sicht der Zentrale um Rebellion. Menschen, die die kaiserlichen Erb- und Kronländer, das heißt die österreichischen und böhmischen Territorien verließen, konnten deshalb auf habsburgischer Seite als politisch-konfessionelle Rebellen bezeichnet werden: als Verbrecher, deren Auslieferung man forderte, weil sie die Stabilität des Staatswesens in Frage gestellt hatten. In den Zuwanderungsländern argumentierten diese Migranten demgegenüber als Glaubensflüchtlinge und erhofften sich materielle und spirituelle Unterstützung aufgrund ihres Verfolgtenstatus.40 Die konfessionellen Migrationsbewegungen nahmen nicht nur vom Kern des Alten Reiches ihren Ausgang, sondern häufig von dessen Rändern oder von Gebieten jenseits der Reichsgrenzen. In vielen Fällen hatten sich dennoch die Reichsinstitu-

|| 39 Alexander Begert, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens, Husum 2003. 40 Vgl. Schunka, Gäste, passim.

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tionen mit den Aus- und Einwanderungen zu beschäftigen: sowohl wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen in Reichsterritorien und die Angst vor außenpolitischen Verwicklungen ging, als auch, wenn sich die Migranten selbst an Institutionen wie den Reichstag oder nach 1648 an das dortige ›Corpus Evangelicorum‹ wandten, von wo sie sich Schutz vor Verfolgung oder zumindest eine große Öffentlichkeit für ihre Schicksale erwarteten. Auf juristische oder politische Unterstützung konnten bis 1648 allerdings nur die reichsrechtlich anerkannten Lutheraner hoffen. Wenn etwa in erzbischöflichen Territorien wie Köln und Trier das Reformationsrecht des Landesherrn angewendet wurde, dann führte dies zu eher kleinräumigen Abwanderungen über die nächste Grenze. Anschließend konnten die Untertanen zudem die Reichsgerichte anrufen, sofern das ›Ius reformandi‹ zu ihren Ungunsten umgesetzt worden war.41 Im Gegensatz zu Katholiken und Lutheranern verfügten die Reformierten weder über ein einheitliches schriftliches Bekenntnis noch über eine klare, dauerhafte territoriale oder rechtliche Verankerung in Europa. Der reformierte Protestantismus war in hohem Maß eine Konfession von Oppositionellen und Emigranten. Der Weg ins konfessionelle Exil besaß hier zudem eine starke theologische Legitimationsgrundlage. So hatte etwa noch der Straßburger Theologe Martin Bucer, gleichsam ein Bindeglied zwischen Lutheranern und Schweizer Reformierten, die religiöse Dissimulation, das heißt eine Verstellung nach außen in Verbindung mit der Erfüllung religiöser Pflichten im Geheimen, propagiert – dies diene der Verbreitung der Reformation mehr als eine Auswanderung und verhindere zugleich schlimmere Unruhen.42 Der Genfer Reformator Jean Calvin dagegen plädierte für das Exil Andersgläubiger: In Calvins theologischem Denken hatte Glaubenstreue Vorrang vor dem Erhalt der Eintracht innerhalb eines frühneuzeitlichen Gemeinwesens. Um den wahren Glauben zu verbreiten, war es demnach zwar legitim, Allianzen mit den Mächtigen einzugehen, im Zweifelsfall mussten aber diese Verbindungen aufgege-

|| 41 Stefan Ehrenpreis/Bernhard Ruthmann, Jus reformandi – jus emigrandi. Reichsrecht, Konfession und Ehre in Religionsstreitigkeiten des späten 16. Jahrhunderts, in: Michael Weinzierl (Hg.), Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung. Neue Wege der Religionsgeschichte, Wien/ München 1997, S. 67–95; Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln 1996. 42 Carlos M.N. Eire, Prelude to Sedition? Calvin’s Attack on Nicodemism and Religious Compromise, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 76. 1985, S. 120–145; Francis Higman, Bucer et les Nicodemites, in: Christian Krieger/Marc Lienhard (Hg.), Martin Bucer and Sixteenth Century Europe, Bd. 2, Leiden 1993, S. 645–658. Zu Problemen religiöser Verstellung und unkonfessionellen Verhaltens vgl. Perez Zagorin, Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe, Cambridge/London 1990; Carlo Ginzburg, Il nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell’Europa del ‘500, Turin 1970; Thierry Wanegffelen, Ni Rome ni Genève. Des fidèles entre deux chaires en France au XVIe siècle. Paris 1997.

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ben werden, um den Glauben im Untergrund oder im Exil aufrechtzuerhalten.43 Ziel war die Konsolidierung und Verbreitung des Reformiertentums in Europa, und insofern trägt die Theologie Calvins bereits entscheidende Parameter für Mobilität und Migration in sich. Dass Calvin und andere reformierte Theologen Gegner eines ›Nikodemismus‹, also der religiösen Verstellung waren, trug zu dieser auswanderungsfreundlichen Haltung entscheidend bei. Die Verbreitung des Reformiertentums entwickelte sich in der Folge theologisch und sozial stärker als das Luthertum zu einer »Reformation der Refugiés«.44 Tatsächlich ist vor allem der reformierte Protestantismus, der seinen Ausgang im Genf Calvins nahm, eine Konfession, die sich nur durch Migration ihren europäischen Einfluss und letztlich überhaupt ihre Existenz sicherte.45 Durch seine grenzüberschreitenden Verbindungen konnte das Reformiertentum zum »internationalen Calvinismus«46 werden, dessen Strukturen sich vom 16. bis ins 18. Jahrhundert auf das Migrationsgeschehen in Europa auswirkten. Calvinistische Migrationen stärkten auch den reformierten Protestantismus im Alten Reich und sollten eine wichtige Grundlage für die Ausrichtung der internationalen Bündnispolitik einiger Reichsstände bilden. Die Migrationen im Umfeld des internationalen Calvinismus waren nicht auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation beschränkt. Gleichwohl war das Reich davon in einigen Regionen stark betroffen. Straßburg entwickelte sich früh zum

|| 43 Heiko A. Oberman, Europa Afflicta. The Reformation of the Refugees, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 83. 1992, S. 91–111. 44 Ders., Die Reformation als theologische Revolution, in: Peter Blickle u.a. (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 11–26, hier S. 25f.; J. Jeffery Tyler, Refugees and Reform. Banishment and Exile in Early Modern Augsburg, in: Robert J. Bast/Andrew C. Gow (Hg.), Continuity and Change. The Harvest of Late Medieval and Reformation History. Essays Presented to Heiko A. Oberman on his 70th Birthday, Leiden 2000, S. 77–97, hier S. 95–97; Heinz Schilling, Peregrini und Schiffchen Gottes. Flüchtlingserfahrung und Exulantentheologie des frühneuzeitlichen Calvinismus, in: Ansgar Reiss u.a. (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Berlin 2009, S. 160–168. 45 »Undoubtedly this shared social experience of displacement and diaspora became a central element of European Calvinism«; Ole Peter Grell, Exile and Tolerance, in: ders./Bob Scribner (Hg.), Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996, S. 164–181, hier S. 164; ders., Merchants and Ministers. The Foundations of International Calvinism, in: Andrew Pettegree/ Alistair Duke/Gillian Lewis (Hg.), Calvinism in Europe, Oxford 1994, S. 254–273. Zur Genfer Situation stellvertretend: Robert M. Kingdon, Geneva and the Consolidation of the French Protestant Movement 1564–1572. A Contribution to the History of Congregationalism, Presbyterianism, and Calvinist Resistance Theory, Genf 1967; John B. Roney/Martin I. Klauber (Hg.), The Identity of Geneva. The Christian Commonwealth 1564–1864, Westport/London 1998. 46 Vgl. Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660, Paderborn 2007, S. 112–119; Menna Prestwich (Hg.), International Calvinism, 1541–1715, Oxford 1986; Graeme Murdock, Beyond Calvin. The Intellectual, Political and Cultural World of Europe’s Reformed Churches, c. 1540–1620, Houndmills 2004.

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Knotenpunkt, insbesondere weil der dortige Reformator Martin Bucer über ausgezeichnete internationale Verbindungen verfügte. Durch Bucer stellten sich Kontakte nach England her, das nach den Erfolgen des katholischen Kaisers Karl V. im Reich 1547 zum bevorzugten Aufnahmeort für reformierte Theologen wurde (Bucer, Peter Martyr Vermigli, Johannes a Lasco).47 Die Londoner Exulantengemeinde wuchs rasch, gerade durch Zuwanderer aus dem Reich. Sie bot weitreichende administrative und theologische Freiheiten, wodurch die Reformation aus dem Reich und Mitteleuropa wiederum entscheidend auf die englische Bekenntnisbildung einwirkte.48 Als sich die Gemeinde schon 1553 durch die energische Rekatholisierung Englands unter Königin Maria Tudor auflösen musste, kamen viele Exulanten ins Reich zurück, begleitet von reformierten Engländern. Nun wurde Frankfurt am Main zu einer wichtigen Aufnahmekommune, wenngleich eher unfreiwillig.49 Die englischsprachige Frankfurter Exulantengemeinde um den schottischen Reformator John Knox ist später gar als Ursprungsort des Puritanismus bezeichnet worden.50 Auch die bedeutende reformierte Seehandelsstadt Emden bot sich als Ziel für Emigranten und Remigranten aus London um den weitgereisten polnischen Reformator Johannes a Lasco an.51 Emden und Frankfurt galten somit bereits als Anlaufstationen für Zuwanderer, als die Unruhen in den Niederlanden zur ersten Masseneinwanderung ins Heilige Römische Reich deutscher Nation führten. Auch hier waren vorwiegend reformierte Protestanten betroffen. Die Migrationen hatten in den 1540er Jahren eingesetzt und erreichten zu Beginn der Statthalterschaft des Herzogs von Alba 1567 sowie während || 47 Diarmaid MacCulloch, Peter Martyr and Thomas Cranmer, in: Emidio Campi (Hg.), Peter Martyr Vermigli. Humanism, Republicanism, Reformation, Genf 2002, S. 173–201; Philip M. J. McNair, Peter Martyr in England, in: Joseph C. McLelland (Hg.), Peter Martyr Vermigli and Italian Reform, Waterloo 1980, S. 85–105; David F. Wright, Martin Bucer and England – and Scotland, in: Martin Bucer and Sixteenth Century Europe, Leiden 1993, S. 523–532; Dirk W. Rodgers, John à Lasco in England, New York 1994. 48 Diarmaid MacCulloch, Thomas Cranmer. A Life, New Haven/London 1996; Andrew Pettegree, Foreign Protestant Communities in Sixteenth-Century London, Oxford 1986. 49 Michelle Magdelaine, Geschichte einer Paradoxie: Frankfurt am Main und das hugenottische ›Refuge‹, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay/Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Wuppertal 2004, S. 15–29. 50 Euan Cameron, Frankfurt and Geneva. The European Context of John Knox’s Reformation, in: Roger A. Mason (Hg.), John Knox and the British Reformations, Aldershot 1998, S. 51–73; Diarmaid MacCulloch, The Later Reformation in England, 1547–1603, Houndmills 2001, S. 70. 51 Christoph Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator, Tübingen 2000; Henning P. Jürgens, Johannes a Lasco in Ostfriesland. Der Werdegang eines europäischen Reformators, Tübingen 2002; Andrew Pettegree, Emden and the Dutch Revolt. Exile and the Development of Reformed Protestantism, Oxford 1992; Henning P. Jürgens, Die Vertreibung der reformierten Flüchtlingsgemeinden aus London. Jan Utenhoves ›Simplex et fidelis narratio‹, in: Jürgens/Weller (Hg.), Religion und Mobilität, S. 13–40.

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der habsburgischen Rekatholisierung der südlichen Niederlande ab 1579 ihre Höhepunkte.52 Die Niederländer wandten sich vor allem in die benachbarten Gebiete im Römisch-Deutschen Reich, insbesondere in das Herzogtum Kleve. Zahlreiche Menschen ließen sich darüber hinaus auch in den Städten nahe der Nordseeküste (Emden, Bremen, Hamburg) nieder und beeinflussten die Gründung oder den Ausbau von Stadtvierteln oder ganzer Städte (Glückstadt, Altona usw.).53 Die durch reformierte Exulanten von Frankfurt aus initiierte Gründung pfälzischer Exulantenstädte wie Frankenthal und Schönau (1562) ist als Reaktion auf die schwieriger werdende Situation der Frankfurter Gemeinde, aber auch auf den Übertritt des Pfälzer Kurfürsten Friedrich III. zum reformierten Bekenntnis im Jahre 1560 sowie auf die gleichzeitige Zunahme der Auswanderungen aus Westeuropa zu sehen.54 Die Ausbreitung des reformierten Protestantismus im Reich ging mit den konfessionsmotivierten Einwanderungen Hand in Hand. Parallel zur Rekatholisierung der südlichen Niederlande begann die Abwanderung zahlreicher französischer Calvinisten im Zuge der französischen Religionskriege und rund um die berüchtigte ›Bartholomäusnacht‹ des Jahres 1572. Der Exodus aus Frankreich im 16. Jahrhundert bis etwa 1660 wird gemeinhin als das ›erste Refuge‹ bezeichnet, im Unterschied zur Abwanderung der Hugenotten um 1685.55 Da es sich bei den französischen und wallonischen Migranten häufig um Händler und Handwerker handelte, waren als Ansiedlungsorte wiederum vor allem Städte wie Hamburg, Aachen, Köln, Wesel, Frankfurt und Nürnberg von Interesse, weil sie in der Regel schon über signifikante Händlerkolonien und Handelsverbindungen verfügten und zudem aufgrund ihrer Lage an Flüssen oder Fernstraßen für Kommuni|| 52 Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness and Fall, 1477–1806, Oxford 1998, S. 159f.; Schilling, Beitrag zur frühneuzeitlichen Konfessionsmigration. 53 Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert; Achim Dünnwald, Konfessionsstreit und Verfassungskonflikt. Die Aufnahme der niederländischen Flüchtlinge im Herzogtum Kleve 1566–1585, Bielefeld 1998; Auswirkungen einer Stadtgründung. Ausstellungskatalog, hg.v. Magistrat der Stadt Hanau, Hanau 1997; Joachim Whaley, Religiöse Toleranz und sozialer Wandel in Hamburg 1529–1819, Hamburg 1992; Willi Stubenvoll, Die deutschen Hugenottenstädte, Frankfurt a.M. 1990. 54 Elisabeth Bütfering, Niederländische Exulanten in Frankenthal, Neu-Hanau und Altona. Herkunftsgebiete, Migrationswege und Ansiedlungsorte, in: Wilfried Ehbrecht/Heinz Schilling (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Festschrift Franz Petri, Köln/Wien 1983, S. 347–417; Edgar J. Hürkey (Hg.), Kunst, Kommerz, Glaubenskampf. Frankenthal um 1600, Worms 1995. 55 Stellvertretend mit weiterführender Literatur: Keith Cameron/Mark Greengrass/Penny Roberts (Hg.), The Adventure of Religious Pluralism in Early Modern France, Oxford 2000; Bertrand van Ruymbeke, Minority Survival. The Huguenot Paradigm in France and the Diaspora, in: ders./Randy J. Sparks (Hg.), Memory and Identity. The Huguenots in France and the Atlantic Diaspora, Columbia 2003, S. 1–25, sowie die weiteren Beiträge des Bandes; vgl. Jacques Le Goff/René Rémond (Hg.), Historie de la France religieuse, Bd. 2: Du christianisme flamboyant à l’aube des Lumières, Paris 1988.

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kation und Vertrieb von Gütern bedeutsam waren. Hinzu kamen die neu gegründeten beziehungsweise ausgebauten Städte in der Kurpfalz und weitere Siedlungsorte, die eher in der Nähe der Abwanderungsgebiete lagen: Die Tendenz, ein Exil als temporäre Angelegenheit und nicht als dauerhafte Umsiedlung zu betrachten und auch in der Fremde die bisherigen Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen nicht völlig aufgeben zu müssen, führte in der Frühen Neuzeit immer wieder dazu, dass Migranten sich möglichst nah an der Grenze zum Abwanderungsgebiet ansiedelten, sofern die kirchlichen, administrativen und wirtschaftlichen Umstände dies zuließen. Die territoriale Kleinräumigkeit und administrative Zersplitterung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gewährleistete allenthalben Oasen weitgehend freier Ausübung von Konfession und Beruf, auch wenn dies in unmittelbarer Nachbarschaft vielleicht schon auf Probleme stieß.56 Als in den 1570er Jahren der Calvinismus sogar in der bislang reformierten Hochburg des Reiches, der Pfalz, zugunsten des Luthertums zurückgedrängt wurde, scharten sich zahlreiche reformierte Gelehrte um Johann Kasimir, den jüngeren Bruder des Pfälzer Kurfürsten, dessen kleines Einflussgebiet Pfalz-Lautern rund um Neustadt an der Haardt zeitweise annähernd der letzte Rückhalt des Calvinismus im Heiligen Römischen Reich war.57 Die Abwanderung der Niederländer läutete eine Welle protestantischer Migrationen ein, die in Verbindung mit der Politik der Rekatholisierung und konfessionellen Vereinheitlichung der habsburgischen Länder nach dem Konzil von Trient stand.58 In den habsburgischen Erb- und Kronterritorien beanspruchten die Landstände ebenso wie die Zentralgewalt das Reformationsrecht ihrer Untertanen für sich. Ähnlich wie im Rahmen der niederländischen Rekatholisierung konnten konfessionell Andersgläubige zu Rebellen erklärt werden, wenn sie die konfessionellpolitische Einheit, das höchste Ziel eines katholischen Staatswesens, in Frage zu stellen drohten.59 Dabei muss freilich betont werden, dass die habsburgische Politik nicht auf die Auswanderung ihrer Untertanen und damit auf die Entvölkerung ihres || 56 Stubenvoll, Hugenottenstädte; Whaley, Toleranz. 57 Henry J. Cohn, The Territorial Princes in Germany’s Second Reformation, 1559–1622, in: Prestwich (Hg.), Calvinism, S. 135–165, hier S. 145; Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619, Stuttgart 1970, S. 299–368. 58 Zur Rekatholisierung der Habsburgerländer vgl. Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, 2 Bde., Wien 2003; Rudolf Leeb, Der Streit um den wahren Glauben. Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: ders. u.a., Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 145–279; Rudolf Leeb/Susanne Claudine Pils/Thomas Winkelbauer (Hg.), Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, Wien/München 2007; Evans/Thomas (Hg.), Crown, Church, and Estates. 59 Ulrich Scheuner, Staatsräson und religiöse Einheit des Staates. Zur Religionspolitik in Deutschland im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Roman Schnur (Hg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975, S. 363–405; Robert Bireley, The Counter-Reformation Prince. Anti-Machiavellism or Catholic Statecraft in Early Modern Europe, Chapel Hill/London 1990.

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Staatsgebietes abzielte, sondern vor allem die Konversion ihrer protestantischen Bevölkerung (die in einigen Gebieten die Mehrheit stellte) zum Katholizismus forderte und förderte. Leidtragende waren protestantische Bewohner habsburgischer Gebiete, denen als konfessionelle Optionen oft entweder ein Wechsel zum herrschenden Bekenntnis, gegebenenfalls verbunden mit der geheimen (und nicht ungefährlichen) Beibehaltung reformatorischer Glaubenspraktiken, daneben das kurzzeitige und oft illegale ›Auslaufen‹ über die Grenze oder die Auswanderung blieben. Dass ein äußerlicher Wechsel der Konfession die innere Überzeugung größerer Bevölkerungsteile nicht beeinflussen musste, verdeutlicht die entstehende Kultur des Geheim- oder Untergrundprotestantismus in den Habsburger Territorien, die in den letzten Jahren immer genauer ans Licht gebracht wird.60 Die Abwanderung von Angehörigen habsburgischer adeliger und bürgerlicher Schichten, aber auch ländlicher Untertanen setzte kurz vor der Wende zum 17. Jahrhundert ein und ging in mehreren Schüben vor sich. Die meisten wirtschaftskräftigen Migranten ließen sich in oberdeutschen Städten wie Nürnberg nieder.61 Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges und der Niederschlagung des Böhmischen Aufstandes durch die Schlacht am Weißen Berg (1620) mischten sich immer mehr Menschen aus den Ländern der Böhmischen Krone unter die vielen tausend Auswanderer, die in die Territorien Süd- und Mitteldeutschlands zogen. Ein übliches, vielerorts praktiziertes Mittel war zunächst die Ausweisung der Prediger und Schulmeister (in Böhmen beispielsweise seit 1621/22), um die evangelischen Kommunikationsmechanismen zu unterbrechen. Je nach Verlauf von Krieg und habsburgischer Rekatholisierung lassen sich einzelne Wellen und die Dominanz bestimmter sozialer Schichten unter den Migranten unterscheiden.62 Lutheraner beziehungsweise Neu-Utraquisten gingen meist nach Sachsen und Mitteldeutschland, Reformierte beziehungsweise Anhänger der Böhmischen Brüderunität (Unitas Fratrum) vor allem nach Polen, wo sich seit dem 16. Jahrhundert die großpolnische Stadt Lissa als Zentrum der Böhmischen Brüder herausgebildet hatte.63 Andere Migranten, vor allem wenn sie heterodoxen Glaubensgemeinschaften angehörten, wandten sich nach Mähren, nach Siebenbürgen oder Ungarn, das nicht nur im || 60 Rudolf Leeb/Martin Scheutz/Dietmar Weikl (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert), Wien/München 2009; Jörg Deventer, »Zu Rom übergehen«. Konversion als Entscheidungshandlung und Handlungsstrategie. Ein Versuch, in: Leeb/Pils/Winkelbauer (Hg.), Staatsmacht und Seelenheil, S. 168– 180. Die beste mikrohistorische Studie zum Migrationsverhalten in Grenzregionen ist Wulf Wäntig, Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert, Konstanz 2007. 61 Werner Wilhelm Schnabel, Österreichische Exulanten in oberdeutschen Reichsstädten. Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert, München 1992. 62 Georg Loesche, Die böhmischen Exulanten in Sachsen, Wien/Leipzig 1923; Eduard Winter, Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der hussitischen Tradition, Berlin 1955. 63 Joseph Theodor Müller, Geschichte der Böhmischen Brüder, Bd. 3, Herrnhut 1931.

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habsburgischen, sondern auch im osmanischen Einflussbereich Siedlungschancen für Protestanten bot.64 Die Abwanderung aus den böhmischen Ländern ging in unterschiedlicher Intensität und regionaler Ausprägung bis ins 18. Jahrhundert weiter.65 Auch die Herrnhuter Brüdergemeine des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf rekrutierte sich seit den 1720er Jahren teilweise aus böhmisch-mährischen Geheimprotestanten oder Migranten, die sich bereits in der sächsischen Oberlausitz an verschiedenen Stellen niedergelassen hatten.66 Die theologische und kirchenpolitische Frontstellung der Herrnhuter gegenüber dem etablierten sächsischen Luthertum, ihr Missionsgedanke und ihre wachsenden weltweiten Verbindungen machten die sogenannte ›Erneuerte Brüderunität‹ jedoch bald zu einer Gemeinschaft mit eigenständigem Profil und distinkter Traditionsbildung, deren Einfluss rasch über Sachsen und Mitteldeutschland hinausreichte.67 Auch angesichts der Bedeutsamkeit der katholischen Gegenreformation für die konfessionelle Migration der Frühen Neuzeit gilt es freilich immer zu betonen, dass man nicht von einer kompletten Säuberung habsburgischer Territorien von Anhängern nichtkatholischer Bekenntnisse sprechen kann. Dazu fehlten den Zentralbehörden häufig die Mittel und vielen Lokalbehörden der Wille. Die politischen und konfessionellen Ziele der Zentralgewalten stießen vor Ort oft auf größere Widerstände und ließen sich durch eine bisweilen zu beobachtende geradezu intentionale Zögerlichkeit lokaler Behörden und Grundherrschaften nie ganz durchsetzen.68 Der Protestantismus hielt sich in einigen Gegenden bis ins 18. Jahrhundert entweder im Geheimen oder in einer halböffentlichen Grauzone. Aus dem benachbarten Ausland wurden diese Protestanten mit Erbauungsliteratur und mit wandernden Predigern

|| 64 Mihály Bucsay, Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformkirchen in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Wien 1977, S. 127–130; Krista Zach, Stände, Grundherrschaft und Konfessionalisierung in Siebenbürgen. Überlegungen zur Sozialdisziplinierung 1550–1650, in: dies., Konfessionelle Pluralität, Stände und Nation. Ausgewählte Abhandlungen zur südosteuropäischen Religions- und Gesellschaftsgeschichte, hg.v. Joachim Bahlcke/Konrad Gündisch, Münster 2004, S. 83–102. 65 Z.B. Helmut Petzold, Mag. Immanuel Heinrich Kauderbach in Geising und die Zinnwalder Exulanten von 1728/29. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation in Böhmen und der Gründe der Auswanderung, Frankfurt a.M. 1968; Marie-Elizabeth Ducreux, Exil et conversion. Les trajectoires de vie d’émigrants tcheques à Berlin au 18e siècle, in: Annales, 54. 1999, S. 915–944. 66 Edita Šteříková, Exulantská útočiště v Lužici a Sasku, Prag 2004; dies. [Edita Sterik], Die böhmischen Emigranten und Zinzendorf, in: Martin Brecht/Paul Peucker (Hg.), Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2006, S. 97–114. 67 Paul Peucker (Hg.), Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Herrnhut 2000; J. Taylor Hamilton/Kenneth G. Hamilton, Die erneuerte Unitas Fratrum 1722– 1957. Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine, Bd. 1, Herrnhut 2001; Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine, Göttingen 2000. 68 Wäntig, Grenzerfahrungen; Pörtner, Counter-Reformation; Heiss, Princes.

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versorgt. Nur so ist seit dem frühen 18. Jahrhundert etwa die Anziehungskraft der Teschener Gnadenkirche in Oberschlesien für den Pietismus und ihre enorme Ausstrahlung in die benachbarten böhmischen Territorien zu erklären – ebenso wie der Zulauf, den die Herrnhuter Brüderunität in der sächsischen Oberlausitz bei böhmisch-mährischen Geheimprotestanten auslöste.69 Im Reich war ein Aufnahmeland wie das lutherische Kursachsen seit den 1620er Jahren hin- und hergerissen zwischen einer pro-habsburgischen Politik und der Akzeptanz evangelischer Abwanderer aus habsburgischen Territorien. Trotz eines erhöhten Verwaltungsaufwands wie der Anlage zahlreicher Exulantenlisten oder der formellen Pflicht zur Anmeldung von Neuankömmlingen bei den Lokalbehörden zeigte sich die Verwaltung letztlich den Anforderungen der Migrationssituation kaum gewachsen. Weder verfolgte Kursachsen eine organisierte Ansiedlungspolitik, noch ließ sich der Gedanke konfessioneller Einheit strikt durchhalten.70 Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren es vor allem die Städte, die von der Ansiedlung von Konfessionsmigranten betroffen waren oder auch davon profitierten, insbesondere von Handwerkern und Händlern. Dies bedeutete freilich nicht, dass das Zusammenleben mit der örtlichen Bevölkerung konfliktfrei verlief und die Zuwanderer sich gleichsam unbemerkt in die vorhandenen Zunft- und Wirtschaftsstrukturen einfügten. Auseinandersetzungen mit Zünften und oft schmerzhafte Anpassungsprozesse an die lokalen Verhältnisse waren vielmehr an der Tagesordnung.71 Eine andere Situation ergab sich in sogenannten Exulantenstädten als Gründungen beziehungsweise Privilegierungen einiger Landesfürsten zur Ansiedlung von Konfessionsmigranten.72 Vor sozialen Spannungen unter den Ansiedlern schützte dies freilich ebenso wenig, wie sich etwa an der turbulenten Gründungszeit der sächsischen Exulantensiedlung Johanngeorgenstadt erweisen sollte. Unterstützung und Solidarität gegenüber Mitmigranten beschränkte sich im täglichen Umgang – gerade in Anbetracht der knappen ökonomischen und ökologischen Res-

|| 69 Ducreux, Exile et Conversion; Edita Šteříková, O Českých predikantech v první polovině 18. století, in: Michaela Hrubá (Hg.), Víra nebo vlast? Exil v Českých dějinách raného novověku, Ústí nad Labem 2001, S. 51–58; Herbert Patzelt, Der Pietismus im Teschener Schlesien 1709–1730, Göttingen 1969. 70 Wulf Wäntig, Kursächsische Exulantenaufnahme im 17. Jahrhundert. Zwischen zentraler Dresdner Politik und lebensweltlicher Bindung lokaler Machtträger an der sächsisch-böhmischen Grenze, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, 74/75. 2003/04, S. 133–174; Schunka, Gäste, S. 154–211. 71 Siehe z.B. die Beiträge in: Mark Häberlein/Martin Zürn (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001; vgl. auch Häberlein, Konfessionelle Grenzen, mit weiterer Literatur; Schunka, Gäste, 254–263. 72 Bütfering, Exulantenstädte; vgl. den Beitrag von Ulrich Niggemann in diesem Band.

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sourcen für Neuzuwanderer – auf Angehörige der eigenen Konfession, mitunter aber auch nur auf Menschen aus derselben Gegend.73 Die Zeit von Reformation und Konfessionalisierung ist vor allem von einer Ausdifferenzierung reformatorischer Richtungen und vom Ausschluss heterodoxer Überzeugungen geprägt. Gerade im süddeutschen und alpenländischen Raum folgte daraus, dass Anhänger radikalerer Reformatoren, die unter Umständen tiefgreifende politische und soziale Veränderungen herbeiführen wollten, auch seitens dominierender protestantischer Gruppen mit Assimilationsdruck und Verfolgung zu rechnen hatten. Für sie galt das Ketzerrecht, das auch von protestantischen Obrigkeiten durchgesetzt wurde.74 Heterodoxe Gruppen konnten daher weder bei territorialstaatlichen oder städtischen Behörden mit Toleranz und Entgegenkommen rechnen, noch mit der Unterstützung durch Mitauswanderer der großen Konfessionen, wie sich etwa in Emden zeigte.75 Kleineren Bekenntnisgruppen, die im Reich vor allem im Gefolge des täuferischen Experiments von Münster 1534/35 erbittert verfolgt und vertrieben wurden, blieb häufig einzig, sich Nischen am Rande des Reiches oder außerhalb zu suchen, wo sie auf das Wohlwollen lokaler Autoritäten angewiesen waren (wie in Mähren) oder wo sie durch bestimmte Fähigkeiten, etwa beim Deichbau und der Urbarmachung von Schwemmland, als unverzichtbar galten (wie im Weichseldelta bei Danzig). Vor allem Mähren kristallisierte sich als europäisches Sammelbecken von Anhängern des Täufertums, Hutterern oder Schwenckfeldern heraus. Eine von konfessioneller und politischer Vielfalt geprägte Gemengelage lokaler Adelsherrschaften ermöglichte dort die Entfaltung von Lebensentwürfen religiöser Minderheiten, die sich lange Zeit weitgehend unbehelligt von den anderswo herrschenden politischen und konfessionellen Maßgaben nach ihrer Überzeugung ansiedeln konnten.76 Für die von den Niederlanden ausgehende Bewegung der Mennoniten, der Anhänger des Anabaptistenführers Menno Simons, folgte in

|| 73 Vgl. die Probleme bei der Ansiedlung im Erzgebirge: Alexander Schunka, »St. Johanngeorgenstadt zu kurfürstlicher Durchlaucht unsterblichem Nachruhm«. Stadtgründung und städtische Traditionsbildung in der Frühen Neuzeit, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, 74/75. 2003/04, S. 175–205; Irmgard Schwanke, Fremde in Offenburg. Religiöse Minderheiten und Zuwanderer in der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005. Siehe aber neuerdings für Wesel im ausgehenden 16. Jahrhundert: Jesse Spohnholz, The Tactics of Toleration. A Refugee Community in the Age of Religious Wars, Newark 2011. 74 Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980, S. 127–143; Marian Hillar, The Case of Michael Servetus (1511–1553). The Turning Point in the Struggle for Freedom of Conscience, Lewiston 1997; Astrid von Schlachta, Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation, Göttingen 2009. 75 Grell, Exile and Tolerance, S. 180f.; Pettegree, Emden, S. 31–33, 55. 76 Claus Peter Clasen, Anabaptism. A Social History, 1525–1618. Switzerland, Austria, Moravia, South and Central Germany, Ithaca/London 1972, S. 210–295; Josef Válka, Dějiny Moravy, Bd. 2: Morava reformace, renesance a baroka, Brno 1995, S. 14–18. Vgl. die Beiträge in: Astrid von Schlachta/Anselm Schubert (Hg.), Grenzen des Täufertums. Neue Forschungen, Gütersloh 2009.

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der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Diaspora über das nördliche Europa bis ins Danziger Weichseldelta.77 Nur in wenigen Fällen – und wenn überhaupt, dann von kleineren Territorialherren – wurden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation konfessionelle Grundüberzeugungen zugunsten sozioökonomischer Überlegungen hintangestellt, wie sich dies etwa in der Ansiedlungserlaubnis von Anhängern nichtetablierter Religionsgemeinschaften in Neuwied 1662 zeigt, die ausdrücklich nicht aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit, sondern »pro qualitate« aufgenommen werden sollten.78 Wenn ein Territorialherr wie im Fall Neuwieds vorab Ansiedlungs- und Aufbaupläne verfolgte und sich erst in einem zweiten Schritt nach Zuzüglern umsah, dann war konfessionelle Offenheit oder entsprechende Indifferenz eher zu erwarten als wenn die Landesverwaltung sich unfreiwillig einer Gruppe von Einwanderern gegenüber sah, die sie unterbringen musste. Bei der historischen Wertung derartiger Ansiedlungsexperimente besteht allerdings in der Rückschau die Gefahr, konfessionelle gegenüber wirtschaftlichen Gründen auszuspielen. Die Frage, ob bei den Migranten nun ›ehrenwerte‹ konfessionelle oder ›schnöde‹ wirtschaftliche Motive überwogen, ist kaum zu beantworten. Die Konfession schloss ein wirtschaftliches Interesse ja nicht aus – berühmt ist in diesem Zusammenhang die viel diskutierte These Max Webers vom (puritanischen) Calvinismus und seiner Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus.79 Für einen guten Protestanten musste es kein Widerspruch sein, Ziel und Zeit der Auswanderung wohlüberlegt zu wählen.80 Migrationen wurden häufig gut geplant und vorbereitet. Das konfessionelle Motiv ist daher innerhalb eines komplexen Geflechts von Optionen, die zu einer Migration führten, zweifellos ein wichtiger, aber keinesfalls der einzige Faktor zur Entscheidung über Abwanderung und Wanderungsziele. Gleichwohl diente das Bekenntnis retrospektiv in besonderer Weise zur Einordnung der Migranten – in den konfessionellen Wissenshorizont der Aufnahmegesellschaft ebenso wie in länger fortwirkende publizistisch-historische Traditionsbestände der eigenen Gruppe. || 77 Edmund Kizik, Mennonici w Gdańsku, Elblągu i na Żuławach Wiślanych w drugiej połowie XVII i w XVIII wieku. Studium z dziejów małej społeczności wyznaniowej, Danzig 1994; Stefan Samerski, »Die Stillen im Lande«. Mennonitische Glaubensflüchtlinge in Danzig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Münster 2008, S. 71–94. 78 Walter Grossmann, Städtisches Wachstum und religiöse Toleranzpolitik am Beispiel Neuwied, in: Archiv für Kulturgeschichte, 62/63. 1980/81, S. 207–232. 79 Hartmut Lehmann, Max Webers ›Protestantische Ethik‹. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996. 80 Vgl. Grell, Merchants and Ministers, S. 257: »There is, after all, nothing contrary to good Calvinism in making a sound choice of where and when to emigrate. As long as one did not compromise one’s faith, a sound choice of time and place, making the best use of the resources God had put at the disposal of Man, can, in fact, be interpreted as an obligation for the Godly.«

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4 Konfessionsmigrationen nach der Mitte des 17. Jahrhunderts Nach 1648 boten die Reichsgesetze zwar einen veränderten rechtlichen Rahmen für das Verhältnis von Staatlichkeit und Konfession. Dies beendete konfessionell konnotierte Wanderungen aber keineswegs. Die großen Auswanderungsbewegungen standen wie bisher häufig in der einen oder anderen Form jenseits des reichsrechtlichen Zugriffs oder entzogen sich ihm: unter anderem weil die Migranten weiterhin aus Gebieten außerhalb des Reichs kamen (etwa Hugenotten, Waldenser, Ungarn), weil die Gültigkeit mancher reichsrechtlicher Bestimmungen auch in einzelnen mitteleuropäischen Abwanderungsterritorien zumindest umstritten war (Salzburg, böhmische Länder) oder weil einzelne Reichsstände recht eigenständige Zuwanderungspolitiken beziehungsweise ›Migrationsregime‹ etablierten.81 Grundsätzlich kann man daher die Frage stellen, ob aus der Perspektive konfessioneller Migrationen der Zäsur des Westfälischen Friedens eine ähnlich herausgehobene Bedeutung zukommt wie in anderen Bereichen. Der Westfälische Frieden wiederholte und institutionalisierte ältere Normen beziehungsweise Praktiken innerhalb des Reichsverbandes oder er weitete sie aus – so auf die Reformierten, die nun explizit einbezogen wurden, wenngleich als Angehörige der Augsburgischen Konfession.82 Zunächst ist allerdings festzuhalten, dass im Friedenswerk von 1648 die protestantische Seite neben einem ›publicum exercitium religionis‹ und dem ›privatum exercitium religionis‹ die Möglichkeit einer dritten Form der Glaubensausübung ins Spiel gebracht hatte, die eine Auswanderung andersgläubiger Untertanen nicht mehr zwingend nötig machen sollte: eine innere Bekenntnisfreiheit, die sich später mit dem Terminus ›devotio domestica‹ verknüpfte.83 Als Bemessungsdatum für den Konfessionsstand der Territorien galt das sogenannte ›Normaljahr‹ 1624.84 Falls || 81 Zum Begriff und Phänomen siehe die Beiträge in: Oltmer/Frevert (Hg.), Europäische Migrationsregime. 82 Gemäß dem Osnabrücker Friedensvertrag (Instrumentum Pacis Osnabrugiense, IPO), Art. VII § 1: »sind sämtliche Rechte und Zugeständnisse […] zwischen den katholischen Reichsständen und denen Augsburgischen Bekenntnisses […] auch denen unter ihnen zuzugestehen, die Reformierte genannt werden.« Zitat der deutschen Übersetzung in Hanns Hubert Hofmann (Hg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1495–1815, Darmstadt 1976, S. 187. Die maßgebliche Ausgabe der Westfälischen Friedensverhandlungen ist Acta Pacis Westphalicae, mehrere Serien, zahlreiche Bde., Münster 1962ff. 83 Georg May, Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30–43 IPO) auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, 74. 1988, S. 436–494, hier S. 437, 451; grundsätzlich Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 2. Aufl. Münster 1965. 84 IPO Art. 5 § 2ff.; vgl. Ralf-Peter Fuchs, Ein ›Medium zum Frieden‹. Die Normaljahrsregelung und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010..

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dieses Stichjahr für bestimmte Untertanen gerade keine öffentliche Ausübung ihres Bekenntnisses in eigenen Kirchen und Gottesdiensten vorsah oder falls jene in der Zukunft ihre Konfession wechseln sollten, so folgte daraus zwar weiterhin eine Auswanderung aus eigener Entscheidung oder auf obrigkeitliches Geheiß hin, jedoch wurde dafür eine Fünf- beziehungsweise Dreijahresfrist festgeschrieben sowie die Möglichkeit eingeräumt, zwischen der Beibehaltung oder einem Verkauf von Besitztümern wählen zu können. Ausgewanderte Untertanen sollten zudem ohne Pass oder Geleitsbrief ihre Güter in der ehemaligen Heimat besuchen dürfen.85 Gerade im Hinblick auf die größeren Auswanderungen des 17. und 18. Jahrhunderts widersprachen sich allerdings in diesem Kontext bisweilen Norm und Praxis, insbesondere weil für die habsburgischen Territorien die Normaljahrsregelung nicht galt. Tatsächlich hatten hier aber auch schon vor 1648 pragmatische Möglichkeiten existiert, die verlassenen Güter aus der Ferne bewirtschaften zu lassen; und auch nach 1648 sollte es sehr problematisch bleiben, ohne ausreichende Dokumente in die alte Heimat zurückzugehen, da dies immer wieder zu Verhaftungen, Zwangskonversionen und internationalen Verwicklungen führen konnte.86 Zudem wurden etwa bei der Salzburger Emigration die reichsrechtlichen Abzugsfristen nicht eingehalten, um die Vertreibung so schnell wie möglich abzuwickeln. Man berief sich dabei auf die Tatsache, dass der Salzburger Fürstbischof die Westfälischen Friedensdokumente nicht ratifiziert hatte.87 Die Friedensverträge von 1648 institutionalisierten den religiösen Pluralismus zwar im Reich als Ganzem, aber nicht auf innerterritorialer Ebene. Die konfessionellen Lager festigten sich vielmehr. Konfessionspolitische Themen wurden in höherem Maß als zuvor juristisch und politisch erörtert, etwa vor den Reichsgerichten oder auf dem Reichstag und seinen konfessionell getrennten Corpora (›Corpus Evangelicorum‹, ›Corpus Catholicorum‹). Dies traf auch auf entsprechende Migrationsvorgänge zu. Neben dem bekannteren Geschehen um die Berchtesgadener und Salzburger Emigranten sind hier als etwas kurioser und doch typischer Fall die sogenannten ›Bärenthaler Emigranten‹ zu erwähnen: habsburgische Bewohner eines oberschwäbischen Dorfes, deren Übertritt vom katholischen zu einem etwas diffusen protestantischen Bekenntnis eingangs des 18. Jahrhunderts mit einem Auswanderungsbegehren einher ging, zeitweise zur reichsrechtlichen Prinzipienfrage in

|| 85 IPO Art. 5 § 36, 37; vgl. den Überblick bei Wolf-Friedrich Schäufele, Die Konsequenzen des Westfälischen Friedens für den Umgang mit religiösen Minderheiten in Deutschland, in: Günter Frank/Jörg Haustein/Albert de Lange (Hg.), Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit. Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen, Göttingen 2000, S. 121–139, hier S. 132. 86 Die Regelung für die Protestanten in kaiserlichen Territorien ließ der Westfälische Frieden offen; entsprechend hatte auch ein Normaljahr 1624 hier keine Gültigkeit: IPO Art. 5 § 41. 87 Gerhard Florey, Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1731/32, 2. Aufl. Graz 1986, S. 133–136; Gabriele Emrich, Die Emigration der Salzburger Protestanten 1731–1732. Reichsrechtliche und konfessionspolitische Aspekte, Münster 2002, S. 37–40.

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Regensburg zu werden drohte und nach einer Flucht der Bärenthaler in die Schweiz immerhin zur Gründung von Neubärent[h]al (in einem Umfeld württembergischer Waldenseransiedlungen unweit Pforzheims) führte.88 Eine Bekenntnispluralität vor Ort, die konfessionelle Migrationsfaktoren hätte eindämmen können, resultierte aus den Bestimmungen des Westfälischen Friedens also nicht zwingend. Noch im 18. Jahrhundert zeigten sich protestantische Rechtsgelehrte wie Johann Jacob Moser und politische Institutionen wie das ›Corpus Evangelicorum‹ in hohem Maß skeptisch gegenüber einer simultanen Glaubensausübung mehrerer Bekenntnisse in ein und demselben Territorium, da dies zu Unruhe und Ungewissheit bei den Untertanen führen würde.89 Der unter anderem im reformierten Bereich vertretene, entgegen gesetzte Standpunkt, wonach der Zwang zu religiöser Einheit größere soziale und politische Sprengkraft in sich berge als konfessionelle Pluralität, sollte etwa in Brandenburg-Preußen virulent werden.90 In jedem Fall aber wurde im 17. Jahrhundert, gerade im Umfeld des Westfälischen Friedens, die Verbindung zwischen Religion und Staatlichkeit stärker als zuvor hinterfragt und als verhandelbar wahrgenommen. Besonders ausführlich waren in der Osnabrücker Friedensordnung die gemischtkonfessionellen Verhältnisse in Schlesien geregelt worden. Die besondere Bedeutung Schlesiens als Ein- und Auswanderungsgebiet hing mit seiner geographischen Lage, vor allem aber auch mit einer enormen territorialen Zersplitterung zusammen, die zahlreiche Möglichkeiten für konfessionelle Vielfalt bot. Dort hielten sich in einigen Gebieten sogar Gemeinschaften der spiritualistischen Schwenckfelder bis ins 18. Jahrhundert, als sie schließlich in Verbindung mit der Herrnhuter

|| 88 Vgl. Frank Kleinehagenbrock, Die Wahrnehmung und Deutung des Westfälischen Friedens durch Untertanen der Reichsstände, in: Inken Schmidt-Voges u.a. (Hg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 177–193, hier S. 187–193 mit der älteren Literatur. 89 Ronald G. Asch, Das Problem des religiösen Pluralismus im Zeitalter der ›Konfessionalisierung‹. Zum historischen Kontext der konfessionellen Bestimmungen des Westfälischen Friedens, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 134. 1998, S. 1–32, hier S. 28; Schäufele, Konsequenzen; Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß, Münster 1966. Zur behutsamen Öffnung der Autoritäten gegenüber faktischer Mehrkonfessionalität vgl. Häberlein, Konfessionelle Grenzen, S. 182–185. 90 Philip Benedict, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven/London 2002, S. 337, 372; Bodo Nischan, John Bergius. Irenicism and the Beginning of Official Religious Toleration in Brandenburg-Prussia, in: Church History, 51. 1982, S. 389–404; Thomas Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie. Die Landeskirche unter den Kurfürsten und Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. (1688 bis 1740), in: Gerd Heinrich (Hg.), Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 293–324; vgl. aber die kritischen Bemerkungen bei Jürgen Luh, Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640–1740, in: Lademacher/Loos/Groenveld (Hg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung, S. 306–324.

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Brüdergemeine nach Amerika auswanderten.91 Die rechtliche Zugehörigkeit Schlesiens zum Reich war allerdings umstritten: Während die protestantischen schlesischen Stände sich als mittelbare Reichsstände betrachteten, denen das ›Ius reformandi‹ zustand, argumentierten die habsburgische Seite und der Bischof von Breslau, dass in Schlesien als einem Nebenland der böhmischen Krone allein der Habsburgerkaiser das Reformationsrecht beanspruchen könne.92 Im Zuge der habsburgischen Gegenreformationsmaßnahmen war bereits während des Dreißigjährigen Krieges eine große Zahl protestantischer Schlesier in benachbarte lausitzische, sächsische oder polnische Territorien geflohen. Nur in wenigen Gebieten Schlesiens aber ging das Verbot des Protestantismus so weit, dass es zu umfangreichen, dauerhaften Auswanderungen kam, die über die Gruppe der Geistlichkeit hinausgingen, wie beispielsweise im Gebiet des Klosters Grüssau oder in der Grafschaft Glatz.93 Ansonsten scheinen die Obrigkeiten in der Regel recht gut informiert gewesen zu sein über mehr oder weniger offen praktiziertes lutherisches Leben. Zugleich erhielten sich auch in Schlesien selbst lange Zeit protestantische Anlaufstellen wie der konfessionell offene, reformierte Piastenhof in Brieg, dessen Dynastie erst 1675 ausstarb.94 In den Wirren von Krieg und Konfessionsvereinheitlichung setzte sich gerade die Barockliteratur Schlesiens mit Konfessionszwang, Heimatverlust und Glaubensfestigkeit auseinander. Ihre Verfasser übernahmen dabei häufig Topoi aus der Publizistik des konfessionellen Exils, das einige schlesische Barockdichter am eigenen Leib erfahren hatten.95 Der Westfälische Frieden legte den Bau dreier ›Friedenskirchen‹ in den schlesischen Städten Schweidnitz, Jauer und Glogau fest.96 Sie wurden zu protestantischen || 91 Horst Weigelt, Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums, Köln 2007. 92 Matthias Weber, Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der frühen Neuzeit, Köln 1992, S. 327–346; Christine van Eickels, Rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens von Protestanten und Katholiken in Ober- und Niederschlesien vom Augsburger Religionsfrieden (1555) bis zur Altranstädter Konvention (1707), in: Thomas Wünsch (Hg.), Reformation und Gegenreformation in Oberschlesien. Die Auswirkungen auf Politik, Kunst und Kultur im ostmitteleuropäischen Kontext, Berlin 1994, S. 47–68. 93 Arno Herzig, Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 200; ders., Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz, Hamburg 1996, S. 144–154. 94 Anna Stroka, Die Piasten zu Brieg in der Zeit Friedrich von Logaus, in: Thomas Althaus (Hg.), Salomo in Schlesien. Beiträge zum 400. Geburtstag Friedrich von Logaus, 1605–2005, Amsterdam/New York 2006, S. 253–273. 95 Alexander Schunka, Constantia im Martyrium. Zur Exilliteratur zwischen Humanismus und Barock, in: Thomas Kaufmann/Kaspar von Greyerz (Hg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen, Gütersloh 2007, S. 175–200. 96 Grundlage für die Friedenskirchen ist IPO Art. V § 40; vgl. Małgorzata Morawiec, Die schlesischen Friedenskirchen, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 741–756; Jörg Deventer, Gegen-

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Symbolen inmitten eines von der Rekatholisierung bedrohten Gebietes und zogen regelmäßig eine große Zahl von Gläubigen zu Gottesdiensten an. Je nach Entfernung zu einem protestantischen Territorium oder zu den Friedenskirchen, den später hinzukommenden ›Gnadenkirchen‹ (erbaut nach der Altranstädter Konvention, 1707/09) oder verschiedenen ›Grenzkirchen‹ in den umliegenden Ländern (Polen, sächsische Oberlausitz oder Brandenburg) existierte darüber hinaus ein reger Reiseverkehr zu lutherischen Gottesdiensten außerhalb Schlesiens.97 Schlesien diente umgekehrt lange Zeit aber auch als konfessionelle Vermittlungsstelle nach Osten und als Einfallstor ins Heilige Römische Reich. Davon profitierten während der sogenannten ›Trauerdekade‹ (1671–1681), einer Periode schlimmer Verfolgungen des Protestantismus in Oberungarn (heute Slowakei) unter dem Habsburgerkaiser Leopold I., die aus Ungarn vertriebenen protestantischen Geistlichen, die oft nur knapp der Galeerenstrafe entkommen waren und nun über Schlesien ins Reich gelangten. Daneben ist die Anziehungskraft und Ausstrahlung der Gnadenkirche im oberschlesischen Teschen nach Süden und Osten bemerkenswert, die vom frühen 18. Jahrhundert an zur Verbreitung des Pietismus in Ostmitteleuropa beitrug.98 Für die Zeit vor und nach 1648 gilt im Grunde gleichermaßen: Größere konfessionsbedingte Migrationen gingen häufig von Gebieten aus, in denen das Reichsrecht und die Reichspolitik nur eingeschränkt gültig beziehungsweise anerkannt waren, oder von Gegenden, die außerhalb des Reichszusammenhangs lagen. Im Umfeld bestimmter Zäsuren erhielten Migrationsvorgänge eine besondere Dynamik, wenngleich sie häufig nicht schlagartig durch konkrete Ereignisse ausgelöst wurden, sondern entsprechende Vorläufer besaßen. Auch diese Zäsuren konnten durchaus – mussten aber keineswegs – mit der Reichspolitik korrelieren. Beides trifft für den wohl berühmtesten Migrationsvorgang Mitteleuropas in der Frühen Neuzeit zu: das ›Grand Refuge‹, also die Emigration der Hugenotten aus || reformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707, Köln 2003. 97 Dieter Mempel, Der schlesische Protestantismus vor und nach 1740, in: Peter Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen, Sigmaringen 1990, S. 287– 306, hier S. 291; Alfred Schirge, Grenz- und Zufluchtskirchen für evangelische Niederschlesier im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte, 76/77. 1997/98, S. 205–225; Joachim Bahlcke, Religion und Politik in Schlesien. Konfessionspolitische Strukturen unter österreichischer und preußischer Herrschaft, 1650–1800, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 134. 1998, S. 33–57, hier S. 42, 44. 98 Eva Kowalská, Exil als Zufluchtsort und Vermittlungsstelle. Ungarische Exulanten im Alten Reich während des ausgehenden 17. Jahrhunderts, in: Joachim Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Münster 2008, S. 257–276; dies., Günther, Klesch, Láni und die anderen. Zur Typologie der ungarischen Exulanten des 17. Jahrhunderts, in: Acta Comeniana, 20/21. 2007, S. 49–64; Peter F. Barton/László Makkai (Hg.), Rebellion oder Religion? Budapest 1977; Patzelt, Pietismus im Teschener Schlesien.

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Frankreich. Anknüpfend an frühere Auswanderungen erhöhte sich die Zahl der emigrierten Protestanten unter Ludwig XIV. im ausgehenden 17. Jahrhundert massiv, vor allem im Umfeld der ›Dragonnades‹ seit 1681 – systematischen Einquartierungen von Dragonern zur Einschüchterung und Disziplinierung der nichtkatholischen Bevölkerung – und des Edikts von Fontainebleau (1685), das die Zugeständnisse des Edikts von Nantes für die Protestanten Frankreichs endgültig aufhob. Ähnlich wie bei den meisten bisher angesprochenen Wanderungsvorgängen handelte es sich bei der Verschärfung antiprotestantischer Maßnahmen in Frankreich nicht primär um religiös beziehungsweise kirchlich motivierte Aktionen, sondern vielmehr um konfessionspolitische beziehungsweise politische Maßnahmen. Flankiert wurden die Migrationen unter anderem vom sogenannten Edikt von Potsdam des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I., dem ›Großen Kurfürsten‹, aus demselben Jahr, der damit die Ansiedlung der Refugiés in seinen Territorien erleichterte. Den Hugenotten kommt zweifellos die größte Bedeutung unter den frühneuzeitlichen, konfessionsmotivierten Wanderungsbewegungen zu: hinsichtlich der Migrantenzahlen, die insgesamt wohl in die Hunderttausende gingen, der geographischen Dimension des Refuge, der rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen in den Herkunfts- wie in den Zielgebieten, der internationalen Vernetzung im Rahmen der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit, ihrer Bedeutung für die Außenpolitik europäischer Staaten um 1700, der konfessionellen Vermarktung und Selbstdarstellung sowie schließlich auch in Bezug auf Akkulturationsmechanismen und migratorische Identitätsbildung. Noch Bismarck sollte die Hugenotten bekanntlich in der Rückschau als die »besten Deutschen« bezeichnen.99 Die Ansiedlung von Konfessionsmigranten hatte idealtypisch zu bedeuten, dass Zuwanderer dem Bekenntnisstand des Landesherrn entsprachen oder sich diesem unterwarfen. In der Praxis galt das oft nur eingeschränkt: so für die Aufnahme der reformierten Hugenotten durch das reformierte Herrscherhaus BrandenburgPreußens, das den Hugenotten eine eigene Kirchenverwaltung zugestand. Hier stellten die Refugiés zwar ein gewisses reformiertes Gegengewicht zur lutherischen Bevölkerungsmehrheit dar. Gleichzeitig siedelten aber auch lutherische Territorien wie Brandenburg-Ansbach reformierte französische Zuwanderer an.100 Um Fragen

|| 99 Die Hugenotten werden ausführlich im Beitrag von Ulrich Niggemann behandelt. Auf diesen Beitrag sei auch im Folgenden für eine genauere Analyse von Ansiedlung und Aufnahme anderer Migrantengruppen verwiesen. Stellvertretend zur Hugenottenmigration hier die neueren deutschen Arbeiten von: Ulrich Niggemann, Hugenotten, Köln 2011; Eberhard Gresch, Die Hugenotten. Geschichte, Glaube und Wirkung, Leipzig 2005; Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2006; Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin, Wolfratshausen 2005, jeweils mit weiterführender Bibliographie. Zum Bismarck-Ausspruch vgl. Etienne François, Vom preußischen Patrioten zum besten Deutschen, in: Thadden/Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten, S. 198–212, hier S. 205. 100 Vgl. den Beitrag von Ulrich Niggemann im vorliegenden Band.

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von Glaubenstoleranz ging es kaum, was im europäischen Kontext der Zeit nicht weiter verwunderlich ist. Auch die englische Toleranzgesetzgebung der frühen Aufklärung (›Act of Toleration‹, 1689) bezog sich nicht auf religiöse Pluralität in einem umfassenden Sinn, da sie keine vollständige Bekenntnisfreiheit anstrebte und eine Glaubensausübung für Katholiken und Antitrinitarier ausschloss.101 Unter dem Preußenkönig Friedrich II., dem Großen, sollte im 18. Jahrhundert schließlich auch das konfessionelle Auswahlkriterium stärker seine Relevanz verlieren. Wenn allerdings die friderizianische Ansiedlungspolitik die Konfession nicht mehr als Ausschlussmerkmal definierte, so ist doch zu fragen, ob dies tatsächlich auf aufgeklärte religiöse Toleranz oder nicht viel eher auf eine ökonomisch motivierte Gleichgültigkeit, verbunden mit bestimmten politischen Interessen, zurückgeht.102 Eine Instrumentalisierung konfessioneller Faktoren war dadurch nämlich auch im Preußen der Aufklärungsepoche keineswegs ausgeschlossen, und dies trifft selbst noch für das 19. Jahrhundert zu: Als letzte Beispiele von ›Glaubensflucht‹ in Mitteleuropa gelten immerhin die Ausweisung der Zillertaler aus Tirol nach Schlesien und die Auswanderung der Altlutheraner aus Schlesien nach Australien noch in den 1830er Jahren – beides war eng verbunden mit der preußischen Konfessionspolitik. So beriefen sich die Zillertaler auf preußische Unterstützung und ›Toleranz‹ bei der Flucht vor den katholischen Tiroler Behörden und bei ihrer Ansiedlung im Hirschberger Tal, während die Altlutheraner im Gegenteil fast zeitgleich vor der obrigkeitlich oktroyierten preußischen ›Union‹ von Lutheranern und Reformierten flohen, weil sie ihre Bekenntnisgrundlagen in Gefahr sahen.103 Die Hugenotten sind somit kein Einzelfall einer konfessionellen Migration am angeblichen Ende des ›konfessionellen Zeitalters‹: Auch vor dem Hintergrund von Toleranzdiskussionen und der heraufziehenden Epoche der Aufklärung sollten Massenmigrationen dieser Art nicht abnehmen, sondern weitergehen und häufig in ihrem Instrumentalisierungspotenzial und publizistischen Widerhall eine beson|| 101 Abgedruckt in: William Gibson (Hg.), Religion and Society in England and Wales 1689–1800, London/Washington 1998, S. 31–33; vgl. Scott Mandelbrote, Religious Belief and the Politics of Toleration in the Late Seventeenth Century, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis, 81. 2001, S. 93–114. 102 Zur friderizianischen Zuwanderungspolitik, neben dem Beitrag von Ulrich Niggemann in diesem Band, jetzt auch: Alexander Schunka, Migranten und kulturelle Transfers, in: Bernd Sösemann/Gregor Vogt-Spira (Hg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Stuttgart 2012, Bd. 2, S. 80–96. 103 Joachim Bahlcke, »Die jüngste Glaubenscolonie in Preussen«. Kirchliche Praxis und religiöse Alltagserfahrungen der Zillertaler in Schlesien, in: ders./Rainer Bendel (Hg), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln/Wien 2008, S. 191–202 mit der weiteren Literatur; Arnold Beuke, Die AustralienAuswanderung altlutheranischer Glaubensflüchtlinge aus Ost-Brandenburg und Niederschlesien, in: Berichte und Forschungen, 4. 1996, S. 175–189, bzw. aus australischer Sicht: Jürgen Tampke, The Germans in Australia, Cambridge 2006, S. 26–32.

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ders große Wirkung entfalten. Dies hing nicht zuletzt mit verbesserten Kommunikationsbedingungen, aber auch mit vielerlei Verbindungen zum entstehenden internationalen Mächtesystem zusammen. Der Friede von Rijswijk 1697 beendete den Neunjährigen Krieg und die französischen Hegemonieansprüche in Europa. Er bedeutete zugleich auch eine von den europäischen Mächten sanktionierte Verstetigung des Exilzustandes der französischen Refugiés und das Ende ihrer Hoffnungen auf baldige Rückkehr. Die sogenannte ›Rijswijker Klausel‹ (Artikel 4 des Friedensvertrags) besagte außerdem, dass der konfessionelle, das heißt katholische Besitzstand der von Frankreich zurück gewonnenen Gebiete der rheinischen Pfalz nicht angetastet werden durfte. Dies wiederum legte die Basis für eine Verschärfung der konfessionspolitischen Situation in den pfälzischen Territorien, die zur Auswanderung der ›Pfälzer‹ zehn Jahre später nicht unwesentlich beitrug.104 Die Auswanderung aus der Pfalz im frühen 18. Jahrhundert hat sich im deutschen kollektiven Bewusstsein weniger Platz geschaffen als andere Wanderungsvorgänge, obgleich es sich wohl um etwa 15.000 Personen handelte, die innerhalb einer relativ kurzen Zeit ihre Heimat verließen. Die Hintergründe dieser Abwanderungswelle sind in einer Kombination aus der komplizierten konfessionellen Situation in den pfälzischen Territorien, den Auswirkungen der französischen Kriegführung, aber auch der Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserung im Gefolge von Missernten und hoher Besteuerung zu suchen. Grund für die latente Vernachlässigung dieser Wanderung in der Forschung mag die Heterogenität der ›Pfälzer‹ Migranten in regionaler, sozialer, wirtschaftlicher und sogar konfessioneller Hinsicht gewesen sein, die schon die Zeitgenossen vor massive Zuordnungsprobleme stellte und eine Diskussion um den Vorrang religiöser oder wirtschaftlicher Wanderungsmotive eröffnete. Ermutigt durch konfessionelle Propaganda und in der Hoffnung auf Ansiedlung in den nordamerikanischen Kolonien machten sich um das Jahr 1709 zahlreiche Gruppen ober- und mittelrheinischer Handwerker und Landbewohner über Rotterdam auf den Weg nach England, wo kurz zuvor der ›Naturalization act‹ eine Einbürgerung erleichtert hatte.105 Das Ausmaß der Einwanderung überraschte die britischen Behörden sichtlich, und auch eine Klassifizierung als Glaubensflüchtlinge

|| 104 Heinz Duchhardt (Hg.), Der Friede von Rijswijk 1697, Mainz 1998; Barbara Dölemeyer, Der Friede von Rijswijk und seine Bedeutung für das europäische Refuge, in: Hugenotten, 66. 2002, S. 51–73; Alfred Hans, Die Religionsklausel im Frieden von Rijswijk und ihre Auswirkung auf die kirchlichen Verhältnisse in der Kurpfalz, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, 64. 1997, S. 59–66. 105 William O’Reilly, The Naturalization Act of 1709 and the Settlement of Germans in Britain, Ireland and the Colonies, in: Charles Littleton/Randolph Vigne (Hg.), From Strangers to Citizens. The Integration of Immigrant Communities in Britain, Ireland and Colonial America, 1550–1750, London/Brighton 2001, S. 492–502.

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ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Zunächst gerieten die Pfälzer massiv zwischen die Fronten der Parteienpolitik von ›Whigs‹ und ›Tories‹, nicht zuletzt weil sie deutlich schlechtere Aufnahmevoraussetzungen und Sympathiewerte mitbrachten als die Hugenotten, denen gegenüber sich Großbritannien lange Zeit weitaus freundlicher gezeigt hatte.106 Die Organisation der Aufnahme und erste Hilfeleistungen in England erfolgten durch einige, dem Halleschen Pietismus nahestehende Geistliche aus dem Umfeld mehrerer deutschsprachiger Kirchengemeinden Londons sowie durch Angehörige der staatskirchennahen philanthropischen beziehungsweise missionarischen Gesellschaften ›Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts‹ (SPG) und ›Society for Promoting Christian Knowledge‹ (SPCK). Untergebracht und materiell versorgt wurden die größtenteils bitterarmen Migranten zunächst in Zeltsiedlungen nahe London. Nachdem durch die Verschärfung des Naturalisationsrechts in England ein weiterer Zuzug nach Kräften unterbunden und diejenigen Einwanderer zurückgeschickt worden waren, die sich eindeutig als katholisch zu erkennen gegeben hatten, versuchte man eine Ansiedlung der Pfälzer in Irland, denen eine deutsch-englische Ausgabe des ›Book of Common Prayer‹ an die Hand gegeben wurde, um bei den Einwanderern eine religiöse Konformität mit der ›Church of England‹ zu erzeugen: Die deutsche Übersetzung des Gebetbuchs war einige Jahre zuvor in Berlin und Frankfurt an der Oder entstanden.107 Die Ansiedlung in Irland erwies sich größtenteils als Fiasko und führte zur Rückwanderung der meisten Migranten nach London, von wo aus schließlich etwa 3.000 Personen mit Hilfe der Missionsgesellschaft SPG in die Neue Welt verschifft wurden. Ein großer Teil von ihnen wurde in New York angesiedelt und gegen den Widerstand der Betroffenen in der Teer- und Pechherstellung für den britischen Schiffbau eingesetzt. In späteren Jahren verteilten sich die Pfälzer schließlich über die Kolonien der nordamerikanischen Ostküste, wo sie sich lange ein eigenes, pfälzisches Gruppenbewusstsein erhielten. Die Pfälzer Auswanderung gilt als die erste Massenwanderung aus dem Heiligen Römischen Reich in die Neue Welt108 und ist ein gutes Beispiel für die || 106 H[arry] T. Dickinson, The poor Palatines and the Parties, in: English Historical Review, 82. 1967, S. 464–485; Alison Olson, The English Reception of the Huguenots, Palatines and Salzburgers, 1680–1734. A Comparative Analysis, in: Littleton/Vigne (Hg.), From Strangers to Citizens, S. 481– 491; Margrit Schulte Beerbühl, Frühneuzeitliche Flüchtlingshilfe in Großbritannien und das Schicksal der Pfälzer Auswanderer von 1709, in: Mathias Beer/Dittmar Dahlmann (Hg.), Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert, Essen 2004, S. 303–328. 107 Das Allgemeine Gebet-Buch, Wie auch die Handlung der H. Sacramenten Und anderer KirchenCeremonien, Wie sie in der Irrländischen Kirchen im Gebrauch sind […], Dublin 1710. 108 Generell zur deutschen Auswanderung ins koloniale Amerika im 18. Jahrhundert vgl. Aaron S. Fogleman, Hopeful Journeys. German Immigration, Settlement, and Political Culture in Colonial America, 1717–1775, Philadelphia 1996; Georg Fertig, Lokales Leben, atlantische Welt. Die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach Nordamerika im 18. Jahrhundert, Osnabrück 2000; vgl.

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Schwierigkeit, religiös beziehungsweise konfessionell motivierte Wanderungsmotive von anderen Migrationsoptionen zu trennen. Zugleich zeigt die Pfälzer Migration schlaglichtartig, wie erst ein Wanderungs- und Ansiedlungsvorgang zur Schärfung kollektiver Identitäten unter den Migranten beitrug.109 London etablierte sich damit nach dem 16. (und 17.110) erneut im frühen 18. Jahrhundert als Drehscheibe für konfessionelle Auswanderungen aus dem Reich. Dass auch eine Gruppe von Salzburger Emigranten, sofern sie nicht in PreußischLitauen landeten, nach Nordamerika ging, hing ebenfalls mit dem Engagement der Londoner Gesellschaften SPCK und SPG zusammen, organisiert vor allem über einen ihrer Mittelsmänner im Heiligen Römischen Reich, den Augsburger Geistlichen Samuel Urlsperger.111 Bei der Auswanderung der Salzburger handelt es sich nicht, wie in der Literatur bisweilen dargestellt, um ein plötzlich auftretendes Phänomen konfessionalistischer Rückständigkeit, das die Schattenseiten von Aufklärung und Toleranz enthüllte. Sie geht vielmehr auf religiöse Besonderheiten in den Alpen zurück. Der Alpenraum hatte sich seit der Reformationszeit zu einem konfessionell schwer beherrschbaren Gebiet entwickelt, das verschiedenen evangelischen Gruppen eine Heimat bot. Heterodoxe Gemeinschaften in Tirol waren zwar schon früh durch die territoriale Obrigkeit bekämpft, vertrieben und als Bewegung geschwächt worden, es war aber dennoch nicht gelungen, sie völlig auszurotten, insbesondere da etwa aus dem Zufluchtsgebiet Mähren auch weiterhin Verbindungen in den Alpenraum bestanden. In Tirol jedenfalls hatte sich der Protestantismus zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert generell deutlich eindämmen lassen, er besaß gleichwohl lange Zeit Refugien sowohl in den Städten als auch in entlegeneren Tälern. Dies sollte noch im 19. Jahrhundert bei der Zillertaler Emigration eine Rolle spielen.112

|| die Beiträge in Hartmut Lehmann/Hermann Wellenreuther/Renate Wilson (Hg.), In Search of Peace and Prosperity. New German Settlements in Eighteenth-Century Europe and America, University Park 2000. 109 Philip Otterness, Becoming German. The 1709 Palatine Migration to New York, Ithaca 2004; Gregg Roeber, Palatines, Liberty, and Property. German Lutherans in Colonial British America, Baltimore 1993; Walter A. Knittle, Early Eighteenth Century Palatine Emigration. A British Government Redemptioner Project to Manufacture Naval Stores [1936], ND Baltimore 1965. 110 Zu den deutschen reformierten Migrantenkreisen im London des 17. Jahrhunderts siehe Jan van de Kamp, Ein frühes reformiert-pietistisches Netzwerk in der Kurpfalz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 103. 2012, S. 182–209. Vgl. auch Mark Greengrass u.a. (Hg.), Samuel Hartlib and Universal Reformation. Studies in Intellectual Communication, Cambridge 1994. 111 Reinhard Schwarz (Hg.), Samuel Urlsperger (1685–1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt, Berlin 1996. 112 Astrid von Schlachta, Wie geheim war der Protestantismus in Tirol? Protestantische Strömungen zwischen bäuerlicher Gesellschaft und staatlich-kirchlichem Konformitätsdruck, in: Georg

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Ähnliches galt mehr oder weniger für die gesamte Alpenkette: Im piemontesisch-savoyischen Südwesten des Gebirges an der Grenze zu Frankreich hatte sich der Protestantismus bei den Vaudois (Waldensern) erhalten. Bei ihnen handelte es sich um eine evangelisch-heterodoxe Gruppe, die ihre eigenen Ursprünge auf die Waldenser des Hochmittelalters zurückführte, in der Frühen Neuzeit aber zunehmend den Reformierten nahe stand. Seit der Reformationszeit besaßen die Vaudois Rechtstitel zur Besiedlung einiger Alpentäler beziehungsweise wurden von den katholischen Obrigkeiten in ihrer Glaubensausübung mehr oder minder geduldet. Unter Viktor Amadeus II. von Piemont-Savoyen fanden dann aber zwischen 1686 und 1730 in mehreren Etappen und oft in enger Abstimmung mit Frankreich Rekatholisierungs- und gezielte Vertreibungsmaßnahmen von protestantischen Waldensern und in die Alpentäler geflohenen französischen Protestanten statt. Ausgestattet mit finanzieller und politischer Unterstützung der europäischen protestantischen Mächte und insbesondere Englands zogen mehrere Tausend dieser Emigranten über die Schweiz ins Heilige Römische Reich, unter anderem nach BrandenburgPreußen, Hessen und insbesondere nach Württemberg, wo sie sich in eigens gegründeten ›Waldenserdörfern‹ niederließen oder in Hugenottengemeinden aufgingen.113 Zugleich versuchten europäische Mächte wie Brandenburg-Preußen, von außen auf den Erhalt des Protestantismus in den Waldensertälern einzuwirken, wenngleich meist vergeblich. Die Auswanderungen aus den Tälern Piemonts sind ein Musterbeispiel für das Zusammenwirken von innerstaatlicher Homogenisierung und außenpolitischer Instrumentalisierung konfessioneller Minderheiten. Außerdem sind sie Ausdruck der Internationalität von Konfessions- und Migrationspolitik in der Frühen Neuzeit. Auch in der Schweizer Eidgenossenschaft boten die Berge traditionell Rückzugsgebiete für protestantische Gemeinden. Im schwer beherrschbaren Graubünden etwa, einem strategisch bedeutsamen Truppendurchzugsgebiet, bestanden gemischtkonfessionelle Verhältnisse. Hier hielten im frühen 18. Jahrhundert Pietismus

|| Jäger/Christian Pfister (Hg.), Konfessionalisierung und Konfessionskonflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 79–108. 113 Unter der umfangreichen Literatur vgl. an dieser Stelle v.a. die Forschungen von Theo Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg aus dem Val Cluson durch die Schweiz nach Deutschland, 1532–1755, 4 Bde., Stuttgart 1990–1997; ders., Henri Arnaud. Pfarrer und Oberst bei den Waldensern. Eine Biographie, Stuttgart 1989; Barbro Lovisa, Italienische Waldenser und das protestantische Deutschland 1655 bis 1989, Göttingen 1994; Gabriel Audisio, Die Waldenser. Die Geschichte einer religiösen Bewegung [1989], München 1996; Albert de Lange/Gerhard Schwinge (Hg.), Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser um 1700, Heidelberg 2004. Zur Ansiedlung in Württemberg vgl. die Beiträge des Themenschwerpunkts ›Waldenser, Hugenotten und Herrnhuter in Württemberg‹, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 110. 2010.

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und Herrnhutertum Einzug und trugen zu Migrationen ins Heilige Römische Reich und sogar bis nach Russland bei.114 Die missionarischen Anstrengungen der Herrnhuter Brüderunität des 18. Jahrhunderts reichten mithin von der sächsischen Oberlausitz bis in den Alpenraum.115 Gleichwohl sind die Herrnhuter nur ein Beispiel für die Verbindungen des internationalen Protestantismus in der beginnenden Aufklärungsepoche, innerhalb dessen die Salzburger Emigration nicht mehr losgelöst von allgemein-evangelischen Entwicklungen erscheint. Im Heiligen Römischen Reich gedruckte protestantische Erbauungsliteratur, eingeschmuggelt durch Wanderprediger und Händler, hatte seit der Reformation einen festen Platz in der Lektüre der meist insgeheim protestantisch und nach außen römisch-katholisch agierenden Bevölkerung.116 Und auch die große Auswanderung aus dem Salzburger Fürstbistum zu Beginn der 1730er Jahre hatte ihre unmittelbaren Vorläufer, etwa im salzburgischen Defreggental, in Berchtesgaden oder unter den sogenannten ›Dürrnberger Knappen‹.117 Einer der ersten vertriebenen Dürrnberger Bergleute war Joseph Schaitberger (1658–1733), der nach einer Haftstrafe ausgewiesen wurde, seine Kinder zurücklassen musste und sich in Nürnberg niederließ. Von dort übte er durch erbauliches Schrifttum einigen Einfluss auf die Mobilisierung der Protestanten im Salzburger Fürstbistum aus und sorgte zugleich für das Bekanntwerden der konfessionell-gesellschaftlichen Problematik im Reich.118 Erst im frühen 18. Jahrhundert bahnte sich im Salzburgischen jedoch eine größere Eskalation der konfessionellen Spannungen an, als der Verwaltungs- und Sozialreformer Bischof Leopold Anton von Firmian mit Hilfe des Jesuitenordens die Glaubensfestigkeit seiner Untertanen überprüfen ließ. Dies resultierte in einer für den Alpenraum nicht unüblichen Mischung aus sozialem Protest und politischkonfessionellem Konflikt. Es folgten Kontaktaufnahmen der Salzburger Protestanten mit den Gesandten des Reichstags, unter anderem durch eine berühmt gewordene Bittschrift von 19.000 Personen, und schließlich im Winter 1731/32 die Auswei|| 114 Vgl. die Beiträge in: Jäger/Pfister (Hg.), Konfessionalisierung und Konfessionskonflikt; siehe auch: Holger Finze-Michaelsen, Von Graubünden an die Wolga. Das Leben des Bündner Pfarrers Johannes Baptista Cattaneo (1745–1831), Chur 1992. 115 William R. Ward, The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1992, S. 117f. 116 John L. Flood, Umstürzler in den Alpen. Bücher und Leser in Österreich im Zeitalter der Gegenreformation, in: Daphnis, 20. 1991, S. 231–263. 117 Ute Küppers-Braun, Zerrissene Familien und entführte Kinder. Staatlich verordnete Protestantenverfolgung im Osttiroler Defreggental (1684–1691), in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich, 121. 2005, S. 91–168; Alois Dissertori, Die Auswanderung der Defregger Protestanten 1666–1725 [1964], Innsbruck 2001; Angelika Marsch, Berchtesgadener Emigranten in Lüneburg. Gebirgsbauern in einer norddeutschen Stadt im 18. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Der Fremde im Dorf. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte, Lüneburg 1998, S. 403–425. 118 Gustav Reingrabner, Art. Schaitberger, Joseph, in: Neue deutsche Biographie, 22. 2005, S. 547.

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sung und Abwanderung der Salzburger Protestanten in Verbindung mit den Anwerbemaßnahmen des preußischen Reichstagsgesandten. Den Emigranten waren entgegen den Bestimmungen des Westfälischen Friedens keine ordnungsgemäßen Abzugsbedingungen eingeräumt worden. Rasch begann der brandenburgischpreußische Staat, die Wanderungsbewegung ins Reich zu kanalisieren, die Auswanderer zu unterstützen und sie schließlich zum großen Teil im entvölkerten preußischen Teil Litauens anzusiedeln. Für den Protestantismus im Reich und insbesondere für Brandenburg-Preußen handelte es sich dabei um eine hochwillkommene Propaganda-Angelegenheit, die einmal mehr die Position des Preußenkönigs als Retter des Protestantismus untermauerte und die katholische Unmenschlichkeit der Gegenseite anprangerte. Die Politik des Reichstags und des Kaiserhofs trug ihr Übriges dazu bei: Sobald sich die Reichsbehörden einschalteten, um für die Protestanten einzutreten, die ja entgegen den geltenden Reichsgesetzen verfolgt wurden, argumentierten die katholischen Obrigkeiten entweder damit, es handele sich um Häretiker, die nicht unter die tolerierten Bekenntnisse fielen (so bei den Defreggern), oder es ginge in Wirklichkeit nicht um Konfession, sondern um politische Rebellion (so bei den Salzburgern). Der Kaiser wiederum schickte Truppenkontingente zur Unterstützung der Salzburger Ausweisungsmaßnahmen. Außenpolitisch hielt er sich ansonsten allerdings auffällig zurück, um die politischen Gewichte im Reich nicht zu stören und die politische Anerkennung der Nachfolge seiner Tochter Maria Theresia zu sichern. Letztlich waren es politische Interessen aller Seiten, die die Salzburger Emigration zu einer Demonstration des Protestantismus werden ließen.119 Auch abseits der Reichspolitik besaßen die Salzburger wichtige Fürsprecher an entscheidenden Schaltstellen, unter anderem beim Augsburger Geistlichen Samuel Urlsperger. Er war selbst ein Nachfahre steirischer Auswanderer, war kurz nach der Pfälzer Emigration als deutscher Geistlicher in London tätig gewesen und insofern von konfessionellen Migrationen nicht unberührt. Urlsperger wurde von Augsburg aus ein bedeutender Propagandist der Salzburger Angelegenheit. Durch seine Kontakte zu Halleschen Pietisten und den Londoner Gesellschaften SPCK und SPG vermittelte er mehreren Hundert Salzburgern die Auswanderung ins nordamerikanische Georgia.120 Die Salzburger Emigration löste im Reich eine Flut konfessioneller Publizistik aus, die übrigens größtenteils nicht von den Salzburgern selbst, sondern vom pro|| 119 Ward, Awakening, S. 93–109; Florey, Salzburger Protestanten; Walker, Salzburger Handel. 120 George Fenwick Jones (Hg.), Henry Newman’s Salzburger Letterbooks, Athens 1966; Renate Wilson, Continental Protestant Refugees and their Protectors in Germany and London. Commercial and Charitable Networks, in: Pietismus und Neuzeit, 20. 1994, S. 107–124; dies., Halle Pietism in Colonial Georgia, in: Lutheran Quarterly, 12. 1998, S. 271–301; Charlotte Haver, Von Salzburg nach Amerika. Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert, Paderborn 2011.

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testantischen Umfeld der Städte verfasst und lanciert wurde, durch die die Emigranten zogen.121 Es verwundert daher nicht, dass der Salzburgerzug zahlreiche Nachahmer fand: Dies galt für die Wanderung böhmischer Exulanten unter dem Prediger Jan Liberda aus der Oberlausitz nach Brandenburg im Jahre 1732 ebenso wie für Bettler, Vaganten und organisierte Betrüger, die sich im Gefolge der medialen Aufmerksamkeit für die Salzburger selbst als Glaubensflüchtlinge ausgaben, um sich Spendengelder und materielle Vorteile zu verschaffen.122 Der publizistische und politische Wirbel um die Salzburger Emigration trug nicht dazu bei, dass konfessionspolitisch motivierte Migrationen in der Folge unterblieben. Zwar bemühten sich die Habsburger Behörden darum, eine weitere konfessionelle Homogenisierung geräuschloser voranzutreiben, damit das Salzburger Beispiel in ihren eigenen Ländern nicht Schule machte. Bei den sogenannten ›Transmigrationen‹ gelang dies allerdings nur teilweise. Ausgangsregion war abermals der konfessionell heterogene Alpenraum, dessen Bewohner erneut mit einer homogenisierenden Zentralpolitik in Konflikt gerieten. So waren von den Salzburger Vorfällen nicht nur die Protestanten in den Nachbargebieten alarmiert, sondern auch die habsburgischen Behörden für die Situation in den österreichischen Erblanden sensibilisiert worden. Sie schickten Missionare, die in Gebieten der Erblande und Innerösterreichs eine ähnliche Verbreitung des Geheimprotestantismus feststellten wie im Fürstbistum Salzburg.123 In mehreren Etappen und getrennt nach Regionen und Herrschaftsgebieten (Land ob der Enns/Salzkammergut, Kärnten, Steiermark) fanden in den 1730er Jahren unter Karl VI., aber auch unter Maria Theresia in den 1750er und 1770er Jahren behördlich angeordnete Zwangsverschickungen von konversionsunwilligen Protestanten statt. Diese firmierten unter dem beschönigenden Namen ›Transmigrationen‹ und führten zur wohl in diesem Ausmaß erstmaligen staatlich organisierten Umsiedlung mehrerer Tausend Personen, zumeist nach Siebenbürgen. Die Maßnahmen gingen teilweise mit massivem Militäreinsatz einher. Dabei nahm die Obrigkeit die Zerstörung von Familien- und Sozialzusammenhängen in Kauf. Siebenbürgen bot sich als Zielgebiet an, da der habsburgischen Verwaltung die östlichen Territorien außerhalb des Heiligen Römischen Reiches seit jeher als Bollwerk gegen fremde Mächte wie das Osmanische

|| 121 Überblick bei Angelika Marsch, Die Salzburger Emigration in Bildern, 3. Aufl. Weißenhorn 1986. 122 Gustav Adolph Skalský, Der Exulantenprediger Johann Liberda. Ein Beitrag zur Geschichte der böhmischen Emigration, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich, 31. 1910, S. 117–379; Schunka, Gäste, S. 315–320. 123 Zum Phänomen des Geheimprotestantismus vgl. die Beiträge in Leeb/Scheutz/Weikl (Hg.), Geheimprotestantismus; ferner Rudolf Leeb, Die Zeit des ›Geheimprotestantismus‹, in: Carinthia, 190. 2000, S. 249–264. Zur Mission und zu den Deportationen vgl. auch Peter G. Tropper, Von der katholischen Erneuerung bis zur Säkularisation 1648–1815, in: Leeb u.a., Geschichte des Christentums, S. 281–360, hier S. 288–296, 345–348.

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Reich oder Russland dienten. Dies führte dazu, dass die Behörden außerhalb des reichsrechtlichen Einflusses und weitgehend unbemerkt vom Rest des Reiches Menschen ansiedeln, zugleich dort aber ein beträchtliches Maß an konfessionellen Zugeständnissen machen konnten. Die sogenannten Landler in Siebenbürgen erhielten sich lange Zeit ihre eigenen konfessionellen und sprachlich-kulturellen Traditionen, auch gegenüber dem bereits in Siebenbürgen vorhandenen, lokalen Protestantismus sächsischer Prägung.124 Bei den Auswanderungen aus dem Alpenraum im 18. Jahrhundert verknüpften sich oft in recht eindeutiger Weise konfessionelle Vereinheitlichung mit politischen Zwangsmaßnahmen. Inwieweit dies zurück ins konfessionelle Zeitalter oder nach vorn in eine Periode staatlich angeordneter Bevölkerungsverschiebungen und Deportationen weist, ist schwer zu sagen. Wenn gerade die Ausweisung der Salzburger lange Zeit als ein für die Aufklärungsepoche unzeitgemäßes, letztes Aufflackern von Konfessionalismus und religiöser Engstirnigkeit gesehen wurde, so lässt sich die internationale Vernetzung und der politisch-administrative Organisationsgrad genauso gut als »Fanal für eine neuartige Austragung von Religionskonflikten« bezeichnen, die bis zu einer militärisch durchgesetzten Umsiedlungspolitik reichen konnte.125

5 Konfession, Migration und Kommunikation Worin lagen nun, abgesehen von der kausalen oder argumentativen Verknüpfung von Migration, Bekenntnis und frühmoderner Staatlichkeit, die Spezifika der hier vorgestellten konfessionellen Migrationsvorgänge? In besonderem Maß waren dies die Kommunikationsmechanismen der Migranten untereinander ebenso wie zwischen Einwanderern und ansässigen Gesellschaften, die für die Zeitgenossen und für die Nachwelt ein eindrucksvolles Bild von Glaubensflucht und Glaubensflüchtlingen überlieferten. Analog zum Ausmaß, in welchem die konfessionelle Orientierung zu Migrationsentscheidungen beitrug und diese forcieren konnte, diente umgekehrt die Migration zur Stärkung und Überhöhung eines gemeinsamen, grenzüberschreitenden konfessionellen Bewusstseins: Die Emigrationserfahrung schärfte ex post die öffent-

|| 124 Stephan Steiner, Reisen ohne Wiederkehr. Die Deportation von Protestanten aus Kärnten 1734– 1736, Wien/München 2007, mit ausführlicher Diskussion der Literatur; Erich Buchinger, Die ›Landler‹ in Siebenbürgen. Vorgeschichte, Durchführung und Ergebnis einer Zwangsumsiedlung im 18. Jahrhundert, München 1980; zu den habsburgischen Deportationen des 18. Jahrhunderts nach Ostmittel- und Südosteuropa siehe Steiner, Rückkehr unerwünscht. 125 Steiner, Reisen, S. 111.

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lich gemachte Glaubensüberzeugung der Migranten.126 Dies wird unter anderem an der Literaturproduktion und Lektüre der Migranten deutlich. An vorderster Stelle stand hier die Bibel. Sie diente in besonderem Maß zur Bestätigung und Legitimation des eigenen Schicksals, zum Beweis für die gottgegebene Berechtigung von Auswanderung und Exil. Hinzu kamen Texte der Reformatoren, Erbauungsbücher, Märtyrergeschichten, Predigten, Polemiken und zahlreiche Kleinschriften, die häufig von Geistlichen verfasst worden waren und die Menschen bei der Auswanderungsentscheidung, auf der Reise und im Exil seelisch unterstützen sollten. Dieses Auswanderungsschrifttum wiederum legitimierte die Migration als göttliche Strafe oder als Teil der lebenslangen Reise des Menschen in den Himmel, es rief zu Standhaftigkeit und Glaubensfestigkeit sowie zur Bereitschaft auf, ein Leben in der Fremde und in Armut zu verbringen. Als Exempla dienten Begebenheiten aus dem Alten Testament wie das Exil des Volkes Israel oder Noahs Arche; aus dem Bereich des Neuen Testaments etwa die Suche nach der zukünftigen Stadt oder die Flucht vor Verfolgungen (Hebr 13, Matth 10), außerdem das Exil des Johannes auf Patmos. Ferner griffen die Autoren auf Kirchenväter wie Augustinus oder Johannes Chrysostomus zurück, auf die stoische Philosophie und auf Lebensgeschichten frühchristlicher und reformatorischer Märtyrer oder besonders vorbildhafter Emigranten erster Generation aus dem eigenen Umfeld.127 Migranten und ihre unmittelbaren Nachfahren produzierten entsprechende historisch-erbauliche Beschreibungen, von denen häufig die spätere Migrationsgeschichtsschreibung im Verbund mit einer mythischen Überhöhung des Migrationsgeschehens ihren Ausgang nahm.128 Oft || 126 Nach Alastair Duke: »the experience of exile confirmed the Reformed character of the emigrés«; Alastair Duke, Perspectives on European Calvinism, in: Duke/Lewis/Pettegree (Hg.), Calvinism in Europe, S. 1–20, hier S. 5. 127 Einzelbelege bei Schunka, Constantia im Martyrium; ders., Transgressionen. Revokationspredigten von Konvertiten im 17. Jahrhundert, in: Ute Lotz-Heumann/Jan-Friedrich Mißfelder/Matthias Pohlig (Hg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, S. 491–516. Zum Folgenden siehe auch Schunka, Lutherische Konfessionsmigration; zu narrativen Bezügen auf die Reformationszeit vgl. in Kürze: ders., Migranten als Glaubenszeugen und Vermittler. Zum Verhältnis von religiösem Exil und protestantischer Kommunikation seit der Reformationszeit, in: Irene Dingel/Ute Lotz-Heumann (Hg.), Entfaltung und zeitgenössische Wirkung der Reformation im europäischen Kontext, Gütersloh 2015, S. 214–230. 128 Beispiele bei Schnabel, Österreichische Exulanten, passim; Dieter Wölfel, Die innerösterreichische Gegenreformation im Lichte einer evangelischen Trostschrift. Der Fall des Waldsteiner Prädikanten Paulus Odontius von 1602, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 60. 1997, S. 675–704; Wulf Wäntig, Der Weg ins Exil, der Weg in den Mythos. Böhmische Emigranten als ›Exulanten‹ in der oberlausitzischen Geschichte und Historiographie, in: Joachim Bahlcke (Hg.), Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen, Strukturen, Prozesse, Stuttgart 2007, S. 191–217; Erich Haase, Einführung in die Literatur des Refuge. Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhundert, Berlin 1959; Viviane Rosen-Prest, L’historiographie des Huguenots en Prusse au temps des Lumières. Entre mémoire, historie et légende. J.P. Erman et P.C.F. Reclam, Paris 2002; zur Märtyrergeschichts-

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wurden solche Schriften in sehr kleinem Format gedruckt, damit Migranten sie unterwegs bei sich tragen oder Vermittler sie zu versteckt lebenden Glaubensgenossen in die alte Heimat schmuggeln konnten. Zugleich boten einige Werke aus dem Umkreis der Migrationen recht praktische Hilfestellungen, etwa für den Umgang der Migranten mit der Zuwanderungsgesellschaft oder als Argumentationshilfen und Reisetipps.129 In diesem Zusammenhang prägte sich überhaupt erst der Begriff des ›Exulanten‹ als Bezeichnung für einen religiösen Flüchtling aus. Diese Wortschöpfung des 16. Jahrhunderts bezeichnete seither Menschen, die aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung ihre weltlichen Besitztümer verlassen und sich auf die Wanderschaft begeben hatten. Eine frühneuzeitliche Form der augustinischen ›peregrinatio‹ führte die Exulanten in ein vorübergehendes Exil, wo sie darauf warteten, ihre irdische Heimat wieder zu erlangen oder statt dessen die Reise in ihr himmlisches Vaterland fortzusetzen, das heißt bis zum Tod im Exil zu bleiben. Der Begriff des Exulanten ist in dieser Form und Bedeutung eine Begleiterscheinung der frühneuzeitlichen, konfessionell geprägten Migrationsperiode und unterscheidet sich zeitgenössisch vom stärker politisch-rechtlich konnotierten Ausdruck des ›Emigranten‹.130 Die Motive von Vertreibung, Standhaftigkeit und christlicher ›peregrinatio‹ fanden während des 17. Jahrhunderts Eingang in die literarische Welt des Barock. Sie kommen in ähnlicher, bisweilen stärker apokalyptisch gewendeter Form auch in der Hugenottenpublizistik vor.131 Viele der Topoi zur Legitimation konfessioneller Migration (Exil und Armut; Standhaftigkeit und Gottes Hilfe; Bosheit der Welt, manifestiert durch eine teuflische Obrigkeit; unschuldig erfahrene Not; Wanderschaft als gottgegebenes Schicksal; Erlösung und Ziel im Himmel usw.) finden sich auf Grabsteinen, Inschriften, Medaillen, Flugblättern, in Gelegenheitsgedichten und in Liedtexten, so zum Beispiel im Lied ›Ich bin ein armer Exulant‹, das auf den Dürrnberger Bergmann und

|| schreibung vgl. Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004; Brad Gregory, Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge/London 1999. 129 Sigismund Scherertz, Patientia Sanctorum: Id est Piae Meditationes pro confessoribus et exulibus Christi […], Lüneburg 1626; Johannes Burius, Einfältige Doch Christlich Wohlmeynende und erhebliche Motiven Oder Ursachen/ An alle Hohe und Niedrige Evangelische Stands-Personen/ Denen Von allen fast verlassenen/ winselnden/ sehr bekümmerten/ vor andern verachtesten/ unschuldig verhasseten und verfolgten Exulanten, Gutes zu thun umb GOttes willen! o.O. 1680. 130 Franz Eppert, Der politische und religiöse Flüchtling in seiner sprachlichen Bezeichnung im Deutschen. Beiträge zur Wortgeschichte eines Begriffsfeldes, Diss. Köln 1963; Juergen Hahn, The Origins of the Baroque Concept of Peregrinatio, Chapel Hill 1973, v.a. S. 155–158; Schunka, Gäste, S. 130–142. 131 Ulrich Niggemann, Die Hugenottenverfolgung in der zeitgenössischen deutschen Publizistik, in: Francia, 32. 2005, S. 59–108, bes. S. 79–81.

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Exulantenautor des frühen 18. Jahrhunderts, Joseph Schaitberger, zurückgeht.132 Es ist gleichsam das schriftliche Pendant zu den zahlreichen bildlichen Exulantendarstellungen im Umfeld der Salzburger Emigration und verdichtet die Exulantenmetaphorik auf besonders deutliche Weise. Migrationspublizistik diente als Trost, Erbauung und Hilfestellung des Einzelnen, aber auch zur Erzeugung konfessioneller Gruppenidentitäten und Schicksalsgemeinschaften. Außerdem lassen sich einige Schriften in das Genre zeitgenössischer konfessioneller Polemiken einordnen. Ihre Verfasser versuchten, ein grenzüberschreitendes protestantisches Gemeinschaftsbewusstsein zu erzeugen. Keineswegs jedoch zielte diese Publizistik immer auf direkte politische Aktion, etwa auf den Umsturz der konfessionspolitischen Verhältnisse im Heimatland.133 Dass einige typische Topoi protestantischer Migrationen sich auch auf katholischer Seite wiederfinden lassen, wirft ein Schlaglicht auf interkonfessionelle Transfers, die bislang allerdings noch wenig untersucht sind.134 Für die Herstellung und Verteilung solcher Schriften, vor allem aber auch als Informationsbörsen zur Vermittlung von Wissen über das Exilland, die Mitauswanderer und die Entwicklungen im Heimatgebiet waren bestimmte Städte des Heiligen Römischen Reichs bedeutsam. Häufig besaßen sie besonders aktive Geistliche oder Exulantengemeinden. Ähnlich wie bereits im 16. Jahrhundert Straßburg, Genf oder Frankfurt am Main wurden im 17. Jahrhundert Städte wie Nürnberg, Regensburg, Dresden, Hamburg oder Leipzig zu überregionalen, multinationalen und – häufig von den Obrigkeiten ungewollt – auch zu multikonfessionellen Zentren und Knotenpunkten des europäischen Exils. Im späten 17. Jahrhundert sollte auch Berlin sich durch die Hugenotteneinwanderung in den Reigen internationaler Verbindungsstädte konfessioneller Migranten einreihen. In London bestanden im 18. Jahrhundert einige deutsche Kirchen für Migranten sowohl lutherischer als auch reformierter Provenienz.135 Dass sich diese zu Knotenpunkten für deutsche Konfessionsmigranten entwickelten, hing nicht nur mit der Tradition der englischen ›stranger churches‹ zusammen, sondern auch mit dem Engagement der philanthropischen

|| 132 Abgedruckt bei Florey, Salzburger Protestanten, S. 63. 133 Dies gilt nur eingeschränkt für die böhmische Publizistik im Umfeld des Westfälischen Friedens, etwa bei Andreas [Habervešl von] Habernfeld, Bellum Bohemicum, Leiden 1645; vgl. Norbert Kersken, Entwicklungslinien der Geschichtsschreibung Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hg.), Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa, Berlin 2002, S. 19– 53, hier S. 38–49; für die Hugenottenpublizistik siehe Niggemann, Publizistik, bes. S. 101. 134 Vgl. Geert H. Janssen, Quo Vadis? Catholic Perceptions of Flight and the Revolt of the Low Countries, 1566–1609, in: Renaissance Quarterly, 64. 2011, S. 472–499. 135 Susanne Steinmetz, The German Churches in London, 1669–1914, in: Panikos Panayi (Hg.), Germans in Britain since 1500, London 1996, S. 49–72.

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Gesellschaften wie der SPCK und dem Einfluss des Halleschen Pietismus in der britischen Hauptstadt.136 Das wichtigste politische Kommunikationszentrum im Reich und zugleich eine Plattform zum Konfliktaustrag für Migrationsfragen konfessionspolitischer Art war nach dem Westfälischen Frieden das ›Corpus Evangelicorum‹ auf dem Regensburger Reichstag.137 Hier wurden die Migrationen von Berchtesgadenern und Defreggern sowie von den schon angesprochenen Bärenthalern ebenso verhandelt wie die Rekatholisierung in der Pfalz oder im Fürstbistum Salzburg. Konfessionelle Zwangsmaßnahmen wurden gebrandmarkt und reichsweit bekannt gemacht – durch eine hochkonfessionalisierte Publizistik, die ihrerseits wieder Gegenschriften hervorrief und in der Regel nicht von Angehörigen der Migrantengruppen vorangetrieben wurde, sondern von denen, die sich zu Fürsprechern der Migranten machten: Dazu gehörten nicht allein Geistliche und Theologen, sondern auch engagierte Gesandte protestantischer Fürsten.138 Kommunikation mit und über Konfessionsmigranten war Bestandteil der Reichspolitik ebenso wie der Innen- und Sozialpolitik frühneuzeitlicher Territorien. Die Versorgung von Exulanten bildete einen Hauptbestandteil der Fürsorge gegenüber fremden Armen durch frühneuzeitliche kirchliche, kommunale und territoriale Institutionen. Dies wiederum erschloss ganz eigene Kommunikations- und Überlebensstrategien für diejenigen, die entweder bei einer Wiederansiedlung scheiterten oder ihre Einkünfte durch Betteln aufbesserten. Bedürftige Konfessionsmigranten mussten besonders darum bemüht sein, ihren Status als Exulanten nachzuweisen, um nicht als gewöhnliche, gar arbeitsfaule Bettler zu gelten. Dazu dienten Bettelbeziehungsweise Kollektenbücher oder sogenannte Bettelbriefe, in denen Behörden den gottesfürchtigen Charakter des Briefbesitzers und damit einen hehren Grund für die Bedürftigkeit des Bettelnden bestätigten. Bittschriften um derartige Bettelbriefe bildeten einen wichtigen Kommunikationskanal zwischen der Verwaltung frühneuzeitlicher Territorien und den Migranten, ebenso wie das Betteln selbst Kontakte zu Menschen mit ähnlichem Schicksal eröffnete. Konfessionsmigranten ordneten sich || 136 Daniel L. Brunner, Halle Pietists in England. Anthony William Boehm and the Society for Promoting Christian Knowledge, Göttingen 1993; Graham Jeffcoate, Joseph Downing and the Publication of Pietist Literature in England, 1705–1734, in: John L. Flood/William A. Kelly (Hg.), The German Book 1450–1750. Studies presented to David L. Paisey in his Retirement, London 1995, S. 319– 332; ders., German Printing and Bookselling in Eighteenth-Century London. Evidence and Interpretation, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 57. 2003, S. 147–248. 137 Vgl. nur die zahlreichen einschlägigen Einträge in Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth, Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum Von Anfang des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs-Convents bis auf die gegenwärtige Zeiten […], 3 Bde., Regensburg 1751/52. 138 So z.B. das Eintreten des Hannoveraner Gesandten Wrisberg für protestantische Interessen auf dem Regensburger Reichstag; vgl. Andrew C. Thompson, Britain, Hanover and the Protestant Interest, 1688–1756, Woodbridge 2006.

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daher zum Teil auch der Sphäre frühneuzeitlicher Vaganten und Nichtsesshafter zu und partizipierten an deren Kommunikationsstrukturen.139 Offiziell sanktioniertes Betteln in größerem Maßstab fand statt in Gestalt von Kollektenreisen, bei denen sich Delegierte einer Migrantengemeinde reichs- oder europaweit um Spenden bemühten. Solche Reisen waren wichtiger Bestandteil der internationalen Hilfsleistungen für Konfessionsmigranten und zeigten den Zusammenhalt unter Migranten sowie zwischen ihnen und protestantischen Ortsgemeinden. Die Strategien und Kontaktnetze von Kollektensammlern verweisen auf ein beachtliches Ausmaß grenzüberschreitender konfessioneller Solidarität.140 Als einige Hundert vertriebene oberpfälzische Geistliche kurz nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges in Nürnberg gestrandet waren, wurden Hilfsleistungen über England und die wallonischen Kirchen organisiert. Auch die Rekatholisierung der Kurpfalz rief regelmäßig Hilfs- und Spendenleistungen im Reich, den Niederlanden und auf den Britischen Inseln hervor.141 Exulantenschriften wurden verfasst und verbreitet, um Spendenbereitschaft anzukurbeln: Der böhmische Emigrantengeistliche Georg Holyk versuchte persönlich und unter Vorlage eigener Publikationen wie die ›Kurtze und wahrhafftige Erzehlung Des betrübten und gar traurigen Zustandes Des KönigReichs Böhmen‹ insbesondere in Skandinavien Geld und internationale Aufmerksamkeit für die böhmischen Exulanten in Sachsen zu erhalten.142 Teilweise wurde die Emigrantenunterstützung zum Gegenstand offizieller Kirchenpolitik wie in England, wo philanthropische Gesellschaften noch um 1700 gemeinsam mit der Staatskirche und den Londoner Fremdengemeinden deutsche Einwanderer versorgten, um an Konfessionsmigranten christliche Werke zu vollbringen.143 Auf höchster staatlicher Ebene konkurrierte man gar im Bereich wohltätigen Handelns: So hatte

|| 139 Schunka, Arme und Fremde; ders., Gäste, S. 321–334; ders., Die Grenzen der Solidarität. Armut, Mobilität und Betrug im frühneuzeitlichen Europa, in: Joachim Bahlcke/Rainer Leng/Peter Scholz (Hg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, S. 233–254. 140 Vgl. Ole Peter Grell, Brethren in Christ. A Calvinist Network in Reformation Europe, Cambridge 2011; Alexander Schunka, Collecting Money, Connecting Beliefs. Fundraising and Networking in the Unity of Brethren of the Early Eighteenth Century, in: Journal of Moravian History, 14. 2014, S. 73– 92. 141 Ole Peter Grell, Dutch Calvinists in Early Stuart London. The Dutch Church in Austin Friars 1603–1642, Leiden 1989, S. 176–223; Prestwich, Introduction, in: dies. (Hg.), International Calvinism, S. 5; Murdock, Beyond Calvin, S. 39–41; Christoph Flegel, Die lutherische Kirche in der Kurpfalz von 1648 bis 1716, Mainz 1999, S. 476f. 142 Zu ihm vgl. Ryantová, Holík. 143 Zum Kontext dieser internationalen Verbindungen vgl. Eamon Duffy, Correspondence fraternelle. The SPCK, the SPG and the Churches of Switzerland in the War of the Spanish Succession, in: Derek Baker (Hg.), Reform and Reformation. England and the Continent c. 1500–c.1750, Oxford 1979, S. 251–280; Sugiko Nishikawa, The SPCK in Defence of Protestant Minorities in Early Eighteenth-Century Europe, in: Journal of Ecclesiastical History, 56. 2005, S. 730–748.

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kurz nach 1700 der englische Gesandte in Berlin den Bau von Sozialeinrichtungen für Konfessionsflüchtlinge aus dem Fürstentum Orange zu organisieren. Bei der Finanzierung des sogenannten ›Maison d’Orange‹ für die über die Schweiz nach Brandenburg-Preußen gekommenen ›Orangeois‹ musste der Gesandte aber auf Geheiß Londons darauf achten, dass dies keinesfalls als sozialer Akt BrandenburgPreußens interpretiert werden konnte, sondern Großbritanniens Rolle als Wohltäter kenntlich gemacht und in Berlin und der internationalen Gemeinschaft deutlich wurde, dass es sich um »English charity« handelte.144 Die publizistische und politische Öffentlichkeit Europas war also für die Not von Migranten sensibilisiert und für entsprechende Hilfsleistungen mobilisierbar. Um deren praktische Versorgung, aber auch um größere politische Belange kümmerten sich an den Exilorten oft bestimmte ›Broker‹. Der Geistliche und Publizist Claude Groteste de la Mothe etwa instrumentalisierte als einer von vielen hugenottischen Intellektuellen um 1700 das internationale Mächtesystem, insbesondere Großbritannien und das Reich, um eine Restitution der Protestanten in Frankreich und die Verbesserung ihrer Lage im Exil zu erlangen.145 Nicht immer handelte es sich bei solchen Vermittlern selbst um Migranten: Die Organisation und publizistische Unterstützung der Auswanderung von Salzburgern und anderen Protestanten aus dem Heiligen Römischen Reich in die Neue Welt, insbesondere in die britische Kolonie Georgia, lag seit den 1720er Jahren weitgehend in den Händen der pietistischen Sozialeinrichtungen in Halle unter August Hermann Francke, ferner des Augsburger Pfarrers Samuel Urlsperger und seines englisch-amerikanischen Korrespondenzpartners Henry Newman, des Sekretärs der SPCK in London.146 Internationale politische und diplomatische Aktionen gingen in der Frühen Neuzeit häufig von Konfessionsmigranten aus. Dies galt in besonderem Maß für exilierte Herrscher und Höfe: So diente der aus Böhmen 1620 vertriebene Hof des ›Winterkönigs‹ Friedrich V. von der Pfalz im niederländischen Exil in Den Haag ebenso als Kommunikationszentrale für die politischen Belange Böhmens wie für

|| 144 Ausführlicher und mit Nachweisen in meiner Monographie: Von der Irenik zur Anglophilie. Großbritannien in der Kultur deutscher Protestanten (1688–1740). Habil.-Schrift Universität Stuttgart 2014 (Manuskr., Druckvorbereitung), Kap. D1. Zur Migration der Orangeois vgl. Fred W. Felix, Die Ausweisung der Protestanten aus dem Fürstentum Orange 1703 und 1711–13, Bad Karlshafen 2000. 145 Phyllis Bultmann/William A. Bultmann, Claude Groteste de la Mothe and the Church of England, 1685 to 1713, in: Proceedings of the Huguenot Society of London, 20. 1958–1964, S. 89–101; vgl. auch Hubert Bost, De Montpellier à Berlin. L’itinéraire du Pasteur François Gaultier de SaintBlancard (1639–1703), in: Manuela Böhm/Jens Häseler/Robert Violet (Hg.), Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin 2005, S. 179–204. 146 Leonard W. Cowie, Henry Newman. An American in London, 1708–43, London 1956; Jones (Hg.), Letterbooks.

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die Restitution der böhmischen Exulanten.147 Nach der ›Glorious Revolution‹ in England 1688 entwickelte sich der katholische Exilhof der vertriebenen Stuarts in St. Germain bei Paris nicht nur zur Vermittlungsstelle, sondern auch zum massiven Störfaktor der offiziellen protestantischen Politik Großbritanniens.148 Die diplomatischen Bemühungen für die Belange von Österreichern, Böhmen oder Hugenotten gingen wiederum von Betroffenen aus, die ihr Leben der Rückkehr ihrer Konfessionsgenossen in die Heimatländer widmeten und zu diesem Zweck in den Diensten protestantischer Mächte standen oder – wie der böhmische Adelige Heinrich Matthias von Thurn – gleichsam auf eigene Faust mit europäischen Höfen verhandelten.149 In den Kriegen des 17. Jahrhunderts fanden sich Konfessionsmigranten auf der Seite des aktiven Kampfes gegen ihre ehemaligen Obrigkeiten wieder, was naturgemäß zu politischen Verwicklungen führen konnte. Die Tatsache, dass während des Dreißigjährigen Krieges so viele böhmische Exulanten im schwedischen Heer standen und dass sich damit bei den Westfälischen Friedensverhandlungen die Frage einer politischen Amnestie Schwedens gegenüber den Reichsständen mit der Forderung nach einer Restitution des böhmischen Protestantismus verknüpfte, sollte die Beendigung des Krieges um einiges erschweren.150 Als später zahlreiche Hugenotten in der Armee der antifranzösischen Koalition gegen Ludwig XIV. ihren Dienst taten, wirkte sich dies wiederum massiv auf die militärischen, psychologischen und publizistischen Rahmenbedingungen des Neunjährigen Krieges aus.151 Geistliche, die häufig als erste von gegenreformatorischen Maßnahmen betroffen waren, agierten in vielfältiger Weise aus dem Exil heraus für ihre Glaubensgenossen. Pfarrer dienten zudem während vieler Migrationsvorgänge als Kontaktpersonen und Meinungsmacher: von der Auswanderung bis zur Ansiedlung und dem

|| 147 Nicolette Mout, Der Winterkönig im Exil. Friedrich V. von der Pfalz und die niederländischen Generalstaaten 1621–1632, in: Zeitschrift für historische Forschung, 15. 1988, S. 257–272; Carola Oman, Elizabeth of Bohemia. The Winter Queen, Neuaufl. London 1964. 148 Daniel Szechi, The Jacobites. Britain and Europe, 1688–1788, Manchester 1994; Corp, Court in Exile. 149 Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen, S. 115–118; Holger Thomas Gräf, »International Calvinism revisited« oder europäische Transferleistungen im konfessionellen Zeitalter, in: Thomas Fuchs/Sven Trakulhun (Hg.), Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850, Berlin, 2003, S. 137–158; Alexander Schunka, Böhmen am Bosporus. Migrationserfahrung und Diplomatie am Beispiel des Grafen Heinrich Matthias von Thurn, in: Olshausen/ Schunka (Hg.), Migrationserfahrungen – Migrationsstrukturen, S. 67–85. 150 Bedřich Šindelář, Vestfálský mír a česká otázka, Prag 1968; Miroslav Hroch/Ivo Barteček, Die böhmische Frage im Dreißigjährigen Krieg, in: Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede, S. 446– 460. 151 Matthew Glozier, The Huguenot Soldiers of William of Orange and the ›Glorious Revolution‹ of 1688. The Lions of Judah, Brighton/Portland 2002; Robin Gwynn, Huguenot Heritage. The History and Contribution of the Huguenots in Britain, 2. Aufl. Brighton/Portland 2001, S. 183–201.

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Aufbau von Exilgemeinden.152 Die Geistlichen, die die reformierten Emigrantengemeinden betreuten, hatten in der Regel selbst Auswanderung und Flucht, mitunter aber zumindest sehr bewegte Studienkarrieren an den reformierten Akademien und protestantischen Universitäten hinter sich. Bekanntlich war schon Jean Calvin aus Frankreich ins sichere Genf emigriert; der polnische Reformator Johannes a Lasco beeinflusste das Reformations- und Gemeindeleben in Emden sowie in London und war für die dramatische Flucht der Londoner Fremdengemeinde über Dänemark nach Ostfriesland zur Zeit der englischen Rekatholisierung unter Maria Tudor verantwortlich.153 Diese Tradition der Migrationssteuerung und Mobilitätsbereitschaft setzte sich bei weiteren protestantischen Geistlichen fort. Schon als Theologiestudenten hatten Reformierte in der Regel die Akademien und Universitäten von Genf, Leiden, Franeker, Herborn und die französischen protestantischen Akademien wie Saumur und Sedan kennengelernt, bevor sie dann von Ausbildungsmigranten zu Konfessionsmigranten wurden und schließlich als Geistliche von Emigrantengemeinden endeten: Bekannte Beispiele hierfür sind Franciscus Junius (de Jon), der die französische Gemeinde in Schönau in der Pfalz übernahm, oder Franciscus Gomarus (Gomaer), der schließlich die Frankfurter wallonische Gemeinde leitete.154 Für Lutheraner bildeten Wittenberg und Leipzig geistliche Zentren und Anlaufstellen, die weit bis nach Ostmitteleuropa ausstrahlten – in eine Landschaft, wo es kaum protestantische Bildungsstätten gab.155 Mitunter gingen Geistliche oder Laienprediger heimlich über die Grenze in ihre Heimatländer, um ihren verlassenen Gemeinden spirituellen Beistand zu leisten, oder sie ließen Schriften zur geistlichen Erbauung in die alte Heimat schmuggeln. Außerdem wirkten sie maßgeblich als Autoren von Exulantenliteratur sowie als Propagandisten von Emigration und Vertreibung innerhalb der publizistischen Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit.156 Kollektensammlungen für verarmte Emigrantengemeinden wurden in der Regel von Geistlichen durchgeführt. Konfessionelle Solidarität drückte sich darüber hinaus auch durch ortsansässige Geistliche aus, die für Migranten Ansiedlungshilfe leisteten, Kontakte vermittelten und die Weiterreise organisierten: Die Bedeutung Regensburgs und insbesondere Augsburgs für das

|| 152 Vgl. Alexander Schunka, Migrationen evangelischer Geistlicher als Motor frühneuzeitlicher Wanderungsbewegungen, in: Herman Selderhuis/Markus Wriedt (Hg.), Elitenbildung und Migration. Evangelische Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung, Leiden 2007, S. 1–26. 153 Siehe oben, Kapitel 2 dieses Beitrags. 154 Murdock, Beyond Calvin, S. 42. 155 Vgl. beispielhaft die Beiträge in Günter Frank/Martin Treu (Hg.), Melanchthon und Europa, 2 Bde., Stuttgart 2001. 156 Grell, Merchants and Ministers; Schunka, Migrationen evangelischer Geistlicher; Dietmar Weikl, Das Buch im Geheimprotestantismus, in: Johannes Frimmel/Michael Wögerbauer (Hg.), Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie, Wiesbaden 2009, S. 255–263.

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konfessionelle Exil im 17. und 18. Jahrhundert ist in hohem Maß auf die dortigen Geistlichen Salomon Lentz und Samuel Urlsperger zurückzuführen.157 Der Einfluss solcher ›Broker‹ konfessioneller Migrationen ist nicht zu unterschätzen. Weitere wichtige Bindeglieder stellten Kaufleute dar, deren Handelsbeziehungen für den Vertrieb von Literatur, Informationen und persönliche Kontakte bedeutsam waren. Die Rolle von Frankfurt am Main, Nürnberg, Rotterdam oder London als Anlaufstellen für Konfessionsmigranten ist ohne die charakteristische Mischung von Kommerz und konfessioneller Kommunikation nicht denkbar, ebenso wenig wie das englisch-schottische Emigrantennetz im Nordosten des Heiligen Römischen Reiches, insbesondere in den Ostseehandelsstädten des 17. Jahrhunderts.158 Diese konfessionellen Kommunikationsverbindungen forcierten oder unterstützten kulturelle Transfers in vielfältiger Weise.159 Sie finden sich in künstlerischen und handwerklichen Einflüssen aus den Herkunfts- in den Zielländern, denn in der Regel waren viele gut ausgebildete Personen mit speziellen Fähigkeiten und Kenntnissen unter den Konfessionsmigranten.160 Hinzu kommen sprachliche Einflüsse und Übernahmen161 sowie die Verbreitung vielfältiger Ideen und Geistesströmungen.

|| 157 Dieter Wölfel, Salomon Lentz 1584–1647. Ein Beitrag zur Geschichte des orthodoxen Luthertums im Dreißigjährigen Krieg, Gunzenhausen 1991; Schwarz (Hg.), Samuel Urlsperger; zur Professionalisierung der Exulantenversorgung durch Mittelsleute siehe Matthias Asche, Christliche Caritas, konfessionelles Kalkül und politische Propaganda. Emigrantennetzwerke, Flüchtlingskommissare und ihre Bedeutung für Logistik und Raumordnung in Alteuropa und im Alten Reich des ausgehenden 17. Jahrhunderts – ein Problemaufriss, in: Bahlcke/Leng/Scholz (Hg.), Migration als soziale Herausforderung, S. 201–232. 158 Steve Murdoch, Network North. Scottish Kin, Commercial and Covert Associations in Northern Europe, 1603–1746, Leiden 2006; Alexia Grosjean/Steve Murdoch (Hg.), Scottish Communities Abroad in the Early Modern Period, Leiden 2005; Marika Keblusek, Book Agents. Intermediaries in the Early Modern World of Books, in: Hans Cools/Marika Keblusek/Badeloch Noldus (Hg.), Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe, Hilversum 2006, S. 97–107. 159 Raingard Eßer, Migrationsgeschichte und Kulturtransferforschung, in: Fuchs/Trakulhun (Hg.), Das eine Europa, Berlin 2003, S. 69–82. 160 Siehe z.B. die Fallstudie von Martin Papenbrock, Landschaften des Exils. Gilles van Coninxloo und die Frankenthaler Maler, Köln/Wien 2001; ferner Heinz Schilling, Innovation through Migration. The Settlements of Calvinistic Netherlanders in Sixteenth- and Seventeenth-Century Central and Western Europe, in: Histoire sociale – Social History, 16. 1983, S. 7–33. Verschiedene Kurzzusammenfassungen des Themas ›Glaubensflucht‹ betonen gerne diesen Aspekt, darunter: Heinz Duchhardt, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer. Niederländer, Hugenotten, Waldenser, Salzburger, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 278–287; Rainer Postel, Asyl und Emigration in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 83. 1997, S. 201–223. 161 Zur Sprachsituation am Beispiel der Hugenotten vgl. Frédéric Hartweg, Sprachwechsel und Sprachpolitik der französisch-reformierten Kirche in Berlin im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 30. 1981, S. 162–176 sowie weitere Arbeiten desselben Autors.

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Die Aufklärung, nicht nur in Deutschland, ist ohne die intellektuelle Tätigkeit und Übersetzungsarbeit französischer Refugiés undenkbar.162 Das konfessionelle Element erweist sich somit als ein wichtiges identitätsstiftendes Merkmal, das aber gleichwohl bisweilen von anderen Aspekten überlagert werden konnte. Die geographische Herkunft oder eine gemeinsame Sprache konnten, aufbauend auf den konfessionell geprägten Kommunikationsstrukturen im Zuwanderungsland, wichtige Funktionen zur Konstitution von Migrantengruppen übernehmen. So wurde innerhalb der böhmischen lutherischen Gemeinde Dresdens vom 17. bis ins 19. Jahrhundert am Tschechischen als Liturgie- und Verwaltungssprache festgehalten, obwohl die Zahl der Tschechischsprecher kontinuierlich sank und es im 18. Jahrhundert sehr schwierig wurde, einen ausgebildeten protestantischen Geistlichen zu finden, der des Tschechischen mächtig war. Zudem diente schon im ausgehenden 17. Jahrhundert die Dresdner böhmische Gemeinde nicht nur für glaubensverfolgte tschechischsprachige Böhmen als Anlaufstation, sondern ebenso für protestantische Migranten aus Oberungarn, Katholiken aus Böhmen und weitere Personen, die nicht unbedingt der ursprünglichen Zielgruppe entsprachen.163 Dieses Phänomen ist aus den Londoner ›Stranger Churches‹ seit dem 16. Jahrhundert bekannt: Die italienisch-protestantische Gemeinde Londons bestand zeitweise hauptsächlich aus Niederländern.164 Und eines der berühmtesten Mitglieder der Berliner französischen Gemeinde im 18. Jahrhundert, der Maler Daniel Chodowiecki, war gebürtiger Danziger mit polnischem Vater.165 Das Bewusstsein konfessioneller Emigration konnte mitunter zum Lebensstil werden. Aus den geschilderten Kommunikationsverbindungen im Umfeld der großen konfessionellen Auswanderungen der Frühen Neuzeit ergaben sich weiterführende Formen der Kooperation und des internationalen konfessionellen Zusammenhalts: auf wirtschaftlicher, sozialer, politischer, aber auch theologischer Ebene. Insofern ist es nicht ungerechtfertigt zu sagen, dass gerade die konfessionellen Migrationen || 162 Jens Häseler/Antony McKenna (Hg.), La Vie intellectuelle aux Refuges protestants, 2 Bde., Paris 1999/2002; Anne Goldgar, Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters, 1680–1750, New Haven 1995; Sandra Pott/Lutz Dannenberg/Martin Mulsow (Hg.), The Berlin Refuge 1680–1780. Learning and Science in European Context, Leiden 2003. 163 Schunka, Gäste, S. 171–194; zu den Dresdner Exulanten jetzt auch Frank Metasch, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 2011. 164 Patrick Collinson, Europe in Britain. Protestant Strangers and the English Reformation, in: Littleton/Vigne (Hg.), From Strangers to Citizens, S. 57–67, hier S. 62. 165 Seine Großmutter mütterlicherseits war gebürtige Französin, vgl. Maria Bogucka, Daniel Chodowiecki, seine Familie und Danzig, in: Ernst Hinrichs/Klaus Zernack (Hg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher – Illustrator – Kaufmann, Tübingen 1997, S. 23–42; vgl. auch Ursula Fuhrich-Grubert/Jochen Desel (Hg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Ein hugenottischer Künstler und Menschenfreund in Berlin, Bad Karlshafen 2001. Kontext und weitere Beispiele in Schunka, Migranten und kulturelle Transfers, S. 88–91.

Konfession, Staat und Migration in der Frühen Neuzeit | 169

maßgeblich zum Phänomen eines internationalen Protestantismus und zur Schärfung eines protestantischen Gemeinschaftsbewusstseins in Europa beitrugen. Kommunikationsverbindungen von Konfessionsmigranten zeigen sich gleichwohl ähnlich offen, flexibel und integrativ wie die Migrationsphänomene selbst, die oft erst in der Rückschau mit distinkten, konfessionell konnotierten Gruppeneigenschaften versehen worden sind. Dabei ist festzuhalten, dass es sich bei konfessionellen Migrationen zwar um eine spezielle Schnittmenge frühneuzeitlicher Wanderungsphänomene handelt, dass es aber im Einzelfall nicht leicht ist, von ›dem‹ Typus der Konfessionsmigration zu sprechen. Jede frühneuzeitliche Migration hat konfessionelle beziehungsweise konfessionspolitische Implikationen für Abwanderungs-, Aufnahmegesellschaft und nicht zuletzt für die Migranten selbst. Keine Migration lässt sich aber ausschließlich auf den konfessionellen Faktor reduzieren.

Ulrich Niggemann

›Peuplierung‹ als merkantilistisches Instrument: Privilegierung von Einwanderern und staatlich gelenkte Ansiedlungen 1 Merkantilismus und Kameralismus in Deutschland Die Perzeption von Migration durch Fürsten und Staaten war stets mitgeprägt von sich verändernden Diskursen. Ob Migranten als unerwünscht abgelehnt oder als Bereicherung willkommen geheißen wurden, hing nicht zuletzt auch von der Selbstwahrnehmung des aufnehmenden Staates, seinen politischen Zielsetzungen und den grundlegenden Konzeptionen und Vorstellungen von einer funktionierenden Gesellschaft ab. Im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts erwiesen sich insbesondere die wirtschaftspolitischen Leitvorstellungen, die man trotz ihrer Diversität unter den Begriffen ›Merkantilismus‹ oder ›Kameralismus‹ zusammenfassen kann, als ausgesprochen förderlich für eine staatliche Migrationspolitik. Zwar lösten die wirtschaftspolitischen Maximen nicht übergangslos und vollständig die Konzepte konfessioneller Homogenität ab, wie die zahlreichen konfessionspolitischen Repressionsmaßnahmen und Ausweisungen bis ins 19. Jahrhundert hinein deutlich machen, doch bildeten sie in vielen Fällen ein Gegengewicht und eine Möglichkeit der Überwindung konfessioneller Einheitsideale. Die Begriffe ›Merkantilismus‹ und ›Kameralismus‹ stehen für eine Vielzahl durchaus unterschiedlicher Theorien und Rezepte in der praktischen Wirtschaftspolitik und Staatsführung, wie sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorherrschend wurden.1 Ähnlich wie beim eng damit zusammenhängenden Begriff des ›Absolutismus‹ handelt es sich beim ›Merkantilismus‹ um eine Negativprägung, die aus der Rückschau erfolgte, und zwar durch den schottischen Philosophen und Vordenker des Liberalismus Adam Smith (›An Inquiry into the Nature and Causes of

|| 1 Dazu einführend z.B. Rainer Gömmel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800, München 1998; Friedrich-Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, 3 Bde., Paderborn 1991–2003, hier Bd. 1, S. 756–783; Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973; Hans-Werner Holub, Eine Einführung in die Geschichte des ökonomischen Denkens, 4 Bde., Münster/Wien 2005–2007, hier Bd. 2; Thomas Sokoll, Kameralismus, in: Friedrich Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart 2007, Sp. 290–299; sowie die Beiträge bei Moritz Isenmann (Hg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte, Stuttgart 2014. Grundlegend immer noch Eli F. Heckscher, Der Merkantilismus, 2 Bde., Jena 1932.

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the Wealth of Nations‹, 1776).2 Und ähnlich wie beim Absolutismusbegriff folgte in Deutschland eine positive Umbildung, insbesondere durch Gustav von Schmoller.3 Dennoch ist dem Merkantilismus in der neueren Forschung bislang eine mit dem ›Absolutismus‹ vergleichbare Dekonstruktion erspart geblieben. Vereinfacht dargestellt bezeichnet ›Merkantilismus‹ eine zumeist auf Handel und Gewerbe ausgerichtete Wirtschaftsauffassung, die von der prinzipiellen Begrenztheit der monetären und natürlichen Ressourcen ausging und somit bemüht war, Geld und Rohstoffe möglichst im Land zu halten und auf Kosten der konkurrierenden Mächte zu vermehren. Exportiert werden sollten vor allem Fertigprodukte, die im Gegenzug Geld beziehungsweise Edelmetall ins Land brachten. Der Merkantilismus war dabei ganz deutlich staatswirtschaftlich geprägt, das heißt sein Ziel lag vornehmlich in der Mobilisierung aller Ressourcen für Staatszwecke – eine Tendenz, die durch die Aufklärung noch verstärkt wurde.4 Für die deutschen Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg hat sich der Begriff ›Kameralismus‹ eingebürgert, der sich von der landesherrlichen Kammer herleitet. ›Kameralismus‹ verweist auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen der ›guten Policey‹, zu denen neben Aspekten der Staatsverwaltung insbesondere auch die Steuerpolitik, die umfassende (zumeist stark dirigistische) Förderung von Handel und Gewerbe, der Landesausbau sowie || 2 Jüngste Ausgabe: Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg.v. Jonathan B. Wight, Petersfield 2007. Zur Begriffsbildung durch Smith z.B. Blaich, Epoche, S. 3; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 758; und mit Hinweis auf den Einfluß der französischen Physiokraten Isenmann, Einleitung, in: ders. (Hg.), Merkantilismus, S. 9–17, hier S. 9f. 3 Gustav von Schmoller, Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung: städtische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, Ndr. Hildesheim/New York 1974, S. 1–60. Zur Auseinandersetzung mit dem Merkantilismus auch Blaich, Epoche, S. 4; Erhard Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974, S. 1–24; und zum Vergleich mit dem Absolutismusbegriff Thomas Simon, Merkantilismus und Kameralismus. Zur Tragfähigkeit des Merkantilismusbegriffs und seiner Abgrenzung zum deutschen ›Kameralismus‹, in: Isenmann (Hg.), Merkantilismus, S. 65–82, hier S. 65. 4 Ganz deutlich etwa bei Philipp Wilhelm von Hörnigk (1640–1714); vgl. dazu Kurt Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus, Jena 1914, Ndr. Frankfurt a.M. 1966, S. 278–294; Dittrich, Kameralisten, S. 66– 68; Heinz-Joachim Brauleke, Leben und Werk des Kameralisten Philipp Wilhelm von Hörnigk. Versuch einer wissenschaftlichen Biographie, Frankfurt a.M. 1978, hier besonders S. 98–104. Zusammenfassend Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 757f. und 765f.; Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2 Bde., München 1977–1981, hier Bd. 1, S. 311f.; Gömmel, Entwicklung, S. 44– 50; Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime, 2. Aufl. Göttingen 1999, S. 100; sowie Karsten Müller-Scheeßel, Jürgen Findorff und die kurhannoversche Moorkolonisation im 18. Jahrhundert, Hildesheim 1975, S. 1f.; Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002, S. 24f.; Blaich, Epoche, S. 170–178.

›Peuplierung‹ als merkantilistisches Instrument | 173

die Bevölkerungspolitik gehörten.5 Wirtschaft wurde damit im 17. Jahrhundert erstmals konsequent als ein Faktor der Politik wahrgenommen. Im wirtschaftlichen Sinne folgten die Kameralisten dabei den Prinzipien des Merkantilismus.6 Eine zentrale Rolle innerhalb der kameralistischen Staats- und Wirtschaftstheorien kam bis zum Erscheinen von Thomas Robert Malthus’ ›Essay on the Principle of Population‹ (1798) der Maxime von der Bevölkerungsvermehrung zu, denn von ihr versprachen sich die Obrigkeiten eine Erhöhung der Produktion und des Konsums, was die Hebung des allgemeinen Wohlstands und damit auch der Steuerleistung zur Folge haben sollte.7 Auch der Mensch wurde somit zur Ressource, die staatlicher Planung unterworfen wurde. Bei der Entwicklung kameralistischer Auffassungen, in denen Wirtschaft vor allem als Teil der Politik behandelt wurde, kam der Rezeption italienischer Staatsräsondiskurse eine zentrale Bedeutung zu. Daneben war das Werk Jean Bodins, das die Nützlichkeit einer hohen Bevölkerungszahl betonte und später in der Praxis des französischen ›Colbertinismus‹ eine wichtige Rolle spielte, von großem Gewicht auch für die deutsche Diskussion.8 In Anlehnung an diese Vorgänger, aber zugleich deutlich über diese hinausgehend lehrte besonders die deutsche politische Theorie seit dem frühen 17. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen dem Bevölkerungsreichtum eines Landes und dessen Wohlstand. Nach Denkern wie Jakob Bornitz (1560–1625) und Hermann Latherus (1583–1640)9 war es insbesondere Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), der die Entwicklung popu-

|| 5 Blaich, Epoche, S. 16–18; Dittrich, Kameralisten, S. 30–34; Kellenbenz, Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 297; Gömmel, Entwicklung, S. 42; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 763f.; Fuhrmann, Volksvermehrung, S. 24f.; Sokoll, Kameralismus, Sp. 294–298; Simon, Merkantilismus. Auf staatlichen Dirigismus zielen die meisten der kameralistischen Theoretiker ab; sehr deutlich etwa Wilhelm von Schröder (1640–1688); vgl. Dittrich, Kameralisten, S. 63–66. 6 Anton Tautscher, Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Wilhelm Gerloff/Fritz Neumark (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl. Tübingen 1952, S. 384–415, hier S. 387f.; Dittrich, Kameralismus, S. 32f. 7 Vgl. Fuhrmann, Volksvermehrung, S. 23; Gömmel, Entwicklung, S. 44f.; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 775; Sokoll, Kameralismus, Sp. 295; Márta Fata, Migration im kameralistischen Staat Josephs II. Theorie und Praxis der Ansiedlungspolitik in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina von 1768 bis 1790, Münster 2014, S. 21–29. 8 Zu Bodin z.B. Dittrich, Kameralisten, S. 38f.; Holub, Einführung, Bd. 2, S. 150–153. Zum Merkantilismus Colberts Pierre Deyon, Le mercantilisme, Paris 1969, S. 22–30; Holub, Einführung, Bd. 2, S. 154–159. Zur Bedeutung des italienischen Staatsräsondiskurses und seiner Rezeption in Deutschland vgl. Justus Nipperdey, Ansätze zur Ökonomisierung in der Politiktheorie des frühen 17. Jahrhunderts, in: Hubertus Busche (Hg.), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400-1700), Hamburg 2011, S. 105–116; ders., Bevölkerungstheorie und Konfessionsmigration in der Frühen Neuzeit, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg.v. Institut für Europäische Geschichte, Mainz 2010, URL: http://www.ieg-ego.eu/nipperdeyj-2010-de (Zugriff 13.9.2012); ders., Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012. 9 Vgl. zu diesen Nipperdey, Ansätze.

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lationistischer Ideen in Deutschland vorantrieb. In seinem Werk ›Teutscher Fürsten Stat‹, das 1656 in Frankfurt am Main erstmals erschien und zahlreiche Neuauflagen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erlebte, wies Seckendorff darauf hin, dass »auff der Menge wohlgenehrter Leute der grösseste Schatz des Landes besteht«.10 Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Hermann Conring (1606–1681), Johann Joachim Becher (1635–1682), Theodor Ludwig Lau (1670–1740), Johann Heinrich Gottlob von Justi (1711–1771) oder Joachim Georg Darjes (1714–1791), um nur einige zu nennen.11 Neusiedler und Kolonisten zu gewinnen, wurde als Mittel zur Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse wie auch der Staatseinnahmen daher von einigen Kameralisten explizit empfohlen. Generell wurde zu diesem Zweck auch religiöse Toleranz gefordert, zumal Vorbilder wie die Niederlande als Beispiele dafür angeführt wurden, dass ein Staat, in dem verschiedene Konfessionen geduldet wurden, zu wirtschaftlicher Blüte gelangen konnte.12 Zu den Empfehlungen gehörte auch, Einwanderer mittels besonderer Privilegien anzulocken.13 Privilegien sind eine in

|| 10 Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten Stat, Frankfurt a.M. 1656 (zahlreiche weitere Auflagen), hier zitiert nach Stefi Jersch-Wenzel, Juden und ›Franzosen‹ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus, Berlin 1978, S. 42. Vgl. zur Rolle Seckendorffs in der Entwicklung populationistischer Überlegungen auch Dittrich, Kameralisten, S. 71; Zielenziger, Kameralisten, S. 345, 361f.; Hans-Christof Kraus, Kriegsfolgenbewältigung und ›Peuplierung‹ im Denken deutscher Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Matthias Asche/Michael Herrmann/Ulricke Ludwig/Anton Schindling (Hg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S. 265–279; Nipperdey, Erfindung, S. 282–294. Zu Seckendorff insgesamt Michael Stolleis, Veit Ludwig von Seckendorff, in: ders. (Hg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 148–171. 11 Zu diesen und weiteren Zielenziger, Kameralisten, S. 111–413; Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977, S. 43–51 und 60–91; Dittrich, Kameralisten, passim; Holub, Einführung, Bd. 2, S. 201–249; Kraus, Kriegsfolgenbewältigung; und speziell zu Becher: Herbert Hassinger, Johann Joachim Becher 1635–1682. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus, Wien 1951. Eine ganz ähnliche Auffassung findet sich bei Johann H.G. von Justi, Gesammelte Politische und Finanz-Schriften, Kopenhagen/Leipzig 1761, wiedergegeben bei Fuhrmann, Volksvermehrung, S. 28. Lau befürwortete zwecks Bevölkerungsvermehrung sogar die Polygamie; vgl. Dittrich, Kameralisten, S. 74. 12 Vgl. hierzu insbesondere Erich Hassinger, Wirtschaftliche Motive und Argumente für religiöse Duldsamkeit im 16. und 17. Jahrhundert, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 49. 1958, S. 225– 245; ders., Religiöse Toleranz im 16. Jahrhundert. Motive – Argumente – Formen der Verwirklichung, Basel/Stuttgart 1966; Nipperdey, Bevölkerungstheorie. Diese Argumentation wurde im Zusammenhang mit größeren Verfolgungswellen auch in der Publizistik vorgebracht; vgl. am Beispiel der Hugenottenverfolgung in Frankreich Ulrich Niggemann, Die Hugenottenverfolgung in der zeitgenössischen deutschen Publizistik (1681–1690), in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 32. 2005, Bd. 2, S. 59–108, hier S. 88f. 13 Hierzu besonders Martin Preetz, Die deutschen Hugenotten-Kolonien. Ein Experiment des Merkantilismus, Diss. Jena 1930, S. 8–10; Jersch-Wenzel, Juden, S. 41f.; Fuhrmann, Volksvermehrung, S. 44–49; Kraus, Kriegsfolgenbewältigung.

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der Vormoderne durchaus typische Erscheinung, die keineswegs auf die hier zu betrachtende Epoche zwischen Westfälischem Frieden und den Umbrüchen der Napoleonischen Zeit zu beschränken ist. Es handelte sich beim Privileg um ein vom Landesherrn erteiltes ›ius singulare‹, ein individuelles Einzelrecht im Gegensatz zum allgemein geltenden Recht. Privilegien stellten also Ausnahmen vom geltenden Recht dar, besaßen jedoch gleichzeitig selbst Gesetzeskraft. Typischerweise erschien das – oft auch unter den Bezeichnungen ›Freiheiten‹, ›Concessions‹ oder ›Begnadigung‹ firmierende – Privileg in Form einer Privilegienurkunde.14 Die Lehren der entstehenden Kameralwissenschaften drangen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkt in das konkrete Regierungshandeln ein. Dies ist zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass nun vermehrt Räte mit universitärer Ausbildung die Schlüsselpositionen in den Regierungsgremien einnahmen. Diese zumeist juristisch ausgebildeten Politiker waren in der Regel auch mit den neuen Lehren der Ökonomie vertraut, vor allem aber waren sie es gewohnt, Situationen rational zu analysieren und planend einzugreifen.15 Die erheblichen Zerstörungen und Menschenverluste, zu denen der Dreißigjährige Krieg in zahlreichen Regionen des Heiligen Römischen Reichs geführt hatte, verstärkten in vielen deutschen Staaten den Druck, durch planvolles Handeln den Wiederaufbau voranzutreiben und die Bevölkerungsverluste auszugleichen.16 Zugleich stiegen in den Jahrzehnten nach 1648 die Ausgaben der Fürsten um ein Vielfaches, da zahlreiche

|| 14 Zur Definition Heinz Mohnhaupt, Privatrecht in Privilegien, in: Vorträge zur Geschichte des Privatrechts in Europa, Frankfurt a.M. 1981, S. 58–75, hier S. 59f.; ders., Untersuchungen zum Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius Commune, 4. 1972, S. 71–121, hier S. 74–83; ders., Privileg, neuzeitlich, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 2005–2011; sowie Barbara Dölemeyer, Die Aufnahmeprivilegien für Hugenotten im europäischen Refuge, in: dies./Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Frankfurt a.M. 1997, S. 303–328, hier S. 305. Für das Mittelalter auch Hermann Krause, Privileg, mittelalterlich, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 1999–2005. 15 Schon für das 16. Jahrhundert: Maximilian Lanzinner, Konfessionelles Zeitalter 1555–1618, in: ders./Gerhard Schormann, Konfessionelles Zeitalter/Dreißigjähriger Krieg, Stuttgart 2004, S. 3–203, hier S. 81–83. 16 Vgl. zu den Bevölkerungsverlusten in der Folge des Dreißigjährigen Krieges Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, 4. Aufl. Stuttgart/New York 1979 (Erstauflage 1939), S. 5–63. Die von Franz ermittelten Angaben hinsichtlich der demographischen Situation nach dem Krieg wurden von neueren Arbeiten im Wesentlichen bestätigt; vgl. Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800, München 1994, S. 14–18; Paul Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600–1700, Stuttgart 1999, S. 36–39; Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763, Berlin 1989, S. 71f.; und zu Brandenburg: Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 40–54. Zur kameralistischen Politik zusammenfassend auch Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, Stuttgart 2006, S. 172–188.

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Territorien nun – nach den Erfahrungen des Krieges – darangingen, ein stehendes Heer und eine effektivere Staatsverwaltung aufzubauen.17 Der im Westfälischen Frieden hinzu gewonnene Handlungsspielraum zumindest der größeren Territorien des Reichs schuf zudem – der Logik der Zeit entsprechend – ein verstärktes Repräsentationsbedürfnis, das sich in einer Vergrößerung der Hofhaltung, in zahlreichen Bauprojekten und prunkvollen Festlichkeiten niederschlug.18 Mit dieser Entwicklung, die keineswegs, wie manchmal noch zu lesen ist, persönlicher ›Verschwendungssucht‹ der Fürsten geschuldet ist, sondern den zeittypischen Formen der Visualisierung von Herrschaft, entstand zugleich ein erhöhter Finanzbedarf, der sich nur durch ein optimiertes Steueraufkommen und damit durch einen allgemeinen Wohlstand im Land decken ließ. Patriarchalische Fürsorge für die Untertanen verband sich so – durchaus in Übereinstimmung mit den Lehren Bechers und Schröders – mit der Suche nach immer neuen Finanzquellen und dem Streben nach einer möglichst umfassenden Ressourcenabschöpfung.19 Obwohl zahlreiche deutsche Territorien bevölkerungspolitische Akzente setzten, hat die Forschung sich stets am intensivsten mit der Kolonisationspolitik Brandenburg-Preußens befasst. Sicher entspricht dies zumindest teilweise der tatsächlichen Vorreiterrolle des Kurfürstentums seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Nimmt man den ebenfalls gut erforschten deutschen Südwesten hinzu, so wird deutlich, dass der Fokus der Forschung offenbar auf den Regionen lag, in denen Migration aufgrund der Zerstörungen durch den Dreißigjährigen Krieg zu einem Massenphänomen wurde. Dies wird sich auch in der vorliegenden Darstellung widerspiegeln.

2 ›Peuplierung‹ nach dem Dreißigjährigen Krieg Nach den verheerenden Zerstörungen und Bevölkerungsverlusten durch den Dreißigjährigen Krieg und die mit ihm verbundenen Hungersnöte und Seuchenzüge setzte vielerorts eine demographisch-kompensatorische Migration ein, das heißt eine Wanderungsbewegung aus den kriegsverschonten Gebieten mit Bevölkerungs-

|| 17 Vgl. z.B. Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime, 2. Aufl. Göttingen 1999, S. 98; Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800, Stuttgart 2003, S. 56–62. 18 Vgl. z.B. Johannes Kunisch, Funktion und Ausbau der kurfürstlich-königlichen Residenzen in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus, in: Peter-Michael Hahn/Kristina Hübener/ Julius H. Schoeps (Hg.), Potsdam. Märkische Kleinstadt – europäische Residenz. Reminiszenzen einer eintausendjährigen Geschichte, Berlin 1995, S. 61–83, hier S. 61–69. 19 Zu Becher und Schröder vgl. Dittrich, Kameralisten, S. 64; und Brückner, Staatswissenschaften, S. 48. Allgemein dazu: Hans-Joachim Röpke, Die Wachstumstheorie der deutschen Merkantilisten, Diss. Marburg 1971, S. 80f.

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überschuss in die stark vom Krieg betroffenen Regionen.20 Meist gingen diesen kleineren, oft aus dem Nahbereich kommenden Wanderungsbewegungen keine systematischen Anwerbungen voraus. Dennoch ist davon auszugehen, dass die von Bevölkerungsverlusten betroffenen Staaten solchen Einwanderern Vergünstigungen boten, um ihre Ansiedlung zu erleichtern. In Brandenburg-Preußen etwa spielten Kolonisten aus den weniger verwüsteten Gebieten Holsteins, Lüneburgs, Braunschweigs und Mecklenburgs eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau.21 Im Süden Deutschlands waren es hingegen vielfach Neusiedler aus den Alpenländern.22 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass in vielen bereits stark entvölkerten Gebieten aufgrund der akuten Not die Abwanderung weiter anhielt und auch manche Neuansiedlungen nicht von Dauer waren.23 In vielen Fällen versuchten Landesherren, diese kontinuierliche Abwanderung durch Abwerbungsverbote und ähnliche Maßnahmen zu unterbinden und zugleich den Zuzug zu forcieren, indem sie verschiedene Anreize für die Niederlassung boten. Dies gilt für den Zuzug neuer Bevölkerungsgruppen allgemein sowie speziell für bestimmte Städte oder Landstriche, deren Wachstum gezielt gefördert werden sollte. In der vom Dreißigjährigen Krieg stark getroffenen Kurpfalz erließ Kurfürst Karl Ludwig beispielsweise bereits im Mai 1650 ein Edikt, das potenzielle Zuzügler aufforderte, sich in der Pfalz nieder-

|| 20 Dazu die – freilich in vielen Punkten aufgrund ihrer an nationalsozialistischer Ideologie angelehnten Grundtendenz problematische – Arbeit von Franz, Krieg, S. 64–103; sowie Matthias Asche, Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Einleitende Beobachtungen zum Verhältnis von horizontaler und vertikaler Mobilität in der kriegsgeprägten Gesellschaft Alteuropas im 17. Jahrhundert, in: Asche/Herrmann/Ludwig/Schindling (Hg.), Krieg, S.11–36, und Jochen Oltmer, Migration, Krieg und Militär in der Frühen und Späten Neuzeit, in: ebd., S. 37–55. Außerdem der Beitrag von Matthias Asche in diesem Band. 21 Franz, Krieg, S. 98–100; außerdem Asche, Neusiedler, S. 157–165, 185–194. 22 Vgl. generell dazu Franz, Krieg, S. 64–103; sowie Matthias Asche, Schweizer Protestanten aus ländlichen Regionen im Elsaß, in Südwestdeutschland und in Brandenburg-Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 969–973, hier S. 969–971; und Eberhard Fritz, Kriegsbedingte Migration als Forschungsproblem. Zur Einwanderung aus Österreich und der Schweiz nach Südwestdeutschland im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Asche/Herrmann/Ludwig/Schindling (Hg.), Krieg, S. 241–249. 23 Vgl. Franz, Krieg, passim. Zur fortgesetzten Auswanderung etwa aus der Kurpfalz Volker Sellin, Die Finanzpolitik Karl Ludwigs von der Pfalz. Staatswirtschaft und Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart 1978, S. 100f. Zu den mäßigen Erfolgen der frühen Siedlungsversuche in Brandenburg Asche, Neusiedler, S. 263–265, 273f.; Werner Grieshammer, Studien zur Geschichte der Réfugiés in Brandenburg-Preußen bis 1713, Berlin 1935, S. 27; Eckart Birnstiel/Andreas Reinke, Hugenotten in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel/Barbara John (Hg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 16–152, hier S. 39. Vgl. auch Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Bde., Göttingen 1971–1978, hier Bd. 1, S. 174f., und Walter Kuhn, Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit, 2 Bde., Köln/Graz 1955–1957, hier Bd. 2, S. 101f.

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zulassen.24 Auch Kurbrandenburg – sicher eines der am stärksten kriegsverheerten Gebiete im Reich – bemühte sich mit solchen Einwandererprivilegien um die Wiederbesiedlung, wobei in den Edikten der 1660er Jahre zunächst vor allem der Wiederaufbau der Städte im Mittelpunkt stand.25 Meist handelte es sich um eine Folge mehrfach wiederholter Edikte, im Zuge derer bisweilen auch die ursprünglichen Angebote verbessert wurden.26 Allgemein üblich waren – wie sich auch in der Folgezeit immer wieder zeigte – eine Anzahl von Steuerfreijahren sowie die kostenlose Bereitstellung von Baumaterial durch die Landesherrschaft.27 Auch Rückkehrer wurden in diesem Zusammenhang angesprochen und die Restitution ihrer Güter geregelt.28 Obwohl die Forschung sich hinsichtlich einer aktiven Bevölkerungspolitik meist auf protestantische Territorialstaaten beschränkt hat, sind durchaus auch Beispiele einer planmäßigen Wiederbesiedlung aus katholischen Territorien bekannt. So erließ der Kurfürst und Erzbischof von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, bereits im Oktober 1648 ein Edikt, das niederlassungswilligen Neusiedlern im Kurerzstift Privilegien und Freiheiten versprach und das während des Krieges geflüchtete Landeskinder zur Rückkehr aufforderte.29 Entsprechende Maßnahmen wurden unter der Ägide Schönborns auch im Fürstbistum Würzburg ergriffen.30 || 24 Vgl. Gerhard Biskup, Die landesfürstlichen Versuche zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Kurpfalz nach dem 30jährigen Kriege 1648–1674. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Pfalz, Diss. Frankfurt a.M. 1930, S. 12; Sellin, Finanzpolitik, S. 104f., und zum Gesamtzusammenhang ebd., S. 97–115. Zur Herkunft der Einwanderer auch Franz, Krieg, S. 65–68. Zu den Bevölkerungsverlusten der Kurpfalz im Dreißigjährigen Krieg ganz knapp Sellin, Finanzpolitik, S. 98f.; Joachim Heinz, »Bleibe im Lande, und nähre dich redlich!« Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Kaiserslautern 1989, S. 20; ausführlich zum Oberamt Lautern: Ernst Christmann, Dörferuntergang und -wiederaufbau im Oberamt Lautern während des 17. Jahrhunderts, Otterbach/Kaiserslautern 1960. 25 Edikt Kf. Friedrich Wilhelms, Cölln a.d. Spree, 19. Januar 1661, abgedruckt bei Christian O. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, 6 Bde., Berlin/Halle 1737–1755, hier Bd. 5/1, Sp. 367–368. Weitere Edikte aus den Jahren 1667 und 1669 ebd., Sp. 367–370, 369–370, 369–372. Vgl. zu diesen Maßnahmen auch Jersch-Wenzel, Juden, S. 31f.; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 2, S. 54; Meta Kohnke, Das Edikt von Potsdam. Zu seiner Entstehung, Verbreitung und Überlieferung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus, 9. 1985, S. 241–275, hier S. 249; Birnstiel/Reinke, Hugenotten, S. 39. 26 So auch in der Kurpfalz; vgl. Biskup, Versuche, S. 13; Sellin, Finanzpolitik, S. 104f.; und allgemein zur Bevölkerungspolitik der Kurpfalz Albrecht Ernst, Die reformierte Kirche der Kurpfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1649–1685), Stuttgart 1996, S. 23. 27 Vgl. für die Kurpfalz Biskup, Versuche, S. 12f.; Sellin, Finanzpolitik, S. 107f. Zu Kurbrandenburg vgl. Jersch-Wenzel, Juden, S. 31f.; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 2, S. 54; Kohnke, Edikt, S. 249. 28 Biskup, Versuche, S. 13–15; Sellin, Finanzpolitik, S. 104–106. 29 Vgl. dazu Georg Mentz, Johann Philipp von Schönborn, Kurfürst von Mainz, Bischof von Würzburg und Worms 1605–1673, 2 Bde., Jena 1896–1899, hier Bd. 2, 145f. 30 Ebd., 146f. Daß der Fokus der Forschung stark auf protestantische Migrantengruppen gerichtet ist, hat sicher auch damit zu tun, daß katholische Einwanderer keine eigenständigen Kirchenge-

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Neben solchen allgemeinen Einwanderungsaufforderungen bemühte sich vor allem der Kurfürst von Brandenburg auch direkt um die Anwerbung besonders erwünschter Gruppen. Seit 1646 wurden mit Hilfe niederländischer Siedler ländliche Kolonien angelegt und wüst gefallene Dörfer wiederbesiedelt. Insbesondere im havelländischen Kreis sowie ab 1649 und 1652 in den Ämtern Zehdenick, Liebenwalde, Fehrbellin, Chorin, Tangermünde und Gramzow entstanden auf diese Weise Niederlassungen.31 Auch für die Neumark und Preußen wurden Siedler aus den Niederlanden angeworben.32 Diese Kolonisten erhielten anstelle allgemeiner Privilegien zumeist spezielle Ansiedlungskontrakte, die freilich ganz ähnliche Zusagen enthielten wie die Privilegienedikte. Die Niederländer erhielten Steuerfreijahre, die persönliche Freiheit und die Freiheit von Frondiensten. Sie konnten einen eigenen Richter für die Niedergerichtsbarkeit bestellen und eigene niederländisch-reformierte Pfarrer berufen. Vermutlich durften sie ihre Kirchengemeinden sogar nach ihrer gewohnten presbyterial-synodalen Kirchenverfassung verwalten.33 Während auf diese Weise bis zum Beginn der 1680er Jahre die meisten Bauernstellen in der Prignitz wiederbesetzt werden konnten, hat Matthias Asche in seiner umfassenden Untersuchung zeigen können, dass durch erneute Kriegsereignisse in der Uckermark und im Land Ruppin die Ansätze mehrfach wieder zunichte gemacht wurden, sodass hier erst mit der Hugenotten- und Schweizerkolonisation ab 1685 die Mehrzahl der ländlichen Stellen wieder besetzt wurde.34 Auch der Wiederaufbau zerstörter und stark entvölkerter Städte zog sich oft über Jahrzehnte hin und war vielerorts noch zum Zeitpunkt der Hugenotteneinwanderung ab 1685 nicht abgeschlossen. Ein Beispiel dafür ist Magdeburg, das 1631

|| meinden als Träger einer Exulantenidentität herausbildeten; vgl. dazu Bettina Braun, Katholische Konfessionsmigration im Europa der Frühen Neuzeit – Stand und Perspektiven der Forschung, in: Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010, S. 75– 112. 31 Dazu bereits Max Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Colonisation, Leipzig 1874, S. 36–39; Kuhn, Ostsiedlung, S. 101f.; Grieshammer, Studien, S. 19–28; Franz, Krieg, S. 100; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 173–176. Eine kurze Zusammenfassung der jüngeren Forschung bieten Birnstiel/Reinke, Hugenotten, S. 39f.; Wolfgang Neugebauer, Zentralprovinz des Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 68; Dagmar Freist, Südniederländische calvinistische Flüchtlinge in Europa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 1019–1029, hier S. 1023. Umfassend und auf dem neuesten Forschungsstand Asche, Neusiedler, S. 261–285, 431–434. 32 Hinweise bei Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 173; Franz, Krieg, S. 100; Asche, Neusiedler, S. 264. 33 Grieshammer, Studien, S. 23–27; Asche, Neusiedler, S. 431–434. 34 Vgl. dazu Asche, Neusiedler, S. 173–175, 195–205 und 290–302; Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1992, S. 374– 380.

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durch die Truppen Tillys verwüstet worden war.35 Noch 1722 wurden in der Stadt 76 wüste Stellen gezählt, und auch die Bevölkerung, die vor dem Krieg 35.000 zählte, hatte 1681 erst wieder einen Stand von 8.000 erreicht.36 Schwer getroffen waren auch Berlin und andere kurbrandenburgische Städte. Die Einwanderungsedikte seit 1661 versprachen daher insbesondere Einwanderern in die Städte spezielle Vergünstigungen. Ähnliches lässt sich über das kurpfälzische Mannheim sagen. Nach der vollständigen Zerstörung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg erließ der aus dem Exil zurückgekehrte Kurfürst Karl Ludwig zunächst einen allgemeinen Aufruf, sich in Mannheim anzusiedeln. Sowohl in den kurbrandenburgischen Edikten als auch in den 1652 für Mannheim erlassenen Privilegien finden sich die üblichen Elemente: Zollfreie Einfuhr von mitgebrachten Gütern, Freiheit von der Leibeigenschaft, Steuerfreijahre, Zunftfreiheit für Handwerker und Manufakturisten oder kostenloser Eintritt in die Zünfte, Einquartierungsfreiheit, öffentliche Ausübung der reformierten Konfession (im Falle Mannheims sogar die volle Religionsfreiheit). Hinzu kamen kostenlose Grundstücke und Lieferung von Baumaterialien.37 Außerdem bemühte sich der Pfälzer Kurfürst um die Einwanderung wohlhabender Juden aus Spanien und Portugal, denen er eine günstige Konzession erteilte.38 Im September 1660 erlangten auch deutsche Juden eine Ansiedlungskonzession.39 Sie erhielten zwölf Jahre Freiheit vom üblichen Juden-Schutzgeld, durften einen Rabbi, einen Vorsänger und einen Schulmeister einstellen sowie Handel und Gewerbe betreiben. Dafür waren sie verpflichtet, nach Ablauf der Freijahre ein Schutzgeld zu bezahlen sowie innerhalb des ersten Jahres ihrer Ansiedlung ein Haus nach vorgegebenem Muster || 35 Dazu Helmut Asmus, 1200 Jahre Magdeburg, 2 Bde., Halberstadt 2002, hier Bd. 1, S. 543–561; Mathias Tullner, Das Trauma Magdeburg – Die Elbestadt im Dreißigjährigen Krieg, in: Matthias Puhle (Hg.), »… gantz verheeret!« Magdeburg und der Dreißigjährige Krieg, 2. Aufl. Halle 1998, S. 13–24, hier S. 20f.; Michael Kaiser, Die ›Magdeburgische Hochzeit‹ (1631). Gewaltphänomene im Dreißigjährigen Krieg, in: Eva Labouvie (Hg.), Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln 2004, S. 195–213. 36 Vgl. Henri Tollin, Geschichte der französischen Colonie zu Magdeburg, 3 Bde., hier Bd. 2, S. 256; und Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681–1697), Köln 2008, S. 155 mit Anm. 185. 37 Druck des brandenburgischen Ansiedlungsedikts von 1661: Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 5/1, Sp. 367–368. Vgl. dazu Jersch-Wenzel, Juden, S. 31f.; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 2, S. 54; Kohnke, Edikt, S. 249; Birnstiel/Reinke, Hugenotten, S. 39. Druck der Mannheimer Privilegien: Henri Tollin, Urkunden zur Geschichte hugenottischer Gemeinden in Deutschland: Mannheimer Urkunden, Magdeburg 1898, S. 1–23. Vgl. ders., Geschichte, Bd. 1, S. 245–249; Johannes Fischer, Die Pfälzer Kolonie zu Magdeburg. Zum Andenken an ihre vor 250 Jahren erfolgte Begründung, Magdeburg 1939, S. 9; Ernst, Kirche, S. 62; Helmut Friedmann, Alt-Mannheim im Wandel seiner Physiognomie, Struktur und Funktionen (1606–1965), Bad Godesberg 1968, S. 16f. 38 Vgl. dazu Karl Otto Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650–1945, Stuttgart 1984, S. 13. 39 Ebd., S. 13–15.

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zu erbauen.40 Nachdem Mannheim 1689 abermals zerstört worden war, kehrten nach der Erneuerung der Konzession 1698 aufgrund der relativ günstigen Privilegien viele der vor dem Krieg geflüchteten Juden in die Stadt zurück.41 Noch bei der Ansiedlung von ›Glaubensflüchtlingen‹ gegen Ende des 17. Jahrhunderts spielte der Aspekt des Wiederaufbaus der Städte eine zentrale Rolle. Dies gilt im 17. Jahrhundert in besonderer Weise für die bekannteste städtische Einwanderergruppe, die – freilich intern genauer zu differenzierenden – Hugenotten.42 Ein Blick auf die bekannten Privilegien für diese Einwanderer zeigt bereits deutlich, dass städtische Ansiedlungen bevorzugt wurden und dass ein großer Teil der Vergünstigungen und Zugeständnisse gewerbetreibenden Hugenotten in den Städten galt. Insbesondere der Aufbau verfallener Häuser beziehungsweise die Neubebauung leerer Hausstellen wurde durch kostenloses Baumaterial und Zuschüsse gefördert.43 Zugleich wurde der Druck auf die Besitzer verfallener Häuser und unbebauter

|| 40 Privilegientext abgedruckt ebd., S. 13f. 41 Ebd., S. 16–19. 42 ›Hugenotten‹ wird in der neueren Forschung eher als Sammelbegriff für verschiedene Gruppen französisch-sprechender Protestanten gebraucht; vgl. Wilhelm Beuleke, Studien zum Refuge in Deutschland und zur Ursprungsheimat seiner Mitglieder, Obersickte 1966, S. 41–43; Johannes E. Bischoff, Hugenotten und Hugenotten-Nachkommen als städtische Minderheiten, in: Bernhard Kirchgässner/Fritz Reuter (Hg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten, Sigmaringen 1986, S. 115–128, hier S. 116f.; ders., Getrennte Begriffsverwendung, Hugenotten, Hugenotten-Nachkommen, desgleichen Exulanten, Emigranten, Refugiés, Franzosen, erleichtern auch die ›hugenottische‹ Familien- und Bevölkerungs-Forschung, in: Der Deutsche Hugenott, 53. 1989, S. 71–80, hier S. 72f.; Asche, Neusiedler, S. 501–504; und Eberhard Gresch, Die Hugenotten. Geschichte, Glaube und Wirkung, 2. Aufl. Leipzig 2005, S. 29. 43 Zum gewerbeorientierten Zuschnitt der Privilegien vgl. Niggemann, Immigrationspolitik, S. 287f.; ders., Die altständische Antwort auf die soziale Herausforderung Migration: Privilegien als Mittel staatlicher Einwanderungspolitik im Europa der Frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke/Rainer Leng/Peter Scholz (Hg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, S. 183–200, hier S. 195f. Bei den vorgeschlagenen Ansiedlungsorten handelte es sich fast immer um Städte; so etwa Potsdamer Edikt (Art. 3), 29. Oktober 1685, abgedruckt bei Ernst Mengin (Bearb.), Das Recht der französischreformierten Kirche in Preußen. Urkundliche Denkschrift, Berlin 1929, S. 186–196, hier S. 188f.; und »Concessions et privilèges« Lgf. Karls, Kassel, 12. Dezember 1685 (Art. 4), abgedruckt bei Dieter Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit und Wirtschaftspolitik. Hugenotten- und Waldenserprivilegien 1681–1699, Trier 1986, S. 52. Vgl. darüber hinaus die zahlreichen Regelungen für den Aufbau oder die Instandsetzung von Häusern: Potsdamer Edikt Kf. Friedrich Wilhelms (Art. 5f.), 29. Oktober 1685, abgedruckt bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 190f.; Edikt Lgf. Karls (Art. 5), Kassel, 12. Dezember 1685, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 52. Einen Sonderfall stellt das zur Ansiedlung der Hugenotten in Hameln ausgestellte Privilegienedikt Hg. Ernst Augusts, Hannover, 1. August 1690, dar, abgedruckt bei Thomas Klingebiel (Bearb.), Die Hugenotten in den welfischen Landen. Eine Privilegiensammlung, Bad Karlshafen 1994, S. 62–87. Vgl. auch das Privilegienedikt für die ›Pfälzer‹ in Magdeburg: Edikt Kf. Friedrichs III., Gröningen, 25. Mai 1689, gedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum Bd. 6 (Anhang), Sp. 66–72.

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Grundstücke erhöht. Als mit der Einwanderung von Hugenotten, ›Pfälzern‹ und anderen die Möglichkeit zu bestehen schien, die Aufbauarbeit wesentlich zu beschleunigen, wurden für einige Städte ›Baureglements‹ durch den Landesherrn erlassen, die die Besitzer zwingen sollten, ihre Grundstücke zu bebauen oder Häuser instand zu setzen. Ansonsten drohte die Enteignung.44 Die Beispiele Magdeburg, Hameln und Kassel zeigen allerdings, dass es zumeist bei der Drohung blieb, auch weil die Einwanderer häufig selbst nicht in der Lage waren, die Grundstücke zügig zu bebauen.45 Insgesamt lässt sich also feststellen, dass es in den deutschen Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg neben der ungelenkten demographisch-kompensatorischen Migration intensive Bemühungen um eine aktive Bevölkerungspolitik gab. Dabei richteten sich die politischen Maßnahmen einerseits auf die Ressource Mensch selbst, andererseits und eng damit zusammenhängend auf die Wiederbesetzung wüstgefallener Haus- und Hofstellen in den Städten und auf dem Land. Anreize in Form von Privilegien oder speziellen Ansiedlungskontrakten sowie gezielte Anwerbungsmaßnahmen sollten Neusiedler ins Land locken. Die stark kriegszerstörten Territorien der Kurpfalz und Kurbrandenburgs nahmen in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg eine gewisse Vorreiterrolle ein.

3 Ansiedlung von ›Glaubensflüchtlingen‹ als merkantilistische Bevölkerungspolitik Von einer planmäßigen und großangelegten Einwanderungspolitik kann in den meisten deutschen Territorien sicher erst im Kontext der Anwerbung von ›Glaubensflüchtlingen‹ die Rede sein.46 Insbesondere im äußersten Westen des Reichs hatte es || 44 Z.B. »Verordnung daß in Cassel die wüsten Wohnhäusser abgeändert und die ledigen Baustätten nach einem Modell bebauet werden sollen«, erlassen von Lgf. Karl, Kassel, 1. November 1687, abgedruckt in Sammlung fürstlich-hessischer Landesordnungen, Bd. 3, S. 321f. Ähnliches Edikt für Hameln durch Hg. Ernst August, Hannover, 10. September 1696, abgedruckt bei Klingebiel (Bearb.), Hugenotten, S. 88–90. Zu diesem und einem frühen Edikt der Regierung in Hannover auch ders., Weserfranzosen. Studien zur Geschichte der Hugenottengemeinschaft in Hameln 1690–1757, Göttingen 1992, S. 102, 105f. Zu den Edikten Kf. Friedrichs III. und Kg. Friedrich Wilhelms I. für Magdeburg vgl. Tollin, Geschichte, Bd. 2, 302f.; und ders., Hugenottische Topographie von Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 28. 1893, S. 100–140, hier S. 108f. 45 Vgl. dazu Niggemann, Immigrationspolitik, S. 215–217. Vgl. zu Hameln auch Klingebiel, Weserfranzosen, S. 102f. 46 Generell zum Problem der ›Konfessionsmigration‹ Ulrich Niggemann, Glaubensflucht als Migrationstyp? Charakteristika konfessionsbedingter Migration in der Frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 135. 2015, S. 46–68; und der Beitrag von Alexander Schunka in diesem Band. Als Überblick vgl. z.B. Heinz Schilling, Die niederländischen Exulanten des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum

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freilich schon frühzeitig Versuche gegeben, Menschen, die aufgrund ihrer vom Mehrheitsbekenntnis abweichenden religiösen Auffassungen ihre Heimat verlassen wollten, aufzunehmen und gezielt anzusiedeln. Im 16. Jahrhundert waren es zunächst Städte wie Emden, Wesel, Aachen, Frankfurt am Main und Straßburg, die – unter unterschiedlichen Bedingungen – Flüchtlinge aus den Niederlanden und Frankreich aufnahmen und sich dabei auch wirtschaftliche Vorteile erhofften.47 In der Kurpfalz entstanden auf diesem Wege für flämische und wallonische Einwanderer auch ländliche Kolonien, so zum Beispiel die Orte Frankenthal und Schönau (1562).48 Auch Landgraf Moritz von Hessen-Kassel erließ 1604 erstmals ein Edikt, das evangelischen Einwanderern die Ansiedlung in den Städten seines Territoriums erleichtern sollte.49 In Kursachsen wurden seit der Schlacht am Weißen Berg (1620)

|| Typus der frühneuzeitlichen Konfessionsmigrantion, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43. 1992, S. 67–78, hier S. 68f.; Arno Herzig, Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 153–160; Thomas Klingebiel, Migration im frühneuzeitlichen Europa. Anmerkungen und Überlegungen zur Typologiediskussion, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 7. 1997, S. 23–38; Alexander Schunka, Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 56. 2005, S. 547–564, hier S. 550–552; Leslie Page Moch, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, Bloomington/Indianapolis 1992, S. 27f.; Andrew Pettegree, Protestant Migration during the Early Modern Period, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Le Migrazioni in Europa secc. XIII-XVIII, Florenz 1994, S. 441–458. 47 Vgl. Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972; ders., Exulanten (1992), S. 67–78. Knapper zur Einwanderung von Niederländern nach Westdeutschland Heinz Duchhardt, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer. Niederländer, Hugenotten, Waldenser, Salzburger, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 278–287, hier S. 279–281; Thomas Klingebiel, Vorreiter der Freiheit oder Opfer der Modernisierung? Zur konfessionell bedingten Migration im frühneuzeitlichen Europa, in: Christoph Friederich (Hg.), 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen. Vom Nutzen der Toleranz, Nürnberg 1986, S. 21–28, hier S. 24; Rainer Postel, Asyl und Emigration in der Frühen Neuzeit, in: Hans-Wilhelm Eckhardt/Klaus Richter (Hg.), Bewahren und Berichten. Festschrift H.D. Loose, Hamburg 1997, S. 201–224, hier S. 203; und Freist, Flüchtlinge, S. 1021f. 48 Vgl. mit Hinweisen auf die ältere Literatur Asche, Neusiedler, S. 439f.; Dominique GuillemenotEhrmantraut, L’Immigration des Huguenots dans le Palatinat entre 1649 et 1685, in: Guido Braun/Susanne Lachenicht (Hg.), Hugenotten und deutsche Territorialstaaten. Immigrationspolitik und Integrationsprozesse, München 2007, S. 17–34, hier S. 17–19; Dominique Ehrmantraut/Michael Martin, Das Protokollbuch der französisch-reformierten Gemeinde zu Frankenthal 1658–1689, Speyer 2009, S. 253f.; und Freist, Flüchtlinge, S. 1023. 49 Edikt Lgf. Moritz’, o.O., 24. Mai 1604, abgedruckt in Sammlung fürstlich-hessischer LandesOrdnungen, Bd. 1, Kassel 1767, S. 494f. Vgl. dazu auch Franz-Anton Kadell, Die Hugenotten in Hessen-Kassel, Darmstadt/Marburg 1980, S. 293f.; und Fritz Wolff, Die erste französische Gemeinde in Kassel (1615), in: Karl-Hermann Wegner (Hg.), 300 Jahre Hugenotten in Hessen. Herkunft und Flucht, Aufnahme und Assimilation, Wirkung und Ausstrahlung, Kassel 1985, S. 61–83, hier S. 65f.

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und der daraufhin einsetzenden Rekatholisierung Böhmens Tausende von böhmischen Protestanten aufgenommen, ohne dass hier freilich eine umfassende staatliche Lenkung zu erkennen ist. Vielmehr versuchte die kurfürstliche Regierung aus politischen Gründen, zu großes Aufsehen zu vermeiden. Meist wandten sich einzelne Auswanderer oder kleinere Gruppen mit Bittschriften (Suppliken) an den Landesherrn und baten um die Erlaubnis zur Niederlassung.50 Eine wirklich planmäßige Ansiedlung setzte erst nach dem Dreißigjährigen Krieg allmählich ein. In der Kurpfalz stand dabei in der ersten Zeit die Wiederherstellung der alten Fremdengemeinden im Zentrum der Bemühungen. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt der Kolonien allerdings auf das rechte Rheinufer, das vor französischen Übergriffen sicherer schien.51 Seit den 1660er Jahren begann dann jedoch allmählich die Einwanderung französischer Hugenotten, mit denen meist individuelle Ansiedlungskontrakte geschlossen wurden. Nach der Ansiedlung einiger Familien aus der Picardie in Iggelbach folgten die wichtigeren Koloniegründungen in Billigheim und Mörlheim 1664 und 1665.52 Aus Sicht dieser Einwanderer sprach für eine Niederlassung in der Pfalz sicher einerseits die Nähe zur Heimat, andererseits aber auch die Tatsache, dass hier früher bereits Fremdenkolonien bestanden hatten und die Pfalz als reformiertes Aufnahmeland bekannt war. Trotz der Vorzüge der Pfalz kamen in dieser Zeit die ersten Hugenotten auch nach Kurbrandenburg.53 Hier bildete jedoch erst das 1671 durch Kurfürst Friedrich Wilhelm erfolg-

|| 50 Vgl. zur Auswanderung böhmischer Protestanten Georg Loesche, Die böhmischen Exulanten in Sachsen. Ein Beitrag zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges und der Gegenreformation auf archivalischer Grundlage, Wien 1923; Eduard Winter, Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der hussitischen Tradition, Berlin 1955, S. 9–50. Zur Aufnahme in Sachsen Wulf Wäntig, Kursächsische Exulantenaufnahme im 17. Jahrhundert. Zwischen zentraler Dresdner Politik und lebensweltlicher Bindung lokaler Machtträger an der sächsisch-böhmischen Grenze, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 74/75. 2003/2004, S. 133–174, hier S. 137–147; Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2006, S. 53–65 und 103f.; ders., Böhmische Exulanten in Sachsen seit dem 17. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 410–413; und speziell zur Aufnahme in Dresden Frank Metasch, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 2011. 51 Asche, Neusiedler, S. 440; Guillemenot-Ehrmantraut, Immigration, S. 27–33. 52 Vgl. Biskup, Versuche, S. 15; Guillemenot-Ehrmantraut, Immigration, S. 25f.; und Ehrmantraut/Martin, Protokollbuch, S. 255–268. 53 Vgl. zu dieser frühen Hugenotteneinwanderung nach Brandenburg, die als planmäßige Ansiedlung zunächst auf dem Gut des Freiherrn von Schwerin bei Altlandsberg begann, Jean P. Erman/ Pierre Chr. F. Reclam, Mémoires pour servir à l’histoire des réfugiés françois dans les états du Roi, 9 Bde., Berlin 1782–1799, hier Bd. 1, S. 57f. und S. 349–356; Eduard Muret, Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen, unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde, Berlin 1885, S. 5f.; Karl Manoury, Die Geschichte der französischen Kirche in Berlin. Hugenottenkirche 1672–1955, Berlin 1955, S. 1f.; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 2, S. 303; Eckart Birnstiel, Die

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te Aufnahmeangebot für fünfzig aus Wien und Niederösterreich vertriebene jüdische Familien einen eigentlichen Auftakt für die Aufnahme religiös Verfolgter.54 Gelegenheit für eine massenhafte Anwerbung von Einwanderern bot sich dann mit dem großen Exodus der Hugenotten, der im Zuge des verschärften konfessionspolitischen Vorgehens der französischen Regierung seit 1681 und insbesondere nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Oktober 1685 stattfand.55 Gerade bei den Hugenotten zeigt sich, wie wenig sich eine Migrationstypologie bewährt hat, die zwischen ›freiwilliger‹ beziehungsweise ›marktbedingter‹, ›erzwungener‹ sowie ›staatlich gelenkter‹ Wanderung unterscheidet.56 Diese Migrationstypen bilden hier wie in anderen Fällen keine distinkten Kategorien, sondern verschiedene, komplementäre Facetten eines Vorgangs, weil die Unterscheidung nach ›freiwilliger‹ und ›erzwungener‹ Migration eher die Auswanderung, ›staatlich gelenkte‹ Migration jedoch eher die Einwanderung betrifft. Marktbedingungen hingegen spielen sowohl bei der Auswanderung als auch bei der Einwanderung fast immer eine Rolle.57 Nachdem in England bereits 1681 mit der ›Hampton Court Proclamation‹ eine Einladung an übersiedlungswillige Protestanten vom Kontinent ergangen war und verschiedene niederländische Städte und Provinzen Privilegienangebote veröffentlicht hatten58, entschied sich im Heiligen Römischen Reich zuerst Kurfürst Karl II.

|| Hugenotten in Berlin. Eine Gemeinde auf der Suche nach ihrer Kirche, in: Rudolf von Thadden/Michelle Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten 1685–1985, München 1985, S. 115–126, hier S. 115f.; und Niggemann, Immigrationspolitik, S. 57f. 54 Zusammenfassend zur Ausweisung der Juden aus Wien und Niederösterreich Jersch-Wenzel, Juden, S. 26f.; Brigitte Scheiger, Juden in Berlin, in: Jersch-Wenzel/John (Hg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen, S. 153–488, hier S. 168–171; und Selma Stern, Der preußische Staat und die Juden, 4 Bde., Tübingen 1962–1975, hier Bd. 1/1, S. 10f. Zur Aufnahme in Brandenburg Scheiger, Juden, S. 158 und 164–168; Jersch-Wenzel, Juden, S. 27; dies., Gemeinde, S. 14; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 2, S. 304f.; Asche, Neusiedler, S. 96–98; Stern, Staat Bd. 1/1. 55 Vgl. hierzu im Überblick Ulrich Niggemann, Hugenotten, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 23–30; sowie den Beitrag von Alexander Schunka in diesem Band. 56 Diese Typologie wird insbesondere von Thomas Klingebiel vertreten; vgl. Klingebiel, Migration. 57 Im Falle der Hugenotten weist auch Klingebiel auf diesen Umstand hin, doch ist dies eben nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall; Klingebiel, Migration, S. 36. 58 Die am 28. Juli 1681 im ›Privy Council‹ beschlossene, jedoch erst im September 1681 gedruckte Proklamation ist ediert z.B. bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 32–34. Zur Hugenottenaufnahme in England vgl. Fernand de Schickler, Les Églises du Refuge en Angleterre, 3 Bde., Paris 1892, hier Bd. 2, S. 270–359; William Cunningham, Alien Immigrants to England, 2. Aufl. London/New York 1962, S. 223–249; A.P. Hands/Irene Scouloudi, French Protestant Refugees Relieved Through the Threadneedle Church, London 1681–1687, London 1971, S. 1–18; Robin D. Gwynn, Huguenot Heritage. The History and Contribution of the Huguenots in Britain, 2. Aufl. Brighton 2001, S. 44–51, 71–73, 166–182; Bernard Cottret, The Huguenots in England. Immigration and Settlement c. 1550–1700, Cambridge 1991, S. 185–190; Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2006, S. 63–69; und Niggemann, Immigrationspolitik, S. 71–73 und 96–98. Zu den niederländischen Aufnahmeedikten vgl. Hans Bots, Le Refuge dans les Provinces-Unies, in: Eckart Birnstiel/Chrystel

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von der Pfalz für ein Aufnahmeedikt, die ›Friedrichsfelder Capitulation‹ von 1682, die freilich aus Sorge vor der Reaktion Frankreichs nicht publiziert wurde und die sich zudem nur auf eine konkrete Gruppe von Einwanderern für einen bestimmten Ort – nämlich Friedrichsfeld – bezog.59 Auch Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle ließ bereits im August 1684 ein Einladungsedikt ergehen60, doch die Mehrzahl der gezielt an die Hugenotten gerichteten und mit unterschiedlichen Privilegien ausgestatteten Texte wurde erst nach der Aufhebung des Edikts von Nantes erlassen. Beispiele hierfür sind das ›Potsdamer Edikt‹ Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg61, die ›Droits et privilèges‹ Markgraf Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth62, das Novemberedikt Herzog Ernst Augusts von Hannover63, die ›Concessions et privilèges‹ Landgraf Karls von Hessen-Kassel64 oder die beiden Privilegienedikte Markgraf Johann Friedrichs von Brandenburg-Ansbach.65

|| Bernat (Hg.), La Diaspora des Huguenots. Les réfugiés protestants de France et leur dispersion dans le monde (XVIe-XVIIIe siécles), Paris 2001, S. 63–74; Hans Bots u.a. (Hg.), Vlucht naar de Vrijheid. De Hugenoten en de Nederlanden, Amsterdam 1985, S. 68–70; und Willem Frijhoff, Uncertain Brotherhood. The Huguenots in the Dutch Republic, in: Bertrand van Ruymbeke/Randy J. Sparks (Hg.), Memory and Identity. The Huguenots in France and the Atlantic Diaspora, Columbia 2003, S. 128– 171, hier S. 143–151. Überblick über die englischen und niederländischen Erlasse auch bei Niggemann, Hugenotten, S. 51–53. 59 Erlass Kf. Karls II., Heidelberg, 10. Oktober 1682, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 57–60. Vgl. dazu Ernst, Kirche, S. 336; Asche, Neusiedler, S. 441f.; Guillemenot-Ehrmantraut, Immigration, 26f. 60 Privilegienedikt Hg. Georg Wilhelms, Celle, 9. August 1684, abgedruckt bei Klingebiel (Bearb.), Hugenotten, S. 47–52. 61 Edikt Kf. Friedrich Wilhelms, Potsdam, 29. Oktober 1685, abgedruckt z.B. bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 186–196. Vgl. zum Edikt und seiner Entstehung z.B. Grieshammer, Studien, S. 32f.; und vor allem Kohnke, Edikt; dies., Zur Vorgeschichte, Entstehung und Bedeutung des Edikts von Potsdam, in: Ingrid Mittenzwei (Hg.), Hugenotten in Brandenburg-Preußen, Berlin (Ost) 1987, S. 13–26. 62 Edikt Mgf. Christian Ernsts, Bayreuth, 27. November 1685, abgedruckt bei Georg Schanz, Zur Geschichte der Colonisation und Industrie in Franken, Erlangen 1884 (Abt. 2: Urkundliche Beilagen), S. 6–8. Vgl. dazu auch August Ebrard, Christian Ernst von Brandenburg-Baireuth. Die Aufnahme reformirter Flüchtlingsgemeinden in ein lutherisches Land 1686–1712, Gütersloh 1885, S. 21; Karl Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben und Rechtsstellung der Franzosen im Rahmen der Erlanger Hugenotten-Kolonisation von 1686 bis 1708, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, 34. 1986, S. 37–162, hier S. 53–60; Ulrich Niggemann, Die Hugenotten in Brandenburg-Bayreuth. Immigrationspolitik als ›kommunikativer Prozeß‹, in: Braun/Lachenicht (Hg.), Hugenotten, S. 107–124, hier S. 110–116; Niggemann, Immigrationspolitik, S. 81–88. 63 Edikt Hg. Ernst Augusts, Hannover, 21. November 1685, abgedruckt bei Klingebiel (Bearb.), Hugenotten, S. 53–55. 64 Edikt Lgf. Karls, Kassel, 12. Dezember 1685, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 51–56. 65 »Privilèges ecclésiastiques accordez aux François reformés« Mgf. Johann Friedrichs, Ansbach, 4. Januar 1686, und »Privilèges temporels accordez aux François reformés« Mgf. Johann Friedrichs, Ansbach, 1. Februar 1686, vgl. Schanz, Geschichte (Abt. 2), S. 294; und ders., Geschichte, S. 263–265.

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Schätzungsweise 38.000 bis 40.000 Hugenotten kamen in die aufnehmenden Territorien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.66 16.000 bis 20.000 von ihnen wanderten in der Regierungszeit der Kurfürsten Friedrich Wilhelm und Friedrich III./I. nach Brandenburg-Preußen ein.67 Hessen-Kassel nahm etwa 3.500 bis 4.000 ›Réfugiés‹ auf68, die übrigen verteilten sich auf die fränkischen Markgraftümer Brandenburg-Bayreuth und Brandenburg-Ansbach, auf die welfischen Herzogtümer, auf Reichsstädte wie Frankfurt am Main, Hamburg und Nürnberg sowie auf eine ganze Reihe kleinerer Fürstentümer, die zumeist ebenfalls spezielle Aufnahme- und Privilegienedikte erließen.69 Zu beachten ist freilich, dass ein Großteil der Hugenotten nicht nach Deutschland ging, sondern vor allem in die Niederlande und nach England, wo sie oft bessere wirtschaftliche Startbedingungen vorfanden und zudem bereits in größerem Umfang Exilgemeinden vorhanden waren.70

|| Vorausgegangen waren bereits Einzelzugeständnisse; vgl. Wolfgang Dippert, Hugenottenansiedlung und die Geschichte der Schwabacher Reformierten Gemeinde, in: Hartmut Heller/Gerhard Schröttel (Hg.), Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken, Würzburg 1987, S. 139–153, hier S. 139f. 66 Vgl. Beuleke, Studien, S. 4; ders., Die Hugenotten in Niedersachsen, Hildesheim 1960, S. 16; Myriam Yardeni, Le Refuge protestant, Paris 1985, S. 77; Dölemeyer, Aufnahmeprivilegien, S. 303 und 327; Gresch, Hugenotten, S. 83. Von geringeren Zahlen gehen Samuel Mours, Les églises réformées en France, Paris/Straßburg 1958, S. 176; und Warren C. Scoville, The Persecution of Huguenots and French Economic Development 1680–1720, Berkeley/Los Angeles 1960, S. 352, aus. 67 Vgl. v.a. Jürgen Wilke, Die französische Kolonie in Berlin, in: Helga Schultz (Hg.), Berlin 1650– 1800. Sozialgeschichte einer Residenz, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 353–430, hier S. 358f. Außerdem dazu Helmut Erbe, Die Hugenotten in Deutschland, Essen 1937, S. 39; Jersch-Wenzel, Juden, S. 70; François David, Les colonies des réfugiés protestants français en Brandebourg-Prusse (1685–1809). Institutions, géographie et évolution de leur peuplement, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme en France, 140. 1994, S. 111–142, hier S. 124f.; ders., Les colonies françaises en Brandebourg-Prusse. Une étude statistique de leur population, in: Manuela Böhm/Jens Häseler/Robert Violet (Hg.), Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin 2005, S. 69–93, hier S. 80–84; Dölemeyer, Aufnahmeprivilegien, S. 327; Gresch, Hugenotten, S. 92. 68 Zahlenangaben bei Erbe, Hugenotten, S. 39; Rudolf Schmidmann, Die Kolonien der Réfugiés in Hessen-Kassel und ihre wirtschaftliche Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. Marburg 1929, S. 18–20; Beuleke, Hugenotten, S. 16; Yardeni, Refuge protestant, S. 77; Jochen Desel, Aspekte zur Ansiedlung der Hugenotten und Waldenser in Hessen-Kassel, in: Wegner (Hg.), Hugenotten, S. 95– 108, hier S. 96; Dölemeyer, Aufnahmeprivilegien, S. 327; Gresch, Hugenotten, S. 111. 69 Vgl. Beuleke, Hugenotten, S. 16; Dölemeyer, Aufnahmeprivilegien, S. 327; dies., Hugenotten, S. 98–160; Gresch, Hugenotten, S. 89–131; Asche, Neusiedler, S. 455; und zusammenfassend ders., Hugenotten in Europa seit dem 16. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 635–643. 70 Zu den Zahlenverhältnissen Scoville, Persecution, S. 324; Gwynn, Heritage, S. 31; Dölemeyer, Aufnahmeprivilegien, S. 303, 327. Zu den bereits bestehenden Fremdengemeinden in London Cottret, Huguenots, 8–21; Gwynn, Heritage, S. 33–44; Cunningham, Immigrants, S. 149–157.

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Eng mit dem Hugenottenstrom verbunden waren die Wanderungen der Waldenser und der ›Pfälzer‹, die zuweilen auch als »Hugenotten im weiteren Sinne« bezeichnet werden.71 Diese teils vor religiöser Verfolgung, teils vor kriegerischen Auseinandersetzungen fliehenden Personen wurden häufig zusammen mit den Hugenotten privilegiert und angesiedelt, in einigen Fällen bildeten sie jedoch eigenständige Gemeinschaften, wie etwa die ›Pfälzer‹-Kolonie in Magdeburg, die mit dem sogenannten Gröninger Privileg vom 25. Mai 1689 geschlossen aus Mannheim angeworben wurde.72 Gerade im Hinblick auf die zweite Waldenserwanderung ab 169873 wurden auch Territorien aktiv, die sich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes an der Anwerbung von Hugenotten nicht beteiligt hatten, so etwa das Herzogtum Württemberg oder die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, in denen nun vor allem ländliche Ansiedlungen entstanden.74 Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen den französischen Waldensern, die rechtlich wie die Hugenotten als Flüchtlinge behandelt wurden, und den savoyischen Waldensern, die vom Herzog ausgewiesen worden waren.75 Letztere konnten, ohne einen Affront zu riskieren, durch offizielle, staatenübergreifenden Hilfsmaßnahmen unterstützt werden. Die Koordination übernahm der niederländische Flüchtlingskommissar Pieter Valkenier, der mit den aufnahmewilligen Landesherren die Privilegien für die Waldenser aushan-

|| 71 Zur Begrifflichkeit Beuleke, Studien, S. 41–43; Bischoff, Hugenotten, S. 116f.; ders., Begriffsverwendung, S. 72f. 72 Edikt Kf. Friedrichs III., Gröningen, 25. Mai 1689, gedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 6 (Anhang), Sp. 66–72. Vgl. dazu auch Ernst Thiele, Zur Übersiedlung der französischen Gemeinde Mannheims nach Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 39. 1904, S. 143–157; Ralph Meyer, Geschichte der Deutsch-Reformierten Gemeinde in Magdeburg von den Anfängen bis auf die Gegenwart, 2 Bde., Magdeburg 1914, hier Bd. 1, S. 59–61; Fischer, Pfälzer Kolonie, S. 17–19; Dieter Elsner, Pfälzer in Magdeburg. »Fremde, bessere Wesen« in der Stadt? Von Mannheim nach Magdeburg, in: Labouvie (Hg.), Leben, S. 57–76, hier S. 58–60. 73 Zum Verbot der Waldenserkirche und den mehrfachen Vertreibungen aus dem savoyischen Piemont sowie zur Verfolgung der französischen Waldenser vgl. Alexander Schunka in diesem Band. 74 Vgl. Gresch, Hugenotten, S. 85, 89–91, 113f.; Dölemeyer, Hugenotten, S. 107–112, 144f.; Harald Schätz, Die Aufnahmeprivilegien für Waldenser und Hugenotten im Herzogtum Württemberg. Eine rechtsgeschichtliche Studie zum deutschen Refuge, Stuttgart 2010; Matthias Asche, Hugenotten und Waldenser in Württemberg. Immigration – Privilegien – Kirchenwesen – Identität – Integration. Ein Vergleich, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 110. 2010, S. 81–135. 75 Zur Unterscheidung Theo Kiefner (Bearb.), Die Privilegien der nach Deutschland gekommenen Waldenser, Stuttgart 1990, S. 32, 40–42; Matthias Asche, Waldenser in Mitteleuropa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 1087–1090; ders., Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer. Perspektiven für die Forschung aus der Sicht der sozialhistorischen Migrations- und der vergleichenden Minderheitenforschung, in: Michael North (Hg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2009, S. 89–114, hier S. 92–94.

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delte.76 Überhaupt handelte es sich bei diesen größeren Gruppen seitens der aufnehmenden Staaten zumeist um mehr oder weniger umfassend organisierte Vorgänge, im Zuge derer für Transportmittel und erste Unterbringung gesorgt wurde. Oft wurden sie durch landesweite Kollektenausschreibungen – in einigen Fällen auch durch Gelder aus dem Ausland – unterstützt.77 Obwohl auch die Salzburger Protestanten, die 1731/32 ihre Heimat verließen, rechtlich keine Flüchtlinge, sondern Vertriebene waren, sind die planmäßigen Anwerbungsvorgänge doch mit denen der Hugenottenwanderung vergleichbar. Menschen aus dem Fürstbistum Salzburg hatten schon Jahrzehnte zuvor immer wieder in kleineren Gruppen ihre Heimat verlassen, so etwa Bergbauern aus dem heute zu Osttirol gehörenden Defereggental oder Bergknappen aus Dürrnberg. Dadurch waren bereits Netzwerke entstanden, die insbesondere in die oberdeutschen Reichsstädte reichten.78 Als sich dann die Protestanten aus dem Pongau und Pinzgau an das Corpus Evangelicorum in Regensburg wandten79, entstand jedoch eine neue Situation. Insbesondere Preußen wurde nun aktiv. Bereits im Sommer 1731 wurde der preußische Gesandte am Regensburger Reichstag angewiesen, die Möglichkeit einer Aufnahme der Salzburger im Königreich zu sondieren, was gegenüber Verhandlungen um einen Verbleib der Betroffenen in ihrer Heimat offenkundig Priori-

|| 76 Dazu Barbara Dölemeyer, ›Tractat‹ oder Begnadigung? Vertragselemente in Exulantenprivilegien, in: Jean-François Kervégan/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie, Frankfurt a.M. 1999, S. 144–164, S. 156–163; dies, Hugenotten, S. 35–37; dies., Privileg oder Vertrag? Valkeniers Verhandlungen mit den deutschen Fürsten, in: Albert de Lange/Gerhard Schwinge (Hg.), Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser um 1700, Heidelberg 2004, S. 159–174. 77 Vgl. zur Einwanderungsorganisation sowie zu den Kollekten am Beispiel der Hugenotten mit weiteren Literaturhinweisen Niggemann, Immigrationspolitik, S. 118–128, 147–170. Zu den Kollekten im Zusammenhang mit der Waldenseransiedlung auch Dölemeyer, Pieter Valkenier, S. 167f. 78 Vgl. den Beitrag von Alexander Schunka in diesem Band. Zu den Auswanderern aus dem Defereggental und aus Dürrnberg vgl. Gerhard Brandtner, Die Vertreibung der Salzburger Protestanten und ihre Aufnahme in Preußen, in: Bernhard Jähnig/Silke Spieler (Hg.), Kirchen und Bekenntnisgruppen im Osten des Deutschen Reiches. Ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft. Zehn Beiträge, Bonn 1991, S. 149–175, hier S. 152; Gabriele Emrich, Die Emigration der Salzburger Protestanten 1731–1732. Reichsrechtliche und konfessionspolitische Aspekte, Münster 2002, S. 13f. Vgl. auch Rudolf Leeb, Die große Salzburger Emigration von 1731/32 und ihre Vorgeschichte (Ausweisung der Deferegger 1684), in: Joachim Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Berlin 2008, S. 277–305; und Astrid von Schlachta, Die Emigration der Salzburger Kryptoprotestanten, in: Rudolf Leeb/Martin Scheutz/ Dietmar Weikl (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert), Wien/München 2009, S. 63–92. 79 Vgl. Brandtner, Vertreibung, S. 157f.; Emrich, Emigration, S. 19–21; Schlachta, Emigration, S. 79–86.

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tät besaß.80 Das preußische Einladungspatent erschien am 2. Februar 173281, zu einem Zeitpunkt, als die Verhandlungen mit Salzburg wie auch mit den Vertretern der ›Exulanten‹ bereits abgeschlossen und die ersten Züge auf dem Weg ins ferne Preußen waren.82 Etwa 12.000 bis 15.000 Salzburger gelangten wahrscheinlich nach Preußen, einige weitere zogen in andere Gebiete der Monarchie.83 Neben dem Peuplierungserfolg spielte sicher auch die Profilierung als protestantische Schutzmacht innerhalb des Reiches für Brandenburg-Preußen eine wichtige Rolle. »Was thut Gott dem Brandenburgischen Hause für Gnade! denn dieses gewiß von Gott kommt« – in diesen Worten Friedrich Wilhelms I. kommt deutlich die wirtschaftlich utilitaristische Grundtendenz der Salzburgeransiedlung in Preußen zum Ausdruck.84 Nicht alle aus dem Fürstbistum ausgewanderten Protestanten gelangten nach Brandenburg-Preußen. Einige blieben im Herzogtum Württemberg, das auf dem Reiseweg lag. Herzog Eberhard Ludwig hatte nämlich ebenfalls Interesse an einer Ansiedlung dieser Leute und machte ihnen entsprechende Angebote.85 HessenKassel hatte bereits der Gesandtschaft, die sich vor der Auswanderung auf dem Weg nach Berlin befand, Angebote unterbreitet, wobei insbesondere Bergleute, von denen freilich kaum welche unter den Auswanderern waren, in Hessen bleiben sollten. Landgraf Friedrich, zugleich König von Schweden, wollte darüber hinaus Holzarbeiter für eine Ansiedlung in Schweden gewinnen.86 Schließlich überzeugte auch

|| 80 Vgl. insbesondere Mack Walker, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 80–82. Dazu wie auch zur Politik des Kaisers in dieser Angelegenheit Emrich, Emigration, S. 58–63; sowie Brandtner, Vertreibung, S. 160. 81 Aufnahmepatent für die Salzburger durch Kg. Friedrich Wilhelm I., Berlin, 2. Februar 1732, abgedruckt bei Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 201f. Vgl. zum Aufnahmepatent auch August Skalweit, Die ostpreußische Domänenverwaltung unter Friedrich Wilhelm I. und das Retablissement Litauens, Leipzig 1906, S. 271; Brandtner, Vertreibung, S. 160. Das Ausweisungsedikt Fürstbischof Firmians war am 31. Oktober 1731 ausgefertigt worden; vgl. Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, 185f.; Brandtner, Vertreibung, S. 158f.; Emrich, Emigration, S. 29–34. 82 Zu den Verhandlungen und der Gesandtschaft der Salzburger Protestanten nach Berlin BeheimSchwarzbach, Colonisationen, S. 182; Brandtner, Vertreibung, S. 160. 83 Von 20.694 Personen für den Gesamtstaat Brandenburg-Preußen spricht Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 203; 15.508 seien nach Ostpreußen gelangt; ebd., S. 208. Zurückhaltendere Zahlenangaben bei Rainer Walz, Die Ansiedlung der Salzburger Emigranten in Ostpreußen, in: Klaus Militzer (Hg.), Probleme der Migration und Integration im Preußenland vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, Marburg 2005, S. 105–140, hier S. 114. Vgl. insgesamt auch Charlotte E. Haver, Salzburger Protestanten in Ostpreußen seit dem 18. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 938–941. 84 Zitiert nach Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 203. 85 Diverse Verordnungen zur Aufnahme der Salzburger in Württemberg listen Achim Landwehr/Thomas Simon (Bearb.), Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit Bd. 4: Baden und Württemberg, Frankfurt a.M. 2001, auf. 86 Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 182.

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der Kurfürst von Hannover einige der Salzburger und der in ihrem Gefolge emigrierenden Berchtesgadener Protestanten, sich in seinem Territorium anzusiedeln. Die Einwanderer ließen sich in einer Reihe von Ämtern und Städten nieder, so in Hannoversch Münden, Northeim, Göttingen, Hameln, Springe und Lauenstein.87 Zudem gingen etwa zweihundert Salzburger in die britische Kolonie Georgia.88 Noch unter König Friedrich Wilhelm I. begann auch die Ansiedlung böhmischer Emigranten in Brandenburg, und besonders in Berlin. Viele von ihnen kamen als Sekundärmigranten aus Sachsen, wo sie, sofern sie nicht als strikte Lutheraner galten, zunehmend unter Druck gerieten. Auch die auf dem Gut des sächsischen Geheimen Rats Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf angesiedelte, stark von spiritualistischen Vorstellungen geprägte Gemeinde, die als Herrnhuter Brüdergemeine bekannt wurde, war davon betroffen.89 Überdies führten wirtschaftliche Probleme bei vielen in Sachsen und der Oberlausitz wohnhaften Einwanderern dazu, dass sich verschiedene Gruppen auf die Suche nach einer neuen Niederlassungsmöglichkeit begaben. Hinzu kam die weiterhin anhaltende Auswanderung aus Böhmen selbst.90 Unter Friedrich II. wuchs die Berliner Kolonie weiter an, und es wurden zusätzliche Ansiedlungen in Rixdorf, Nowawes bei Potsdam und in einigen anderen Orten geschaffen.91 Nach der Eroberung Schlesiens durch Preußen wurden auch hier zahlreiche Böhmen angesiedelt, darunter auch Mitglieder der Brüder-Unität.92 Zu Peuplierungszwecken angeworben wurden in einigen Fällen auch kleinere Gruppierungen wie die Mennoniten, die schon erwähnte Herrnhuter Brüdergemeine oder sogenannte ›Inspirierte‹, die – oft nur temporär geduldet – von Ausweisungen || 87 Ausführlicher zur Niederlassung in Kurhannover Theodor Roscher, Böhmische und Salzburgische Exulanten im Hannoverland, in: Hannoversche Geschichtsblätter, 2. 1899, S. 157–159, 163f., 170–172; Viktor Loewe, Die Einwanderung der Berchtesgadener in Kurhannover, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1902, S. 64–84; Fritz Klein, Die Einwanderung der ›Berchtolsgadener Exulanten‹ in Kurhannover 1733, in: Hannoversche Geschichtsblätter, 34. 1980, S. 161–174. 88 Walker, Handel, S. 131; Horst Kenkel/Gerhard Florey, Salzburger in Amerika, in: Friederike Zaisberger (Hg.), Reformation. Emigration. Protestanten in Salzburg, Salzburg 1981, S. 133–136. 89 Vgl. Winter, Emigration, S. 92; Eva-Maria Graffigna, Böhmen in Berlin, in: Jersch-Wenzel/John (Hg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen, S. 491–591, hier S. 506. Vgl. zu Zinzendorf und zur Brüdergemeine einführend Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700– 2000, Göttingen 2000; ders., Herrnhuter Brüdergemeine in Europa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 632–635; und Matthias Graf, Herrnhuter in Hessen, Frankfurt a.M. 2006, S. 18–76. 90 Vgl. Winter, Emigration, S. 86–130; Graffigna, Böhmen, S. 506–508. 91 Vgl. Neugebauer, Zentralprovinz, S. 129f.; Ulrich Schmelz, Zur Rolle der Ausländer beim Ausbau der Residenzstadt Potsdam (bis zum Jahre 1786), in: Hahn/Hübener/Schoeps (Hg.), Potsdam, S. 99– 114, hier S. 108–112; Graffigna, Böhmen, S. 532–536; Karin C. Jung, Die Böhmische Weberkolonie Nowawes 1751–1767 in Potsdam-Babelsberg. Bauliche und städtebauliche Entwicklung, Berlin 1997, S. 11–62. 92 Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 338–352; Winter, Emigration, S. 131–145.

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bedroht und auf der Suche nach neuen Heimstätten waren. Dies gilt etwa für Brandenburg-Preußen, wo nach dem Dreißigjährigen Krieg zusammen mit reformierten Niederländern auch einige Mennoniten angesiedelt und aus Polen einwandernde Mennoniten zumindest geduldet wurden.93 Auch die Herzöge von SchleswigHolstein-Gottorf, die Grafen von Isenburg-Büdingen oder die Grafen von Wied siedelten Mennoniten, Herrnhuter und Inspirierte in ihrem Herrschaftsgebiet an, und zwar besonders in Neustadtanlagen wie Friedrichstadt und Neuwied, die einen besonderen Ruf als religiöse Freistätten hatten.94 Üblicherweise erhielten die hier genannten Einwanderergruppen Privilegien, die ihren kirchlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Status festlegten und zugleich als Anreiz für eine Ansiedlung konzipiert waren. Dementsprechend mussten sie so gefasst werden, dass sie auf potenzielle Einwanderer attraktiv wirkten. Ein typisches Element solcher – oft schon früher erprobten – Privilegien war die Steuerfreiheit für eine festgelegte Anzahl von Jahren. Am intensivsten untersucht wurden in der Forschung die Privilegien für die Hugenotten. Schon in den 1660er Jahren erhielten sie in der Kurpfalz bis zu neun Jahre Steuerbefreiung. Solche Steuerfreiheiten sowie die Befreiung von Einfuhrzöllen bei der Einwanderung waren dann auch bei der Hugenotteneinwanderung seit 1685 allgemein üblich. Dabei fällt auf, dass oft die Edikte der kleineren Territorien bei den Steuerfreijahren besonders großzügig waren. Während Brandenburg-Preußen nämlich zunächst nur maximal zehn Jahre bot, versprach Landgraf Karl von Hessen-Kassel im Höchstfall bereits fünfzehn Jahre. Braunschweig-Lüneburg-Calenberg überbot diese Zusagen noch, indem zwanzig oder sogar 25 Jahre vorgesehen waren.95 Darüber hinaus wurden die kostenlose Zuteilung von Bauland und Baumaterialien sowie freie Unterbringung für eine Übergangszeit zugesagt. Im kirchlichen Bereich erhielten die Hugenotten das Recht

|| 93 Zu den mit den reformierten Niederländern in die Kurmark eingewanderten Mennoniten vgl. Asche, Neusiedler, S. 433; ansonsten auch Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 147–153. 94 Zu Neuwied vgl. Wilfried Ströhm, Die Herrnhuter Brüdergemeine im städtischen Gefüge von Neuwied. Eine Analyse ihrer sozialökonomischen Entwicklung, Boppard a.R. 1988; Stefan Volk, Peuplierung und religiöse Toleranz. Neuwied von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, 55. 1991, S. 205–231; zu Ansiedlungsorten in SchleswigHolstein Robert Dollinger, Geschichte der Mennoniten in Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, Neumünster 1930. Zur Ansiedlung von Herrnhutern auf dem Herrnhaag bei Büdingen vgl. Graf, Herrnhuter; und Klaus-Peter Decker, Die Herrnhuter in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen. Eine Gegenelite als ›Staat im Staate‹, in: Markus A. Denzel/Matthias Asche/Matthias Stickler (Hg.), Religiöse und konfessionelle Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten, St. Katharinen 2009, S. 119–159. 95 Art. 5 und 6 des Edikts Kf. Friedrich Wilhelms, Potsdam, 29. Oktober 1685, abgedruckt bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 190–192; Art. 3 des Edikts Ldf. Karls, Kassel, 12. Dezember 1685, gedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 51–56; Art. 6 und 8 des Edikts Hz. Ernst Augusts, Hannover, 21. November 1685, abgedruckt bei Klingebiel (Bearb.), Hugenotten, S. 53–55. Vgl. auch Niggemann, Immigrationspolitik, S. 68.

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auf freie Religionsausübung sowie eigene französisch-reformierte Geistliche zugesprochen, wobei dieses Recht in lutherischen Territorien wie Brandenburg-Bayreuth auf einige zentrale Ansiedlungsorte beschränkt sein konnte.96 Deutliche Unterschiede gab es in der Verwaltung der französisch-reformierten Kirchen. Während in lutherischen Territorien wie Braunschweig-Lüneburg und Brandenburg-Bayreuth/ Ansbach die presbyterial-synodale Kirchenverwaltung in der Folge schwerer gemeindeinterner Konflikte vom Landesherren zugelassen wurde, fehlte das synodale Element in Hessen-Kassel und Brandenburg-Preußen.97 Die nähere Untersuchung der Vorgänge, die zu den verschiedenen Formen einer Kirchenverwaltung führten, hat gezeigt, dass sich die Hugenotten in den von reformierten Herrschern regierten Territorien offenbar selbst nicht entschieden genug für die Etablierung ihrer in Frankreich entwickelten Kirchenverfassung einsetzten – vielleicht auch weil sie die reformierte Landesherrschaft als Garanten ihrer Religionsfreiheit ansahen.98 In einigen Territorien wie Brandenburg-Bayreuth und Hessen-Kassel wurde den hugenottischen Handwerkern die Möglichkeit eingeräumt, außerhalb der Zünfte tätig zu werden. Brandenburg-Preußen hingegen ordnete die kostenlose Aufnahme in die heimischen Zünfte an – eine Entwicklung, die mittelfristig freilich auch in anderen Territorien festgestellt werden kann.99 Eine Besonderheit des brandenbur|| 96 Zum Artikel 11 des Potsdamer Edikts Grieshammer, Studien, S. 47; Kohnke, Edikt, S. 258; Birnstiel, Hugenotten, S. 123; Asche, Neusiedler, S. 421. Zu Hessen-Kassel Walter Mogk, Voraussetzungen für die Einwanderung von Hugenotten und Waldensern nach Hessen-Kassel, in: Jochen Desel/Walter Mogk (Hg.), Die Hugenotten und Waldenser in Hessen-Kassel, Kassel 1978, S. 13–41, hier S. 25f.; Kadell, Hugenotten, S. 324. Zu den Einschränkungen in Brandenburg-Bayreuth Artikel 2 und 4 des Edikts, Bayreuth, 27. November 1685, gedruckt bei Schanz, Geschichte (Abt. 2), S. 6–8. Vgl. Niggemann, Immigrationspolitik, S. 422f. 97 Vgl. etwa Walter Mogk, Kirchengeschichtliche Aspekte zur Situation der französisch-reformierten Gemeinden im Hessen-Kasselschen Refuge, in: Desel/Mogk (Hg.), Hugenotten, S. 395–435; Asche, Neusiedler, S. 453f., 521; Gresch, Hugenotten, S. 87; Dölemeyer, Hugenotten, S. 46, 82; Jochen Desel, »Sie achten auf ihre Kirchenzucht, weil sie ihre Prediger schätzen«. Gemeinde und Gottesdienst im deutschen Refuge, in: Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hg), Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, Berlin/Wolfratshausen 2005, S. 17–24, hier S. 19; Matthias Asche, Hugenotten und Waldenser im frühmodernen deutschen Territorialstaat zwischen korporativer Autonomie und obrigkeitlicher Aufsicht, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10. bis 12. März 2008, Berlin 2010, S. 63–94; Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2010, S. 189–191. 98 Vgl. Niggemann, Immigrationspolitik, S. 501–511; und ders., Huguenot Attitudes to Church Administration in Brandenburg-Prussia and Hesse-Kassel, in: Proceedings of the Huguenot Society of Great Britain and Ireland, 29. 2008, S. 93–104. 99 Das erste Edikt Mgf. Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth enthielt noch die Zunftaufnahme, erst 1687 wurden die Hugenotten davon freigestellt; Art. 16 der Deklaration Mgf. Christian Ernsts, Bayreuth, 15. August 1687, abgedruckt in Corpus Constitutionum BrandenburgicoCulmbacensium, 3 Bde., Bayreuth 1746–1748, hier Bd. 2/2, Sp. 634. Zu den Bestimmungen in Hes-

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gischen Aufnahmeedikts war die Zusage einer eigenen französischen Schiedsgerichtsbarkeit. Hier wie auch in einigen anderen Territorien entstand im Laufe der Zeit eine staatliche Sonderverwaltung für die französischen Kolonien und eine französische Gerichtsbarkeit, wobei allerdings die in den größeren Städten angesiedelten Hugenotten deutlich bevorzugt wurden.100 Ziel dieser Edikte war neben der Regelung der rechtlichen Verhältnisse bei der Einwanderung und Niederlassung vor allem die Gewinnung von Neusiedlern, weshalb den Hugenotten bei der Abfassung der Edikte oft erhebliches Entgegenkommen gezeigt wurde. Gelegentlich waren solche Edikte überdies mit werbenden Landesbeschreibungen versehen.101 Es ging also eindeutig darum, die Hugenotten zur Ansiedlung im jeweiligen Land zu bewegen. Doch nicht nur bei der Ortswahl dürften diese Edikte von Bedeutung gewesen sein. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bereits bei der Entscheidung, überhaupt die Heimat zu verlassen, Kenntnisse über mögliche Zielorte und die dort zu erwartenden Ansiedlungsbedingungen eine wesentliche Rolle spielten.102 Die Tatsache, dass das Potsdamer Edikt gezielt auch in Frankreich verbreitet wurde103, wird dementsprechend mit dazu beigetragen haben, dass Protestanten aus Frankreich sich auf den Weg nach Brandenburg machten. Darüber hinaus wurden die gedruckten Aufnahmeerlasse auch an den Sammelpunkten der Emigranten – etwa in Frankfurt am Main, in der Schweiz oder in den Niederlanden – verteilt. Fürstliche Agenten sprachen zudem gezielt einflussreiche Personen wie Manufakturisten oder Prediger an, um möglichst ganze Gruppen von Einwanderern zu gewinnen.104 Charakteristisch für die Hugenottenmigration ist der ausgeprägte Konkur|| sen-Kassel und Brandenburg-Preußen: Art. 8 des Edikts Lgf. Karls, gedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 53; Artikel 7 des Potsdamer Edikts, abgedruckt bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 192f. Vgl. dazu auch Niggemann, Immigrationspolitik, S. 298–301, sowie zur weiteren Entwicklung ebd., S. 336–340. 100 Zum Gerichtswesen Artikel 10 des Potsdamer Edikts, gedruckt bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 192f. Vgl. dazu und zur weiteren Entwicklung Grieshammer, Studien, S. 61–73; Jürgen Wilke, Rechtsstellung und Rechtsprechung der Hugenotten in Brandenburg-Preußen (1685–1809), in: Thadden/Magdelaine (Hg.), Hugenotten, S. 100–114, hier S. 102–106; David, Colonies des réfugiés, S. 115, 127f.; ders., Colonies françaises, S. 70, 76; Birnstiel/Reinke, Hugenotten, S. 82–85; Asche, Neusiedler, S. 510–513. 101 So etwa das Hessen-Kasselsche Edikt vom 12. Dezember 1685, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 55f.; werbende Hinweise auch in Art. 3 des ›Potsdamer Edikts‹, abgedruckt bei Mengin (Bearb.), Recht, S. 188f. 102 Vgl. Schunka, Glaubensflucht, S. 563f. 103 Vgl. v.a. Kohnke, Edikt, S. 254–257; dies., Vorgeschichte, S. 18f. 104 Dazu Michelle Magdelaine, Frankfurt am Main: Drehscheibe des Refuge, in: Thadden/Magdelaine (Hg.), Hugenotten, S. 26–37; Dölemeyer, Hugenotten, S. 37f., 94. Für Einzelbeispiele vgl. Kohnke, Edikt, S. 263f.; Klingebiel, Weserfranzosen, S. 34f.; Michael Peters, Joseph Auguste du Cros als Agent des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Hugenotten-Kolonisation in Franken, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, 34. 1986, S. 163–173, hier S. 168–170.

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renzkampf deutscher Territorialherren um die Hugenotten, und zwar besonders um diejenigen, die entweder Vermögen mitbrachten, über spezielle Fertigkeiten verfügten oder als Kaufleute und Manufakturisten den Aufbau von Gewerbebetrieben versprachen. Dieser Konkurrenzkampf äußerte sich nicht nur darin, dass sich die Fürsten mit Privilegienangeboten gegenseitig zu überbieten versuchten, sondern dass es auch immer wieder zu Abwerbungen kam, die regelmäßig zu Verstimmungen zwischen den Territorien führten. So warb das Herzogtum und spätere Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg-Calenberg (Hannover) erfolgreich Hugenotten aus Erlangen ab.105 Kursachsen wiederum versuchte seit 1694 mehrfach gezielt, Franzosen aus dem kurbrandenburgischen Halle nach Leipzig zu locken.106 Die Hugenotteneinwanderung bildete in vielen Territorien das Muster, nach dem auch andere Neusiedler privilegiert wurden. Auch in dem schon genannten Gröninger Privileg für die in Magdeburg angesiedelte ›Mannheimer Kolonie‹ waren die persönliche Freiheit der Kolonisten, ihre Freiheit von Einquartierungen für fünfzehn Jahre, die Zuteilung von Ackerland für die Bauern, Vergünstigungen beim Hausbau, Handwerksrechte, Religionsfreiheit und generell alle Privilegien, wie sie auch die französische Kolonie genoss, zugesagt. Insbesondere durften die ›Pfälzer‹ wie die Hugenotten in Magdeburg einen eigenen Magistrat mit eigener Gerichtsbarkeit bilden.107 Die gleichen Rechte wie anderen Kolonisten sicherte das Einladungspatent König Friedrich Wilhelms I. vom Februar 1732 auch den Salzburgern zu, wobei insbesondere auf das preußische Einwanderungsedikt von 1724 Bezug genommen wurde. Demnach erhielten die Einwanderer freies Acker- und Weideland, Baumaterial, Vieh und Ackergerät sowie Saatgut für ein Jahr. Außerdem wurden sie wie üblich für einige Jahre von allen Abgaben befreit.108 Fünfjährige Steuerfreiheit, freies Bürgerund Zunftrecht, fünfjährige Freiheit vom Militärdienst sowie die Erlaubnis zur öffentlichen Religionsausübung wurden unter König Friedrich Wilhelm I. auch den böhmischen Neusiedlern zugestanden, während die unter Friedrich II. auf dem Land angesiedelten Böhmen etwas schlechter gestellt waren. Diese mussten, wenn

|| 105 Vgl. Klingebiel, Weserfranzosen, S. 36f.; ders. (Bearb.), Hugenotten, S. 20f.; und Niggemann, Immigrationspolitik, S. 150f. 106 Vgl. insbesondere Katharina Middell, Hugenotten in Kursachsen. Einwanderung und Integration, in: Braun/Lachenicht (Hg.), Hugenotten, S. 51–70; Schunka, Gäste, S. 66–69. 107 Edikt Kf. Friedrichs III., Gröningen, 25. Mai 1689, gedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 6 (Anhang), Sp. 66–72. Vgl. auch Fischer, Pfälzer Kolonie, S. 17–32. 108 Vgl. Rudolph Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thätigkeit für die Landescultur Preußens, Leipzig 1878, S. 34–41; Walker, Handel, S. 84f.; Walz, Ansiedlung, passim. »Wiederholtes Patent, daß noch mehrere Handwercker von allerhand Profeßionen, wie auch 400 Familien arbeitsamer Leute […] nach Preussen verlanget werden«, Berlin, 11. Februar 1724, abgedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 6, Sp. 65–70.

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auch in geringem Ausmaß, Dienste leisten.109 Auch die kleineren religiösen Gruppen, die reichsrechtlich nicht anerkannt waren, erhielten in verschiedenen Territorien in gewissem Umfang das Recht auf Religionsausübung, zumindest in Form des ›exercitium privatum‹ oder der ›devotio domestica‹, die ihnen also Hausandachten und Privatgottesdienste im kleinen Kreis erlaubte. Darüber hinaus partizipierten sie an den Steuerfreijahren der übrigen Neubürger.110 Eine gewisse Ausnahme bildeten lediglich die Juden, die nur bedingt von den Einwandererprivilegien, die für christliche Gruppen galten, profitieren konnten. Meist erhielten sie nur als Einzelpersonen eine Ansiedlungserlaubnis. Weitaus seltener wurden ihnen, wie bei der 1671 erfolgten Aufnahme in Brandenburg, als Gruppe eigene Ansiedlungsbedingungen zugestanden, die jedoch erhebliche Restriktionen enthielten. In Kurbrandenburg wurde ihnen zwar eine gewisse Eigenständigkeit in der Gerichtsbarkeit sowie das Recht zur privaten Religionsausübung zugesagt, doch durften sie keine Synagogen errichten. Gerade im Vergleich zu den später privilegierten Hugenotten fallen die Restriktionen bei den Ansiedlungsbedingungen für die Juden auf.111 In gewisser Hinsicht gehören auch die ›Transmigrationen‹112 in den Kontext der gelenkten Ansiedlung von ›Konfessionsmigranten‹, auch wenn es sich hier um eine zwangsweise innere Bevölkerungsumsiedlung handelt. Um nämlich einerseits das Ziel einer konfessionellen Homogenisierung der Kernlande zu erreichen und gleichzeitig die Schäden, die merkantilistischen Theorien zufolge durch Abwanderung entstanden, vorzubeugen, gingen die habsburgischen Territorien in der Regierungszeit Karls VI. und dann verstärkt unter Maria Theresia dazu über, Protestanten aus Kärnten und der Steiermark systematisch zu deportieren und in erst jüngst von den Osmanen eroberten Gegenden Ungarns und Siebenbürgens neu anzusiedeln.113 Die-

|| 109 Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 250–255, 378–387; Graffigna, Böhmen, S. 514–523, 532–536; Neugebauer, Zentralprovinz, S. 129f.; Schmelz, Rolle, S. 108–112; Jung, Weberkolonie. Zu Berlin außerdem Hans J. Reichhardt, Die Böhmen in Berlin 1732–1982, Berlin 1982. 110 Zu den Privilegien in Neuwied vgl. Volk, Peuplierung, passim; zu Friedrichsstadt den Privilegienerlaß des Hz. von Schleswig, abgedruckt in Corpus Statutorium Slesvicensium Bd. 3, S. 587f.; und zu den Mennoniten in Brandenburg-Preußen (insbesondere Westpreußen) Stefi Jersch-Wenzel, Mennoniten in Westpreußen seit dem 16. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 789–792. 111 Edikt Kf. Friedrich Wilhelms, Potsdam, 21. Mai 1671, gedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 5/5, Sp. 121–126. Vgl. Jersch-Wenzel, Juden, S. 33–39; Scheiger, Juden, S. 167f.; Asche, Neusiedler, S. 96–98. 112 Siehe hierzu auch den Artikel von Alexander Schunka in diesem Band. 113 Vgl. z.B. Konrad Schünemann, Österreichs Bevölkerungspolitik unter Maria Theresia, Berlin 1935, S. 95–106; Peter F. Barton, Evangelisch in Österreich. Ein Überblick über die Geschichte der Evangelischen in Österreich, Wien 1987, S. 111–114; Erich Buchinger, Die ›Landler‹ in Siebenbürgen. Vorgeschichte, Durchführung und Ergebnis einer Zwangsumsiedlung im 18. Jahrhundert, München 1980; sowie Mathias Beer, Österreichische Protestanten (›Landler‹) in Siebenbürgen seit dem 18.

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se Maßnahmen der Zwangsumsiedlung entsprachen durchaus der Logik des Merkantilismus und zeugen davon, dass auch die katholischen Habsburger keineswegs, wie bisweilen behauptet, eine »anticolonisatorische« Politik betrieben.114 Resümierend lässt sich festhalten, dass gerade die größeren Gruppen von ›Glaubensflüchtlingen‹ begehrte Objekte einer aktiven Bevölkerungspolitik waren. Protestantische Territorien bemühten sich daher intensiv um ihre Anwerbung, wobei den Hugenotten sicher eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Fast immer erhielten religiös verfolgte Einwanderer das Recht zur freien Ausübung ihrer Religion, und darüber hinaus zahlreiche weitere Privilegien wie Steuerfreiheiten oder eine eigene Gerichtsbarkeit. Diese Privilegien waren zum Teil das Ergebnis von Verhandlungen mit Vertretern der Einwanderer selbst und sollten in jedem Fall als Anreiz zur Niederlassung wirken. Benachteiligt waren sicher Juden und kleinere religiöse Gemeinschaften. Letztere erhielten jedoch in einigen Territorien oder an bestimmten Orten religiösen Freistätten. Nicht zu unterschätzen ist sicher über den Aspekt der ›Peuplierung‹ hinaus auch die propagandistische Wirkung, die etwa die Aufnahme einer großen Zahl von Hugenotten und Salzburgern für Länder wie Brandenburg-Preußen hatte.

4 Landesausbau und ›Peuplierung‹ Die Frühe Neuzeit war auch eine Phase des forcierten Landesausbaus. Sofern es bei diesen Meliorationen nicht um Einzelinitiativen der ansässigen Bevölkerung ging, mit dem Ziel, ihre Wirtschaftsgrundlagen auszuweiten115, so handelte es sich meist um großangelegte staatliche Maßnahmen, die mit der Ansiedlung von Einwanderern eng verbunden waren beziehungsweise sich wechselseitig bedingten. Dahinter stand der Wunsch sowohl nach Bevölkerungsvermehrung als auch nach der Nutzung brachliegender Ressourcen zwecks Erhöhung der Staatseinnahmen.

|| Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 818–820; Stephan Steiner, Transmigration. Ansichten einer Zwangsgemeinschaft, in: Leeb/Scheutz/Weikl (Hg.), Geheimprotestantismus, S. 331–360; ders., Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext, Wien 2014, S. 243–298. 114 Zitat von Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 222. Dass freilich die Kolonisation Ungarns nicht im Mittelpunkt der ›Transmigrationen‹ stand, betont Buchinger, Landler, S. 54–59. 115 Hans-Jürgen Nitz weist dabei besonders auf die Auswirkungen steigender Kornpreise vom 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und dann erneut gegen Ende des 18. Jahrhunderts hin: HansJürgen Nitz, Transformation of Old and Formation of New Structures in the Rural Landscape of Northern Central Europe during the 16th to 18th Centuries under the Impact of the Early Modern Commercial Economy, in: ders., Historische Kolonisation und Plansiedlung in Deutschland. Ausgewählte Arbeiten, Bd. 1, hg.v. Günther Beck, Berlin 1994, S. 317–336, hier v.a. S. 324–328.

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Der Übergang von den Repeuplierungsmaßnahmen nach dem Dreißigjährigen Krieg und einer darüber hinausgehenden systematischen Ansiedlung von Menschen im ländlichen Umfeld ist fließend. Verschiedentlich gingen schon die unmittelbaren Wiederbesiedlungsversuche mit der Erprobung neuer Anbaumethoden und der Urbarmachung bis dahin ungenutzten Landes einher. In Brandenburg bauten niederländische Kolonisten bereits seit 1651 unter der Leitung der Kurfürstin Louise Henriette eine Musterwirtschaft im Amt Oranienburg auf.116 Mit einigen friesischen beziehungsweise nordniederländischen Kolonisten wurden zur gleichen Zeit Verträge zur Anlage von Dörfern und zur Trockenlegung von Land in der Altmark und andernorts abgeschlossen.117 Das weitreichende, mit radikalen Reformideen (Abschaffung der Leibeigenschaft und aller Frondienste) einhergehende Projekt der Domänenbewirtschaftung durch die Brüder Lamy wurde hingegen nicht durchgeführt.118 Trotz einiger Fehlschläge in der Frühphase setzten die Kurfürsten und Könige von Brandenburg-Preußen in den Folgejahrzehnten Maßstäbe bei der ländlichen Kolonisation. Seit 1683 gab es Bemühungen, in der Milchwirtschaft und Viehzucht erfahrene Schweizer Bauern in die Mark zu ziehen. 1685 konnten dann tatsächlich die ersten vierzehn Familien aus dem Berner Land in neu errichteten Dörfern bei Potsdam angesiedelt werden.119 Diese frühen Schweizer Kolonisten erhielten noch Privilegien, die ihnen die reformierte Religionsausübung, eigene Pfarrer, eine presbyteriale Kirchenverwaltung sowie in materieller Hinsicht Steuerfreiheit für dreißig Jahre zusicherten. Überdies waren die Schweizer und alle ihre Nachkommen von der Leibeigenschaft befreit. Eine Besonderheit bestand darin, dass der Magistrat der Stadt Bern quasi als ›Garantieinstanz‹ eingesetzt wurde und somit im Falle von Privilegienverletzungen seitens der brandenburgischen Regierung zugunsten seiner ehemaligen Untertanen intervenieren konnte.120 Seit 1690 wurden Kolonisten aus den Kantonen Bern und Zürich schwerpunktmäßig im Land Ruppin und bei Potsdam angesetzt, wo zahlreiche Bauernstellen neu geschaffen werden konnten. Überwiegend handelte es sich um sehr kinderreiche Familien, die aufgrund ihrer || 116 Knapp dazu Otto Glaser, Die Niederländer in der Brandenburg-Preußischen Kulturarbeit, Berlin 1939, S. 26f.; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 230f.; ausführlich Asche, Neusiedler, S. 351– 360; und Ulrike Hammer, Kurfürstin Luise Henriette. Eine Oranierin als Mittlerin zwischen den Niederlanden und Brandenburg-Preußen, Münster 2001, S. 84–89. 117 Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 173f.; Asche, Neusiedler, S. 264. 118 Vgl. Grieshammer, Studien, S. 21–23; Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 175f.; Asche, Neusiedler, S. 411 und 426–431. 119 Asche, Neusiedler, S. 218 mit Anm. 820, 434f.; ders., Schweizer Protestanten, S. 971f.; Franz, Krieg, S. 100; Henning Heese, Einleitende Bemerkungen zur Entstehung und Entwicklung der Schweizer Kolonie im Golmischen Bruch bei Potsdam, in: ders. (Hg.), 300 Jahre Schweizer Kolonie am Golmischen Bruch bei Potsdam 1685–1985, St. Augustin-Hangelar 1985, S. 5–43. 120 Vgl. insbesondere Asche, Neusiedler, S. 462f. Abdruck des Privilegienvorschlags bei Kiefner (Bearb.), Privilegien, S. 1306f.; vgl. auch Heese, Bemerkungen, S. 7–16.

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Armut aus der Schweiz auswanderten oder gar von den dortigen Almosenkammern zur Auswanderung gedrängt wurden. Sie erhielten nun keine Privilegien mehr, sondern Ansiedlungsverträge, die freilich im Wesentlichen den Privilegien der früheren Kolonisten ähnelten.121 1686 begann dann in der Folge des Potsdamer Edikts die Wiederbesiedlung zahlreicher wüstgefallener Dörfer in der Uckermark und im Land Ruppin mit Hugenotten und wallonischstämmigen ›Pfälzern‹.122 Hugenotten und Waldenser wurden auch in Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt, Württemberg, Baden-Durlach und Brandenburg-Bayreuth in ländlichen Kolonien angesiedelt, wo sie neben dem Textilgewerbe vor allem im Ackerbau tätig waren. In Hessen-Kassel konnten auf diese Weise zahlreiche spätmittelalterliche Wüstungen neu besiedelt werden.123 Auch im 18. Jahrhundert brachten Krieg und Seuchenzüge Verheerungen und große Bevölkerungsverluste mit sich. 1709 dezimierte die Pest die Bevölkerung in Preußisch-Litauen.124 Das ›Retablissement‹, das meist allein König Friedrich Wilhelm I. angerechnet wird, begann bereits unter Friedrich I. In der ersten Phase stand neben den Versuchen, die geflüchtete Landbevölkerung zur Rückkehr zu bewegen, die Anwerbung neuer Siedler aus der Schweiz, aus Holstein, Schweden, Pommern, Hannover, Anhalt, Sachsen und Nassau-Siegen im Mittelpunkt.125 Spätestens ab 1723 kann von durchschlagenderen Erfolgen die Rede sein, sodass trotz der 1726/27 über Preußen hereinbrechenden Hungerkrise, die auch das ›Retablissement‹ zu gefähr-

|| 121 Vgl. Asche, Neusiedler, S. 218–221 und 462–484; ganz knapp auch Franz, Krieg, S. 100f.; und Neugebauer, Zentralprovinz, S. 70f. 122 Vgl. Margarete Pick, Die französischen Kolonien in der Uckermark, Prenzlau 1935; Enders, Uckermark, S. 410–415; Asche, Neusiedler, S. 302–347. 123 Zu Hessen-Kassel Kadell, Hugenotten, S. 86–175, 457–542; Lothar Zögner, Hugenottendörfer in Nordhessen. Planung, Aufbau und Entwicklung von siebzehn französischen Emigrantenkolonien. Eine Studie zur historisch-geographischen Landeskunde, Marburg 1966; Sigrid Althaus, Hugenottendörfer um Marburg und Frankenberg, Marburg 1989; sowie die Beiträge bei Desel/Mogk (Hg.), Hugenotten. Zu den ländlichen Kolonien in Brandenburg-Bayreuth vgl. Schanz, Geschichte, S. 16f.; Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben, S. 46f.; Johannes E. Bischoff, ›Hugenotten-Orte‹ in Franken neben Erlangen, in: Friederich (Hg.), 300 Jahre Hugenottenstadt, S. 53–58; Niggemann, Hugenotten in Brandenburg-Bayreuth, S. 108; ders., Immigrationspolitik, S. 232f. und 239f. Zu HessenDarmstadt, Baden-Durlach und Württemberg Dölemeyer, Hugenotten, S. 108–112, 142–145; Gresch, Hugenotten, S. 89–91, 113f. Zu Württemberg auch Asche, Hugenotten und Waldenser. 124 Vgl. zur Situation Ostpreußens Stadelmann, Friedrich Wilhelm I., S. 34f.; Skalweit, Domänenverwaltung, S. 10f., 245f.; Fritz Terveen, Gesamtstaat und Retablissement. Der Wiederaufbau des nördlichen Ostpreußen unter Friedrich Wilhelm I. 1714–1740, Göttingen 1954, S. 17–19; Brandtner, Vertreibung, S. 161f.; Walker, Handel, S. 75f.; Walz, Ansiedlung, S. 111f. 125 Zu den verschiedenen Kolonisationsversuchen seit 1710 vgl. Skalweit, Domänenverwaltung, S. 244–262; Terveen, Gesamtstaat, S. 19–63; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 778–780; Brandtner, Vertreibung, S. 162f.; Walz, Ansiedlung, S. 112f.; und speziell zur Schweizer Kolonie: Gerd Wunder, Die Schweizer Kolonisten in Ostpreußen 1710–1730 als Beispiel für Koloniebauern, in: Günther Franz (Hg.), Bauernschaft und Bauernstand 1500–1970, Limburg a.d. Lahn 1975, S. 183–195.

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den drohte, wohl bis 1730 ein Großteil der Höfe wieder besetzt werden konnte.126 Einen erneuten Anlauf, die Wiederbesiedlung Preußisch-Litauens voranzutreiben, stellten die gescheiterten Versuche dar, Waldenser aus dem Piemont und Jansenisten aus Frankreich für die Ansiedlung in Ostpreußen zu gewinnen.127 Erfolgreicher war hingegen die Anwerbung der Salzburger Emigranten. Von vornherein waren die zumeist bäuerlichen Migranten für das Herzogtum Preußen vorgesehen. Die schätzungsweise 15.000 Neusiedler wurden im wesentlichen auf die Ämter Insterburg, Ragnit, Tilsit und Memel sowie vereinzelt auch auf Städte wie Gumbinnen verteilt, wo sie mit Höfen und Landparzellen ausgestattet wurden.128 Gerade die Regierungszeit Friedrichs II. war geprägt von ländlichen Kolonisationsanstrengungen, die der König bereits in seinem ›Politischen Testament‹ von 1752 reflektierte und mit den noch immer zu konstatierenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges begründete.129 Nach dem Siebenjährigen Krieg, der diese Peuplierungsbemühungen unterbrochen, teilweise sogar durch erneute Verluste zurückgeworfen hatte, wurden die Anwerbungen neuer Siedler fortgesetzt. Während – größtenteils unter direkter Aufsicht des Königs – in der Kurmark vor allem deutsche Siedler aus preußischen oder benachbarten Territorien, jedoch auch aus Süddeutschland zum Einsatz kamen, wurden im stark kriegszerstörten Schlesien und anderen östlichen Landesteilen vor allem polnische Kolonisten, daneben aber auch Österreicher, Böhmen und sogar Griechen angesetzt.130 Insgesamt wurden mit Hilfe gezielter Werbungsmaßnahmen wohl etwa 900 Kolonistendörfer gegründet.131 Zu den bäuerlichen und kleinbäuerlichen Stellen kam die Schaffung ländlicher Gewerbeansiedlungen, so etwa die Spinner- und Weberdörfer, in denen das Material für die || 126 Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 162–165; Stadelmann, Friedrich Wilhelm I., S. 39; Skalweit, Domänenverwaltung, S. 261f.; Wunder, Kolonisten, S. 191; Brandtner, Vertreibung, S. 163; sowie zur Krise Terveen, Gesamtstaat, S. 63–70. 127 Dazu Skalweit, Domänenverwaltung, S. 270; Terveen, Gesamtstaat, S. 71. 128 Zur Ansiedlung Stadelmann, Friedrich Wilhelm I., S. 39–41; Skalweit, Domänenverwaltung, S. 271–275; Terveen, Gesamtstaat, S. 70–75; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 779; Brandtner, Vertreibung, S. 164–167; Walker, Handel, S. 86–96; Haver, Salzburger Protestanten, S. 940. 129 »La Guerre de 30 anns, Cette Calamité affreuse, cete Desolation qui ruina toute La Marche, La Pomeranie et Le Magdeburg avoit Si bien Aneanti ces provinces que trois regnes dont deux furent entierement pasifiques, ne purent Les retablir«; politisches Testament Friedrichs II. von 1752, ediert bei Richard Dietrich (Bearb.), Die politischen Testamente der Hohenzollern, Köln/Wien 1986, S. 254–461, hier S. 282. 130 Vgl. zum Retablissement nach dem Siebenjährigen Krieg Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 465–476; Asche, Neusiedler, S. 397–399. 131 Vgl. ausführlich dazu Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 265–441; Rudolph Stadelmann, Preußens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landescultur, Teil 2: Friedrich der Große, Leipzig 1882, S. 14–38; Daniel Häberle, Auswanderung und Koloniegründungen der Pfälzer im 18. Jahrhundert. Zur zweihundertjährigen Erinnerung an die Massenauswanderung der Pfälzer (1709) und an den pfälzischen Bauerngeneral Nikolaus Herchheimer, den Helden von Oriskany (6. August 1777), Kaiserslautern 1909, S. 126–128; Neugebauer, Zentralprovinz, S. 130–134.

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Textilmanufakturen vorbereitet werden sollte.132 Ein wesentliches Privileg der Neusiedler unter Friedrich II. war die ›Enrollierungsfreiheit‹, das heißt die Freiheit vom Kriegsdienst bis in die dritte Generation der Siedler. Hinzu kamen Bekenntnisfreiheit und die Freiheit von der Leibeigenschaft.133 Bevölkerungsvermehrung, Ausgleich für Verluste durch die Flucht aus der Leibeigenschaft sowie eine Intensivierung der Flächennutzung waren sicher auch vorrangige Motive bei der Büdneransiedlung in Mecklenburg-Schwerin. Hier wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts Kolonisten auf Kleinstellen gesetzt.134 Weniger bekannt ist – wohl auch aufgrund der forschungsgeschichtlich begründbaren Dominanz der protestantischen Staaten im Bild der Migrationsgeschichte –, dass auch in den östlichen Teilen der Habsburgermonarchie systematische Kolonisationsmaßnahmen durchgeführt wurden. Nachdem mit dem ›Einrichtungswerk des Königreichs Hungarn‹ schon unter Leopold I. Vorschläge zur gezielten Ansiedlung von (auch protestantischen) Kolonisten in den im Zuge der Türkenkriege zurückeroberten Regionen Mittel- und Südungarns (vor allem die Batschka und das Banat) vorlagen135, bemühten sich Karl VI. und Maria Theresia neben den protestantischen ›Transmigranten‹ aus den Kernlanden der Monarchie vor allem um katholische Siedler. Erst Joseph II. ging dazu über, auch lutherische und reformierte ›Donauschwaben‹ zur Ansiedlung einzuladen. Eigens zu diesem Zweck gegründete ›Impopulationskommissionen‹ kümmerten sich um die Anwerbung und die Lenkung des Kolonistenstroms.136 Den Kolonisten wurde persönliche Freiheit und Freizügigkeit

|| 132 Hansjörg Tröger, Die kurmärkischen Spinnerdörfer. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Siedlungspolitik Friedrichs des Großen. Nach den Akten des Geheimen Preußischen Staatsarchivs dargestellt, Diss. Leipzig 1936; Asche, Neusiedler, S. 391; Carsten Liesenberg, Die Kolonisation des Oderbruchs. Planung, Ablauf und Ergebnisse eines absolutistischen Besiedlungskonzeptes aus baulicher Sicht, Diss. Weimar 2003, S. 92–100. 133 Vgl. etwa Tröger, Spinnerdörfer, S. 22f. 134 Vgl. René Wiese, Peuplierung in Mecklenburg. Leistungen und Grenzen der Büdneransiedlung im 18. Jahrhundert, in: Matthias Manke/Ernst Münch (Hg.), Verfassung und Lebenswirklichkeit. Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, Lübeck 2006, S. 261–278. 135 Das ›Einrichtungswerk‹ liegt jetzt ediert und mit einer instruktiven Einleitung versehen vor: János Kalmár/János J. Varga (Hg.), Einrichtungswerk des Königreichs Hungarn (1688–1690), Stuttgart 2010, hier besonders S. 32f., 43 und 130–136. 136 Vgl. zur Situation in den ehemals osmanischen Gebieten Buchinger, Landler, S. 48–50; Márta Fata, Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen (1686–1790), in: Günter Schödl (Hg.), Land an der Donau, Berlin 1995, S. 89–196, hier S. 91–97. Zur Wiederbesiedlung Barton, Evangelisch in Österreich, S. 113; Häberle, Auswanderung, S. 161–181; Schünemann, Bevölkerungspolitik; Imre Wellmann, Die erste Epoche der Neubesiedlung Ungarns nach der Türkenzeit (1711–1761), in: Acta Historica, 26. 1980, S. 241–304, hier S. 259–274; Gustav Otruba, Die Wirtschaftspolitik Maria Theresias, Wien 1963, S. 170–178; Konrad G. Gündisch, Die deutsche Siedlung in Südosteuropa. Ein Überblick, in: Die Donauschwaben. Deutsche Siedlung in Südosteuropa, hg.v. Innenministerium Baden-Württemberg, 2. Aufl. Sigmaringen 1989, S. 11–22, hier S. 15–17; Fata, Einwanderung, S. 146– 172; und dies., ›Donauschwaben‹ in Südosteuropa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucas-

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garantiert. Sie wurden zudem mit Land und Baumaterial sowie mit Saatkorn ausgestattet, dazu kamen mehrjährige Steuerfreiheiten.137 Nach der Emigration von fast 20.000 Protestanten bemühte sich übrigens auch der Fürstbischof von Salzburg systematisch um die Wiederbesetzung der verlassenen Hofstellen – ein Aspekt der Geschichte der Salzburger Emigration, der bislang noch wenig beachtet worden ist. Gezielt wurden Verzeichnisse der zum Verkauf stehenden Höfe nach Tirol, Bayern, Schwaben und ins Oberrheingebiet gesandt, wobei bewusst um katholische Neusiedler geworben wurde.138 Das 18. Jahrhundert stand freilich auch im Zeichen der Neulandgewinnung. Seit 1718 nahm Brandenburg-Preußen unter König Friedrich Wilhelm I. umfangreiche Meliorationsarbeiten in den Bruchgebieten an Havel und Rhin in Angriff. Überdies wurden die bereits unter Kurfürst Joachim Friedrich zu Anfang des 17. Jahrhunderts in ersten Ansätzen begonnenen Arbeiten am Netze- und Dragebruch unter Friedrich Wilhelm I. wieder aufgegriffen. Mit Beginn der Meliorationen wurden Siedlungswillige durch öffentliche Ausschreibungen angeworben. Etwa tausend Arbeiter, darunter zahlreiche Soldaten, konnten zu diesem Zweck gewonnen und nach erfolgter Neulandgewinnung mit Kolonistenstellen versorgt werden.139 Als Kolonisator der Bruchlandschaften im Oder-, Netze- und Warthegebiet machte sich jedoch dann vor allem König Friedrich II. einen Namen. Während seiner Regierungszeit wurde insbesondere im ländlichen Bereich systematisch kolonisiert. Schon 1746 richtete sich das Interesse vor allem auf die noch unkultivierten Bruchlandschaften an der Oder. Mit der Trockenlegung dieser Flusslandschaften wurde in großem Umfang neues Siedelland gewonnen, das an Pächter gegen die Verpflichtung vergeben wurde, Kolonisten anzusetzen. 1.200 Familien konnten auf diesem Wege in 43 neuen Dörfern angesiedelt werden.140 Nach dem Siebenjährigen Krieg wurden die Meliora-

|| sen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 535–540. Eine umfassende Darstellung der Migrationspolitik Josephs II. bietet jetzt dies., Migration. Ein Ansiedlungspatent Maria Theresias für Einwanderer aus Vorderösterreich vom 21. Juni 1755 ist abgedruckt bei Günther Franz (Bearb.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, München/Wien 1963, S. 228–231. 137 Vgl. v.a. Fata, Einwanderung, S. 155f., 163–166, 169; Schünemann, Bevölkerungspolitik, S. 250– 252; außerdem Abdruck eines Werbungstextes von 1767 ebd., S. 280–282. 138 Vgl. dazu Josef Brettenthaler, Die Wiederbesiedlung, in: Zaisberger (Hg.), Reformation, S. 172– 179. 139 Stadelmann, Friedrich Wilhelm I., S. 62–72; Gerd Heinrich, Friedrich der Große und die preußische Wasserstraßenpolitik. Wasserbaukunst und Bruchland-Meliorationen des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Verfassung und Verwaltung. Festschrift Kurt G.A. Jeserich, Köln 1994, S. 103–123, hier S. 107f.; Asche, Neusiedler, S. 383f. 140 Vgl. Stadelmann, Könige, Teil 2, S. 44–50; Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a.M. 1983, S. 336f.; Heinrich, Friedrich der Große, S. 113f.; Neugebauer, Zentralprovinz, S. 131f.; Asche, Neusiedler, S. 387–389; und detailliert zum Gesamtvorgang der Oderbruch-Melioration und der anschließenden Kolonisation Liesenberg, Kolonisation, S. 35– 102.

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tions- und Drainagearbeiten in den Bruchgebieten an Rhin und Dosse sowie an Netze und Drage fortgesetzt. Nach dem Erwerb Westpreußens und des Netzedistrikts (1772) kamen die Trockenlegungen in den Warthebrüchen hinzu. Auch hier konnten zahlreiche neue Kolonisten angesetzt werden.141 Überdies trieb Friedrich II. im seit 1744 preußischen Ostfriesland die – vereinzelt bereits seit 1633/34 zum Beispiel um Papenburg begonnene – Moorkolonisation voran. Auf der Grundlage des Urbarmachungsedikts vom 22. Juli 1765 wurden zwischen 1768 und 1790 1.131 Kolonistenstellen geschaffen, die sich freilich mittelfristig als zu klein erwiesen, zumal die durch Brandkultur fruchtbar gemachten Böden schnell erschöpft waren.142 Solche Hochmoorkolonisationen gab es über Ostfriedland hinaus im Emsland (Bourtanger Moor), im Oldenburger Land, in Kurhannover (unter anderem im Teufelsmoor ab 1751) sowie im Eider- und Treene-Gebiet im Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf.143 Dass es bei der Besiedlung der Moore neben dem Bestreben der Ressourcenausschöpfung auch um politische Zielsetzungen gehen konnte, zeigt das Beispiel des Bourtanger Moors im Grenzgebiet zwischen dem Erzstift Münster und den Niederlanden, wo Neusiedler auch zur Sicherung des 1784/85 vereinbarten Grenzverlaufs angesetzt wurden.144 In engem Zusammenhang mit der Moorkolonisation steht zumindest in Schleswig-Holstein auch die Besiedlung der Heidegebiete, für die in den Jahren 1759 bis 1763 immerhin etwa 4.000

|| 141 Vgl. Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 409–441; Stadelmann, Könige, Teil 2, S. 50–57; Walther Maas, Preußische Siedlungen in Westpreußen und dem Netzedistrikt 1772–1848, in: Deutsche Ostsiedlung in Mittelalter und Neuzeit, Köln/Wien 1971, S. 197–218; Neugebauer, Zentralprovinz, S. 132f.; Asche, Neusiedler, 398. Zu weiteren Meliorationen vgl. Stadelmann, Könige, Teil 2, S. 57–65. 142 Zur Moorkultivierung in Ostfriesland vgl. Heinrich Koppelmann, Die friderizianische Kolonisation in Ostfriesland, Diss. Münster 1922, S. 47–96; Heinz-Günther Borck, Die Besiedlung und Kultivierung der Emslandmoore bis zur Gründung der Emsland GmbH, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 45. 1973, S. 1–30, hier S. 4–7; Hans-Jürgen Nitz, Moorkolonien. Zum Landesausbau im 18. und 19. Jahrhundert westlich der Weser, in: ders., Historische Kolonisation, S. 337– 358, hier S. 342; Harm Wiemann/Reinhard Bruhns, Ostfriesische Geschichte, Teil III, Leer 1951, S. 14–17. 143 Zum Eider-Treenegebiet vgl. Jürgen Brockstedt, Regionale Mobilität in Schleswig-Holstein im 18. und 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Regionale Mobilität in Schleswig-Holstein 1600–1900. Theorie, Fallstudien, Quellenkunde, Bibliographie, Neumünster 1979, S. 63–88, hier S. 69f.; und Irmgard Gooß, Die Moorkolonien im Eidergebiet. Kulturelle Angleichung eines Ödlandes an die umgebende Geest, Kiel 1940. Zur Moorkolonisation in Kurhannover Müller-Scheeßel, Findorff; in Oldenburg Franz Böcker, Die innere Kolonisation im Herzogtum Oldenburg, Oldenburg 1914, S. 13–19; und im Münsterland, Böcker, Kolonisation, S. 9–11; Borck, Besiedlung, 9–12; Nitz, Moorkolonien, S. 343– 357; und zusammenfassend Nitz, Moorkolonien, S. 338f., 342f.; ders., Smallholder Colonization in the Heathlands of North-West-Germany during the 18th and 19th Centuries, in: ders., Historische Kolonisation, S. 359–366. 144 So bereits Böcker, Kolonisation, S. 11; außerdem Nitz, Moorkolonien, S. 344f. Borck, Besiedlung, S. 9, zufolge ging es sogar ausschließlich um diese politischen Zielsetzungen.

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Siedler aus Baden, Hessen und der Pfalz systematisch angeworben wurden.145 Freilich bleiben diese Zahlen bei weitem hinter der Kolonisationstätigkeit Friedrichs II. von Preußen zurück, der wohl allein für die Kurmark Brandenburg 100.000 neue Siedler anwarb, die vor allem aus dem Südwesten Deutschlands, aber auch aus der Schweiz, aus Österreich, Böhmen, Polen und anderen Gegenden stammten.146 In den Zusammenhang der Neulandgewinnung gehören auch die umfangreichen Eindeichungen an den Küsten der Nordsee von den Niederlanden bis nach Schleswig-Holstein, aber auch in Ostengland.147 Große Anstrengungen unternahm der dänische König ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein, wo durch Eindeichungen Ackerland gewonnen und geschützt wurde.148 Mit dem System der ›oktroyierten Köge‹ (Eindeichungen durch Privatpersonen aufgrund einer landesherrlichen Konzession) wurden im frühen 17. Jahrhundert die Voraussetzungen für eine systematische landesherrliche Besiedlung der Köge geschaffen.149 Die Deichbauarbeit betrieben oft niederländische Spezialisten, die neugewonnenen Parzellen wurden dann an diese Arbeiter vergeben oder aber an die Investoren, die diese gewinnbringend verpachteten.150 Solche Maßnahmen konnten auch verheerenden Flutkatastrophen folgen, wie etwa der Burchardi-Flut vom 11. Dezember 1634, als große Teile der Insel Nordstrand völlig verwüstet worden waren.151 Die

|| 145 Brockstedt, Mobilität, S. 69. 146 Vgl. für das Oderbruch Liesenberg, Kolonisation, S. 85f.; zur Kurmark Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 365f.; Asche, Neusiedler, S. 398. Von einer Gesamtheit für das ganze Königreich von etwa 300.000 Kolonisten sprechen Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 441; und Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 780. Ausführlich zur Anwerbung von Pfälzer Kolonisten für Pommern, die Kurmark, das Oderbruch und andere Gebiete Häberle, Auswanderung, S. 128–139. 147 Zu Ostengland vgl. Christopher G. Clay, Economic Expansion and Social Change. England, 1500–1700, 2 Bde., Cambridge 1984, hier Bd. 1, S. 110; Joan Thirsk, Farming Regions of England, in: dies. (Hg.), The Agrarian History of England and Wales, Bd. 4, Cambridge 1967, S. 1–112, hier S. 38– 40; Henry C. Darby, The Draining of the Fens, 2. Aufl. Cambridge 1956. 148 Von jeher spielten der Deichbau und das System des Deichschutzes hier eine wesentliche Rolle; vgl. etwa die zahlreichen Bestimmungen dazu in den einschlägigen Gesetzestexten des Herzogtums Schleswig: Corpus Statutorum Slesvicensium, oder: Sammlung der in dem Herzogthum Schleswig geltenden Land- und Stadt-Rechte, nebst den für diese Gegenden erlassenen neueren Verfügungen Bd. 1, [hg.v. C.L. Freiherr von Brockdorff/F.L. von Eggers], Schleswig 1794. 149 Vgl. Marie Luisa Allemeyer, »Kein Land ohne Deich…!« Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2006, S. 136–156. 150 Allemeyer, Kein Land ohne Deich, S. 140–154. Zu den aus den Eindeichungen resultierenden Wanderungen auch Brockstedt, Mobilität, S. 69; und zur oft hohen Mobilität der Deicharbeiter Rolf Uphoff, Die Deicher, Oldenburg 1995, S. 93f. Als Beispiel eines Kontrakts mit niederländischen Spezialisten vgl. »Fürstl. Octroy für die Nordstrandische Participanten« erlassen durch Hg. Friedrich, Gottorf, 8. Juli 1652, gedruckt in Corpus Statutorum Slesvicensium, Bd. 1, S. 560–579. 151 Vgl. Fritz Karff, Nordstrand. Geschichte einer nordfriesischen Insel, Flensburg 1968, S. 193–205; und Manfred Jakubowski-Tiessen, »Erschröckliche und unerhörte Wasserflut«. Wahrnehmungen und Deutungen der Flutkatastrophe von 1634, in: ders./Hartmut Lehmann (Hg.), Um Himmels

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›Partizipanten‹ erhielten von Herzog Friedrich von Holstein-Gottorf das volle Recht am anwachsenden Land, das vor den Deichen angespült wurde, sowie die Fischerei-, Jagd- und Mühlenrechte. Der Herzog bewilligte zudem neben der lutherischen Konfession das Religionsausübungsrecht für katholische und reformierte Investoren und ihre Haushalte. Im Falle der Insel Nordstrand wurde sogar eine eigenständige kommunale Gerichtsbarkeit festgelegt.152 Ein besonderes Privileg, das freilich auch zu Konflikten mit der ansässigen Bevölkerung führte, war die Befreiung von den Deichlasten, die somit von den übrigen Anwohnern mit übernommen werden mussten.153 Vergleichbare Bemühungen der Landesherren um eine systematischere Nutzung und Besiedlung der Marschregionen sind auch für die ostfriesische und oldenburgische Küste nachweisbar.154 Insgesamt muss freilich für die Moor- und Deichkolonisation festgehalten werden, dass es sich zu einem guten Teil um binnenkolonisatorische Maßnahmen handelte, im Zuge derer Fernwanderungen eher eine untergeordnete Rolle spielten und der Großteil der Neusiedler aus der unmittelbaren Umgebung kam, im Falle der wirtschaftlich problematischen und durch die Brandkultur schnell erschöpften Moorregionen vor allem aus den unterbäuerlichen Schichten.155 Die hier dargestellten Fälle systematischer Peuplierungsbemühungen auf dem Land – oft verbunden mit Bestrebungen des Landesausbaus – beziehen sich ausnahmslos auf die Territorialstaaten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Es gab jedoch auch auf der Ebene der Grundherrschaften gelegentlich solche – freilich selten intensiv erforschte – Ansätze. Ein Beispiel wurde im Zusammenhang mit || Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 179–200. Zu den Wiederherstellungsmaßnahmen Allemeyer, Kein Land ohne Deich, S. 97–99 und 141 mit Anm. 267. 152 Vgl. das herzogliche »Octroy«, Gottorf, 8. Juli 1652, abgedruckt in Corpus Statutorum Slesvicensium Bd. 1, S. 560–579. Auch dazu Allemeyer, Kein Land ohne Deich, S. 141. 153 Vgl. Allemeyer, Kein Land ohne Deich, S. 237–249. 154 Insbesondere zur im 16. Jahrhundert beginnenden Frühphase Dietrich Saalfeld, Ländliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Christine van den Heuvel/Manfred von Boetticher (Hg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 3/1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1998, S. 637–688, hier S. 664–666; desweiteren Koppelmann, Kolonisation, S. 9–46; Friedrich-Wilhelm Schaer, Die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst vom späten 16. Jahrhundert bis zum Ende der Dänenzeit, in: Albrecht Eckhardt (Hg.), Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch, Oldenburg 1987, S. 173–228, hier S. 177, 193f., 222–224; und Gebhard Löning, Ostfriesische Geschichte ,Teil II, Leer 1951, S. 68f.; Nitz, Transformation, S. 328; sowie Friedrich-Wilhelm Schaer, Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Deicharbeiter an der oldenburgisch-ostfriesischen Küste in der vorindustriellen Gesellschaft, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 45. 1973, S. 115–144, der sich freilich hauptsächlich auf Lohnarbeiter konzentriert (Bemerkungen zur Ansiedlung von Deicharbeitern ebd., S. 124f.). 155 Müller-Scheeßel, Findorff, S. 45 und 56–58; Nitz, Moorkolonien, S. 341 und 345. Zu den Problemen, die durch die Umsiedlung der ehemals hofgebundenen unterbäuerlichen Schichten für die alten Höfe am Moorrand entstanden, ebd., S. 345f.

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der Hugenottenansiedlung bereits kurz gestreift: Graf Otto von Schwerin, Geheimer Rat in der Regierung Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg-Preußen, initiierte in Brandenburg die Einwanderung französischer Protestanten, indem er durch seinen in Paris weilenden Sohn Siedler für sein Gut bei Altlandsberg anwerben ließ.156 Zu nennen ist überdies die Anwerbung niederländischer Kolonisten auf den Gütern der brandenburgischen Oberjägermeister aus der Familie von Hertefeld an der Havel zwischen Liebenwalde und Grüneberg (›Neuholland‹).157 Auch die Ansiedlung von Hugenotten im fränkischen Wilhelmsdorf durch Isaac Buirette von Oehlefeld können, wenngleich sie im engen Zusammenhang mit der Einwanderungspolitik Markgraf Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth zu sehen sind, hierzu gerechnet werden.158 Ein anderes Beispiel für Peuplierungsmaßnahmen im Rahmen eines landsässigen Rittergutes ist das im Herzogtum Coburg gelegene Hassenberg, wo in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezielt auf eine Erweiterung der Dörfer hingearbeitet wurde.159 Hinzu kommen die privat durchgeführten Kolonisationen des grundbesitzenden Adels in Ungarn.160 Hinzuweisen ist freilich auch auf die Tatsache, dass viele der ländlichen Kolonien von den Obrigkeiten zunehmend kritisch gesehen wurden. So beklagten sich Hessen-Kasselsche Beamte darüber, dass sich die französischen Kolonien – insbesondere diejenigen im Oberfürstentum – nach jahrelanger Unterstützung mit Vieh und Saatkorn noch immer nicht selbst ernähren konnten. Die Schuld dafür wurde häufig bei den Neusiedlern selbst gesucht, die sich angeblich dem Müßiggang hingaben.161 Ähnliches lässt sich auch über Brandenburg sagen: Derselbe König Friedrich Wilhelm I., der sich so intensiv um die Repeuplierung der ländlichen Gegenden Ostpreußens bemühte, hatte für ländliche Hugenottensiedlungen nichts übrig.162

|| 156 Zur Ansiedlung in Altlandsberg Muret, Geschichte, S. 5f.; Manoury, Geschichte, S. 1; Birnstiel, Hugenotten, S. 115f. 157 Vgl. Asche, Neusiedler, 363–370; Jan Peters, Neuholland von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: ders./Hartmut Harnisch/Lieselott Enders (Hg.), Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland, Weimar 1989, S. 18–80. 158 Schanz, Geschichte, S. 44–46; Rudolf Endres, Staat und Gesellschaft. Zweiter Teil: 1500–1800, in: Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 3/1, 3. Aufl. München 1997, S. 702–782, hier S. 765f. 159 Vgl. Thomas Gunzelmann, Hassenberg – ein Beispiel ritterschaftlicher Peuplierung im Coburger Land, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung, 35. 1990, S. 279–294. 160 Schünemann, Bevölkerungspolitik, S. 212–225, 243–250; Wellmann, Epoche, S. 251–258; Fata, Einwanderung, S. 114–140. Für ähnliche Vorgänge in Österreich auch Regina Pörtner, Migration und Herrschaftsverdichtung: Ökonomische Voraussetzungen konfessionell bedingter Untertanenmobilität in den Ländern der Habsburgermonarchie 1680-1780, in: Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge, S. 365–369. 161 Vgl. Zögner, Hugenottendörfer, S. 113; Kadell, Hugenotten, S. 163f. und 475–478; Niggemann, Immigrationspolitik, S. 241–243. 162 Vgl. Muret, Geschichte, S. 58; und Asche, Neusiedler, S. 340f. und 529–552.

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Und auch den Schweizer Kolonisten wurde vorgehalten, sie seien faul und täten zu wenig, um sich aus eigener Kraft zu ernähren.163 Geradezu paradox mutet zudem die unter Friedrich Wilhelm I. durchgeführte Ausweisung der Mennoniten an, die zeitgleich mit der Salzburger Ansiedlung stattfand. Begründet wurde diese Maßnahme vor allem mit der Verweigerung des Militärdienstes durch diese dem strikten Pazifismus verpflichtete Gruppe.164 Solche Vorgänge waren insgesamt keine Seltenheit und verweisen auf den Utilitarismus der Einwanderungspolitik, in deren Logik es lag, Bevölkerungsgruppen nach nützlichen und weniger nützlichen zu kategorisieren. Auch Landgraf Karl von Hessen-Kassel befahl im Zusammenhang mit der Unterbringung der Hugenotten in Kassel zu untersuchen, ob sich »nicht unnütz gesinde in der statt« befinde, welches »umb desto mehr raum vor die frantzoßen zugewinnen, hinauszuschaffen wehre«.165 Neulandgewinnung, Urbarmachung bislang ungenutzter Flächen war ein wichtiges Ziel landesherrlicher Politik in der Frühen Neuzeit, wobei eine Intensivierung der Bemühungen während des 18. Jahrhunderts festzustellen ist. Insbesondere Brandenburg-Preußen unternahm erhebliche Anstrengungen im Bereich der Bruchlandmeliorationen und der Moorkultivierung. Stets wurden solche Landgewinnungsmaßnahmen zum Ausgangspunkt von Kolonisationsbemühungen. Um das neugewonnene Land zu bestellen, wurden Menschen aus dem Inland wie auch aus dem Ausland mit zum Teil umfangreichen Privilegien ins Land gelockt und angesiedelt. Doch auch Kriegsverheerungen oder die Folgen der Pest führten im 18. Jahrhundert zu umfangreichen ländlichen Wiederbesiedlungsmaßnahmen, wie das wohl prominenteste Beispiel, die Ansiedlung der Salzburger Exulanten in Preußen zeigt.

5 Städtische Neusiedler, Neustädte und Residenzausbau Besondere Aufmerksamkeit richteten die Merkantilisten stets auf das städtische Umfeld, insbesondere auf Handel und Gewerbe. Auch hier gilt, was schon bei der ländlichen Kolonisation festgestellt wurde: ›Peuplierung‹ und Gewerbeförderung waren in der Regel eng miteinander verflochten. Die Ansiedlung von Menschen diente der Bevölkerungsvermehrung, war aber gleichzeitig auch eine Maßnahme zur Förderung der Wirtschaft, insbesondere zur Weiterentwicklung neuer Betriebsformen und zur Herstellung bislang nur im Ausland produzierter Güter. Zugleich schuf erst eine systematische Gewerbeförderung die Möglichkeit, Einwanderer in

|| 163 Asche, Neusiedler, S. 241 mit Anm. 882. 164 Dazu Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 168f.; Walker, Handel, S. 85f. 165 Zitiert bei Niggemann, Immigrationspolitik, S. 154.

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Lohn und Brot zu bringen. Besonders interessiert waren die von merkantilistischen Theorien beeinflussten Landesherren an der Niederlassung von Manufakturen. Manufakturen als zentralisierte Großbetriebe galten als Heilmittel für die Wirtschaft, zumal viele Fürsten im Rahmen einer Bildungsreise die Gelegenheit gehabt hatten, solche Großbetriebe in Frankreich und den Niederlanden zu bewundern.166 Abgesehen von der Möglichkeit, hier sowohl Massenwaren – etwa für den Militärbedarf – als auch Luxusgüter für den Hof produzieren zu lassen, konnten in den Manufakturen auch zahlreiche Arbeiter beschäftigt werden.167 Bisweilen war die Einstellung einer bestimmten Zahl von Arbeitern sogar Bedingung für die Erteilung einer Konzession.168 Große Manufakturen, insbesondere im Bereich der Textilherstellung, entstanden etwa im Zuge der Hugenotteneinwanderung in Berlin, Magdeburg, Halle, Erlangen und Kassel. Auch unter den Schweizer Einwanderern befanden sich Handwerker und Manufakturisten, die in Berlin-Cölln, Potsdam, Neustadt-Eberswalde und Prenzlau angesiedelt wurden.169 Bei der Anlage dieser Großbetriebe spielten landesherrliche Zuschüsse und Kredite eine zentrale Rolle. Über die finanziellen Zuwendungen hinaus erhielten die Manufakturisten in der Regel auch Gebäude oder zumindest Baumaterial. Vielfach wurden ihnen sogar Produktionsanlagen wie Lohmühlen aus landesherrlichen Mitteln erbaut.170 Hinzu kamen umfangreiche, oft || 166 Dass bei vielen fürstlichen Bildungsreisen auch die Besichtigung von Gewerbebetrieben auf dem Programm stand, betont Eva Bender, Die Prinzenreise. Bildungsaufenthalt und Kavalierstour im höfischen Kontext gegen Ende des 17. Jahrhunderts, Berlin 2011, S. 134, 141–148, 295 u.ö. 167 Zur Betriebsform der Manufaktur und zu ihrer Bedeutung für die Wirtschaftspolitik vgl. z.B. Kellenbenz, Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 312, 330f.; Gömmel, Entwicklung, S. 49f.; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 765f., 823; Wilfried Reininghaus, Gewerbe in der frühen Neuzeit, München 1990, S. 4f. 168 Dies lässt sich etwa im Zusammenhang mit dem Aufbau von Manufakturen durch eingewanderte Hugenotten in Brandenburg-Preußen beobachten; vgl. etwa die Konzession für die ›Große Manufaktur‹ in Magdeburg, abgedruckt bei Tollin, Geschichte, Bd. 2, S. 477–479; außerdem Ingrid Mittenzwei, Die Hugenotten in der gewerblichen Wirtschaft Brandenburg-Preußens, in: dies. (Hg.), Hugenotten, S. 112–168, hier S. 118; Otto Hintze, Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, Berlin 1892, S. 83, Jersch-Wenzel, Juden, S. 80; und Niggemann, Immigrationspolitik, S. 295. 169 Asche, Neusiedler, S. 245f. 170 Beispiele für finanzielle Zu- und Vorschüsse sowie für den Bau von Gewerbeeinrichtungen bei Beheim-Schwarzbach, Colonisationen, S. 58; Tollin, Geschichte Bd. 2, S. 411f.; Schanz, Geschichte, S. 24f. mit Anm. 6; Preetz, Hugenotten-Kolonien, S. 77; Hintze, Seidenindustrie, S. 83; JerschWenzel, Juden, S. 79f.; Peter Landgrebe, Minoritätengruppe und wirtschaftliche Bedeutung. Zum Einfluß der Hugenotten auf die deutsche Wirtschaftsentwicklung, Sickte 1977, S. 184 und 197 mit Anm. 1; Alfred Giebel, Die landgräfliche Wolltuchmanufaktur in Treysa, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 65/66. 1954, S. 106–119, hier S. 106–108; Kadell, Hugenotten, S. 555–557; Birke Grießhammer, Die Strumpffabrikation – eine Fehlinvestition?, in: Friederich (Hg.), Hugenottenstadt, S. 160–167, hier S. 163; Dietmar Willoweit, Gewerbeprivileg und ›natürliche‹ Gewerbefreiheit. Strukturen des preußischen Gewerberechts im 18. Jahrhundert, in: Karl O.

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über die allgemeinen Einwandererprivilegien hinausgehende Steuer- und Zollvergünstigungen.171 Dennoch erwiesen sich viele dieser Betriebe als unwirtschaftlich, was auch an den unterentwickelten Absatzstrukturen lag. Streitigkeiten und langwierige Prozesse der Manufakturisten untereinander waren – besonders auffällig im Falle der Hugenotten – die Folge.172 In der Praxis blieben größere Manufakturbetriebe in fast allen deutschen Territorien die Ausnahme. Auch unter den Hugenotten, die nach Deutschland kamen, befanden sich nur wenige, die solche Betriebe eröffneten. Die Mehrzahl der in den Städten angesiedelten Hugenotten betätigte sich im Rahmen des traditionellen Kleinhandwerks, wo sie sich spätestens nach Ablauf der in den Einwandererprivilegien festgelegten Freijahre in aller Regel den ortsüblichen zünftigen Strukturen anpassen mussten.173

|| Scherner/Dietmar Willoweit (Hg.), Vom Gewerbe zum Unternehmen. Studien zum Recht der gewerblichen Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert, Darmstadt 1982, S. 60–111, hier S. 77; Andreas Jakob, Die Neustadt Erlangen. Planung und Entstehung, Erlangen 1986, S. 109–112; Birnstiel/Reinke, Hugenotten, S. 114f. und 121–123. 171 Teilweise sind diese schon in den allgemeinen Privilegien zugunsten der Manufakturisten differenziert: So sehr deutlich im Privilegienedikt Mgf. Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth (Art. 9, 11), Bayreuth, 27. November 1685, abgedruckt bei Schanz, Geschichte (Abt. 2), S. 6–8; sowie Privilegienedikt Mgf. Christian Ernsts (Art. 13), Bayreuth, 15. August 1687, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 68. Vgl. Schanz, Geschichte, S. 12; Ebrard, Christian Ernst, S. 21; Endres, Staat, S. 765. Ähnlich auch das Edikt Lgf. Karls von Hessen-Kassel (Art. 3), Kassel, 12. Dezember 1685, abgedruckt bei Mempel (Bearb.), Gewissensfreiheit, S. 52. Vgl. dazu Schmidmann, Kolonien, S. 24; Mogk, Voraussetzungen, S. 26; Kadell, Hugenotten, S. 301, 323f. Darüber hinaus erhielten Manufakturisten oft individuelle Privilegien; vgl. etwa Mittenzwei, Hugenotten, S. 119; und Klingebiel, Weserfranzosen, S. 83. Insgesamt dazu auch Niggemann, Immigrationspolitik, S. 290–296. 172 Vgl. zur Einschätzung des wirtschaftlichen Erfolgs Jersch-Wenzel, Juden, S. 82; Rudolf von Thadden, Die Hugenotten: eine innovatorische Schubkraft in der Geschichte BrandenburgPreußens? Ein Diskussionsbeitrag, in: Mittenzwei (Hg.), Hugenotten, S. 100–111, hier S. 104; Mittenzwei, Hugenotten, S. 119f.; Kadell, Hugenotten, S. 543; Henning, Handbuch, Bd. 1, S. 824; und Niggemann, Immigrationspolitik, S. 304–308. Zu den Konflikten der hugenottischen Manufakturisten untereinander ebd., S. 315–318; und ders., Kirchliches Leben und Konflikterfahrung. Zur Konstituierung von französischen Réfugiés-Gemeinden im Herzogtum Magdeburg (1685–1700), in: Joachim Bahlcke/Rainer Bendel (Hg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2008, S. 223–247, hier S. 236–247. 173 Hierzu ausführlich Niggemann, Immigrationspolitik, S. 320–354; ders., Hugenotten als wirtschaftliche Elite. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in den immigrationspolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland und England, 1680–1700, in: Denzel/Asche/Stickler (Hg.), Minderheiten, S. 319–345, hier S. 343f.; ders., Craft Guilds and Immigration: Huguenots in German and English Cities, in: Bert de Munck/Anne Winter (Hg.), Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Farnham 2012, S. 45–60.

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Der Regelfall der städtischen Kolonisation war die Ansetzung der Einwanderer in den bestehenden Städten. Insbesondere in den stark kriegsverwüsteten Städten wurden den Einwanderern bestimmte, über die jeweilige Stadt verstreute wüste Hausstellen oder Instand zu setzende Häuser eingeräumt. Pläne wie etwa im Fall der Waldenseransiedlung in der altmärkischen Stadt Stendal, Teile der Bevölkerung innerhalb der Stadt umzusiedeln, um ein geschlossenes Einwandererviertel zu schaffen, wurden kaum jemals verwirklicht.174 Es gab jedoch in der Frühen Neuzeit auch das Phänomen der Exulantenstädte: Stadtneugründungen, die entweder im Zuge einer Einwanderung erfolgten oder aber zum Auslöser gezielter Anwerbungspolitik wurden.175 Wie fast alle städtischen Neugründungen im Europa der Frühen Neuzeit wurden diese Städte meist als Planstädte angelegt, oft mit dem Anspruch verbunden, Visionen von der idealen Stadt, wie sie in großer Zahl seit der Renaissance (zum Beispiel von Albrecht Dürer) verbreitet worden waren, zu verwirklichen.176 Dies war etwa bei der Neustadt Hanau der Fall, die ab 1597 für aus Frankfurt abwandernde niederländische und wallonische Reformierte erbaut worden war.177 Die Gründung von Mannheim im Jahr 1606 gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, denn auch hier wurde vor allem für niederländische und wallonische Einwanderer eine neue Stadt gebaut, die freilich mit ihrer Zitadelle Friedrichsburg auch eine starke militärische Komponente besaß.178 Schließlich lässt sich auch Friedrichstadt an der Eider als Beispiel anführen. Hier waren es neben sieben weiteren Religionsgemeinschaften (darunter Mennoniten und Katholiken) insbesondere

|| 174 Vgl. zu den Plänen in Stendal Tollin, Geschichte, Bd. 2, S. 82f. und 85. 175 Zum Typus der Exulantenstadt Heinz Stoob, Über frühneuzeitliche Städtetypen, in: ders., Forschungen zum Städtewesen in Europa, Bd. 1: Räume, Formen und Schichten der mitteleuropäischen Städte. Eine Aufsatzfolge, Köln/Wien 1970, S. 246–284, hier S. 264–276; vgl. auch Walter Grossmann, Städtisches Wachstum und religiöse Toleranzpolitik am Beispiel Neuwied, in: Archiv für Kulturgeschichte, 62/63. 1980/81, S. 207–232, hier S. 208; und Ulrich Rosseaux, Städte in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 39–42. 176 Zu den Idealstadtvorstellungen der Frühen Neuzeit vgl. etwa Ruth Eaton, Die ideale Stadt. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2001, S. 40–71; Sascha Winter, Idealstadt, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart 2007, Sp. 767–769. 177 Zur Neustadt Hanau ausführlich Heinrich Bott, Gründung und Anfänge der Neustadt Hanau 1696–1620, Bd. 1: Die Gründung der Neustadt Hanau 1596–1601. Darstellung und ausgewählte Quellen, Marburg 1970. Knapp auch Stoob, Städtetypen, S. 208–210; Dölemeyer, Hugenotten, S. 131f.; und Rosseaux, Städte, S. 40f. 178 Zu Mannheim Armand Baumann, Zur Geschichte Mannheims und der Pfalz. Pläne und Bilder aus der Sammlung des Mannheimer Altertums-Vereins, Mannheim 1897; Friedmann, AltMannheim, S. 7f.; Klaus Merten, Residenzstädte in Baden-Württemberg im 17. und 18. Jahrhundert, in: Michael Maaß/Klaus W. Berger (Hg.), »Klar und lichtvoll wie eine Regel«. Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Karlsruhe 1990, S. 221–230, hier S. 222.

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niederländische Remonstranten, die von Herzog Friedrich III. von Gottorf Privilegien für den Bau einer neuen Stadt erhielten.179 In anderen Fällen gingen die Entscheidung zum Bau einer neuen Stadt und deren Planung einer systematischen Anwerbung von Neubürgern voraus. Dies lässt sich etwa für Freudenstadt feststellen: Hier stand die Entscheidung zur Neugründung im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Erschließung des Schwarzwaldes und mit den politischen Ambitionen des Herzogs von Württemberg im Elsass. Erst nach der Fertigstellung der Pläne und im Kontext des Gründungsaktes 1599 folgten gezielt Werbungen unter den Protestanten in Österreich.180 Glückstadt in Holstein ist ein anderes Beispiel. Auch hier rundete die Gründung einer Stadt die wirtschaftliche Erschließung des Landes, in diesem Fall eines seit 1615 eingedeichten Gebietes ab, die zugleich als politische und militärische Operationsbasis König Christians IV. von Dänemark dienen sollte.181 Zugleich mit den Planungsarbeiten warb der König um »gute und vermögende leute, so das newe angefangene städtlein […] aufbauen mügen«.182 In der Folgezeit siedelten sich Arbeiter und Soldaten aus der näheren Umgebung, aber auch portugiesische Juden sowie Remonstranten und Mennoniten aus den Niederlanden in der Stadt an.183 Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden weitere Neustädte gegründet, die im engen Zusammenhang mit der Ansiedlung von Einwanderern standen und denen dieselben Prinzipien zugrunde lagen. Kurfürst Johann Georg von Sachsen gründete 1654 für böhmische Einwanderer, die bereits in ihrer Heimat als Bergleute tätig waren, die Bergbaustadt Johanngeorgenstadt – außer dem kleineren Neusalza in der Oberlausitz die einzige städtische Neugründung für böhmische ›Exulanten‹ in Sachsen.184 Weitaus bekannter als Exulantenstadt dürfte hingegen die Neustadt Erlangen sein, die von Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth im Zuge der Hugenotteneinwanderung gegründet wurde. Nachdem zunächst eine Ansiedlung der Franzosen in Neustadt an der Aisch oder Baiersdorf erwogen worden war, fiel im Sommer 1686 die Entscheidung, südlich der Altstadt Erlangen eine völlig neue Stadt || 179 Carl A. Carstensen, Die Gründung und anfängliche Entwicklung von Friedrichstadt an der Eider, Diss. Kiel 1913. 180 Überblick in: Planstadt Kurstadt Freudenstadt. Chronik einer Tourismusstadt, hg.v. Stadtarchiv Freudenstadt, Karlsruhe 1999. 181 Zu den Motiven Christians IV. vgl. Gerhard Köhn, Die Bevölkerung der Residenz, Festung und Exulantenstadt Glückstadt von der Gründung 1616 bis zum Endausbau 1652, Neumünster 1974, S. 24–26. 182 Aus einem Werbungsschreiben Kg. Christians IV. von Dänemark aus dem Jahr 1616, hier zitiert nach Köhn, Bevölkerung, S. 22. 183 Köhn, Bevölkerung, S. 22f. und 45–63. 184 Frank Teller, Bergbau und Bergstadt Johanngeorgenstadt (1654–1945), Johanngeorgenstadt 2001, S. 8–12; Alexander Schunka, »St. Johanngeorgenstadt zu kurfürstlicher Durchlaucht unsterblichen Nachruhm«. Stadtgründung und städtische Traditionsbildung in der Frühen Neuzeit, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 74/75. 2003/2004, S. 175–205; Rosseaux, Städte, S. 40.

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zu errichten. Schon die geometrisch gestaltete Gesamtanlage bringt die Ambitionen der Regierung und das Streben nach Prestige deutlich zum Ausdruck. Dieser Aspekt wurde 1708 durch die Erhebung der Stadt zur Nebenresidenz und bereits in den Jahren 1700 bis 1704 durch den Bau des Schlosses zusätzlich betont, was der Stadt freilich einen von der ursprünglichen Planung abweichenden Charakter gab.185 Auch der Bau der Kasseler Oberneustadt erhielt den entscheidenden Anstoß durch die Einwanderung der Hugenotten. Ähnlich wie in Erlangen entstand vor den Toren der Altstadt eine planmäßig ausgebaute barocke Vorstadt nach den Plänen des hugenottischen Architekten Charles du Ry.186 Typisch für beide Anlagen ist, dass sich hier ästhetische Vorstellungen mit dem Ziel einer Gewerbe- und Manufaktursiedlung verbanden. In Erlangen etwa wurde eigens ein großes Manufakturhaus eingeplant.187 In Kassel entwickelte sich die Oberneustadt zum Wohnort vor allem der kleineren Gewerbetreibenden und der Manufakturarbeiter.188 Weitere Beispiele für solche ›Hugenottenstädte‹, die freilich architektur- und stadtgeschichtlich keinen eigenen Typus bilden189, sind etwa Neu-Isenburg oder Karlshafen (beide 1699).190 Für alle diese Städte wurde über den Kreis der Hugenotten hinaus in der Folgezeit um weitere Neubürger geworben, etwa für Kassel, wo man Weber und Spinner aus Schlesien ansiedelte.191 || 185 Vgl. zur Planung und zum Bau der Neustadt Erlangen insbesondere Jakob, Neustadt; ders., Die Baugeschichte der Erlanger Neustadt, in: Friederich (Hg.), Hugenottenstadt, S. 192–203. Zur Erhebung zur Residenz und Amtshauptmannschaft sowie zum Schloßbau vgl. Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben, S. 124; Jakob, Neustadt, S. 66–73. 186 Zur Gründung der Oberneustadt vgl. Alfred Heussner, Die französische Colonie in Cassel, Magdeburg 1903, S. 12f.; Hugo Brunner, Geschichte der Residenzstadt Cassel, Kassel 1913 Ndr. Frankfurt a.M. 1978, S. 203f.; Alfred Giebel, Réfugiés in der Residenzstadt Kassel, in: Desel/Mogk (Hg.), Hugenotten, S. 47–103, hier S. 49; Kadell, Hugenotten, S. 177; Winfried Bergmeyer, Landgraf Karl von Hessen-Kassel als Bauherr. Funktionen von Architektur zwischen Vision und Wirklichkeit, Münster 1999, S. 184; Dölemeyer, Hugenotten, S. 104. 187 Zum Erlanger Manufakturhaus Jakob, Neustadt, S. 109. 188 Zur Sozialstruktur der Kasseler Oberneustadt vgl. Kadell, Hugenotten, S. 185f., demzufolge der französische Anteil an der Bevölkerung »immer verhältnismäßig gering« geblieben sei. 189 So in aller Deutlichkeit Andreas Jakob, Die barocke Stadtanlage von Karlshafen und ihre europäischen Wurzeln, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung, 51. 2000, S. 3– 41, hier S. 5–8; und ders., Die Legende von den ›Hugenottenstädten‹. Deutsche Planstädte des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Maaß/Berger (Hg.), »Klar und lichtvoll wie eine Regel«, S. 181–198. Vorsichtiger in diesem Sinne auch Willi Stubenvoll, Die deutschen Hugenottenstädte, Frankfurt a.M. 1990, S. 192–198. 190 Zum heutigen Bad Karlshafen, das zunächst Sieburg genannt wurde, vgl. Jakob, Stadtanlage; und den Sammelband von Gerd Fenner (Hg.), Landgraf Karl und die Gründung von Karlshafen 1699–1999, Kassel 1999; Dölemeyer, Hugenotten, S. 104. Zu Neu-Isenburg vgl. den Sammelband von Heidi Fogel/Matthias Loesch (Hg.), »Aus Liebe und Mitleiden gegen die Verfolgten«. Beiträge zur Gründungsgeschichte Neu-Isenburgs, Neu-Isenburg 1999; Dölemeyer, Hugenotten, S. 128f.; und Wolfgang Pülm, Neu-Isenburg. Die Entwicklung der Hugenottenstadt, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1999. 191 Vgl. dazu Schmidmann, Kolonie, S. 146; Kadell, Hugenotten, S. 186.

›Peuplierung‹ als merkantilistisches Instrument | 213

In anderen Fällen ging der Gründungsakt ohnehin der Anwerbung von Einwohnern voraus. Dies gilt ganz besonders für die neu entstehenden Residenzstädte, wie etwa Neuwied (1662), das zugleich als günstig am Rhein gelegenes Handelsund Gewerbezentrum der kriegszerstörten Grafschaft Wied positive Impulse geben sollte.192 Ab 1660 begann auch der Ausbau Potsdams als Zweitresidenz des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Insbesondere unter König Friedrich II. folgte dann die weitere Ausgestaltung durch den Bau des Schlosses Sanssouci und des Neuen Palais. Zuvor schon war Potsdam unter Friedrich Wilhelm I. zu einem wichtigen Garnisonsstandort geworden.193 Auch mit dem Ausbau Berlins wurde in der Zeit Kurfürst Friedrich Wilhelms begonnen, zuerst mit der Befestigung und Privilegierung des Friedrichswerders (1662), dann mit dem Bau der Dorotheenstadt (seit 1673) und der Friedrichsstadt (seit 1688).194 Wie bei der schon erwähnten Kasseler Oberneustadt handelte es sich hier um planmäßig angelegte Vorstädte, in denen zahlreiche Einwanderer angesiedelt wurden. Völlig neue Residenzstädte wurden außer dem schon erwähnten Neuwied mit der Gründung von Ludwigsburg durch Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg (seit 1709) oder der ›Fächerstadt‹ Karlsruhe durch Markgraf Karl von Baden-Durlach (seit 1715) geschaffen.195 Vor allem wirtschaftlichen Zielen diente der seit 1610 durch die Herzöge von Berg betriebene Ausbau der Stadt Mülheim am Rhein zu einer Gewerbestadt mit eigenem Hafen. Das rechtsrheinische Mülheim wurde bewusst in Konkurrenz zur in Sichtweite liegenden Reichsstadt Köln mit weitgehenden religiösen Freiheiten versehen und lockte daher zahlreiche aus Köln ausgewiesene Reformierte an, die insbesondere in der Textilproduktion tätig waren.196 Als reine Manu|| 192 Zur Gründungsgeschichte von Neuwied vgl. Grossmann, Wachstum; Ströhm, Herrnhuter Brüdergemeine, S. 39–47; und Volk, Peuplierung. 193 Vgl. Julius Haeckel, Politische und wirtschaftliche Entwickelung im Zeitalter des Absolutismus, in: ders. (Hg.), Geschichte der Stadt Potsdam, Potsdam 1912, S. 31–118; Kunisch, Funktion, S. 73–76; Peter-Michael Hahn, Geschichte Potsdams von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003, S. 19–82. 194 Erika Schachinger, Die Berliner Vorstadt Friedrichswerder 1658–1708, Köln 1993; dies., Die Dorotheenstadt 1673–1708. Eine Berliner Vorstadt, Köln 2001; Asche, Neusiedler, S. 107. Zur Niederlassung der Hugenotten in den Neustädten Wilke, Kolonie, S. 359–361. 195 Zu Ludwigsburg Merten, Residenzstädte, S. 224–227. Zu Karlsruhe Karl G. Fecht, Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe, Karlsruhe 1887; Gottfried Leiber, Städtebau in Karlsruhe – Von der Gründung bis zum Ende der Ära Weinbrenner, in: Leben in der Fächerstadt, Karlsruhe 1991, S. 23–47, hier S. 23–36; Merten, Residenzstädte, S. 225–227; Christina Wagner, Von der Stadtgründung zur großherzoglich badischen Haupt- und Residenzstadt 1715-1806, in: Susanne Asche u.a. (Hg.), Karlsruhe. Die Stadtgeschichte, Karlsruhe 1998, S. 65–189, hier S. 66–115. 196 Zur Lage der Reformierten in Köln Leonhard Ennen, Die reformirte Gemeinde in der Stadt Köln am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, in: Monatsschrift für rheinisch-westfälische Geschichtsforschung und Alterthumskunde, 1. 1875, S. 397–438, 493–528. Zur Anfangsphase des Mülheimer Projekts und zum erfolgreichen Widerstand Kölns gegen den Festungsbau Hans-Wolfgang Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Ein Beitrag zur

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faktur- und Gewerbesiedlung wurde seit 1767 auch das Höchster Neustadtprojekt durch Kurfürst Emmerich Joseph von Mainz betrieben.197 Stets war mit der Gründung auch die Werbung um ansiedlungswillige Neubürger verbunden. Oft waren es größere Gruppen, die gezielt angeworben wurden. Neben den Hugenotten, die sich in größerer Zahl etwa in den Berliner Vorstädten niederließen, waren dies wie etwa in Neuwied198 Mennoniten, Inspirierte, Herrnhuter und Juden oder wie in Potsdam199 Hugenotten, Böhmen, Schweizer, Sachsen, Pfälzer und Niederländer, von denen letztere ein eigenes Viertel erbauten. In Berlin kamen nach den Hugenotten zahlreiche weitere Einwanderergruppen hinzu, die ein ganz erhebliches Stadtwachstum förderten. Typisch war in allen diesen Fällen das Zugeständnis der mehr oder weniger freien Religionsausübung, die im Falle der reichsrechtlich nicht anerkannten Gruppen freilich auf Hausandachten beschränkt werden konnte. In vielen Fällen waren die Neustädte vom Zunftbann befreit oder erhielten eigene Zünfte. Im Falle größerer Einwanderergruppen wie den Hugenotten wurde vielfach auch eine eigene Gerichtsbarkeit und Stadtverwaltung für die Neustadt geschaffen, die dann nach dem Ortsprinzip für alle Bewohner galt. Beispiele hierfür sind etwa Erlangen, Kassel-Oberneustadt, Neuwied oder Karlsruhe.200 Darüber hinaus ist stets zu bedenken, dass gerade die größeren Residenzstädte wie Berlin, Dresden, München und Wien auch ohne aktive Einwanderungspolitik einen erheblichen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatten. Der Hof und der anwachsende Beamtenapparat zogen zahlreiche Menschen in die Hauptstadt. Hinzu kamen allerlei Zulieferer, die den Hof mit Luxusgütern und Lebensmitteln versorgten.201 Im Gegensatz zu Berlin und – im geringeren Ausmaß – Dresden sind aktive

|| korporativen reichsständischen Politik 1555–1616, Köln 1990, 298–305; Joachim Deeters, Pläne und Ansichten zum Ausbau Mülheims in den Jahren 1588 bis 1615, in: Rechtsrheinisches Köln. Jahrbuch für Geschichte und Landeskunde, 19. 1993, S. 1–46. 197 Vgl. dazu Rudolf Schäfer, Förderung von ›Handel und Wandel‹ in Kurmainz im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M./Höchst 1968, S. 10–14. 198 Grossmann, Wachstum; Volk, Peuplierung; Ströhm, Herrnhuter Brüdergemeine, S. 47–51, und speziell zu den Herrnhutern ebd., passim. 199 Haeckel, Entwickelung, S. 67–69; Schmelz, Rolle; Silke Kamp, Die verspätete Kolonie. Hugenotten in Potsdam 1685–1809, Berlin 2011. 200 Vgl. für Kassel-Oberneustadt das Stadtprivileg, 17. Februar 1690, gedruckt in Sammlung fürstlich-hessischer Landesordnungen, Bd. 3, S. 348f. Dazu Kadell, Hugenotten, S. 180–182, 187–189, 383f. Zu Erlangen vgl. Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben, S. 54, 68f., 96f., 124; Rudolf Endres, Selbstverwaltung und Rechtsstellung der Hugenotten in Erlangen (1685–1708), in: Peter Johanek (Hg.), Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne, Köln 2004, S. 173–196, hier S. 185f. Karlsruher Stadtprivilegien von Mgf. Karl von Baden-Durlach, Karlsburg, 24. September 1715, abgedruckt bei Fecht, Geschichte, S. I–IV. Vgl. auch ebd., S. 107–115; Wagner, Stadtgründung, S. 72f. Für Neuwied vgl. Ströhm, Herrnhuter Brüdergemeine, S. 43–47; und Volk, Peuplierung, passim. 201 Vgl. Rosseaux, Städte, S. 31–35; Stoob, Städtetypen (1970), S. 276f.

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Anwerbungen von Neubürgern aus den großen Residenzstädten Wien und München kaum bekannt. In München fällt lediglich die Ansetzung zahlreicher neuer Klöster durch den Kurfürsten im Bereich der wachsenden Stadt auf.202 Wiederbesiedlung nach Kriegsverlusten, aber auch die Hebung von Handel und Gewerbe – so lässt sich resümieren – waren die wichtigsten Ziele städtischer Kolonisationsmaßnahmen. Kleinere und größere Neusiedlergruppen wurden zumeist in bestehenden Städten zugesiedelt, wobei sie – wie im Fall der Hugenotten oder auch der in Magdeburg angesiedelten ›Pfälzer‹ – bisweilen sogar eigene Stadtverwaltungen und ein eigenes Gerichtswesen erhielten. Doch auch Neustadtgründungen waren in der Frühen Neuzeit keine Seltenheit. Neustädte, meist als geometrische Planstadtanlagen konzipiert, wurden entweder speziell für bestimmte Einwanderergruppen errichtet oder sie gingen der Anwerbung von Neubürgern voraus. Im letzteren Fall handelte es sich oft um Residenzstädte oder andere aus politischen Gründen errichtete Anlagen, für deren Besiedlung gezielt um Einwanderer geworben wurde.

6 Die Privilegienpolitik und ihre Hintergründe Der staatliche Gestaltungsanspruch durch Migrationssteuerung im Kontext der hier vorgestellten Beispiele ist nicht zu übersehen. Die Ansätze, die sich vereinzelt bereits im 16., dann aber vor allem im 17. Jahrhundert erkennen lassen, verstärkten sich im 18. Jahrhundert noch. Im Mittelpunkt standen unverkennbar das wirtschaftliche und bevölkerungspolitische Interesse und damit zusammenhängend die Frage nach der Nützlichkeit von gezielter Einwanderungspolitik. Zu diskutieren ist, inwieweit mit Hilfe der Einwanderungspolitik auch Konfessionspolitik betrieben wurde. Die hier vorgeführten Beispiele haben bereits deutlich gemacht, dass keineswegs immer bevorzugt Angehörige der Glaubensgemeinschaft des Landesherrn angesiedelt wurden. Im Zuge eines von merkantilistischen Vorstellungen beherrschten Wirtschaftsdenkens, das ergänzt wurde durch den Utilitarismus der Aufklärung, waren die Landesherren zunehmend bereit, die konfessionelle Geschlossenheit ihrer Territorien zugunsten ihrer wirtschaftlich-fiskalischen Interessen aufzugeben. Am deutlichsten wird dies sicher bei Friedrich II. von Preußen, dessen bekannte Randglosse (»Alle Religionen seindt gleich und guht, wann nur die leute, so sie profesiren erliche leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das

|| 202 Vgl. Manfred Peter Heimers, Die Strukturen einer barocken Residenzstadt. München zwischen Dreißigjährigem Krieg und dem Vorabend der Französischen Revolution, in: Richard Bauer (Hg.), Geschichte der Stadt München, München 1992, S. 211–243, hier S. 222f.

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Land pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen«203) in aller Deutlichkeit das agnostische Denken und die konfessionelle Offenheit des Königs offenbart. Es wird überdies argumentiert, dass gerade ein Fürst wie der Kurfürst von Brandenburg, der als Reformierter ja einer Majorität lutherischer Untertanen gegenüberstand, bestrebt gewesen sei, durch die Ansiedlung reformierter Zuwanderer (Niederländer, Schweizer, Hugenotten) seine eigene Position zu stärken, nicht zuletzt deshalb, weil sich die ständische Opposition auch an konfessionellen Gegensätzen entzündete.204 Diese Deutung ist zumindest für die Regierungszeit Kurfürst Friedrich Wilhelms und Kurfürst beziehungsweise König Friedrich III./I. formuliert worden, während die Retablissementpolitik Friedrich Wilhelms I., erst recht aber die Peuplierungspolitik Friedrichs II. offenkundig nicht mehr auf eine Bevorzugung reformierter Einwanderergruppen ausgerichtet war. Doch auch für die frühere Phase sollte der konfessionspolitische Aspekt wohl nicht überbetont werden. Zwar waren die Haupteinwanderergruppen tatsächlich reformiert, doch dürfte sich ihr Einfluss auf die lutherische Bevölkerung und damit auch die Stärkung der landesherrlichen Position in engen Grenzen gehalten haben, weil sie eben in rechtlich segregierten und oft auch örtlich abgegrenzten Gemeinden angesiedelt wurden. Hinzu kam im Falle der Hugenotten, der Niederländer und der französisch-sprechenden Schweizer die sprachliche Isolation. Diese begrenzten Einflussmöglichkeiten dürften auch der Regierung bekannt gewesen sein, sodass der bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Zug der Privilegierung wohl deutlich im Vordergrund stand, ohne dass man darüber konfessionelle Solidarität mit den glaubensverwandten ›Konfessionsmigranten‹ ausschließen sollte. Inwieweit gerade im brandenburgischen Fall die Übernahme der Rolle der Kurpfalz als protestantische Schutzmacht im Reich symbolisch durch die Aufnahme von protestantischen Migranten zum Ausdruck gebracht werden sollte, wäre noch zu klären. Ähnliches ist auch zu den in den letzten Jahren verstärkt vorgebrachten ständepolitischen Implikationen der Einwanderungs- und Privilegienpolitik zu sagen. Demnach sei nicht nur in Brandenburg-Preußen die Privilegierung von Einwande|| 203 Marginalie zur Zuzugserlaubnis für einen katholischen Kaufmann von 1740, hier zitiert nach Michael Höhle, Friedrich der Große und die Katholiken, in: Michael Drechsler (Hg.), Preußens Toleranz. Zur Integration von Minderheiten in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2002, S. 54–60, hier S. 56. 204 Vgl. zu diesem Aspekt Peter M. Hahn, Calvinismus und Staatsbildung. Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Meinrad Schaab (Hg.), Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S. 239–269, hier S. 268; Thomas Klingebiel, Deutschland als Aufnahmeland. Vom Glaubenskampf zur absolutistischen Kirchenreform, in: Thadden/Magdelaine (Hg.), Hugenotten, S. 85–99, hier S. 97; Frédéric Hartweg, Die Hugenotten in Berlin. Eine Geschichte, die vor 300 Jahren begann, in: ders./Stefi Jersch-Wenzel (Hg.), Die Hugenotten und das Refuge. Deutschland und Europa. Beiträge zu einer Tagung, Berlin 1990, S. 1–56, hier S. 15; Elsner, Pfälzer, S. 69; Dölemeyer, Hugenotten, S. 86; Asche, Neusiedler, S. 132–137, 637–639.

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rern als Instrument sowohl gegen die ständische Opposition als auch gegen ein politisch erstarkendes Bürgertum verwendet worden. Mit privilegierten Einwanderern hätten sich die Landesherren demnach eine Klientel verschafft, die dazu beitragen sollte, die Macht gerade der städtischen Zünfte und der mit diesen verflochtenen Stadtmagistrate aufbrechen zu helfen. Ähnliches habe bei der Ansiedlung ländlicher Einwanderer gegolten: Bäuerliche Rechte seien zunehmend beschnitten worden, wobei auch hier der Privilegierung von Einwanderern eine Schlüsselrolle zugekommen sei.205 Auch wenn größere, stark privilegierte Einwanderergruppen tatsächlich eine enge Bindung an den Landesherrn entwickelten, wird hier sicher der politische Wille, gegen die altständischen Korporationen vorzugehen, überschätzt, zumal gerade Konfliktsituationen deutlich machen, dass Entscheidungen der Regierungen keineswegs regelmäßig zum Nachteil einheimischer Korporationen ausfielen. Eine neue, vielleicht insgesamt plausiblere Deutung der Einwandererprivilegien der Frühen Neuzeit ergibt sich, wenn man die Privilegienedikte nicht allein von der Intention der aufnehmenden Landesfürsten her zu verstehen versucht, sondern wenn man sie als komplexen, multilateralen Aushandlungsvorgang betrachtet, in den die Interessen und Motive unterschiedlicher, an den formellen wie auch informellen Aushandlungsprozessen Beteiligter einflossen. Dann lässt sich die Privilegienpolitik auf die Formel bringen, dass der Umfang der Privilegierung ganz wesentlich davon abhing, wie wünschenswert die Ansiedlung eines bestimmten Personenkreises dem aufnehmenden Fürsten erschien. Je dringender die Niederlassung erwünscht war und je mehr Angebote von anderer Seite es gab, desto besser war die Verhandlungsposition der Kolonisten. Überspitzt kann man also sagen, dass der Umfang der Privilegierung sich nach Angebot und Nachfrage richtete, wobei das

|| 205 Insgesamt zu dieser Argumentation, die zweifellos ihren Schwerpunkt bei der Hugenottenansiedlung in Brandenburg-Preußen hat, z.B. Grieshammer, Studien, S. 39f.; Landgrebe, Minoritätengruppe, S. 130–138; Klingebiel, Deutschland, S. 99; Heinz Duchhardt, Einleitung des Herausgebers, in: ders. (Hg.), Der Exodus der Hugenotten. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis, Köln/Wien 1985, S. 1–7, hier S. 5; Eckart Birnstiel, Die Aufnahme hugenottischer Glaubensflüchtlinge in Brandenburg-Preußen. Ein Akt der Toleranz?, in: Andreas Flick/Albert de Lange (Hg.), Von Berlin bis Konstantinopel. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte der Hugenotten und Waldenser, Bad Karlshafen 2001, S. 9–33, hier S. 19f.; Michael Maurer, Mit Ausländern Staat machen? Glaubensflüchtlinge im Absolutismus, in: Essener Unikate, 6/7. 1995, S. 74–85; Thadden, Hugenotten, S. 105f.; Andreas Reinke, Die Kehrseite der Privilegierung. Proteste und Widerstände gegen die hugenottische Niederlassung in den deutschen Territorialstaaten, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 7. 1997, S. 39–52, hier S. 41, 49f., 53–55; ders., »Man fügt ihnen unendlich Schmach zu«. Proteste und Widerstände gegen die Hugenotten in den deutschen Staaten, in: Beneke/Ottomeyer (Hg), Zuwanderungsland, S. 65–72, hier S. 66, 69f., 72; Matthias Dahlke, »Aus gerechtem Mitleiden«? Zu den Motiven des Großen Kurfürsten zum Edikt von Potsdam, in: Hugenotten, 69. 2005, S. 107–129, hier S. 117–120, Asche, Neusiedler, S. 450, 458.

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Religionsausübungsrecht, steuerliche Vorteile und Starthilfen geradezu notwendige Elemente der Kolonistenanwerbung waren. Bei den Hugenotten wird dies ganz deutlich.206 In einer weitaus schwächeren Position befanden sich etwa Juden und Mennoniten, die zumeist zufrieden sein konnten, wenn sich überhaupt ein Aufnahmeland fand, in dem sie sich niederlassen und in Frieden leben konnten. In der praktischen Durchführung blieben die Regierungen immer auf die Mitarbeit lokaler Instanzen und auf die Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen. Dass Widerstände seitens der Bevölkerung beziehungsweise seitens einheimischer Korporationen nicht eskalierten, ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass Reibungsflächen durch separierte Ansiedlungen oder durch die rechtliche Segregation größerer Einwanderergruppen wie der Hugenotten stark minimiert wurden. Zudem reagierten die Regierungen auf Widerstände oft nachgiebig und bemühten sich, Toleranzgrenzen bei der Bevölkerung nicht zu überdehnen. Für die Regierungen bedeutete dies eine Gratwanderung zwischen den eigenen Peuplierungsinteressen und damit den Ansprüchen möglicher Kolonisten auf der einen und den Interessen der ansässigen Bevölkerung auf der anderen Seite. Die Ausformung der Ansiedlungsbedingungen bewegte sich zwischen diesen Polen und stellt sich auch als Prozess des Ausprobierens dar.

|| 206 Vgl. dazu Niggemann, Immigrationspolitik, S. 80–100, 536–539 und passim; ders., Hugenotten in Brandenburg-Bayreuth, S. 123f.

| Teil II: Obrigkeitliche Reformvorhaben und repressive Verfassungsstaaten: innere Marktbildung und Migration vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Andreas Fahrmeir

Staatliche Abgrenzungen durch Passwesen und Visumzwang 1 Die Ausbildung des modernen Passwesens In den deutschen Staaten – wie in anderen Teilen Europas – war das Leben in der Frühen Neuzeit geprägt durch ein Misstrauen gegenüber Fremdem und Neuem, das alle Innovatoren der Aufklärung heftig beklagten und das in der Forschung gelegentlich als »beinahe pathologische« Furcht vor Außenseitern erscheint.1 Gleichzeitig waren die Menschen der Frühen Neuzeit durchaus mobil.2 Das scheinbare Paradoxon löst sich auf, wenn man sich vor Augen hält, dass die Unterscheidung von bekannten und fremden Reisenden wenig mit deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Territorium oder Staat zu tun hatte. Arbeitswanderer, die regelmäßig zwischen weit voneinander entfernten Orten pendelten, waren entlang der Route ebenso bekannt wie Angehörige von mobilen, meist höheren Ständen: fahrende Studenten, wandernde Gesellen, Bettelmönche, Aristokraten. Im Gegensatz zu diesen durch Verhaltensweisen, besondere Kenntnisse, Kleidung, Wappen oder Gepäck leicht identifizierbaren Personen wurden Angehörige desselben Territoriums, die nicht bekannt waren und aus keinem klar nachvollziehbaren Grund reisten, in aller Regel als bedrohliche potenzielle Bettler, Kriminelle oder Arme angesehen.3 Fremde, deren Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der das Reisen erlaubt war, nicht klar erkennbar war – beispielsweise abgehetzte Kuriere in abgerissener Kleidung, die offizielle Depeschen beförderten, entlassene Soldaten auf dem Weg zu ihrem Wohnort oder ehrbare Tagelöhner auf erfolgloser Arbeitsuche jenseits ihres Heimatortes –, taten seit jeher gut daran, sich mit Belegen für ihren Status zu versehen. Das konnte unter Umständen sogar lebenswichtig sein, denn ›Vagabunden‹, nicht || 1 Die Wendung findet sich bei David J. Rothman, The Discovery of Asylum. Social Order and Disorder in the New Republic, Boston 1971, S. 20; vgl. Catherine Clémens-Denys, Les transformations du contrôle des étrangers dans les villes de la frontière du Nord, 1667–1789, in: Marie-Claude BlancChaléard/Caroline Douki/Nicole Dyonet/Vincent Milliot (Hg.), Police et migrants. France 1667–1939, Rennes 2001, S. 207–218, hier S. 209. 2 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 15–58; Jan Lucassen/Leo Lucassen, Mobilität, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart 2008, Sp. 624–644 sowie dies., Migration, in: ebd., Bd. 15, Stuttgart 2012, Sp. 961– 974. 3 Zu Identifikationspraktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit allgemein Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004, bes. S. 124–158.

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legitimierten, armen Reisenden, drohten harte Strafen, die für ›Zigeuner‹4 bis zur Hinrichtung gehen konnten.5 Ein schriftliches Zeugnis war als Legitimation wirksam, wenn seine Authentizität außer Zweifel stand und der Kontrollierende den Aussteller für eine zuverlässige Informationsquelle hielt. Die Authentizität konnte zum Beispiel durch Siegel oder Wappen auf Formblättern garantiert werden, ebensogut aber durch eine bekannte Unterschrift unter einem frei formulierten Text auf normalem Papier. Seine Vertrauenswürdigkeit ergab sich aus dem Status des (Unter-)Schreibenden: Ein Dorfpfarrer galt mehr als ein Bettler, ein ehrbarer Meister mehr als ein Geselle. An der Spitze dieser Pyramide der Ehrbarkeit standen Monarchen, Fürsten und ihre unmittelbaren Berater. Allerdings war der Dorfpfarrer allenfalls regional bekannt, der Meister vorwiegend bei seinen Geschäftspartnern und Kunden, nur der Monarch dagegen europaweit. Mithin war der Wert eines Empfehlungsschreibens abhängig vom Rang des Ausstellers. Solche Empfehlungen erfüllten gleichzeitig Zwecke, die heute als eher privat und als eher öffentlich gelten würden, denn neben der Genehmigung zur grenzüberschreitenden Reise konnten sie auch den Zugang zu gelehrten Gesellschaften, Höfen und privaten Salons eröffnen oder Hinweise auf die Kreditwürdigkeit geben. Personen, an die viele Bitten um Empfehlungsschreiben herangetragen wurden, entwickelten dafür Verfahren und Formulare. Diese sahen häufig eine Beschreibung der empfohlenen Person vor, um Verwechslungen zu verhindern. Selbst an Königshöfen oder bei ersten Ministern (deren ›Pässe‹ besonders begehrt waren) spiegelten Pässe allerdings nicht nur in ihrem Text ein Element der persönlichen Beziehung wider. Sie formulierten eine Bitte an alle in- und ausländischen Personen, die im Dokument mehr oder weniger detailliert beschriebene Reisegruppe (etwas den Kaufmann Mustermann ›mit Frau, Kindern und Bediensteten‹) auf dem Weg von A nach B nicht zu behindern, sondern gegebenenfalls zu unterstützen. Diese Bitte war oft mit dem Versprechen verbunden, für vom Lesenden empfohlene Reisende dasselbe zu tun. Monarchen stellten nicht allen ihren Untertanen Pässe aus, sondern erwiesen diesen (vielfach gebührenpflichtigen) Dienst auch denen, die in ihrem Auftrag unterwegs oder bei Hof zugelassen waren – die Frage, wem sie untertänig waren, spielte dabei keine Rolle.

|| 4 Es ist umstritten, ob sich die im 18. Jahrhundert erlassenen Bestimmungen gegen ›Zigeuner‹ auf Vagabunden im Allgemeinen oder auf eine klar identifizierbare ethnische Gruppe von Sinti und Roma bezogen. Die Erstere, überzeugender erscheinende Position wird von Leo Lucassen, Zigeuner: Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700–1945, Köln 1996, vertreten; vgl. dagegen Marion Bonillo, »Zigeunerpolitik« im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Bern 2001, S. 26. 5 Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a.d. Aisch 1983, S. 248f.

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Es spricht alles dafür, dass diese unsystematische Praxis auch in den deutschen Territorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts dazu führte, dass sich vor allem drei Gruppen formellerer Pässe bedienten: Personen, denen eine Empfehlung höhere gesellschaftliche Kreise öffnen konnte, als ihnen ohne Empfehlung offen standen; Kuriere und andere, die in offiziellem Auftrag reisten; schließlich Personen, deren sozialer Status so prekär war, dass sie mit Vagabunden verwechselt werden konnten – Letztere führten allerdings seltener ›Pässe‹ als andere Respektabilitätszeugnisse mit sich. Kurzum, das Passwesen betraf vor allem Reisende aus der Spitze und von der Basis der gesellschaftlichen Pyramide.6 Ähnlich unsystematisch wie die Ausstellung von Pässen verlief deren Kontrolle. Eine allgemeine Passpflicht wurde zwar gelegentlich erlassen, aber selten konsequent implementiert.7 Orte der Kontrolle gab es theoretisch genug: In den deutschen Staaten war fast jede Stadt von einer Mauer umgeben und nur durch bewachte Tore zu betreten, während Fremde in jeder Dorfschänke damit rechnen konnten, misstrauisch beäugt zu werden. Allerdings gab es keine Ordnungsmacht, die in der Lage gewesen wäre, staatliche Direktiven auch dann durchzusetzen, wenn sie lokalen Interessen und Wahrnehmungen widersprachen. Das zeigte der erfolglose Kampf von Regierungen gegen Schausteller, Hausierer und ›Zigeuner‹ ebenso wie die Tatsache, dass es allen besser organisierten Staaten möglich war, Bettler und Vagabunden, die nicht für die Besiedlung bevölkerungsarmer Landesteile geeignet schienen, systematisch über die nächste Grenze abzuschieben.8 Folgt man dem ausbaufähigen Forschungsstand, dann wurde eine Passpflicht besonders intensiv in Österreich angestrebt. Sie sollte vor allem für den Adel gelten, dessen Reisen in anderen Staaten kaum behindert wurden. Dem josephinischen Projekt, staatliche Ressourcen möglicht effizient einzusetzen, waren Lustreisen junger Adliger ein Dorn im Auge, denn so wurde wertvolles Landesvermögen im Ausland verprasst. Ab 1781 mussten sich Adlige unter 28 Jahren vor Auslandsreisen mit einem Pass versehen, der ihnen nur erteilt werden sollte, wenn die Reise unbe-

|| 6 Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990, S. 610–612, 627; Annette Hennigs, Gesellschaft und Mobilität. Unterwegs in der Grafschaft Lippe 1680 bis 1820, Bielefeld 2002, S. 88; John McManners, Church and Society in Eighteenth-Century France, Bd. 1: The Clerical Establishment and its Social Ramifications, Oxford 1998, S. 371; Michael Rapport, Nationality and Citizenship in Revolutionary France. The Treatment of Foreigners 1789–1799, Oxford 2000, S. 43f. 7 Gérard Noiriel, Les pratiques policières d’identification des migrants et leurs enjeux pour l’histoire des relations de pouvoir. Contribution à une réflexion en ›longue durée‹, in: BlancChaléard u.a. (Hg.), Police et migrants, S. 115–132, hier S. 123–125. 8 Schubert, Arme Leute, S. 218–220; Antje Kraus, Die rechtliche Lage der Unterschichten im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, in: Hans Mommsen/Winfried Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit: Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, S. 243–258, hier S. 248f.

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dingt notwendig war. Offenbar gaben sich daher in der Folge viele junge Adlige als Handwerker aus, die ihre ›Gesellenjahre‹ im Ausland verbringen wollten.9 Der Anfang vom Ende des informellen Kontrollsystems, in dem territoriale Grenzen eine eher geringe Rolle spielten und staatliche Direktiven wenig Folgen hatten10, lässt sich recht genau datieren. Zwischen dem Sommer 1789 und dem Herbst 1790 reiste der britische Agrarwissenschaftler Arthur Young durch Ostfrankreich und Norditalien. Auf dem Weg von Paris an die Grenze des Heiligen Römischen Reichs reichten seine üblichen Empfehlungsschreiben völlig aus. Ein Besuch beim badischen Herrscher scheiterte nicht an einem Pass- oder Visumproblem, sondern nur daran, dass der Fürst Urlaub machte, sodass keiner von Youngs Brieffreunden ihn einführen konnte. Auf der Rückreise war das anders. Ein Reisender, der sich durch seine genauen Erkundigungen nach Feldern und Bewässerungssystemen besonders verdächtig machte und Briefe von suspekten Aristokraten bei sich führte, tat nun gut daran, offizielle Papiere der Vertreter der neuen Gewalten bei sich zu tragen, die allerdings – mangels entsprechender Regularien – noch nicht leicht zu bekommen waren.11 Die Französische Revolution entzog allgemein dem bisherigen standesorientierten und dezentralen System der Migrationskontrolle den Boden. Galt bisher vor allem der Arme als bedrohlich, so kam nun der Konterrevolutionär hinzu, wobei spätestens 1793 alle Ausländer pauschal unter Verdacht gerieten. Wenn jedes Mitglied der Nation verpflichtet war, deren Mission aktiv zu vertreten, wie es die Mobilisierung aller nationalen Ressourcen in den Revolutionskriegen vorsah, so war umgekehrt jeder verdächtig, der nicht zur Nation gehörte. Die Folge dieser Überlegung war ein rigides, zentralisiertes System der Migrationskontrolle durch offizielle Identifikationspapiere. Wer sich außerhalb der Grenzen seines Kantons bewegen wollte, bedurfte seit den 1790er Jahren eines offiziellen Passes seiner Gemeinde (der allerdings weiterhin auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaft mit einem Amtsträger oder der Bürgschaft von zwei Bekannten des Passgebers ausgestellt wurde). Dieser Pass war unterwegs auf Verlangen vorzulegen und konnte bei jeder Kontrolle als ›gesehen‹ markiert (das heißt ›vidiert‹ bzw. mit einem ›Visum‹ versehen) werden. Die Verantwortung für die Kontrolle lag bei städtischen Behörden und der Gendarmerie, eine neue Form der paramilitärischen berittenen Polizei.12

|| 9 Hannelore Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft, in: Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie, 1750–1867, Wien 2000, S. 3–172, hier S. 32–34. 10 Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft, 23. 1997, S. 647–663. 11 Arthur Young, Voyages en France 1787, 1788, 1789. Bd. 1: Journal de voyages, übers. und hg.v. Henri Sée, Paris 1976, S. 246–255. 12 Clive Emsley, Gendarmes and the State in Nineteenth-Century Europe, Oxford 1999, bes. S. 13– 36.

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In Paris hatten sich zudem alle Einwohner mit sogenannten Sicherheitskarten zu versehen, die ihre legale Anwesenheit bestätigten. Die Reisen von Ausländern wurden besonderer Kontrolle unterworfen. Sie hatten zunächst an der Grenze auf eine Einreiseerlaubnis aus Paris zu warten. Später wurde ihr Pass zur Kontrolle nach Paris geschickt, während sie mit provisorischen französischen Papieren an ihren Zielort reisen durften.13 Ähnliche Kontrollsysteme wurden bald von anderen Staaten eingeführt. In Großbritannien bestand seit 1793 eine Ausweispflicht für unlängst eingereiste Ausländer; die USA folgten 1798.14 In deutschen Staaten wurde zunächst vor allem die Aufsicht über französische Flüchtlinge in den Fürstentümern am Rhein und in Österreich verstärkt. Eine allgemeine Passpflicht folgte erst mit der Annexion des linken Rheinufers, in den napoleonischen Modellstaaten und – auf Anraten französischer Berater – in den Rheinbundstaaten. Das Fehlen von Passkontrollen schien nämlich nicht nur die Identifikation von Deserteuren und Rekruten außerhalb ihres Heimatorts unnötig zu erschweren, sondern auch die Ausbreitung des Gaunerunwesens zu fördern.15 Die Einführung des Passwesens nach französischem Muster sollte die staatliche Kontrolle von Mobilität intensivieren. Da Pässe in der Regel nur für eine einzelne Reise galten, bedurfte dem Text der Gesetze und Verordnungen zufolge fortan jede Bewegung über längere Distanzen einer Genehmigung, die ohne Angabe von Gründen verweigert und unterwegs jederzeit widerrufen werden konnte, indem etwa Beamte den Zielort auf einem Pass veränderten oder Reisende anwiesen, an ihren Heimatort zurückzukehren. Eine pauschale Mobilitätsgenehmigung war nur für wandernde Gesellen vorgesehen. Sie konnten nach dem Vorbild des 1803 in Frankreich eingeführten ›livret d’ouvrier‹ seit (je nach Staat) frühestens 1808 und spätestens 1810 ein sogenanntes Wanderbuch beantragen, das für längere Zeit gültig war. In das Wanderbuch trugen Behörden Reiserouten und Sichtvermerke, Arbeitgeber Zeugnisse ein. Es stand den Behörden freilich auch bei Wanderbüchern frei, bestimmte Reiserouten vorzugeben und die Ein- beziehungsweise Weiterreise zu un-

|| 13 Rapport, Nationality and Citizenship, S. 147f.; Daniel Roche, Humeurs vagabondes. De la circulation des hommes et de l’utilité des voyages, Paris 2003, S. 393; John Torpey, The Invention of the Passport: Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000, S. 21–56; Olivier Faron/Cyril Grange, Paris and its Foreigners in the Late Eighteenth Century, in: Andreas Fahrmeir/Olivier Faron/Patrick Weil (Hg.), Migration Control in the North Atlantic World: The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York 2003, S. 301–316. 14 Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789–1870, New York 2000, S. 102f.; James Morton Smith, Freedom’s Fetters. The Alien and Sedition Laws and American Civil Liberties, Ithaca 1956, S. 54–93. 15 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 103f.; Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Göttingen 1987, S. 134.

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tersagen.16 Den Korporationen des Ancien Régime, Zünften, Universitäten oder prominenten Privatpersonen also, entzogen die Regierungen deutscher Staaten zugleich die Befugnis, Mobilität zu genehmigen und Ehrbarkeit zu bescheinigen. In der Praxis der Napoleonischen Ära war dieser Versuch der staatlichen Monopolisierung der Mobilitätskontrolle nur begrenzt erfolgreich. Die zur Passausstellung befugten Stellen stützen sich faktisch weiterhin zum großen Teil auf die Angaben von Zünften, Universitäten, Dorfvorstehern und Privatpersonen. Kontrollinstanzen – lokale Behörden, eine personell schwach ausgestattete Gendarmerie oder zur systematischen Kontrolle eines Landstriches zusammengerufene Bewohner – waren selten fähig oder willens, auf die Einhaltung von ihnen vielfach illegitim oder unklar erscheinenden Vorschriften zu bestehen, zumal es angesichts der Vielfalt der Passformate auch bei bestem Willen kaum möglich war, immer zweifelsfrei zwischen offiziellen und privaten Dokumenten zu unterscheiden. Außerdem behielten Staaten selbst die Praxis bei, ihnen unerwünscht erscheinende Personen – unabhängig davon, ob es sich um In- oder Ausländer handelte – ohne Papiere über die nächste Grenze zu schaffen.17 Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege und der ideologischen Entspannung in Europa seit dem Wiener Kongress wurde die Passpflicht überhaupt in Frage gestellt. Die USA schafften die Ausweispflicht bereits 1802 ab, Großbritannien folgte nach einer seit 1826 dauernden Übergangsfrist 1836. Dort mussten künftig nur potenziell Bedürftige in der Lage sein, zu dokumentieren, wo sie Anspruch auf Armenversorgung hatten; Reisen – auch grenzüberschreitende Reisen – mussten nicht mehr vor Beginn genehmigt werden. In Deutschland (wie auch im übrigen Kontinentaleuropa) blieb die Passpflicht dagegen bestehen. Kontrolle schien weiterhin notwendig, um zu verhindern, dass durch die Ansammlung einer großen Zahl unzufriedener oder politisch unzuverlässiger Menschen auch in Wien oder Berlin Voraussetzungen entstanden, welche die Revolution von 1789 in Paris ermöglicht oder zumindest erleichtert hatten. Bewegungskontrolle konnte die überlokale Vernetzung politischer Oppositionsbewegungen – gedacht war dabei zunächst an die Anhänger der Revolution und des napoleonischen Regimes, später auch an Burschenschaftler, Liberale, Demokraten oder Sozialisten – zumindest erschweren. Schließlich erleichterte die Ausweispflicht die Ermittlung armenrechtlicher Verantwortlichkeiten, da Pässe und die Passregister,

|| 16 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 103. 17 Vgl. etwa die Korrespondenz zwischen der Regierung Stargard und dem preußischen Innenministerium, 25.1.1810 und 26.2.1810, Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77 Tit. 1176 Nr. 23 Bd. 1; Christopher Clark, The Limits of the Confessional State. Conversions to Judaism in Prussia 1814–1843, in: Past & Present, Mai 1995, S. 159–179, hier S. 170f.

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die ihre Ausstellung dokumentierten, es theoretisch erlaubten, jede Reiseroute bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.18 Dabei konnten die Regierungen der 41 sich als vollkommen souverän verstehenden deutschen Staaten, deren Größe vom cisleithanischen Österreich bis hin zum Territorium der freien Stadt Lübeck reichte, nicht einfach das etablierte Kontrollsystem beibehalten, denn vor 1815 war trotz der Fülle entsprechender Gesetze und Verordnungen (die etwa in Bayern und Österreich aus dem Jahr 1809, in Preußen von 1813 bzw. 1817 datierten19) noch kein umfassendes Passsystem etabliert. Die preußische Passinstruktion von 1817 dokumentierte indirekt, dass immer noch ein staatliches Monopol der Identitätsfeststellung und Mobilitätskontrolle durchgesetzt werden musste, denn »Pässe sollen auf der einen Seite dem unbescholtenen und redlichen, aber in der Gegend, wohin er kommt, unbekannten Reisenden ein einfaches Mittel gewähren, den ihm gesetzlich obliegenden Nachweis, daß er derjenige, wofür er sich ausgibt, sei, auf die kürzeste und auf weit zuverlässigere und bequemere Art zu führen, als durch andere Urkunden, die schon deshalb, weil sie mit keinem Signalement versehen, unzuverlässig sind […]. Auf der anderen Seite sollen die Pässe verdächtigen und gefährlichen Individuen den Aufenthalt und das Herumschweifen im Staate, wenn nicht ganz unmöglich machen, doch dadurch sehr erschweren, daß sie dieselben mit den Polizeibehörden möglichst oft in Berührung bringen und mithin letztere in den Stand setzen, sie desto genauer zu beobachten und desto leichter zu entdecken«.20

Es sollte also weiterhin möglich sein, die eigene Identität auch durch »andere Urkunden« nachzuweisen, wobei offen blieb, ob diese unbedingt von einer Behörde stammen mussten. Explizit stellte die Instruktion fest, dass die in Preußen gültigen Pässe nicht – wie noch die Verordnung von 1813 angenommen hatte – unbedingt von preußischen Behörden stammen mussten; Dokumente ausländischer Behörden wurden ebenfalls als gültige Reisepapiere anerkannt.21

|| 18 Vgl. Gérard Noiriel, Surveiller les déplacements ou identifier les personnes? Contributions à l’histoire du passeport en France de la Ire à la IIIe république, in: Genèses: Sciences sociales et histoire, Nr. 30, März 1998, S. 77–100; ders., La tyrannie du national. Le droit d'asile en Europe 1793–1993, Paris 1991, S. 51f. 19 Helmut Gebhardt, Die Grazer Polizei 1786–1850: Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Sicherheitswesens im aufgeklärten Absolutismus und im Vormärz, Graz 1992, S. 176; KöniglichBaierisches Regierungsblatt 1809, S. 1697–1712; Allgemeines Intelligenzblatt für das Königreich Baiern 1837, S. 65–90; Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1813, S. 47–54. 20 K.F. Rauer, Die preußische Paß-Polizei-Verwaltung. Systematisch dargestellt, Nordhausen 1844, S. 1; vgl. zu Österreich Edith Saurer, Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 145. 21 Der gesamte Text findet sich in: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1817, S. 152–160.

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Die in allen deutschen Staaten ähnlich strukturierten Passsysteme suchten ihr vorrangiges Ziel – den Staat vor politischen und sozialen Bedrohungen durch verdächtige oder verarmte Migrantinnen und Migranten zu schützen – durch mehrere Maßnahmen zu erreichen.22 Jede Bewegung außerhalb der engeren Umgebung des Wohnortes sollte nur mit einer behördlichen Genehmigung in Form eines Passes oder eines Wanderbuchs möglich sein. Ein lediglich die Heimat oder den Unterstützungswohnsitz (also den Ort, an dem Bedürftige einen Anspruch auf Armenhilfe hatten) bescheinigender ›Heimatschein‹, der ohne Angabe einer Reiseroute oder eines Reisezwecks ausgestellt wurde, sollte dazu fortan ebenso wenig genügen wie Gesellenbriefe, Immatrikulationsbescheinigungen oder private Empfehlungsschreiben. Diese Reisegenehmigung war jedem Beamten vorzulegen, der danach verlangte. Sie sollte auf jeden Fall durch Gendarmen auf Landstraßen und an jedem Übernachtungsort systematisch kontrolliert werden. Wer eine Stadt betrat, sollte seine Reiseerlaubnis am Stadttor abgeben und dann vor der Abreise auf der Polizei wieder in Empfang nehmen. Wirte und Menschen, die privat Wohnungen oder Zimmer vermieteten, wurden in das Kontrollsystem ebenso eingebunden wie die Betreiber von Postkutschen. Alle hatten Listen von Reisedokumenten zu führen und darauf zu achten, dass diese der Polizei zur Kenntnis gelangten. Wenn die Polizei Reisedokumente prüfte, so sollte sie dies auf den Dokumenten dokumentieren, indem sie diese vidierte und so die Weiterreise mit oder ohne Auflagen (etwa ein bestimmter Reiseweg oder eine bestimmte Reisezeit) genehmigte. Das sollte unerwünschten Personen wie ausländischen Schaustellern, Bettlern, Vagabunden und Hausierern das Reisen im Staatsgebiet unmöglich machen und politisch suspekte Personen in ihrer Reisefreiheit beschränken. Zum Beispiel ermöglichte es das Passwesen, den Burschenschaften nahestehenden Studenten den Besuch anderer Universitätsstädte zu verwehren, damit sie keine revolutionären Netzwerke bilden konnten. Ebenso war es möglich, Reisegenehmigungen in Hauptstädte restriktiv zu erteilen. Berlin und Wien waren zudem nicht nur durch die Achtsamkeit lokaler Passbehörden, sondern auch durch einen Ring zusätzlicher Kontrollpunkte geschützt. Innerhalb dieses Kontrollsystems war die Unterscheidung zwischen In- und Ausland eher graduell. Systematische Kontrollen an der Grenze fanden nur an Poststationen, See- oder Flusshäfen sowie später an Grenzbahnhöfen statt; das Passsystem stützte sich weitaus mehr auf die Interaktion zwischen Reisenden und Behörden an Übernachtungsorten. Es war zwar vorgesehen, dass an dem ersten inländischen Ort, den ein aus dem Ausland kommender Reisender berührte, eine besonders intensive Passrevision vorzunehmen war, aber welchen Ort ein ausländischer Reisender als ersten betreten würde, war bei Fußgängern schlecht vorherzu-

|| 22 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 111–128; ders., Paßwesen und Staatsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 271. 2000, S. 57–91; Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft, S. 9–87.

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sagen. Bei kleineren Staaten zog sich daher die Grenze durch das ganze Land. Außerdem konnte die Einreisegenehmigung genauso wie die Reisegenehmigung für das Inland an jedem Ort, den Reisende berührten, bestätigt, modifiziert oder widerrufen werden. Unautorisiertes Reisen im Inland (also ›Vagabundieren‹ oder ›zielloses Umherziehen‹) blieb ebenso mit Strafe belegt wie nicht genehmigter Grenzübertritt. Diese Strafen reichten von körperlicher Züchtigung – etwa »eine derbe Tracht Schläge«23 – bis zu langer Haft, waren allerdings für grenzüberschreitende Delikte härter als für solche, die von Inländern im Inland begangen wurden. Preußen sah für den vierten illegalen Grenzübertritt nach einer Ausweisung lebenslange Haft vor, freilich nur, wenn der ›Vagabund‹ fälschlich angab, in Preußen beheimatet zu sein.24 Reisen, die über Staatsgrenzen führten, erforderten allerdings andere Reisedokumente. Dabei muss aber betont werden, dass der Verlauf der Grenzen im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren zahlreichen En- und Exklaven sowie den Kleinstaaten in Mitteldeutschland und Thüringen es schwierig machte, längere Strecken zurückzulegen, ohne eine Staatsgrenze zu überqueren. Der Besuch eines Speyrer Lehrers in seiner Landeshauptstadt München war ebenso eine Auslandsreise (Bayern – Baden – Bayern) wie die Reise eines hohen Beamten der Rheinprovinz zum persönlichen Rapport nach Berlin (gegebenenfalls Preußen – Lippe – Braunschweig – Hannover – Preußen). Die Haupt-Touristenroute entlang des Rheins von den Niederlanden in die Schweiz führte durch Preußen und dann, je nach gewähltem Ufer, Nassau oder Hessen-Darmstadt sowie Bayern oder Baden. Grenzüberschreitende Reisen, die nicht dem dokumentenfreien Reisen in der Umgebung des Wohnorts zugeordnet werden konnten, erforderten einen Auslandspass. Im Gegensatz zum Inlandspass, den auch Kreisbehörden gewähren konnten, musste dieser bei einer Provinzregierung oder direkt beim Außenministerium eingeholt werden. Solche Papiere waren teurer als Inlandspässe, da die Gebühr auch den Rang der Behörde spiegelte. Inlandspässe kosteten zwischen 0 und 7,5 Kreuzer; Auslandspässe schlugen mit mindestens 30 Kreuzern, höchstens 2 (süddeutschen) Gulden 42 Kreuzern zu Buche25 (allerdings konnten bei dringenden Reisen und nachweislicher Armut alle Gebühren ermäßigt oder erlassen werden). Schließlich forderten größere Staaten mit einem Netzwerk konsularischer Vertretungen, dass Reisende vor dem Grenzübertritt die (wiederum direkt oder indirekt gebührenpflichtige) Einreiseerlaubnis eines Konsuls erwirkten: ein ›Visum‹ in der noch heute gebräuchlichen Form. Das konnte beispielsweise zur Folge haben, dass Reisende von

|| 23 K.Chr. Eigenbrodt (Hg.), Handbuch der Großherzoglich Hessischen Verordnungen vom Jahre 1803 an, 4 Bde., Darmstadt 1816–1818, Bd. 3, § 245, S. 9. 24 Rauer, Preußische Paß-Polizei-Verwaltung, S. 124. 25 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 108f.

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Salzburg zum Konsulat nach München zurückgeschickt wurden, bevor sie österreichischen Boden betreten durften.26 Diese zusätzlichen Erschwernisse waren intendiert. Den meisten Regierungen erschien die Bedrohung durch ›ausländische‹ (das hieß in der Praxis meist: aus anderen deutschen Staaten stammende) Revolutionäre, Arbeitsuchende oder Arme größer als die, welche von Inländern (das heißt anderen Badenern, Bayern, Preußen, Lippern, Nassauern) ausging. Zudem passte die Betonung der Außengrenzen in das Programm mancher Regierungen, den in ihrer jetzigen Form neuen Staaten durch stärkere Identifikation der Bürger mehr Stabilität zu verleihen; die symbolische Unterscheidung zwischen In- und Ausland konnte dies fördern.27 Schließlich einigten sich die deutschen Staaten zwischen 1814 und der Mitte der 1820er Jahre auch allmählich darauf, keine Abschiebungen über Staatsgrenzen mehr vorzunehmen, ohne die Behörden des Nachbarstaates zu informieren; dadurch sollte unter anderem verhindert werden, dass abgeschobenen Personen keine andere Wahl blieb, als sich den in grenznahen Waldgebieten vermuteten Gaunerbanden anzuschließen.28 Dagegen blieb es bis in die 1840er Jahre relativ leicht möglich, als Ausländer einen Pass einer inländischen Behörde zu erhalten. Das folgte unmittelbar aus der begrenzten Gültigkeitsdauer von Reisedokumenten, die für Pässe in der Regel auf eine Reise beschränkt war, maximal aber für ein Jahr anhielt. Ein sich länger in Mainz aufhaltender Engländer konnte beispielsweise nur beim Frankfurter Gesandten seines Landes einen britischen Pass erhalten; zumindest die Reise von Mainz nach Frankfurt konnte also nur ohne Papiere oder mit einem hessen-darmstädtischen Reisedokument zurückgelegt werden. Das war aber nur dann problematisch, wenn die Ausstellung eines Passes zugleich als Verpflichtung zum Unterhalt im Notfall (miss-)verstanden werden konnte. Wenn ein Verarmungsrisiko zu bestehen schien, waren daher gegebenenfalls Formulierungskünste oder die schriftliche Garantie des Heimatorts erforderlich. In Anlehnung an John Torpeys Beschreibung der entsprechenden französischen Bestimmungen könnte man sagen, dass die deutschen Regierungen das Ziel verfolgten, aus dem Deutschen Bund ein großes Gefängnis zu machen, dessen Zellen aus

|| 26 Ernst Förster, Aus der Jugendzeit, Berlin/Stuttgart 1887, S. 186; die beschriebene Episode soll sich 1820 zugetragen haben. 27 Zu diesem Programm vgl. für das frühe 19. Jahrhundert Andreas Fahrmeir, National Colours and National Identity in Early Nineteenth-Century Germany, in: David Laven/Lucy Riall (Hg.), Napoleon’s Legacy: Problems of Government in Restoration Europe, Oxford 2000, S. 199–216; zum späteren 19. Jahrhundert Manfred Hanisch, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991; Abigail Green, Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2001. 28 Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge, MA 1992, S. 69f.; Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 26–29, 31–33, 188f.

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den jeweils kleinsten Freizügigkeitszonen bestand, in denen man sich ohne behördliche Erlaubnis bewegen konnte.29 Staatsgrenzen entsprachen in diesem Bild den von besonders kritischen Wärtern bewachten Toren zwischen Zellenblöcken. In der Tat trug die Bürokratisierung des Reisens erheblich dazu bei, Reisen zu erschweren und zu verteuern. Spontane Reisen wurden schwierig oder unmöglich, und Kontrollen verschlangen einen erheblichen Teil der Reisezeit. An der preußischen Grenze beispielsweise hielten Schiffe auf dem Rhein in den 1830er Jahren zwei bis drei Stunden, damit Pass- und Zollformalitäten abgewickelt werden konnten.30

2 Praxis und Probleme Die Umsetzung des Pass- und Visumzwangs in der Praxis entsprach den in Gesetzen und Verordnungen niedergelegten Normen freilich nur zum Teil.31 Bei Kontrollen blieb der soziale Rang der Reisenden ein zentrales Kriterium, denn er bestimmte die Intensität der Interaktion zwischen Reisenden und Kontrollierenden. Normalerweise blieben Reisende aus den höheren Ständen von den Unannehmlichkeiten des Passwesens weitgehend unberührt, sodass die Kontrollen vor allem auf Reisenden auf Arbeitsuche beziehungsweise mobilen Kleingewerbetreibenden wie Hausierern lasteten. Der Artikel ›Paßwesen‹ des von Carl von Rotteck und Carl Welcker in den späten 1830er und frühen 1840er Jahren herausgegebenen Staatslexikons vermerkte in Übereinstimmung mit vielen Reiseberichten: »Während in dem einen Lande vielleicht kaum an der Grenze oder etwa in der Hauptstadt der Paß abverlangt wird, muß in einem anderen Lande in jedem Nachtlager, vielleicht bei jeder Poststation der Paß auf‘s Neue übergeben und visirt werden. Und wenn den in glänzendem Wagen Vorüberrollenden der Gensd'arme nur ehrerbietig begrüßt, wird der Fußwanderer an jeder Straßenecke barsch nach seinen Papieren befragt.«32

Zwar sorgten Spannungen zwischen Staatsregierungen und Teilen der gesellschaftlichen Elite in den Jahren um 1819, 1830 und 1848 dafür, dass auch Studenten, Unternehmer oder Bildungsbürger nicht gänzlich unbehelligt blieben, aber im Allge-

|| 29 Torpey, Invention of the Passport, S. 51. 30 William Chambers, A Tour in Holland, the Countries on the Rhine, and Belgium in the Autumn of 1838, Edinburgh 1839, S. 47. 31 Zum Problem der Rekonstruktion der Praxis von Pass- und Migrationkontrolle vgl. auch Andreas Fahrmeir, Law and Practice: Difficulties of Researching the History of Migration Controls in an Age of Mass Migration, in: ders./Faron/Weil (Hg.), Migration Control, S. 301–316. 32 R[obert] von Mohl, Paßwesen, in: Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, 15 Bde., Altona [1834]–1843, Bd. 12, S. 370–379, hier S. 372.

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meinen trugen sie nur die finanziellen Folgen der Passpflicht – und auch diese nur, wenn sie sich nicht über den Rat von Reiseführern wie Baedeker hinwegsetzten und ohne Papiere reisten, was sie dem (recht begrenzten) Risiko aussetzte, »unangenehme Erörterungen mit Polizeibeamten und mindestens Aufenthalt zu erleben«. Allerdings gab selbst Baedeker zu, dass es 1846 möglich war, auf Rheinschiffen und den bis dahin fertig gestellten Eisenbahnen am Rhein ohne Pass zu reisen.33 Diese soziale Distinktion war zum Teil formalisiert. Preußen stellte politisch unverdächtigen Reisenden »aus den höheren Ständen« Pässe ohne Personenbeschreibung aus, welche diese zugleich von der Pflicht der regelmäßigen Interaktion mit der Polizei befreiten.34 In anderen Staaten war es ebenfalls üblich, dass Reisende aus den höheren Ständen allenfalls ihren Pass vom Diener zur Polizei bringen ließen. Lola Montez, die aus naheliegenden Gründen weder mit einem spanischen Pass (den ihr keine Botschaft ausgestellt hätte) noch mit einem britischen (der die Legende der spanischen Tänzerin zerstört hätte) reisen konnte, demonstrierte zwischen 1843 und 1846, dass man in Europa zwischen Paris und St. Petersburg passfrei reisen konnte, wenn man entsprechend auftrat.35 Gesellen, die durch einen Pass als Angehöriger höherer Stände ausgewiesen waren, erfuhren – so der Reisebericht des englischen Goldschmieds William Duthie aus den 1860er Jahren – eine zuvorkommendere Behandlung durch die Polizei als ›normale‹ Gesellen mit Wanderbuch, die Polizeiwachen durch die Hintertür betreten mussten, mit langen Wartezeiten zu rechnen und beim kleinsten Zeichen von Unbotmäßigkeit Demütigungen zu erwarten hatten.36 Diese soziale Ungleichheit wurde durch Korruption verschärft, die sich in den gängigen Reiseführern in Form von Preislisten dafür niederschlug, dass Gepäck

|| 33 Karl Bædeker, Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Oesterreichischen Kaiserstaate. Nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen, 3. Aufl. Koblenz 1846, S. VII; vgl. auch Martin Anderson, Tourism and the Development of the Modern British Passport, 1814–1858, Journal of British Studies 49. 2010, S. 258–282. 34 Rauer, Preußische Paß-Polizei-Verwaltung, S. 6 (Zit.), 9, 11, 118. 35 Vgl. z.B. Wilkie Collins, Armadale [1864–1866], London 1989, S. 11; Bruce Seymour, Lola Montez. A Life, New Haven 1996, S. 43–101, 259. 36 William Duthie, A Tramp’s Wallet: Stored by an English Goldsmith during his Wanderings in Germany and France, 2. Aufl. London 1865, bes. S. xiiif., xxviii; vgl. auch Joseph Anton Stärkle, Tagebuch und Reisememoiren von Joseph Anton Stärkle Gerbergeselle aus Abtwil bei St. Gallen 1852–1854, Rapperswil 1921; George S. Werner, Traveling Journeymen in Metternichian South Germany, in: Proceedings of the American Philosophical Society, 125. 1981, S. 190–219, hier S. 204; Ernst Violand, Die Geschichte der Revolution in Oesterreich, Leipzig 1850, S. 47f.; Bernhard Becker, Die Reaktion in Deutschland gegen die Revolution von 1848 beleuchtet in sozialer, nationaler und staatlicher Beziehung, 2. Aufl. Wien 1869, S. 68; Philipp Wasserburg, Um's Jahr 1848. Von einem alten Achtundvierziger, in: Mainzer Anzeiger, Nr. 216, 17.9.1897, S. 1 der Morgenausgabe.

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nicht der Zollkontrolle unterzogen oder Dokumente nicht gesichtet wurden.37 Unklar ist, ob Preußen hier eine Ausnahme darstellte. Baedekers (allerdings in Preußen verlegte) Reiseführer und die nach dem Modell Baedekers gestalteten Bände Murrays gingen davon aus. Das deckte sich mit dem Selbstbild preußischer Beamter, widersprach allerdings dem Hinweis anderer englischer Reiseberichte, man könne sich überall in Deutschland aus misslichen Lagen freikaufen.38 Zu diesen Grenzen des Passsystems, die auf menschliche Schwächen und die reale interpersonelle Dynamik bei der Kontrolle zurückgingen, traten systematische Probleme, die gerade dann deutlich waren, wenn Passregeln strikt angewendet wurden – etwa in Zeiten besonderer Spannungen zwischen Staaten und der auch dem Bürgertum angehörenden Opposition. Die zentrale Schwäche war das geradezu groteske Missverhältnis zwischen der Vision einer totalen bürokratischen Kontrolle und der geringen Zahl von Polizeikräften, die zudem zum Teil des Lesens und Schreibens nicht kundig genug waren, um Pässe schnell und effektiv kontrollieren zu können. Für die mangelnde Qualifikation der Polizisten (oder deren ungenügendes Verständnis der Logik des Passwesens) sprach auch, dass die Gendarmerieverordnungen besonders betonen mussten, dass Reisende mit mehreren Pässen, die auf unterschiedliche Namen lauteten, verdächtig waren.39 Die Polizei Münchens visierte in den frühen 1830er Jahren fast 190.000 Wanderbücher pro Jahr (von anderen Ausweisen noch gar nicht zu reden), und zwar in einer Zeit, als die Cholera den Reiseverkehr massiv einschränkte.40 Es blieb den überlasteten Beamten mithin kaum eine andere Wahl, als die Regularien mit einer gewissen Großzügigkeit zu interpretieren, was meist darauf hinauslief, die Kontrol-

|| 37 Richard J. Evans, Tod in Hamburg: Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830– 1910, Hamburg 1990, S. 127; exemplarisch [John Murray], A Hand-Book for Travellers in Southern Germany. Being a Guide to Bavaria, Austria, Tyrol, Salzburg, Styria, &c. […], London 1837, S. 107f.; Bædeker, Handbuch für Reisende, S. viif. 38 [John Murray], A Hand-Book for Travellers on the Continent, Being a Guide through Holland, Belgium, Prussia and Northern Germany and along the Rhine, from Holland to Switzerland […], 7. Aufl. London 1850, S. 237; J[adocus] D.H. Temme, Augenzeugenberichte der deutschen Revolution 1848/49. Ein preußischer Richter als Vorkämpfer der Demokratie, Darmstadt 1996, S. 95f.; Eight Weeks in Germany. Comprising Narratives, Descriptions, and Directions for Economical Tourists. By the Pedestrian, Edinburgh 1842, S. 47. 39 Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben und sonstigen allgemeinen Verfügungen für die kurhessischen Staaten 1820, S. 101f.; Bernd Wirsing, Die Geschichte der Gendarmeriekorps und deren Vorläuferorganisationen in Baden, Württemberg und Bayern 1750–1850, Diss. Konstanz 1991, S. 133; Ernst Förster, Aus der Jugendzeit, Berlin 1887, S. 151. 40 Hans Rainer Giebel, Strukturanalyse der Gesellschaft des Königreichs Bayern im Vormärz 1818–1848, Diss. München 1967, S. 60; vgl. auch K.M.N. Carpenter, »Beggars appear everywhere!«: Changing Approaches to Migration Control in Mid-Nineteenth Century Munich, in: Fahrmeir/Faron/ Weil (Hg.), Migration Control, S. 92–105.

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len auf die verdächtigeren – normalerweise die ärmeren – Schichten der Gesellschaft zu konzentrieren. Selbst 1831, in einer politisch besonders gespannten Zeit, galt die Meldepflicht im preußisch-hannoverschen Grenzort Minden nur für »geringere Stände«.41 Es war ferner fraglich, ob Pässe die Sicherheit der Identifikation, die sie vorspiegelten, auch boten. Zwischen echten und falschen Reisedokumenten zu unterscheiden, war im Zweifelsfall nicht leicht. Jeder deutsche Staat (wie gesagt, 1817 gab es derer 41) hatte viele unterschiedliche Passformulare, die von noch mehr Beamten unterschrieben werden konnten; dazu kamen Pässe aus dem Ausland, die schwer lesbar waren, da es üblich war, Pässe in der Landessprache auszugeben. Der Fall eines Mannes, der 1998 neun Monate durch die ›Festung Europa‹ reiste, ohne dass bei einer Kontrolle oder einem Visumantrag auffiel, dass sein mit »seals of authenticity« gepflasterter Pass von dem nicht existenten Staat British Honduras ausgestellt war42, macht plausibel, dass auch im 19. Jahrhundert der zutreffende oder unzutreffende erste Eindruck entscheidend gewesen sein wird. Der Vergleich des Inhalts von Pässen und Ausweisen mit einem Passregister war außer in Fällen schwersten Verdachts zu zeitaufwendig, um praktikabel zu sein. Pässe und Wanderbücher waren überdies relativ leicht zu manipulieren. Pässe bestanden aus einem auf der Vorderseite bedruckten Blatt, das in etwa die Größe des modernen DIN A4-Formats hatte. Visaeinträge, die handschriftlich oder mit einem Stempel versehen sein konnten, wurden in der Regel auf der Rückseite angebracht. Bei längeren Reisen erforderte das zusätzliche Seiten. Die Entscheidung darüber, wie diese Seiten am Pass befestigt werden sollten, lag bei dem Reisenden selber, sodass gewisse Möglichkeiten bestanden, kompromittierende Eintragungen verschwinden zu lassen. In Wanderbüchern, gebundenen Büchern im OktavFormat, waren die Seiten in der Regel nicht nummeriert. Zwar versuchten die zentralen Polizeibehörden der deutschen Staaten, die offensichtlichsten Manipulationsmöglichkeiten zumindest zu beschränken. So wurden im Kurfürstentum Hessen Siegel (die sich von einem Dokument ablösen und an einem anderen befestigen ließen) in den 1830er Jahren durch Stempel ersetzt. Im benachbarten Hessen-Darmstadt galten dagegen Stempel als Sicherheitsrisiko, da sie relativ leicht zu fälschen waren – was 1851 der Fund eines Sacks voller nachgemachter Stempel von Behörden aus Schleswig Holstein, den USA und deutschen Staaten auf einem Feld bei Bayreuth bestätigte.43

|| 41 Alf Lüdtke, »Willkürgewalt des Staates«? Polizeipraxis und administrative Definitionsmacht im vormärzlichen Preußen, in: Herbert Reinke (Hg.), »…nur für die Sicherheit da …«? Zur Geschichte der Polizei im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1993, S. 35–55, hier S. 40. 42 Groebner, Der Schein der Person, S. 169. 43 Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben und sonstigen allgemeinen Verfügungen für die kurhessischen Staaten 1836, S. 77f.; Hessisches Staatsarchiv Marburg 100/5466, 7.5.1851.

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Auch Druckmuster und Sicherheitspapier, das verhindern sollte, dass Eintragungen auf Pässen (wie Name, Signalement, Route oder Unterschrift) ausradiert und durch neue Angaben ersetzt wurden, erwiesen sich lediglich als provisorische Lösung. Das preußische Sicherheitspapier lieferte nach Behandlung mit Bleichmitteln Blanko-Formulare, da nur die Eintragungen verschwanden, der Drucktext aber zurückblieb; überhaupt dauert der Wettlauf zwischen Passgebern und Passfälschern trotz aller vermeintlich fälschungssicheren Papiere ja bis heute an.44 Ob das bereits 1828 formulierte Urteil des Frankfurter Polizeiassessors Pfeiffer, dass »sich wohl der Satz rechtfertigen mag, daß ein Paß für den rechtlichen Mann eine Plage, für den Spitzbuben aber ein Sicherheitsmittel ist« zutrifft, ist dennoch fraglich – Pfeiffer war der Ansicht, der nachlässige Umgang mit Blanko-Formularen bei lokalen Behörden und die Unfähigkeit der Beamten, bei der Passerteilung auch die Identität zu prüfen, führe dazu, dass sich jeder einigermaßen gewitzte Gauner seinen eigenen Pass ausstellen konnte.45 Gewiss ist, dass die Hoffnung, das Passwesen könne eine Feinsteuerung von Migration ermöglichen, enttäuscht werden musste. Die mangelnde Kohärenz bei der Passerteilung entzog allen Plänen, Pässe nicht nur zur Kontrolle von Reiserouten, sondern auch zur Anordnung besonderer Aufsicht auf bestimmte Reisende zu verwenden, den Boden. Ob es jemals gelang, Reisende durch ein zweifach durchgestrichenes »t«, ein »i« mit zwei Punkten, oder eine unterstrichene Passnummer als verdächtig zu kennzeichnen, darf bezweifelt werden. Dennoch gab es immer wieder solche Pläne: falsch geschriebene Buchstaben wurden im frühen 19. Jahrhundert von der Polizei des Kirchenstaates verwandt, während österreichische Botschaften nach 1848 mit unterstrichenen Visumsnummern arbeiteten.46 Gegen die Effektivität solcher recht subtilen Botschaften sprechen auch die Fälle, in denen Reisende aufgrund einer zufälligen Gleichheit der Personenbeschreibung für Revolutionäre gehalten wurden.47 Eine Ausnahme stellten in den 1850er Jahren britische Pässe dar, welche den Inhaber als »naturalized British subject« auswiesen; in dieser Gruppe vermutete die Polizei deutscher Staaten be-

|| 44 Vgl. ausführlicher Andreas Fahrmeir, Governments and Forgers. Passports in NineteenthCentury Europe, in: Jane Caplan/John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity: The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 218–234. 45 G[eorg] W[ilhelm] Pfeiffer, Actenmäßige Nachrichten über das Gaunerunwesen an Rhein und Main und in den an diesen Gegenden grenzenden Ländern, Frankfurt a.M. 1828, S. 21; vgl. auch Küther, Räuber und Gauner in Deutschland, S. 134. 46 Steven C. Hughes, Crime, Disorder and the Risorgimento. The Politics of Policing in Bologna, Cambridge 1994, S. 67; Wolfram Siemann, »Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung«. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985, S. 197. 47 Wolfram Siemann, Guiseppe Mazzini in Württemberg? Ein Fall staatspolizeilicher Fahndung im Reaktionssystem des Vormärz, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 40. 1981, S. 547–560.

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sonders viele Achtundvierziger, die versuchen könnten, unter britischem diplomatischen Schutz wieder politisch aktiv zu werden.48 Erfolgreicher scheinen Versuche gewesen zu sein, bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, vorwiegend Handwerksgesellen, die Reise in Staaten zu verbieten, in denen die politische Agitation zugunsten von Gewerkschaften oder freien Wahlen besonders weit fortgeschritten schien. Von solchen pauschalen Wander- oder Reiseverboten waren vor allem die Schweiz, Frankreich, Belgien und Großbritannien betroffen, in den 1850er Jahren kurzfristig auch Bremen. Zwar bestand die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu beantragen, die vor allem für Luxushandwerke wie Uhrmacher leicht gewährt wurden. Zudem fiel die Übertretung des Verbots nicht immer gleich an der Grenze auf, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann bemerkt wurde, war offenbar hoch.49 Das Bild, das sich mit Blick auf die allgemeine Regulierung des Zugangs zum Staatsgebiet zum Zwecke der Arbeitsaufnahme ergibt, ist ähnlich ambivalent. Allgemein setzten die Regelungen des Pass- und Meldewesens Personen, die außerhalb ihres Heimatortes arbeiteten, besonderen Zwängen aus. Das Ende des Arbeitsverhältnisses konnte – ebenso wie in anderer Weise nicht normkonformes Verhalten – zur Ausweisung in den Heimatort führen, entweder mittels eines Lauf- oder Zwangspasses, der Route und Reisezeit vorschrieb, oder mittels des ›Schubs‹, der die Reise unter Bewachung und die Übernachtung in Gefängnissen vorsah.50 Während kein Land allgemeine Zuwanderungsverbote gegen ausländische oder ortsfremde inländische Arbeitnehmer erließ, wurde gelegentlich versucht, Arbeitswanderungen zu steuern, indem Passbehörden im In- und Ausland gebeten wurden, keine Reisepapiere für besonders überfüllte Arbeitsmärkte auszustellen oder lokale Polizeibehörden die Einreise von Arbeitsuchenden unterbanden.51 Dazu kamen Bestimmungen, welche sicherstellen sollten, dass sich nur besonders erfolgreiche Arbeiter und Handwerker aus ihrer Heimatregion entfernten. Bei der Kontrolle von Dokumenten sollte nicht nur die Reisegenehmigung überprüft, sondern ökonomische Risiken für das Zielland möglichst ausgeschlossen werden. Das betraf Krank|| 48 Friedrich Beck/Walter Schmidt (Hg.), Die Polizeikonferenzen deutscher Staaten 1851–1866: Präliminardokumente, Protokolle und Anlagen, Weimar 1993, S. 312f.; Korrespondenz zwischen dem britischen Außenministerium und der britischen Botschaft in Wien, 12.8.1856, 22.8.1856, National Archives, Kew, FO 612/13. 49 Stärkle, Tagebuch und Reisememoiren, S. 50–55, 75. 50 Vgl. zur Abschiebung allgemein Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Heindl/Saurer (Hg.), Grenze und Staat, S. 173–346; Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 187–193. 51 Vgl. die entsprechenden Circularnoten der badischen Vertretung beim Deutschen Bund, die versuchte, die Reise weiterer Arbeiter nach Rastatt, wo eine Bundesfestung gebaut wurde, zu verhindern: Hessisches Staatsarchiv Marburg 100/5468, Noten vom 20.4.1846, 24.3.1847, 8.3.1849, 12.3.1850; zu einem weiteren, Preußen und Kurhessen betreffenden Beispiel, siehe ebd. 17b/89 no 8, Korrespondenz zwischen der Regierung Kassel und dem Kreisrat Eschwege vom 26.4.1831, 24.6.1831, 14.2.1832.

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heiten – die meisten Staaten verlangten von Gesellen eine Pockenimpfung und das Freisein von Hautkrankheiten – ebenso wie Arbeitsfähigkeit, -willigkeit und -erfolg. Reisenden, deren Wanderbuch zu viel Reise- und zu wenig Arbeitszeit auswies, die eine von 30 bis 40 Jahren angesetzte Altersgrenze überschritten hatten oder die nicht in der Lage waren, künstlich überhöhte Summen als »Reisegeld« vorzuweisen, sollte theoretisch die Reise über Staatsgrenzen verwehrt werden.52 Preußen erließ zudem Sonderbestimmungen für ausländische jüdische Handwerksgesellen, deren Aufenthalt in Preußen auf keinen Fall zum Erwerb des Niederlassungsrechts führen sollte und daher auf höchstens drei Jahre zu beschränken war. Einreisen sollten sie überhaupt nur dann dürfen, wenn umgekehrt preußische Juden in ihrem Heimatland auch zugelassen waren.53 In der Praxis triumphierten meist lokale Interessen über zentralstaatliche Vorgaben. Wenn Gemeinden Auswanderung erleichtern wollten, dann waren Bürgermeister bereit, der Passbehörde gegenüber so zu tun, als glaubten sie, Bauern aus der Gemeinde planten wirklich eine Vergnügungsreise nach Amerika, sodass sie keine Auswanderungsgenehmigung brauchten; ebenso leicht ist einzusehen, dass lokale Behörden oft wenig Verständnis dafür hatten, dass Entscheidungen des Deutschen Bundes oder der Staatsregierung Gesellen und ›Arbeitern‹ den Zugang zu attraktiven Arbeitsmärkten wie der Schweiz, Frankreich oder England verwehrten, was lokale Armenausgaben in die Höhe treiben konnte. Solche Bestimmungen wurden daher regelmäßig mit der Billigung lokaler Behörden unterlaufen, was wiederum stark zu dem ministeriellen Eindruck beitrug, nachgeordnete Behörden seien korrupt, inkompetent oder beides.54 || 52 Vgl. Werner, Travelling Journeymen, S. 210; Außenministerium an Innenministerium, 18.5.1837, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep. 77 Tit. 33d Nr. 11 Adhib 2, fol. 27r; Rauer, Preußische Paß-Polizei-Verwaltung, S. 99f.; Sammlung der landesherrlichen Edicte und anderen Verordnungen [des Herzogtums Nassau], Bd. 4, S. 298f.; Friedrich August Küchler (Hg.), Handbuch der Lokal-Staatsverwaltung mit Berücksichtigung der Kreis- und Provinzialverwaltung im Großherzogtum Hessen, 2. Aufl. Heidelberg 1866, S. 410f.; Helmut Bräuer, Gesellenmigration in der Zeit der industriellen Revolution. Meldeunterlagen als Quellen zur Erforschung der Wanderbeziehungen zwischen Chemnitz und dem europäischen Raum, Karl-Marx-Stadt 1982, S. 12; Ausschreiben des Staatsministeriums, 29.9.1828, Hessisches Staatsarchiv Marburg 16/VII 8/10; Archiv der Großherzoglich Hessischen Gesetze und Verordnungen, 7 Bde., Darmstadt 1834–1839, Bd. 5, S. 376–79; Stärkle, Tagebuch und Reisememoiren, S. 50. 53 Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1838, S. 503. 54 Josef Mergen, Die Auswanderungen aus den ehemals preußischen Teilen des Saarlands im 19. Jahrhundert (I): Voraussetzungen und Grundmerkmale, Saarbrücken 1973, S. 65; Sigrid Faltin, Die Auswanderung aus der Pfalz nach Nordamerika im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Landkommissariates Bergzabern, Frankfurt a.M. 1987, S. 263–266; Joachim Heinz, »Bleibe im Lande, und nähre dich redlich!« Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Kaiserslautern 1989, S. 225–228; Werner, Travelling Journeymen, S. 217; Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung: die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 87–89; Gert Zang, Konstanz in der

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Fasst man das Gesagte kurz zusammen, so entstand entgegen der behördlichen Vision einer umfassenden Kontrolle, welche eine Feinsteuerung von Migration erlauben sollte, in der Praxis ein kaum berechenbares System, das von unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten sehr verschieden erlebt wurde. Die Intensität der Kontrolle schwankte von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit sehr stark, obgleich die Regularien des Passwesens zu keiner Zeit nur auf dem Papier standen – gegen diese Annahme spricht bereits die erhebliche Zahl von Verhaftungen und Ausweisungen sowie die Rolle, welche Passkontrollen in Reiseberichten spielten. Ziel war weniger die Abgrenzung gegen andere Staaten als die Aufsicht über längere Reisen überhaupt. Der Schutz inländischer Arbeitsmärkte gegen ausländische Konkurrenz war durch die Reisebeschränkungen ebenso wenig intendiert wie das Verbot von Geschäfts-, Bildungs- oder Vergnügungsreisen. Das erklärt, warum die Vertreter von Arbeiterinteressen in der Revolution von 1848 das Passwesen nicht als einen potenziell nützlichen Schutz vor ausländischer Konkurrenz wahrnahmen, sondern nur als einen Vorwand für behördliche Willkür.55 Bezugspunkt der Differenzierung von Auslands- und Inlandsreisen war in den deutschen Staaten der einzelne Staat; weder die Grenzen des Deutschen Bundes noch eine Differenzierung zwischen ›Deutschland‹ und anderen Staaten spielten eine besondere Rolle.

3 Die Lockerung des Kontrollsystems Mit dem Ende der 1850er Jahre wurde deutlich, dass das Passsystem mit anderen Zielen staatlicher Politik nicht vereinbar war. Aus britischer Perspektive erschien das Passwesen bereits im frühen 19. Jahrhundert als merkwürdiges Überbleibsel, das den sichtbarsten Kontrast zwischen britischer Freiheit und kontinentaleuropäischem Despotismus darstellte. Die Vorstellung von Deutschland als Untertanengesellschaft machte sich daran immer wieder in besonderer Weise fest56, zumal die Regeln in den 1850er Jahren in den deutschen Staaten besonders strikt angewendet

|| großherzoglichen Zeit. Bd. 1: Restauration, Revolution, Liberale Ära 1806 bis 1870, Konstanz 1994, S. 501f. 55 G[eorg] Schirges (Hg.), Verhandlungen des ersten deutschen Handwerker- und GewerbeCongresses gehalten zu Frankfurt a.M. vom 14. Juli bis 18. August 1848, Darmstadt 1848, S. 143; Entwurf einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland. Berathen und beschlossen von dem deutschen Handwerker- und Gewerbe-Congreß zu Frankfurt am Main in den Monaten Juli und August 1848. Mit einem Anhange: Mittel zur Hebung des deutschen Handwerkerund Gewerbestandes und einer Beilage, Hamburg 1848, S. 16. 56 Hansard's Parliamentary Debates. Third Series, Commencing with the Accession of William IV 120, 1852, Sp. 514; Duthie, Tramp’s Wallet, S. ii [Preface]; Chambers, A Tour in Holland, S. 71; Eight Weeks in Germany, S. 43.

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wurden. Murrays Reiseführer für Deutschland, die Benelux-Region und Nordfrankreich erklärten, (nur) für den Deutschen sei der Pass der Beweis der eigenen Existenz (für Engländer stelle er eine etwas größere Mautquittung dar).57 Solche unterschiedlichen Einschätzungen des Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Individuen konnten zu ernsteren diplomatischen Konflikten führen.58 Entscheidender war aber, dass die Nebenwirkungen des Passsystems auch aus Regierungssicht allmählich seinen Nutzen übertrafen. Ein Grund war die Durchsetzung der Eisenbahn. Die neuere Forschung hat zu Recht betont, dass sich die Logik der Eisenbahn zunächst wenig von der Logik der Postkutschen unterschied: Beide Verkehrsmittel verkehrten nach relativ dichten Fahrplänen entlang fixer Streckennetze mit Waggons, die zunächst ähnlich gestaltet waren.59 Ein entscheidender Unterschied war freilich, dass Züge sehr viel mehr Menschen auf einmal transportierten. Bestand man auf einer rigiden Ausweiskontrolle an Grenzstationen, dann musste immer das eintreten, was der entlassene Richter Jadocus Temme über die preußische Grenze von 1851 berichtete: »In Aachen wurden die Reisenden, die mit der Eisenbahn aus Frankreich kamen, sammt und sonders wie eine Heerde oder wie Gefangene, sofort beim Aussteigen in ein Zimmer eskortirt, in dem sie ihre Pässe vorzeigen mußten«.60 Wo viele Leute auf einmal ankamen, hätten lange Übergangszeiten in die Fahrpläne eingerechnet werden müssen, was die Attraktivität der Eisenbahnen gemindert hätte. Es lag näher, die Kontrollen zu überdenken. Dieses Problem, das gemeinsam mit der Eisenbahn ins Leben trat, betraf nicht nur Reisen zwischen deutschen Staaten. Eine genaue Erfüllung der Visaformalitäten für Preußen hätte etwa für Reisende aus Großbritannien oder Frankreich eine zusätzliche Übernachtung in Brüssel erforderlich gemacht, da das preußische Konsulat erst 15 Minuten vor der Abfahrt des Zugs nach Köln damit begann, Sichtvermerke für die Einreise nach Preußen auszustellen.61 Dieses Problem verschwand im Laufe der 1850er Jahre, als mehr und mehr Staaten West- und Nordeuropas die Visumpflicht abschafften. Preußen ging damit für britische Reisende 1851 voran, der Höhepunkt der Reform lag aber in den späten 1850er und 1860er Jahren. Bayern schaffte die Visumpflicht für Reisende aus West-, Mittel- und Nordeuropa 1858 ab, Frankreich 1861, Österreich

|| 57 [John Murray], A Hand-Book for Travellers on the Continent, Being a Guide through Holland, Belgium, Prussia and Northern Germany and along the Rhine, from Holland to Switzerland, 10. Aufl. London 1854, S. xviii. 58 Vgl. Christoph Johannes Franzen, Zivilisation und Konflikt. Die Macdonald-Affäre und das britisch-preußische Verhältnis zur Zeit der neuen Ära (1860/61), Siegburg 2001. 59 Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn: Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Paderborn 2005, bes. S. 14–31. 60 Temme, Augenzeugenberichte, S. 270. 61 Mr. Phillips an Viscount Palmerston, Royal Exchange, 25.3.1851, National Archives, Kew, FO 612/8.

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1865. Ende der 1860er Jahre waren Einreisevisa nur noch für das Überschreiten der russischen Grenze erforderlich.62 Diese Erleichterungen vergrößerten kurzfristig die Bedeutung der Staatsangehörigkeit, da die Visumpflicht immer nur für bestimmte Staaten abgeschafft wurde, deren Einwohner als ökonomisch wie politisch ungefährlich galten. Die Erleichterung, welche die Abschaffung der Visumpflicht mit sich brachte, entsprach überdies der Logik der preußischen Reformen im Bereich von Armenrecht, Gewerberecht und Niederlassungsfreiheit. Mit der Reform von 1843 hatte die preußische Regierung versucht, die preußische Wirtschaft von den Fesseln einer durch lokale Motive bestimmten Mobilitätsbeschränkung zu befreien, indem sie allen ehrbaren, arbeitsfähigen preußischen Untertanen das Recht erteilte, sich an jedem Ort innerhalb des preußischen Staates niederzulassen. Diese Regelung konnte ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn lokale Pass- und Polizeibehörden das Recht verloren, diese Freizügigkeit durch eine restriktive Politik bei der Ausgabe von Papieren zu unterlaufen – wie das etwa westfälische Städte, welche Neuzugänge zwangen, einen überteuerten offiziell genehmigten Feuereimer zu kaufen, auf andere Weise taten.63 Die Verbindung der Herausforderung durch die Eisenbahn einerseits, die Assoziation von Mobilität mit wirtschaftlicher Dynamik andererseits führte somit bereits in den 1840er Jahren zur Einführung eines neuen Ausweisdokuments, der sogenannten Passkarte. Dieser kreditkartengroße Ausweis übernahm die Funktion der preußischen Prominentenpässe. Er enthielt keine Angabe der Reiseroute, wurde nicht vidiert und sollte allenfalls flüchtig kontrolliert werden. Das wurde dadurch erleichtert, dass er nicht mehr gelesen werden musste. Die Gültigkeit ließ sich aus der jährlich wechselnden Farbe erkennen. Die Passkarte wurde 1842 auf der BerlinDresdener Eisenbahn eingeführt und galt zunächst nur in der unmittelbaren Umgebung des Schienenstrangs. Noch in der Zeit der Nachwehen der Revolution, im Oktober 1849, führte Kurhessen die Passkarte ein; 1850 hatten das 15 deutsche Staaten getan. 1852 verweigerten nur noch Hessen-Homburg, Österreich und Holstein der Karte die Anerkennung; diese erfolgte ab 1858, 1860 beziehungsweise mit der Annexion durch Preußen seit 1866.64 Als Nutznießer der Passkarte kamen aber nur Personen in Betracht, die dem Profil des sicheren Reisenden entsprochen hätten, der heute an Flughäfen schneller seiner Wege gehen soll als gewöhnliche Sterbliche, deren in Schlangen verbrachte || 62 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 138. 63 Thomas Küster, Alte Armut und neues Bürgertum: öffentliche und private Fürsorge in Münster von der Ära Fürstenberg bis zum Ersten Weltkrieg (1756–1914), Münster 1995, S. 127–129. 64 Hessisches Staatsarchiv Marburg 19h/88; Hans-Wilhelm Rockstroh, Die Entwickelung der Freizügigkeit in Deutschland, unter besonderer Würdigung der preussischen Verhältnisse, Halle 1910, S. 106, Anm. 2; Landgräflich-Hessisches Regierungsblatt 1858, Nr. 12; ebd. 1859, Nr. 12, S. 201; ebd. 1866, Nr. 4, S. 18.

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Zeit aus Regierungssicht keinen hinreichenden ökonomischen Wert darstellt: wirtschaftlich erfolgreiche Vielfahrer aus den höheren Ständen. Handwerksburschen, Arbeiter oder alle diejenigen, die 1848 negativ aufgefallen waren, blieben von den Erleichterungen ausgenommen und mussten sich weiterhin den Passkontrollen stellen. Das war die überwiegende Mehrheit aller Reisenden. Im Bereich der Polizeidirektion Marburg etwa wurden zwischen 1857 und 1861 (mindestens) 14.828 Pässe und (höchstens) 593 Passkarten ausgegeben.65 Die Verbindung zwischen Mobilität und Gefahr, die ein konstanter Bestandteil des Polizeidiskurses gewesen war (und die in Aktenüberschriften wie »Aufsicht auf fremde und verdächtige Einheimische Personen«66 zum Ausdruck kam), hielt sich zunächst in der polizeilichen Praxis. Der für den preußischen Grenzort Minden zuständige Polizeileutnant Rohe sah es beispielsweise 1852 für erwiesen an, dass bereits der Aufenthalt am Bahnhof auf Mitgliedschaft in der »Regierungsfeindlichen Partei« schließen lasse.67 Diese Haltung fand Ende der 1850er Jahre immer weniger Unterstützung. Ein Grund dafür war, dass die Kompromisslösung, welche die Passkarte darstellte, außerhalb Deutschlands nicht durchsetzbar war. Nachbarstaaten wie Belgien lehnten das Angebot, dem Passkartenverband beizutreten, wiederholt ab.68 In stärker von revolutionären Traditionen geprägten Gesellschaften wie Belgien oder Frankreich ließen sich Unterschiede in der Behandlung Reisender, die nur aus der sozialen Lage folgten, kaum rechtfertigen. Die Praxis der differenzierten Kontrolle mittels Passkarte widersprach zudem dem Geist der Handelsverträge europäischer Staaten, in denen allen Kaufleuten Reisefreiheit zugesichert wurde.69 Schließlich setzte sich auch in Teilen der Bürokratie die Erkenntnis durch, dass systematische Kontrollen viel kosteten, viele rechtschaffene Menschen behinderten, aber wenig brachten. In Minden argumentierte der Regierungspräsident 1859, die intensiven Kontrollen hätten nur zur Verhaftung harmloser Reisender geführt, denen allenfalls der eine oder andere Stempel fehlte. Nun werde die Menge der ankommenden Reisenden von zwei Polizeibeamten in Augenschein genommen, die nur noch verdächtige || 65 Die Einschränkungen ergeben sich daraus, dass die Liste zu Abrechnungszwecken angefertigt wurde. Sie enthielt keine Angaben zu kostenlos ausgegebenen Pässen; zudem ist wahrscheinlich, dass alle angeforderten Passkarten zunächst verbucht werden mussten, obgleich sie am Jahresende ungültig wurden; Hessisches Staatsarchiv Marburg 19h/665. 66 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 211/13443; vgl. Laurence Fontaine, Histoire du colportage en Europe (XVe-XIXe siècle), Paris 1993, S. 11–17; Elaine Glovka Spencer, State Power and Local Interests in Prussian Cities: Police in the Düsseldorf District 1848–1914, in: Central European History, 19. 1986, S. 293–313, hier S. 297. 67 14. Wochenbericht, Minden, 21.3.1852, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77 Tit. 1156 Nr. 1. 68 Außenministerium an Innenministerium, 17.8.1861, 27.9.1861, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep. 77 Tit. 33a Nr. 36 Bd. 1. 69 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 157f.

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Individuen kontrollierten. Das habe in anderthalb Jahren zu 38 Befragungen geführt, die nur drei Verhaftungen zur Folge hatten. Folglich wurde die Grenzkontrolle – entgegen dem Wortlaut der Passinstruktion von 1817 – im März 1859 vollständig aufgehoben.70 Der Versuch, den gänzlichen Verzicht auf Grenzkontrollen gesetzlich abzusichern, scheiterte an der Konfrontation zwischen Abgeordnetenhaus und Regierung in den Jahren des preußischen Verfassungsstreits, da das Abgeordnetenhaus auf einer völligen Abschaffung der Passkontrollen bestand, während die Regierung sich das Recht vorbehalten wollte, sie im Notfall wieder einzuführen. Wie in allen anderen Belangen, so setzte sich die Regierung 1866 auch in diesem Punkt durch.71 Das Ende der regelmäßigen Passkontrollen in den 1860er Jahren blieb nicht auf Preußen beschränkt, sondern betraf alle Länder Mittel- und Westeuropas. Es veränderte zugleich die Funktion von Pässen. Sie galten fortan nicht mehr in erster Linie als Genehmigung einer Reise, sondern dokumentierten vor allem die Zugehörigkeit zu einem Staat. Zugleich entfiel die Notwendigkeit (und die Praxis), dass Staaten Pässe für Personen ausstellen, die nicht zugleich ihre Staatsangehörigen waren.72 Dies brachte einige unerwartete Nebeneffekte mit sich. In dem Maße, in dem Pässe ihre offizielle Funktion verloren, wurden sie als Werbeträger nutzbar; dort, wo sich vormals offizielle Visumstempel befunden hatten, fand sich seit den 1850er Jahren zunehmend Werbematerial von Hotels, deren Portiers sich auf den ihnen immer noch ausgehändigten Dokumenten verewigten.73 Gleichzeitig sank der Wert des Passes als Ausweis besonderer sozialer Distinktion. Zwar konnten Pässe bis in die 1870er Jahre immer noch die Türen zu Museen öffnen helfen, aber es wurde immer wahrscheinlicher, dass der Nachweis sozialen Ranges nun mit anderen Dokumenten geführt werden musste.74 Da es sich dabei um eine internationale Modifikation des Kontrollsystems handelte, die bis zum Ersten Weltkrieg sogar den Eindruck völlig unbeschränkter Reisefreiheit hervorrufen konnte75, führt die in der älteren Literatur gelegentlich zu findende Interpretation, die Erleichterung des Grenzübertritts sei vor allem darauf berechnet gewesen, die deutsche Einheit um wenige Jahre administrativ vorwegzu|| 70 Regierungspräsident Minden an preußisches Innenministerium, 30.1.1859; preußisches Innenministerium an Regierungspräsidium Minden, 6.3.1859, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep. 77 Tit. 1156 Nr. 1. 71 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep. 77 Tit. 33a Nr. 36 Bd. 1; britische Botschaft Berlin an Foreign Office, 21.6.1862, National Archives, Kew, FO 612/27; britische Botschaft Berlin an Foreign Office, 13.2.1863, National Archives, Kew, FO 612/28. 72 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 134–141. 73 John David Hope an Passport Office, 28.7.1856, National Archives, Kew, FO 612/13. 74 Vgl. exemplarisch [John Murray], A Hand-Book for Travellers on the Continent, being a Guide through Holland, Belgium, Prussia and Northern Germany and along the Rhine, from Holland to Switzerland, 16. Aufl. London 1867, S. xvi–xviii, 213. 75 Z.B. Adrien Sée, Le passeport en France, Chartres 1907, S. 7.

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nehmen76, in die Irre. Auf systematische Passkontrollen an Grenzen konnte seit den 1860er Jahren unter anderem deswegen verzichtet werden, weil die Erfahrung von über 40 Jahren Passpflicht dafür gesorgt hatte, dass sich (fast) jede(r) Reisende ausweisen konnte. Überdies hatte sich die Bewertung des Reisens von einem tendenziellen Normverstoß zu einem Zeichen wirtschaftlicher Dynamik verschoben. Selbst mit der Abschaffung der Grenzkontrollen blieb schließlich ein entscheidender Aspekt des Passwesens bestehen: die Kontrolle vor Ort bei der Meldung bei der Einwohnerbehörde, bei der immer noch über Zulassung oder Abweisung entschieden werden konnte. Entscheidend war daher der Spielraum der Behörden in diesem Punkt. Vor den 1840er Jahren war er relativ unbeschränkt, solange sich Personen nicht an ihrem Heimatort befanden. In den 1840er Jahren wurde es in manchen deutschen Staaten leichter, den Heimatort zu wechseln. Vor der Gründung des Norddeutschen Bundes war dies aber nur innerhalb eines Staates problemlos möglich. Die Erleichterungen beim Reisen setzten die Vision behördlicher Reisekontrolle nur begrenzt außer Kraft. In Hessen-Darmstadt nahm die Gendarmerie zwischen 1855 und 1864 insgesamt 29.583 Verhaftungen wegen Verstößen gegen Bestimmungen der Pass- und Fremdenpolizei vor. Davon erfolgten allein 11.346 wegen ›zwecklosen Umherziehens‹ und 10.781 wegen Bettelns außerhalb des Unterstützungswohnsitzes. Nur 62 Verhaftungen bezogen sich auf unerlaubtes Überschreiten der Staatsgrenze.77 Auch kurz vor der Gründung des Norddeutschen Bundes bezog sich die staatliche Abgrenzung durch Pass- und Visumzwang mindestens ebensosehr auf die Regulierung inländischer Bewegung wie auf die Abgrenzung eines Staatsgebietes gegen Zu- oder Abwanderung.

|| 76 Rockstroh, Entwickelung der Freizügigkeit in Deutschland, S. 106f.; Werner Bertelsmann, Das Passwesen: eine völkerrechtliche Studie, Straßburg 1914, S. 25; Rudolph Knaack, Die Überwachung der politischen Emigranten in Preußen in der Zeit von 1848 bis 1870, Diss. Berlin 1960, S. 33. 77 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 124f.

Bettina Hitzer

Freizügigkeit als Reformergebnis und die Entwicklung von Arbeitsmärkten Am 1. November 1867 war es soweit: An diesem Tag trat ein Gesetz des Norddeutschen Bundes in Kraft, welches unmissverständlich festhielt, dass jeder Bundesangehörige innerhalb des Bundesgebietes das Recht hatte, sich an jedem beliebigen Ort aufzuhalten oder niederzulassen, dort Grundeigentum zu erwerben oder ein Gewerbe seiner Wahl zu betreiben. Dieses Gesetz wurde im Wortlaut 1871 als Reichsgesetz übernommen. Damit galt – mit gewissen Einschränkungen – erstmals im gesamten Bundes- beziehungsweise Reichsgebiet Freizügigkeit als Grundrecht eines jeden Staatsbürgers.1 Dem vorausgegangen war ein langwieriger und keineswegs geradliniger Reformprozess, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte und in den einzelnen deutschen Staaten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und durchaus verschiedenen Gewichtungen vorangetrieben wurde. Intermediäre Gewalten und Personenverbände wie Städte, Zünfte und religiöse Gemeinden wurden im Verlauf dieses Prozesses als Bezugsgröße von Zugehörigkeit durch territoriale Bestimmungen von Zugehörigkeit ersetzt.2 Ökonomische und politische, sicherheitspolizeiliche, ständische ebenso wie berufsständische und kommunale Interessen wirkten dabei gegen- und ineinander. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der ›freie Zug‹ grundsätzlich nur den persönlich Freien vorbehalten gewesen. Doch auch für diese bestanden eine Reihe von Beschränkungen. Der Abzug wurde nur unter bestimmten Voraussetzungen und nach Zahlung vorgeschriebener Abzugsgelder genehmigt. Auch der freien Niederlassung an einem anderen Ort stellten sich viele Hindernisse in den Weg, etwa im Bereich des Zunft- und Bürgerrechts, des Verehelichungs- und Strafrechts sowie der gesetzlichen Regelungen zur Armenunterstützung und zum Bettelwesen. Während die Abzugsbeschränkungen schon früh im Verlauf dieses Reformprozesses fielen, wurden die Niederlassungshindernisse teilweise zunächst nur modifiziert beziehungsweise in einigen Punkten sogar verschärft, um im Zeichen des Pauperismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Zuzug bestimmter Migrantengruppen zu steuern oder gar zu verhindern.3 || 1 Hierzu siehe auch den Beitrag von Andreas Fahrmeir über die migratorische Deregulierung nach der Reichsgründung 1871 in diesem Band. 2 Vgl. zur Kategorie der Territorialität als Narrativ der modernen Geschichte: Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review, 105. 2000, S. 807–831. 3 Jan Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt. Paradigmatische Überlegungen zum grundrechtlichen Freiheitsschutz in historischer und verfassungsrechtlicher Perspektive, Tübingen 1997, S. 174.

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Der Begriff Freizügigkeit umfasste zu Beginn dieses Reformprozesses sowohl die intra- und interterritoriale (das heißt zwischen den einzelnen deutschen Territorien bestehende) Freizügigkeit als auch die Auswanderungsfreiheit. Ein enger Begriff von Freizügigkeit im Sinne eines Rechts, sich innerhalb der Staatsgrenzen frei bewegen und betätigen zu können, bildete sich dagegen erst im Zuge der Entstehung des modernen souveränen deutschen Staates mit genau bestimmten Staatsgrenzen und einer präzisen Vorstellung von Staatsangehörigkeit heraus.4 Im Folgenden wird nicht nur die Entwicklung der intra-, sondern auch der interterritorialen Freizügigkeit in denjenigen deutschen Staaten im Vordergrund stehen, die 1871 Teil des Deutschen Reiches werden sollten.5

1 Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit als Grundrecht Mit dem 18. Jahrhundert wurde die Frage der Freizügigkeit zu einem zentralen Problem naturrechtlicher Entwürfe wie volkswirtschaftlicher Überlegungen. Die ältere Naturrechtslehre hatte Freizügigkeit im Sinne einer Auswanderungsfreiheit zwar als Naturrecht in der Regel anerkannt, aber postuliert, dass dessen Gültigkeit mit dem Eintritt in die Gesellschaft erloschen sei und von diesem Punkt an nur im äußersten Notfall als Widerstandsrecht ausgeübt werden könne. Erst in der zweiten Hälfte des || 4 Diethelm Klippel/Gregor Dehmer, Freizügigkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1221–1223. Die Grenzen zwischen temporärer und dauerhafter Migration mit der Folge der Sesshaftigkeit waren allerdings oft fließend. Im Falle der interterritorialen Wanderung bedeutete die dauerhafte Ansiedlung jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in der Regel auch den Wechsel der Staatsangehörigkeit, der hier nicht Thema ist. Vgl. zu einzelnen regionalen Migrationsregimen u.a. Karl Härter, Arbeit, Armut, Ausgrenzung. Rechtliche Reglementierung von Wanderungsbewegungen und Migrationspolitik im hessischen Raum zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert, in: Zuwandern, Einleben, Erinnern. Beiträge zur historischen Migrationsforschung, hg.v.d. Hessischen Vereinigung für Volkskunde durch Siegfried Becker/Joana M.C. Nunes Pires Tavares, Marburg 2009, S. 28–55; Markus Küpker, Migrationen im vorindustriellen Westfalen: Das Beispiel von Hausierhandel, Hollandgang und Auswanderung in Tecklenburg 1750–1850, in: Westfälische Forschungen, 59. 2009, S. 45–78; Lutz Vogel, Von der Arbeitsmigration zur dauerhaften Niederlassung. Ein Beitrag zur Einwanderung in die sächsische Oberlausitz im 19. Jahrhundert, in: Neues Lausitzisches Magazin, 16. 2013, S. 133–142 sowie grundlegend: Hannelore Oberpenning/Annemarie Steidl (Hg.), Kleinräumige Wanderungen in historischer Perspektive, Osnabrück 2001 und Katrin Lehnert/Lutz Vogel (Hg.), Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert, Dresden 2011. 5 Als Überblick über intra- und interterritoriale Arbeitswanderungen dieser Zeit vgl. Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013, S. 15–32, dort auch zur Forschungsgeschichte, S. 75–84 sowie Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 152–169.

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18. Jahrhunderts entwickelte sich der Gedanke, dass die bürgerliche Freiheit Endzweck des Staates sei und es damit unveräußerliche Grundrechte geben müsse, zu denen mit gewissen Beschränkungen auch das Recht auf Freizügigkeit gehören sollte. Etwa zeitgleich äußerten Kameralwissenschaftler wie Johann Heinrich Gottlob von Justi (1760) erste Zweifel an der Sinnhaftigkeit absolutistischer Auswanderungsbeschränkungen, könnten diese doch auf erwünschte potenzielle Einwanderer abschreckend wirken. Wirtschaftsliberale Theoretiker verknüpften dagegen das Naturrecht auf Freizügigkeit mit dem Wohl von Gesellschaft und Staat. So hielt etwa Adam Smith (1776) Freizügigkeit im Interesse eines freien Spiels der Marktkräfte für unverzichtbar. Diese Begründung fand in Deutschland zunächst wenig Beachtung. Dafür entwickelten die deutschen Physiokraten etwa zeitgleich eine historische Begründung, die Auswanderungsfreiheit als Teil der ›libertas Germanica‹ den persönlich Freien zusprach, damit aber zugleich Leibeigene davon ausschloss. Dieser Ausschluss wurde dann allerdings im deutschen Naturrecht in Anlehnung an das Kantianische Diktum »Der Mensch aber ist keine Sache« verworfen und das Recht auf Freizügigkeit zum allgemein gültigen Menschenrecht erklärt.6 Als solches tauchte es denn auch in der französischen Verfassung von 1791 auf und wurde damit erstmals als Menschenrecht kodifiziert.7 Als Teil der Statusrechte wurde es schließlich 1807 in den Code Civil (Art. 102–104) übernommen. In dieser Form war es nicht nur Vorbild für die deutschen Territorien, sondern wurde in den französisch besetzten Gebieten zur Rechtsnorm, die auch nach der Niederlage Napoleons weitgehend Gültigkeit behielt. In der Mehrzahl der deutschen Länder sah die Lage an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dagegen deutlich anders aus. Weder Auswanderungsfreiheit noch intra- beziehungsweise interterritoriale Freizügigkeit waren einheitlich normiert oder verfassungsmäßig garantiert. Zwar hatten die Regierungen der meisten deutschen Staaten sehr wohl ein Interesse daran, Freizügigkeit innerhalb ihrer Territorien zuzulassen, da man sich davon eine Belebung von Wirtschaft, Handwerk und Handel sowie einen quasi natürlichen Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Regionen des jeweiligen Landes erhoffte. Dies wurde jedoch in der Regel nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene, sondern durch Gesetze zu erreichen versucht und bedeutete eine Entmachtung der intermediären Gewalten zugunsten des jeweiligen Landesherrn. So war in Preußen sukzessive seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Verpflichtung abgeschafft worden, bei einem innerpreußischen Ortswechsel an die jeweilige

|| 6 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, S. 67. 7 So heißt es in Titel I der französischen Verfassung von 1791: »La Constitution garantit pareillement, comme droits naturels et civils: – La liberté à tout homme d'aller, de rester, de partir, sans pouvoir être arrêté, ni détenu, que selon les formes déterminées par la Constitution«.

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Ortsobrigkeit ein sogenanntes Abzugsgeld zu zahlen.8 Die ›gabella emigrationis‹, eine Steuer auf das mitgeführte Vermögen, wurde für alle preußischen Provinzen mit dem Allgemeinen Landrecht 1794 ebenfalls abgeschafft (ALR Teil II, Tit. 17 § 143).9 Einzig die ›gabella hereditaria‹, auch ›Abschoß‹ genannt, blieb in Geltung (ALR Teil II, Titel 17 § 175). Sie durfte von dazu berechtigten Magistraten und Gerichtsobrigkeiten erhoben werden, wenn das Vermögen eines Ortsansässigen an einen Einwohner einer anderen Provinz vererbt wurde, und betrug bis zu 10 Prozent der Erbschaft. Der König selbst hatte allerdings auf den ihm zustehenden Abschoß bereits seit 1750 verzichtet. Damit waren für Preußen fast sämtliche Gebühren abgeschafft worden, die die intraterritoriale Freizügigkeit erschwerten. Bestehen blieben jedoch grundsätzlich andere, gravierendere Freizügigkeitshindernisse, die vor allem dem Ortswechsel der ärmeren Bevölkerungsschichten enge Grenzen setzten. Dazu gehörten das Rechtsinstitut der Leibeigenschaft, das eine ganze Gruppe von preußischen Einwohnern vom Recht auf Freizügigkeit mehr oder weniger ausschloss, sowie die Niederlassungsbeschränkungen auf stadtbürgerrechtlicher, gewerberechtlicher, sicherheitspolizeilicher und vor allem armenrechtlicher Ebene. Ähnlich wurde auch in den habsburgischen Erblanden die innere Nachsteuer bereits 1785 beseitigt, während sie in anderen deutschen Territorien noch eine gewisse Zeit lang fortbestand beziehungsweise gegen den Widerstand der lokalen Herrschaften erst mit Verzögerung abgeschafft werden konnte.10 Anders als in Preußen beziehungsweise im nördlichen und östlichen Deutschland allgemein war persönliche Abhängigkeit und Leibeigenschaft in Süd- und Südwestdeutschland weniger ausgeprägt und wirkte darum auch wesentlich weniger freizügigkeitshemmend. Stadtbürgerrecht, Zunftrecht, sicherheitspolizeiliche Bedenken und Armen- beziehungsweise Heimatrecht stellten jedoch auch dort eine nicht weniger starke Beschränkung intraterritorialer Freizügigkeit dar.

|| 8 Zunächst führte Friedrich Wilhelm I. im Sinne einer Förderung des freien Handels und einer Belebung des städtischen Handwerks die Befreiung vom Abzugsgeld für den Zug von einer Stadt in die andere ein (anfangs für die Kurmark, 1720 für die gesamte Neumark und 1721 für sämtliche preußische Länder); vgl. Hans Wilhelm Rockstroh, Die Entwickelung der Freizügigkeit in Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung der preussischen Verhältnisse, Halle 1910, S. 28f.; vgl. Ziekow, Freizügigkeit, S. 124. 9 Diese Regelung wurde durch ein Edikt von 1797 auch für die neu erworbenen preußischen Territorien übernommen; vgl. Rockstroh, Freizügigkeit, S. 29. 10 So wurde etwa in der Markgrafschaft Baden-Baden ein Abzugsgeld von 10 Prozent verlangt. Nassau-Saarbrücken reduzierte das Abzugsgeld gegenüber der im Falle einer Auswanderung fälligen Nachsteuer um die Hälfte auf 5 Prozent. In den Ländern Kurpfalz, Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulzbach, Bayern, Jülich und Berg scheiterte dagegen 1780 ein erster Versuch, Abschoßfreiheit einzuführen. Erst 1801 wurde dort schließlich der freie intraterritoriale Abzug durchgesetzt; Ziekow, Freizügigkeit, S. 124f.

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Einer anderen Dynamik folgten hingegen zunächst die Regelungen der interterritorialen Freizügigkeit sowie der Auswanderungsfreiheit. Alle deutschen Staaten verschärften um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert die diesbezüglichen Beschränkungen beziehungsweise Verbote. Sie führten damit einerseits eine noch merkantilistisch geprägte Peuplierungspolitik fort, die auf eine weitgehende Beschränkung von Auswanderung unter dem Postulat einer möglichst hohen Bevölkerungszahl setzte. Andererseits reagierten sie damit auf steigende Zahlen an Auswanderungswilligen innerhalb ihrer Bevölkerungen, die auf diese Weise der Nahrungsmittelknappheit und Verteuerung zu entfliehen hofften. So verbot ein württembergisches Reskript von 1807 kurzerhand den Untertanen die Auswanderung. Bayern hatte schon 1804 zu diesem Mittel gegriffen, andere deutsche Länder folgten in der Krise von 1816/17, die die Auswanderungsbereitschaft weiter erhöhte.11 Aber auch dort, wo Auswanderung grundsätzlich zugestanden wurde, stand sie immer unter dem Vorbehalt einer vorher erteilten Erlaubnis, die an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft war. Dazu gehörten die Entlassung aus der Militärdienstpflicht, die Feststellung einer fehlenden Gefährdung der Güterpreise durch Massenauswanderungen, das Vorliegen erforderlicher Zustimmungen von Familienangehörigen sowie die Bezahlung möglicher inländischer Schulden.12 Doch selbst wenn all diese Bedingungen erfüllt werden konnten, gab es keinen Anspruch auf Auswanderung. Die Erlaubniserteilung blieb immer dem Ermessen der jeweiligen Behörden vorbehalten. Zudem mussten Auswanderungswillige in der Regel Nachsteuer, ›gabella emigrationis‹ sowie Abschoß zahlen. Obwohl sich in diesen Bestimmungen deutlich das Bemühen der Regierungen zeigt, Auswanderung streng zu reglementieren und – vor allem seit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 – Bevölkerungsverluste in einer Phase der Modernisierung und Arrondierung des Territoriums zu vermeiden, lassen sich zeitgleich gegenläufige Tendenzen feststellen.13 So vereinbarten eine Reihe von deutschen Staaten in bilateralen Verträgen, dass ihre jeweiligen Untertanen vom eigenen in das jeweils andere Territorium ziehen könnten, ohne Nachsteuer oder Abschoß zahlen zu müssen. Die ersten Verträge dieser Art schloss Preußen bereits 1754/55 unter anderem mit den fränkischen Fürstentümern sowie mit Hessen. Eine entsprechende Konvention zwischen Würzburg und Braunschweig-Hannover wurde 1777 verabschiedet. Bayern und Preußen konnten sich 1805 über gegenseitige Nachsteuer- und Abschoßfreiheit einigen, Bayern und Hessen 1808. Zum Teil wurden solche Freizügigkeitskonventionen auch mit nicht-deutschen Staaten geschlossen.14 || 11 Ebd., S. 190. 12 Ebd., S. 191. Hierzu siehe auch den Beitrag von Uwe Plaß in diesem Band. 13 Jan Ziekow bezeichnet diesen Zeitraum als Phase der restriktiven Konsolidierung, vgl. ebd., S. 190. 14 Ebd., S. 191 sowie Rockstroh, Freizügigkeit, S. 46–49. Dort auch eine Aufzählung sämtlicher preußischer Freizügigkeitskonventionen (S. 48).

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Vor allem mit den innerdeutschen Freizügigkeitskonventionen reagierte man auf die Zunahme des innerdeutschen Verkehrs und Handels. Im Hintergrund stand zugleich eine veränderte Wahrnehmung von Bevölkerungswachstum, wie sie zuerst der auch in Deutschland lebhaft rezipierte Thomas Malthus mit seinem 1798 publizierten ›Essay on the Principle of Population‹ theoretisch begründet hatte. Nach Malthus’ Berechnungen garantierte eine zahlreiche Bevölkerung keineswegs gesellschaftlichen Wohlstand, wie noch im Merkantilismus angenommen, da die Nahrungsmittelproduktion nicht in dem Maße gesteigert werden könne, wie eine ungehindert wachsende Bevölkerung es verlange. Auf wie viel Zustimmung diese Überlegungen nur wenige Jahre später angesichts weiterer Versorgungskrisen im Gefolge von Nahrungsmangel, Krieg und Missernten stießen, lässt sich an den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 ablesen. Dort wurde am 8. Juni 1815 die deutsche Bundesakte verabschiedet, die in Art. 18 jedem Angehörigen der deutschen Bundesstaaten das Recht einräumte, von einem Staat in den anderen zu ziehen, sofern der fremde Staat sie als Untertan aufnehmen wollte und sie in ihrem »Vaterland« ihre Militärdienstpflicht erfüllt hatten. Absatz c garantierte zudem die Nachsteuerfreiheit, sofern bestehende Freizügigkeitskonventionen nicht andere Bestimmungen getroffen hätten. Dieser Passus wurde durch einen Bundesbeschluss vom 23. Juni 1817 erweitert, nach dem bei einem Wegzug von einem deutschen Staat in einen anderen grundsätzlich Nachsteuer- und Abzugsfreiheit bestehen sollte, auch wenn diese Abgaben den Guts- und Gerichtsobrigkeiten beziehungsweise den Städten eigentlich zustehen würden.15 Preußen schloss in der Folgezeit mit sämtlichen Staaten des Deutschen Bundes zusätzlich Einzelverträge, um die Bestimmungen von Bundesakte und Bundesbeschluss auch auf die Provinzen Preußen und Posen auszudehnen, die nicht zum Deutschen Bund gehörten. Viele deutsche Bundesstaaten verankerten außerdem die Auswanderungsfreiheit in ihren Verfassungen, und zwar unabhängig davon, ob das Auswanderungsziel Teil des Deutschen Bundes war oder nicht. Lediglich Bayern und die Stadt Frankfurt am Main beschränkten die Verfassungsgarantie auf die Auswanderungsfreiheit in andere deutsche Staaten.16 Zusätzlich zu den in der Bundesakte genannten Vorbedingungen der Auswanderung verlangten einzelne Konstitutionen die vorangehende Tilgung aller Schulden, die Stellung eines finanzkräfti-

|| 15 Rockstroh, Freizügigkeit, S. 51. 16 Württembergische Verfassung von 1819, Verfassung des Großherzogtums Hessen von 1820, Grundgesetz Herzogtum Sachsen-Meiningen von 1829, Verfassungsurkunde Kurfürstentum Hessen von 1831, Grundgesetz Herzogtum Sachsen-Altenburg von 1831, sächsische Verfassung von 1831, Neue Landschaftsordnung für das Herzogtum Braunschweig vom 12.10.1832, § 35, hannoversche Verfassung von 1840 sowie bayerische Verfassung von 1818 und Konstitutions-Ergänzungsakte zu der alten Stadtverfassung der freien Stadt Frankfurt vom 19.7.1816; vgl. Ziekow, Freizügigkeit, S. 194.

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gen Bürgen oder aber die öffentliche Bekanntmachung der Auswanderungsabsicht ein Jahr im Voraus.17 Als Reaktion auf die in der Bundesakte garantierte Auswanderungs- und damit verbundene Abschoßfreiheit wurden auch die letzten verbliebenen innerterritorialen Abzugsgebühren abgeschafft.18 Nur wenige Jahre zuvor war ein weiteres Abzugshindernis in Preußen zumindest auf der rechtlichen Ebene weitgehend beseitigt worden: die persönliche Abhängigkeit und Schollenpflichtigkeit der Bauern, die vor allem in Nord- und Nordostdeutschland ein gravierendes Freizügigkeitshindernis dargestellt hatten.

2 Freizügigkeit und Agrarreformen: die Entstehung eines ländlichen Arbeitsmarktes In Preußen lebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land.19 Die Rechtsverhältnisse, unter denen die Bauern lebten, waren von Provinz zu Provinz verschieden. Viele lebten in Erbuntertänigkeit, das heißt, sie waren nicht persönlich frei, konnten nicht ohne Zustimmung des Gutsherrn heiraten und ihr Land verlassen, unterstanden der Gerichtsbarkeit ihres Herrn und mussten diesem in bestimmtem Umfang Natural- und andere Abgaben sowie Frondienste leisten.20 Diese Form der Unfreiheit wurde auf die Kinder ›vererbt‹, die dementsprechend für eine bestimmte Zeit Gesindedienste zu absolvieren hatten. Im Gegenzug war der Gutsherr für die Versorgung und Unterstützung seiner Bauern im Fall von Missernten und Verarmung zuständig. Freizügigkeit war damit für einen bedeutenden Teil preußischer Untertanen mehr oder weniger ausgeschlossen.21

|| 17 Ebd. 18 Vgl. etwa die preußische Verordnung betreffend die allgemeine Aufhebung des inländischen Abschosses vom 21.6.1816, nach Rockstroh, Freizügigkeit, S. 55. 19 Der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung Preußens betrug 1815 27,9 Prozent; vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ›Deutschen Doppelrevolution‹ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 12. 20 Die vorher bestehende Leibeigenschaft war 1794 durch das Allgemeine Preußische Landrecht für unzulässig erklärt und durch ›Untertänigkeit‹ ersetzt worden, vgl. ALR Teil II, Titel 7 § 87–146. Faktisch unterschieden sich jedoch Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit kaum. 21 Allerdings gab es schon zuvor eine Vielzahl lokaler und regionaler Migrationssysteme auch auf dem Land, die in gewisser Weise die lange gültige Annahme, es habe vor 1800 keinen Arbeitsmarkt im modernen Wortsinn gegeben, fraglich erscheinen lassen, vgl. Margrit Schulte Beerbühl, Ein schwieriges Verhältnis: Arbeitsmarkt und Migration, in: Dittmar Dahlmann/Margrit Schulte Beerbühl (Hg.), Perspektiven in der Fremde? Arbeitsmarkt und Migration von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Essen 2011, S. 9–24. Als Beispiel für ein ›altes‹, lange funktionierendes System der temporären Arbeitsmigration und -vermittlung: Piet Lourens/Jan Lucassen, Labour Mediation

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Diese Verhältnisse galten aus unterschiedlichen Gründen als reformbedürftig. Die Existenz intermediärer Gewalten mit erheblichen Rechten war bereits der aufgeklärt absolutistischen Bürokratie ein Dorn im Auge gewesen. Sie wollte den direkten Zugriff des Staates auf den Untertan durchsetzen. Naturrecht und Aufklärung störten sich an der persönlichen Unfreiheit, der Verdinglichung des Bauern. Kameralisten und Physiokraten plädierten für eine Befreiung aus den persönlichen Unfreiheitsverhältnissen und allen anderen ständischen Beschränkungen der Landwirtschaft, da nur der freie Eigentümer von Boden und Arbeitskraft produktiv und effektiv sei. Die englische Landwirtschaft, in der der ›freie‹ Großgrundbesitz mit ›freien‹ Landarbeitern dominierte, galt als großes Vorbild.22 Der Versuch, diese Reformziele durchzusetzen, wurde jedoch im großen Stil erst nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt 1806 gewagt, in einem Moment also, als der Adel in militärischer, politischer und ökonomischer Hinsicht angeschlagen war und angesichts der zu erwartenden Reparationszahlungen an Frankreich eine Modernisierung der ländlichen Wirtschaftsstruktur dringend erforderlich schien. Zudem erschien eine Reform der Agrarverhältnisse nach 1806 auch deshalb als leichter durchführbar, weil mit dem Untergang des Alten Reiches auch dessen Garantie der ständischen Rechtsverhältnisse beseitigt worden war, sodass die Feudalordnung nunmehr dem ›Privatrecht‹ zugerechnet wurde.23 Es ging also bei den 1807 begonnenen preußischen Agrarreformen keineswegs vorrangig um eine Befreiung der Bauern im emphatischen Sinne, sondern um eine Öffnung der Gutswirtschaft zum Kapitalmarkt sowie um eine Mobilisierung des Grundstücksverkehrs ebenso wie der Arbeitskräfte – mit dem Ziel, die Landwirtschaft möglichst gewinnbringend zu sanieren.24 Die avisierten Agrarreformen bestanden dementsprechend aus zwei Elementen: Erstens sollten sie die Erbuntertänigkeit aufheben, den Bauern also persönliche Freiheit gewähren, wozu auch die Freiheit gehörte, ihr Stück Land zu verlassen und sich an einem anderen Ort Arbeit als nun freier Landarbeiter oder aber als Arbeiter in der langsam entstehenden Industrie zu suchen. Zweitens sollte Lehnsgut in Eigentum umgewandelt werden (Allodifikation), ob nun dadurch, dass die Bauern

|| Among Seasonal Workers, Particularly the Lippe Brickmakers, 1650–1900, in: Sigrid Wadauer/ Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.), The History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, New York/Oxford 2015, S. 335–367. 22 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 41f. 23 Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland. Ein Überblick, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43. 1992, H. 2, S. 16–31, hier S. 23. 24 Aus diesem Grund wird auch der früher gebräuchliche Begriff ›Bauernbefreiung‹, der 1887 von Georg Friedrich Knapp geprägt wurde, in der heutigen Geschichtswissenschaft kaum noch verwendet; vgl. ebd., S. 18.

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gegen eine Entschädigung das Eigentumsrecht an den von ihnen bewirtschafteten Ackerflächen erhielten und die darauf lastenden grundherrlichen Rechte ablösten oder aber dadurch, dass die Gutsherren das Land von ihren früheren Untertanen erwarben (Bauernlegen). Den berühmten preußischen Agrarreformen vorangegangen war eine Reform der Rechts- und Besitzverhältnisse auf den staatlichen Domänen, in deren Verlauf den Domänenbauern zunächst die persönliche Freiheit, später auch durch Vererbpachtung das Besitzrecht an dem von ihnen bewirtschafteten Land gegeben worden war. Diese Reformen hatten bis 1806 maximal 30.000 Bauern erfasst, die Rechte der adligen Gutsherren waren davon jedoch nicht berührt worden.25 Den viel beachteten Startschuss für die Agrarreformen gab ein Edikt vom 9. Oktober 1807, das wesentlich auf einen Entwurf des Freiherrn vom Stein zurückging.26 Dieses Edikt hob die Erbuntertänigkeit für die besitzrechtlich besser gestellten Bauern (Kölmer, Erbzinser, Erbpächter, Eigenbesitzer) mit sofortiger Wirkung auf und versprach allen anderen die persönliche Freiheit nach Ablauf von drei Jahren mit den berühmten Sätzen: »Mit dem Martinitage 1810 hört alle Gutsuntertänigkeit in unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martinitage 1810 gibt es nur freie Leute.«27 Damit wurde ihnen Freizügigkeit und Verehelichungsfreiheit zugestanden, der Gesindezwangdienst für die Bauernkinder entfiel. Zudem wurde Grundbesitz durch das Edikt frei verkäuflich. Auf diese Weise fiel auch das vorher gültige Verbot des Bauernlegens, das Aufkaufen freier Bauernhöfe durch adlige (oder andere) Grundbesitzer wurde also möglich.28 Schließlich konnte jeder fortan ohne Ansehung seines Standes einen Beruf seiner Wahl ergreifen – auch diese Bestimmung erleichterte Freizügigkeit und förderte die Entstehung eines Arbeitsmarktes im heute geläufigen Sinn. Gerade mit dem Ziel einer Mobilisierung von Arbeitskräften verbanden die Reformer die Hoffnung, dass die nunmehr freien Bauern die Güter weniger leistungsfähiger Gutsherren verlassen und als Landarbeiter in den Dienst effektiver wirtschaftender Landwirte treten würden, auf diese Weise also das Ziel einer Modernisierung der Landwirtschaft unterstützt werden könnte.29 Dieses Ziel betonte ein || 25 Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland: 1790–1850, Stuttgart 1980, S. 62f. 26 Eine neuere Gesamtdarstellung nicht nur der preußischen Agrarreformen gibt: Karl H. Schneider, Die Geschichte der Bauernbefreiung, Stuttgart 2010. 27 Der Text des Ediktes ist abgedruckt in Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart 1978, S. 41–43, hier S. 43 (Schreibweise aktualisiert). 28 Die Aufgabe des Bauernschutzes widersprach den Intentionen Steins, war aber offensichtlich der Tribut, der für die Aufhebung der Erbuntertänigkeit an die adligen Grundbesitzer gezahlt wurde. Einzig die Laßbauern, eine Art von Erbpächtern, wurden von dieser Bestimmung ausgenommen; vgl. ebd., S. 63f. 29 Vgl. die Rigaer Denkschrift Altensteins ›Über die Leitung des Preußischen Staats‹ vom 11.9.1807, S. 403: »Die Menschen, welche nicht so leicht aus dem Land gehen oder nur in weite Entfernungen

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Publikandum von 1809, indem es erläuterte, dass die gutsherrlichen Rechte nur insoweit angetastet werden sollten, als sie der Freizügigkeit der Bauern entgegenstanden.30 Damit war der Gutsherr lediglich noch befugt, dem aus der Erbuntertänigkeit entlassenen und wegziehenden Bauern ein Leumundszeugnis auszustellen.31 Dagegen berührte das Oktoberedikt nicht die Frage, wie die Eigentumsverhältnisse der nunmehr ›freien‹ Bauern sowie die den Gutsherren nach wie vor zustehenden Dienste und Abgaben geregelt werden sollten. An der wirtschaftlichen Situation der betroffenen Bauern änderte sich also zunächst nichts. Damit war zum einen das Ziel einer Mobilisierung von Arbeitskräften und Landbesitz nur unvollkommen verwirklicht. Zum anderen wuchs die Unzufriedenheit unter den Bauern, die das Oktoberedikt mit seinem Freiheitsversprechen offenbar nicht selten als Freiheit von allen Lasten und aus jeglicher Abhängigkeit verstanden hatten beziehungsweise daran diese Hoffnung knüpften. Dementsprechend kam es in verschiedenen preußischen Provinzen, vor allem aber in der Kurmark zu Dienstverweigerungen und Unruhen unter den Bauern. Dies veranlasste Friedrich von Raumer, Regierungsrat in der Kurmark und Sohn eines Domänenpächters, in einem Gutachten 1809 »völliges Eigentum« für die Laßbauern zu verlangen. Nachdem er 1810 von Karl August von Hardenberg in die Staatskanzlei berufen worden war, legte er einen dementsprechenden Entwurf vor, stieß damit jedoch auf entschiedene Gegenwehr der betroffenen Gutsbesitzer. Der Justizminister sah in dem Entwurf zudem einen Eingriff in das Privatrecht der Gutsbesitzer. Das schließlich verabschiedete Regulierungsedikt vom September 1811 verkündete Eigentumsfreiheit und Dienstablösung für die besser gestellten Bauern. Die rechtlich schlechter gestellten Laßbauern, die die Mehrheit der Gutsbauern bildeten, erhielten ihr Land nur zu Eigentum, wenn sie ein Drittel beziehungsweise die Hälfte des Bodens abtraten oder aber ein Drittel des Grundwertes beziehungsweise ein Drittel des Gesamtertrags bar bezahlten. Damit stand diese Form der Regulierung knapp der Hälfte der spannfähigen preußischen Bauern, nämlich etwa 150.000 sowie ungefähr ebenso vielen Kossäten offen.32

|| wegziehen können, wenn sie frei sind, werden den besseren Herrn aufsuchen und dieser an Kultur desto mehr bewirken können«; zitiert nach Ziekow, Freizügigkeit, S. 145. 30 Damit richtete sich das Edikt vor allem gegen das Recht des Gutsherrn, für die Entlassung aus der Erbuntertänigkeit Gegenleistungen zu fordern (›lytrum personale et reale‹); vgl. ebd. 31 Sollte der erbuntertänige Bauer allerdings auswandern wollen, blieb das gutsherrliche Recht auf Entschädigung ausdrücklich erhalten. Dies änderte sich erst mit einer Verordnung vom 18.1.1819, nachdem die Auswanderung – wie erwähnt – bereits 1818 grundsätzlich freigegeben worden war; ebd., S. 146. 32 Kossäten waren Hintersassen, das heißt Bauern, die als Freie oder Halbfreie dinglich abhängig vom Grundherrn waren und als Gegenleistung für die Überlassung eines Grundstückes Zinsen und Naturalabgaben zu zahlen hatten sowie Hand- und Spanndienste leisten mussten. Die Bewertungen

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Faktisch hatte dieses Edikt jedoch zunächst nur wenig Auswirkungen, da während der Kriege von 1813 bis 1815 kaum Regulierungen zustande kamen. Mit einer Deklaration sollte das Edikt am 29. Mai 1816 wiederbelebt werden. Da der Adel aber zwischenzeitlich wieder an Einfluss gewonnen hatte, schränkte die Deklaration von 1816 tatsächlich das Edikt von 1811 bedeutend ein. Die Allodifikation wurde nun auf die spannfähigen Bauern begrenzt, und auch von diesen waren nur solche betroffen, deren Stellen zu weit zurückliegenden Stichtagen (Schlesien vor 1749, Ostpreußen vor 1752, in den Marken und Pommern vor 1763, in Westpreußen vor 1774) bereits als bäuerlicher Besitz katastriert waren. Die nicht spannfähigen Kleinbauern mussten hingegen weiterhin Frondienste leisten und konnten ›ihr‹ Land nicht auf eigenes Betreiben eigentumsrechtlich erwerben. Es war dagegen ins Belieben der Gutsbesitzer gestellt, eine Ablösung auch von diesen Kleinstellenbesitzern zu verlangen, wenn sie ihr Land arrondieren wollten, beziehungsweise auf den Handdiensten zu bestehen, wenn diese ihnen günstiger als Lohnarbeit erschienen.33 Wie schon 1811 sollten die spannfähigen Bauern im Prinzip gegen Abtretung eines Drittels bis zur Hälfte ihres Landes daran Eigentumsrecht erwerben können. Allerdings konnten die Gutsbesitzer eine Entschädigung oberhalb der Norm beantragen. Die Zahlung einer finanziellen Entschädigung anstelle einer Landabtretung war für die Bauern in der Regel nicht zu leisten, da ihre Gewinne infolge der Überproduktionskrisen in der Epoche des Pauperismus meist nicht ausreichten und sie bis zur Einrichtung der Rentenkassen 1850 keinen Zugang zu einem staatlich regulierten Kreditsystem hatten. 1821 bezog ein weiteres Gesetz die zuvor nicht betroffenen grundherrlichen Bauern noch mit ein. Zugleich wurden mit diesem Gesetz auch die Gemeinheitsteilungen geregelt, das heißt die Allmenden, Marken und Gemeinheiten wurden nun in das Eigentum einzelner Gutsbesitzer und Bauern überführt.34 Da für die Regulierungen im Gegensatz zum Edikt von 1811 keine Frist vorgesehen war, nahmen sie einen sehr schleppenden Verlauf. Bis 1819 hatten in den fünf östlichen Provinzen Preußens (Ost- und Westpreußen, Pommern, Mark Brandenburg mit Neumark und Schlesien) erst 8.107 Bauern Eigentumsrechte erhalten. Das waren 14 Prozent der bis 1865 regulierten Eigentümer.35 Erst nach 1820 gewann die

|| des Ediktes von 1811 gehen auseinander. Während Hans-Ulrich Wehler darin einen Sieg des Adels erkennt, sieht Christof Dipper im Edikt einen Erfolg der aufgeklärt-liberalen Bürokratie; vgl. HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987, S. 410 und Dipper, Bauernbefreiung. Ein Überblick, S. 24. 33 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 411, S. 410 und Dipper, Bauernbefreiung. Ein Überblick, S. 24. 34 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 411. 35 In der Mark Brandenburg waren es mit 24 Prozent die meisten, gefolgt von Pommern (12,2 Prozent), Westpreußen (10,8 Prozent), Ostpreußen (9,9 Prozent) und Schlesien (8,1 Prozent); vgl. Bogdan Wachowiak, Elemente und Formen der Bauernbefreiung in den östlichen Provinzen Preu-

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Regulierung an Intensität. Vor allem die Laßbauern (bis 1838: 94 Prozent) waren beteiligt, obwohl sie in der Regel viel mehr Land abzutreten und höhere Summen zu bezahlen hatten. Trotzdem konnten sie vielfach auch nach der Regulierung genügend Land ihr Eigen nennen, um sich damit eine großbäuerliche Existenz aufzubauen. Von den Bauern mit gutem Besitzrecht hatten dagegen bis 1838 erst 57 Prozent ihr Land abgelöst.36 Den rechtlich letzten Schritt tat ein Gesetz vom 2. März 1850. Damit wurde das Rechtsinstitut des Obereigentums grundsätzlich abgeschafft, alle privatrechtlichen ständigen Abgaben und Leistungen konnten abgelöst werden. Regulierung durch Landabtretung war nur noch in Ausnahmefällen erlaubt. In der Regel sollte dagegen das Land gegen die Zahlung des 18-fachen Jahresbetrags der Pacht abgelöst werden können. Wurde die unter dem gleichen Datum gegründete Rentenbank in Anspruch genommen, erhöhte sich der Betrag auf das 20-fache. Ein Drittel des Reinertrags durfte allerdings zuvor abgezogen werden. Dieses Gesetz umfasste nun erstmals sämtliche erbuntertänigen Bauern und bot ihnen mit der Rentenbank eine erschwingliche Kreditfinanzierung. Dementsprechend schnell schritt nun die Regulierung voran, sodass bis 1865 auch 78 Prozent aller 1850 noch handdienstpflichtigen Kleinstellenbesitzer (624.914 Bauern) ihre Situation reguliert hatten.37 Wenn auch viele Bauern noch bis zur Jahrhundertwende ihre Kredite abzuzahlen hatten, war die Regulierung damit faktisch bis etwa 1860 weitgehend abgeschlossen. Die preußischen Agrarreformen erwiesen sich in mehrfacher Hinsicht als bedeutsam für die Ausweitung der Freizügigkeit und eines ländlichen, später auch industriellen Arbeitsmarktes. Großbauern und vor allem Gutsbesitzer, deren Besitz durch die Landabtretungen und Gemeinteilungen vergrößert beziehungsweise arrondiert worden war und die erstmals völlig frei über ihren Boden verfügen konnten, nutzten die Chance vielfach zur Modernisierung ihrer Landwirtschaft. Die notwendigen Investitionsmittel bekamen sie durch die im Zuge der Regulierungen gezahlten Ablösegelder. Die reformierte Agrarwirtschaft hatte einen hohen Arbeitskräftebedarf, auch, weil nun erstmals in großem Stil vorher nicht kultivierte Flächen erschlossen wurden. Da die Frondienste fortan entfielen, waren Gutsbesitzer und Großbauern zum einen auf die Arbeitskraft ihres Gesindes angewiesen, das auch zuvor in der Landwirtschaft mitgeholfen hatte und dessen Rechtsstatus dem der Fronbauern insofern ähnelte, als sie der gutsherrlichen Polizeiaufsicht unterworfen und in ihrem Recht auf Freizügigkeit beschränkt waren.38

|| ßens am Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 1. 1996, S. 217–228, hier S. 228. 36 Dipper, Bauernbefreiung, S. 67. 37 Ebd., S. 66. 38 Klaus Tenfelde, Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861, in: Archiv für Sozialgeschichte, 19. 1979, S. 189–229, hier S. 199–208.

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Das ländliche Gesinde allein konnte den Bedarf an Arbeitskräften jedoch bei Weitem nicht decken. In die neu entstandene Leerstelle rückten Landarbeiter, die sich aus ehemaligen Bauern und Landlosen rekrutierten, die durch die Regulierung ihre persönliche Freiheit erhalten hatten, aber nicht in der Lage waren, vom Ertrag ihrer Kleinstelle beziehungsweise von einem zusätzlichen gewerblichen Nebenerwerb zu leben. Diese ›neuen‹ Landarbeiter lebten entweder als langfristig durch Vertrag gebundene Insten mit Zwergbesitz auf einem Gut, oder sie wohnten als Einlieger beziehungsweise Deputatarbeiter dort zur Miete und wurden vorwiegend in Naturalien bezahlt. Die Insten verfügten zwar grundsätzlich über ein Recht auf Freizügigkeit, konnten dieses aber faktisch aufgrund ihrer langfristigen vertraglichen Bindung kaum wahrnehmen. Die Deputatarbeiter sowie die ebenfalls bedeutend vermehrte Zahl der Tagelöhner wurden nur jeweils kurzfristig eingestellt. Sie bildeten das eigentliche Reservoir des neu entstehenden ländlichen Arbeitsmarktes, dessen Kennzeichen ein ständiger Wechsel zwischen Höchstbeschäftigung während der Saison und Unterbeschäftigung in der übrigen Zeit war.39 Dementsprechend lebten Deputatarbeiter und Tagelöhner oft am Rande des Existenzminimums. Sie waren es auch, die die Mehrheit der pauperisierten ländlichen Unterschichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten und nach der Jahrhundertmitte in immer größerer Zahl in die neuen industriellen Zentren abwanderten. Dort trugen sie zur Entstehung eines offenen, von Angebot und Nachfrage bestimmten Arbeitsmarktes bei.40 Die preußischen Agrarreformen wurden hier an erster Stelle und in größerem Detail dargestellt. Der Grund dafür sind nicht nur die Bekanntheit dieser Reformen sowie die sehr gute Literaturlage, sondern – und das ist der wesentliche Punkt – sie sind von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung von Freizügigkeit und die Entstehung ländlicher Arbeitsmärkte. Da in Preußen beziehungsweise in seinen östlich der Elbe gelegenen Provinzen Freizügigkeit durch die dort vorherrschende Sonderform der Gutsherrschaft in besonderem Maße eingeschränkt war, hatten die Agrarreformen dort auch den größten Effekt. Zudem setzten sie früher ein als in vielen anderen deutschen Staaten beziehungsweise betrafen eine größere Zahl von Bauern. Sie wirkten damit in mancherlei Hinsicht als Vorbild für die anderen deutschen Staaten. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den anderen deutschen Staaten keine Formen von Grundherrschaft und Frondienst verbreitet gewesen wären. || 39 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 66. Besonders im späten 19. Jahrhundert wurden die durch die Abwanderung entstehenden Leerstellen auf dem ländlichen Arbeitsmarkt zunehmend durch polnische Arbeitsmigranten aus Kongresspolen und Galizien gefüllt, vgl. zum preußischen Migrationsregime im Umgang mit polnischen Arbeitsmigranten: Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880-1930, München 2010, S. 79–105. Hierzu siehe auch den Aufsatz von Christiane Reinecke in diesem Band. 40 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 427f.

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In Bayern beziehungsweise Südostdeutschland insgesamt dominierten zu Beginn des 19. Jahrhunderts formal schlechte Besitzrechte, Grund- und Gerichtsherrschaft in Form der Hofmarken sowie eine hohe Abgabenbelastung der Bauern bei gleichzeitig geringen Leistungspflichten. In Südwestdeutschland waren Frondienste kaum verbreitet, die Abgaben jedoch umso höher. Dies war auch in Westdeutschland der Fall. Dort fehlte allerdings jegliche Form der Leibeigenschaft. Die weit verbreiteten Pachtbetriebe waren in der Regel gut ausgestattet. Im Nordwesten Deutschlands fanden sich vor allem umfangreiche Gutsbetriebe sowie großbäuerliche Meierhöfe, die zumeist von eigenbehörigen Kleinstellenbesitzern mit versorgt wurden. In Thüringen und Kursachsen war die Leibeigenschaft dagegen vollständig verschwunden, bäuerliche Güter mit guten Besitzrechten und Rittergüter mit Gerichtsherrschaft existierten nebeneinander.41 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in fast allen deutschen Territorien die ›glebae adscriptio‹ (Schollenpflichtigkeit) sowie alle anderen an den persönlichen Status gebundenen Aufenthalts- und Abzugsbeschränkungen der bäuerlichen Bevölkerung aufgehoben wurden. Das galt für die Leibeigenschaft etwa in den Königreichen Bayern und Westfalen sowie den Großherzogtümern Baden und Berg bereits 1808/09. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt folgte 1811, Württemberg 1817/19, Mecklenburg 1820 und schließlich Hannover nach 1831.42 In den beiden mecklenburgischen Großherzogtümern bestand allerdings – trotz Aufhebung der Leibeigenschaft – die Schollenpflichtigkeit der Bauern fort, da die freigesetzten Leibeigenen sich zwar nun als Tagelöhner auf dem Arbeitsmarkt verdingen konnten, ihre einmal angenommene Stelle aber aufgrund der in Mecklenburg gültigen gesinderechtlichen Freizügigkeitsbeschränkungen nicht mehr ohne Erlaubnis ihres Dienstherrn verlassen durften.43 Die Aufhebung der Leibeigenschaft war jedoch – ähnlich wie in Preußen – keineswegs gleichbedeutend mit einer vollständigen Ablösung aller Dienst- und Abgabenpflichten der Bauern, die sich in den anderen deutschen Staaten nicht weniger schwierig gestaltete und in vielen Territorien ebenfalls langsam vorankam. Zwar verfügten einige Territorialherren schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, dass Ablösung der Feudallasten möglich oder sogar verpflichtend sei – tatsächlich geschah aber so gut wie nichts.44 Dies lag einerseits an den mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten aufseiten der Bauern, andererseits an der entschiedenen Opposition des Adels. Auch zwischen 1815 und 1830 geschah außerhalb Preußens nur || 41 Dipper, Bauernbefreiung. Ein Überblick, S. 30f. 42 Ziekow, Freizügigkeit, S. 148f. 43 Die mecklenburgischen Tagelöhner erlangten das Recht auf Freizügigkeit somit erst 1866, als beide Großherzogtümer dem Norddeutschen Bund beitraten; vgl. Rockstroh, Freizügigkeit, S. 37. 44 So 1803 der bayerische Kurfürst, 1808 der Großherzog von Berg und 1809 der König von Westphalen; vgl. Dipper, Bauernbefreiung. Ein Überblick, S. 24.

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wenig, da der Adel fast überall wieder an Gewicht gewonnen hatte, die den Bauern verfügbaren Mittel aber aufgrund einer Baisse der Agrarpreise vermindert worden waren. Erst in den 1830er Jahren wurden die Grundzinsen und der Zehnte, die einen bedeutenden Anteil an den Feudallasten hatten, vielerorts in den Ablösungsprozess mit einbezogen. Mit der Gründung von Landrentenbanken wurde den Bauern eine neuartige Finanzierungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt, die vielen erst eine Ablösung ermöglichte.45 Viele Landtage in Süddeutschland beschlossen jedoch erst in Reaktion auf die revolutionären Ereignisse von 1848 die Abschaffung aller noch bestehenden Feudallasten sowie die Errichtung von Rentenbanken. Die Entschädigungszahlungen wurden nun wesentlich niedriger angesetzt.46 Hinsichtlich der juristischen Seite einer Geschichte der Freizügigkeit stellt die bis etwa 1820 in (fast) allen deutschen Territorien verabschiedete Aufhebung der Leibeigenschaft trotz dieses schleppenden Verlaufs eine tiefe Zäsur dar: Fortan verlor die jahrhundertelang gültige Scheidelinie zwischen persönlicher Freiheit und Unfreiheit ihre Bedeutung als wesentliche Determinante des Rechts auf Freizügigkeit.47 Das bedeutet jedoch nicht, dass Freizügigkeit innerhalb der deutschen Territorien von nun an jedem unbeschränkt offenstand. Gewerbe- und armenrechtliche Beschränkungen blieben vielfach noch länger bestehen, wenngleich sich zeitgleich auch in diesem Sektor eine allgemeine Tendenz zum Abbau von Freizügigkeitsbeschränkungen zeigte.

3 Gewerberecht und Freizügigkeit: die Ausweitung eines gewerblichen Arbeitsmarktes Wesentliche gewerberechtliche Beschränkungen bestanden in den deutschen Territorien am Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im Hinblick auf das Handwerk, das durch Zunftverfassungen verhältnismäßig stark reglementiert war. Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten waren diese im deutschen Raum einflussreich und verfügten vielerorts über weitreichende Befugnisse, auch wenn das Bild einer deutschlandweit einheitlichen, stabilen und korporatistisch geprägten Stadtgesellschaft, wie es im Nachhinein vielfach gezeichnet wurde, sicher nicht zutrifft.48 || 45 Sachsen errichtete als erster deutscher Staat 1834 eine solche Landrentenbank; vgl. ebd., S. 27. 46 Ebd, S. 28f. Zum Prozess der Ablösung und Regulierung im Detail vgl. Dipper, Bauernbefreiung, S. 50–93. 47 Vgl. ähnlich Ziekow, Freizügigkeit, S. 149f. 48 Am ehesten trifft dieses Bild für die süd- und südwestdeutschen Städte zu, die von Mack Walker sogenannten »home towns« (ders., German Home Towns: Community, State, and General Estate 1648–1871, Ithaca 1971). Dort gelang es den Zünften, über einen langen Zeitraum hinweg weitgehend stabil zu agieren und ihre lokale Wirtschaft gegen potenzielle Einwanderer ebenso wie gegen

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Ebenso wenig lassen sich die Zünfte ausschließlich als antimoderne Relikte charakterisieren, die alle Tendenzen einer Proto- beziehungsweise Frühindustrialisierung gehemmt hätten.49 Versucht man ungeachtet aller Verschiedenheiten die für alle deutschen Territorien zutreffenden Gemeinsamkeiten zu beschreiben, so lässt sich zunächst einmal festhalten, dass fast überall formal Zunftzwang bestand. Das bedeutet, dass die gesamte Handwerksausbildung in den Händen der Zünfte lag, diese also darüber befinden konnten, wer überhaupt als Lehrling eine solche Ausbildung aufnehmen durfte, welche Anforderungen in der Lehre und Gesellenzeit gestellt wurden, wie Lehrlinge und Gesellen zu leben und sich zu verhalten hatten. Wer ein Handwerk ausüben oder gar als Meister arbeiten wollte, musste damit nicht nur eine zunftkonforme Ausbildung durchlaufen haben, sondern auch von der Zunft der jeweiligen Stadt aufgenommen worden sein. Dies war ein probates Mittel, um einerseits unliebsame Konkurrenz aus den Städten fernzuhalten und den Arbeits- ebenso wie den Absatzmarkt je nach Nachfrage zu regulieren, andererseits aber selbstverständlich auch, um die Qualität der Produkte ebenso wie deren Preis zu kontrollieren. Über diese im engeren Sinne ökonomische Rolle hinaus garantierten die Zünfte ihren Mitgliedern in einem bestimmten Rahmen Unterstützung in Not- und Krisenzeiten, prägten handwerklich-städtische Traditionen und hatten zumeist einen herausgehobenen Platz in der Stadtregierung inne. Bürgerrecht und Zunftmitgliedschaft waren zudem in den allermeisten deutschen Städten eng aneinander gebunden.50 Tatsächlich entsprach die Wirklichkeit des Handwerks jedoch keineswegs überall diesen rechtlichen Vorgaben und Annahmen. So trifft weder zu, dass die Zünfte gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein ausschließlich städtisches Phänomen gewesen wären, noch dass sämtliche Handwerker Mitglied einer Zunft waren. Vor allem im Süden des Alten Reiches existierten zahlreiche Landstriche mit hoher gewerblicher Verdichtung, in denen im 17. und 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Zünften auf dem Land neu gegründet worden waren und zum Teil von den jeweiligen Landesherren bewusst als Konkurrenz zu den bereits bestehenden städtischen Zünften gefördert wurden.51 Manches Mal führte die Ausweitung des ländlichen Handwerks sogar langfristig zum Untergang der entsprechenden städtischen Zünfte, die sich der günstigeren

|| Eingriffe des Staates zu schützen; vgl. Heinz-Gerhard Haupt/Geoffrey Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, S. 36. 49 Heinz-Gerhard Haupt, Neue Wege zu einer Geschichte der Zünfte in Europa, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich, Göttingen 2002, S. 9–37, hier S. 20f. 50 Haupt/Crossick, Kleinbürger, S. 29f. 51 Reinhold Reith, Zünfte im Süden des Alten Reiches: Politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte, in: Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte, S. 39–69, hier S. 47–49.

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ländlichen Konkurrenz nicht erwehren konnten.52 In den Städten wiederum war der Anteil der zünftig organisierten Handwerker je nach Branche und Region außerordentlich schwankend. So hatte die Schneiderzunft in Hamburg 1789 lediglich 120 Mitglieder, 2.000 Schneider arbeiteten dagegen außerhalb zünftiger Kontrollen.53 Diese nicht-zünftigen Handwerker, oft als ›Störer‹ oder ›Bönhasen‹ bezeichnet, wurden jedoch je nach Marktlage mitunter auch von den Zünften stillschweigend akzeptiert. Sie lieferten billigere Ware, die den Bedarf der städtischen Unterschichten deckte, und konnten bei guter Auftrags- beziehungsweise Absatzlage von Meistern und Verlegern als zusätzliche Arbeitskraft genutzt werden.54 Auch die Stadt- und Territorialherren gestatteten sich manche Abweichung von der Zunftverfassung. Waren die Finanzen knapp, so vergaben sie schon einmal die Meisterlizenz an kaufkräftige Bürger, die den von der Zunftordnung vorgeschriebenen ›cursus honorum‹ nicht durchlaufen hatten. Und auch die Zunftmeister selbst hielten sich nicht immer streng an die eigene Ordnung. Auch sie verliehen in Zeiten leerer Kassen den teuren Meistertitel gelegentlich auch dann, wenn die eigentlich verlangte Zeit der Ortsanwesenheit noch nicht verstrichen war.55 Der Blick in die historische Praxis zeigt also, dass die Zünfte zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs nur als Mechanismus der sozialen und geographischen Schließung nach außen wirkten, sondern vielfach verhältnismäßig flexibel und pragmatisch funktionierten.56 Dennoch waren sie zweifellos ein gravierendes Hemmnis auf dem Weg zu mehr Freizügigkeit und behinderten die Entwicklung sich selbst regulierender Arbeits- beziehungsweise Warenmärkte. Dies war einer der Gründe, warum die Zunftverfassungen im 18. Jahrhundert kritisiert wurden und erklärt einige territorialstaatliche Interventionen dieser Zeit. Gleichwohl ist das Verhältnis von Territorialstaat und Zünften nicht ausschließlich und überall im Zeichen widerstreitender Interessen zu verstehen.57 So setzten die Regierungen eini-

|| 52 So verschwand in der Grafschaft Mark die Leineweberei als zünftig organisiertes Stadthandwerk schon vor 1800, da die städtischen Leineweber steuerliche Abgaben zu leisten hatten und dementsprechend höhere Preise verlangen mussten; vgl. Wilfried Reininghaus, Zünfte und Zunftpolitik in Westfalen und im Rheinland am Ende des Alten Reiches, in: Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte, S. 71–86, hier S. 76. 53 Haupt/Crossick, Kleinbürger, S. 34. 54 Haupt, Neue Wege, S. 21. 55 Ebd., S. 26f. 56 In zweierlei Hinsicht war die durch die Zünfte betriebene Exklusion jedoch weitaus weniger flexibel: Dies betraf einerseits Juden, andererseits Frauen. Beide Gruppen waren in der Regel in deutschen Städten von der Zunftmitgliedschaft ebenso wie vom oft daran gekoppelten Bürgerrecht ausgeschlossen; vgl. ebd., S. 27f. 57 Eine weitere Konfliktlinie resultierte aus den Interessendivergenzen von Meistern und Gesellen. Die Zünfte wurden von den Gesellen vielfach als Interessenvertretung der Meister wahrgenommen, Gesellenunruhen waren die Folge, so etwa eine reichsweite Welle von Gesellenunruhen in den 1790er Jahren; vgl. Reininghaus, Zünfte, S. 77f.

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ger Territorialstaaten stark auf die Ordnungsfunktion der Zünfte, von denen sie eine sinnvolle Organisation beziehungsweise Kontrolle lokaler Arbeitsmärkte ebenso erwarteten wie die Disziplinierung der Gesellen.58 Nachhaltig erschüttert wurde die Zunftordnung in weiten Teilen Europas erst durch die Französische Revolution, in deren Verlauf 1791 mit den Gesetzen Allarde und Le Chapelier die Zünfte in Frankreich aufgelöst sowie zukünftige Koalitionen untersagt wurden.59 Unmittelbare Auswirkungen hatte diese Maßnahme jedoch nur in denjenigen deutschen Territorien, die wenige Jahre später von Napoleons Truppen besetzt wurden, nämlich im Rheinland und in Westfalen. Dort wurden 1798 beziehungsweise 1809 entsprechend dem französischen Recht die Zünfte abgeschafft.60 1810/11 folgte Preußen. In den übrigen deutschen Territorien ging der Prozess der Entmachtung der Zünfte in der Regel weniger radikal vonstatten und erstreckte sich über einen längeren Zeitraum. Die süddeutschen Staaten sowie Bremen und Hamburg setzten Gewerbefreiheit erst um die Jahrhundertmitte durch, Mecklenburg markierte den Schlusspunkt dieser Entwicklung. Dort wurden die Zünfte erst 1869 mit der neuen Gewerbeordnung für das gesamte Gebiet des Norddeutschen Bundes vollständig abgeschafft. Diese Gewerbeordnung wurde 1873 als Reichsrecht übernommen und vereinheitlichte die gewerberechtliche Lage im Deutschen Reich.61 Diese war zuvor zumindest in rechtlicher Hinsicht äußerst unterschiedlich gewesen. Gravierende Differenzen existierten zum Teil sogar innerhalb der einzelnen Staaten. So bestanden etwa in Preußen mehr als dreißig Jahre lang drei Zonen unterschiedlichen Rechts nebeneinander.62 In der preußischen Rheinprovinz und in Westfalen blieb auch nach 1815 das von den Franzosen eingeführte liberale Gewerberecht in Kraft. In der nach 1815 neu gebildeten preußischen Provinz Sachsen blieb die Zunftverfassung dagegen bis 1845 unangetastet. Die berühmten, im Wesentlichen von Hardenberg formulierten Edikte von 1810/11 galten auch nach 1815 nur für das Gebiet, auf das Preußen durch die Niederlage von 1806 reduziert worden war. Dort also wurde mit dem Gewerbesteueredikt von 1810 und dem Gewerbepolizei|| 58 In manchen Städten, wie etwa in Meiningen und Reutlingen, fungierten die Zünfte zudem als Steuerbehörde im Auftrag des Territorialstaates; vgl. Haupt, Neue Wege, S. 33. 59 In Mailand war die Zunftordnung zwar bereits 1787 abgeschafft worden, und in Großbritannien hatten die Zünfte schon weitaus früher wesentlich an Bedeutung verloren, doch wirkte erst die Abschaffung der Zünfte in Frankreich für viele europäische Staaten als eine Art Fanal; Haupt, Neue Wege, S. 36; ders., Zum Fortbestand des Ancien Régime im Europa des 19. Jahrhunderts: Zünfte und Zunftideale, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland: historische Essays, München 1996, S. 221–230, hier S. 226. Zur Situation in Großbritannien vgl. die kurze Charakteristik sowie die entsprechenden Literaturhinweise bei Haupt, Neue Wege, S. 35. 60 Reininghaus, Zünfte, S. 71. 61 Haupt/Crossick, Kleinbürger, S. 36. 62 Dazu und zum Folgenden: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 428–432; Haupt/Crossick, Kleinbürger, S. 36–38.

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edikt von 1811 Gewerbefreiheit in dem Sinne eingeführt, dass jedes Gewerbe nunmehr von jedermann ausgeübt werden konnte, sofern er zuvor einen staatlichen Gewerbeschein gekauft hatte, volljährig war und den Nachweis bürgerlicher Unbescholtenheit erbringen konnte. Zunftverfassung und Zunftzwang wurden damit aufgehoben. Ausgenommen blieben allerdings Berufe wie Arzt, Apotheker und Gastwirt, deren Ausübung weiterhin von dem Nachweis einer besonderen Qualifikation abhing. Doch auch ungeachtet dieser Ausnahmen war die durch die Edikte eingeführte Gewerbefreiheit weniger absolut, als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Ein gewisses Hindernis stellte die Notwendigkeit dar, einen Gewerbeschein zu kaufen. Diese Bestimmung wurde jedoch 1820 abgeschafft, sodass die Gewerbetreibenden von der Aufnahme ihres Gewerbes den zuständigen Behörden nunmehr lediglich Mitteilung zu machen hatten.63 Wesentlich bedeutungsvoller war jedoch die Tatsache, dass das Stadtrecht zahlreicher Gemeinden den Bürgerstatus von der Ausübung eines handwerklichen Berufes abhängig machte und mit diesem Instrument die Zahl der Meister innerhalb der Stadt nach wie vor begrenzt werden konnte.64 Doch auch die Zünfte konnten in mancherlei Hinsicht weiterhin Einfluss nehmen. Zwar waren sie durch das Gewerbesteueredikt zum privaten Verein degradiert worden, doch behielten sie als quasi öffentliche Innung einen Teil ihrer früheren Befugnisse. Im Hinblick auf die Freizügigkeit ist vor allem von Bedeutung, dass die Innungen weiterhin zu großen Teilen die Lehrlingsausbildung kontrollierten. Unter dem Druck des zünftigen Handwerks wurde 1845 schließlich eine Allgemeine Gewerbeordnung erlassen, nach der die Lehrlingsausbildung fortan den Innungsmeistern vorbehalten war. Die Innungen bestimmten also nach 1845 wieder quasi uneingeschränkt, wie viele Lehrlinge ausgebildet wurden und wer zur Lehre überhaupt zugelassen wurde.65 Dennoch stellt das Gewerbesteueredikt zweifellos langfristig auch in faktischer Hinsicht einen Meilenstein dar, der die in Preußen seit 1807 im Grundsatz garantierte Freizügigkeit in ökonomischer Sicht erst umsetzbar machte. Mit großen Unterschieden zwischen den einzelnen Branchen öffnete es auch zünftig nicht ausgebildeten Männern aus unterbürgerlichen Schichten das Handwerk, die vor allem in die größeren Städte zuwanderten und dort ein Auskommen als Schuhmacher, Schneider, Tischler oder Schlosser fanden. Für die zünftigen Meister bedeutete dieser Trend in der Regel einen verstärkten Konkurrenzdruck, der nicht wenige verarmen ließ oder sogar zu einem Berufswechsel zwang.66 || 63 Arnold Köttgen, Gewerbegesetzgebung, in: Ludwig Elster u.a. (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. Jena 1927, Bd. 4, S. 1000–1054, hier S. 1008. 64 Zum Komplex Stadtrecht und Freizügigkeit vgl. die Ausführungen im nächsten Abschnitt. 65 Haupt, Fortbestand, S. 226. 66 Jürgen Bergmann, Das Zunftwesen nach der Einführung der Gewerbefreiheit, in: Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807–1820, Königstein i.Ts. 1980, S. 150–165, hier S. 151.

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Insofern trug die Gewerbefreiheit auf längere Sicht zur Durchlässigkeit der Arbeitsmärkte im Hinblick auf die vorher mehr oder weniger scharf abgegrenzten Gewerbe bei und eröffnete Aufstiegschancen, die vorher nur wenigen nach Absolvierung genau festgelegter Stationen offengestanden hatten. Auch durchbrach sie die vorher gültigen Grenzen zwischen zünftiger und unzünftiger Arbeit beziehungsweise der Arbeit in Manufakturen und Fabriken, da die Innungen zwar immer noch solche Gesellen ausschließen konnten, die nicht-zünftige und damit ›nichtehrbare‹ Arbeit angenommen hatten. Das hatte aber für die betroffenen Handwerker nunmehr weniger gravierende Konsequenzen. Auch dies war ein Faktor, der zur Öffnung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte beitrug. Ein zeitweiliger Wechsel zwischen handwerklicher Arbeit und der Arbeit in der Fabrik wurde dann auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem in der Biographie von Handwerkern immer üblicheren Mittel, auf die Schwankungen von Nachfrage und Arbeitsmarktlage zu reagieren. Indem die Gewerbefreiheit finanzkräftigeren Bürgern die Gründung von größeren privatwirtschaftlich geführten Gewerbebetrieben erlaubte, stellte die Gewerbefreiheit nicht nur eine wichtige Vorbedingung der Industrialisierung dar, sondern führte zur Entstehung und Ausweitung von großgewerblichen und seit der Jahrhundertmitte auch industriellen Arbeitsmärkten.67 Nach 1815 setzten sukzessive auch die anderen deutschen Staaten Gewerbefreiheit durch, wobei nicht alle in einem Schritt die Abschaffung der Zünfte propagierten. So wurden etwa im Königreich Württemberg 13 Berufe von der Zunftordnung befreit, 43 blieben jedoch unter der Kuratel der Zünfte. Doch auch in diesen Berufen durften die Zünfte nicht mehr die Zahl der Lehrlinge bestimmen, die Aufnahme von nicht-zunftgemäß ausgebildeten Meistern verhindern und die Größe der Handwerksbetriebe begrenzen.68 Die durch die Zünfte verursachten Beschränkungen der Freizügigkeit und freien Berufswahl waren damit im Wesentlichen abgeschafft worden. In Bayern, im Herzogtum Anhalt-Dessau und im Herzogtum Oldenburg wurde das Gewerberecht dagegen weiterhin als Freizügigkeitsregulativ genutzt. So bestimmte 1825 ein Gewerbegesetz in Bayern, dass die Ausübung eines Gewerbes von der Erteilung einer Konzession abhängig war, die wiederum nur dann erteilt werden sollte, wenn der lokale Arbeitsmarkt in dem betreffenden Gewerbe nicht überfüllt und den etablierten Gewerbetreibenden also ein standesgemäßes Auskommen gesichert war.69 Dieses Gesetz blieb – ebenso wie ähnliche Gesetze in Anhalt-Dessau || 67 Auch hier muss natürlich nach Branchen differenziert werden. So arbeiteten in Berlin 1827 bereits 1.016 unzünftige gegenüber 692 zünftigen Schneidern sowie 546 unzünftige gegenüber 546 zünftigen Tischlern. Im Schmiede- bzw. Bäckerhandwerk konnten die zünftigen Handwerker dagegen noch lange ihre Monopolstellung mehr oder weniger schützen (1827: 76 vs. 16 bzw. 186 vs. 10); vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 432. 68 Haupt/Crossick, Kleinbürger, S. 37. 69 Ziekow, Freizügigkeit, S. 151. Zum bayerischen Gewerbegesetz von 1825 vgl. Michael Birnbaum, Das Münchener Handwerk im 19. Jahrhundert (1799–1868). Beiträge zur Politik, Struktur und Orga-

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und Oldenburg – bis 1873 in Geltung und wurde dazu genutzt, in tatsächlichen oder vermeintlichen Krisen auswärtigen Gewerbetreibenden den Zuzug zu verwehren.70 Eine im Hinblick auf die Durchsetzung der Freizügigkeit eher gegensätzliche Entwicklung nahm dagegen ein Bereich, der bis heute im Bewusstsein vieler Menschen zu den typischen Kennzeichen des traditionellen Handwerks zählt: die Gesellenwanderung. Die Wanderung gehörte zwar schon im Mittelalter zum Leben vieler Handwerker dazu, aber zur Pflicht wurde sie in vielen Regionen und Gewerken erst in der Frühen Neuzeit. Unmittelbar ausschlaggebend dafür war vor allem die durch das Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert ausgelöste Knappheitskrise, die im Handwerk vielerorts zur Überbesetzung einer Reihe von Handwerkszweigen führte. Die Wanderung der Gesellen, die vorher vermutlich in erster Linie der fachlichen ebenso wie persönlichen Ausbildung sowie dem Technologietransfer gedient hatte, bekam zu diesem Zeitpunkt explizit eine weitere überaus wichtige Bedeutung: Der Wanderzwang diente nun eindeutig auch der Entlastung der übersetzten Arbeitsmärkte.71 Indem den Gesellen eine je nach Gewerk unterschiedlich lange, in der Regel jedoch mindestens drei- bis fünfjährige Wanderzeit vorgeschrieben wurde, konnte ein überregionaler Arbeitskräfteausgleich institutionalisiert werden, der den je nach Absatzlage mehr oder weniger notwendigen Zugriff auf qualifizierte auswärtige Arbeitskräfte ermöglichte. Den Gesellen wurde damit eine lange Wartezeit auf die endgültige Etablierung als Meister (und die damit in der Regel erst zulässige Heirat) zugemutet, die sie ohne die mit immer neuen Herausforderungen verbundene Wanderung und ohne die dadurch in der Regel verursachte ›Freiheit‹ von familiären Bindungen vermutlich kaum ertragen hätten.72 Eine nicht geringe Zahl von Gesellen ging auf diesem in mehrfacher Hinsicht langen Weg buchstäblich verloren, durch Krankheit, Hunger oder kriminelle Übergriffe, aber auch durch die Annahme unzünftiger Not-Arbeitsstellen, den Eintritt ins Militär sowie durch den oft fließenden Übergang in ein Leben als ›Umherziehender‹. Dies war jedoch ein aus Sicht der um die Sicherung ihrer ehrbaren Nahrung besorgten Meister nicht unerwünschter Nebeneffekt.73

|| nisation des städtischen Handwerks im beginnenden Industriezeitalter, München 1984, S. 66–92, vor allem S. 76. 70 Ziekow, Freizügigkeit, S. 151. 71 Vgl. Reith, Zünfte, S. 62; Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 339–344. Eine detaillierte Darstellung der Entstehung des Wanderzwangs bei: Klaus J. Bade, Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey: Gesellenwanderung zwischen Zunftökonomie und Gewerbereform, in: ders., Sozialhistorische Migrationsforschung, hg.v. Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004, S. 49–87. 72 Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 341f. 73 Bade, Altes Handwerk, S. 66–69.

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In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann schließlich in den deutschen Territorien eine intensive Debatte um die Bedeutung der Gesellenwanderung und die Frage der Gestaltung und Festlegung des Wanderzwanges.74 Aus Sicht vieler Regierungen war die Gesellenwanderung vor allem ein probates Mittel der Gewerbeförderung. In diesem Sinne sollte sie unterschiedslos durchgesetzt werden. Die vielfach gültigen Wanderdispense für Meistersöhne und zweite Ehemänner von Meisterwitwen galt es zu verbieten. Zugleich sollte die Gesellenwanderung stärker reglementiert und kontrolliert werden, um einerseits den Qualifikationsaspekt in den Vordergrund zu rücken, andererseits das aus sicherheitspolizeilicher und politischer Sicht bedenkliche Unruhe- und Verwahrlosungspotenzial der Gesellenwanderung zu beschränken. Zu diesem Zweck wurden Wanderziele und -routen in dieser Zeit oft vorgeschrieben. Mit dem Reichsabschied von 1731 wurde zudem die sogenannte Kundschaft eingeführt, das heißt ein Arbeitsnachweis, auf dessen Rückseite die Polizei lückenlos die verschiedenen Wanderstationen bestätigen sollte. Auf diese Weise konnte überprüft werden, ob sich der Geselle an die empfohlenen Wanderrouten gehalten und nicht etwa verbotenes Gelände betreten hatte (als solches galt etwa die Schweiz aus preußischer Sicht).75 Durch diese Bestimmungen wurden einerseits die bereits bestehenden überregionalen beziehungsweise für manche Handwerkszweige auch gesamteuropäischen Arbeitsmärkte gefördert, andererseits die Freizügigkeit der Gesellen geographisch und formal beschränkt. Nicht immer im Einklang damit befanden sich die Interessen der Zunftmeister, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit schrumpfender Nachfrage infolge sinkender Kaufkraft, steigender Nahrungsmittelpreise, größerer Konkurrenz durch Bevölkerungswachstum und Manufakturen zu kämpfen hatten. In dieser Situation versuchten die Zünfte vielfach, die bewährte Ventilfunktion der Gesellenwanderung zu forcieren, indem sie Wanderzeiten verlängerten und Zulassungsbeschränkungen zum Meistertitel ausweiteten.76 Wirtschaftsliberale Befürworter der Gewerbefreiheit stellten dagegen den Sinn der Gesellenwanderung generell in Frage und plädierten für die Aufhebung des Wanderzwanges. Hier trafen sich ihre Bedenken mit den ökonomischen, politischen und sicherheitspolizeilichen Überlegungen vieler deut-

|| 74 Die Gesellenwanderung war nicht überall in Europa gleichermaßen verbreitet. Im frühneuzeitlichen England existierte sie praktisch nicht, in Frankreich war die Gesellenwanderung weniger verbreitet und bereits seit dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr obligatorisch; vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 339f. sowie die Beiträge zu Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Ungarn und zum Balkan in: Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte. 75 Bade, Altes Handwerk, S. 83-f.. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die detaillierte, nach Gewerben differenzierte Festlegung von Wanderzeiten und -routen bietet die ›Fürstlich OettingOetting- und Oetting-Spielbergische Wanderordnung‹ von 1785; vgl. dazu ebd., S. 30–37. 76 Ebd., S. 24f., 35.

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scher Regierungen, die ebenfalls auf ein Ende des Wanderzwanges und eine Beschränkung der Wandermöglichkeiten hinausliefen. Ganz in diesem Sinne wurden etwa in Preußen schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Wanderungssperren erlassen. Gesellen der Stadt Wesel durften beispielsweise seit 1776 auf ihrer Wanderung nicht mehr die preußischen Landesgrenzen überschreiten. Gleiches verfügte 1780 ein Schreiben der preußischen Kriegsund Domänenkammer. Eine Ausnahme bestand seit 1789 einzig für Gesellen technisch besonders anspruchsvoller Handwerke sowie der Hofhandwerke beziehungsweise für den Fall, dass die betreffenden Gesellen ein höheres Vermögen in Preußen nachweisen und eine dementsprechende Kaution hinterlegen konnten.77 Ähnlich verfuhr man in Bayern, wo zunächst 1806 die Vorschrift fiel, einen Teil der Wanderjahre im Ausland verbracht haben zu müssen, wollte man später einen Meistertitel erwerben. Bereits ein Jahr später wurde die Auslandswanderung verboten, da sie als gefahrvoll und schädlich galt und das bayerische Territorium als groß genug erschien, um ausreichende Expertise zu erlangen. Auch hier wurde besonders qualifizierten Gesellen eine Ausnahmeregelung in Aussicht gestellt, die aber auf drei Jahre begrenzt und mit einer Reihe von Auflagen verbunden war.78 Die innerbayerische Wanderung blieb jedoch weiterhin Pflicht. Generell aufgehoben wurde der Wanderzwang in der Regel im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Gewerbefreiheit. Weitgehend fallen gelassen wurde der Wanderzwang damit in Preußen 1811, dann endgültig 1831 beziehungsweise für ganz Preußen mit der Gewerbeordnung von 1845.79 Bayern schaffte den Wanderzwang dagegen erst 1853 ab, in manchen Territorien wie etwa Schleswig-Holstein geschah dies erst mit der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes 1869.80 Ganz unabhängig von der Frage, ob weiterhin Wanderzwang bestand oder nicht, blieb das Wandern eine in vielen Gewerken verbreitete Übergangsphase, während das Wandern als Qualifikationsmerkmal in anderen Gewerken oder in bestimmten Städten wie etwa Berlin weitgehend an Bedeutung verlor.81 Der Übergang zwischen Gesellenwanderung im engeren Sinne und einer zwischen Handwerks- und Großbetrieben beziehungsweise Fabriken fluktuierenden Arbeitssuche gestaltete sich immer fließender. Das führte dazu, dass das Wandern auch in der zweiten Hälfte des

|| 77 Ebd., S. 16. 78 Birnbaum, Münchener Handwerk, S. 182. 79 Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 340; Stefanie Hose, »Inhaber ist wegen Abweichens von der Reiseroute mit 24 Std. Arrest bestraft und wegen mangelnden Reisegeldes über die Grenze zurückgewiesen.« Wandernde Handwerksgesellen im 19. Jahrhundert, in: Kieler Blätter zur Volkskunde, 23. 1991, S. 189–216, hier S. 193. 80 Birnbaum, Münchener Handwerk, S. 186; Hose, Inhaber, S. 193. 81 Darauf verweist etwa eine Erhebung des Berliner Magistrats von 1827, nach der die meisten Berliner Innungen dem Wandern nur mehr eine geringe Bedeutung beimaßen; vgl. Bergmann, Zunftwesen, S. 159.

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19. Jahrhunderts in vielen Branchen zunächst verbreitet blieb und erst in dem Moment zurückging, als sich die Arbeitsmarktsituation für (handwerklich) qualifizierte Arbeitskräfte entspannte.82 So blieb die Frage einer Kontrolle beziehungsweise Reglementierung der Gesellenwanderung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein virulent beziehungsweise gewann im Vorfeld der revolutionären Ereignisse von 1848 noch an Bedeutung. Ein wichtiges Instrument dafür war die Einführung von Wanderbüchern, die in den 1830er Jahren für alle ausländischen Gesellen obligatorisch wurden. Sie ersetzten die älteren Kundschaften beziehungsweise verschärften deren Überwachungsfunktion. Denn die Wanderbücher dienten nicht mehr nur der Kontrolle von bereits durchlaufenen Wanderstationen, inklusive der Beurteilung durch die Meister, bei denen die Gesellen gearbeitet hatten. Sie boten darüber hinaus den Polizeibehörden die Möglichkeit, im Vorhinein Wanderrouten festzulegen. Bei einem Abweichen von diesen Routen drohten Arreststrafen. Zudem mussten die Gesellen beim Grenzübertritt häufig nachweisen, dass sie über einen bestimmten Geldbetrag verfügten. Dieser war oft so hoch, dass er ärmere Gesellen quasi von der grenzüberschreitenden Wanderung ausschloss. Die Vorlage eines Wanderbuches war außerdem in vielen Fällen Voraussetzung dafür, dass der Geselle von den zuständigen Unterstützungsvereinen eine finanzielle Zuwendung erhielt.83 Eine grundsätzliche Beschränkung der Freizügigkeit waren die Wanderbücher damit zwar nicht, wohl aber eine faktische Einschränkung, die auf eine Steuerung und Kontrolle der wachsenden Migrationsströme im 19. Jahrhundert hinauslief.84 Eine Kontrolle der Gesellenwanderung schien auch deshalb vielen notwendig, weil die Obrigkeiten vermuteten, dass die Gesellen die Wanderung weniger zur eigenen (Aus-)Bildung denn zum Müßiggang nutzten, freiwillig oder gezwungenermaßen mehr bettelten als arbeiteten und so immer in der Gefahr zu stehen schienen, zum ›Vagabunden‹ oder ›Kriminellen‹ zu werden. Da das ›Fechten‹ – wie das Betteln unter Handwerksgesellen genannt wurde – in gewisser Weise zur Gesellenkultur ebenso gehörte wie das in jeder Stadt zu erwartende ›Geschenk‹ der eigenen Zunft, erschienen die Übergänge zwischen dem wandernden Gesellen und dem Bettler von vornherein als fließend – ein Problem, das seit dem 18. Jahrhundert diskutiert wurde.85 Aus diesem Grund versuchten vor allem die Obrigkeiten den

|| 82 Seit den 1850er Jahren ist ein Rückgang des Wanderns zu konstatieren. Nach der Gesellenenquête von 1877 hatte das Wandern kaum noch Bedeutung; vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 340 sowie Anm. 101, S. 614. 83 Für Schleswig-Holstein vgl. Hose, Inhaber; für München Birnbaum, Münchener Handwerk, S. 181f.; Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States 1789–1870, New York/Oxford 2000, S. 116f. 84 Ziekow, Freizügigkeit, S. 173f. 85 Sigrid Wadauer, Ankommen. Mobilität und Schreiben von Handwerksgesellen im systematischen Vergleich, in: Tourismus Journal, 5. 2001, H. 3, S. 375–401, hier S. 378f.; Kocka, Arbeitsver-

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Handwerksgesellen das Betteln grundsätzlich zu verbieten, Zeiten der Erwerbslosigkeit durch die Wanderbücher im Blick zu behalten und gegebenenfalls anmahnen zu können.86 Eine deutliche Grenzziehung zwischen beiden Gruppen hatte auch zum Ziel, die Gesellenwanderung grundsätzlich unangetastet zu lassen, die Bettelei dagegen zu bestrafen. Denn im Gegensatz zur Freizügigkeit der Gesellen unterlag die Freizügigkeit von als Bettlern und Kriminellen eingestuften Personen zum Teil erheblichen rechtlichen Beschränkungen.

4 Strafrechtliche Beschränkungen der Freizügigkeit Dass die meisten deutschen Staaten – getragen von wirtschaftsliberalen Überzeugungen – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein grundsätzliches Recht auf Freizügigkeit durchsetzten und die Abzugshindernisse weitgehend beseitigten, ist bereits dargestellt worden. Bei diesem Bemühen stießen sie jedoch vielfach auf den erbitterten Widerstand der Stadt- und Kommunalregierungen. Diese befürchteten, dass ein unbeschränktes Recht auf Freizügigkeit zum ungehinderten Zuzug von Armen, Bettlern und Kriminellen führen könnte. In harten Auseinandersetzungen mit der staatlichen Bürokratie kämpften sie deshalb zunächst überwiegend erfolgreich für eine Ausweitung von Zuzugshindernissen und -voraussetzungen. Diese betrafen einerseits den Komplex des Stadtbürgerrechts und der Armenunterstützung. Andererseits bezogen sie sich auf das Bemühen, eine legitime Form der Freizügigkeit von einer illegitimen zu unterscheiden, um die Konzentration von ›Kriminellen‹ an bestimmten Orten zu verhindern. Auf diesen – kleineren – Bereich von Zuzugshindernissen soll im Folgenden das Augenmerk gelenkt werden. Wiederum ist die Diskussion in Preußen in mancher Hinsicht zukunftsweisend für viele deutsche Territorien. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfügten die meisten preußischen Gemeinden über die Befugnis, den Aufenthalt »unverbesserlicher, arbeitsscheuer und liederlicher Personen« sowie von »entlassenen vagabondirenden Züchtlingen« zu beschränken. Wurden Personen aufgegriffen, die sich durch ihr Verhalten in der einen oder anderen Weise verdächtig machten, konnten sie

|| hältnisse, S. 342 sowie grundlegend: Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 2005. 86 Wie viel die Gesellen während der Wanderschaft tatsächlich gearbeitet haben, scheint je nach Zeitraum und Region stark zu differieren. So ergab eine Stichprobe für Gesellen, die zwischen 1815 und 1860 in Chemnitz Station gemacht hatten, dass diese sich durchschnittlich während fünf Sechstel ihrer Wanderzeit in einem Arbeitsverhältnis befanden (Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 342). Eine Auswertung schleswig-holsteinischer Wanderbücher im 19. Jahrhundert ergab dagegen für das Verhältnis von Arbeitszeit zu Zeiten der Erwerbslosigkeit eine Relation von 1:3; Hose, Inhaber, S. 198.

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verhaftet und im Armenhaus untergebracht werden. Rechtliche Grundlage waren die zahlreichen kommunalen Armen- und Bettlerordnungen beziehungsweise Landarmenreglements.87 Für Personen, die wegen eines kriminellen Vergehens verurteilt und bestraft worden waren, galten zusätzlich besondere rechtliche Bestimmungen. Danach konnte die Polizei einmal verurteilte Personen auch nach Verbüßung ihrer Strafe beobachten, den Besuch von Vergnügungsorten, Märkten und Ähnlichem untersagen sowie generell weitere Aufenthaltsbeschränkungen verhängen, sofern damit in irgendeiner Weise der Verhütung neuer Verbrechen gedient sei.88 Die rechtliche Fundierung dieser Bestimmung wurde bei den Beratungen zur Revision des preußischen Strafrechts in den 1830er Jahren vor allem im Vergleich mit dem in der Rheinprovinz gültigen ›Code pénal‹ diskutiert. Der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches von 1847 hielt zwar an dieser Bestimmung grundsätzlich fest, bezeichnete sie aber nun als sekundäre Strafe, deren Höchstdauer vom Gesetz festzulegen sei. Im endgültig verabschiedeten Gesetz vom Februar 1850 wurde an der Charakterisierung der Polizeiaufsicht und der damit einhergehenden Aufenthaltsbeschränkung als Sekundärstrafe festgehalten, ihre Verhängung jedoch den Landespolizeibehörden vorbehalten, um einen zu sehr am Eigeninteresse der Kommunen orientierten Gebrauch durch die Ortspolizeibehörden zu verhindern. Diese sekundären Strafen beschränkten sich nun auf besonders schwerwiegende Verbrechen, bei denen der Schutz der Allgemeinheit eindeutig schwerer wog als der Eingriff in die Individualrechte des Einzelnen.89 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den knapp zehn Jahre zuvor im Rahmen des preußischen Heimatgesetzes von 1842 verabschiedeten Bestimmungen, die sich im Wortlaut ähneln (§ 2), aber wesentlich auf ein Schutzbedürfnis der Kommunen reagierten.90 Der Kodifikation vorangegangen war eine jahrelange Diskussion

|| 87 Harald Schinkel, Armenpflege und Freizügigkeit in der preußischen Gesetzgebung vom Jahre 1842, in: Vierteljahrshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 50. 1963, S. 459–479, hier S. 462f. 88 Rudolf Gneist, Die Beschränkungen der Freizügigkeit aus communalen und polizeilichen Gesichtspunkten nach Preussischem Verwaltungsrecht, in: Archiv für öffentliches Recht, 1. 1886, S. 245–278, hier S. 264f. 89 Ebd., S. 265–267. 90 In § 2 heißt es: »[1] Ausnahmen hiervon (§ 1) [von der unbeschränkten Aufnahme neu anziehender Personen] finden statt: 1. wenn jemand durch ein Strafurteil in der freien Wahl seines Aufenthaltes beschränkt ist; 2. wenn die Landespolizeibehörde nötig findet, einen entlassenen Sträfling von dem Aufenthalte an gewissen Orten auszuschließen. Hiezu ist die Landespolizeibehörde jedoch nur in Ansehung solcher Sträflinge befugt, welche zu Zuchthaus oder wegen eines Verbrechens, wodurch der Täter sich als einen für die öffentliche Sicherheit oder Moralität gefährlichen Menschen darstellt, zu irgend einer anderen Strafe verurteilt worden oder in einer Korrektionsanstalt eingesperrt gewesen sind. [2] Über die Gründe einer solchen Maßregel ist die Landespolizeibehörde nur dem vorgesetzten Ministerium, nicht aber der Partei Rechenschaft zu geben schuldig«; zitiert nach Christoph Sachße/Florian Tennstedt/Elmar Roeder (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, Abt. 1: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft

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darüber, ob die Kommunen das Recht bekommen beziehungsweise behalten sollten, Anzugswillige aufgrund der »Bescholtenheit« ihres Rufes zurückzuweisen. Ein solches Recht hatte das Allgemeine Landrecht etwa den Gutsherren und Städten zugestanden (ALR II 7, §§ 65 u. 115 sowie II 8, § 17), entsprechende Paragrafen fanden sich zudem in vielen Provinzialgesetzen.91 Schon 1838 wies das Preußische Staatsministerium ein solches Ansinnen prinzipiell zurück. Begründet wurde diese Entscheidung vor allem damit, dass die Freizügigkeit so wenig wie möglich behindert werden sollte und dass es zudem weder im öffentlichen noch im individuellen Interesse der betroffenen Person liegen könne, wenn die Kommunen das Recht erhielten, jemanden nach Verbüßung seiner Strafe das Wohnrecht aufgrund der Bescholtenheit seines Rufes zu versagen. Denn dann bliebe diesem nur die für die Resozialisierung wenig aussichtsreiche Rückkehr an den Ort seines Vergehens oder aber der Weg ins Armenhaus.92 In zweierlei Hinsicht erschienen dem Innenministerium Ausnahmen jedoch als gerechtfertigt. Wenn das Strafurteil zugleich eine Ortsverweisung beinhaltet hatte, sollte diese Bestand haben, also das Freizügigkeitsrecht in dieser Hinsicht eingeschränkt bleiben. Zum anderen sollte verhindert werden, dass sich manche Orte (etwa in der Nähe von Grenzen) zu »Verbrechercolonien« entwickelten. Nur dann, wenn eine solche Gefahr zu bestehen schien, sollte »Bescholtenheit« als Ausschlusskriterium für die freie Wahl eines Wohnortes gelten können. Damit dieses Argument jedoch von den Kommunen nicht missbraucht wurde, um unliebsame Konkurrenten abzuwehren, verlangte das Innenministerium eine Art doppelte Sicherung. Entscheidungsbefugnis sollte nur die Provinzialbehörde haben, nicht die Kommune selbst, und in jedem einzelnen Fall der Ortsversagung musste zudem die Genehmigung des Innenministeriums eingeholt werden.93 Besondere Brisanz gewann dieses Thema im Hinblick auf die gerade erst entstehenden Großstädte, die in ganz besonderer Weise als Sammelplätze von ›Verbrechern‹ galten und zu einem wichtigen Anziehungspunkt für Zuwanderer jeglicher Couleur wurden beziehungsweise werden sollten. Deshalb bestand schon seit 1822 beziehungsweise 1824 ein besonderes Privileg der Stadt Berlin, das den Nachweis eines unbescholtenen Lebenswandels von allen Zuziehenden verlangte.94

|| (1867 bis 1881), Bd. 7: Armengesetzgebung und Freizügigkeit, 2. Halbbd., Darmstadt 2000, S. 916; vgl. auch Gneist, Beschränkungen, S. 263. 91 Gneist, Beschränkungen, S. 250f. 92 Ebd., S. 251. Dort auch zur folgenden Diskussion. 93 Die betroffene Gemeinde sollte lediglich einen Antrag auf Ortsversagung stellen können. Da auf der anderen Seite jedoch befürchtet wurde, dass in manchen Fällen die Gemeinden zu korrupt seien, um einen solchen Antrag zu stellen, sollte gleichzeitig auch der Provinzialbehörde das Recht eingeräumt werden, von sich aus tätig zu werden; ebd., S. 253. 94 Dieses Privileg hatte in der Praxis aber offenbar wenig Wirkung und wurde auch bewusst nicht publik gemacht, um zu verhindern, dass andere Städte ebenfalls ein solches Privileg verlangen

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Den Provinziallandtagen erschienen diese Zugeständnisse an das Kommunalinteresse jedoch keineswegs als ausreichend. Besonders weitreichende Forderungen stellte der Westfälische Landtag, der die Entscheidungsbefugnis den Kommunen allein überlassen und Bescholtenheit explizit als ein Kriterium für die Frage des Zuzugs zulassen wollte. Der westfälische Oberpräsident Ludwig Freiherr Vincke (1774–1844) begründete dieses Begehren mit dem Hinweis, dass der Gemeinsinn innerhalb der Kommunen nur dann angesichts der zunehmenden Mobilität erhalten werden könne, wenn den Gemeinden die Entscheidung über die Aufnahme neuer Bewohner vorbehalten bliebe.95 Dem hielt der ministerielle Entwurf entgegen, dass es gerade der Gemeinsinn verlange, die partikularen Interessen der Gemeinden dem Interesse des Staates unterzuordnen, alles andere nur »Corporations- und Isolirungsgeist« sei.96 Diese Diskussion wurde in ähnlicher Form auch in anderen deutschen Staaten geführt und zeigte sich unter anderem auch in dem um die Jahrhundertmitte verschärften Vorgehen zahlreicher Kommunen gegen tatsächliche und potenzielle Bettler. Sie versuchte man etwa in München mit immer rigideren Vorgaben und engmaschigeren Kontrollen zu identifizieren und aus der Stadt auszuweisen – immer in der Spannung jedoch, dass gerade die wachsenden Großstädte für eigene Bauprojekte und die Entwicklung der ansässigen Industriebetriebe auf eine Vielzahl extrem mobiler Arbeitskräfte angewiesen waren.97 Gerade hier, wo es um die Frage der Zuzugsbegrenzung beziehungsweise -erleichterung ging, zeigte sich deutlich das komplexe und widersprüchliche Verhältnis von übergeordneten staatlichen Vorgaben, widerstreitenden ökonomischen Eigeninteressen der Kommunen und Teilen ihrer Einwohnerschaft sowie dem, was als ›Schutzbedürfnis‹ der Gemeinden formuliert wurde. Wirtschaftsliberale Politik, innere Staatsbildung, die Förderung regionaler Arbeitsmärkte und eine damit verbundene ›Entschärfung‹ sozialer Brennpunkte auf dem Land, die Abwehr von Konkurrenten sowie allen, die der Kommune zur Last fallen und den Einwohnern zur Gefahr werden konnten, prägten die Diskussion. Im preußischen Heimatgesetz von 1842 gewannen letztlich die staatlicherseits gewünschte wirtschaftsliberale Politik ebenso wie die Entmachtung intermediärer Gewalten die Oberhand. Dieses Gesetz ließ eine Aufenthaltsbeschränkung nur noch in den Fällen zu, in denen eine solche bereits im Strafurteil enthalten gewesen war beziehungsweise in denen die Landes|| würden; vgl. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985, S. 25. 95 Schinkel, Armenpflege, S. 473. 96 Gneist, Beschränkungen, S. 257. 97 K.M.N. Carpenter, »Beggars appear everywhere!« Changing Approaches to Migration Control in Mid-Nineteenth Century Munich, in: Andreas Fahrmeir/Olivier Faron/Patrick Weil (Hg.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York/Oxford 2003, S. 92–105, hier S. 97–100.

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polizeibehörde diese Maßnahme für notwendig hielt, um die Kommunen etwa vor der Massenansiedlung von ›Verbrechern‹ zu schützen. Im Vergleich zu den vorher gültigen Bestimmungen über Bescholtenheit und Aufenthaltsbeschränkung statuierte das Gesetz damit eine wesentliche Erweiterung der Freizügigkeit.98

5 Stadtbürgerrecht, Armenunterstützung und Freizügigkeit Ähnliche Interessenkollisionen bestimmten auch die drei anderen Bereiche, in denen Zuzugsbeschränkungen und -hemmnisse schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gültig waren beziehungsweise zum Teil sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärft wurden. Es handelt sich dabei erstens um die Frage der Gemeindezugehörigkeit beziehungsweise des Zugangs zum Stadtbürgerrecht, also darum, wer unter welchen Bedingungen zum vollberechtigten Einwohner einer Stadt werden durfte. Wem der Bürgerstatus nicht zugänglich war, dem wurde jedoch nicht zwangsläufig auch das Recht auf befristeten oder dauernden Aufenthalt innerhalb der Stadt oder der Gemeinde verweigert.99 Insofern ist zweitens zu fragen, welche Hürden es im Hinblick auf eine Niederlassung an einem fremden Ort zu überwinden galt. Von besonderer Bedeutung – und höchst umstritten – war der dritte Regelungskomplex, die Frage der unter Umständen notwendigen Unterstützung einer verarmten zugezogenen Person oder Familie. Wer hatte diese wann zu leisten? Konnte ein mittelloser Mensch bereits vor seiner Wohnsitznahme mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass er am Ort seiner Wahl nicht unterstützt werden würde? Durfte derjenige, der einige Zeit nach seinem Zuzug verarmte, mit einem sogenannten Schub an seinen Heimatort zurückgebracht werden – und wenn ja, wie lange nach dem Zuzug: ein Jahr, zehn Jahre, immer?100 Wie lange war die Heimatgemeinde

|| 98 Gneist, Beschränkungen, S. 263f. 99 Im Hinblick auf den Aufenthalt an einem anderen Ort als der Heimat definierte das Recht vieler deutscher Staaten grundsätzlich drei Möglichkeiten: erstens die Anwesenheit im Zuge einer Reise ohne Pflicht zur polizeilichen Anmeldung, zweitens den Aufenthalt, der je nach Rechtslage bereits nach wenigen Tagen der Anwesenheit beginnen konnte und eine polizeiliche Anmeldung zwingend erforderte sowie drittens die Niederlassung, die eine förmliche Aufnahme in die betreffende Gemeinde oder Stadt voraussetzte. Vgl. Andreas Fahrmeir, Ausweis und Passage: reisende Juden in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 9. 2010, S. 119–137, hier S. 123. 100 Besonders berüchtigt war der Wiener Schub, der hier jedoch nicht weiter berücksichtigt werden kann; vgl. dazu bzw. zum Schubwesen in Österreich allgemein aber: Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbür-

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verpflichtet, einen an einem anderen Ort verarmten Menschen wieder aufzunehmen und zu unterstützen? Es handelt sich bei der Frage der Armenunterstützung demnach nicht um eine absolut gültige Zuzugsbeschränkung, da sie in der Regel erst im Augenblick der Verarmung akut wurde. Abhängig von den jeweils gültigen gesetzlichen Bestimmungen verlieh sie jedoch jeder Zuzugsentscheidung den Status des mehr oder weniger Vorläufigen, führte mit zunehmender Mobilität der Bevölkerungen zu immer häufigeren Rechtsstreitigkeiten zwischen einzelnen Gemeinden und Ländern, die nicht selten auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wurden. Einheitliche Regelungen innerhalb der Staaten, aber auch zwischen den einzelnen deutschen Territorien taten also not.101 Je nach Territorium fielen entweder zwei oder drei der genannten Regelungskomplexe zusammen, sie konnten aber auch vollständig getrennt voneinander bestehen. So wurden etwa in Preußen Bürgerrecht und Aufenthaltsrecht schon früh voneinander getrennt, sodass zwar jeder Bürger automatisch Aufenthaltsrecht genoss, der Aufenthalt aber auch unabhängig vom Bürgerrecht gewährt werden konnte. In anderen deutschen Staaten vollzog sich diese Trennung erst viel später. Der Tendenz nach war die Trennung von Bürger- und Aufenthaltsrecht das ›modernere‹ Prinzip, nämlich dasjenige, das sich letztlich durchsetzte. Darum sollen im Folgenden zuerst jene Staaten in den Blick genommen werden, in denen diese Trennung erst spät durchgeführt wurde. Abschließend geht es dann um die Entwicklung in Preußen, wo diese Trennung bereits Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend erreicht war, gleichwohl der Bürgerstatus noch lange eine in vielerlei Hinsicht privilegierte Stellung innerhalb der Stadt bedeutete.

5.1 Das Heimatprinzip In den nicht-preußischen Staaten galt im 19. Jahrhundert weitgehend das sogenannte Heimatprinzip. Heimatrecht und Gemeindeangehörigkeit fielen oft zusammen.102 || gerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750–1867), Wien 2000, S. 173–243. 101 Ziekow, Freizügigkeit, S. 152. 102 Vorübergehend galt das Heimatprinzip auch in einigen neu erworbenen preußischen Provinzen. Zum Heimatprinzip und seiner Entwicklung vgl. vor allem Eckart Reidegeld, Armenpflege und Migration von der Gründung des Deutschen Bundes bis zum Erlaß des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz, in: Michael Bommes/Jost Halfmann (Hg.), Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen, Osnabrück 1998, S. 253–282, hier S. 266–269; ders., Bürgerschaftsregelungen, Freizügigkeit, Gewerbeordnung und Armenpflege im Prozeß der ›Modernisierung‹, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte/Germanistische Abteilung, 116. 1999, S. 204–265, hier S. 229–234 sowie Ziekow, Freizügigkeit, S. 158–169. Zum habsburgischen Heimatrecht vgl. Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen

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Dieses Rechtsprinzip besagte, dass eine Person nur an dem Ort, an dem sie Heimatrecht besaß, sich niederlassen konnte, nur dort Grundbesitz erwerben, ein Gewerbe betreiben, heiraten und einen eigenen Hausstand begründen durfte. Und – nur die Heimatgemeinde war verpflichtet, im Falle der Verarmung subsidiär Unterstützung zu leisten. Die Heimat in diesem Sinne konnte sich jedoch niemand frei wählen, denn das Heimatrecht bekam jedes Kind bei seiner Geburt dort, wo sein Vater (beziehungsweise bei außerehelichen Kindern die Mutter) Heimatrecht hatten.103 Die Ehefrau teilte in der Regel die Heimat ihres Mannes. Witwen und geschiedene Frauen behielten dort Heimatrecht, wo sie es während der Ehe gehabt hatten. Auch aus diesem Grund war eine Eheschließung vielfach von der Erteilung eines Ehekonsenses abhängig, der damit ebenfalls als faktische Zuzugsbeschränkung wirkte.104 In dieser strikten Form jedoch hätte das Heimatprinzip Mobilität so gut wie ausgeschlossen, und so gab es auch schon vor der Wende zum 19. Jahrhundert andere Wege, das Heimatrecht an einem fremden Ort zu erwerben. Im Wesentlichen war dies möglich durch die ausdrückliche Aufnahme in den Gemeindeverband, die jedoch an eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft war, die von Territorium zu Territorium differierten und im Laufe des 19. Jahrhunderts modifiziert wurden. Daneben sah das Gesetz in einzelnen deutschen Staaten auch die Möglichkeit vor, das Heimatrecht nach einer bestimmten Anzahl von Jahren durch einfachen Aufenthalt an ein und demselben Ort zu erwerben. Denn, auch wenn die Niederlassung in der Regel an den Erwerb des Heimatrechts gekoppelt war, gab es daneben doch vielfach die Möglichkeit, sich befristet oder auch zeitlich unbeschränkt in einem anderen Ort als der Heimat aufzuhalten und dort zu arbeiten. Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht wurden also häufig unterschieden. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bemühten sich die nach dem Heimatprinzip verfahrenden Staaten jedoch in der Regel, die Möglichkeiten zum Erwerb der Heimat auszuweiten beziehungsweise Hürden herabzusetzen. In der Hungerkrise der 1830er Jahre ebenso wie während der Reaktionszeit in den 1850er Jahren wurden solche Liberalisierungsversuche allerdings vorübergehend zurückgenommen. Spätestens in den 1860er Jahren setzte sich jedoch in allen Staaten die Erkenntnis durch, dass der Heimaterwerb erleichtert werden müsse, wenn nicht In-

|| 2010, S. 98–102 und Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008, S. 133–155. 103 Vgl. die Zusammenfassung der gültigen Rechtsbestimmungen in: Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes. I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. 3, Nr. 12, S. 164. 104 Der Ehekonsens sollte vor allem – im Sinne der Malthusschen Theorie – eine ›übermäßige‹ Vermehrung der Unterschichten verhindern, führte aber in der Regel nur dazu, dass die Zahl außerehelich geborener Kinder zunahm; vgl. dazu etwa Karin Gröwer, Wilde Ehen im 19. Jahrhundert: Die Unterschichten zwischen städtischer Bevölkerungspolitik und polizeilicher Repression: Hamburg, Bremen, Lübeck, Berlin/Hamburg 1999.

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dustrialisierung und ökonomische Prosperität des betreffenden Staates langfristig unter den mobilitätshemmenden Wirkungen eines streng angewendeten Heimatprinzips leiden sollten. Das Heimatrecht stand also einer zunehmenden Förderung von Freizügigkeit nicht prinzipiell entgegen. Dies lässt sich zum Beispiel an der Entwicklung im Königreich Bayern verfolgen, das am Heimatprinzip unbeirrt festhielt, auch über die Reichsgründung hinaus, wie später noch dargestellt werden wird.105 Dort wurde 1818 das Ansässigkeitsrecht neu geregelt. Die Gemeinde blieb jedoch auch nach diesem Datum gleichbedeutend mit der Bürgergemeinde. Wer als Bürger oder Schutzverwandter aufgenommen werden sollte, war einzig und allein der Entscheidungsgewalt des Magistrats vorbehalten. Einen entsprechenden Rechtsanspruch gab es in den bayerischen Städten nicht, ebenso wenig wurden die Kriterien genauer spezifiziert, nach denen eine solche Entscheidung zu erfolgen hatte.106 Dies änderte sich mit dem Gesetz über die Ansässigkeitsmachung und Verehelichung vom 11. September 1825, das das Ziel verfolgte, durch eine Verrechtlichung der Aufnahmebedingungen die Mobilität der finanzkräftigen ebenso wie der arbeitsfähigen und -willigen Bevölkerung zu erleichtern beziehungsweise zu stimulieren. Nach diesem Gesetz zählten zu den notwendigen Vorbedingungen einer Aufnahme in die Gemeinde beispielsweise ein guter Leumund und der regelmäßige Besuch von Schul- und Religionsunterricht (§ 1). Wer zusätzlich Vermögen oder einen Gewerbebetrieb besaß beziehungsweise nachweisen konnte, dass er »Gelegenheit, Lust und Tüchtigkeit« zur Arbeit mitbrachte, durfte damit rechnen, in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Aber auch der ›tüchtige‹ Arbeitsuchende sollte nicht mehr prinzipiell von einer Aufnahme in die Gemeinde ausgenommen sein (§ 5). Allerdings hatte jeder zusätzlich eine Aufnahmegebühr zu entrichten, die laut Gesetz bis zu hundert Gulden betragen durfte – eine nicht unerhebliche Summe. Zwischen Zuziehenden aus Bayern und solchen aus dem Ausland machte das Gesetz von 1825 keinen Unterschied.107 Das am gleichen Tag verabschiedete Heimatgesetz verlieh jedem, der auf diese Weise in die Gemeinde aufgenommen worden war, auch das dortige Heimatrecht und damit den Anspruch auf armenrechtliche Unterstützung durch die neue Heimat.108 Aber auch derjenige, der nicht die Hürden einer Aufnahme in die neue Bürgergemeinde schaffte oder schaffen wollte, konnte außerhalb seines Heimatortes arbeiten – allerdings nur vorübergehend, wobei die genaue Dauer eines solchen Aufenthaltes nicht präzisiert wurde (§ 6 des Heimatgesetzes). Wie sehr auch hier das || 105 Zum Folgenden vgl. vor allem Ziekow, Freizügigkeit, S. 158–161. 106 In den Rural-Gemeinden konnte dagegen bei einer Ablehnung des Aufnahmegesuchs die staatliche höhere Polizeibehörde eingeschaltet werden; vgl. ebd., S. 158. 107 Zitiert nach ebd. 108 Das Heimatrecht konnte laut Gesetz von 1825 auch durch einen Vertrag mit der betreffenden Gemeinde, durch Heirat oder Hilfeleistung bei öffentlicher Not erworben werden.

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übergeordnete staatliche Interesse zu Ungunsten der möglicherweise widerstreitenden lokalen Interessen aufgewertet wurde, zeigt § 9 des Heimatgesetzes, nach dem nur die höheren Polizeibehörden über das Heimatrecht zu entscheiden hatten.109 In der Pauperismuskrise der 1830er Jahre wurde gerade diese Bestimmung insofern revidiert, als nun den Gemeinden im Hinblick auf die Aufnahme zukünftiger Gemeindeangehöriger ein Vetorecht eingeräumt wurde (1834). Dieses galt nicht für solche Fälle, in denen die Aufnahme sich auf Vermögen oder Gewerbebesitz gründete, wohl aber, wenn sich der Aufnahmewillige als Lohnarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen wollte. In diesem Fall durfte die Gemeinde Einspruch erheben, wenn sie etwa den örtlichen Bedarf bereits befriedigt sah oder die Tüchtigkeit der betreffenden Person in Zweifel zog. Außerdem gab es nun die Möglichkeit, sich auch als Nicht-Gemeindeangehöriger langfristig an einem fremden Ort aufzuhalten, wenn man einen sogenannten Heimatschein vorweisen konnte, mit dem die Heimatgemeinde versicherte, die betreffende Person im Falle der Verarmung zu unterstützen.110 Beide Bestimmungen schränkten auf Betreiben der Gemeinden, die die armenrechtlichen Konsequenzen fürchteten, die Freizügigkeit der weniger Vermögenden ein, da diese in der Regel auf Lohnarbeit angewiesen waren und vermutlich auch nur schwer in den Besitz eines Heimatscheines gekommen sein dürften. Diese Regelung entsprach den Wünschen der Gemeindeverwaltungen, die ihr Vetorecht offenbar weidlich nutzten. Die Besitzer von Großgewerbe und Fabriken sahen sich jedoch geschädigt, da sie nicht auf einen ausreichend flexiblen lokalen Arbeitsmarkt zurückgreifen konnten. Auch innerhalb der Staatsregierung wurden Stimmen laut, die die revidierten Bestimmungen nicht nur als Hemmnis bei der Überwindung des Pauperismus sahen, sondern sogar als Ursache einer zunehmenden Verelendung bestimmter Bevölkerungskreise ausmachten. Dennoch scheiterten alle neuerlichen Gesetzesinitiativen über viele Jahre hinweg am Widerstand der Zweiten Kammer. Ein neues Gesetz wurde erst 1868 verabschiedet.111 Dieses Gesetz hielt zwar am Heimatprinzip fest, führte aber für den Erwerb von Heimat ein ganz neues Kriterium ein, das die Verleihung des Heimatrechtes partiell aus der Entscheidungsgewalt der Gemeinden löste: die Zeit, die eine Person ununterbrochen am Ort der zukünftigen Heimat verbracht hatte, ohne der Armenunterstützung zur Last zu fallen (Tit. 1, Art. 6 und 7). Zwei verschiedene Fristen gab es: Nach Ablauf von fünf Jahren bestand dann Anspruch auf das Heimatrecht, wenn ein volljähriger Mann in dieser Zeit seine Steuern bezahlt und Abgaben an die Gemeinde- und Armenkasse entrichtet hatte, ohne selbst die Leistungen der Armenkasse in || 109 Zitiert nach Ziekow, Freizügigkeit, S. 159. 110 Diese – nicht ganz unumstrittene – Deutung ergibt sich laut Ziekow aus dem § 6 des ›Revidierten Gesetzes über Ansässigmachung und Verehelichung von 1834‹, der eine Übersiedlung innerhalb des Königreiches Bayern nur noch dann als Ansässigmachung behandelt wissen will, wenn damit zugleich eine Veränderung der Heimat verbunden war; vgl. ebd., S. 160. 111 Ebd., S. 161.

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Anspruch zu nehmen. Nach zehn Jahren stand auch demjenigen das Heimatrecht offen, der nichts bezahlt hatte, aber auch nicht unterstützungsbedürftig geworden war.112 Angesichts einer zu diesem Zeitpunkt schon weit vorangeschrittenen Industrialisierung erscheint diese Gesetzgebung – trotz aller Liberalisierung – mit ihren verhältnismäßig langen Fristen noch immer erstaunlich unflexibel. Dieser Eindruck gilt jedoch nicht zwangsläufig für alle anderen Staaten, in denen das Heimatrecht in den späten 1860er Jahren noch in Geltung war. So hatten viele andere Staaten einen auf eine Fristenregelung gegründeten Anspruch auf Heimaterwerb weit früher eingeführt. In Braunschweig galt bereits seit 1852 eine Zehn-Jahres-Regelung, Hannover (seit 1827) und Sachsen (seit 1834) gewährten einen solchen Rechtsanspruch unter bestimmten Bedingungen sogar schon nach Ablauf von fünf Jahren. Die Herzogtümer Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen bildeten in dieser Hinsicht das eine Extrem, indem sie einen Rechtsanspruch unter bestimmten Voraussetzungen bereits nach drei Jahren anerkannten. Das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach befand sich dagegen auf der anderen Seite des Spektrums. Dort bestand zwar nach Ablauf von zehn Jahren grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Heimaterwerb, nicht aber für Fabrikarbeiter und andere abhängige Personengruppen. Sie konnten einen solchen Anspruch niemals erwerben.113 Die Rechtssituation in den Territorien Südwestdeutschlands unterschied sich dagegen insofern von der zuvor dargestellten Rechtslage, als dort jeder Staatsbürger entweder als Bürger oder als Beisasse einer Gemeinde angehören musste und unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Aufnahme in eine Gemeinde seiner Wahl hatte. Guter Leumund und Volljährigkeit gehörten überall zu den Anforderungen. Im günstigsten Fall – wie im Großherzogtum Hessen – reichte es, wenn man darüber hinaus die eigene Befähigung zum Nahrungserwerb nachweisen konnte. In vielen Fällen mussten die Bewerber zusätzlich noch über ein bestimmtes Vermögen verfügen, dessen Höhe sich manchmal nach der Größe des Ortes oder dessen Nahrungssituation richtete. Wer diese Hürden nicht meisterte, wurde als Beisasse aufgenommen oder durfte zumindest zeitweilig Aufenthalt nehmen, wenn er sich selbst versorgen konnte.114

5.2 Das Prinzip des Unterstützungswohnsitzes Die Situation in Preußen unterschied sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundlegend von der durch das Heimatprinzip bestimmten Lage in den übrigen || 112 Das Gesetz findet sich abgedruckt in: Sachße u.a. (Bearb.), Armengesetzgebung, S. 821–840. Im gleichen Band finden sich auch die verschiedenen Entwürfe und Beschlüsse zu diesem Gesetz, die es erlauben, einen Teil der Gesetzesdiskussion nachzuvollziehen. 113 Ziekow, Freizügigkeit, S. 161–165. 114 Ebd., S. 165–169.

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deutschen Territorien. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurde in Preußen ansatzweise zwischen kommunalen Rechten auf der einen, Aufenthaltsrechten beziehungsweise Armenunterstützung auf der anderen Seite unterschieden.115 Diese Trennung wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts prononciert, bis sich schließlich das neue Prinzip des durch Zeitablauf zu erwerbenden Unterstützungswohnsitzes als Grundlage der Armenunterstützung herauskristallisierte. Es erleichterte Freizügigkeit erheblich, wenn auch zunächst um den Preis einer weitgehenden politischen Entrechtung der städtischen Unterschichten, denen es in der Regel nicht möglich war, das Bürgerrecht zu bekommen. Denn da das Bürgerrecht eine Vielzahl von politischen Partizipationsrechten auf der lokalen Ebene verlieh, blieben die Unterschichten davon weitgehend ausgeschlossen. Doch auch diese Unterscheidung wurde im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gemildert, da sich innerhalb Preußens die ursprüngliche Bürgergemeinde immer mehr zur Einwohnergemeinde entwickelte. Ähnlich wie in den anderen deutschen Territorien wurden auch in Preußen schrittweise bis zum Ende der 1840er Jahre Zuzugsbeschränkungen außer Kraft gesetzt, um sie schließlich vorübergehend in den 1850er Jahren wieder zu verschärfen. Diese Verschärfung wurde jedoch bereits Anfang der 1860er Jahre wieder zurückgenommen. Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 weist – eine ältere Tradition aufgreifend – bereits in diese Richtung. Es legte fest, dass sowohl Land- als auch Stadtgemeinden zur Unterstützung ihrer verarmten Mitglieder und anderen Einwohner subsidiär verpflichtet seien, sofern Letztere Kommunalabgaben geleistet hätten. Diese Verpflichtung umfasste auch die Ehefrauen, Witwen und Kinder der Verarmten (ALR II, 19. Titel, § 10 u. 13). Das setzte die andernorts übliche Unterscheidung zwischen Bürgern und anderen Einwohnern in armenrechtlicher Hinsicht unter bestimmten Bedingungen außer Kraft. Schon 1801 wurde auch denjenigen das Recht auf Armenunterstützung am Wohnort zugestanden, die sich drei Jahre lang dort aufgehalten hatten, ohne Unterstützungszahlungen in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie in dieser Zeit weder in die Armenkasse eingezahlt hatten noch im juristischen Sinn einen eigenen festen Wohnsitz vorweisen konnten. War dies nicht der Fall, galt die Gemeinde als zuständig, in der der Vater (oder bei außerehelichen Kindern die Mutter) des Verarmten Wohnsitz (gehabt) hatte. Wenn auf diese Weise keine für die Unterstützung verantwortliche Gemeinde ausfindig gemacht werden konnte, musste die Gemeinde, in der der Verarmte lebte, die Kosten übernehmen, um zu verhindern, dass aus armen Menschen ›Vagabunden‹ wurden.116

|| 115 Vgl. Reidegeld, Armenpflege, S. 260; Ziekow, Freizügigkeit, S. 153. 116 ›Rescript […] wegen näherer Bestimmung einiger, die Armen-Anstalten betreffenden Vorschriften des Allgemeinen Landrecht‹ vom 2.7.1801, zitiert nach ebd., S. 260.

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1804 legte schließlich ein Patent für die Kurmark, die Neumark und Pommern fest, dass jeder am Ort seiner Wahl sich niederlassen und damit im Prinzip sofort das Recht auf Armenunterstützung erwarb, sofern er in diesem Augenblick (noch) in der Lage war, sich selbst zu ernähren. Nur wenn die gewählte Gemeinde nachweisen konnte, dass der Betreffende schon vor seinem Zuzug verarmt war, konnte sie ihn zurückweisen. Diesen Nachweis musste die Gemeinde allerdings innerhalb eines Jahres nach dem Zuzug auf eigene Kosten führen. Arme ohne feststellbaren Wohnsitz sollten den Land-Armenanstalten der Provinzen zugewiesen werden. Ein Schubwesen, wie es in Süddeutschland und insbesondere in Österreich verbreitet war, gab es damit innerhalb Preußens im Prinzip schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Zwischen Preußen und anderen deutschen Territorien wurden verarmte Personen aber nach wie vor hin- und hergeschoben, da sich die erwähnten Bestimmungen lediglich auf die Untertanen des preußischen Königs bezogen.117 In armenrechtlicher Hinsicht waren damit die Weichen gestellt für die Entwicklung eines freien (innerpreußischen) Arbeitsmarktes – eine Entwicklung, die die wenig später durchgesetzten Agrarreformen geradezu notwendigerweise flankierte, da diese jedwede vorher bestehende Verpflichtung der Gutsherren zur Armenunterstützung ihrer Bauern aufhob. Die etwa gleichzeitig in Angriff genommene preußische Kommunalreform von 1808, die in der Krisensituation nach Jena und Auerstedt den Bürgergeist gerade der Wohlhabenden stärken sollte, errichtete im Gegenzug jedoch hohe Schranken für weniger Bemittelte. So durften nur Stadtbürger ein städtisches Gewerbe ausüben und Grundbesitz auf dem Territorium der Stadt erwerben. Sie allein waren berechtigt, die Stadtverordneten zu wählen, die wiederum die zentralen Gremien der mit der Kommunalreform neu geschaffenen städtischen Selbstverwaltung, den Magistrat und den Bürgermeister, bestimmten.118 Wer Stadtbürger werden wollte oder musste, hatte eine hohe Aufnahmegebühr zu entrichten. Im Umkehrschluss musste jeder, der Grundbesitz erwerben oder ein Gewerbe betreiben wollte, Stadtbürger werden und dementsprechend die Aufnahmegebühr zahlen. Damit blieben das

|| 117 Reidegeld, Armenpflege, S. 261, ders., Bürgerschaftsregelungen, S. 236; Ziekow, Freizügigkeit, S. 153f. Der interterritoriale Schub wurde durch eine Reihe von zwischenstaatlichen Konventionen geregelt, die später dargestellt werden. 118 Das kommunale Wahlrecht war über die Aufnahme in die Bürgerrolle hinaus allerdings noch an einen Zensus gebunden, der jedoch vergleichsweise niedrig lag. Die Bewertung der Kommunalreform ist nach wie vor umstritten. Galt sie lange als Instrument bürgerlicher Emanzipation, wird sie heute oft als Faktor einer ›defensiven Modernisierung‹ gesehen, da sie zwar der Modernisierung, gleichzeitig aber auch der Abwehr revolutionärer Bestrebungen habe dienen sollen. Kritisch beleuchtet wird zudem die Tatsache, dass sie die kommunale Selbstverwaltung allein in den Städten einführte, eine entsprechende Landgemeindeordnung jedoch nicht erlassen wurde. Zur Diskussion der preußischen Reformen unter dem Stichwort ›defensive Modernisierung‹ vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 531–546.

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Bürgerrecht und die damit verbundenen politischen und ökonomischen Rechte den Unterschichten verwehrt.119 Wohnen und arbeiten durften jedoch auch Angehörige der Unterschichten in den Städten, da die Kommunalreform ihnen das Recht einräumte, als Schutzverwandte ohne weitergehende politische oder ökonomische Rechte innerhalb der Stadt zu leben. Erst mit der ›Revidierten Städteordnung für die Preußische Monarchie‹ vom 17. März 1831 wurde die Verknüpfung von Bürgerrecht auf der einen, Gewerbebetrieb beziehungsweise Grundstückserwerb auf der anderen Seite aufgehoben, denn nun durften auch Schutzverwandte Gewerbe betreiben und Grundbesitz erwerben. Diese Bestimmung setzte die liberale Wirtschaftspolitik Preußens fort, die mit den Gewerbereformen von 1810/11 begonnen worden war und unter anderem auf einen Abbau sämtlicher Beschränkungen des Arbeitsmarktes zielte. Den gegenläufigen Interessen der Stadtregierungen wurde allerdings insofern Rechnung getragen, als die Revidierte Städteordnung die Erhebung eines Einkaufsgeldes erlaubte. Dieses hatte jeder zu zahlen, der in eine Stadt zog, da es als Kompensation für die Nutzung des Gemeindevermögens diente. Faktisch sollte es in erster Linie den Zuzug armer Bevölkerungsgruppen erschweren, da die Stadtregierungen fürchteten, diese würden angesichts der besseren Möglichkeiten, in der Stadt in den Genuss von Unterstützungsleistungen zu gelangen, vermehrt in die Städte drängen. Auch für Westfalen und die Rheinprovinz wurden solche Einkaufsgelder 1841 beziehungsweise 1845 eingeführt, 1850 dann auch für alle anderen Gemeinden innerhalb Preußens.120 Neben dieser – mit Einschränkungen – ökonomischen Liberalisierung brachte die Revidierte Städteordnung jedoch keine Ausweitung politischer Rechte, da das kommunale Wahlrecht weiterhin an den Bürgerstatus gebunden blieb, die Bürgergemeinde also noch nicht mit der Einwohnergemeinde identisch war. Diese Unterscheidung wurde erst 1850 beziehungsweise 1853 für ganz Preußen aufgehoben. Jedoch versprach die neue Gemeindeordnung den ärmeren Einwohnern keineswegs mehr politischen Einfluss als zuvor, da das Wahlrecht an einen Zensus gebunden und die Wählerschaft in drei Klassen unterteilt wurde.121 Etwa zehn Jahre zuvor war das im Hinblick auf eine Durchsetzung der Freizügigkeit innerhalb Preußens zentrale Gesetzgebungswerk verabschiedet worden. Dabei handelt es sich um das bereits erwähnte ›Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen‹ vom 31. Dezember 1842 sowie um das nicht zufällig am selben Tag veröffentlichte ›Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege‹. Da die Auswei|| 119 Vgl. Ziekow, Freizügigkeit, S. 153. 120 Ebd., S. 154. 121 Grundlegend waren die preußische Gemeindeordnung von 1850 sowie die preußische Städteordnung von 1853, die im Wesentlichen das Vorbild der rheinischen Gemeindeordnung von 1845 übernahmen; vgl. dazu Michael Sobania, Rechtliche Konstituierungsfaktoren des Bürgertums, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993, S. 131–150, hier S. 147.

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tung der Freizügigkeitsrechte und des Anspruchs auf Armenunterstützung jedoch vorwiegend den preußischen Untertanen vorbehalten bleiben sollten, erging am letzten Tag des Jahres 1842 noch ein weiteres Gesetz, das im Detail festlegte, wer preußischer Staatsbürger war beziehungsweise wie man die preußische Staatsbürgerschaft erwerben beziehungsweise verlieren konnte.122 Nach dem neuen preußischen Freizügigkeitsgesetz, das für alle Gemeinden und Gutsbezirke in Preußen galt, durfte keinem Preußen der Zuzug beziehungsweise die Gewerbeausübung an einem Ort seiner Wahl verweigert werden. Auch die Besorgnis der Gemeinde, der Neuankömmling könne in Kürze verarmen, konnte nicht als Abweisungsgrund herangezogen werden. Ausgenommen von dieser generellen Zuzugserlaubnis waren bereits vorher verarmte Personen und – wie zuvor diskutiert – unter bestimmten Voraussetzungen auch verurteilte Straftäter. Ausdrücklich ausgenommen waren jedoch auch Juden, für die bis zur Verfassung von 1850 alle zuvor bestehenden Freizügigkeitsbeschränkungen bestehen blieben.123 In dieser Hinsicht brachte das Freizügigkeitsrecht also wenig Neuerungen gegenüber der zuvor gültigen Rechtslage, die sie allerdings nun unterschiedslos für ganz Preußen festschrieb. Es machte jedoch noch einmal unmissverständlich das Misstrauen der Staatsregierung gegenüber den kommunalen Eigeninteressen deutlich, da sie den Gemeinden so gut wie keine eigenständigen Einspruchsmöglichkeiten beließ. Das Freizügigkeitsrecht schrieb jedoch auch eine Tradition polizeilicher Kontrolle der Einwohner fort, da es von jedem Zugezogenen verlangte, sich am neuen Wohnort polizeilich zu melden. Ohne diese Meldung verfügte der Zugezogene über keinen offiziellen Wohnsitz, der die Grundlage jedweder Unterstützungsleistung seitens der neuen Heimatgemeinde war. Hier eben lag die erstaunliche Neuerung des Gesetzes, das den Begriff des Unterstützungswohnsitzes erfand.124 Jeder Zugezogene besaß nämlich vom Tag seiner Meldung beziehungsweise seiner ausdrücklichen Aufnahme in die Gemeinde an ein Anrecht auf subsidiäre Unterstützung durch seine neue Wohngemeinde. Hatte er keinen offiziellen Wohnsitz genommen, gewann er dennoch einen Unterstützungsanspruch, wenn er nachweisen konnte, dass er sich in den vergangenen drei Jahren an diesem Ort gewöhnlich aufgehalten und keine Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen hatte. In diesem Fall konnte allerdings derjenige zu einer Entschädigung herangezogen werden, der dem Verarmten zuvor Unterkommen ge|| 122 Dieses sogenannte Untertanengesetz machte die preußische Staatsbürgerschaft im Wesentlichen zu einer Frage der Abstammung; dazu siehe Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 67–101. Der Text der hier erwähnten drei Gesetze ist wieder abgedruckt in: Sachße u.a. (Bearb.), Armengesetzgebung, S. 916–928. 123 Rockstroh, Freizügigkeit, S. 83f. Allgemein zu den für Juden gültigen Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen im 19. Jahrhundert: Fahrmeir, Ausweis und Passage. 124 Ebd., S. 77.

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währt hatte, ohne auf dessen polizeiliche Meldung zu dringen.125 Mit diesem Gesetzeskomplex wurden aufenthalts- und armenrechtliche Beschränkungen der Freizügigkeit innerhalb Preußens mit einigen wenigen Einschränkungen abgeschafft. Dahinter stand die vom preußischen Staatsministerium in den vorangegangenen Beratungen eindeutig formulierte Überzeugung, dass es gegen Verarmung und für die Förderung der Wirtschaft kein besseres Mittel geben könne als einen vollständig von Freizügigkeitsbeschränkungen befreiten Arbeitsmarkt.126 Die 1850er Jahre brachten dennoch einige Rückschläge im Hinblick auf die Freizügigkeit, die in erster Linie auf den Druck seitens der städtischen Honoratioren sowie auf die konservative Mehrheit in den beiden preußischen Kammern zurückzuführen sind. Die Bedrohung des städtischen Wohlstands durch eine wachsende Armenlast, die Einschränkung städtischer Selbstständigkeit sowie eine damit vorgeblich verbundene Zerstörung des ›Heimatsinnes‹ waren dabei die Hauptargumente.127 Zwar wurde die Forderung nach einem Vetorecht der Gemeinden gegen die Aufnahme von Zuzugswilligen abgelehnt, mit der Städteordnung von 1853 für die sechs östlichen Provinzen aber die Erhebung von verschiedenen Gebühren beim Einzug in die Stadt erlaubt beziehungsweise bestätigt. Dazu zählten das bereits zuvor bestehende Einkaufsgeld sowie zwei neue Gebührenarten, das Einzugsgeld und das Eintrittsgeld. Das Einzugsgeld musste als Gebühr für die Niederlassung in der neuen Stadt gezahlt werden, das Eintrittsgeld für die Begründung eines selbstständigen Haushaltes. Bis 1856 wurden diese Gebühren sukzessive auch in allen anderen Provinzen Preußens eingeführt, allerdings nur im Rheinland und in Westfalen auch für die Landgemeinden. Diese Tatsache führte wiederum zu Beschwerden der ländlichen Gemeinden, wonach die armen Bevölkerungsgruppen sich nunmehr verstärkt im ländlichen Raum ansiedelten und die Landgemeinden demnach die höchste Armenlast zu tragen hatten.128 Diese Klage nahm zu, als die Armenrechtsnovelle von 1855 das Recht auf Armenunterstützung insofern begrenzte, als ein Rechtsanspruch erst nach einem einjährigen Aufenthalt des Neubürgers entstand. Aus Sicht der an die Städte grenzenden Landgemeinden, aus denen sich eine große Zahl der städtischen Arbeitskräfte rekrutierte, führte auch diese Regelung dazu, dass die Städte auf ein kurzfristig zur Verfügung stehendes Arbeitskräftereservoir zurückgreifen, die nicht mehr benötigten Arbeiter aber ohne größere Umstände wieder in die umliegenden Landgemeinden abschieben konnten. Dem|| 125 Reidegeld, Armenpflege, S. 260f. 126 So heißt es etwa in einer Kabinettsordre vom 18.2.1838, dass lokale Zuzugssperren »temporaire Übervölkerung einzelner Orte; Mangel an thätigen Händen in den andern, unverhältnismäßige Verschiedenheit in den Arbeitslöhnen, Lähmung des industriellen Fortschreitens der Einzelnen und der Nation« hervorbringen würden; zitiert nach Ziekow, Freizügigkeit, S. 156f. 127 Reulecke, Urbanisierung, S. 37. 128 Ziekow, Freizügigkeit, S. 154f.

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entsprechend forderten die Landgemeinden, auch ihrerseits ein Einzugsgeld erheben zu dürfen. Diese Forderung wurde jedoch ebenso zurückgewiesen wie die von Städten und Landgemeinden gemeinsam formulierte Forderung, die industriellen Arbeitgeber sollten zu den gestiegenen Armenunterstützungskosten beitragen, da sie die eigentlichen Verursacher seien.129 Seit Beginn der 1860er Jahre konnten sich schließlich diejenigen Kräfte, die für eine möglichst weitgehende Freizügigkeit plädierten, wieder vollends durchsetzen. Zwei Gesetze von 1860 und 1861 beschränkten die Einzugsgelder auf ein genau festgelegtes Maximum, das Eintrittsgeld wurde abgeschafft. 1867 folgte das Einzugsgeld, einzig das Einkaufsgeld blieb zulässig.130 Diese ›Befreiung‹ fiel zusammen mit dem endgültigen Durchbruch der Industrialisierung in Preußen und der ersten lang andauernden industriellen Hochkonjunktur (1850–1873). Diese Hausse stützte sich vor allem auf den Eisenbahnbau, auf die Eisen- und Stahlproduktion sowie den Berg- und Maschinenbau mit ihrem enormen Bedarf an Arbeitskräften.131 Nachdem es zuvor bereits mehrere zwischenstaatliche Vereinbarungen im Hinblick auf armenrechtliche Zuständigkeiten gegeben hatte, bekamen darum in dieser Phase auch die Versuche einer Vereinheitlichung der gesetzlichen Regelungen über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus neues Gewicht.

6 Auf dem Weg zu einer reichseinheitlichen Regelung der Freizügigkeit Den ersten Versuch einer reichseinheitlichen Regelung machte die Frankfurter Nationalversammlung. In der am 28. März 1849 proklamierten Verfassung wurde unter § 133 Abs. 1 als Grundrecht folgende Bestimmung verankert: »Jeder Deutsche hat das Recht, an jedem Orte des Reichsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, Liegenschaften jeder Art zu erwerben und darüber zu verfügen, jeden Nahrungszweig zu betreiben, das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen.«132 Ziel dieser Bestimmung war es, so belegen es die Verhandlungsprotokolle, die innere Einheit Deutschlands zu stärken, die Industrialisierung zu fördern sowie den Pauperismus zu bekämpfen.133 || 129 Reulecke, Urbanisierung, S. 37, 40. 130 Ziekow, Freizügigkeit, S. 155. 131 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 67. 132 Reichs-Gesetz-Blatt 28.4.1849, Nr. 16, S. 101–147, hier S. 125; vgl. den Originaltext auf dem Internet-Portal Westfälische Geschichte (eingerichtet u.a. vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster): http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que835.pdf (Stand: 30.1.2004; letzter Zugriff: 6.7.2015). 133 Ziekow, Freizügigkeit, S. 185.

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Für die Geschichte der Freizügigkeit in Deutschland von Bedeutung ist die Frankfurter Verfassung vor allem deswegen, weil das Recht auf Freizügigkeit hier erstmals in den Grundrechtskatalog aufgenommen wurde. Wie Aufenthalt und Wohnsitz zu erwerben waren, legte die Verfassung jedoch nicht fest. Dies sollte einem Heimatgesetz vorbehalten bleiben, zu dem der volkswirtschaftliche Ausschuss der Paulskirche am 2. Dezember 1848 einen Entwurf vorlegte.134 Er unterschied wie vielfach üblich das Heimatrecht grundsätzlich vom Gemeindebürgerrecht, wobei das Gemeindebürgerrecht allerdings einen Titel für den Erwerb des Heimatrechtes darstellte. Das Heimatrecht begründete einen Anspruch auf Armenunterstützung und konnte von jedem Neuzugezogenen erworben werden, sofern dieser erwerbsfähig war, zum Zeitpunkt der Aufnahme keine öffentliche Armenunterstützung erhielt und zuvor nicht wegen eines gemeinen Verbrechens bestraft worden war. In diesen Bestimmungen ging der Entwurf nicht über das preußische Gesetz von 1842 oder die gesetzlichen Regelungen in Sachsen hinaus, verallgemeinerte diese aber für ganz Deutschland und hätte insofern eine große Erleichterung der Freizügigkeit sowohl innerhalb vieler Einzelstaaten als auch und vor allem zwischen den Staaten mit sich gebracht. Da diese Bestimmungen jedoch nicht in Kraft traten, bemühten sich in der Folgezeit eine Reihe von Einzelstaaten, die drängendsten Probleme interterritorialer Freizügigkeit in Form von zwischenstaatlichen Konventionen zu regeln. In der Dresdner Konvention von 1850 ging es zwar nicht um grundsätzliche Probleme interterritorialer Freizügigkeit, wohl aber um eine praktische Erleichterung. Bis zum Jahr 1850 hatten viele deutsche Staaten Pässe eingeführt, die oft vorgelegt und erneuert werden mussten. Mit der Dresdner Konvention, der bis 1852 fast alle deutschen Staaten beitraten, wurden einheitliche Passkarten erfunden, die ein Jahr lang gültig blieben und nicht mehr überall zur Einsicht vorgelegt werden mussten.135 Von wesentlich grundlegenderer Bedeutung war jedoch die sogenannte Gothaer Konvention, die 1851 zwischen Preußen, Bayern, Sachsen und einer Reihe anderer deutscher Staaten geschlossen wurde.136

|| 134 Die Diskussion des Volkswirtschaftlichen Ausschusses lässt sich anhand der Protokolle nachverfolgen: Werner Conze/Wolfgang Zorn (Hg.), Die Protokolle des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Deutschen Nationalversammlung 1848/49. Mit ausgewählten Petitionen, Boppard am Rhein 1992. 135 Diese Konvention ist aber keineswegs nur ein Mittel der innerdeutschen Einigung, da ihr auch nicht-deutsche Staaten beitreten konnten. In der Praxis gab es außerdem weiter die alten Pässe, die Erleichterungen betrafen offenbar nur eine geringe Zahl an Personen; vgl. Fahrmeir, Citizens, S. 114f.; siehe auch Rockstroh, Freizügigkeit, S. 106f., siehe hierzu auch den Beitrag von Andreas Fahrmeir über die staatliche Abgrenzung durch Passwesen und Visumzwang in diesem Band. 136 Der Vertragstext ist abgedruckt in: Sachße u.a. (Bearb.), Armengesetzgebung, S. 929–932. Dort werden auch sämtliche vertragschließenden Staaten aufgeführt.

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Hauptzweck der Konvention war es zu regeln, welcher Staat unter welchen Umständen zur Aufnahme von aus anderen Staaten ausgewiesenen beziehungsweise von heimatlos gewordenen Personen verpflichtet war. Eine zwischenstaatliche Regelung dieser Frage war erforderlich geworden, weil die einzelstaatlichen Bestimmungen über Erwerb und Verlust des Heimatrechtes eben nicht einheitlich waren. Dies konnte dazu führen, dass jemand sein Heimatrecht in einem Staat durch Ablauf einer dafür vorgesehenen Frist verlor, nirgendwo anders aber in diesem Zeitraum Heimatrecht erwarb. Heimatlosigkeit sollte fortan verhindert werden, indem kein Angehöriger eines der Vertragsstaaten sein Heimatrecht verlieren konnte, bevor er nicht an einem anderen Ort Heimatrecht erworben hatte. Hatte die auszuweisende Person nirgendwo Heimatrecht besessen, so legte die Konvention im Detail fest, welcher Staat dennoch zur Aufnahme dieser Person verpflichtet war. Als langfristiges Ziel der Konvention wurde zudem in der Präambel die Absicht festgeschrieben, ein allgemeines deutsches Heimatrecht vorzubereiten. Ergänzt wurde die Gothaer Konvention zwei Jahre später durch die Eisenacher Konvention.137 Darin verpflichteten sich alle Vertragsstaaten, die erkrankten Angehörigen anderer Staaten so lange nach Maßgabe der eigenen Gesetzgebung zu versorgen, bis diese reisefähig waren, sowie die Beerdigung verstorbener fremder Staatsangehöriger auf eigene Kosten zu veranlassen. Diese Regelungen erwiesen sich dennoch bald in den Augen vieler als unzureichend und dem wachsenden Verkehr sowie den Anforderungen und Möglichkeiten einer zunehmend industrialisierten und urbanisierten Gesellschaft gegenüber unangemessen. Das Eisenbahnnetz etwa wuchs seit Eröffnung der ersten deutschen Strecke 1835 rasant. Hatte es 1840 im späteren Reich immerhin schon 486 Eisenbahnkilometer gegeben, so waren es 1850 bereits 5.859 und 1870 insgesamt 18.876 km. Gleichzeitig wurde der schon vorher begonnene Ausbau des Straßen- und Schifffahrtsnetzes zügig vorangetrieben.138 Diese Transportrevolution kurbelte die Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen an, förderte den Massen-Gütertransport und ermöglichte die Entstehung industrieller Zentren in den Bereichen Berg- und Hüttenwesen sowie der Maschinenindustrie. Diese wurden in zunehmenden Maße zu überregionalen Arbeitsmärkten, die durch die gesunkenen Transportkosten und die verkürzten Wege eine immer größere Zahl von oft längerfristig mobilen Arbeitskräften anzogen. Daneben wurden die Städte immer stärker zu modernen Industrie-, Handels- und Dienstleistungszentren, die für immer mehr Menschen kurz- oder

|| 137 Der Vertragstext ist publiziert in: ebd., S. 933f. 138 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 190f., 200. Zum Ausbau des deutschen Eisenbahnnetzes nach 1835 sowie zu den Folgen des Eisenbahnhaus im Hinblick auf eine deutsche Binnenwanderung vgl. auch Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800– 1914, Ostfildern 2005, S. 65–67, 131–153.

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längerfristig Lohn und Brot zu bieten hatten. Dementsprechend nahm seit etwa 1850 die interregionale Arbeitswanderung in Deutschland unaufhörlich zu.139 Die Unzufriedenheit mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen machte sich um 1860 in einer ganzen Reihe von Petitionen an das preußische Abgeordnetenhaus Luft. Darin forderten etwa Magistrat und Stadtverordnetenversammlung eines so kleinen Ortes wie Marienwerder, Preußen möge sich für die Durchsetzung einer allgemeinen Freizügigkeit im Deutschen Bund einsetzen.140 Diesem Ziel näher kam man erst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes nach dem PreußischÖsterreichischen Krieg von 1866. Artikel 3 der Norddeutschen Verfassung vom 16. April 1867 schrieb ein gemeinsames Indigenat aller Norddeutschen fest, das heißt die Staatsangehörigen eines jeden Bundesstaates waren nunmehr in allen anderen Bundesstaaten als Inländer zu behandeln.141 Eine Vereinheitlichung im engeren Sinne brachte die Verfassung damit jedoch nicht, denn weiterhin galten die unterschiedlichen Heimat- und Freizügigkeitsgesetze.142 Da allerdings Artikel 4 der Verfassung die Materie Freizügigkeit, Heimat und Niederlassung der Kompetenz des Bundes zuwies, besaß der Norddeutsche Bundestag alle Möglichkeiten der Vereinheitlichung, die er mit dem Gesetz über die Freizügigkeit von 1867 und dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1870 schließlich auch nutzte. Das Gesetz über die Freizügigkeit erlaubte jedem Angehörigen des Norddeutschen Bundes, sich seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Auch Aufenthaltsbeschränkungen infolge des Glaubensbekenntnisses, die vor allem auf Juden zielten, wurden aufgehoben. Nur »dauernde Hilfsbedürftigkeit« im Moment des Zuzugs sowie die Verarmung vor Erwerb des Unterstützungswohnsitzes berechtigten die Gemeinden zur Abweisung der Zuzugswilligen. Gebühren gleich welcher Art durften nicht mehr erhoben werden. Begründet wurde das Gesetz mit dem Verweis auf die in wirtschaftlicher Hinsicht liberalen Verhältnisse in Preußen und Sachsen, die als eigentlicher Motor des dortigen wirtschaftlichen Aufschwungs identifiziert wurden. Wie konsensfähig diese Ansicht zu diesem Zeitpunkt bereits war, wird unter anderem daran deutlich, dass zwischen der ersten Vorlage des Ge|| 139 Allerdings führten keineswegs alle Migrationen in die Städte. Weit verbreitet war auch die Wanderung zwischen verschiedenen Regionen auf dem Land. Zudem waren Hin- und Rückwanderungen viel selbstverständlicher als lange Zeit von der Forschung angenommen, vgl. u.a. Annemarie Steidl, Ein ewiges Hin und Her. Kontinentale, transatlantische und lokale Migrationsrouten in der Spätphase der Habsburgermonarchie, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 19. 2008, S. 15–42. 140 Rockstroh, Freizügigkeit, S. 108. 141 Der gesamte Verfassungstext ist nachzulesen in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, S. 227–240; siehe hierzu auch den Beitrag von Andreas Fahrmeir über die migratorische Deregulierung nach der Reichsgründung 1871 in diesem Band. 142 Karl Braun, Die Zugfreiheit im Norddeutschen Bunde, in: Preußische Jahrbücher 20. 1867, S. 412–427, hier S. 415, zitiert nach Reidegeld, Bürgerschaftsregelungen, S. 247.

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setzentwurfs und der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes keine drei Wochen vergingen.143 Allerdings sparte das Gesetz die heikle Frage der Verteilung der Armenlast mehr oder weniger aus. »Bloßer Aufenthalt« bzw. »bloße Niederlassung« sollten jedenfalls laut § 11 nicht zur Inanspruchnahme von Armenunterstützung berechtigen. Wie kontrovers diese Frage nach wie vor war, zeigte sich, als die Beratungen zu einem entsprechenden Gesetz 1868 begannen.144 Die preußische Regierung legte 1869 einen ersten Entwurf vor, der sich im Wesentlichen am preußischen Heimatgesetz von 1842 orientierte. Dieser Entwurf wurde jedoch von den Regierungen der anderen Bundesstaaten abgelehnt. Daraufhin legte der Bundeskanzler am 14. Februar 1870 einen eigenen Entwurf vor, den er zuvor mit den Bundesstaaten beraten hatte. Darin wurde eine einheitliche Regelung abgelehnt, die 22 einzelstaatlichen Gesetze sollten in Kraft bleiben. Hinzugefügt werden sollte lediglich die Möglichkeit für jeden Bundesangehörigen, außerhalb seines Heimatstaates einen Unterstützungswohnsitz durch fünfjährigen Aufenthalt, Verehelichung oder Abstammung zu erwerben. Dieser Entwurf wurde jedoch von allen Reichstagsabgeordneten mit nur einer einzigen Ausnahme abgelehnt. Das wirtschaftlich überzeugende Vorbild Preußens, die Stärke der wirtschaftsliberalen und nationalen Bewegung im Norddeutschen Reichstag ebenso wie die institutionell abgesicherte Vormachtstellung Preußens im Norddeutschen Bund kamen hier zum Tragen. Das am 6. Juni 1870 schließlich verabschiedete Gesetz über den Unterstützungswohnsitz knüpfte dementsprechend an die bestehende preußische Gesetzgebung an.145 Dieses Gesetz legte nunmehr fest, dass der Unterstützungswohnsitz durch Abstammung, Verehelichung oder ununterbrochenen zweijährigen Aufenthalt nach Vollendung des 24. Lebensjahres erworben – und bei ebenso langer Abwesenheit auch wieder verloren – werden konnte. Bei fehlendem Unterstützungswohnsitz übernahmen die Landarmenverbände die Unterstützung. Für strittige Fälle schuf das Gesetz das ›Bundesamt für das Heimatswesen‹ mit Sitz in Berlin.146 Art und Maß der Unterstützung sowie die Regelung des entsprechenden Verfahrens oblagen jedoch weiterhin der jeweiligen Landesgesetzgebung. Grundsätzlich war mit diesem Gesetz jedoch der Anfang vom Ende des Heimatprinzips gekommen.147

|| 143 Reidegeld, Armenpflege, S. 270. Der Gesetzestext ist abgedruckt in: Huber (Hg.), Dokumente, Bd. 2, S. 240–242. 144 Hierzu und zum Folgenden: Reidegeld, Armenpflege, S. 271–275; ders., Bürgerschaftsregelungen, S. 252–256. 145 Auch dieses Gesetz wurde in unmittelbarem Zusammenhang mit einer gesetzlichen Regelung der Staatsangehörigkeit erlassen, nämlich dem Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.6.1870. Dies macht wiederum deutlich, wie eng die Liberalisierung nach innen mit einer Grenzziehung nach außen verknüpft war. 146 Zu den Regelungen im Einzelnen vgl. Reidegeld, Armenpflege, S. 274f. 147 Reidegeld, Bürgerschaftsregelungen, S. 248.

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Das erwies sich ein weiteres Mal bei der Gründung des Deutschen Reiches 1870. Zwar wurde das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz nicht umstandslos für alle Einzelstaaten des neuen Reiches übernommen, wie es für das Freizügigkeitsgesetz der Fall war. Württemberg, Baden, Elsass-Lothringen und Bayern durften vorerst ihre eigenen heimatgesetzlichen Regelungen behalten. Während Württemberg und Baden jedoch bereits zum 1. Januar 1873 das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz übernahmen, beharrten Elsass-Lothringen und Bayern noch lange auf ihrer Sonderstellung in Sachen Heimatrecht. Erst 1910 beziehungsweise 1913 wurden die Elsass-Lothringer und Bayern Inländer im Sinne des Unterstützungswohnsitzes, fielen also die letzten Beschränkungen der Freizügigkeit innerhalb des Deutschen Reiches. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch die Hochindustrialisierung längst das Gesicht des Deutschen Reiches radikal verändert und waren die interregionalen Arbeitswanderungen zur »größten Massenbewegung der deutschen Geschichte« angeschwollen.148

|| 148 Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1880–1970, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 9–50, hier S. 20.

Uwe Plaß

Überseeische Massenmigration zwischen politischem Desinteresse und Staatsintervention In Deutschland – während des ›langen 19. Jahrhunderts‹ also im Wesentlichen der Deutsche Bund beziehungsweise das Deutsche Reich – lag die Zuständigkeit im Kontext der überseeischen Migration zum größten Teil bei den Einzelstaaten. Bis zum Reichsauswanderungsgesetz von 1897 bestimmten diese, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen der Fortzug aus ihrem Staatsgebiet erlaubt war. Auf der Ebene des Deutschen Bundes bestanden ausschließlich Maßgaben hinsichtlich der Migration zwischen den Mitgliedstaaten. Nur für den kurzen Moment der Revolution von 1848/49 wurden gesamtdeutsche Regelungen erdacht, die aber aufgrund des Scheiterns der revolutionären Bewegung nicht zur Umsetzung kamen. Die Impulse, die von dort etwa bezüglich einer staatlichen Fürsorge gegenüber Auswanderern ausgingen, wirkten jedoch nach und schlugen sich in der politischen Haltung und in der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten nieder. Für den Blick auf das Verhältnis von überseeischer Migration und Staat ist mithin im Deutschland des 19. Jahrhunderts die einzelstaatliche Ebene maßgeblich. Hinzu kommt, dass sich die Einzelstaaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit der Auswanderung konfrontiert sahen, weil sich die Herkunftsräume der transatlantischen Migration im Laufe der Jahrzehnte verschoben. Die süddeutschen Staaten wie etwa Baden und Württemberg machten den Anfang. Sie mussten bereits zu einem Zeitpunkt reagieren, als die Obrigkeiten beispielsweise im Norden des Deutschen Bundes noch keinen oder nur wenig Handlungsbedarf sahen.1 Daneben spielten auch grundsätzliche Erwägungen über die Rolle des Staates und die Gewährung von Freiheitsrechten gegenüber der Bevölkerung eine Rolle bei der Aushandlung und Ausgestaltung auswanderungspolitischer Maßnahmen. Die liberalen süddeutschen Staaten standen der Auswanderung weit aufgeschlossener gegenüber als beispielsweise Preußen. Ebenso zeigten sich stark agrarisch geprägte Staaten wie Hannover deutlich eher als früh industrialisierte Länder geneigt, die Auswanderung zumindest wohlwollend zu akzeptieren. Ohnehin waren die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie die damit verbundenen staatlichen Ziele im Deutschland des 19. Jahrhunderts höchst unterschiedlich. Neben den Großmächten Österreich und Preußen, die selbst innerhalb ihres Staatsgebietes ländliche und städtisch-industrielle Regionen aufwiesen – mit ihrer|| 1 Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Deutschland, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/ Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010, S. 141–170, hier S. 148.

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seits hohen oder niedrigen Auswanderungsquoten – waren es die vielen Mittel- und Kleinstaaten, die je spezifische, höchst divergierende politische und administrative Positionen zur transatlantischen Migration einnahmen. Hinzu traten noch die Stadtstaaten Bremen und Hamburg als migratorische ›Umschlagplätze‹, die unbestreitbar Profiteure der Massenmigration waren und Regelungen finden mussten, um die wirtschaftliche Bedeutung des Transits nicht zu schmälern. Der einzelstaatlichen Dominanz in Auswanderungsangelegenheiten soll im Folgenden Rechnung getragen werden. Aufgrund der zahlreichen Forschungsbeiträge kann jedoch nur eine Auswahl berücksichtigt werden, die aber zentrale staatliche Positionierungen gegenüber der überseeischen Massenmigration repräsentiert. Preußen und Hannover nehmen hierbei breiten Raum ein. Der Hohenzollernmonarchie kommt schon aufgrund ihrer Größe und Bedeutung für die politische Entwicklung in Deutschland ein besonderes Gewicht zu. Hannover eignet sich aufgrund der zahlreichen Veröffentlichungen gerade in Bezug auf die Hintergründe der Auswanderung für eine exemplarische Darstellung. Neben dem Verlauf und den Hintergründen der Massenwanderung stehen zunächst die staatlichen Maßnahmen im Vorfeld der Revolution von 1848/49 im Mittelpunkt. Bis zur Mitte des Jahrhunderts dominierten insbesondere die Aufnahme eines Rechts auf Auswanderungsfreiheit in die Verfassungen sowie das Verhältnis zur Militärpflicht die politische Diskussion. Daneben betätigten sich einige Staaten an der ›Exilierung‹ missliebiger Untertanen sowie der Planung von Ansiedlungsvorhaben in Übersee. Das Paulskirchenparlament stellte zwar keinen Wendepunkt, aber doch eine wichtige Wegmarke in der Entwicklung staatlicher Intervention in Auswanderungsfragen dar. Diese wirkte nach bis zur endgültigen Verlagerung der Migrationspolitik auf die nationalstaatliche Ebene.

1 Dimension, Verlauf und Hintergründe der überseeischen Massenabwanderung im 19. Jahrhundert Die starke transatlantische Migration aus Deutschland setzte Anfang des 19. Jahrhunderts ein.2 Zwischen 1816 und 1914 wanderten etwa 6 Millionen Deutsche aus, wobei 90 Prozent die Vereinigten Staaten von Amerika erreichten.3 Drei Hochpha|| 2 Thomas Raithel, »Kommt bald nach…« – Auswanderung aus Bayern nach Amerika 1683–2003, in: Margot Hamm/Michael Henker/Evamaria Brockhoff (Hg.), Good bye Bayern – Grüß Gott Amerika, Augsburg 2004, S. 23–36, hier S. 23. 3 Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Zwischen Aus- und Einwanderungsland: Deutschland und die Migration seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 28. 2003,

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sen überseeischer Massenabwanderung mit jeweils mehr als einer Million Menschen lassen sich ausmachen: die Jahre 1846–1857, 1864–1873 und 1880–1893. Die erste dieser Phasen wird eingerahmt von der mitteleuropäischen Agrar- und Gewerbekrise 1846/47 und der ›ersten Weltwirtschaftskrise‹ 1857–1859, die von den USA ausging. Etwa 1,3 Millionen Menschen verließen in diesen rund zehn Jahren Deutschland.4 Auch während der zweiten Auswanderungsspitze trieben wiederum Faktoren beiderseits des Atlantiks die Emigration in die Höhe. Der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 hatte zunächst viele Auswanderungsvorhaben blockiert. Dieser Stau brach sich noch vor dem Ende des Krieges Bahn, als in Deutschland selbst die Einigungskriege begannen. Der Beginn der ›Großen Depression‹ ab 1873, die die Wirtschaft beiderseits des Atlantiks in eine schwere Krise stürzte, ließ die Auswandererzahlen erneut stark sinken. Obwohl die ökonomischen Voraussetzungen für eine verstärkte Abwanderung in Deutschland gegeben waren, blieb sie in dieser Phase aus, da auch die Verhältnisse im Hauptzielland der deutschen Emigranten potenzielle Auswanderer abschreckten. Die ebenfalls wirtschaftlich krisengeschüttelten Vereinigten Staaten bildeten zu dieser Zeit keinen geeigneten Ort für einen Neuanfang.5 Ab 1880 setzte die Phase mit der stärksten Abwanderung ein (siehe Schaubild), in der bis 1893 etwa 1,8 Millionen Deutsche Europa verließen. Die sich erholende Wirtschaft bedingte, dass zu Krisenzeiten zurückgestellte Auswanderungsvorhaben nachgeholt wurden. Das Abflauen der Auswanderung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging einher mit dem Erstarken der deutschen Industrie und des Agrarsektors.6 Auch wenn die Motive, die den Entschluss des Einzelnen zum Fortzug bedingten, von Fall zu Fall divergierten, lässt sich doch eine wesentliche Triebfeder isolieren. Nicht politische oder religiöse Gründe waren ursächlich für einen derartigen Exodus, sondern vorrangig sozioökonomische Krisenlagen, die vor allem die ländliche Bevölkerung betrafen.7 Zwar stellten auch vornehmlich politisch motivierte Abwanderungen wie die der ›48er‹ ein wichtiges Moment der überseeischen Bewegung dar, quantitativ waren sie jedoch von geringem Gewicht. Auch von staatlicher Seite richtete sich daher das Hauptaugenmerk schon früh auf die ländlichen Unterschichten.

|| S. 263–306, hier S. 270; vgl. auch Friedrich Burgdörfer, Die Wanderungen über die Deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, 1. Fortsetzung, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 20. 1930, S. 383–419; Raithel, »Kommt bald nach«, S. 25. 4 Bade/Oltmer, Zwischen Aus- und Einwanderungsland, S. 268–272; Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980, Berlin 1983, S. 17–23; Raithel, »Kommt bald nach«, S. 25–28. 5 Bade/Oltmer, Zwischen Aus- und Einwanderungsland. 6 Ebd., S. 268–272; Bade, Vom Auswanderungsland, S. 17–23; Raithel, »Kommt bald nach«, S. 26f. 7 Peter Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung, Stuttgart 1973, S. 56.

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Schaubild: Zahl der deutschen Übersee-Migrantinnen und -Migranten 1830–1900. Datenquelle: Friedrich Burgdörfer, Die Wanderungen über die deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 20. 1930, S. 161–196, 383–419, 536–551, hier S. 189, 192.

»Das Missverhältnis im Wachstum von Bevölkerung und Erwerbsangebot in der Übergangskrise von der Agrar- zur Industriegesellschaft«8 lieferte den Nährboden für das millionenfache Verlassen der Heimat. Neben Missernten und Hungersnöten insbesondere in den 1840er Jahren war es in erster Linie das Bevölkerungswachstum, das die strukturellen Probleme der vor- und frühindustriellen Gesellschaft offen zutage treten ließ. Gerade die klein- und unterbäuerlichen Schichten, deren Umfang immer weiter wuchs, waren von dieser Entwicklung betroffen.9 Erwerbsalternativen gab es kaum. Auch die fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten in der ländlichen Gesellschaft wirkten fördernd auf den Schritt zur Auswanderung. Angehörige der klein- und unterbäuerlichen Schichten besaßen ebenso wie nachgeborene Bauernkinder nur geringe Chancen – etwa durch Einheirat – auf eine vollbäuerliche Existenz.10 Die Vereinigten Staaten schienen demgegenüber Perspektiven einer Verbesserung der Situation zu bieten. Ebenso wie die Intensität der transatlantischen Migration starken Schwankungen unterworfen war, divergierten auch die Hauptherkunftsgebiete der Auswanderer. Den Anfang machten die südwestdeutschen Staaten. Bildeten zunächst Badener, Württemberger und Pfälzer die zahlenmäßig größte Gruppe unter den deutschen Auswanderern, traten nach 1830 auch hessische Migranten hinzu. Die frühe Bewegung aus diesen Gebieten gründete sich entscheidend auf der Zersplitte|| 8 Bade/Oltmer, Zwischen Aus- und Einwanderungsland, S. 270. 9 Walter D. Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt. Eine Sozialgeschichte der Auswanderung im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 49. 10 Marschalck, Überseewanderung, S. 55f.

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rung der Höfe als Ergebnis der Realerbteilungen. Eine existenzsichernde Bewirtschaftung war angesichts der kleinen Besitzungen kaum möglich.11 Bevor gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Nordosten des Deutschen Reichs zu einem weiteren Zentrum der transatlantischen Massenmigration wurde, hatte sich in den 1840er Jahren Nordwestdeutschland zu einem wichtigen Herkunftsraum der deutschen Auswanderer entwickelt.12 Hier handelte es sich bei den Auswanderern meist um Heuerlinge, also landwirtschaftliche Pächter. Etwa sieben Prozent der deutschen Einwanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika stammten in den 1830er Jahren aus dem Landdrosteibezirk Osnabrück, obwohl dessen Einwohnerschaft weniger als ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands ausmachte.13 Anhand des Falls der Heuerleute lässt sich die Situation der deutschen kleinund unterbäuerlichen Schichten exemplarisch aufzeigen. Durch das Hinzukommen nicht erbberechtigter Nachkommen aus dem Bauernstand (›Abstiegsmobilität‹)14 und durch die eigene demographische Progression wuchs die Heuerlingsschicht zur größten sozialen Gruppe im ländlichen nordwestdeutschen Raum an. In einigen Gebieten erreichte sie um 1850 einen Anteil von über 70 Prozent der Gesamtbevölkerung.15 Diese Entwicklung bewirkte einen relativen ›Bevölkerungsdruck‹ insofern, als immer mehr Menschen auf immer weniger beziehungsweise immer kleineren Pachtgrundstücken wirtschaften mussten. Das daraus resultierende ›Überangebot‹ an Heuerleuten verschlechterte massiv die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für die Pächter; nicht nur durch das Zusammenschrumpfen des Umfangs der Pachtgründe auf ein Minimum. Die Landbesitzer konnten ihren Pächtern auch drückende Vertragsbedingungen aufzwingen, da es immer Menschen gab, die auch ein Leben am Rande des Existenzminimums in zum Teil winzigen Behausungen (›Kotten‹) akzeptierten, um überhaupt ihren Unterhalt bestreiten zu können. Zahlreiche Berichte aus dieser Zeit schildern die extreme Verelendung der unterbäuerlichen Bevölkerung.16 Das Heuerlingswesen, das seinen Anfang als Reservoir zur Absicherung eines Überschusses der bäuerlichen Schicht genommen hatte, bedurfte || 11 Bade/Oltmer, Zwischen Aus- und Einwanderungsland, S. 270f. 12 Ebd. 13 Kamphoefner, Westfalen, S. 25–27. 14 Franz Bölsker-Schlicht, Sozialgeschichte des ländlichen Raumes im ehemaligen Regierungsbezirk Osnabrück im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Heuerlingswesens und einzelner Nebengewerbe, in: Westfälische Forschungen, 40. 1990, S. 223–250, hier S. 230. 15 Ebd. 16 Peter Marschalck, Bevölkerung und Sozialstruktur, in: Von Heuerleuten und Farmern. Die Auswanderung aus dem Osnabrücker Land nach Nordamerika im 19. Jahrhundert, hg.v. Landschaftsverband Osnabrücker Land, Bramsche 1999, S. 53–84, hier S. 19–23; Karl Kiel, Gründe und Folgen der Auswanderung aus dem Osnabrücker Regierungsbezirk insbesondere nach den Vereinigten Staaten, im Lichte der hannoverschen Auswanderungspolitik betrachtet (1823–1866), in: Osnabrücker Mitteilungen, 61. 1941, S. 85–176, hier S. 98–101.

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seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend selbst einer Möglichkeit, den eigenen relativen ›Bevölkerungsdruck‹ zu vermindern. Anhand der Auswandererlisten lässt sich ablesen, dass etwa 80 Prozent der Übersee-Migranten dem erweiterten – das heißt unter Einbeziehung der Kleinbauern – Heuerlingsstand entstammten.17

2 Kritisches Desinteresse und direkte Förderung: deutsche Einzelstaaten und Auswanderung bis zur Revolution von 1848/49 Die Obrigkeiten in den deutschen Staaten neigten bis Anfang des 19. Jahrhunderts dazu, den Weggang von Untertanen generell zu bekämpfen. Um die Bevölkerung im Land zu halten, wurden zahlreiche Verbote ausgesprochen und Barrieren errichtet, wie beispielsweise Abzugsgelder, Werbeverbote oder direkte Auswanderungsverbote.18 Auch wenn es graduelle Unterschiede in der Haltung der Länder gab, so bedeuteten die liberalen Strömungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich unter anderem in den Verfassungen vieler deutscher Territorien widerspiegelten, eine Abkehr von diesem rigiden Kurs.19

2.1 Die verfassungsmäßige Auswanderungsfreiheit: rechtlicher Rahmen und Praxis Die Bundesakte des Deutschen Bundes vom 8. Juni 1815 bildete eine neue verfassungsmäßige Grundlage. Dies hatte auch Bedeutung für die Frage der Auswanderungsfreiheit. In Artikel 18b wird die »Befugnis 1. Des freyen Wegziehens aus einem deutschen Bundesstaat in den andern, der erweißlich sie zu Unterthanen annehmen will«, festgeschrieben, womit die Wanderung zwischen den Einzelstaaten legitimiert wurde.20 Die Bestimmungen der Bundesakte bildeten eine Aufforderung an die

|| 17 Bölsker-Schlicht, Sozialgeschichte, S. 245f.; Kamphoefner, Westfalen, S. 55. 18 Wolfgang von Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 135; Ingrid Schöberl, Auswanderungspolitik in Deutschland und Einwanderungspolitik in den Vereinigten Staaten, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 32. 1982, S. 324–329, hier S. 324. 19 Peter Assion, Von Hessen in die Neue Welt. Eine Sozial- und Kulturgeschichte der hessischen Amerikaauswanderung mit Text- und Bilddokumenten, Frankfurt a.M. 1987, S. 48. 20 Cornelia Pohlmann, Die Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig im Kräftespiel staatlicher Einflußnahme und öffentlicher Resonanz 1720–1897, Stuttgart 2002, S. 79; Cornelia Wilhelm, Auswanderung aus Bayern und Einwanderung in Nordamerika im Spiegel der Gesetze, 1683–2003,

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Einzelstaaten, diese in ihren jeweiligen Verfassungen zu ratifizieren. Darüber hinaus blieb die Art und Weise der Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen.21 In Preußen beispielsweise wurde das Recht zum dauerhaften Verlassen des Landes ab 1818 an eine Genehmigung der Regierung geknüpft, die gewährt werden sollte, falls keine Gründe gegen die Auswanderung sprachen.22 Eine Konkretisierung der Gewährungskriterien brachte das Gesetz vom 31. Dezember 1842.23 Danach musste Nicht-Militärpflichtigen in Friedenszeiten die Entlassung aus dem Untertanenverband gewährt werden. Die Implementierung dieser Regelung, wie auch anderer Bundesbeschlüsse, war außerordentlich unterschiedlich. »Von einer Auswanderungspolitik der deutschen Regierungen vor 1848 lässt sich nur cum grano salis sprechen«, fasste Georg Smolka bereits in den 1950er Jahren die Situation zusammen.24 Zu demselben Schluss kommt auch Wolfgang von Hippel in Bezug auf die württembergische Auswanderung. Die Verfassung des südwestdeutschen Königreichs sah sogar eine grundsätzliche Wanderungsfreiheit vor, nicht nur innerhalb des Bundes. Weitergehende – aktive – Maßnahmen zur Gestaltung oder Rahmung der Auswanderung von Seiten des Staates blieben jedoch aus.25 Auf der legislativen Ebene entwickelte das Königreich Bayern eine restriktive Linie in der Auswanderungsfrage. Nolens volens wurde auch dort die Abwanderung in andere deutsche Staaten gestattet. Über die Bestimmungen der Bundesakte ging die Wittelsbachermonarchie allerdings nicht hinaus: Einige der Wanderungsbeschränkungen bewegten sich dabei noch in dem Rahmen, den alle deutschen Staaten gesteckt hatten. Das Auswanderungsverbot für Beamte war ebenso wenig ungewöhnlich wie jenes für Personen, gegen die polizeilich ermittelt wurde. Das galt auch für die Verweigerung einer Genehmigung der Auswanderung eines Unter-

|| in: Hamm/Henker/Brockhoff (Hg.), Good bye Bayern, S. 37–42, hier S. 39; vgl. dazu auch Schöberl, Auswanderungspolitik, S. 324. 21 Pohlmann, Die Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig, S. 78. 22 Leidig, Die preußische Auswanderungspolitik, in: Eugen von Philippovich (Hg.), Auswanderung und Auswanderungspolitik in Deutschland. Berichte über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des Auswanderungswesens in den Einzelstaaten und im Reich, Leipzig 1892, S. 433–479, hier S. 436. 23 Ebd. 24 Georg Smolka, Die Auswanderung als politisches Problem in der Ära des Deutschen Bundes (1815–1866), 2. Aufl. Speyer 1995, S. 149. Die Habilitationsschrift von Georg Smolka, die 1993 posthum veröffentlicht wurde, wird in der Forschungsliteratur kaum gewürdigt, obwohl hier erstmals aus der gesamtdeutschen Perspektive die Auswanderung des 19. Jahrhunderts beleuchtet wird. Das gilt auch für den Meinungsstreit über eine geplante Auswanderungspolitik im Zuge der Revolution von 1848/49, den später der grundlegende Aufsatz von Hans Fenske, Die deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts – öffentliche Meinung und amtliche Politik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 24. 1973, S. 221–236 thematisierte. 25 Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 134f.

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tanen, der noch offene Verpflichtungen hatte – besonders gegenüber dem Staat hinsichtlich der Militärpflicht, aber auch als Schuldner gegenüber privaten Gläubigern.26 Anders als andere Staaten verbot Bayern allerdings die transatlantische Abwanderung weiterhin ganz.27 Die bayerischen Verhältnisse zeigen zugleich die Notwendigkeit, auch für die Auswanderungspolitik zwischen Normen einerseits und Handeln von Staat und Behörden andererseits zu unterscheiden. Das Verbot der Auswanderung über die deutschen Staaten hinaus fand in der Praxis so keine Anwendung. Anders wäre auch die Zahl von knapp einer halben Million legaler bayerischer Auswanderer nach Nordamerika im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht zu erklären. Wie im gesamten Deutschen Bund wurden auch in Bayern schon früh die positiven Aspekte eines Bevölkerungsabflusses – gerade im Bezug auf die Armen – gesehen. Daraus resultierte, dass Ausnahmen und Dispense von der geltenden Rechtsnorm durchaus gängige Praxis waren.28 In Hannover mussten Personen, die eine Erlaubnis für ihre dauerhafte Auswanderung beantragten, ab 1846 ihr Anliegen mindestens vier Wochen vor der Abreise öffentlich (zum Beispiel in Zeitungsanzeigen, durch Ausrufer, durch Abkündigungen in der Kirche) ankündigen. Erst wenn diese Frist verstrichen oder ein Bürge gestellt war, durfte der amtliche Konsens erteilt werden.29 Auf diese Weise sollten potenzielle Gläubiger noch ausstehende Forderungen geltend machen können. Geht man davon aus, dass Gesetze und Regelungen häufig Reaktionen auf bestehende Missstände sind, scheint es nicht selten Fälle gegeben zu haben, in denen Menschen die Auswanderung nutzten, um sich bestehender Verpflichtungen zu entziehen.30

2.2 Militärpflicht als Haupthinderungsgrund Militärischen Belangen galt im Kontext der Genehmigung einer Auswanderung besonderes Augenmerk, stellte doch eine funktionierende Armee einen Grundpfeiler staatlicher Souveränität dar. Militärpflichtige unterlagen deshalb grundsätzlich Sonderbestimmungen in Bezug auf Auswanderung. Sie war ihnen zwar nicht generell untersagt, erforderte aber die Erlaubnis der zuständigen Militärbehörde.31 Den || 26 Vgl. Pohlmann, Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig, S. 99–104. 27 Wilhelm, Auswanderung aus Bayern, S. 39. 28 Ebd. 29 Kiel, Gründe, S. 147. 30 Ebd.; Anne-Katrin Henkel, »Ein besseres Loos zu erringen, als das bisherige war«. Ursachen, Verlauf und Folgewirkungen der hannoverschen Auswanderungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert, Hameln 1996, S. 185; Antonius Holtmann, Auswanderungs- und Übersiedelungspolitik im Königreich Hannover 1832–1866, in: Schöne Neue Welt. Rheinländer erobern Amerika, hg.v. Landschaftsverband Rheinland, Aufsatzteil, Kommern 2001, S. 190–214, hier S. 191. 31 Assion, Hessen, S. 47.

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Behörden war jedoch das Dilemma vieler Auswandererfamilien durchaus bewusst: Für einen erfolgreichen Neustart in der ›Neuen Welt‹ war die Arbeitsleistung aller Familienmitglieder unerlässlich; junge, arbeitsfähige Männer konnten dabei nicht entbehrt werden. Die negative Entscheidung der Militärbehörde gefährdete also das Auswanderungsvorhaben einer ganzen Familie. Als Konstante lässt sich für alle Bundesstaaten festhalten, dass das Ableisten der Militärpflicht den Hauptgrund bildete, Auswanderungserlaubnisse zu verweigern. In Friedenszeiten konnte jedoch einem Militärpflichtigen der Militärdienst erlassen werden. Für gewöhnlich lag der Bedarf an Rekruten ohnehin unterhalb der Zahl verfügbarer Militärpflichtiger. Im Königreich Hannover, wo die Auswanderungsfreiheit seit 1833 verfassungsmäßig garantiert war, stellte sich die Situation wie folgt dar: »Jedem LandesEinwohner steht das Recht zu, unter Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Militairpflicht auszuwandern.«32 Einen Auswanderungskonsens benötigten dienstpflichtige junge Männer, wenn sie ohne ihre Eltern das Land verlassen wollten, falls sie nicht ohnehin bereits dienstuntauglich oder aus anderen Gründen befreit waren. Die Erteilung eines Konsenses an diejenigen, die das militärpflichtige Alter noch nicht erreicht hatten, knüpfte die hannoversche Obrigkeit an diffuse Bedingungen, und es oblag dem lokalen Amtmann zu beurteilen, ob diese erfüllt waren. »Wenn der begründete Verdacht beabsichtigter Umgehung der Militairpflicht«33 vorlag, durfte die Erlaubnis nicht erteilt werden. Wollte jemand auswandern, um anderswo ein neues Leben zu beginnen, sollte der Militärdienst dem nicht grundsätzlich im Wege stehen. Jeder Auswanderungswillige musste aber nachweisen – oder es musste wenigstens wahrscheinlich sein –, dass er in seinem Zielland »sein Fortkommen finden werde.«34 Die Bestimmungen für bereits im dienstpflichtigen Alter befindliche Personen stellten sich als ebenfalls nahezu beliebig interpretierbar dar. Die Ausstellung eines Konsenses und die damit verbundene Auswanderung durfte nicht zu einer Benachteiligung anderer Militärpflichtiger führen. Die Entscheidung darüber oblag in diesen Fällen den höheren Verwaltungsbehörden, weitere Bemessungskriterien wurden jedoch auch dazu nicht formuliert. Diese Auswanderungsbeschränkungen oder besser -einschränkungen sahen also für keinen Fall ein grundsätzliches Verbot zum Weggang ins Ausland vor. Die zuständigen Behörden konnten im Einzelfall entscheiden, ob ein Konsens erteilt werden sollte oder nicht. Die Beurteilung beispielsweise darüber, ob jemand in der ›Neuen Welt‹ ein besseres Leben finden wür|| 32 Grundgesetz des Königreichs Hannover vom 26.9.1833, in: Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für das Königreich Hannover vom Jahre 1833, S. 286–330, hier S. 296, § 41; vgl. auch Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 150: Auch die geänderte Verfassung von 1840 bestätigte die Auswanderungsfreiheit. 33 C. Jacobi, Für Gemeindebeamte des Königreichs Hannover. Anleitung zum Verständnis ihres Berufs, 3. Aufl. Osnabrück 1854, S. 25. 34 Ebd.

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de, war für einen lokalen Beamten selbst beim besten Willen nicht sachgerecht möglich. Auch wenn vor der Entscheidung »eine sorgfältige Ermittelung der Verhältnisse«35 vorgeschrieben war, stand am Ende die subjektive Wahrnehmung des zuständigen Beamten. Jenen Militärpflichtigen, denen der Fortzug versagt wurde, blieb als relativ sichere Möglichkeit zur Erlangung eines Konsenses die Stellung eines Stellvertreters.36 Da solche Stellvertreter sich allerdings das Eintreten in den Militärdienst anstelle eines anderen von diesem finanziell honorieren ließen, stand diese Option nur Personen offen, die über das nötige Geld verfügten. Diese Regelung verdeutlicht, worum es dem hannoverschen Staat letztlich ging. Die Freizügigkeit galt für alle, auch für Militärpflichtige; lediglich die Sollstärke – damit verbunden die Einsatzbereitschaft – des Heeres galt es zu wahren. Ein Stellvertreter, der für seine Bereitschaft einen Obolus erhalten hatte und somit freiwillig seinen Dienst an der Waffe leistete, entsprach dem staatlichen Interesse sogar eher als ein gezwungenermaßen seinen Dienst verrichtender Auswanderungswilliger. Angesichts eines großen Reservoirs an Wehrfähigen, das die benötigte Zahl an Rekruten überstieg37, waren die staatlichen Stellen auch bereit, Militärpflichtigen den Fortzug zu bewilligen, »um den Abbau der überschüssigen Landbevölkerung nicht zu behindern.«38 Die Bestimmungen zur Behandlung Militärpflichtiger implizierten allerdings auch einen weiteren Aspekt hannoverscher Auswanderungsprinzipien. Die Freizügigkeit sollte nicht dazu führen, dass Emigranten, die im Ausland gescheitert waren, völlig mittellos in ihre Heimat zurückkehrten und dort den Armenkassen zur Last fielen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die bereits erwähnte Prognose über das wahrscheinliche ›Fortkommen‹ der Antragsteller erklären, die das zuständige Amt erstellen sollte. In Preußen sah die Situation ganz ähnlich aus. Besonderen Vorschriften unterlagen wie in den übrigen Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes Militärangehörige inklusive Reservisten sowie Beamte, die ohne eine Erlaubnis ihrer vorgesetzten Dienststelle nicht auswandern durften. Männer im militärpflichtigen Alter von 17 bis 25 Jahren benötigten eine Bestätigung der zuständigen Ersatzkommission, wonach die Motivation für das Anliegen nicht lediglich darin bestand, sich dem Militärdienst zu entziehen.39

|| 35 Ebd. 36 Annemieke Galema/Antonius Holtmann, Aus den nördlichen Niederlanden und dem deutschen Nordwesten nach Nordamerika. Motive und Reiseerfahrungen der Auswanderer im 19. Jahrhundert, in: Rund um Ems und Dollart. Historische Erkundungen im Grenzgebiet der Nordostniederlande und Nordwestdeutschlands, Groningen/Leer 1992, S. 433–449, hier S. 443. 37 Kiel, Gründe, S. 136. 38 Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 153. 39 Ebd.

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2.3 Staatliche Exilierungen und kommunale Auswanderungsförderung Einige Staaten des Deutschen Bundes nutzten die überseeische Massenmigration, um unliebsame Einwohner auf Staats- oder Gemeindekosten über den Atlantik zu schaffen. Das galt vor allem für das Königreich Hannover und das Großherzogtum Hessen. Die Betroffenen waren aus ganz verschiedenen Gründen in ihrer Heimat von der Gesellschaft ausgegrenzt worden. Diese ›unerwünschten Personen‹ unterteilt Günter Moltmann folgendermaßen: »Drei spezifische Gruppen waren es vor allem, deren Abzug den Zurückbleibenden als soziale Entlastung erschien und deshalb tunlichst gefördert wurde: (1) Pauper, das heißt verarmte Bevölkerungselemente, die nicht in der Lage waren, ihre eigene Existenz zu sichern und deshalb der Armenfürsorge zur Last fielen; (2) politische Revolutionäre, Unruhestifter und Agitatoren, die das Potential für innere Krisen und unerwünschte Umstürze bildeten; (3) Kriminelle, die sich kleinere oder größere Straftaten hatten zuschulden kommen lassen und in Korrektionsanstalten untergebracht werden mussten.«40

Die sogenannte ›Exilierung‹ war demzufolge für Vaganten und Kriminelle – beziehungsweise für diejenigen, die als solche erachtet wurden – bestimmt. Die Beihilfe zur Auswanderung wurde nur unter der Bedingung gewährt, dass diese Personen nie wieder in ihr Heimatland zurückkehren durften; bei Zuwiderhandlung drohte Inhaftierung. In den zahlreichen dokumentierten Fällen lässt sich ein sehr differenziertes Bild der »umherschweifenden« beziehungsweise der für die »öffentliche Sicherheit gefährlichen« Menschen ablesen. Die Palette reichte von verurteilten Straftätern über solche, die als Vagabunden gegen die Domizilordnung verstießen, bis hin zu jenen, die völlig mittel- und perspektivlos der Armenkasse zur Last fielen. Hinzu traten politisch unliebsame Einwohner.41 In der Literatur ist die ›Exilierung‹ häufig negativ bewertet worden. Ulrich Klemke beispielsweise bezeichnet es als »verhüllte Ausweisung«42, Karl Kiel als »Zwangsauswanderung«.43 Diese Deutung greift jedoch zu kurz, impliziert sie doch eine reine Strafaktion des Staates zu Lasten der Betroffenen. Der Wunsch der betreffenden Personen zur Auswanderung bildete aber eine Bedingung für die sogenannte ›Transportation‹; andernfalls hätte es sich um eine rechtswidrige Deportation gehandelt. Den ›Exilierten‹ war meist durchaus bewusst, dass ihnen in ihrer Heimat

|| 40 Günter Moltmann, Die Transportation von Sträflingen im Rahmen der deutschen Amerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge, Stuttgart 1976, S. 147–196, hier S. 148. 41 Ulrich Klemke, »Eine Anzahl überflüssiger Menschen«. Die Exilierung politischer Straftäter nach Übersee: Vormärz und Revolution 1848/49, Frankfurt a.M. 1994. 42 Ebd., S. 158. 43 Kiel, Gründe, S. 139.

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– schon aufgrund der geringen sozialen Mobilität, gerade im ländlichen Raum – weiterhin ein Leben zwischen Armen- und Zuchthaus bevorstand, weswegen die Alternative, in Amerika einen Neuanfang zu versuchen, durchaus nicht nur als obrigkeitliche Strafmaßnahme verstanden werden darf.44 Bereits 1832 hatte das hannoversche Innenministerium beispielsweise der Landdrostei Osnabrück mitgeteilt, dass »die Auswanderung der erwerbslos gewordenen Unterthanen nicht beschränkt werden dürfe.«45 Darüber hinaus gingen die hannoverschen Behörden auch dazu über, direkt den Fortzug unerwünschter Personen zu fördern und zu finanzieren. Antonius Holtmann schätzt, dass von 1832 an ca. 3.000 Untertanen aus Hannover nach Amerika ›exiliert‹ wurden.46 Gerade Menschen ohne festen Wohnsitz, die gegen die Domizilordnung verstießen, stellten für den Staat und die Gemeinden eine permanente Herausforderung dar. Nach dem Absitzen einer deswegen ausgesprochenen Strafe in Gefängnissen oder Arbeitshäusern gingen sie oft erneut ihrem vorherigen Lebenswandel nach und wurden deswegen über kurz oder lang wieder von den Polizeibehörden aufgegriffen. Sie hatten trotz der drohenden Strafen keine andere Wahl, als ihren Lebensunterhalt auf gesetzwidrige Weise zu bestreiten. Vor diesem Hintergrund schien die geförderte Übersiedlung die Interessen beider Seiten zu befriedigen: Während sich die betroffenen Gemeinwesen unerwünschter Personen entledigen konnten, blieb den Fortgeschickten die Hoffnung, in der ›Neuen Welt‹ ein besseres Auskommen zu finden. Einige der Betroffenen hatten sogar den Polizeibehörden angeboten, im Falle der Übersiedlung nach Amerika auf Staats- beziehungsweise Gemeindekosten ihrer Heimat für immer den Rücken zu kehren. Im Gegenzug forderten die potenziellen Auswanderer dann den Verzicht auf eine Gefängnisstrafe.47 In vielen Fällen gingen die Obrigkeiten auf derartige Angebote ein, die öffentliche Hand trug dann die Kosten für den Transport zum Hafen, den Aufenthalt in der Hafenstadt, die Schiffspassage und die ersten Tage in Nordamerika. Eine ganz ähnliche Sachlage ergab sich bei verurteilten Häftlingen, die sich bereits in Strafanstalten befanden. Der entscheidende Unterschied bestand in diesem Fall in der Art der Finanzierung: Bei Strafgefangenen beteiligte sich der Staat maßgeblich, während zum Beispiel bei Armen, kleinerer Straftaten Überführten und Ex-Häftlingen im Allgemeinen die jeweilige Heimatgemeinde, denen diese ja auch in erster Linie zur Last fielen, für die Übersiedlungskosten aufkam. Entscheidend für Verhandlungen zwischen Amt und Landdrostei auf der einen und Gemeinden beziehungsweise Kirchspielen auf der anderen Seite war die Frage nach dem Ausmaß der Gefährdung der Sicherheit durch

|| 44 Ebd., S. 185. 45 Holtmann, Auswanderungs- und Übersiedelungspolitik, S. 191. 46 Ebd., S. 194. Holtmann liefert in seinem Aufsatz zahlreiche Beispiele für Exilierungen. 47 Staatsarchiv Osnabrück (StAOs) Rep 350 Grö Nr. 99, S. 3.

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die zur Übersiedlung vorgesehenen Personen. Es erscheint daher auch plausibel, dass bei zu mehrjährigen Haftstrafen Verurteilten die Bereitschaft der Behörden, einen Anteil der Kosten zu übernehmen, höher lag als bei anderen Personengruppen.48 Die staatlich geförderte Übersiedlung machte naturgemäß nur einen winzigen Teil der Gesamtauswanderung aus.49 Hinsichtlich des damit verbundenen bürokratischen Aufwands und der beteiligten Institutionen beziehungsweise Gremien nahm sie jedoch eine Sonderstellung ein. Neben diesem quantitativen Aspekt zeigten sich in der Position der verschiedenen Akteure gravierende Abweichungen von dem Normalfall der Gewährung von Auswanderungskonsensen. Gemeinhin kam den nichtstaatlichen Körperschaften – Gemeinden und Kirchspiele – nur eine untergeordnete Rolle zu. Sie wurden für gewöhnlich nur um Auskünfte über einzelne Bewohner gebeten. Eine eigenständig handelnde Position beziehungsweise ein Mitwirkungsrecht kam ihnen im Kontext der Auswanderung nicht zu. Im Falle der Exilierungen hingegen ging die maßgebliche Initiative oder wenigstens Unterstützung eines solchen Vorhabens im Allgemeinen von der Heimatgemeinde aus. Diese war aufgrund der Domizilordnung für die Unterstützung verarmter Einwohner verantwortlich. Auch diejenigen, die aufgrund ihres Lebenswandels unerwünscht oder einer kleineren Straftat überführt worden waren, fielen vorrangig ihrer Gemeinde zur Last. Da sie keine echte Gefahr für die Allgemeinheit, sondern eher eine Belastung für die örtlichen Armenkassen oder für ihre Nachbarn darzustellen schienen, hielten sich die staatlichen Stellen – Amt und Landdrostei – bei der Finanzierung zurück und beschränkten sich auf die Unterstützung der bürokratischen Abwicklung von Übersiedlung und Transportlogistik. Bei schwereren Straftaten andererseits lagen übergeordnete Interessen vor, sodass die Bereitschaft der Behörden wesentlich höher lag, die Betreffenden auf Staatskosten nach Nordamerika zu schicken. Die Behörden bemühten sich jedoch auch in diesen Fällen, die Heimatgemeinde an den Kosten zu beteiligen. Da der Aufenthalt eines Ex-Sträflings in keinem Dorf erwünscht war, signalisierten die Gemeinden oft Bereitschaft, einen Beitrag zu leisten.50 Auf dieser Grundlage wurden Übersiedlungspläne bei Häftlingen fast immer in die Tat umgesetzt, während die Exilierung von Armen und Vaganten häufig aufgrund mangelnder finanzieller Mittel seitens der Gemeindekassen scheiterte.51 Es ist daher kaum zu bezweifeln, dass die relativ geringe Zahl an geförderten Übersiedlungen ausschließlich auf die Kostenfrage zurückzuführen war. Gerade in || 48 Vgl. Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 172, wonach die hannoverschen Angaben, nur entlassene Häftlinge auf Staatskosten zu übersiedeln, »geschönt« waren. Die Entlassung aus der Haft erfolgte vorzeitig und einzig aus dem Grund, sich ihrer dauerhaft zu entledigen. 49 Holtmann, Auswanderungs- und Übersiedelungspolitik, S. 194. 50 Vgl. StAOs Rep 350 Grö Nr. 106. 51 Vgl. ebd.

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der Zeit des Pauperismus fielen besonders viele Menschen den Armenkassen zur Last oder gerieten aufgrund der Domizilordnung mit dem Gesetz in Konflikt.52 Es ließe sich daher vermuten, dass in diesen Jahrzehnten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anzahl der staatlich geförderten Auswanderungsfälle besonders hoch lag. Signifikante Schwankungen aber lassen sich beispielsweise im hannoverschen Landdrosteibezirk Osnabrück nicht ausmachen. Die überlieferten Verfahren erstreckten sich von den 1830er Jahren bis zum Ende des Königreichs Hannover 1866. Offenbar förderten die Gemeinden die Exilierungen gleichbleibend entsprechend ihrer Haushaltslage. Die Brisanz des Verfahrens gründete sich auf zu erwartenden – und zum Teil auch eingetretenen – negativen Reaktionen aus der heimischen Öffentlichkeit und aus den Vereinigten Staaten von Amerika.53 Dies wird aus einer Stellungnahme während der 17. Sitzung des Bundestages vom 8. Juni 1855 deutlich, als der hannoversche Delegierte eine Einstellung der Transporte mit dem Hinweis begründete, sie sei nötig, »um nicht zu Gegenmaßregeln Veranlassung zu geben […], auch um einer Erörterung in der Presse vorzubeugen.«54 Zu einem Eklat und heftigen Protesten von Seiten der USA führte beispielsweise die ›Großzimmern-Affäre‹ 1846. Mehrere Hundert mittellose Bewohner der Gemeinde Großzimmern wurden nach Nordamerika übergesiedelt und fielen dem dortigen Armenwesen anheim, weshalb Bestimmungen zum Schutz vor »unerwünschten Einwanderern« ergingen.55 Aus solchen Skandalen resultierte die diskrete Handhabung der Praxis in Deutschland. Gesetze oder öffentlich bekannt gemachte Verordnungen als Grundlage existierten nicht. Den rechtlichen Rahmen bildeten lediglich innerbehördliche Rundschreiben und Weisungen.

2.4 Migration und Kolonialismus: Auswanderungsvereine und Ansiedlungsprojekte Die Auswanderung wurde nicht nur unter dem Aspekt eines sozialen ›Ventils‹ diskutiert, sondern verband sich auch stets mit kolonialen Phantasien. Der Nutzen oder gar die Notwendigkeit der Verminderung eines ›Bevölkerungsüberschusses‹ zur Sicherung des sozialen und ökonomischen Friedens in der Herkunftsgesellschaft wurde hierbei nie in Frage gestellt. Allerdings beklagten manche, die sich mit den Hintergründen und den Trägern der Auswanderung beschäftigten, schon früh || 52 Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 167f. 53 Vgl. Moltmann, Transportation, S. 156–168. 54 Auswanderungsakten des Deutschen Bundestages (1817–1866) und der Frankfurter Reichsministerien, hg.v. Georg Leibbrandt/Fritz Dickmann, Stuttgart 1932, S. 3f.; vgl. dazu auch Kiel, Gründe, S. 140f. 55 Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 173; Schöberl, Auswanderungspolitik, S. 325.

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auch den Aspekt der wirtschaftlichen und kulturellen ›Verlusts‹ »untadeliger Menschen«, was Hans Fenske zu folgendem Urteil veranlasste: »Nicht der Auswanderer und sein Schicksal interessierten also in erster Linie, sondern die Bedeutung seines Weggangs für Deutschland.«56 Vertreter des vormärzlichen deutschen Liberalismus brachten vor diesem Hintergrund den kolonialen Aspekt in die Diskussion. Die Vorstellungen der Kolonialenthusiasten gingen dahin, die Massenmigrationen in solche Regionen der Welt zu lenken, in denen die Neusiedler eine deutsche Identität wahren und so im günstigsten Falle ein ›Neu-Deutschland in Übersee‹ errichten konnten.57 Zahlreiche mögliche Kolonisierungsräume wurden in der Folge diskutiert: NordMexiko, Kalifornien, die Chatham-Inseln und etliche andere Gebiete. Der Begeisterung über solche Pläne stand die Skepsis beziehungsweise ablehnende Haltung der deutschen Regierungen – namentlich Preußens – gegenüber: Abgesehen von einer nicht absehbaren finanziellen Belastung durch Ansiedlungsprogramme in Übersee bestand die Gefahr außenpolitischer Konflikte. Insbesondere die USA wachten darüber, eine Einflussnahme europäischer Staaten in ihrem Machtbereich zu unterbinden (›Monroe-Doktrin‹).58 An der Besorgnis, durch überseeische Besitzungen in Konflikte mit und zwischen anderen Staaten hineingezogen zu werden, scheiterten etwa die Überlegungen zum Erwerb Kaliforniens durch Preußen in den 1840er Jahren. Zu komplex erschien die Gemengelage angesichts des Interesses der USA, Großbritanniens, Russlands und Dänemarks. Darüber hinaus glaubten die Obrigkeiten in Berlin, der Erwerb einer Ansiedlungskolonie berge die Gefahr in sich, einen Anreiz für weitere Emigrationen zu bieten. Nach Georg Smolka waren die staatlichen Stellen »nach 1815 allenfalls bereit, die Auswanderung als notwendiges Übel anzuerkennen, nicht jedoch als Aufgabe der staatlichen oder gar nationalen Politik.«59 Ohne eine staatliche Trägerschaft blieb den Befürwortern kolonialer Ansätze nur die Eigeninitiative, unter der Hoheit eines anderen Staates Ansiedlungsprojekte zu realisieren. Solche Auswanderungsvereine, die ihren Blick vornehmlich auf Mittelamerika richteten, scheiterten jedoch mit diversen Projekten – etwa in Nicaragua. Die anfängliche Euphorie konnte das Fehlen finanzieller Mittel und den fortdauernden Mangel staatlicher Unterstützung nicht aufwiegen. Entweder lösten sich die Siedlungen auf oder ihre Bewohner waren bald nicht mehr als spezifische Herkunftsgemeinschaft in der Aufnahmegesellschaft zu erkennen. || 56 Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 223. 57 Smolka, Auswanderung als politisches Problem, S. 96f.; zu Auswanderungsvereinen und Kolonisationsprojekten vgl. auch ders., Auswanderung und Kolonisationsprojekte im Vormärz. Kalifornienplan und Texasverein, in: Franz Meyer (Hg.), Staat und Gesellschaft. Festgabe für Günther Küchenhoff, Göttingen 1967, S. 229–246. 58 Smolka, Auswanderung als politisches Problem, S. 98–104. 59 Ebd., S. 97.

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Kaum anders erging es den Unternehmungen des bekannten Texasvereins von 1842.60 Auch hier engagierten sich zum Teil prominente – adelige – Verfechter kolonialer Ideen.61 Sie vermochten es aber ebenfalls nicht, aus ihren Plänen eine staatliche oder gar nationale Sache zu machen. Zwar waren in Texas nach der Unabhängigkeit von Mexiko durchaus realistische Möglichkeiten für eine starke deutsche Ansiedlung vorhanden; nationale Gedanken – nicht nur bezüglich Auswanderung – hatten jedoch in der Politik der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes keinen Raum. Naive Unkenntnis der organistorischen Herausforderungen eines derartigen Unternehmens und die Annahme ungeeigneter Siedler trieben den Texasverein schon nach wenigen Jahren in den Ruin. Die deutschen Regierungen verweigerten jegliche Unterstützung. Immer häufiger wurde den Vereinen der Vorwurf gemacht, sich lediglich an der Auswanderung bereichern zu wollen, da die Interessenten über ein Mindestvermögen verfügen mussten.62 Auf der staatlichen Ebene blieb die ablehnende Grundhaltung gegenüber überseeischem Engagement bis zum Erwerb der ersten deutschen Schutzgebiete unter Reichskanzler Otto von Bismarck 1884/85 bestehen. Mochten die Schutzgebiete für eine Masseneinwanderung ungeeignet sein, blieb doch die Vorstellung in Deutschland bis in das frühe 20. Jahrhundert ungebrochen, die Erschließung von kolonialem Siedlungsland könne Auswanderer in großer Zahl aufnehmen und ein ›NeuDeutschland in Übersee‹ schaffen.

3 Öffentliche Meinung und Paulskirchenparlament: Debatten um eine einheitliche Auswanderungspolitik Wenngleich die Einzelstaaten kaum Regelungen zum Umgang mit der Massenauswanderung in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts trafen, war sie doch von Beginn an Gegenstand öffentlicher Diskussion sowohl auf bundes- und einzelstaatlicher als auch auf lokaler Ebene. Neben lokalen Funktionsträgern – wie im niedersächsisch-westfälischen Raum etwa Amtmänner – waren es vor allem Intellektuelle, die sich mit den Gründen und Folgen der Auswanderung befassten. Zu den Letztgenannten gehören insbesondere liberale Abgeordnete der einzelstaatlichen Parla-

|| 60 Zum Texasverein im Allgemeinen vgl. Harald Winkel, Der Texasverein – ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 55. 1968, S. 348–372. 61 Pohlmann, Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig, S. 139. 62 Dazu Winfried Schüler, Auswanderung als Geschäft? Herzog Adolf von Nassau und der Adelsverein zum Schutz deutscher Einwanderer in Texas, in: Nassauische Annalen, 105. 1994, S. 161–178.

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mente. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Gruppe war der badische Staatsrechtler Robert von Mohl, der später auch Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung und des Reichstages wurde. Von Beginn an galt die Auswanderung von Mohl und anderen Liberalen als Folge der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.63 Die Verbindung von Pauperismus und Emigration führte zu drei Paradigmen, nach denen die Massenauswanderung höchst unterschiedlich bewertet wurde64: Eine konservative Position, die später völkisch überformt wurde, sah in der Abwanderung ausschließlich einen kulturellen und wirtschaftlichen Verlust, da »durch den Fortzug eines Teiles seiner Glieder […] der Organismus des Staates erheblich gestört«65 werde. Diesem Ansatz entgegen stand die Auffassung von einer Ventilfunktion der Auswanderung für die Gesellschaft. Der Vergleich der frühindustriellen Gesellschaft mit einem Dampfkessel, der unter wachsendem sozialem Druck durch Bevölkerungswachstum und Verarmung stand, schrieb der Emigration die Funktion eines Sicherheitsventils zur Wahrung des sozialen Friedens zu. Angesichts der stark wachsenden Bevölkerung, mangelnder sozialer Mobilität und fehlender Erwerbsalternativen in weiten Teilen des Deutschen Bundes wurde hierbei eine durchweg positive Einschätzung der Auswanderung vorgenommen. Neben der Hoffnung auf eine Entlastung der Ausgangsräume spielten in dieser Sichtweise auch humanitäre Aspekte eine Rolle. Die Feststellung, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Heimat vielen Menschen keine Chance auf eine Sicherung ihrer Existenz ließen, verband sich mit der Hoffnung, dass die Fortziehenden anderswo für sich bessere Bedingungen finden könnten – und die Auswanderung zugleich auch für die Zurückbleibenden einen Vorteil mit sich bringe.66 Die dritte Interpretation verbindet Argumente der beiden genannten Paradigmen. Einerseits wurden die positiven Auswirkungen eines Bevölkerungsabflusses gesehen, andererseits Forderungen an den Staat gestellt, die Auswanderer zu schützen beziehungsweise sogar ihre Bewegung für das Herkunftsland – etwa im Hin|| 63 Vgl. Carl Jantke/Dietrich Hilger (Bearb.), Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipation in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg i.Br./ München 1965. Die Quellensammlung bietet einen hervorragenden Querschnitt zur Diskussion um Pauperismus und dessen Folgen zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Unter den zahlreichen Autoren befinden sich neben von Mohl auch andere führende Theoretiker ihrer Zeit wie vom Stein und List. Ein Beispiel aus dem Königreich Hannover für die Sichtweise eines lokalen Beamten auf Verarmung und Auswanderung in seinem Amtsbezirk: Ueber die Verhältnisse der Heuerleute im Osnabrückschen nebst Vorschlägen für deren Verbesserung, bearbeitet mit Rücksicht auf die Verhandlungen des Local-Gewerbe-Vereins im Amte Grönenberg durch den Vorstand desselben, Melle 1840. 64 Zur unterschiedlichen Bewertung vgl. Bade, Vom Auswanderungsland, S. 25f. 65 Kiel, Gründe, S. 154: Kiel selber gesteht auf den folgenden Seiten ein, dass durchaus viele der Daheimgebliebenen von dem Bevölkerungsabfluss profitierten. 66 Henkel, »Ein besseres Loos«.

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blick auf Kolonisationsprojekte – nutzbringend zu lenken.67 In diesem Kontext wurde erstmals eine aktive, einem Plan folgende Auswanderungspolitik gefordert: Die Auswanderung avancierte dabei vom »Schreckgespenst zum Hoffnungsträger«.68 In der Nationalversammlung 1848/49 wurde die Auswanderungsfrage schon früh erörtert, was für das Gewicht spricht, das die Abgeordneten ihr beimaßen. Die Abzugsfreiheit wurde schließlich als § 136 in die Reichsverfassung aufgenommen. Hinsichtlich der Ausnahmen für Militärpflichtige setzten sich die Einzelstaaten durch, deren dahingehende Regelungen zunächst unangetastet blieben.69 In der Nationalversammlung war es gerade die Diskussion um eine staatliche Schutz- beziehungsweise sogar Lenkungsfunktion, die zu teilweise lebhaften Debatten führte. Letztlich war jedoch nur die Schutzfunktion mehrheitsfähig. Die Vertreter von staatlich gelenkten Ansiedlungsunternehmungen konnten sich nicht durchsetzen.

3.1 Fürsorge als neues Paradigma staatlicher Auswanderungsmaßnahmen In einigen Bundesstaaten stand die Diskussion über die Schutzlosigkeit der Auswanderer schon vor den revolutionären Ereignissen auf der politischen Agenda. Die zahlreichen Berichte über dubiose Auswanderungsagenten, überteuerte Übernachtungsmöglichkeiten in den Hafenstädten, alarmierende hygienische Zustände in den Zwischendecks der Schiffe und auf unbedarfte Neuankömmlinge lauernde USAmerikaner in den Zielhäfen empörten die Bevölkerung. Der Ruf nach staatlichem Schutz wurde lauter. Angesichts dieses Drucks aus Öffentlichkeit und Landtagen konnten die Regierungen ihre Position, wonach ein Untertan mit der Auswanderung auch die staatliche Fürsorge einbüßte, nicht halten.70 »Generell […] akzeptierte die Öffentlichkeit die Auswanderung. Aber sie übte lebhafte Kritik an den Formen, in denen sie sich vollzog.«71 Die süddeutschen Staaten nahmen bei dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle ein. Da sie als erste von der Massenauswanderung betroffen waren, kam es hier auch zu den ersten Auseinandersetzungen um deren Folgen. Während die meisten || 67 Bade, Vom Auswanderungsland, S. 25f.; ders., Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution – Depression – Expansion, Freiburg i.Br. 1975, S. 84f.; vgl. auch ders., Die deutsche überseeische Massenauswanderung im 19. und 20. Jahrhundert: Bestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingungen, in: ders. (Hg.), Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, Ostfildern 1984, Bd. 1, S. 259–299, hier S. 291. 68 Ralph Langbein/Wiebke Henning, Staat und Auswanderung im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 39. 1989, S. 292–301, hier S. 292. 69 Smolka, Auswanderung als politisches Problem, S. 205. 70 Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 135. 71 Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 223.

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anderen Staaten erst in den 1850er Jahren diesbezügliche Maßnahmen ergriffen, begann das Königreich Württemberg schon 1845 mit der Konzessionierung und Kontrolle des Agenturwesens. Darüber hinaus wurden weitere Konsulate in den Vereinigten Staaten von Amerika eingerichtet. Einen Meilenstein stellte die Einführung von Mindeststandards für die Beförderung von Auswanderern dar.72 Ebendieses Eingreifen des Staates zur Bekämpfung der Ausbeutung von Auswanderern begrüßte die öffentliche Diskussion. Das Zurückdrängen dubioser Werber und Agenten sowie eine Verbesserung der Überfahrtsbedingungen stießen allenthalben auf Zustimmung. »Diese minimale Position war die realistische, denn damit waren Aufgaben genannt, die der Staat sehr wohl lösen konnte.«73 Für den jeweiligen Staat bedeutete eine erfolgreiche fürsorgerische Intervention nicht zuletzt einen erheblichen Prestigegewinn.

3.2 Das Auswanderungsgesetz von 1849 Die Nationalversammlung in Frankfurt bemühte sich, die Kleinstaaterei im Auswanderungswesen zu beenden. Die Auswanderungsfrage sollte nicht mehr auf der Ebene der Einzelstaaten, sondern im Rahmen des einheitlichen Reichsrechts geregelt werden. Vor diesem Hintergrund erarbeitete der Volkswirtschaftliche Ausschuss ein Reichsauswanderungsgesetz, das am 15. März 1849 unter dem Titel ›Gesetz den Schutz und die Fürsorge des Reiches für die deutsche Auswanderung betreffend‹ verabschiedet wurde. Wie wichtig den Volksvertretern dieses Thema war, tritt schon dadurch zutage, dass es sich um das erste Gesetz der Nationalversammlung handelte, das nicht in den Kontext der Verfassunggebung gehörte. Angesichts des sich abzeichnenden Wiedererstarkens der Bundesstaaten erlangte es jedoch keine Bedeutung mehr.74 Die Mitglieder der Nationalversammlung begnügten sich nicht mit Minimalforderungen. Auf der Ebene des Transports sah das Gesetz Bestimmungen zur Größe der Zwischendecks der Schiffe und deren regelmäßige Kontrolle vor. Zudem sollte das Agentenwesen staatlichen Kontrollen unterworfen werden. Daneben sicherte es den Migranten eine Betreuung in den Zielhäfen durch Reichskonsuln in Übersee zu, die zudem die ankommenden Schiffe inspizieren sollten; auch eine Gesundheitsvorsorge war vorgesehen. Institutionell stellte die Einrichtung eines zentralen Reichsauswanderungsamtes, das später zu einem Auswanderungsministerium aufgewer|| 72 Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 135f. 73 Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 228. 74 Renate Vollmer, Auswanderungspolitik und soziale Frage im 19. Jahrhundert. Staatlich geförderte Auswanderung aus der Berghauptmannschaft Clausthal nach Südaustralien, Nord- und Südamerika 1848–1854, Frankfurt a.M. 1995, S. 63; Langbein/Henning, Staat und Auswanderung, S. 294.

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tet werden sollte, ein Novum dar.75 »Daß auch diese seine Wirkung nicht über kümmerliche Ansätze hinausgedieh, lag an den gleichen Kräften, an denen das Werk der Paulskirche zerschellte: am endgültigen Siege des deutschen Partikularismus in den fünfziger und sechziger Jahren.«76 Für die Kritiker, denen das Gesetz nicht weit genug ging, stellte es ohnehin nur ein Transportgesetz dar. Gerade die Vertreter von Siedlungsprojekten hielten es lediglich für eine Minimallösung. Die Öffentlichkeit sah in dem Gesetz nur eine Antwort auf die dringendsten Missstände. Weitergehende Forderungen im Deutschen Bundestag fanden jedoch keine Mehrheit oder gingen in endlosen Ausschussdebatten unter.77

4 Einzelstaatliche Politik vor dem Hintergrund von Revolution und Pauperismus Mit dem Scheitern der Nationalversammlung fiel die politische und administrative Bearbeitung der Auswanderungsfrage wieder zurück auf die einzelstaatliche Ebene, der Gesetzentwurf der Nationalversammlung blieb jedoch Vorbild. Die Reaktion – gerade in Preußen – führte erneut zu einer negativeren Beurteilung der Auswanderung. Die nach den Ereignissen von 1848/49 hochschnellenden Abwanderungszahlen sollten keinesfalls durch weitere staatliche Schutzmaßnahmen verstärkt werden.78 Die preußische Regierung ergriff dennoch nach dem Scheitern des Paulskirchenparlaments zunächst wieder die Initiative bezüglich einer einheitlichen Regelung der Auswanderungsfrage innerhalb des Deutschen Bundes. Die Bemühungen scheiterten jedoch in doppelter Hinsicht: Zum einen gab es Diskrepanzen zwischen den Auffassungen verschiedener preußischer Ministerien, zum anderen divergierten die Interessen der deutschen Staaten weiterhin erheblich. Gerade mit den beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg, die immer noch enorm von der Auswanderung profitierten, ließ sich keine Einigung erzielen. Mithin galt: »Zahlreiche Einzelverordnungen, meist ordnungspolitischen Inhalts, wurden erlassen und standen häufig im Widerspruch zu gesetzlichen Regelungen der anderen Staaten.«79 Hamburg und Bremen hatten schon früh eine Sonder-, aber auch Vorreiterrolle im Hinblick auf gesetzliche oder administrative Maßnahmen zur Regelung der Auswanderung übernommen. Dies gründet sich darauf, dass die Hafenstädte von Anfang an mit den Emigranten und deren Beförderung befasst waren und auch der || 75 Smolka, Auswanderung als politisches Problem, S. 218; Langbein/Henning, Staat und Auswanderung, S. 294. 76 Smolka, Auswanderung als politisches Problem, S. 219. 77 Langbein/Henning, Staat und Auswanderung, S. 293. 78 Ebd., S. 294f. 79 Ebd., S. 295.

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Wandel der Ausgangsräume daran nichts änderte: Ob in den frühen Jahren des Exodus die süddeutschen oder gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ostelbischen Migranten – alle durchliefen die Hafenstädte. Das Durchschleusen Hunderttausender erforderte Organisation und einen gesetzlichen Rahmen. Daher hatte Bremen bereits 1832 die ›Verordnung wegen der Auswanderer mit hiesigen oder fremden Schiffen‹ erlassen.80 In den Hafenstädten kreisten die Diskussionen um die Auswanderung nicht um die Einschätzung als Bevölkerungsabfluss oder als soziales Sicherheitsventil; hier dominierte die Frage, auf welche Weise sich ein lukratives Geschäft aufrechterhalten und gegebenenfalls ausweiten ließ. Neben der Transportfrage beschäftigten die Senate in Bremen und Hamburg vor allem Fragen des Aufenthalts der Auswanderer. Tausende Menschen, die auf ihr Schiff warteten, waren dort tagtäglich präsent. Während man sich in anderen Teilen Deutschlands mit dem Für und Wider des Fortzugs auseinandersetzte, stand in Bremen etwa die religiöse Betreuung der Fremden auf der Agenda. So unternahm der Senat seit den 1850er Jahren Anstrengungen, die Arbeit katholischer Geistlicher zur Betreuung der Migranten zu fördern.81 Da die Hafenstädte von der Auswanderung uneingeschränkt profitierten, gab es kein Interesse an auswanderungshemmenden Maßnahmen. Ihre Politik zielte einzig auf eine Förderung dieses Wirtschaftszweiges und einen geordneten Geschäftsverkehr. Deshalb sahen sie Schutzmaßnahmen für die Reisenden auch als Werbemittel im Konkurrenzkampf mit den anderen Hafenstädten. Transportgesetze wie in Bremen wurden in anderen deutschen Staaten erst um 1850 eingeführt. In Hannover etwa hatte sich die Obrigkeit mit der Gewährung der Auswanderungsfreiheit begnügt, ohne sich weiter um die Fortziehenden zu kümmern. Die Massenauswanderung, die Mitte der 1840er Jahre ihren ersten Höhepunkt erreichte, schien dann jedoch staatliche Kontroll- und Schutzmaßnahmen zu erfordern. Daneben übte auch die US-amerikanische Regierung zum Teil erhebliche Kritik an der Auswanderungspolitik der deutschen Staaten.82 In Hannover schränkte das am 19. März 1852 erlassene ›Gesetz, betreffend die Beförderung von Schiffspassagieren nach überseeischen Häfen‹ zwar nicht die Freizügigkeit direkt ein, versuchte aber die schlimmsten Missstände zu bekämpfen, insbesondere die Profiteure der Auswanderung – Agenten und Reeder – an bestimmte Normen zu binden. Ausbeutung der Emigranten durch falsche Verspre|| 80 Schöberl, Auswanderungspolitik, S. 325; Dirk Hoerder, Auswandererverschiffung über Bremen/ Bremerhaven: Staatliche Schutzmaßnahmen und Erfahrungen der Migranten, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 39. 1989, S. 279–291, hier S. 279. 81 Bernhard Wessels, Die katholische Mission in Bremerhaven. Geschichte der katholischen Kirche an der Unterweser von 1850 bis 1911, Bremerhaven 2007, S. 47–55. 82 Enno Eimers, Preußen und die USA 1850 bis 1867. Transatlantische Wechselwirkungen, Berlin 2004, S. 638.

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chungen von Seiten der Agenten und miserable Bedingungen an Bord der Schiffe sollten eingedämmt werden. Neben einer Beschwichtigung der Öffentlichkeit, die insbesondere die Praktiken einzelner Agenten geißelte83, lag das Ziel darin, eine Rückkehr völlig mittelloser Emigranten zu unterbinden. Das Gesetz und seine Ausführungsbestimmungen band die Expedienten und deren Unterhändler an eine staatliche Konzession, damit sie ihre Tätigkeit ausüben durften. Bis dato war es jedem freigestellt gewesen, sich als Agent zu verdingen. Neben einer Kaution von 5.000 Talern, die jeder Expedient für die Konzessionierung innerhalb eines bestimmten Landdrosteibezirks hinterlegen musste, sowie der Festlegung eines Beförderungsstandards beinhaltete das Gesetz genaue Regeln für die Bestallung der Agenten und die Ausübung ihrer Tätigkeit. Ein tadelloser Leumund und die Konkurrenzsituation vor Ort waren von den nachgeordneten Behörden vor der Erteilung einer Konzession zu berücksichtigen.84 In Bezug auf die Überfahrtsverträge blieb – besonders den Agenten – nur noch wenig Spielraum. So wurde den Betreibern einer Agentur untersagt, Vergütungen von den Passagieren anzunehmen; sie mussten vielmehr von den Reedereien als Auftraggeber bezahlt werden. Um eine Täuschung der Auswanderer zu verhindern, hatten alle wesentlichen Bedingungen der Beförderung vertraglich fixiert zu sein. Als Passagiere durften die Agenten nur diejenigen Personen annehmen, die über einen entsprechenden Pass zur Auslandsreise verfügten85, um heimliche Auswanderung zu unterbinden. Das Verbot der Beförderung Militärpflichtiger, das letztlich schon in der Verfassung festgeschrieben worden war, wurde ausdrücklich – unter Strafandrohung – hervorgehoben.86 Auffallend sind die detaillierten Vorschriften über das Raumangebot für die Unterbringung der Passagiere sowie über den Proviant während der Überfahrt. Der Umfang der Nahrungs- und Wasservorräte wurde dem Expedienten pro Person und Woche ebenso vorgeschrieben wie die Größe und Art der Schlafstellen, aber auch die Beleuchtung und Belüftung des Zwischendecks.87 Anne-Katrin Henkel fragt in diesem Zusammenhang richtig, ob und inwieweit eine Kontrolle der Zustände an Bord überhaupt von den hannoverschen Behörden gewährleistet werden konnte beziehungsweise ob hannoversche Gesetze diesbezüglich noch relevant waren. In

|| 83 Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 230. 84 Ganzer Absatz: Gesetz, betreffend die Beförderung von Schiffspassagieren nach überseeischen Häfen vom 19.3.1852, in: Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für das Königreich Hannover vom Jahre 1852, S. 19–24. 85 Ebd. 86 Bekanntmachung des Königlichen Ministeriums des Innern, betreffend Ausführung des Gesetzes über Beförderung von Schiffspassagieren nach überseeischen Häfen vom 20.3.1852, in: Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für das Königreich Hannover vom Jahre 1852, S. 25–33. 87 Ebd., § 15–25.

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Bremen, dem wichtigsten Ausgangshafen für nordwestdeutsche Auswanderer, bestand ein entsprechendes Gesetz ohnehin bereits seit 1832.88 Auch Preußen erließ am 7. Mai 1853 ein eigenes Transportgesetz.89 Dieses ›Gesetz betreffend die Beförderung von Auswanderern‹ ähnelt dem ein Jahr zuvor erlassenen hannoverschen Regelwerk. Die Bindung der Ausübung einer Tätigkeit als Auswanderungsunternehmer oder Agent an eine staatliche Konzessionierung stand auch hier im Mittelpunkt. Allerdings erschöpften sich die Bestimmungen in der Reglementierung der zum Vertragsabschluss Berechtigten. Konzessionen durften nur an Personen mit tadellosem Leumund vergeben werden, und zwar nicht bis auf Widerruf, sondern befristet auf ein Jahr.90 Neben einer Strafandrohung für nicht-konzessionierte Agententätigkeit – 200 Taler Geldstrafe oder drei Monate Gefängnis – fehlten jegliche weitere Bestimmungen. Geregelt wurden weder die Überfahrtskontrakte noch eine Informationspflicht gegenüber den Auswanderungswilligen oder Bestimmungen über Unterbringung und Verpflegung während der Überfahrt. Da die preußische Seite weitergehenden Schutzmaßnahmen des Staates seit jeher ablehnend gegenübergestanden hatte, war diese Haltung konsequent, zumal die Entlassungsurkunde juristisch den Verlust der preußischen Staatsangehörigkeit bedeutete.91 Daher bestand von Seiten der Regierung auch lediglich Handlungsbedarf hinsichtlich der Zulassung der im Land agierenden Agenten beziehungsweise Auswanderungsunternehmer. Ob und wie die Emigrationswilligen von ihren Agenten informiert oder vertraglich abgesichert wurden, war formal deren Problem. Der Staat setzte keine Rahmenbedingungen für diese privatrechtlichen Abmachungen. In den anderen deutschen Flächenstaaten existierten ähnliche Gesetze wie in Hannover und Preußen. Erst nach der Reichsgründung übernahm Preußen die Initiative, ein einheitliches Reichsrecht zu schaffen. Angesichts eines deutlichen Anschwellens der Auswanderung besonders in den – östlichen – preußischen Stammlanden Anfang 1873 und dann wieder 1881 kam erneut Bewegung in die Diskussion. Bismarcks berühmtes Zitat – »Ein Deutscher, der sein Vaterland abstreift wie einen alten Rock, ist für mich kein Deutscher mehr; ich habe kein landsmannschaftliches Interesse mehr für ihn«92 – brachte die zunehmend protektionistische, auswanderungsfeindliche Haltung auf den Punkt. Als Sofortmaßnahme wurde in Preußen 1873 die Ausweisung

|| 88 Henkel, »Ein besseres Loos«, S. 156f. 89 Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 230. 90 Gesetz, betreffend die Beförderung von Auswanderern vom 7.5.1853, in: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten 1853, Nr. 49, S. 729f. 91 Galema/Holtmann, Aus den nördlichen Niederlanden, S. 443. 92 Bade, Fabri, S. 181f.

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ausländischer Werber beziehungsweise Agenten erwirkt93 und allen staatlichen Stellen die Unterstützung der Emigranten verboten.94 In ähnlicher Weise verfuhr beispielsweise auch das Königreich Bayern, wo zwischen 1885 und 1891 mehrere Verbote ausgesprochen wurden, als Werber für Auswanderung aufzutreten.95 Diese Entscheidungen sind zu verstehen vor dem Hintergrund eines politischen Klimawechsels; die bis dahin weitgehend liberale Haltung wich einer zunehmend protektionistischen Einstellung, der Auswanderung nicht auch noch Vorschub leisten zu wollen. Zwar unterwarfen bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes und später die Reichsverfassung von 1871 die Migration in außerdeutsche Länder der Gesetzgebung des Bundes beziehungsweise des Reiches. Gerade die Rücksichtnahme auf die Souveränität der Länder verhinderte aber, dass das Reich seine Gesetzgebungskompetenz umsetzte. Der bereits 1869 installierte ›Reichskommissar für das Auswanderungswesen‹ hatte beispielsweise keinerlei Exekutivgewalt und kontrollierte überwiegend die Verhältnisse in den Hafenstädten und auf den Schiffen.96 Erst nach dem Auslaufen der überseeischen Massenmigration Anfang der 1890er Jahre schrieb das Reich 1897 mit dem Reichsauswanderungsgesetz einheitliche Standards hinsichtlich des Agentenwesens und der Beförderung vor.97

5 Fazit: reaktives und planmäßiges staatliches Handeln in der Auswanderungsfrage »Bis zum Inkrafttreten des ›Reichsgesetzes über das Auswanderungswesen‹ im Jahre 1897 gab es in Deutschland keine einheitlichen Regelungen der Auswanderungsangelegenheiten.«98 Das Gesetz markierte den Endpunkt einer Diskussion, die sich durch das gesamte 19. Jahrhundert zog. Die Auswanderung war nun in ein gesetzgeberisches Korsett eingebettet, das den Flickenteppich einzelstaatlicher Maßnahmen ersetzte. Das entsprach dem Trend einer zunehmenden staatlichen Einfluss-

|| 93 Agnes Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung. Gesetzgeberische Maßnahmen in Deutschland und Amerika, in: Frank Trommler (Hg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986, S. 50–63, hier S. 61. 94 Bade, Fabri, S. 181. 95 Wilhelm, Auswanderung aus Bayern, S. 39. 96 Langbein/Henning, Staat und Auswanderung, S. 297f. 97 Vom Reichskommissar für das Auswanderungswesen. Staatlicher Schutz für Auswanderer seit 120 Jahren, hg.v. Bundesverwaltungsamt, Köln 1989, S. 46–49: Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass bereits mit der Reichsverfassung von 1871 eine gesetzliche Regelung des Auswanderungswesens auf Reichsebene begann; Vollmer, Auswanderungspolitik und soziale Frage, S. 63. 98 Schöberl, Auswanderungspolitik, S. 324.

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nahme auf die Migrationsverhältnisse im gesamten europäisch-atlantischen Raum seit dem späten 19. Jahrhundert.99 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Migration demgegenüber noch nicht als ein eigenes politisches Thema verstanden. Die deutschen Staaten – ohne den Sonderfall der Seehäfen – betrachteten das Wanderungsgeschehen nur als Problem anderer Politikfelder. So gingen Auswanderungshemmnisse beispielsweise auf arbeitsmarktregulierende Eingriffe des Staates oder auf Änderungen hinsichtlich der Militärpflicht zurück. Waren diese sensiblen Bereiche oder der gesellschaftliche Friede durch Auswanderung nicht tangiert, vertraten die deutschen Staaten im Allgemeinen eine sehr offene Position.100 Einher ging die Auswanderungsdiskussion spätestens seit den 1840er Jahren mit der Debatte um den Umgang mit der Massenarmut. Die Möglichkeit, die Verarmung weiter Bevölkerungsteile durch Emigration zu mildern, führte zu einer sehr wohlwollenden Auslegung bestehender Gesetze. Von direkten auswanderungspolitischen Akzenten lässt sich erst seit den Transportgesetzen sprechen. Bis zur Etablierung eines Reichsauswanderungsgesetzes Ende des 19. Jahrhunderts formulierten die Staaten keine nachhaltigen politischen Ziele, sondern reagierten nur auf die Entwicklung der Migrationsverhältnisse und auf öffentliche Diskussionen über Missstände im Auswanderungswesen. Gebündelt wurden die Diskussionen über eine bundeseinheitliche Regelung der Auswanderungsfrage im Kontext der Revolution 1848/49. Die Auswanderungsfrage blieb auch nach dem Scheitern der Revolution virulent. Die Einzelstaaten erkannten die Notwendigkeit staatlicher Interventionen, um den Massenexodus in geordnete Bahnen zu lenken, wie die Transportgesetze verdeutlichen. »Der stumme Sozialprotest durch Abstimmung mit den Füßen«101 konnte nur zu einem gewissen Grade durch direkte auswanderungspolitische Maßnahmen beeinflusst werden. Der hohe Anteil heimlicher Auswanderer zeigt deutlich, dass viele Menschen bereit waren, notfalls auch ohne das obrigkeitliche Plazet ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Erst als das Chancenangebot in Deutschland nicht mehr geringer zu sein schien als jenseits des Atlantiks, ging die Auswanderung dauerhaft zurück.

|| 99 Jochen Oltmer, Einführung: Steuerung und Verwaltung von Migration in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 9–56, hier S. 10. Die wachsende staatliche Kontrolle spiegelt sich exemplarisch im Passwesen wider; vgl. hierzu Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001; Andreas Fahrmeir, Klassen-Grenzen: Migrationskontrolle im 19. Jahrhundert, in: Rechtsgeschichte, 12. 2008, S. 125–138. 100 Oltmer, Einführung, S. 17. 101 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung, Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 168.

| Teil III: Autoritärer Nationalstaat und imperiales Machtstreben: innere Nationsbildung und Migration im Kaiserreich

Andreas Fahrmeir

Migratorische Deregulierung durch Reichseinigung 1 Die Struktur der Reichseinigung Als am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Palasts von Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde, erreichte ein seit den 1860er Jahren andauernder Prozess der Lösung der deutschen Frage seinen vorläufigen Abschluss. Die Reichsgründung markierte ein symbolisch ganz entscheidendes Datum. Ihre praktische Bedeutung blieb aber in mancher Hinsicht hinter dem längst erreichten zurück. Vieles von dem, was sie bewirkte, war in Teilen Deutschlands bereits durch die Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1866 vorweggenommen worden. In anderer Hinsicht war die Reichseinigung noch nicht abgeschlossen, von der inneren Reichsgründung gar nicht zu reden. Die endgültigen Grenzen des Deutschen Reiches standen am Tag der Kaiserproklamation noch nicht fest, denn die Abtretung Elsass-Lothringens durch Frankreich an »Preußens Deutschland«1 wurde erst im Februar 1871 im Vorfrieden von Versailles vereinbart und im Mai 1871 im Frieden von Frankfurt am Main bestätigt. Dazu kamen in späteren Jahren Gebietsgewinne in Afrika und Fernost, die sich aus dem Entschluss des Kaiserreichs ergaben, sich ebenso wie andere große europäische Mächte an der imperialistischen Aufteilung der Welt zu beteiligen. Vor 1866 hatten im Gebiet des Deutschen Bundes – grob gesprochen – drei Zonen migratorischer Regulierung bestanden, in denen die Reichweite polizeilicher Entscheidungsbefugnis, die sich aus den Bestimmungen zum Pass- und Meldewesen ergab, mehr oder minder eingeschränkt war. Die erste umfasste die linksrheinischen Teile Preußens, des Großherzogtums Hessen und des Königreichs Bayern, die zwischen 1797 und 1813 Teil des französischen Staates gewesen waren. Die durch die französische Gesetzgebung gewährte Niederlassungsfreiheit galt – als Teil des sogenannten Rheinischen Rechts – auch nach der Rückgabe der Gebiete an deutsche Staaten fort. Sie bedeutete, dass unbescholtene, nicht akut von Armut betroffene Staatsangehörige sich an jedem Ort des Territoriums niederlassen und dort wirtschaftlich tätig sein durften, ohne den Einspruch von Gemeindeverwaltungen oder Zünften fürchten zu müssen.2 || 1 Peter Wende, A History of Germany, Basingstoke 2004, S. 108. 2 Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht: Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974; eine Sammlung der Teile des Code Napoléon, die bis zur Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Kaiserreich weiterhin

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Die zweite Zone bestand aus den restlichen preußischen Provinzen, wo 1843 ähnliche Bestimmungen wirksam geworden waren.3 In beiden Regionen passte sich der offizielle Wohnsitz (auch bekannt als Unterstützungswohnsitz, Domizil oder Heimat) nach etwa einem Jahr unbescholtenen Aufenthalts ohne Rückgriff auf öffentliche Unterstützung automatisch dem tatsächlichen Aufenthaltsort an, vorausgesetzt, der tatsächliche Aufenthaltsort war einer Behörde bekannt. Nach längerem Aufenthalt mussten Inländer (unabhängig davon, ob es sich um deutschsprachige Personen oder Angehörige einer kulturellen Minderheit handelte) daher keine Ausweisung fürchten. Ausländern aus dem deutschsprachigen oder außerdeutschen Ausland musste die Niederlassungserlaubnis natürlich nicht gewährt werden. Sie waren nur dann vor Ausweisung sicher, wenn sie die Einbürgerung erwarben. Das galt umso mehr, als die Neuordnung der Ausweisungsverträge zwischen den Staaten des Deutschen Bundes in den 1850er und 1860er Jahren in der Lesart der meisten Staaten die Möglichkeit beseitigt hatte, die Heimat durch langjährige Anwesenheit in einem anderen deutschen Staat zu ›ersitzen‹.4 Im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens kam dem Votum der Gemeinde, in die man ziehen wollte, eine entscheidende Rolle zu, sodass die Niederlassung von Ausländern auch im Rheinland und in Preußen von Seiten der Gemeinden oder des Staates beschränkt werden konnte.5 Die verbleibenden Gebiete der anderen deutschen Staaten bildeten die dritte Zone. Hier waren mehr oder weniger ausgeprägte Restriktionen der Niederlassungsfreiheit die Regel. Zuwanderer, die sich nicht an ihrem Heimatort niederlassen wollten, benötigten dazu eine explizite Genehmigung der Zielgemeinde. Bloßer Aufenthalt führte nicht zur Veränderung des offiziellen Wohnsitzes, und Inländer ohne Mitgliedschaft in einer Gemeinde waren in ihren ökonomischen Möglichkeiten beschränkt, zum Beispiel was den Betrieb eines handwerklichen Gewerbes betraf. Das Heimatrecht, das allein vor Ausweisung im Falle von Armut, unerwünschtem Verhalten oder Verbrechen schützen konnte, war nur durch eine explizite Aufnahme zu erreichen, die an bestimmte Bedingungen wie Rechtschaffenheit, die Fähigkeit zum

|| Geltung beanspruchten, findet sich in: Martin Georg Viktor Scherer, Das rheinische Recht und die Reichsgesetzgebung, Mannheim 1885 (Online-Ausgabe 2002, http://dlib-pr.mpier.mpg.de/mfer cgi/kleioc/0010MFER/exec/books/%2222036%22, eingesehen am 26.5.2015). 3 Harald Schinkel, Armenpflege und Freizügigkeit in der preußischen Gesetzgebung vom Jahre 1842, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 50. 1963, S. 459–479; vgl. auch den Beitrag von Bettina Hitzer in diesem Band. 4 C. Doehl, Die Heimaths-Verhältnisse des Preußischen Staates sowie dessen polizeiliche Beziehungen zum Ausland, Berlin 1862, S. 139f., 182; Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States 1789–1870, New York 2000, S. 37. 5 Vgl. Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 64–69, 76–93; Hermann Rehm, Der Erwerb von Staats- und Gemeinde-Angehörigkeit in geschichtlicher Entwicklung nach römischem und deutschem Staatsrecht, in: Annalen des deutschen Reichs, 1892, S. 137–281.

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eigenen Unterhalt und ein gewisses Vermögen geknüpft war – ein Verfahren, das schwieriger und teurer war als die Niederlassung. Der höhere Preis für die Aufnahme in eine Gemeinde ergab sich nicht nur aus den zu entrichtenden Verwaltungsgebühren, sondern auch daraus, dass Gemeinden ein Einzugsgeld verlangen konnten. Das sollte verhindern, dass der Gemeinschaft der Gemeindemitglieder aus der Zulassung neuer Bürger, Beisassen, Schutzverwandter oder sonstiger Mitglieder ein Nachteil erwuchs: Die Aufnahme neuer Mitglieder ohne Gegenleistung hätte dazu geführt, dass diese umsonst einen Anteil am Gemeindevermögen erwarben, was den Anteil der bestehenden Gemeindemitglieder am Gemeindevermögen verkleinert hätte. Die Einbürgerung von Ausländern unterschied sich in diesen Staaten eher graduell als prinzipiell von der Aufnahme von Inländern aus anderen Orten: Gebühren und Vermögensforderungen waren für Ausländer deutlich höher, und der Antrag von Ausländern konnte auch dann zurückgewiesen werden, wenn die gesetzlichen Bedingungen erfüllt waren.6 Einige Staaten – darunter Hessen-Darmstadt, Lippe oder Holstein – sahen für wirtschaftlich selbstständige In- und Ausländer eine automatische Anpassung des Wohnsitzes an die Aufenthaltsgemeinde vor, aber die Fristen waren mit zwischen drei und 20 Jahren erheblich länger als im Rheinland oder in Preußen, und es ist bislang nicht geklärt, ob und wie diese Normen in der Praxis zur Geltung kamen.7 In Sachsen und Österreich war es dagegen besonders schwierig, die Aufnahme in eine neue Gemeinde zu erwirken, was dazu führte, dass der offizielle Wohnort oft nicht mit dem tatsächlichen Aufenthaltsort zusammenfiel. Die Folge war, dass dort die sozialen Kosten der Industrialisierung – etwa die Versorgung von Opfern von Arbeitsunfällen in Industriebetrieben – in weit höherem Maße als in Preußen von den ländlichen Heimatgemeinden der ›Landflüchtigen‹ getragen werden mussten.8 Quer zu diesen Zonen stand die sich intensivierende Gemeinschaft des Zollvereins, die bis 1866 alle Staaten des Deutschen Bundes (einschließlich Luxemburg) außer Österreich, Hamburg und Bremen umfasste. Innerhalb des Zollvereins war es nicht mehr notwendig, Binnengrenzen zu bewachen, um Schmuggel zu verhindern. Der Zollverein ermöglichte Kaufleuten und Unternehmern, innerhalb seiner Grenzen Handel zu treiben und zu diesem Zweck ungehindert zu reisen, verlieh aber kein

|| 6 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 64–69. 7 Vgl. Bundesarchiv, vormals Außenstelle Frankfurt, Akten der Bundesversammlung, no 171; Eli Nathans, Besprechung von Fahrmeir, Citizens and Aliens, http://www.h-net.org/reviews/show rev.php?id=7742 (eingesehen am 26.5.2015). 8 Alexander Müller, Die deutschen Auswanderungs-, Freizügigkeits- und Heimaths-Verhältnisse […], Leipzig 1841, S. 186, 205f.; Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Waltraud Heindl/ Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie, 1750–1867, Wien 2000, S. 173–343, hier S. 227, 296f.; Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung: Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003, S. 318–347.

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Recht darauf, sich nach Belieben niederzulassen. Der allgemeine Vorbehalt der Polizeigesetze sorgte zudem dafür, dass diese Rechte sich kaum von denen unterschieden, die in internationalen Handelsverträgen auch Angehörigen anderer Staaten wie Frankreich zugebilligt wurden.9 1866 endete der Krieg zwischen dem von Österreich geführten Deutschen Bund und den Staaten, die dem Bund treu geblieben waren, einerseits, Preußen und seinen zumeist norddeutschen Verbündeten andererseits mit der politischen Neuordnung Norddeutschlands. An die Stelle des Deutschen Bundes trat ein von dem um Hannover, Frankfurt, Nassau und Hessen-Homburg vergrößerten Staat Preußen demographisch, ökonomisch und politisch dominierter Norddeutscher Bund. Diesem Norddeutschen Bund gehörten alle (verbleibenden) deutschen Staaten außer dem südlichen Landesteil Hessen-Darmstadts, Bayern, Baden, Württemberg und Österreich an. Der Zollverein bestand nach 1866 fort und wurde durch ein eigenes Zollparlament weiter ausgebaut. 1867 erhielt der Norddeutsche Bund eine Verfassung, die Bundesaufgaben definierte. Dabei stand die Regelung der Migrationskontrolle an erster Stelle. Der Bundesgesetzgebung unterliegen sollten »die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimaths- und Niederlassungsverhältnisse, Staatsbürgerrecht, Passwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbebetrieb, einschließlich des Versicherungswesens, soweit diese Gegenstände nicht schon durch den Artikel 3 dieser Verfassung erledigt sind, desgleichen über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern«.10 Die im Rückblick sehr viel wichtigere Feststellung, dass es ein gemeinsames Militär- und Marinewesen des Bundes geben sollte, folgte – nach einer ganzen Reihe von Bundeskompetenzen im Bereich von Handels-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik – erst an 14. Stelle, vor der abschließend genannten Medizinal- und Veterinärpolizei (in der Reichsverfassung von 1871 kam an 16. Stelle noch die Aufsicht über das Pressewesen hinzu). Die gemeinsame Vertretung der Bundesstaaten gegenüber dem Ausland wurde erst in Artikel 56 der Bundesverfassung im Rahmen der Beschreibung des Konsulatswesens erwähnt. Weite Bereiche der staatlichen Verwaltung blieben zunächst ganz den Einzelstaaten unterstellt: innere Verwaltung, Steuererhebung, Bildungspolitik, Strafjustiz, bürgerliches Recht. Die Handelspolitik prägte weiterhin der Zollverein mit, der schließlich – als ihm 1888 auch Hamburg und Bremen beitraten – praktisch mit dem Reichsgebiet deckungsgleich war. Was die inhaltliche Ausgestaltung dieser Reichskompetenzen anging, so schienen die Zeichen der Zeit zunächst auf weitgehende Liberalisierung hinzudeuten. Grenzen zwischen den deutschen Staaten sollten einen großen Teil ihrer Bedeutung

|| 9 Vgl. z.B. Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1861, S. 346f., zum Handelsvertrag zwischen Preußen und Frankreich. 10 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.2.1867, Art. 4, Absatz 1.

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verlieren, damit interne Handels- und Migrationshemmnisse verschwanden. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes stellte bereits in ihrem dritten Artikel fest, Staatsangehörige aller Bundesstaaten seien fortan durch ein gemeinsames »Indigenat« verbunden, mit der Folge, dass »der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist außer in Bezug auf Armenrecht und Niederlassung«.11 Es ist umstritten, ob der Norddeutsche Bund von vornherein als Provisorium geplant war oder ob Bismarck 1866 noch damit rechnete, der Norddeutsche Bund werde längere Zeit überdauern.12 Immerhin war es Bismarck mit dem politischen Triumph von 1866 gelungen, seine unmittelbaren Ziele zu erreichen: die Teilung Preußens zu beenden, den preußischen Herrschaftsbereich zu vergrößern, Österreich aus der deutschen Politik zu verdrängen, die liberale Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus zu spalten und den prekären Zustand einer Regierung, die ohne die von der Verfassung geforderte Genehmigung des Budgets agierte, zu beenden. Gegen die Annahme eines dauerhaften Norddeutschen Bundes spricht allerdings die Teilung Hessen-Darmstadts in einen Bundes- und einen Nicht-Bundesteil, die zumindest den Ansatz einer neuen Integrationsdynamik in sich barg. 1867 erging ein Gesetz zur Freizügigkeit im Norddeutschen Bund, das sich an die preußischen Richtlinien anlehnte und weiter unten im Detail behandelt wird. 1870 formulierte der Norddeutsche Bund ein Gesetz über die Bundes- und Staatsangehörigkeit, das ebenfalls den Inhalt des ersten Gesetzes über die Reichs- und Staatsangehörigkeit des Deutschen Kaiserreichs von 1871 vorwegnahm.13 Mit einer Ausnahme änderte die Gründung des Norddeutschen Bundes nichts an der Stellung von Angehörigen der süddeutschen Staaten im Norddeutschen Bund. Seit der Bundesgründung sollten Wehrpflichtige ihren Wehrdienst an ihrem Wohnort ableisten; die Rückkehr in den Heimatstaat war in Norddeutschland dafür nicht mehr erforderlich.14 Diese Regelung wurde 1869 auch zwischen dem Großher-

|| 11 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.2.1867, Art. 3. 12 Vgl. Lothar Gall, Bismarcks Süddeutschlandpolitik, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870: Mächtekonstellationen, Konfliktfelder, Kriegsausbruch, München 1987, S. 23–32, sowie Jonathan Steinberg, Bismarck: A Life. Oxford 2011, S. 258–311. 13 Vgl. G.M. Kletke, Das Norddeutsche Bundes-Indigenat in seinen rechtlichen Konsequenzen, Berlin 1871; Friedrich Arnoldt, Die Freizügigkeit und der Unterstützungswohnsitz, Berlin 1872. 14 Gesetz, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste. Vom 9.11.1867, § 17.

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zogtum Baden – der preußenfreundlichste Staat Süddeutschlands – und dem Norddeutschen Bund vereinbart.15 Pläne, Migration innerhalb des Zollvereinsgebiets zu erleichtern, wurden dagegen zwar von Württemberg befürwortet, scheiterten aber vorwiegend am entschlossenen persönlichen Widerstand des bayerischen Königs Ludwig II., der diese Initiative als Angriff auf Bayerns Eigenständigkeit und Beschneidung seiner Souveränität deutete und so lange ablehnte, bis Preußen ebenfalls signalisierte, dass von seiner Seite kein Interesse bestand.16 Nach dem Krieg zwischen dem Norddeutschen Bund und Frankreich, in den die süddeutschen Staaten Hessen-Darmstadt, Bayern, Baden und Württemberg auf der Seite des Bundes eintraten, erfolgte die Reichsgründung als Erweiterung des Norddeutschen Bundes deutscher Fürsten und freier Städte. Dies bedeutete eine Verschiebung der konfessionellen und politischen Gewichte in Deutschland: Die Vormacht- und Vorbildstellung Preußens war im Kaiserreich weniger unangefochten als im Norddeutschen Bund. Die Reichsgründung verband außerdem in deutlicherem Maße als die Bundesgründung zwei potenziell widersprüchliche Erzählungen, welche die Existenz des neuen Staates legitimieren und seine innere Struktur rechtfertigen sollten, um zu zeigen, dass die Entstehung des Deutschen Reiches sowohl richtig als auch unvermeidlich war. Einerseits galt die Gründung des Deutschen Reiches als (Wieder-)Errichtung eines deutschen Nationalstaates, der dem deutschen Volk zu seiner verdienten Größe auf der europäischen und globalen Bühne verhelfen sollte. Das legte die Erwartung nahe, dass der Gesamtstaat eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung der Ressourcen des Landes einnehmen würde und alle Angehörigen der Nation gleich behandeln werde. Andererseits legte auch die preußische Regierung Wert darauf, monarchischem Gottesgnadentum und den Rechten verbündeter Fürsten Respekt zu erweisen, die durch ihren Eintritt in das Deutsche Reich keinen massiven Statusverlust erleiden sollten. Es ging – im Gegensatz zu 1866 – nicht darum, eine faktische Mediatisierung der Klein- und Mittelstaaten in Angriff zu nehmen. Das setzte der Möglichkeit des Eingriffes in die internen Verhältnisse der deutschen Staaten nach der Annexionswelle von 1866 Grenzen, die sich erst im Zuge der inneren Reichsgründung der späteren 1870er und 1880er Jahre verschoben.17 Diese Spannung war auch in der Art und Weise zu beobachten, wie Migration dereguliert wurde. || 15 Rolf Wilhelm, Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund (1867–1870), Husum 1978, S. 117. 16 [Friedrich Karl Gottlob Freiherr Varnbüler von und zu Henningen], Ueber die Frage eines deutschen Heimathrechtes. Besonders abgedruckt aus dem Schwäbischen Merkur, Stuttgart 1864; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 54093; Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 40f. 17 Vgl. den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band sowie zu den außenpolitischen Spielräumen der deutschen Staaten: Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871–1918), München 2012.

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Im Gegensatz zum nordamerikanischen Bundesstaat, der sich nach ersten Experimenten mit einer auf die Staaten bezogenen Zugehörigkeit rasch für eine einheitliche US-Staatsangehörigkeit entschied (die zwar teilweise durch Staatsgerichte, aber nach Maßgabe der Bundesrichtlinien administriert wurde)18, hielten der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich daran fest, dass die Staatsangehörigkeit weiterhin die Zugehörigkeit zu einem Einzelstaat bezeichnete. Auch nach 1870 blieb man (bis 1934) auf Identitäts- und Reisedokumenten Preuße, Lipper, Hamburger, Lübekker oder Sachse. Allerdings verlieh die Staatsangehörigkeit fortan nicht nur die in Artikel 3 der Bundes- und Reichsverfassung bezeichneten Rechte, die aus dem gemeinsamen deutschen »Indigenat« folgten, sondern auch eine Bundes- beziehungsweise Reichsangehörigkeit, die auf dem Deckblatt von Reisepässen ausgewiesen wurde – ähnlich wie heute auf Pässen die Zugehörigkeit zur Europäischen Union symbolisch über die Zugehörigkeit zum Einzelstaat tritt. Die Bundes- beziehungsweise Reichsregierung erließ allgemeine Rahmenbestimmungen über die Staatangehörigkeit19 – etwa, dass sie vom Vater (oder bei unehelicher Geburt von der Mutter) auf die Kinder vererbt wurde, dass sie bei der Eheschließung vom inländischen Mann auf die ausländische Frau übertragen wurde oder dass sie nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit vom Reichsgebiet in der Regel verlorenging. Die Reichsregierung hatte aber keinen direkten Einfluss darauf, wie die einzelnen Staaten ihren Ermessensspielraum bei der Einbürgerung nutzten. Per Gesetz ausgeschlossen war nur die Einbürgerung von Ausländern, die nicht dispositionsfähig waren (hier konnte allerdings die Zustimmung eines Vormunds abhelfen), nicht in der Lage waren, sich zu versorgen, oder keinen unbescholtenen Lebenswandel vorweisen konnten. Über eine bestimmte Aufenthaltsdauer vor der Einbürgerung, kulturelle Assimilation, die genauen Lebensverhältnisse oder die Berücksichtigung anderer Bedenken, zum Beispiel politische Einstellungen, die Behörden suspekt erschienen, ohne direkt strafbar zu sein, war im Gesetz nichts gesagt.20

|| 18 Patrick Weil, The Sovereign Citizen: Denaturalization and the Origins of the American Republic, Philadelphia 2013 sowie Andreas Fahrmeir, Citizenship: The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007, bes. Kapitel 2. 19 Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.6.1870. 20 Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871–1945, Göttingen 2006, S. 35– 38.

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2 Die Folgen für Reichsangehörige 2.1 Elemente migratorischer Deregulierung Die Rechtsordnung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches brachte für einen großen Teil der Bevölkerung erhebliche Erleichterungen mit sich. Anstelle einer Vielzahl von lokal unterschiedlichen Bestimmungen über Zulassung und Abweisung mit oft breiten Ermessensspielräumen für lokale, regionale und zentrale Behörden traten Rahmenbestimmungen, die vielen Migrantinnen und Migranten weitgehende Rechtssicherheit boten. Wer nicht vorbestraft und nicht arm war, konnte sich fortan an jedem Ort des Deutschen Reiches niederlassen; die bloße Annahme einer prekären wirtschaftlichen Zukunft durften Gemeindeverwaltungen und Ortspolizeibehörden künftig weder bei Angehörigen des eigenen noch bei Angehörigen anderer deutscher Staaten anführen, um die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts zu begründen. Angehörige deutscher Staaten, die in einen anderen deutschen Staat umzogen, konnten dort anstelle der Einbürgerung die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit beantragen. Diese durfte ihnen nur verweigert werden, wenn sie vorbestraft oder nicht in der Lage waren, sich zu ernähren. Anstelle einer willkürlichen Entscheidung über den Wunsch, bestimmte Personen zuzulassen, trat also ein klarer, notfalls vor Gericht einklagbarer Anspruch.21 Ein erheblicher Teil der bis dahin notwendigen Einbürgerungen wurde fortan unnötig. Zwischen 1867 und 1871 hatte es in Preußen insgesamt 31.873 Einbürgerungen gegeben; zwischen 1872 und 1876 waren es – bei insgesamt steigender Migration – nur noch 17.404.22 Dazu kam die reichsweite Meistbegünstigungsklausel des Artikels 3 der Bundesbeziehungsweise Reichsverfassung: Bundes- beziehungsweise Reichsangehörige durften gegenüber Angehörigen des eigenen Staates in den meisten Zusammenhängen nicht benachteiligt werden. Sie konnten fortan zu denselben Bedingungen wie Angehörige des jeweiligen Staates Handwerksbetriebe eröffnen, als Kaufleute tätig sein, sich um öffentliche Ämter bewerben oder die Anerkennung als wahlberechtigte Staatsbürger beantragen. Damit fiel zumindest implizit die Möglichkeit fort, die Gültigkeit von Staatsexamina auf einen Staat zu begrenzen, wie es vor 1866 die Regel gewesen war.23 Mit einem Schlag wurden somit auch die Privilegien abgeschafft, welche bislang Inhaber des Bürgerrechts eines Staates oder einer Stadt vor auswärtigen Konkurrenten geschützt hatten. Bislang konnten sich beispielsweise die Inhaber des

|| 21 Vgl. bes. § 7 des Gesetzes über den Erwerb und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.6.1870. 22 Eli Nathans, The Politics of Citizenship in Germany. Ethnicity, Utility and Nationalism, Oxford 2004, S. 93. 23 Doehl, Die Heimaths-Verhältnisse des Preußischen Staates, S. 89.

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›großen‹ Bürgerrechts der Städte Hamburg oder Bremen sicher sein, dass nur von den politischen Institutionen der Stadt zugelassene Personen als Konkurrenten im Großhandel tätig werden konnten; fortan durfte jeder Deutsche in der Stadt einen Betrieb eröffnen. Der heftige Widerstand Hamburgs gegen die Binnenfreizügigkeit im Deutschen Reich (und die Einführung der preußischen Wehrpflicht) ist daher gut verständlich, blieb aber letztlich erfolglos.24 Von großer lebenspraktischer Bedeutung war schließlich, dass mit der Gründung des Deutschen Reiches die im frühen 19. Jahrhundert eingeführten beziehungsweise verschärften Beschränkungen der Eheschließung wegfielen. In den Jahren des sogenannten ›Pauperismus‹ hatten die meisten deutschen Staaten danach gestrebt, die Armenlasten dadurch zu verringern, dass sie eine behördliche Genehmigung zur Eheschließung einführten, die nur Paaren erteilt wurde, welche in der Lage zu sein schienen, Kinder aufzuziehen. Erlaubte eine in- oder ausländische Gemeinde einem Paar die Heirat, so übernahm sie damit in aller Regel die ökonomische Verantwortung für die Familie. Allerdings hatte in Preußen diese Regelung, die eine weitere Barriere gegen den Umzug von einem Ort an den anderen darstellte, da die Genehmigung zur Eheschließung in der Heimat am leichtesten zu erhalten war, auch schon vor 1866 nicht gegolten.25 Die Massenmigration, welche die Jahre des Kaiserreichs prägte, wurde durch diese Regelungen nicht verursacht; auch Österreich, wo das Heimatrecht nicht reformiert wurde und der »politische Ehekonsens« fortbestand26, erlebte massive interne Arbeitswanderungen und ein beschleunigtes Städtewachstum durch Zuwanderung. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Reichsgründung die Lage rechtschaffener Bürger, die sich abseits ihres offiziellen Wohnsitzes aufhielten, erheblich verbesserte und damit dazu beitrug, die Wahrnehmung von In- und Ausland zu verschieben. Es ist unwahrscheinlich, dass auch nach 1866 oder 1871 ein Brauer aus Braunschweig, der in Dresden und Salzwedel gelernt hatte, dies als Berufspraxis in »verschiedenen Orten des Auslands« beschrieben hätte.27

|| 24 Hans-Georg Schönhoff, Hamburg im Bundesrat: die Mitwirkung Hamburgs an der Bildung des Reichswillens 1867–1890, Hamburg 1967, S. 55–58. 25 Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. 26 Ilse Reiter, Ausgewiesen, Abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000. 27 Die Formulierung findet sich in Stadtarchiv Braunschweig, D II 4 Nr. 238, Antrag von Louis Phillips, 22.11.1861.

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2.2 Verbleibende Barrieren Allerdings wäre es eine Fehleinschätzung, anzunehmen, dass mit der Reichsgründung in Deutschland allgemeine Freizügigkeit für Inländer eingeführt worden wäre. Alle Staatsregierungen hielten an der Praxis fest, ihre Einwohner durch die Meldepflicht zu erfassen und zumindest insoweit zu kontrollieren, als es zu jedem Zeitpunkt möglich sein sollte, den Aufenthalt jeder Person festzustellen. Zudem betraf der Abbau der Barrieren durch die Reichseinigung nicht die ganze Bevölkerung und nicht alle Lebensbereiche. Das bekannteste Beispiel dürfte Wilhelm Voigt sein. Der erwerbslose vorbestrafte Schuhmacher ließ sich 1906, in Hauptmannsuniform verkleidet, den Inhalt der Köpenicker Stadtkasse aushändigen, bevor er nach Berlin fuhr, in einem Café gegenüber der Neuen Wache die Einlieferung der auf seinen Befehl verhafteten Magistratsmitglieder von Köpenick beobachtete und dann erfolglos versuchte, unterzutauchen. Als ehemaliger Zuchthäusler hatte Voigt keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Berlin; freilich ist umstritten, ob es wirklich vor allem der Wunsch war, einem Leben in der Illegalität zu entgehen, oder doch die Idee zu einem raffinierten Raub, der die ›Köpenickiade‹ veranlasste.28 Nicht nur Vorbestrafte, sondern auch Menschen, die Unterstützung aus öffentlichen Kassen benötigten, waren von der Freizügigkeit ausgenommen. Beide Gruppen konnten weiterhin von Gemeinden abgewiesen werden und hatten keinen Anspruch auf die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit eines anderen Bundesstaates. Bei jedem Ortswechsel konnten sie sich außerdem als ›Vagabunden‹ strafbar machen. Die Zahl der Verhaftungen, welche die Gendarmerie des Großherzogtums Hessen wegen der verschiedenen Vergehen gegen die Passbestimmungen und Reisebeschränkungen vornahm, ging zwar nach einem absoluten Höhepunkt 1855 zurück; sie stieg allerdings in den 1860er Jahren an und blieb auch nach der Reichsgründung über dem Stand von 1848. Dafür gab es gewiss verschiedene Gründe, unter denen die bessere statistische Erfassung der Polizeitätigkeit und das Bevölkerungswachstum an vorderer Stelle zu nennen sind. Allerdings stieg der Anteil der Verhaftungen wegen Passvergehen von unter 20 Prozent aller Verhaftungen in den 1820er Jahren bis in die 1870er Jahre auf etwa die Hälfte der Verhaftungen an. Das macht deutlich, dass die Reichsgründung nur beschränkte Auswirkungen auf die Deregulierung der Migration vor allem der unteren gesellschaftlichen Schichten hatte.29 Das quantitative Ausmaß der Migrationsbeschränkungen abzuschätzen, ist mangels entsprechender Statistiken nicht ganz leicht. Immerhin ist eine grobe An-

|| 28 Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600–1947, Cambridge, MA 2006, S. 596–599. 29 Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 124f.

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näherung möglich. Etwa 15 Prozent der über 25-jährigen, im Prinzip wahlberechtigten Männer blieben vom Wahlrecht des Deutschen Reiches ausgeschlossen.30 Die Gründe, die zum Ausschluss vom Wahlrecht führen konnten, waren auch Gründe, welche Migrationsbeschränkungen nach sich zogen. Bedenkt man, dass Frauen (vor allem ledige Mütter) und Kinder einem noch höheren Armutsrisiko ausgesetzt waren, so liegt die Annahme nahe, dass bis zu 20 Prozent der inländischen Bevölkerung des Deutschen Reiches von der migratorischen Deregulierung ausgenommen blieben. Daraus folgte, dass Teile der Bevölkerung, die in Verdacht geraten konnten, kurz zuvor Armenhilfe bezogen zu haben oder kein blütenweißes Strafregister vorweisen zu können, weil sie in einer ökonomisch prekären Situation lebten, unter Umständen viele Belege beibringen mussten, um die Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Beispiele aus anderen europäischen Ländern der Zeit dokumentieren, dass Behörden im Umgang mit Unterschichten gesetzliche Bestimmungen gerne expansiv auslegten und ihren Handlungsspielraum bis an die Grenze der Willkür vergrößerten; es gibt wenig Anlass zu der Annahme, das sei im Deutschen Reich prinzipiell anders gewesen.31 Eine weitere, allerdings erst in den 1880er Jahren massiv anwachsende Gruppe konnte sich aus anderen Gründen im Reichsgebiet nicht frei bewegen. Die eingeborenen Bewohner deutscher Kolonien wurden bewusst von der Reichs- und Staatsangehörigkeit ausgeschlossen und besaßen somit auch keinen Anspruch auf Reiseund Niederlassungsfreiheit im Reichsgebiet. In Elsass-Lothringen verzögerte sich die Einführung der Niederlassungsfreiheit bis 1873. Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auf unbescholtene Männer und Frauen, die in der Lage waren, über einen längeren Zeitraum ihren eigenen Unterhalt zu verdienen und gegebenenfalls eine Familie zu ernähren, erklärt, warum es nötig war, sich Gedanken über Bedingungen für die Aufnahme in einen anderen Bundesstaat zu machen. Mit der Aufnahme übernahm ein Staat in Zukunft zu erwartende armenrechtliche Verpflichtungen gegenüber Migrantinnen und Migranten, da es ihm danach nicht mehr möglich war, sie in ihren Heimatort zurückzuschicken. Vor der Aufnahme galten nach den Bestimmungen des Reichsgesetzes über die Niederlassungsfreiheit, wenn mehr als ein Staat bei der Feststellung der Heimatberechtigung involviert war, die Bestimmungen des erstmals 1851 geschlossenen Go-

|| 30 Vgl. Gerhard A. Ritter/Merit Niehuss (Hg.), Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 33, 38. 31 David Ashforth, Settlement and Removal in Urban Areas, Bradford, 1834–71, in: Michael E. Rose (Hg.), The Poor and the City. The English Poor Law in its Urban Context, 1834–1914, Leicester 1985, S. 57–91, hier S. 82f.; Jennifer Davis, A Poor Man’s System of Justice: The London Police Courts in the Second Half of the Nineteenth Century, in: Historical Journal, 27. 1984, S. 309–335; James Edmund Handley, The Irish in Modern Scotland, Cork 1947, S. 41f.

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thaer Vertrags weiter, der zur Regelung der Ausweisung unerwünschter Ausländer innerhalb des Deutschen Bundes (einschließlich Luxemburgs) dienen sollte. Der Gothaer Vertrag sah keine automatische Anpassung des Unterstützungswohnsitzes an den Wohnort vor. Zwar berechtigte ein fünfjähriger Aufenthalt im Prinzip zum Bezug von Armenunterstützung am Aufenthaltsort, aber das galt nur dann, wenn kein gültiger Heimatschein oder Pass existierte. Entscheidend war also, ob der Heimatstaat oder die Heimatgemeinde bereit war, Heimatscheine oder sonstige Papiere ohne Angabe einer Gültigkeitsfrist auszustellen. Das war in Preußen der Fall, in anderen Staaten des Reichs wie in Hessen-Darmstadt dagegen nicht.32 Während die Praxis der Einbürgerung im Kaiserreich inzwischen recht gut untersucht ist, fehlen bislang Untersuchungen der Aufnahmepraxis. Es spricht aber einiges dafür, dass die administrativen Grenzen zwischen den deutschen Staaten nicht ganz so leicht zu überwinden waren, wie die juristische Kritik am Staatsangehörigkeitsrecht des Deutschen Reiches annahm.33 Zwar war im Prinzip richtig, dass ein Bürger des Deutschen Reiches in der Lage gewesen wäre, alle Staatsangehörigkeiten zu kumulieren und sich dadurch an jedem beliebigen Wohnort abzusichern; die Regel wird das aber, allein wegen der Verwaltungsgebühren, kaum gewesen sein. Es ist also offen, ob der Aufenthalt im innerdeutschen Ausland im Falle wirtschaftlicher Notlagen wirklich rasch die Ausweisung in einen Heimatort nach sich zog, den man vielleicht seit der Kindheit nicht mehr gesehen hatte – es besteht noch zu großer Forschungsbedarf, als dass auch nur grobe Aussagen über Tendenzen der Liberalisierung oder Restriktion möglich wären. Der Aufenthalt an einem Ort in einem Land, dessen Staatsangehörigkeit man nicht besaß, brachte auf jeden Fall auch nach 1871 einen erhöhten bürokratischen Aufwand mit sich. Ein Beispiel dafür ist das Abiturzeugnis von Gottfried Thomas (Golo) Mann.34 Der Sohn des »Herrn Schriftstellers Prof. Dr. Thomas Mann, München« legte seine Abiturprüfung 1927 als externer Kandidat am Gymnasium Konstanz ab. Die Erlaubnis, zu dieser Prüfung anzutreten, musste Golo Mann aber nicht nur beim badischen Kultusministerium beantragen (diese war notwendig, weil er als Schüler von Salem kein öffentliches Gymnasium in Baden besucht hatte), son-

|| 32 Doehl, Die Heimaths-Verhältnisse des Preußischen Staates, S. 139f.; Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Rundschreiben des Innenministeriums vom 9.2.1855, G 15 Alsfeld Q 78 (der Verlust der meisten Aktenbestände aus Darmstadt im Zweiten Weltkrieg macht es schwierig, festzustellen, ob diese Instruktion auch nach 1871 weiter angewendet wurde). 33 Vgl. z.B. Hans Ratjen, »Deutsche die nicht Deutsche sind«. Der Kampf um die Reichsangehörigkeit, Hamburg 1908; umfassend Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 177–327; ders., Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats. Zur Entstehung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913, in: Rolf Grawert u.a. (Hg.), Offene Staatlichkeit: Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 359–378. 34 Urs Bitterli, Golo Mann. Instanz und Außenseiter, Zürich 2004, Abbildung 2.

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dern auch bei der Schulbehörde in Lübeck. Aus dem Abiturzeugnis des Sohnes geht somit hervor, dass Thomas Mann nicht (oder zumindest nicht rechtzeitig) die bayerische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Das Ablegen von entscheidenden Examina im ›inländischen Ausland‹ war mithin selbst nach der Reichsgründung nur mit Genehmigung der Behörden des ›echten Inlands‹ möglich. Am einfachsten blieb es also auch im Deutschen Reich, wenn man den Wohnsitz selten und möglichst innerhalb des eigenen Staates wechselte. Schließlich führten neue politische Frontlinien dazu, dass der Trend migratorischer Deregulierung, der – wenn auch nur in den geschilderten Grenzen – die Entwicklungen der 1860er und frühen 1870er Jahre geprägt hatte, gebremst und in Teilen umgekehrt wurde. Dafür waren vor allem Unterdrückungsmaßnahmen verantwortlich, welche sich gegen sogenannte ›Reichsfeinde‹ richteten: Katholiken und Sozialdemokraten. Wenn in der Geschichte des Kaiserreichs vor der Massenausweisung von Polen aus Preußen 1885 von ›Deportationen‹ die Rede ist, sind damit meist diese beiden Gruppen gemeint. Die Sonderbestimmungen gegen politische Gegner nahmen mit den Gesetzen des Kulturkampfs ihren Anfang. Am 4. Juli 1872 erhielten die Polizeibehörden ihren absoluten Ermessensspielraum bei der Anweisung des Aufenthaltsorts, der durch die Freizügigkeitsgesetze eingeschränkt worden war, gegenüber allen Angehörigen der Gesellschaft Jesu zurück.35 1874 wurde diese Befugnis der Behörden auf den gesamten katholischen Klerus ausgedehnt und verschärft. Verstöße gegen die Kultusgesetze des Reichs konnten nicht mehr nur mit der Anweisung eines Aufenthaltsorts im Inland oder (für Ausländer) mit dem Ende der Aufenthaltserlaubnis sanktioniert werden. Das Reich führte eine Rechtsfigur ein, die in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts unbekannt war, nämlich die Verbannung und Ausbürgerung: die Ausweisung aus dem Staatsgebiet in Verbindung mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft. Zwar wurde die Expatriierung nur selten umgesetzt, stand aber nicht bloß auf dem Papier: Ein prominentes Opfer war der Bischof von Paderborn, Martin.36 Insgesamt wurden zwischen 1875 und 1879 257 Priester ausgewiesen, 24 expatriiert.37 In diesen Maßnahmen lässt sich unschwer eine Vorwegnahme der Sondergesetzgebung erkennen, welche in künftigen Jahrzehnten auch die Rechte von Angehörigen ethnischer Minderheiten, die im Besitz der Staats- und Reichsangehörigkeit waren, beschneiden sollte. Quantitativ folgenreicher waren die Maßnahmen gegen die Gruppe von ›Reichsfeinden‹, die gegen Ende der 1870er Jahre zur Zielscheibe der Bismarckschen Politik

|| 35 Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu vom 4.7.1872, § 2. 36 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ›Deutschen Doppelrevolution‹ bis zum Beginn der Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 895f. 37 Ronald J. Ross, The Failure of Bismarck’s Kulturkampf. Catholicism and State Power in Imperial Germany, 1871–1887, Washington 1998, S. 71.

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der negativen Integration wurde. Lenins Ausspruch, deutsche Revolutionäre würden vor der Erstürmung eines Bahnhofs eine Bahnsteigkarte lösen, bezog sich auf eine Protestdemonstration gegen die Ausweisung von Sozialdemokraten aus Berlin. Bei dieser Gelegenheit lösten so viele Sympathisanten der Deportierten Fahrkarten, dass die Bahngesellschaft eiligst zusätzliche Wagen bereitstellen musste.38 Die gesetzlichen Grundlagen für die Massenausweisungen wurden 1878 im ›Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‹, dem sogenannten Sozialistengesetz, gelegt. Das Gesetz erlaubte die Auflösung aller Vereine, »welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken«39, und die Belegung aller Personen, die sich weiterhin in solchen Vereinen engagierten, mit erheblichen Geld- oder Haftstrafen. Es ermöglichte den Landespolizeibehörden darüber hinaus, allen nach den Bestimmungen des Sozialistengesetzes Verurteilten einen Aufenthaltsort zuzuweisen. Das Gesetz setzte somit die Sicherheit des Wohnsitzes außer Kraft. Selbst ein ordnungsgemäß erworbener dauerhafter Wohnsitz konnte aufgehoben werden, wenn ›Sozialisten‹ ihn für weniger als sechs Monate innehatten. Ob Sanktionen wie die Ausweisung willkürlich verhängt wurden oder zumindest die gesetzlichen Bedingungen berücksichtigten, ließ sich faktisch nicht überprüfen, denn der Rechtsweg war ausgeschlossen; allenfalls Beschwerden bei der ausweisenden Behörde waren möglich. Etwa 1.000 Verweisungen über Landesgrenzen waren die Folge der Repressionsgesetze.40 Die Sondergesetze gegen den katholischen Klerus und Anhänger der Sozialdemokratie führten – in der Tendenz – die Regelungen der Migrationskontrolle wieder in einen Zustand zurück, der dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich war: Bewegung wurde zwar (zunehmend indirekt) kontrolliert, aber nicht beschränkt, solange Migrantinnen und Migranten ökonomisch, strafrechtlich und politisch unauffällig waren. Galt das nicht, so waren die Behörden weiterhin berechtigt und in der Lage, Bewegung einzuschränken oder zu verhindern. In der Praxis waren freilich erhebliche Unterschiede festzustellen. Die Grenzen zwischen deutschen Staaten waren nicht bedeutungslos, aber erheblich durchlässiger geworden. Mit dem Auslaufen der Sozialistengesetze 1890 fielen die Sondergesetze, die sich gegen ethnisch deutsche Migrantinnen und Migranten richteten, gänzlich weg. Kontrollpunkte waren im Kaiserreich weniger offensichtlich und weniger zahlreich als im Deutschen Bund. An die Stelle der Kontrolle unterwegs trat die Kontrolle am Zielort, das heißt zu einem Zeitpunkt, als die Migration bereits

|| 38 Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000, S. 286f. 39 § 1 Absatz 1 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21.10.1878. 40 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 905f.

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stattgefunden hatte. Das erhöhte die Hürden, die ausweisungswillige Behörden zu überwinden hatten, da sie in der Regel die Kosten der Ausweisung tragen mussten. Der Fall des Schusters Voigt belegt nicht nur die Zwangslage, in welche die verbleibenden Bestimmungen zur Migrationskontrolle Individuen bringen konnten, sondern auch, wie relativ leicht es war, sich diesen Bestimmungen zu entziehen, denn Voigt hätte ja nach der Entlassung aus der Haft und der Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis die Stadt sofort verlassen müssen.

3 Für Ausländer 3.1 Elemente der Deregulierung Aus den oben geschilderten Veränderungen ergaben sich auch für Migrantinnen und Migranten aus dem außerdeutschen Ausland erhebliche Erleichterungen. Die Abschaffung von regelmäßigen Grenzkontrollen und des Visumzwangs an den nördlichen, südlichen und westlichen Grenzen des Reichs machte es leichter, das Territorium des Deutschen Reiches zu betreten. Allerdings stellte sich das Reichsterritorium für Ausländer weiterhin eher als Föderation quasi-unabhängiger Staaten denn als zentralistischer Nationalstaat französischen Zuschnitts dar.41 Paradoxerweise lässt sich gerade aus den Kulturkampf- und Sozialistengesetzen diese großzügigere Haltung gegenüber Migrantinnen und Migranten aus dem Ausland ablesen. An und für sich blieb es jedem deutschen Staat unbenommen, Ausländer ohne Angabe von Gründen des Territoriums zu verweisen. Zwar war die Ausweisung aus dem Reichsgebiet ein administrativ kompliziertes Verfahren, das nur einige hundert Mal im Jahr angewandt wurde. Die Reichsverweisung konnte durch die Landespolizeibehörde im Anschluss an eine rechtskräftige Verurteilung ausgesprochen werden und eine Haft- oder Geldstrafe ersetzen oder ergänzen. Eine sorgfältige Untersuchung hat ergeben, dass die preußische Landespolizeibehörde nur wenige hundert Ausländerinnen und Ausländer im Jahr des Reichsgebiets verwies; die meisten waren wegen Landstreicherei oder Bettelns, Frauen auch wegen Prostitution verurteilt worden.42 Wesentlich häufiger war Landesverweisung, die von jeder Polizeibehörde verfügt werden konnte; genaue Zahlen sind allerdings nicht mehr zu rekonstruieren. In diesem Fall endete die Befugnis der Polizei an der Staatsgrenze; eine Reichspolizei in der Art des FBI oder von Scotland Yard gab es bekanntlich nicht. In aller Regel galt es als selbstverständlich, dass Ausländern, die ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen konnten, der Aufenthalt im Reichsgebiet gestattet wur|| 41 Vgl. unten. 42 Vgl. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 134–194.

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de. Zudem wurde zumindest eine verwaltungsinterne Begründung erwartet, wenn ein längerer Aufenthalt beendet werden sollte.43 Bei an und für sich respektablen Kreisen wie Klerikern und Politikern schien sogar die gesetzliche Grundlage der Ausweisung in den Kulturkampf- beziehungsweise Sozialistengesetzen erforderlich.44 Ausnahmen von dieser Regel bedurften auch dann noch der besonderen Rechtfertigung, als sich die Prioritäten der preußischen Politik verschoben hatten und die Förderung ethnischer Homogenität Vorrang genoss.45 Diese Generosität hatte freilich geographische und soziale Grenzen. Die Politik der Migrationskontrolle an der preußischen Ostgrenze war seit jeher restriktiver als an der Westgrenze und wurde seit den 1880er Jahren weiter verschärft.46 Die Behandlung von mobilen Kleingewerbetreibenden blieb auf ihre Abwehr ausgerichtet, und ›Zigeuner‹ unterstanden besonderer polizeilicher Beobachtung, die leicht in Schikane ausartete, der Ausländer noch schutzloser ausgeliefert waren als Inländer.47 Es mag überraschen, dass auch der Umgang mit der Staatsangehörigkeit eher zu den Elementen der Deregulierung zählte. Nach 1870 beziehungsweise 1871 war klar, dass auf Bundes- beziehungsweise Reichsebene die einzelnen deutschen Staaten dafür zuständig bleiben würden, wem die Staatsangehörigkeit verliehen wurde. Die Staatsangehörigkeit konnte automatisch durch die Heirat einer ausländischen Frau mit einem inländischen Mann erworben werden; diese Möglichkeit der privaten Naturalisation entsprach der liberalen wie der konservativen Vorstellung von dem Bereich der Familie als unverletzlichem Raum, in den die staatliche Politik nur in besonderen Ausnahmefällen eingreifen sollte. Als Äquivalent der Einbürgerung galt weiterhin die Vergabe einer Position im öffentlichen Dienst, die freilich ebenso im Belieben der betreffenden staatlichen Behörde stand wie die Einbürgerung auf Antrag. Die Einbürgerung auf Antrag hatte in den deutschen Staaten eine Besonderheit. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Frankreich, dem Vereinigten Königreich und seinen Kolonien, Belgien, den Niederlanden oder den Vereinigten Staaten, sah kein || 43 Hierzu siehe auch Julius Schlaepfer, Die Ausländerfrage in der Schweiz vor dem ersten Weltkrieg, Diss. Zürich 1969, S. 83. 44 Zu der von allen europäischen Staaten vertretenen Auffassung, dass es möglich sein sollte, Ausländer jederzeit und ohne Angabe von Gründen auszuweisen, vgl. die Stellungnahmen europäischer und amerikanischer Rechtsexperten und Minister in National Archives, Kew, FO 83/1839, aus dem Jahr 1901. 45 Vgl. Helmut Neubach, Die Ausweisung von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses, Wiesbaden 1967, S. 33, 35–41, 129, bes. S. 31f. sowie den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band. 46 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 222–230; Tobias Brinkmann (Hg.), Points of Passage: Jewish Transmigrants from Eastern Europe in Scandinavia, Germany, and Britain 1880–1914, New York 2013. 47 Marion Bonillo, ›Zigeunerpolitik‹ im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Bern 2001.

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deutscher Staat eine Mindestaufenthaltsdauer vor, die einem Antrag auf Einbürgerung vorangehen musste; in den meisten anderen Ländern waren Fristen um die fünf Jahre üblich. Während in den anderen Staaten langer Aufenthalt als Ausweis von Integration und Assimilation galt, stellte das Deutsche Kaiserreich eine andere Erwägung in den Mittelpunkt: Wer Jahre oder gar Jahrzehnte auf die Einbürgerung wartete, war nicht mehr in der Lage, seine Staatsbürgerpflicht auszuüben und für das Deutsche Reich Wehrdienst zu leisten. Eine spätere Naturalisation konnte daher den Verdacht der Illoyalität kaum ausräumen, der sich aus der jahrelangen Anwesenheit ohne Wehrdienst ergab. Im Deutschen Kaiserreich waren somit Anträge auf Einbürgerung besonders willkommen, die rasch nach der Ankunft gestellt wurden.48 Das ermöglichte den Missbrauch – oder, besser gesagt, den kreativen Einsatz – der Einbürgerung in deutschen Staaten. Beispielsweise konnten Staatsangehörige katholischer Staaten, in denen Ehen nicht geschieden werden konnten, auf die Idee kommen, sich kurz in einem deutschen Staat niederzulassen, die Einbürgerung zu beantragen, sich als Staats- und Reichsangehörige rechtsgültig scheiden zu lassen und dann ledig in ihre Heimat zurückzukehren.49 Vor allem aus Sicht der Verwaltung Preußens noch gravierender war die Erkenntnis, dass nichts in einem Bundesstaat abgewiesene Bewerberinnen und Bewerber daran hinderte, sich in einem anderen Bundesstaat um die Staatsangehörigkeit zu bewerben, um sich dann nach erfolgter Einbürgerung als Reichsangehörige in dem Bundesstaat niederzulassen, der ihren Antrag ursprünglich zurückgewiesen hatte. Das war insofern keine abstrakte Befürchtung, als die Aussichten auf Erfolg hoch waren – in Baden wurden zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg deutlich über zwei Drittel der Anträge bewilligt, in manchen Bezirken sogar 85 Prozent.50 Diese Möglichkeit wurde durch die Neufassung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 insofern beendet, als es künftig jedem Staat des Deutschen Reiches möglich war, durch einen Einspruch im Bundesrat von einem anderen Staat in Aussicht genommene Einbürgerungen zu verhindern.51 In beiden Bereichen – der Kontrolle von Migration und der Regelung des Zugangs zur Staatsangehörigkeit – lassen sich verwandte Tendenzen erkennen. Regulierung von Migration aus dem Ausland richtete sich sowohl bei der vorübergehenden wie bei der endgültigen Zulassung von Ausländern in den einzelnen deutschen Staaten primär nach einer Einzelfallprüfung, die klären sollte, ob Migrantinnen und Migranten persönlich ein ökonomisches, politisches oder sicherheitstechnisches Risikopotenzial darstellten. Ganz ähnlich sollte bei der Kontrolle von Migration von Deutschen ins Ausland zumindest kursorisch festgestellt werden, ob die Auswande-

|| 48 Trevisiol, Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 87–89, 131. 49 Ebd., S. 129f. 50 Ebd., S. 91. 51 Ebd., S. 38–46.

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rungsabsicht eine Flucht vor Schulden, Wehrdienst oder sonstigen Verpflichtungen darstellte, ob sie zum wirtschaftlichen Erfolg führen oder eine verarmte Rückkehr nach sich ziehen würde.52 In Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre schuf diese liberale Haltung die Grundlage für den Anstieg grenzüberschreitender Migration, vor allem aus Österreich, Russland, Italien und den Niederlanden. Hauptziel dieser Migrationsbewegungen waren die Zentren industriellen Wachstums an der Ruhr und die ostelbische Landwirtschaft; allerdings erreichte der Ausländeranteil an der Bevölkerung des Deutschen Reiches bis 1880 nur 0,6 Prozent.53 Praktisch bedeutete dies, dass Ausländerpolitik im Kaiserreich vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, preußische Politik blieb und in besonderem Maße von preußischen politischen Zielsetzungen beeinflusst wurde.

3.2 Verbleibende Restriktionen Genau wie vor 1871 stand der Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in den Staaten des Kaiserreichs unter dem Vorbehalt polizeilicher Genehmigung, die an gute Führung geknüpft war. Diese Genehmigung konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen widerrufen werden; wenn das geschah, so blieb den Betroffenen nur der Weg der Beschwerde (die in der Regel an die Behörde zu richten war, von der die Ausweisung ausging) oder die Möglichkeit einer Petition an die eigene Regierung, mit der Bitte, den Versuch zu unternehmen, auf diplomatischem Wege eine Rücknahme der Ausweisung zu erreichen. Dass solche Ausweisungen aus reiner Willkür selten vorkamen, bedeutet nicht, dass Ausländerinnen und Ausländer immer vor ihnen sicher gewesen wären. Für lokale Behörden gab es weiterhin – wegen der von ihnen zu tragenden Armenlasten für Inländer – einen Anreiz, die Zahl ausländischer Arbeitskräfte durch mehr oder weniger sanften Druck dem Bedarf anzupassen; das Problem wurde erst durch die Einführung der Sozialversicherung in den 1880er Jahren etwas gemildert. Zudem galt die Pass- und Visumfreiheit, welche das Reisen ins Kaiserreich relativ unproblematisch machte, nur unter Vorbehalt. Im Falle innen- oder außenpolitischer Krisen konnte sie eingeschränkt oder ganz aufgehoben werden; dieser Notfall wurde im August 1914 bekanntlich zum Dauerzustand. Eine Unterbrechung der Pass- und Visumfreiheit hatte es aber auch im deutsch-französischen Krieg oder zu

|| 52 Hierzu allgemein: Bade, Europa in Bewegung, S. 169–172; Andreas Fahrmeir, Facteurs économiques et facteurs ethniques: réflexions sur le contrôle de l’émigration en Allemagne de 1800 à 2000, in: Nancy Green/François Weil (Hg.), Citoyenneté et émigration. Les politiques du départ, Paris 2006, S. 201–218. 53 Schlaepfer, Ausländerfrage in der Schweiz, S. 8.

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Zeiten besonders heftiger Streikwellen, wie im Jahre 1884, gegeben.54 Außerdem hoben auch Reiseführer, die sich an höhere gesellschaftliche Schichten richteten, hervor, dass im Deutschen Reich eine Reise ohne Papiere weiterhin riskant war, da ein offizieller Identitätsnachweis für die obligatorische Anmeldung erforderlich blieb.55 Im Falle einer Ausweisung nach längerem Aufenthalt konnten die Folgen unter Umständen dadurch gemildert werden, dass die Ausweisung im Regelfall in Form der Landesverweisung erfolgte und somit nur ein Staatsgebiet, nicht das Bundesoder Reichsgebiet betraf. In seltenen Fällen – etwa im Falle der Ausweisung aus dem preußischen Frankfurt am Main – konnten die Betroffenen durch Umzug über die Grenze (in diesem Fall ins hessen-darmstädtische Offenbach) sogar ihren Arbeitsplatz behalten, wenn sie etwas längere Anfahrtswege in Kauf nahmen.56 Ähnlich günstige Konstellationen ließen sich allerdings nur noch in Hamburg, Bremen, Lübeck, Ludwigshafen und Mannheim denken, sodass das Risiko einer Ausweisung den Status von Ausländerinnen und Ausländern weiterhin prekär gestaltete. Die zunehmende Rechtssicherheit für Migrantinnen und Migranten aus dem Inland verschärfte diesen Unterschied noch. Obgleich in den frühen Jahren des Kaiserreichs in aller Regel die individuellen Eigenschaften von Migrantinnen und Migranten, nicht aber ihre Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, für die Entscheidung darüber, ob ihnen der Aufenthalt nur für kurze Zeit oder auf Dauer genehmigt wurde, ausschlaggebend waren, gab es selbst vor der preußischen Politikwende der 1880er Jahre Bereiche, in denen andere Erwägungen dominierten. Bereits in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren sah sich das Reich – und insbesondere Preußen – mit Problemzonen konfrontiert, die sich aus den Annexionen der vorangegangenen Jahre ergaben. Sowohl in Schleswig als auch im Elsass bestand die Möglichkeit, nach dem Übergang des Territoriums an Preußen für die Staatsangehörigkeit des Staates zu optieren, dem die Gebiete bis dahin angehört hatten. Während ›Optanten‹ in Schleswig-Holstein ihren Besitz behalten und in der Provinz bleiben konnten, hatte die Option für Frankreich in Elsass-Lothringen drastischere Konsequenzen, da sie den Zwang mit sich brachte, das Land zu verlassen. Daraus ergab sich zugleich die Notwendigkeit eines differenzierten und intensiven Kontroll- und Registrierungssystems, da diese Bestimmung nur umgesetzt werden konnte, wenn es den Behörden gelang, zwischen Angehörigen deutscher Staaten, ›echten‹ Franzosen aus den übrigen Départements || 54 Britische Botschaft Berlin an Außenministerium, 12.7.1884, National Archives, Kew, FO 612/47. 55 Gedruckter Hinweiszettel, National Archives, Kew, FO 612/41; [John Murray], A Hand-Book for Travellers in Southern Germany; Being a Guide to Bavaria, Austria, Tyrol, Salzburg, Styria, &c., the Austrian and Bavarian Alps, and the Danube from Ulm to the Black Sea, 12. Aufl. London 1873, S. 1, 169. 56 Ernst Karpf, »Und mache es denen hiernächst Ankommenden nicht so schwer…« Kleine Geschichte der Zuwanderung nach Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1993, S. 110.

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(die im Deutschen Reich reisen durften), ehemaligen Elsässern und sonstigen Ausländern zu unterscheiden. Es war mithin nur konsequent, dass die Freizügigkeitsgesetze des Deutschen Reichs erst ab 1873 im Elsass galten.57 Der Wunsch nach einer Bevölkerung mit homogener Staatsangehörigkeit, in der sich möglichst wenige, nur vorübergehend anwesende Personen auf die Unterstützung eines anderen Staates verlassen konnten, bestimmte die preußische Ausländerpolitik in den frühen 1870er Jahren. Die Folge war freilich weniger eine Politik der restriktiven Migrationskontrolle als eine Politik des intensiven Integrationsdrucks, der sich allerdings hauptsächlich auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit, nicht auf die kulturelle Assimilation bezog. Die Hintergründe des Integrationsdrucks waren unterschiedlich. Im Falle Schleswigs ging es der preußischen Regierung vor allem darum, die Herrschaft über ein Gebiet zu konsolidieren, dessen dänische Minderheit die Basis einer separatistischen Bewegung werden konnte. Daher mussten sich die Einwohner Schleswigs binnen sechs Jahren für oder gegen die dänische Staatsangehörigkeit entscheiden; optierten sie für Dänemark, mussten sie Preußen verlassen. Zahlreiche Dänen widersetzten sich dieser Regelung oder kehrten später zurück; etwa 2.300 Dänen, die in Schleswig ansässig waren, wurden 1907 gemäß den Bestimmungen eines ›Optantenvertrags‹ zwischen Preußen und Dänemark eingebürgert. Der populäre Widerstand gegen den deutschen Vormarsch in Frankreich 1870 machte deutlich, dass die Fähigkeit, große Heere zu mobilisieren, in einem zukünftigen Krieg entscheidend sein konnte. Gerade in Grenzregionen war es jedoch relativ einfach, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Auch in Frankreich hatte es seit dem frühen 19. Jahrhundert Klagen darüber gegeben, dass es Belgiern, Niederländern und Angehörigen deutscher Staaten möglich war, sich in Grenzdépartements niederzulassen, und sich dank des vererbbaren Ausländerstatus der Wehrpflicht zu entziehen (und dadurch die relative Belastung der Franzosen, die sich aus der Einwohnerzahl der Départements ergab, zu vergrößern). Während die Diskussion in Frankreich 1886 zu einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts führte, welche die automatische Einbürgerung der zweiten Einwanderergeneration vorsah58, ging die preußische Regierung das Problem auf andere Weise an. Den zahlreichen niederländischen Zuwanderern in der preußischen Rheinprovinz, die, vom wirtschaftlichen Aufschwung des Ruhrgebiets angezogen, in den Regierungsbezirken Aachen und Düsseldorf ansässig geworden waren, wurde 1874 angekündigt, dass sie fortan keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr erhalten würden. Die Einbürgerung wurde

|| 57 Gesetz, betreffend die Einführung des Reichsgesetzes über die Freizügigkeit vom 1.11.1867 und des Reichsgesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.6.1870, vom 8.1.1873. 58 Patrick Weil, Qu’est-qu’un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution. Paris 2002, S. 54–59.

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so zur einzigen Möglichkeit, weiter im Land zu bleiben. Etwa 2.000 Niederländer beantragten daraufhin erfolgreich die Einbürgerung in Preußen. 1874 und 1875 ließ die Tatsache, dass ausländische Einwohner des Landes vor die Wahl zwischen Einbürgerung und Ausweisung gestellt wurden, die Zahl der Einbürgerungen in Preußen von etwa 1.500 im Jahr 1873 auf über 4.000 im Jahr 1874 und über 7.000 im Jahr 1875 hochschnellen.59 Auch in diesem Bereich bleibt der Befund somit ambivalent. Es wäre gänzlich unrichtig, das Deutsche Reich einer pauschalen Abwehrpolitik gegenüber Ausländern zu bezichtigen, die über kontinentaleuropäische Normen hinausgegangen wäre. Allerdings blieben eine Reihe von Barrieren bestehen, die sich – wie im Falle des Elsasses und des Rheinlandes – gerade gegen Personen aus den Nachbarländern richteten. Diese Abwehrpolitik zielte allerdings vorwiegend auf die formale Integration von Zuwanderern in den Verband der Staatsangehörigen, nicht auf ihre Ausgrenzung aus einer vorwiegend als ethnisch homogen gedachten Bevölkerung. In der Staatsangehörigkeitspolitik fand diese Offenheit dort ihre Grenze, wo es um die Integration von Juden aus dem Ausland, vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, in den deutschen Staatsverband ging. Auf diesem Gebiet sah sich Preußen aber zunehmend – zumindest in der eigenen Wahrnehmung – von den süddeutschen Staaten isoliert, die eine großzügigere Einbürgerungspraxis zu praktizieren schienen. Das machte aus preußischer Sicht später eine Reform der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung und -praxis notwendig.60 Insgesamt empfiehlt es sich wohl, die Reichsgründung als Voraussetzung einer weitgehenden, aber keineswegs umfassenden migratorischen Deregulierung nach innen wie nach außen zu beschreiben.

|| 59 Nathans, Politics of Citizenship in Germany, S. 93; Trevisiol, Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 61f. 60 Vgl. ebd., S. 111–200; Trevisiol, Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 148–162.

Christiane Reinecke

Staatliche Macht im Aufbau: Infrastrukturen der Kontrolle und die Ordnung der Migrationsverhältnisse im Kaiserreich Wenn im Folgenden von einer Ordnung der Migrationsverhältnisse im Deutschen Kaiserreich die Rede ist, dann ist damit weniger ein Zustand als ein Prozess gemeint: der Prozess des Ordnens und des Verwaltens von Migration. Denn die folgende Darstellung befasst sich in erster Linie mit den administrativen Praktiken, mittels derer Zuwanderung erfasst und kontrolliert wurde. Wann, warum und wie, so die knappe Ausgangsfrage, wurde Migration im Deutschen Kaiserreich zu einer verwaltbaren Größe? Mittels welcher Praktiken unterschieden die staatlichen Eliten zwischen Erwünschten und Unerwünschten, inwiefern beeinflussten sie das transnationale Wanderungsgeschehen – und wie gingen Migrantinnen und Migranten mit diesen bürokratischen Logiken um? Diese Fragen lenken den Blick auf das ›Wie‹ des staatlichen Handelns. Denn Veränderungen in der Migrationspolitik resultierten nicht ausschließlich aus einem Wandel der politischen Zielsetzungen. Vielmehr waren Staaten für die Implementierung ihrer Politik auf ein ausführliches Daten-Wissen und eine ausreichend dichte bürokratische Infrastruktur angewiesen.1 Schon aus diesem Grund ist die Geschichte der staatlichen Intervention in Wanderungsprozesse eng mit der Entwicklung des modernen Staates und den homogenisierenden Effekten des modernen Nationalismus verbunden. Sozialplanerische Ambitionen, die Nationalisierung der Politik und die Eigendynamik des sich ausdifferenzierenden staatlichen Verwaltungsapparates wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu zentralen Triebkräften einer veränderten Migrationspolitik.2

|| 1 Zum Begriff der Infrastruktur und seinem analytischen Wert vgl. Dirk van Laak, Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 27. 2001, S. 367–393; zum Konzept der ›infrastrukturellen Macht‹ des Staates siehe Michael Mann, The Autonomous Power of the State: Its Origins, Mechanisms and Results, in: Archives Européennes de Sociologie, 25. 1984, S. 185–213; und zum ›Wissen des Staates‹ die umfassenden konzeptionellen Überlegungen bei Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hg.v. Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2004, hier v.a. S. 13–51, S. 87–133. 2 Gerade zu den ersten beiden Aspekten siehe die Argumentation bei Patrick Kury, Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945, Zürich 2003. Zur Bedeutung bürokratischer Logiken für den Umgang mit Zuwanderungsprozessen siehe zudem die Studie von Clifford Rosenberg, Policing Paris, The Origins of Modern Immigration Control between the Wars, Ithaca 2006. Vgl. hierzu auch Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010.

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Der Nationalstaat erschien in historischen Betrachtungen lange als feste Entität und bloßer Schauplatz von Migration. Erst schrittweise hat sich die Forschung der Herausbildung staatlicher Herrschaftspraktiken und nationaler Logiken zugewandt. Statt von einem starren ›Container Nationalstaat‹ auszugehen, rücken Historikerinnen und Historiker vermehrt den Prozess der Entstehung eines durch voneinander abgegrenzten Nationalstaaten dominierten Territorialitätsregimes sowie die schrittweise Nationalisierung kollektiver Zugehörigkeiten und administrativer Routinen (und deren Verknüpfung mit imperialen Dynamiken) in den Blick. Daran anknüpfend argumentiert auch der vorliegende Text, dass der Versuch einer zunehmenden Kontrolle transnationaler Mobilität im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erst dann verständlich wird, wenn er als Teil jener umfassenden Standardisierungs- und Rationalisierungsprozesse verstanden wird, die moderne Staaten implementierten, um Gesellschaften regier- und ›lesbar‹ zu machen.3 Wie und warum staatliche Akteure Migrationsprozesse kontrollierten, hängt in dieser Perspektive maßgeblich davon ab, wie sich Nationalstaaten als Personenverbände und als territorial organisierte Herrschaftsformationen historisch entwickelten. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die Analyse auf die konkreten Infrastrukturen und Praktiken der Kontrolle, über die Staaten und Migranten zueinander in Kontakt traten. Es ist charakteristisch für die Verklammerung von nationalstaatlicher Herrschaft und Migrationspolitik, dass die Zeit von den 1880er bis zu den 1920er Jahren migrationsgeschichtlich eine Phase des Übergangs darstellte.4 Während sich einerseits das von Ökonomie, Verkehr und Kommunikation global gespannte Netz verdichtete, schotteten sich andererseits die einzelnen Nationalstaaten zunehmend voneinander ab. Von einem »Epistem der Abgrenzung« bestimmt5, änderte sich der staatliche Umgang mit Wanderungsprozessen entscheidend.6 Seien es die USA, || 3 James C. Scott, Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 2. 4 Siehe dazu u.a. Aristide R. Zolberg, Global Movements, Global Walls: Responses to Migration 1885–1925, in: Wang Gungwu (Hg.), Global History and Migrations, Boulder, CO 1997, S. 279–307. 5 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review, 105. 2000, S. 807–831, hier S. 819. 6 Zur historischen Auseinandersetzung mit dem Feld der Migrationskontrolle im 19. und 20. Jahrhundert siehe Andreas Fahrmeir/Olivier Faron/Patrick Weil (Hg.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York/Oxford 2003; Anita Böcker (Hg.), Regulation of Migration. International Experiences, Amsterdam 1998; Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern 1997; vgl. auch die einem steuerungstheoretischen Ansatz folgenden Schriften in Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003; zur politikwissenschaftlichen Sicht vgl. Gallya Lahav/Virginie Guiraudon (Hg.), Immigration Policy in Europe: The Politics of Control (Themenheft von ›West European Politics‹, 29. 2006); Peter Andreas/ Timothy Snyder (Hg.), The Wall around the West. State Borders and Immigration Controls in North America and Europe, Lanham 2000.

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Kanada und Australien oder seien es Großbritannien, die Beneluxstaaten und die Schweiz in Westeuropa: Die meisten Zielländer und zahlreiche koloniale Dominions entwickelten zwischen den 1880er und 1920er Jahren Mechanismen, um den Zugang zu beschränken. Das Deutsche Reich sowie insbesondere Preußen bildeten hierbei keine Ausnahme. Sie gehörten – im Gegenteil – zu den Vorreitern dieser Entwicklung, indem sie bereits früh den Anspruch erhoben, Wanderungsprozesse zu kontrollieren. Die historische Forschung hat eine Reihe von Faktoren angeführt, um diese internationale Entwicklung zu erklären. So hat der amerikanische Politologe Aristide R. Zolberg die These vertreten, dass es in der Migrationspolitik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts international zu einer »Aufwärtsspirale der Restriktion« gekommen sei.7 Ihm zufolge führten die verschärften Zugangsbeschränkungen der USA und ein damit erhöhter »Migrationsdruck« zur Herausbildung eines restriktiven Migrationsregimes auf internationaler Ebene. Zolberg geht damit von einer engen Verflechtung nationaler Politiken seit den 1880er Jahren aus. Demgegenüber haben andere Autoren stärker die strukturellen Ähnlichkeiten der verschiedenen Entwicklungen betont. In ihrer Argumentation spielen vor allem drei Aspekte eine Rolle: das nationale Denken, die wachsende Bedeutung der Arbeiterbewegung und die Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. So ist der steigende Kontrollanspruch im Bereich der Migration auf eine vermehrt ethnisch-exklusive oder ethnisch-homogenisierende Orientierung des nationalen Denkens zurückgeführt8 und mit dem langfristigen Prozess einer Nationalisierung der Politik erklärt worden.9 Andere Studien haben den Blick auf die Arbeiterbewegungen gelenkt, deren nativistische Forderung nach einem Vorrang der ansässigen Arbeiter eine restriktive Migrationspolitik vorangetrieben haben soll.10 Schließlich ist angeführt worden, dass in den entstehenden Sozialstaaten das Bedürfnis wuchs, zwischen eigenen

|| 7 Aristide R. Zolberg, The Great Wall Against China: Responses to the First Immigration Crisis, 1885–1925, in: Lucassen/Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History, S. 291–315, hier S. 292. 8 Zur Entwicklung eines ethnisch-exklusiven Staatsangehörigkeitsrechts siehe u.a. Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, London 1992; Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen: die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001 sowie zusammenfassend Andreas Fahrmeir, Citizenship: The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007, S. 89–96. Am Beispiel der Schweiz hat auch Patrick Kury auf die Bedeutung einer ethnisch-homogenisierenden Ausrichtung der nationalstaatlichen Politik verwiesen; Kury, Über Fremde reden. Zum rechtlichen Umgang mit ethnischer Heterogenität im imperialen Kontext siehe zudem Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich, 1867–1918, Göttingen 2010. 9 Gérard Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, Lüneburg 1994. 10 Leo Lucassen, The Great War and the Origins of Migration Control in Western Europe and the United States (1880–1920), in: Böcker (Hg.), Regulation, S. 45–72.

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Staatsangehörigen (als den Empfängern sozialer Leistungen) und fremden Staatsangehörigen (denen diese Leistungen verwehrt wurden) zu unterscheiden.11 Ausgehend vom preußischen Beispiel hat die bisherige Forschung die Entwicklung im Deutschen Kaiserreich dabei im Spannungsfeld von vor allem zwei Entwicklungen verortet: der voranschreitenden Industrialisierung auf der einen und der zunehmend aggressiven, ethnisch-exklusiven Nationalitätenpolitik auf der anderen Seite. Beide Deutungslinien, die wirtschaftliche wie die nationalpolitische, sind zentral, um die politischen Veränderungen im Kaiserreich einordnen zu können. Doch bedürfen sie einer Ergänzung, denn zum einen muss die damalige Migrationspolitik stärker als bisher in ihren transnationalen Bezügen untersucht werden.12 Zum anderen sollte neben ihrem Anspruch auch ihre Reichweite in den Blickpunkt rücken. Migrantinnen und Migranten gingen stets aktiv mit dem Versuch der Kontrolle und Beschränkung ihrer Mobilität um. Politiken waren (und sind) nicht immer effizient.13 Nicht jede politische Programmatik wurde problemlos in administrative Abläufe übersetzt, und gerade eine Analyse der deutschen Politik muss die Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Entscheidungsebenen mitdenken, die eng an eine Nationalisierung von Politik und Verwaltung sowie den nur langsamen Aufstieg eines einheitlichen Verwaltungsapparates gebunden sind.14 Das Deutsche Kaisereich war föderal organisiert, und für Zuwanderungspolitik und Ausländerpolizei waren die einzelnen Länder zuständig.15 Deren Vorgaben hinsichtlich ausländischer Staatsangehöriger divergierten teilweise stark. Am stärksten mit der Zu- und Arbeitswanderung nicht-deutscher Migrantinnen und Migran|| 11 Michael Bommes/Jost Halfmann, Einführung. Migration, Nationalstaat, Wohlfahrtsstaat, in: dies. (Hg.), Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen, Osnabrück 1998, S. 9–45; Frank Caestecker, Alien Policy in Belgium, 1840–1940. The Creation of Guest Workers, Refugees and Illegal Aliens, New York/Oxford 2000. Zu den inklusiven Effekten des (britischen) Wohlfahrtsstaates vgl. hingegen David Feldman, Migrants, Immigrants and Welfare from the Old Poor Law to the Welfare State, Transactions of the Royal Historical Society, 13. 2003, S. 79–104. 12 Zu dieser Forderung generell vgl. Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational: Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004; sowie Gunilla Budde u.a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006. 13 Vgl. die Hypothesen von Wayne A. Cornelius/Philip L. Martin/James F. Hollifield, Introduction. The Ambivalent Quest for Immigration Control, in: dies. (Hg.), Controlling Immigration. A Global Perspective, Stanford 1994, S. 3–42; siehe auch die konzeptionellen Überlegungen bei Giuseppe Sciortino, Toward a Political Sociology of Entry Policies: Conceptual Problems and Theoretical Proposals, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 26. 2000, S. 213–228. 14 Zur historischen Entwicklung des Verhältnisses von Reich, Nation und Region generell vgl. die beziehungsgeschichtliche Studie von Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004. 15 Vgl. zu diesen regionalen Unterschieden für die Zeit vor 1870/71 die Untersuchung von Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789–1870, New York/Oxford 2000.

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ten konfrontiert war dabei Preußen. Zudem war es Preußen, das in Fragen der Migrationspolitik eine Vorreiterrolle für sich beanspruchte. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die folgende Darstellung zunächst darauf, die Veränderungen in der preußischen Politik zu beschreiben, um davon ausgehend die Unterschiede und Spannungen in der innerdeutschen Verwaltungspraxis zu erörtern. Die Analyse bezieht hierbei die Strategien der Migrantinnen und Migranten selbst mit ein, die auf Regulierungsversuche selbstverständlich reagierten und sie immer wieder umgingen. Insofern steht das dynamische Wechselverhältnis zwischen ihrem Handeln und dem Handeln der staatlichen Autoritäten im Folgenden im Mittelpunkt. Die Art und Weise, wie im Kaiserreich mit grenzüberschreitender Mobilität umgegangen wurde, muss außerdem in einem transnationalen Rahmen untersucht werden. Die verschiedenen nationalstaatlichen Migrationsregime entwickelten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht isoliert voneinander, sondern waren in übergreifende Strukturen eingebunden. Das gilt sowohl im Hinblick auf ihre Position im globalen Wanderungsgeschehen als auch im Hinblick darauf, wie staatliche Akteure jeweils auf die Erwartungen und Gepflogenheiten anderer nationalstaatlicher Bürokratien reagierten. Entscheidungen, die ausländische Staatsangehörige betrafen, berührten die Interessen anderer Staaten. Auch wirkten sich Debatten, die auf internationaler und bilateraler Ebene geführten wurden, auf das lokale und nationale Verwaltungshandeln aus. Im Falle des Deutschen Kaiserreichs bildeten schließlich zudem die in Teilen quasi-kolonialen Verhältnisse in den ostpreußischen Provinzen zentrale Bezugspunkte der Politik.16 Derartige Zusammenhänge so wie überhaupt die globale Verflechtung von Wirtschaft, Kommunikation und Verkehr müssen mit in die Analyse einbezogen werden. In diesem Rahmen konzentriert sich die folgende Darstellung auf den staatlichen Umgang mit Formen der Zu- und Durchwanderung.17 Sie bezieht sich auf die Vorschriften und Praktiken, die im Deutschen Reich etabliert wurden, um Zu- und Transitwanderer statistisch zu erfassen und ihren Zugang zu Land und Arbeit zu regulieren. Damit rücken verschiedene Aspekte des staatlichen Ordnungsprozesses in den Blickpunkt: 1. Die medizinisch basierte Einteilung in einerseits kranke und riskante sowie andererseits gesunde und ungefährliche Fremde im Rahmen der sanitären Kontrolle von Transitmigranten, die sich im Zusammenspiel verschiedener nationaler Regelungssysteme entwickelte. 2. Die Scheidung von legitimierten und nicht|| 16 Philipp Ther, Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Conrad/Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich, S. 129–148. Vgl. dazu auch Dörte Lerp, Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspolitiken in DeutschSüdwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884–1914, Frankfurt a.M. 2015. 17 Zum vernachlässigten Aspekt der Emigrationskontrolle siehe dagegen Andreas Fahrmeir, From Economics to Ethnicity and Back: Reflections on Emigration Control in Germany, 1800–2000, in: Nancy L. Green/François Weil (Hg.), Citizenship and Those Who Leave. The Politics of Emigration and Expatriation, Urbana/Chicago 2007, S. 176–191.

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legitimierten Arbeitsmigranten und damit die Regulierung ihrer beruflichen wie räumlichen Mobilität. 3. Die Abwehr von ›lästigen‹ – im Gegensatz zu ›erwünschten‹ – Ausländern, die aus den Ausweisungen auf Reichs- und Landesebene resultierte. Indem sich die folgenden drei Abschnitte diesen verschiedenen Logiken der In- und Exklusion widmen, umkreisen sie jeweils auch unterschiedliche Formen der Kontrolle; die Grenzstationen im ersten, Statistiken und Arbeitserlaubnisse im zweiten, Rechtssprechung und Verwaltungsanordnungen im dritten Fall.

1 An den Grenzen: die sanitäre Kontrolle der Transitreisenden Louise Kazmiera Schultz Nagy, 1903 in Warschau geboren, wanderte 1913 als Kind in die Vereinigten Staaten aus. Zusammen mit ihren Geschwistern und ihrem Onkel wollte sie dort zu ihren Eltern stoßen, die in New York eine Arbeit gefunden hatten. Es sei damals jedoch schwierig gewesen, in Russland an Pässe zu kommen, erinnert sich Louise Nagy später. Sie seien gezwungen gewesen, jemanden zu bezahlen, damit er sie über die Grenze nach Deutschland brachte und sie erinnert sich, wie sie gemeinsam mit ihren Geschwistern und ihrem Onkel die Grenze überquerte; nachts, heimlich und in der Angst, ein russischer Grenzposten könnte sie aufhalten.18 Die heimliche Überquerung der Grenze bildet ein wiederkehrendes Motiv in den Erinnerungen derjenigen, die in den 1980er und 1990er Jahren im Rahmen des ›Ellis Island Oral History Project‹ in den USA interviewt wurden und über ihre Erfahrungen bei der Auswanderung sprachen.19 Viele konnten in Russland keinen Pass erhalten, der die legale Ausreise erlaubt hätte. Sie versuchten daher, die Grenze unbeobachtet von den russischen Beamten zu überqueren – mit Hilfe von Agenten, versteckt unter Heu, mittels bestochener Grenzposten.20 Diese individuellen Erinnerungen verdeutlichen zweierlei: Zum einen belegen sie, dass das Wanderungsgeschehen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur vom Wohlwollen der Aufnahmeländer abhing, sondern von den Politiken gleich

|| 18 Interview mit Louise Nagy durch Dana Gumb, 16. September 1985, in: Ellis Island Oral Project, Series AKRF, Nr. 33, Alexandria, VA 2003, in: North American Immigrant Letters, Diaries and Oral Histories, http://solomon.imld.alexanderstreet.com (Stand 11. April 2011). 19 Vgl. z.B. die Interviews mit Jack Levine, Isadore Samet, Samuel Nelson, Justina Marculaitis Brozinskas, Louise Nagy und Stephanie Okunewitch im Rahmen des Ellis Island Oral History Project, in: North American Immigrant Letters, Diaries and Oral Histories, http://solomon.imld. alexanderstreet.com (Stand 11. April 2011). 20 Ähnliche Schilderungen gibt es für die deutsch-österreichische Grenze; vgl. die Erinnerungen des aus Galizien stammenden jüdischen Schauspielers Alexander Granach, Da geht ein Mensch. Autobiographischer Roman, Stockholm 1945, S. 211f.

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mehrerer Staaten.21 Aus- und Einreise hingen ebenso von den Maßnahmen der Ausgangsstaaten – etwa der Passpolitik des Zarenreichs – ab wie von den Vorgaben der Ziel- und Transitländer.22 Zum anderen zeigen die Berichte, dass die Überquerung staatlicher Grenzen in den Augen vieler Migrantinnen und Migranten ein Problem darstellte – wenngleich sie vielfach Wege fanden, um dieses Hindernis zu überwinden. Das Wissen darum, wie man jenseits der offiziellen Übergänge über die Grenze kam, war weit verbreitet. Um dieses Wissen historisch einordnen zu können, ist es allerdings notwendig, sich zunächst mit den Hindernissen zu beschäftigen, denen Transitwanderer begegneten. Inwieweit war die Transitmigration in der bürokratischen Logik des Deutschen Reichs überhaupt eine eigene Erscheinungsform des Wanderungsgeschehens, der spezifische Maßnahmen galten? Die Transitmigration bildete zur Zeit des Kaiserreichs keineswegs ein marginales Phänomen. Sie war Teil einer Entwicklung, die in der Literatur oft als ›Proletarische Massenmigration‹ bezeichnet wird. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs verließen geschätzte 50 bis 60 Millionen Europäerinnen und Europäer ihre Heimat in Richtung der Vereinigten Staaten, Südamerika, Kanada oder Australien.23 Zeitgleich intensivierte sich innerhalb Europas die transnationale Arbeitsmigration. Die Gründe für diesen Mobilitätsschub waren vielfältig, doch kann die ökonomische Entwicklung als ein zentraler Faktor gelten. Mit der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Nordamerika und Westeuropa voranschreitenden Industrialisierung stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften. Zugleich hatten sich mit der Etablierung der Dampfschifffahrt und dem Ausbau des europäischen Schienennetzes die Reisezeiten stark verkürzt. Die Preise für die Überfahrt waren gesunken. Diese Entwicklungen begünstigten einen Anstieg der saisonalen transatlantischen und transkontinentalen Arbeitsmigration. Die Grenzen zwischen permanenter und saisonaler, zwischen »definitiver Auswanderung und transatlantischer Arbeitswanderung« verschwammen dabei zusehends.24 Ein Teil der Migrantinnen und Migranten begab sich lediglich temporär nach Übersee oder in andere europäische Länder und kehrte nach einiger Zeit wieder zurück. Zahlreiche italienische und spanische Arbeiter etwa fuhren im || 21 Siehe dazu ausführlicher: Christiane Reinecke, Migranten, Staaten und andere Staaten. Zur Analyse transnationaler und nationaler Handlungslogiken in der Migrationsgeschichte, in: Agnes Arndt/Joachim C. Häberlen/Christiane Reinecke (Hg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 243–267. 22 Zur russischen Politik der Passvergabe siehe Mervyn Matthews, The Passport Society. Controlling Movements in Russia and the USSR, Boulder, CO 1993. 23 Die genauen Angaben schwanken. Leslie Page Moch spricht für den Zeitraum von 1860–1914 von 52 Millionen Migranten, die Europa verließen; Leslie Page Moch, Moving Europeans: Migration in Western Europe since 1650, 2. Aufl. Bloomington 2003, S. 147; Klaus J. Bade zitiert Angaben, wonach 1820–1914 rund 63 Millionen brutto bzw. netto 50–55 Millionen Europäer nach Übersee auswanderten; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 142, 165. 24 Bade, Europa, S. 141.

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Winter nach Brasilien oder Argentinien, um dort auf den Obst- und Kaffeeplantagen zu arbeiten, und fuhren im nächsten Sommer wieder zurück.25 Die globale Ausweitung der Wanderungsdistanzen und die fortschreitende Internationalisierung der Arbeitsmärkte bedeuteten jedoch nicht, dass Migrantinnen und Migranten überall Freizügigkeit genossen und jede Grenze problemlos überqueren konnten. An der deutsch-russischen Grenze etwa gingen die russischen Grenzposten aggressiv gegen Untertanen aus dem Zarenreich vor, die die Grenze unerlaubt und ohne Papiere zu überschreiten suchten.26 In zahlreichen Fällen schossen sie sogar auf unbefugte Grenzgänger. Auf deutscher Seite wiederum waren Reisende aufgefordert, die offiziellen Übergänge zu nutzen, auch gab es regelmäßig Patrouillen. Doch wurden die Grenzen kaum einheitlich kontrolliert. Ein preußischer Beamter, der 1898 im Auftrag des Innenministeriums die Vorkehrungen an der Grenze zu Russland überprüfte, berichtete etwa, dass – anders als auf russischer Seite – auf deutscher Seite von einer unausgesetzten Beaufsichtigung der Grenzlinie nicht die Rede sein könne. Auch würden Einreisende von den Grenzgendarmen nur sporadisch nach ihren Pässen gefragt. Eine regelmäßige Passkontrolle fände lediglich an den Eisenbahn-Übergängen durch preußische Grenzkommissare statt.27 Allerdings bildete sich seit dem späten 19. Jahrhundert entlang der deutsch-russischen und -österreichischen Grenze eine alternative Struktur von Kontrollpunkten aus. Dabei handelte es sich zum einen um Stationen, die von der Deutschen Arbeiterzentrale, einer halbamtlichen Institution zur Anwerbung von ausländischen Saisonarbeitskräften, betrieben wurden. Zum anderen unterhielten und finanzierten die beiden Schifffahrtslinien Hapag und Lloyd in Absprache mit der preußischen Regierung Grenzstationen für Transitreisende aus Russland und Österreich-Ungarn. Die transatlantische Migration aus Ost- und Südeuropa hatte seit den 1880er Jahren im globalen Wanderungsgeschehen an Bedeutung gewonnen. Vor allem die polnisch und jüdisch besiedelten Gebiete in Russland und Österreich-Ungarn entwickelten sich, neben Italien, zu zentralen Ausgangsregionen der europäischen Überseewanderung.28 Viele der von dort kommenden Migranten begaben sich über die norddeutschen Hafenstädte nach Amerika. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs reisten daher jährlich Tausende und bald Hunderttausende durch das Deutsche Reich, um zu ihren Abfahrtshäfen zu gelangen. Allein über Bremerhaven und Hamburg wanderten zwischen 1871 und 1914 über 5,3 Millionen Migranten aus Russland || 25 Page Moch, Moving Europeans, S. 156. Zum Fall der italienischen Migration siehe zudem die hervorragende Studie von Donna R. Gabaccia, Italy’s Many Diasporas, Seattle 2000. 26 Siehe die Berichte über Grenzverletzungen in: Geheimes Preußisches Staatsarchiv (im Folgenden GStA), I HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, tit. 91. 27 GStA, I HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, tit. 1145, Nr. 122. 28 Zum Umfang der Auswanderung in die USA und den US-amerikanischen Reaktionen auf die ›new immigrants‹ vgl. Walter Nugent, Crossings. The Great Transatlantic Migrations, 1870–1914, Indiana 1992, S. 158–162.

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(ca. 2,32 Millionen), Österreich-Ungarn (ca. 2,96 Millionen) und Rumänien (ca. 46.000) aus.29 Vor allem für die Hamburger Hapag und den Bremer Norddeutschen Lloyd bedeutete die massenhafte Überseewanderung ein lukratives Geschäft. Sie verdienten an der erhöhten Mobilität von Reisenden aller Klassen, und ihnen war schon aus kommerziellen Gründen daran gelegen, dass die Überfahrt ihrer Passagiere reibungslos verlief.30 Das machte sie im Umgang mit den Transitwanderern zu einflussreichen Akteuren, die zwischen den verschiedenen nationalen Regelungssystemen vermittelten, denen ihre Passagiere ausgesetzt waren. Deutlich wird das am Beispiel der medizinischen Einreisekontrollen. 1891 hatte der US-amerikanische Kongress verfügt, dass all jenen ausländischen Migranten der Zutritt verwehrt werden sollte, die geistesgestört waren oder bei denen es wahrscheinlich schien, dass sie der Fürsorge anheim fielen. Zudem sollten Personen abgewiesen werden, die wegen eines Kapitalverbrechens verurteilt waren oder die an einer ›abstoßenden Krankheit‹ litten. Ethnisch oder sozial neutral waren diese Vorgaben keineswegs, sie richteten sich, einer rassistischen Stoßrichtung folgend, in erster Linie gegen die sogenannten ›new immigrants‹ aus dem osteuropäischen Raum. Einreisewillige wurden infolgedessen bei ihrer Ankunft in den USA medizinisch untersucht und gegebenenfalls zurückgeschickt, wenn sie als krank oder mittellos eingestuft wurden. Für ihren Rücktransport mussten die Schifffahrtslinien aufkommen.31 Damit drohten den Reedereien erhöhte Kosten, wenn ihre Passagiere die Kontrollen in den USamerikanischen Häfen nicht passierten. Sie waren schon aus diesem Grund daran interessiert, die Einschiffung verdächtiger Passagiere von vornherein zu verhindern. Die Linien wurden damit zu entscheidenden Mittlern, die die Vorgaben der USamerikanischen Behörden nach Europa übersetzten.32 Das zeigte sich vor allem, als 1892 ein Cholera-Ausbruch in Hamburg den Anstoß zu einer verschärften Kontrolle der Auswanderer gab. || 29 Zur Geschichte der Transitmigration im Kaiserreich siehe Michael Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung 1881–1914. Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigen Staaten, Stuttgart 1988, hier S. 36. 30 Vgl. hierzu v.a. Tobias Brinkmann, Why Paul Nathan attacked Albert Ballin: The Transatlantic Mass Migration and the Privatization of Prussia’s Eastern Border Inspection, 1886–1914, in: Central European History, 43. 2010, S. 47–83. 31 Zur Geschichte der US-amerikanischen Einreisepolitik allgemein siehe Aristide R. Zolberg, A Nation by Design. Immigration Policy in the Fashioning of America, New York 2006, hier S. 223–225; Mae M. Ngai, Impossible Subjects. Illegal Aliens and the Making of Modern America, Princeton/Oxford 2005; sowie speziell zu den medizinischen Untersuchungen von Immigrantinnen und Immigranten Barbara Lüthi, Invading bodies: Medizin und Immigration in den USA 1880–1920, Frankfurt a.M. 2009. 32 Zum Verhältnis von europäischen und US-amerikanischen Kontrollpraktiken siehe auch Patrick Kury/Barbara Lüthi/Simon Erlanger, Grenzen setzen. Vom Umgang mit Fremden in der Schweiz und den USA (1890–1950), Köln 2005, S. 117–132; sowie Lüthi, Invading, S. 133–139.

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In der Hansestadt waren im August 1892 erste Fälle von Cholera aufgetreten, und die Krankheit forderte bald weitere Opfer.33 Die hinzu gerufenen medizinischen Experten, an erster Stelle der prominente Bakteriologe Robert Koch, gaben rasch den russischen Auswanderern in der Stadt die Schuld an der Epidemie.34 In verschiedenen Regionen des Zarenreichs war zuvor die Cholera ausgebrochen. Es schien daher naheliegend, die von dort kommenden Migranten mit den Erkrankungen in Verbindung zu bringen; umso mehr, als im rassistisch konturierten Hygienediskurs der Zeit die russisch-jüdischen Migranten als unsauber und ansteckend figurierten.35 Dass die Auswanderer tatsächlich den Ausbruch der Cholera bewirkten, wird in der historischen Forschung zu Recht bezweifelt.36 Doch aus Sicht der Zeitgenossen stellte sich das anders dar – zumal auch in anderen Staaten, namentlich den USA, die Ressentiments gegen diese Gruppe wuchsen.37 Aus Angst vor einer Ausbreitung der Epidemie verfügte die preußische Regierung im Herbst 1892, dass russische und österreichisch-ungarische Auswanderer überhaupt nicht mehr nach Preußen einreisen durften – oder zumindest dann nicht, wenn sie nur Zwischendecktickets besaßen. Anders als die übrigen Reisenden wurden Zwischendeck-Passagiere sozial den unteren Schichten zugerechnet und daher als medizinisch riskant eingestuft. Da sie aber zugleich den Großteil der Reisenden ausmachten, verschloss Preußen mit dem Einreiseverbot die Grenzen für einen Großteil der osteuropäischen Migrantinnen und Migranten. Für die norddeutschen Reedereien bedeutete das herbe finanzielle Verluste, und ihre Vertreter drangen bei der preußischen Regierung auf eine andere Lösung. Sie erreichten schließlich, dass

|| 33 Richard J. Evans, Death in Hamburg: Society and Politics in the Cholera Years, 1830–1910, Oxford 1987. 34 Robert Koch, Die Cholera in Deutschland während des Winters 1892 bis 1893, in: ders., Gesammelte Werke, 2. Bd., 1. Teil, Leipzig 1912, S. 207–261, hier S. 214. Andere sahen Schiffe aus französischen Häfen als Mittler der Epidemie, während wieder andere die Verhältnisse im Hafen, das Klima und den ›verunreinigten Boden‹ verantwortlich machten; vgl. etwa Friedrich Wolter, Das Auftreten der Cholera in Hamburg in dem Zeitraume von 1831–1893, München 1898. 35 Laut Briese bündelten sich in der affektgeladenen Rede von den eindringenden Bakterien generell die Unsicherheiten in der Konfrontation mit der Moderne; Olaf Briese, Angst in den Zeiten der Cholera, Berlin 2003, S. 384f. 36 Paul Julian Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945, Oxford 2000, S. 63: »Transmigrants did not ›cause‹ cholera in other port cities, notably Bremen. Russian Jews were scapegoated for the failure of the Hamburg authorities to provide filtration. But there is no conclusive proof for the view held at the time by anti-Semites that Russian Jews caused the Hamburg cholera epidemic«. 37 Zu den konkreten Reaktionen in den USA und vor allem in New York siehe Howard Markel, Quarantine! East European Jewish Immigrants and the New York City Epidemics of 1892, Baltimore/London 1997; zur Geschichte der medikalisierten Abwehr bestimmter Migrantengruppen vgl. zudem Alan M. Kraut, Silent Travelers: Germs, Genes, and the ›Immigrant Menace‹, Baltimore 1995; sowie Lüthi, Invading.

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an den Grenzen Kontrollstationen errichtet wurden, für die sie selbst die Kosten übernahmen.38 An die östlichen Grenzen und die Bahnlinien nach Bremen und Hamburg begann sich damit seit Ende 1894 eine Infrastruktur von Kontroll- und Desinfektionsstationen anzulagern. Auswanderungswillige aus Russland und Österreich-Ungarn, die über die deutschen Häfen reisten, mussten nun eine Abfolge von Untersuchungen durchlaufen: In den Stationen direkt an der Grenzen mussten sie das Ticket einer Schifffahrtsgesellschaft vorzeigen und sich von einem Arzt untersuchen lassen. Waren sie nicht gesund, wurden sie abgewiesen. Von der Grenze aus setzten sie ihre Reise in separaten Eisenbahnwaggons fort, die sie während der Fahrt nicht verlassen durften. Zumindest die russischen Migranten brachten diese Züge zu einer weiteren Kontrollstation: Sie fuhren nach Ruhleben in der Nähe von Berlin, wo sie – sofern das nicht bereits an der Grenze geschehen war – gebadet und mitsamt ihrem Gepäck und ihrer Kleidung desinfiziert wurden.39 Hier folgte eine zweite ärztliche Untersuchung, schließlich bei ihrer Ankunft in den Einschiffungshäfen eine dritte. Schon die Desinfektion ihrer Habseligkeiten rief bei den Auswanderern Unwillen hervor. Ein Redakteur des sozialdemokratischen ›Vorwärts‹, der sich im Winter 1904 als russisch-jüdischer Migrant ausgab, durchlief die verschiedenen Kontrollpunkte entlang der Strecke von Tilsit über Ruhleben bis Hamburg.40 Er schildert in seiner Artikelserie ›Mit Ballin unterwegs‹ die Unfreundlichkeit der Reederei-Angestellten und die Ängste der Auswanderer.41 So waren er und seine Mitreisenden nach einer ersten ärztlichen Untersuchung in Tilsit aufgefordert worden, sich zu entkleiden. »Eine nicht geringe Zeit«, so Julius Kaliski, »standen wir nackend, unsere Habe in der einen Hand, Leib an Leib gepresst, in drangvoller fürchterlicher Enge bei einander«, um dann »unter die 10 Brausen getrieben« zu werden.42 Aus Angst, zurückgewiesen zu werden, sahen die Migrantinnen und Migranten den Untersuchungen unruhig entgegen. Hinzu kam, dass sie dafür bezahlen mussten (1905 waren es 2 Mark), um den Desinfektionsschein für ihre Einschiffung zu bekommen. Ihre konkrete Behandlung war stark von den Vorgaben der Bakteriologie geprägt, die – unter der Führung Robert Kochs – den epidemiologischen Diskurs in Deutschland und damit die gängigen Vorstellungen einer effektiven Seuchen-

|| 38 Zur Kommunikation zwischen den preußischen Behörden und den Schifffahrtslinien siehe u.a. GStA, I HA, Rep. 77, tit. 226, Nr. 144, Bd. 1. Zu den Verhandlungen zwischen Reedereien und Regierung vgl. auch Brinkmann, Why Paul Nathan, S. 58f. 39 Betriebsordnung für die Auswanderer-Kontrollstation im Regierungsbezirk Posen, in: Frederik von Wickede, Handbuch der Polizei-Verwaltung für den Regierungsbezirk Posen, 2. Aufl. Wiesbaden 1907, S. 26–28. 40 Julius Kaliski, Mit Ballin unterwegs. Erfahrungen eines russischen Auswanderers, Teil I bis VI, in: Vorwärts, 20.12.1904 – 10.1.1905. 41 Der Reeder Albert Ballin (1857–1918) stand der Hapag vor. 42 Kaliski, Mit Ballin unterwegs, Teil III: In der Kontrollstation, in: Vorwärts, 22.12.1904.

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Bekämpfung bestimmte.43 Da es der Bildsprache der Bakteriologie entsprach, Krankheitserreger ›isolieren‹ und ›ausmerzen‹ zu wollen, wurden die Transitmigranten von der einheimischen Bevölkerung isoliert und bewegten sich in separaten Waggons durch das Land. Und es war der ärztliche Blick, der darüber entschied, ob sie Preußen betreten, sowie darüber, ob sie ihre Reise nach Übersee antreten durften. Die körperliche Verfassung der Migranten bildete das zentrale Kriterium ihrer Inoder Exklusion. Zugleich etablierten die sanitären Kontrollen einen Ausschlussmechanismus, der – abgesehen von medizinischen – sozialen und ethnischen Kriterien folgte. Denn lediglich die in der Regel ärmeren Zwischendeckpassagiere mussten sich untersuchen und desinfizieren lassen, wohingegen die Inhaber von Kabinentickets die Grenzen unbehindert passieren durften.44 Die medizinischen Kontrollen konzentrierten sich zudem – dem rassistisch konturierten Hygienediskurs der Zeit gemäß – auf osteuropäische Transitwanderer und insbesondere auf die meist jüdischen Emigranten aus Russland. Als nach 1906 die Sanitätskontrollen gelockert wurden, blieb es lediglich für die russischen und galizischen Auswanderer verpflichtend, sich waschen und desinfizieren zu lassen, während die übrigen Migranten sich zwar untersuchen, aber nicht grundsätzlich desinfizieren und baden lassen mussten.45 Zudem wurden in den Hafenstädten lediglich die russischen Auswanderer in Quarantäne geschickt, nicht so die übrigen. Dieses Vorgehen war auch den Vorgaben der US-amerikanischen Regierung geschuldet, die vor allem bezüglich der russischen Auswanderer gefordert hatte, dass die Schifffahrtslinien sie vor der Abfahrt in Quarantäne hielten.46 Je nach Herkunft der Migranten variierte damit das Prozedere, dem sie sich unterziehen mussten. Sanitäre Interessen waren jedoch nicht allein maßgeblich für die Art und Weise, wie mit ausländischen Migranten umgegangen wurde. Das zeigt der Vergleich mit den ausländischen Saisonarbeitskräften, die alljährlich aus Russland und Österreich-Ungarn nach Preußen kamen. In ihren Memoranden zur Bekämpfung der Cholera hatten die Medizinalbeamten durchaus auch auf die ausländischen Saison-

|| 43 Zur Verbindung von Bakteriologie und Staatlichkeit siehe die Thesen bei Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe: 1830–1930, Cambridge 1999 sowie den breiten kulturgeschichtlichen Blick auf quarantäne Praktiken bei Alison Bashford/Claire Hooker (Hg.), Contagion. Historical and Cultural Studies, London/New York 2001; Carolyn Strange/Alison Bashford (Hg.), Isolation. Places and Practices of Exclusion, London/New York 2003. 44 Polizeiverordnung, betr. den Übertritt und die Beförderung russischer Auswanderer im Regierungsbezirk Posen, 2.12.1902, in: Wickede, Handbuch, S. 25; zur unterschiedlichen Behandlung von passbesitzenden Kajüte- und passlosen Zwischendeckpassagieren vgl. auch Kaliski, Mit Ballin unterwegs, Teil III, in: Vorwärts, 22.12.1904. 45 Staatsarchiv Bremen (im Folgenden StBr), 3-A.4, Nr. 290, 17; Beschluss des Medizinalamtes Bremen, 6.8.1906. 46 Mary Antin, From Plotz to Boston. With a new Introduction by Pamela S. Nadell, New York 1985, S. 51; zu den Meldungen bezüglich der Quarantäne-Vorschriften der USA siehe StBr, 3-M.1.1, Nr. 24.

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arbeitskräfte als eine mögliche Gefahrenquelle hingewiesen.47 Diese Arbeitskräfte kamen schließlich aus denselben seuchengefährlichen Gegenden, aus denen auch die Amerikawanderer stammten. Aber anders als die Transitmigranten wurden die Saisonarbeitskräfte an den Grenzen gar nicht oder nur äußerst sporadisch untersucht. Es oblag vielmehr den Arbeitgebern, die bei ihnen Beschäftigten binnen drei Tagen nach ihrer Ankunft untersuchen und impfen zu lassen.48 Die Medikalisierung der Migration betraf damit beide Gruppen. Doch die Tatsache, dass die Amerikawanderer sich desinfizieren lassen und quarantänen Techniken unterwerfen mussten, während die aus epidemischer Sicht ähnlich ›gefährlichen‹ Saisonarbeitskräfte sich frei bewegen durften, zeigt, dass ihre konkrete Behandlung dennoch voneinander abwich. Das hatte vornehmlich finanzielle Gründe. Die Schifffahrtslinien übernahmen die kostenintensive Überprüfung der Transitreisenden, um für gefährlich erachtete Passagiere früh ausschließen und deren Abweisung in den USA von vornherein verhindern zu können. Auch nutzten sie die Grenzkontrollen, um Reisenden Tickets ihrer Linien zu verkaufen. An einer Überprüfung der übrigen Migranten hatten sie jedoch kein Interesse. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass das kostspielige System der Grenzstationen bis zum Ersten Weltkrieg fortbestand: Aus Sicht der Reedereien waren die Kontrollen profitabel.49 Dabei war es für die Amerikawanderer durchaus möglich, die unbeliebten Sanitätskontrollen zu umgehen, indem sie auf nicht-deutsche (niederländische, belgische oder französische) Häfen auswichen. Doch legen die hohen Ausreisezahlen für Hamburg und Bremen nahe, dass nicht viele diesen Weg wählten. Die Route durch das Deutsche Reich war für Auswanderungswillige aus Russland oder ÖsterreichUngarn in der Regel die kürzeste, zumal die Bahnverbindung in die norddeutschen Häfen gut ausgebaut war. Auch verfügten gerade Hapag und Lloyd in den Herkunftsgebieten über ein weit verzweigtes Netz von Agenten, die Überfahrttickets verkauften. Offiziell mussten die Kontrollstationen an den östlichen preußischen Grenzen auch für Passagiere zugänglich sein, die Fahrkarten von anderen Linien besaßen. Finanziert und betrieben wurden die Stationen jedoch lediglich von der Hapag und dem Norddeutschen Lloyd. Ihnen warfen Vertreter von Hilfsorganisationen und sozialdemokratische Politiker wiederholt vor, dass sie die Kontrollen kom-

|| 47 Siehe etwa StBr, 3.M.1.r., Nr. 24, 85, Schrift des Reichsamt des Innern, 9.5.1906; sowie ebd., 87, Aufzeichnung über die am 26.3.1906 abgehaltene Beratung des Unterausschusses für Cholera. 48 StBr, 3.M.1.r., Nr. 24, 143, Aufzeichnung über die Sitzung des Reichs-Gesundheitsrats (Unterausschuss für Cholera), 26.4.1909, S. 25–28; vgl. auch die Anmerkungen in lokalen Polizeiakten zur Impfung einzelner Arbeiter, etwa in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (im Folgenden: BLHA), Rep. 8, Stadt Pritzwalk, Nr. 2724, 8f., 19, 70, 111. 49 In den 1890er Jahren bewegten sich laut Just die Ausgaben der Hapag für die Kontrollstationen zwischen 40.000 und 80.000 Mark jährlich; Just, Amerikawanderung, S. 78. Die Hapag selbst spricht in einem Schreiben an das preußische Innenministerium von »einem Kostenaufwand von M. 100.000 pro Station«; GStA, I HA, Rep. 77, tit. 226, Nr. 124, Bd. 22, 20f.

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merziell auszunutzen. Demnach wurde an den Stationen auf Auswanderungswillige Druck ausgeübt, damit sie Billets der norddeutschen Linien erwarben, während ihnen die Weiterreise erschwert wurde, wenn sie Tickets anderer Reedereien besaßen.50 Überhaupt war die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die aufgrund gesundheitlicher Vorbehalte zurückgewiesen wurden, nicht hoch. Im Jahr 1905, das aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Spannungen im Zarenreich die höchsten Auswandererzahlen der Epoche mit sich brachte, wiesen die Mitarbeiter der neun Grenzstationen entlang der preußisch-russischen Grenzen unter 112.023 Auswanderern 5.179 aus gesundheitlichen Gründen ab. Diese Zahl erhöhte sich noch um die in Ruhleben und den beiden Hafenstädten Ausgeschlossenen. Insgesamt wurden 1905 damit von 334.350 Auswanderern 8.827 »wegen körperlicher und geistiger Defekte« zurückgewiesen.51 Das ist als Quote hoch genug, um nahe zu legen, dass die Auswandernden die Sanitätskontrollen durchaus als Problem, wohl aber nicht als zentrales Hindernis wahrnahmen. Allerdings addierten sich die Risiken: Jemand, der Deutschland erfolgreich passiert hatte, konnte noch immer in New York abgewiesen werden. Doch war auch der Prozentsatz der in den USA Ausgeschlossenen nicht hoch: Von 1890 bis 1920 wurden dort im Schnitt 1 bis 3 Prozent der Ankommenden abgewiesen, der Großteil von ihnen (bis zu 69 Prozent) aus medizinischen Gründen.52 Im Rahmen der medizinischen Grenzkontrollen fungierten Ärzte als Hüter des staatlichen Territoriums. Sie, deren Tun als an objektiven wissenschaftlichen Kriterien orientiert galt, entschieden darüber, ob jemand an einer Krankheit litt und darüber, ob diese Krankheit schwerwiegend genug war, um ihn oder sie zurückzuweisen. Die Art und Weise, wie Immigration in diesem Rahmen als biologisches Risiko behandelt und die Körper der Reisenden in den Mittelpunkt rückten, war dabei charakteristisch für eine Regierungsrationalität, die sich stark an biologischen Prozessen und einer Verwaltung des Lebens ausrichtete und die auf eine Optimierung des Wohlstands, der Gesundheit und des Lebensstandards der Bevölkerung abzielte.53 Zentrale Grundlage dieser Art von gouvernementaler Regierung war das || 50 Vgl. etwa die Vorwürfe des sozialdemokratischen Abgeordneten Haase, in: Stenographische Berichte des Deutschen Reichstages (StBer.), 1905, 166. Sitzung, 17. März 1905, S. 5328–5332. Siehe gleich lautende Vorwürfe in den Erinnerungen des Mitarbeiters einer englisch-jüdischen Hilfsorganisation, der Transitwanderer aus Russland betreute: London Metropolitan Archives, MA/4184/02/ 05/001/001, Bericht von Abraham Mundy, Some Reminiscences, S. 40. Siehe zu diesen Vorwürfen zudem Brinkmann, Why Paul Nathan. 51 StBr, 4,21, Nr. 506, 6ff., Fragebogen zur Besichtigung der Auswandererkontrollstationen; StBr, 4,21, Nr. 506, Bericht an den Senat, 20.7.1906, S. 12f., 15. 52 Zahlen nach Kraut, Silent, S. 4; ihm zufolge war 1916 der Anteil der aus medizinischen Gründen Abgewiesenen mit 69 Prozent am höchsten. 53 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, hier v.a. S. 13–51, 87–133. Zu Foucaults Analyse der Gouvernementalität vgl. zudem die ausgezeichnete Darstellung von Mitchell Dean, Governmentality. Power and Rule in Modern Society, London 1999.

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konkrete Wissen um ökonomische, demographische und soziale Prozesse, das es erlaubte, die Kosten und Wahrscheinlichkeiten von Entwicklungen und Abläufen zu kalkulieren und ihre Steuerung zu ermöglichen. Die medizinischen Kontrollen lassen sich damit als Ausdruck einer gouvernementalen Regierungslogik interpretieren, die sich auf die wissenschaftliche Expertise medizinischer Autoritäten stützte, die sich auf den Schutz der eigenen nationalen Bevölkerung konzentrierte und die in diesem Zusammenhang die ausländischen Migranten als medizinische Risikogruppe identifizierte. Indem der Staat den Schifffahrtslinien den Betrieb der Grenzstationen erlaubte, räumte er ihnen eine quasi-staatliche Position ein. Denn obwohl die Stationen von preußischen Beamten und der lokalen Gendarmerie regelmäßig inspiziert wurden, entschied letztlich das von den Reedereien angeheuerte Personal darüber, ob jemand als ›legaler Auswanderer‹ mit einem gestempelten Kontrollschein reiste, abgewiesen wurde – oder sich als ›wilder Reisender‹ unter Umgehung der Kontrollen durchs Land bewegte. Aus Sicht der deutschen Autoritäten hatte diese Regelung zentrale Vorteile: Ohne dass nennenswerte Kosten für den Staat entstanden, war gewährleistet, dass die als gesundheitsgefährdend eingestuften Migranten überprüft wurden. Zugleich erfüllten die Kontrollen die Funktion, eine Gruppe zu überwachen, deren dauerhafte Einwanderung die preußischen Eliten aufgrund ethnischexklusiver Bedenken zu verhindern hoffte: Polen und Juden. Schließlich sollten die Kontrollen zudem verhindern helfen, dass mittellose Auswanderer der deutschen Armenfürsorge zur Last fielen.54 Denn die Auswanderer mussten an den Grenzen auch nachweisen, dass sie im Besitz ausreichender Papiere und Geldmittel waren – oder sie mussten über ein Billet der Hapag oder des Norddeutschen Lloyd verfügen, wenn sie nicht abgewiesen werden wollten. Beide Schiffslinien hatten sich gegenüber Preußen dazu verpflichten müssen, Passagiere, die der Fürsorge anheim fielen, zurückzubefördern.55 Ebenso wie die Behörden in Hamburg und Bremen war die preußische Regierung aus sanitäts-, armen- und nationalitätenpolitischen Gründen daran interessiert, den Strom der Transitwanderer zu überwachen. Mit den von den Reedereien betriebenen Stationen konnte sie diese Agenda verfolgen, ohne sie explizit als politisches Programm vertreten zu müssen. Die Grenzkontrollen etablierten damit einen Ausschließungsmechanismus, der – unter dem Signum des Medizinischen – ebenso sozialen und ethnischen Kriterien folgte. || 54 Vgl. etwa die Darstellung des Grafen von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär des Innern, der vor dem Reichstag auf das armenpolizeiliche Interesse des Staates an den Grenz-Stationen verwies; StBer, 1905, 166. Sitzung, 17.3.1905, S. 5340. Preußische Beamte hatten bereits in den 1870er Jahren gefordert, dass bei außerdeutschen Migranten vor ihrem Eintritt ins Deutsche Reich sichergestellt werden sollte, dass sie für die Reise ausreichende Mittel besaßen; Just, Amerikawanderung, S. 99– 101. 55 GStA, I HA, Rep. 77, tit. 226, Nr. 124, Bd. 22, 20f.; Schreiben der Hapag an das Preußische Innenministerium; siehe dazu auch Just, Amerikawanderung, S. 86, 103.

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2 Auf der Arbeit: die Kontrolle der Arbeitsmigration In Bezug auf die Verwaltung der Arbeitsmigration im Deutschen Kaiserreich von einer einheitlichen Struktur auszugehen, ist problematisch. Ein ausländisch-polnischer Landarbeiter, der in der ostelbischen Agrarwirtschaft beschäftigt war, machte in der Regel deutlich andere Erfahrungen mit der staatlichen Bürokratie als ein Ziegelarbeiter aus Venetien, der in einem süddeutschen Staat arbeitete. Beide, der polnische Landarbeiter wie der italienische Ziegelarbeiter, waren durchaus typische Vertreter der transnationalen Arbeitsmigration nach Deutschland.56 Ihre Stellung im Gefüge der politischen Kontrollbestrebungen divergierte dennoch. Denn je nachdem, welchen Ausschnitt des Migrationsgeschehens man in den Blick nimmt – Nationalität der Migrantinnen und Migranten oder Zielregion – verschiebt sich das Urteil darüber, wie stark der Staat in das Geschehen eingriff. Ausländische Polinnen und Polen sahen sich in Preußen mit einem vergleichsweise umfangreichen Vorschriftenkatalog konfrontiert, während Migranten aus dem süd- oder westeuropäischen Raum von der preußischen Bürokratie weniger stark behelligt wurden. Preußen wiederum begann im Vergleich zu den anderen deutschen Staaten früh, die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte zu reglementieren und etablierte seit den 1890er Jahren ein vergleichsweise striktes Regime der Kontrolle.57 Die süddeutschen || 56 Zur italienischen Arbeitsmigration siehe v.a. René del Fabbro, Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870–1918, Osnabrück 1996; Elia Morandi, Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bern 2004; Adolf Wennemann, Arbeit im Norden. Italiener im Rheinland und Westfalen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Osnabrück 1997; Luciano Trincia, Migration und Diaspora. Katholische Kirche und italienische Arbeitswanderung nach Deutschland und in die Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg, Freiburg i.Br. 1998. 57 Die Geschichte der Arbeitsmigration nach Preußen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist vergleichsweise gut erforscht; vgl. insbesondere Klaus J. Bade, Land oder Arbeit? Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg, Habilitationsschrift, Erlangen-Nürnberg 1979/Osnabrück 2005 (Internet-Publikation); ders., ›Preußengänger‹ und ›Abwehrpolitik‹. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, 14. 1984, S. 91–162; ders., Politik und Ökonomie der Ausländerbeschäftigung im preußischen Osten 1885–1914. Die Internationalisierung des Arbeitsmarktes im ›Rahmen der preußischen Abwehrpolitik‹, in: HansJürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 273–299; ders., Transatlantic Emigration and Continental Immigration: The German Experience Past and Present, in: ders., (Hg.), Population, Labour and Migration in 19th- and 20th Century Germany, Leamington Spa 1987, S. 135–162; ders., Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis, in: Toni Pierenkemper/ Richard Tilly (Hg.), Historische Arbeitsmarktforschung: Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft, Göttingen 1982, S. 182–211; ders., Vom Auswanderungsland zum ›Arbeitseinfuhrland‹: kontinentale Zuwanderung und Ausländerbeschäftigung in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbei-

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Staaten hingegen standen einer Regulierung der Arbeitsmigration von Ausländern eher zurückhaltend gegenüber. Allerdings verzeichnete Preußen seinerzeit die höchste Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte und war darüber hinaus bestrebt, das eigene Kontrollsystem auf die übrigen deutschen Staaten auszuweiten. Auch besaß die preußische Politik faktisch einen nachhaltigen Einfluss; denn der Umgang mit ausländischen Arbeitskräften in Deutschland folgte während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik in vielen Punkten gerade dem preußischen Beispiel und nutzte jene Instrumente der Erfassung und Legitimierung von Arbeitskräften, die zuvor in Preußen etabliert worden waren.58 Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die folgende Darstellung zunächst auf das preußische Regime der Legitimierung und Abschiebung, um es anschließend zu der Politik der übrigen deutschen Staaten in Bezug zu setzen. Zu verstehen ist die grenzüberschreitende Arbeitsmigration im Kaiserreich nur, wenn nicht aus dem Blick gerät, dass sich insgesamt ein großer Teil der ausländischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten vergleichsweise ungehindert bewegen konnte. Denn charakteristisch für das Migrationsgeschehen in Deutschland war zunächst einmal das hohe Wanderungsaufkommen. Vor Ausbruch des Kriegs zählte das Deutsche Reich zu den wichtigsten Arbeitskräfteimportländern der Welt. 1914 waren dort geschätzte 1,2 Millionen ausländische Arbeitsmigrantinnen und -migranten tätig.59 Den Hintergrund für diese Entwicklung bildete der enorme Anstieg der deutschen Agrar- und Industrieproduktion seit den frühen 1890er Jahren. Das rasche wirtschaftliche Wachstum im Zeichen von Agrarmodernisierung und Hochindustrialisierung brachte eine erhöhte Beschäftigungsnachfrage mit sich, die sich ihrerseits auf die Migrationsstruktur auswirkte. Insbesondere in den west- und mitteldeutschen Industrieregionen wuchs mit der steigenden Produktion auch der Bedarf an Arbeitskräften. Infolge dieser Entwicklung ging die deutsche Auswanderung nach Übersee zurück, während eine intensive intra- und interregionale Migration die Gesellschaft des Kaiserreichs prägte. In diesem Rahmen waren besonders die nordöstlichen Agrargebiete von einer umfangreichen Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt und von der Landwirtschaft in die Industrie betroffen. Immer mehr Landarbeitskräfte versuchten, den dort herrschenden sozialen Problemen, niedrigen Löhnen und einer

|| ter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. Ostfildern 1985, Bd. 2, S. 433–485; siehe zudem die grundlegende Studie von Johannes Nichtweiß, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches, 1890–1914, Berlin 1959; Lothar Elsner/Joachim Lehmann, Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus 1900 bis 1985, Berlin 1988; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. 58 Zur Migrationspolitik in der Weimarer Republik siehe v.a. Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005. 59 Bade, Europa in Bewegung, S. 222.

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meist nur saisonalen Beschäftigung zu entkommen, indem sie sich westwärts in stärker industrialisierte Gebiete begaben.60 Damit waren es nicht nur die boomenden west- und mitteldeutschen Industrieregionen, in denen die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg. Auch die ostelbische Agrarwirtschaft klagte, zumal infolge der starken Abwanderung, über Arbeitskräftemangel. Das wurde besonders deutlich, als in den 1890er Jahren eine lange Agrarkonjunktur die vorherige Agrarkrise ablöste. Die Struktur der Zuwanderung im Deutschen Kaiserreich war maßgeblich durch den Übergang von einem »Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis« geprägt.61 Angesichts des großen Arbeitskräftebedarfs nahm seit Beginn der 1890er Jahre die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern in Industrie und Landwirtschaft stetig zu. Der größte Teil dieser Arbeitsmigranten waren Polen, Ruthenen und Tschechen, die aus dem russischen Kongresspolen und dem Habsburger Reich kamen. Ihr Anteil war gerade unter den Landarbeitskräften sehr hoch. Zudem stellten Italienerinnen und Italiener ein großes Kontingent an Arbeitskräften. Die meisten von ihnen kamen aus Norditalien, insbesondere aus Venetien. Sie waren vor allem in Süd- und Westdeutschland und in der Regel in der Industrie, im Bergbau und Hüttenwesen, im Kanal- und Straßenbau, in Ziegeleien und Steinbrüchen beschäftigt.62 Eine weitere wichtige Herkunftsregion bildeten die Niederlande, die auf eine lange Tradition der Arbeitsmigration in die deutschen Länder zurückblickte. Von den niederländischen Arbeitswanderern waren etwa zwei Drittel in industriellen Berufen, ein knappes Drittel hingegen in der Landwirtschaft tätig.63 Bei einer Berufszählung, die im Juli 1907 im Deutschen Reich durchgeführt wurde, kamen die meisten der 882.315 in Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr tätigen Reichsausländerinnen und -ausländer aus ÖsterreichUngarn (380.393), Russland (212.326), Italien (129.556) und den Niederlanden (56.780).64 Statistiken und eine ›statistische Denkweise‹ entwickelten sich seit dem 19. Jahrhundert zu zentralen Medien der Beschreibung sozialer Ordnungen und wurden || 60 Zur Ost-West-Wanderung der preußischen Polen in diesem Zusammenhang bzw. zu den ›Ruhrpolen‹ in den westdeutschen Industrieregionen vgl. Christoph Kleßmann, Integration und Subkultur nationaler Minderheiten: das Beispiel der ›Ruhrpolen‹ 1870–1939, in: Bade (Hg.), Auswanderer, S. 486–505; sowie ders., Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978. 61 Vgl. Bade, Preußengänger, S. 107; Bade, Land oder Arbeit, S. 597–607. 62 Zur Beschäftigungsstruktur der italienischen Arbeitswanderer vgl. Del Fabbro, Transalpini, S. 135–192. 63 Vgl. dazu vor allem Michael Kösters-Kraft, Großbaustelle und Arbeitswanderung. Niederländer beim Bau des Dortmund-Ems-Kanals 1892–1900, Osnabrück 2000. 64 Angaben nach Herbert, Ausländerpolitik, S. 24. Die Angaben bei Elsner/Lehmann, Ausländische Arbeiter, S. 26 divergieren stark. Sie folgen einer anderen, archivalischen Quelle, beziehen sich aber auf dieselbe Berufszählung. Demnach waren es insgesamt 799.863 ausländische Arbeiter, die in den verschiedenen Berufssparten tätig waren.

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zu wichtigen Instrumenten des modernen Staatshandelns.65 In den sich ausdifferenzierenden Sozialstaaten wuchs die Nachfrage nach quantitativen Daten, und das politische Handeln orientierte sich zunehmend an dem statistischen Wissen, das neu eingerichtete statistische Ämter zur Verfügung stellten. 66 Die quantifizierende Beschreibung der Bevölkerung wurde in diesem Rahmen zum zentralen Element einer bürokratischen Infrastruktur, die darauf abzielte, standardisierte Verwaltungsabläufe zu etablieren – und zwischen ›eigenen‹ und ›fremden‹ Staatsangehörigen zu unterscheiden. Auch Migration wurde damit als soziale ›Tatsache‹ und administrative Einheit geschaffen, indem sie über die regelmäßig durchgeführten Volks- und Berufszählungen sowie die polizeiliche Meldepflicht, die in allen deutschen Staaten galt, quantitativ erfasst wurde. Migrantinnen und Migranten, die nach Deutschland kamen, hielten sich dort oft nur temporär auf. Schon aus diesem Grund ist es schwierig, genaue Angaben über den Umfang der Migration ins Deutsche Reich zu machen. Denn die Daten weisen Ungenauigkeiten auf, je nachdem, zu welcher Jahreszeit sie aufgenommen wurden, welche Kategorien sie erfassten und auf welches Gebiet sie sich bezogen. Die Volkszählungen etwa wurden regelmäßig im Winter durchgeführt, wenn viele Saisonarbeitskräfte sich nicht in Deutschland aufhielten. Lediglich die reichsweite Berufszählung aus dem Jahr 1907 fand im Sommer und damit während der Arbeitssaison statt, sodass sie, bezogen auf das gesamte Reichsgebiet, zuverlässigere Angaben macht. Hinzu kommen für Preußen die Angaben der Regierung zu ›Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter‹, die auf den ›Nachweisungen‹ der Landräte basierten.67 Die ›Nachweisungen‹ enthielten ausführliche Angaben zur jährlichen Zu- und Abwanderung, da der preußischen Regierung daran gelegen war, für ihre Kontrollmaßnahmen über möglichst aktuelle Daten zu verfügen.68 Anhand der preußischen ›Nachweisungen‹ wird deutlich, dass die Zahl der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter bis 1914 stetig stieg. Die Mehrzahl von ihnen || 65 Zur wachsenden Bedeutung der statistischen Denkweise generell siehe v.a. Alain Desroisières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg 2005; Theodore M. Porter, Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton, NJ 1995. 66 Vgl. dazu auch Axel Hüntelmann, Statistics, Nationhood, and the State, in: Population Knowledge Network (Hg.), Twentieth Century Population Thinking, London 2015, S. 11–36. 67 Die ›Nachweisungen‹ selbst sowie diesbezügliche Erläuterungen siehe bei Klaus J. Bade (Hg.), Arbeiterstatistik zur Ausländerkontrolle: die ›Nachweisungen‹ der preußischen Landräte über den ›Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter im preußischen Staate‹ 1906–1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 163–283; erläuternd dazu auch ders., Preußengänger, S. 130–162. 68 GStA, I HA, Rep. 87 B, Nr. 261, 1, Erlass vom 7.10.1905; Bade weist darauf hin, dass die betreffenden Daten von den Behörden geheim gehalten wurden, u.a. auch, um aus außenpolitischen Gründen nicht bekannt werden zu lassen, in welchem Umfang die deutsche Wirtschaft von der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte abhing; Bade, Preußengänger, S. 133–135.

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war in der Industrie oder generell in nicht-landwirtschaftlichen Sektoren beschäftigt. Bei den meisten handelte es sich um Männer, doch waren gerade in der Landwirtschaft weibliche Arbeitskräfte sehr gefragt. Der Tageslohn der ausländischen Landarbeiterinnen lag deutlich unter dem der männlichen Arbeiter, und einem zeitgenössischen Gender-Stereotyp zufolge galten Arbeiterinnen für die monotone Arbeit auf den Rübenfeldern als besonders geeignet.69 Dementsprechend waren 43,8 Prozent der 1910 für die Landwirtschaft ermittelten 338.313 ausländischen Arbeitskräfte weiblich. Arbeitsmigration, das verdeutlichen die preußischen Statistiken, war in dieser Zeit also keineswegs ein männliches Phänomen.70 Und noch etwas anderes wird deutlich: Insbesondere in der preußischen Landwirtschaft und den nordöstlichen Gebieten bildeten Polinnen und Polen die größte Migrantengruppe. Den nationalpolitischen Zielsetzungen der preußischen Autoritäten widerstrebte diese Entwicklung; für eine Einordnung der preußischen Politik ist sie zentral. Die preußische Politik gegenüber ausländischen Zuwandererinnen und Zuwanderern lässt sich in drei Phasen unterteilen: Einen ersten Einschnitt bildeten die Massenausweisungen ausländisch-polnischer und -jüdischer Staatsangehöriger Mitte der 1880er Jahre.71 Auf die Ausweisungen folgte ein vorübergehender Zuwanderungsstopp, bis Preußen zu Beginn der 1890er Jahre seine Grenzen für Migranten aus dem Osten wieder öffnete. Dieser Schritt ging einher mit dem Versuch, in die Arbeitsmigration stärker einzugreifen und die bleibende Niederlassung vor allem der polnischen Migrantinnen und Migranten zu verhindern. Zu diesem Zweck installierte die Regierung nach 1907 in einer dritten Phase über die ›Deutsche Arbeiterzentrale‹ ein komplexes Regime der Legitimierung und alljährlichen Abschiebung, um die ausländischen Arbeitskräfte besser kontrollieren zu können. Damit reagierte die Regierung auf konfligierende Interessen und versuchte, zwischen zwei Ansprüchen zu vermitteln: dem ethnisch-exklusiven Anspruch auf Ausschluss der polnischen Migranten auf der einen und dem wirtschaftlichen Anspruch auf billige Arbeitskräfte auf der anderen Seite.

|| 69 Siehe dazu v.a. Elizabeth Bright Jones, Landwirtschaftliche Arbeit und weibliche Körper in Deutschland 1918–1933, in: Beate Binder u.a. (Hg.), Ort. Arbeit. Körper. Ethnographie Europäischer Modernen, München 2005, S. 469–476; dies., The Gendering of the Postwar Agricultural Labor Shortage in Saxony, 1918–1925, in: Central European History, 32. 1999, S. 311–329. 70 Kathrin Roller, Frauenmigration und Ausländerpolitik im Deutschen Kaiserreich. Polnische Arbeitsmigrantinnen in Preußen, 2. Aufl. Berlin 1994. Das galt auch für die anderen deutschen Länder. Simon Constantine schätzt z.B. für Mecklenburg, dass jede Arbeitsgruppe im Durchschnitt zu 40 Prozent aus Frauen bestand; Simon Constantine, Migrant Labor in the German Countryside: Agency and Protest, 1890–1923, in: Labor History, 47. 2006, S. 319–341, hier S. 337. 71 Zur Geschichte von Ausweisungen siehe v.a. Reinecke, Grenzen, S. 134-177; sowie speziell zu den Massenausweisungen Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses, Wiesbaden 1967.

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Um diese Entwicklung einordnen zu können, ist es notwendig, sich kurz mit den Hintergründen der deutschen Polenpolitik zu befassen.72 In den östlichen Provinzen Preußens lebten zur Zeit der Reichsgründung etwa 2,4 Millionen Polen. Die deutsche Politik gegenüber dieser polnischen Minderheit ist in der historischen Forschung wiederholt als quasi-kolonial beschrieben worden.73 Und tatsächlich wurden die vornehmlich in Westpreußen, Posen und Schlesien ansässigen Polen im Kaiserreich zum Objekt einer Politik der Assimilierung und Diskriminierung. Unter dem Signum einer angestrebten ›Germanisierung‹ betrieb der Staat in den Ostprovinzen eine diskriminierende Ansiedlungs- und Sprachpolitik, in der sich antipolnische mit antikatholischen Zielen verbanden. Der Zuzug ausländisch-polnischer Migrantinnen und Migranten wurde damit in erster Linie als eine Verstärkung der polnischen Bevölkerung gedeutet.74 Ihrem Leitbild einer ethnisch-homogenen deutschen Nation entsprechend75, sahen die preußischen Eliten in den ausländischen Polen eine nationale ebenso wie eine politische und soziale Gefahr. Sie fürchteten nicht nur eine Stärkung der polnischen Nationalbewegung, sondern überhaupt einen Zusammenschluss des deutschen, deutsch-polnischen und ausländisch-polnischen (Sub-)Proletariats.76 Vor diesem Hintergrund beschloss die Regierung 1885, russischen Polinnen und Polen den Aufenthalt auf preußischem Gebiet vollständig zu versagen.77 Den ausländisch-polnischen Arbeitskräften blieb damit in den folgenden fünf Jahren die Einreise verwehrt.78 Besonders erfolgreich war diese Politik nicht. Denn zum einen gelang es Polen, unerlaubt über die Grenzen zu kommen. Und zum anderen klagten die ostelbischen Gutsbesitzer über den erhöhten Mangel an Landarbeitskräften.79 Einige von ihnen heizten die Debatte noch dadurch an, dass sie ankündigten, chinesische ›Kulis‹

|| 72 Wolfgang Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3, Berlin/New York 2001, S. 42; Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt a.M. 1972; Hans-Ulrich Wehler, Polenpolitik im Deutschen Kaiserreich, in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs, Göttingen 1979, S. 184–202. 73 Ther, Deutsche Geschichte; vgl. dazu zudem Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 139–153. 74 Ebenso galt die ›Landflucht‹ der deutschen Bevölkerung vielen Zeitgenossen als eine Folge ihrer ›Verdrängung‹ durch ausländische Arbeiter; vgl. Max Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 1892, hg.v. Martin Riesebrodt (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 3), Tübingen 1984. 75 Siehe dazu auch Moritz Föllmer, Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002, S. 26–64. 76 Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 124–127. 77 GStA, HA I, Rep. 77, tit. 1176, Nr. 2 a, Bd. 5, 88, Schreiben vom 11.3.1885. 78 Bade, Preußengänger, S. 112f. 79 Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 33–41.

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anwerben zu wollen, um auf diese Weise der ›Leutenot‹ zu begegnen.80 Angesichts dieser Proteste hob die preußische Regierung ihre Zugangssperre bald wieder auf. Ministerpräsident von Caprivi entschied 1890, die ausländischen Arbeitswanderer aus Kongresspolen und Galizien wieder ins Land zu lassen. Doch war deren Aufenthaltsrecht nicht unbegrenzt, denn die Regierung verfügte zugleich einen alljährlichen Rückkehrzwang, um den nationalistischen Bedenken der nationalkonservativen Kreise Rechnung zu tragen. Die ausländisch-polnischen Arbeitskräfte wurden damit zwar ins Land gelassen, mussten es aber gegen Ende des Jahres wieder verlassen.81 Sie wurden jeweils im Winter von der örtlichen Polizei aufgefordert, das preußische Staatsgebiet freiwillig zu verlassen.82 Diejenigen, die dieser Aufforderung nicht nachkamen und sich nach Ende der Rückkehrfrist noch im Land aufhielten, wurden zwangsweise in Sammeltransporten abgeschoben. Die preußischen Vorschriften differenzierten nach ethnischer Zugehörigkeit. In erster Linie betrafen sie die Polinnen und Polen aus dem Ausland. Nur sie mussten das Land jedes Jahr verlassen, nicht aber die Arbeitskräfte anderer Nationalitäten. Zudem unterlagen nur sie einem partiellen Beschäftigungsverbot: Ihnen war lediglich gestattet, in den Industriebetrieben der östlichen Provinzen – in Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Schlesien – zu arbeiten, nicht jedoch in den westlichen, in denen sie ausschließlich in der Landwirtschaft arbeiten durften. Außerdem war es im Falle der ausländisch-polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter nur ausnahmsweise gestattet, Familien oder Paare zu beschäftigen – und dann ausschließlich in den vier östlichen Grenzprovinzen, weil eine Abschiebung zu Ende der Saison von dort aus einfacher zu organisieren war.83 Auch hier folgte die Politik dem umfassenden Ziel, polnische Migrantinnen und Migranten an der Niederlassung zu hindern. Ihre ›polnische Sprache und Abstammung‹ wurden zu entscheidenden Kriterien ihrer abweichenden Behandlung. Denn im Vergleich zu den polnischen wurden italienische oder niederländische Arbeitswanderer von den preußischen Behörden wenig behelligt. Allerdings waren sämtliche Arbeitsmigranten betroffen, als die preußische Regierung 1907 ein System der Legitimierung für ausländische Arbeitskräfte etablierte. Sie reagierte damit auf eine Vielzahl von Problemen: Zum einen häuften sich die

|| 80 Zu der möglichen Beschäftigung chinesischer Arbeiter vgl. u.a. die Reichstagsdebatte in StBer, 1897/98, Bd. 2, 35. Sitz., 8.2.1898, S. 903, 910f.; Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 38–40; Conrad, Globalisierung und Nation, S. 168–173. 81 Die ›Karenzzeit‹, zu der ihnen der Aufenthalt verboten war, umfasste anfänglich die Monate zwischen dem 15. November und 1. April und beschränkte sich später auf die Zeit zwischen dem 1. Dezember und 1. März bzw. schließlich auf die Wochen zwischen dem 20. Dezember und 1. Februar; Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 43. 82 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch B), R/1501, 113709, 21–23, Übersicht der die ausländisch-polnischen Saisonarbeiter betreffenden allgemeinen Vorschriften, 4.9.1899. 83 Ebd.

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Klagen der Gutsbesitzer über den Vertragsbruch ihrer Arbeitskräfte, die ohne Vorankündigung die Stelle wechselten oder sie gar nicht erst antraten.84 Zum anderen mehrten sich die Schwierigkeiten bei deren Anwerbung und Vermittlung, die im Reich dezentral organisiert waren.85 Außerdem existierte aus Sicht der preußischen Regierung noch ein drittes Problem: Dem nationalpolitischen Primat ihrer Politik gemäß, hatte die Regierung ein Interesse daran, die unerwünschten polnischen Arbeitskräfte durch Arbeiter anderer Herkunft zu ersetzen und nicht-polnische Arbeiterinnen und Arbeiter anzuwerben. Vor diesem Hintergrund waren die preußischen Autoritäten um eine bessere Kontrolle der Arbeitsmigration bemüht. Sie griffen dazu jedoch nicht auf die staatliche Verwaltung zurück, sondern bedienten sich einer halb-staatlichen Agentur: Die ›Deutsche Feldarbeiter-Centralstelle‹, 1905 als Folgeorganisation eines früheren Verbandes gegründet, 1911 in ›Deutsche Arbeiterzentrale‹ (DAZ) umbenannt, war zwar eine privatrechtliche Organisation, unterstand aber der Aufsicht des Landwirtschaftsministeriums und nahm amtliche Aufgaben wahr.86 Auf diese Weise beeinflusste der preußische Staat ihre Tätigkeit, ohne sich offiziell dafür verantworten zu müssen.87 Die Zentrale hatte vor allem drei Aufgaben: Sie sollte dazu beitragen, die Vermittlung der landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräfte zu zentralisieren. Sie sollte helfen, statt der russisch-polnischen mehr ›national ungefährliche‹ Arbeitskräfte zu verpflichten. Und sie sollte die ausländischen Arbeitskräfte mit einheitlichen Papieren, den sogenannten Legitimationskarten, ausstatten.88 Mit den Legitimationskarten sollten Arbeitswandererinnen und -wanderer nachweisen können, dass ihnen für das laufende Jahr die Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber genehmigt worden war. Zuvor hatten sich Arbeitgeber wie Polizeibehörden wiederholt darüber beschwert, dass eine Kontrolle der Arbeitswanderer dadurch erschwert werde, dass sie keine einheitlichen Papiere bei sich trugen. Seit Dezember 1907 mussten daher sämtliche ausländisch-polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter eine ›Arbeiter-Legitimationskarte‹ besitzen. Dieser Legitimationszwang

|| 84 GStA, HA I, Rep. 87 B, Nr. 251, Berichte betr. Arbeitermangel, 1898–1902; vgl. zum Arbeitskräftemangel auch Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 48–58. 85 Zur Geschichte von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsbeschaffung vgl. Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Karlsruhe 2002. 86 Mitgliederliste und Satzung der Arbeiterzentrale siehe in BArch B, R/1501/113709, Bd. 1, 175–180. 87 Vgl. die Bemerkung von Nichtweiß: »Die ausgeklügelte Satzung der Zentrale gab der preußischen Regierung die Möglichkeit, einerseits ihre Politik gegenüber den ausländischen Arbeitern […] durchzusetzen und andererseits dem Ausland und ihren inneren Gegnern gegenüber unter Hinweis auf den nichtamtlichen Charakter […] ihre beschränkte Einwirkungsmöglichkeit auf sie zu betonen.« Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 113. 88 Zu den Aufgaben der Zentrale vgl. die diesbezügliche Denkschrift von 1905 in GStA, I HA, Rep. 87 B, Nr. 114, Denkschrift 7.2.1905.

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wurde ab Februar 1909 auf alle ausländischen Arbeitsmigranten ausgeweitet.89 Davon ausgenommen blieben lediglich die besser Qualifizierten: Beamte, Angestellte und Werkmeister.90 Die Karten hatten je nach nationaler Zugehörigkeit ihrer Inhaber eine andere Farbe. In dieser Differenzierung spiegelte sich eine diskriminierende Politik wider, denn gerade die ausländisch-polnischen Saisonarbeitskräfte unterlagen weiterhin mehr Einschränkungen, wie etwa dem jährlichen Rückkehrzwang. Von dem Interesse an einer reibungslosen Beschäftigung ausländischer Arbeiter abgesehen, folgte die Zentralstelle bei ihrer Tätigkeit einer nationalpolitischen Zielsetzung. Mit ihrer Hilfe sollten statt russisch-polnischer und galizischer Arbeiter »national ungefährlichere Elemente« angeworben und der Zuzug »fremder Elemente« wirksamer als bisher kontrolliert werden. »Auf diese Weise«, heißt es in einer Denkschrift von 1905, würden das »Bedürfnis der Landwirtschaft nach Ausländerarbeit« und das »durch Selbsterhaltung diktierte Verlangen des Staates«, eine »bewusst antinationale Einwanderung« abzuwehren, versöhnt.91 Es gehörte damit zu den (de facto nur begrenzt erfüllten) Zielen der Centralstelle, nicht-polnische beziehungsweise generell nicht-›slawische‹ Arbeitskräfte anzuwerben und andere, etwa italienische oder ruthenische Arbeiter zu vermitteln, die nationalpolitisch unverdächtig waren.92 Allerdings scheiterte sie mit diesem Vorhaben weitgehend. Der bei weitem größte Anteil der in den folgenden Jahren durch die Zentrale vermittelten Arbeitswanderer stammte weiterhin aus Russland und Österreich-Ungarn. Das galt insbesondere für die Landwirtschaft im Osten, wo ausländisch-polnische Arbeiter auch in der Folge die größte Migrantengruppe bildeten.93 Das Kontrollsystem, das die preußische Regierung nach 1907 in Kooperation mit der Zentralstelle installierte, hatte drei wesentliche Elemente: 1. Die von der DAZ betriebenen Grenzstationen, in denen die ankommenden Arbeitskräfte angeworben, registriert und mit Legitimationskarten ausgestattet wurden. 2. Die Legitimationskarten selbst, die als einheitliche, ein Jahr gültige Ausweisdokumente und Arbeits|| 89 Verfügung vom 21.12.1907, betr. die Zulassung ausländischer Arbeiter in der Landwirtschaft und in den gewerblichen Betrieben, in: Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung (im Folgenden MBliV) 1908, S. 17; BArch B, R/1501/113710, 20, Erlass vom 4.12.1908. 90 Das gleiche galt für Werk- und Obermeister, die zu festen Bezügen arbeiteten. Auch Pendler sowie ausländische Seeleute waren vom Legitimationszwang ausgeschlossen; Bade, Land oder Arbeit, S. 448. 91 GStA, I HA, Rep. 87 B, Nr. 114, Denkschrift 7. Februar 1905, 29. 92 Auf preußischer Seite war aufmerksam registriert worden, dass zwischen den Ruthenen und Polen in Galizien Spannungen herrschten. Eine vermehrte Anwerbung ruthenischer Arbeitskräfte erschien vor diesem Hintergrund vielversprechend. GStA, HA I, Rep. 87B, Nr. 114, 130–32; GStA, HA I, Rep. 87B, Nr. 116, 136; 139f; Bade, Preußengänger, S. 118–120; Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 85–93. 93 Von den im Geschäftsjahr 1912/13 vermittelten 767.215 Arbeitskräften waren allein 358.474 Polen aus Russland und der Habsburger Monarchie sowie insgesamt 91.450 Ruthenen. Davon wiederum waren 316.323 Polen und 5.156 Ruthenen landwirtschaftliche Arbeitskräfte. Deutsche Arbeiterzentrale, Bericht über die Tätigkeit im Geschäftsjahr 1912/13, Berlin 1913, S. 6f.

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erlaubnisse die Überprüfung der individuellen Arbeitswanderer erleichtern sollten. 3. Das Zentralregister, in dem alle für das laufende Jahr legitimierten Arbeitskräfte erfasst waren und auf das die örtlichen Behörden zugriffen, die wiederum dafür sorgen sollten, dass sich lediglich ›legitimierte‹ Arbeitskräfte im Land aufhielten. Die Arbeiterzentrale stützte sich bei ihrer Tätigkeit auf ein dichtes Netz von Vermittlungsstellen und verfügte über einen großen Mitarbeiter-Stab.94 1912/13 waren allein für das Berliner Büro 146 Angestellte und 13 Hilfskräfte zuständig, und in den Außenstellen waren zeitgleich 187 Angestellte und 127 ständige Hilfskräfte beschäftigt, ergänzt durch 377 vorübergehend eingestellte Hilfskräfte.95 Schon diese Aufzählung deutet darauf hin, dass das System der Inlandslegitimierung vergleichsweise kostenintensiv war. Allerdings finanzierte sich die DAZ vornehmlich aus den Einnahmen des Legitimationsgeschäftes. Sie besaß zwar kein Monopol für die Vermittlung von Arbeitskräften, hatte aber vom preußischen Staat ein Legitimationsmonopol erhalten: Sie allein war dafür zuständig, die Legitimationskarten für ausländische Arbeitskräfte auszustellen, und sie kassierte die dafür entrichteten Gebühren.96 John Torpey hat in seiner Studie zum internationalen Passwesen die These aufgestellt, dass moderne Staaten die »legitimen Mittel der Bewegung« zu monopolisieren suchten, indem sie für die Mobilität innerhalb ihres Territoriums spezifische Formen der Legitimation einforderten.97 Tatsächlich zielten auch die Legitimationskarten darauf ab, den staatlichen Zugriff auf die Mobilität zu erhöhen. Auch wuchs mit den ›Nachweisungen‹ sowie der Meldepflicht die »infrastrukturelle Macht« des preußischen Staates, der über mehr und mehr Mittel verfügte, um politische Zielvorstellungen durchzusetzen.98 Dass zunehmend zwischen ›legitimierten‹ und ›legitimationslosen‹ Migranten unterschieden wurde, war ein Effekt dieser Politik. Denn die Arbeitswanderer durften den auf ihrer Legitimationskarte verzeichneten Arbeitsplatz nicht ohne Zustimmung des Lohngebers wechseln. Und selbst wenn ihnen der Wechsel erlaubt wurde, mussten sie diese Änderung von der Ortspolizei eintragen und bestätigen lassen. Dagegen standen Arbeitsmigranten, die ohne Papiere angetroffen wurden, unter Verdacht, die Grenze heimlich überquert zu haben oder vertragsbrüchig geworden zu sein. Und all jene, die der Legitimationspflicht nicht nachkamen oder die unerlaubt ihren Arbeitgeber wechselten, konnten umstandslos abgeschoben werden. Auf diese Weise betonten die preußischen Autoritäten den Unterschied zwischen legitimierten, in das Kontrollsystem eingebundenen || 94 Bade, Land oder Arbeit, S. 480; Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 141; vgl. zudem die internen Überlegungen in GStA, I HA, Rep. 87 B, Nr. 115, 205. 95 Deutsche Arbeiterzentrale, Bericht über die Tätigkeit im Geschäftsjahr 1912/13, Berlin 1913, S. 15. 96 2 Mark bei der Abfertigung durch eines der Grenzämter, 5 Mark bei der Legitimierung durch die lokale Polizeibehörde; Bade, Preußengänger, S. 123. 97 John Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000, S. 3: »to monopolise the legitimate means of movement«. 98 Zum Konzept der infrastrukturellen Macht vgl. Mann, The Autonomous.

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und nicht-legitimierten, irregulären Migranten.99 Sie bedienten sich hierbei einer ausgefeilten Infrastruktur. Denn die Grenzämter der DAZ übermittelten den örtlichen Behörden regelmäßig Namen, Arbeitgeber und Anzahl der für ihren Bezirk Legitimierten.100 Zudem wurden sämtliche Legitimationskarten, die die Zentrale ausstellte, in einer Kartei registriert, auf die die staatlichen Instanzen wiederum bei ihren polizeilichen oder gerichtlichen Ermittlungen zugreifen konnten. Das mit halb-staatlicher Hilfe erstellte Register wurde damit Teil des preußischen Polizeiund Verwaltungsapparates.101 Trotz dieser verdichteten Infrastruktur gelang es vielen Arbeitsmigrantinnen und -migranten weiterhin, sich unlegitimiert im Land aufzuhalten oder unangekündigt die Stelle zu wechseln. Solange es an Arbeitskräften mangelte, konnten weder die staatlichen Autoritäten noch die Arbeitgeber viel gegen den ›Eigen-Sinn‹ der Arbeitskräfte ausrichten.102 In der Praxis blieben die Versuche, den unerlaubten Arbeitsplatzwechsel zu sanktionieren, jedenfalls oft erfolglos.103 Zwar führte die DAZ eine Liste der Kontraktbrüchigen, und deren Namen wurden regelmäßig in Fahndungsblättern veröffentlicht. Auch waren die lokalen Polizeibehörden verpflichtet, die Betriebe, in denen ausländische Arbeitskräfte beschäftigt waren, alljährlich unangekündigt zu kontrollieren.104 Dennoch klagten die Arbeitgeber darüber, dass die Fluktuation unter den Arbeitskräften hoch war.105 In diesem Zusammenhang dürfte ein Kommentar Karl Liebknechts zutreffen, der 1910 im preußischen Abgeordnetenhaus die Bestrafung des Kontraktbruchs mit den Worten kommentierte, die gesetzlichen Bestimmungen blieben »für das Gros der Fälle doch nur ein Schlag ins

|| 99 Sämtliche Arbeitskräfte mussten ihre Legitimationskarte dem Arbeitgeber aushändigen. Bevor sie das Land verließen, bekamen sie das Dokument zurück und mussten es an der Grenze vorlegen. Damit sollte sichergestellt werden, dass sie nicht ihren Arbeitsplatz verließen, ohne dass ihr alter Arbeitgeber dem zustimmte. 100 Bade, Preußengänger, S. 126. 101 Vgl. Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 140f. So gibt die Arbeiterzentrale in ihren Geschäftsberichten auch darüber Auskunft, wie viele »kontraktbrüchige, ausgewiesene oder von den Behörden gesuchte Arbeiter« mittels ihrer Kartothek jeweils ermittelt werden konnten; vgl. etwa Deutsche Arbeiterzentrale, Bericht über die Tätigkeit im Geschäftsjahr 1911/12, Berlin 1912, S. 10. 102 Zum Konzept des ›Eigen-Sinns‹ vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 103 Hermann von Wenckstern, Landwirtschaftliche Wanderarbeiter in Mecklenburg 1902 und 1906, in: Zeitschrift für Agrarpolitik, 4. 1906, S. 422–435; Richard Ehrenberg/Gerichtsassessor Gehrke, Der Kontraktbruch der Landarbeiter als Massen-Erscheinung, Rostock 1907. 104 Siehe etwa die sporadischen Berichte über erfolgte Betriebsrevisionen in BLHA, Rep. 6 B, Landratsamt Spremberg, Nr. 337, Bd. 2. 105 Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 151–154; vgl. außerdem die Beschwerden in BLHA, Rep. 6 B, Landratsamt Spremberg, Nr. 337; BLHA, Rep. 6 B, Spremberg, Nr. 339; BLHA, Rep. 8, Stadt Pritzwalk, Nr. 2724.

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Wasser«. Die Möglichkeit, andernorts eine Stelle zu finden, sei schlicht zu günstig.106 Tatsächlich ermöglichte es die viel beschworene ›Leutenot‹, dass Kontraktbrüchige rasch wieder Arbeit fanden. Denn aus Sicht der Arbeitgeber hatte die Beschäftigung der ausländischen Kräfte zentrale Vorteile. Zwar näherten sich ihre Löhne denen der Deutschen an.107 Dennoch hatten die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter für Arbeitgeber den Vorzug, dass sie während der wenig produktiven Winterwochen nicht bezahlt werden mussten und schon in dieser Hinsicht die billigeren Arbeitskräfte waren. Das Bemühen, die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte zu steuern, fand damit klare Grenzen: Zum einen in der Agenda der arbeitswilligen Migranten. Zum anderen in den Interessen der Arbeitgeber, die unlegitimierte oder kontraktbrüchige Arbeitskräfte – als ›billig und willig‹ – bereitwillig beschäftigten. Und wenngleich die nicht-legitimierte Beschäftigung ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter theoretisch mit deren Abschiebung geahndet werden konnte, wurde die Strafmaßnahme de facto nachlässig angewendet. So wies der preußische Innenminister 1909 darauf hin, dass ausländische Arbeitskräfte, die sich nicht im Besitz einer Legitimationskarte befanden, nicht ohne weiteres ausgewiesen werden sollten. Die betreffenden Arbeitskräfte seien vielmehr »mindestens einmal, in geeigneten Fällen auch wiederholt zur nachträglichen Beschaffung der Karte aufzufordern.« Zwar diente die Vorschrift ordnungspolitischen Interessen, erklärte der Minister, doch müsse alles vermieden werden, was die »für die inländische Produktion erwünschten« Arbeitskräfte fernhalten könnte.108 Von diesen wirtschaftlichen Interessen abgesehen, wurde die Effizienz der Kontrollen noch dadurch unterlaufen, dass nicht alle deutschen Länder sich den preußischen Bestimmungen anschlossen. Aus preußischer Sicht war es ein Nachteil, wenn die ausländisch-polnischen Arbeitskräfte während der Karenzzeit nicht in ihre Heimat zurückkehrten, sondern über die innerdeutschen Grenzen wanderten, um dort während der Wintermonate eine Beschäftigung zu finden. Die preußische Regierung war daher bemüht, Druck auf die übrigen Regierungen auszuüben.109 Doch nicht alle deutschen Länder schlossen sich den in Preußen 1890 ergriffenen und || 106 Abgedruckt in: Hans Hübner (Hg.), Lage und Kampf der Landarbeiter im Ostelbischen Preußen, Bd. II: Quellen, Vaduz 1977, S. 362–72, hier S. 369f. 107 Vgl. die Lohntabellen bei Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 263–265; Bade, Land oder Arbeit, S. 531–545; zu den quellenkritischen Bemerkungen Bades hinsichtlich der Angaben zum Lohnniveau siehe ebd., S. 533–542. 108 BArch B, R/1501/113710, 106, Schreiben vom 31.5.1909. 109 BArch B, R/1501/113709, Bd. 1; BArch B, R/1501/113710, dort u.a. 69–70, 215f., 248; vgl. auch die Analyse von Barfuss, der in seiner Studie zu Nordwestdeutschland feststellt: »Da eine reichsgesetzliche Regelung undurchführbar erschien, vergrößerte Preußen in dem Maße, in dem sich die Probleme verschärften, den Druck auf die Regierungen anderer Bundesstaaten, um sie zur Übernahme der preußischen Regelungen zu veranlassen.« Karl Marten Barfuss, ›Gastarbeiter‹ in Nordwestdeutschland 1884–1918, Bremen 1986, S. 95.

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nach 1907 verschärften Maßnahmen an.110 Die in den süddeutschen Staaten beschäftigten Arbeitskräfte etwa waren weder in ihrer territorialen noch ihrer beruflichen Mobilität nennenswert eingeschränkt.111 Vielmehr bildete sich, der uneinheitlichen Verwaltungssituation geschuldet, im Deutschen Kaiserreich ein »geteilter Ausländerarbeitsmarkt« heraus.112 Demnach umfasste das Reichsgebiet sowohl eher restriktive als auch eher liberale Gebiete. Auf der einen Seite standen Preußen und jene Staaten, die sich der preußischen Politik entweder vollständig (wie das Königreich Sachsen und Braunschweig) oder zumindest partiell (wie die Mecklenburger Herzogtümer) anschlossen. Auf der anderen Seite standen weniger interventionistische Staaten, zu denen vor allem die süddeutschen Länder wie Bayern und Württemberg, Hessen-Darmstadt sowie die Hansestädte zählten.113 Damit waren unterschiedliche (ethnische, soziale) Gruppen stärker von den Kontrollen betroffen, und bestimmte Territorien verfügten über eine ausgeprägtere Infrastruktur zur Erfassung und Regulierung der Migration als andere. Restriktiv war innerhalb des Deutschen Reichs in erster Linie der Umgang mit den ausländischen Polinnen und Polen in Preußen. Das hieß jedoch nicht, dass ausländische Staatsangehörige sich in den übrigen deutschen Ländern vollkommen unbehelligt aufhalten konnten. Das zeigt der Blick auf die Ausweisungspolitik im Deutschen Kaiserreich.

3 Aus dem Land: die Reichs- und Landesverweisungen »Eure Kaiserliche Majestät und Allerhöchster Landesvater wollt er Allergnädigst geruhen vom hohen Thron auf mich alluntertänigsten treuen Landesdiener huldreich herabblicken und rücksichtsvoll mich Unglücklichen […] begnadigen zu wollen!« Mit dieser Anrede wandte sich der russisch-polnische Untertan Joseph Konopka am 16. Februar 1886 an den deutschen Kaiser.114 Konopka war 33 Jahre alt || 110 Man wünsche sich nach wie vor, erklärte das preußische Innenministerium im Juni 1911 dem Reichskanzler, dass sich die übrigen Einzelstaaten den eigenen Vorschriften anschlössen; BArch B, R/1501/113710, 215f. 111 So wurden die italienischen Arbeitswanderer von den süddeutschen Behörden wenig behelligt; Del Fabbro, Transalpini. Allerdings waren italienische Wandergewerbetreibende mit diskriminierenden Maßnahmen konfrontiert; Wennemann, Italiener, S. 95. 112 Del Fabbro, Transalpini, S. 106–116. Bremen etwa erklärte, die für Preußen geltenden Maßregeln nur dann anwenden zu wollen, wenn auch sämtliche übrigen Einzelstaaten sie übernahmen – was vor 1914 de facto nicht eintrat; Barfuss, ›Gastarbeiter‹, S. 97. Oldenburg hingegen übernahm die preußischen Regelungen; ebd., S. 101. 113 Nichtweiß, Saisonarbeiter, S. 147. 114 GStA, I HA, Rep. 77, tit. 1176, Nr. 1 K, Bd. 2, 58–64.

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und wohnte seit 17 Jahren in Preußen, wo er ein Grundstück besaß, mit einer Preußin verheiratet war und zwei Kinder hatte. Doch nun, berichtete er in seinem Schreiben, seien er und seine Familie aufgefordert worden, den Staat bis zum 1. Mai zu verlassen. Hätte er geahnt, dass er aus Preußen fort solle, erklärte Konopka, hätte er sich naturalisieren lassen. Doch als er mit 16 Jahren ins Land kam, habe er von derlei Dingen nichts gewusst. Daher wandte er sich nun an den »Allerhöchsten Landesvater« und bat darum, seine Ausweisung rückgängig zu machen. So wie Joseph Konopka sahen sich Mitte der 1880er Jahre viele ausländische Zuwanderer mit der Aufforderung konfrontiert, das preußische Territorium binnen weniger Monate oder gar Wochen zu verlassen. Die preußischen Massenausweisungen der Jahre 1885/86 betrafen etwa 32.000 russische Polen und Juden.115 In Umfang und Durchführung war das eine extreme Maßnahme, die sich so bis zum Ersten Weltkrieg nicht wiederholte. Dennoch blieben Ausweisungen in Preußen ebenso wie in den anderen deutschen Ländern ein zentrales Instrument der Migrationskontrolle. In der Ausweisungspraxis verschränkte sich dabei die exklusive Logik der Migrationskontrolle mit dem rechtlichen Rahmen der Staatsangehörigkeit. Denn während die Bürger deutscher Staaten einem Ausweisungsschutz unterlagen, konnten Bürger anderer Staaten prinzipiell und jederzeit ausgewiesen werden. Gerade an den Ausweisungen wird daher deutlich, welche Relevanz die Staatsangehörigkeit im alltäglichen Leben besaß.116 Es entsprach der bürokratischen Logik des Nationalstaats, dass die Zugehörigkeit zu einem Staat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem entscheidenden Ordnungskriterium entwickelte und die kommunale Mitgliedschaft demgegenüber an Bedeutung verlor.117 Gerade im deutschen Fall war diese Entwicklung eng mit Verän|| 115 Neubach, Ausweisungen, S. 129. 116 In der reichhaltigen Literatur zur Geschichte des Staatsangehörigkeitswesens ist der Ausweisungspraxis bisher wenig Beachtung geschenkt worden. Allerdings geht Andreas Fahrmeir in seiner Untersuchung der Zeit vor 1870 darauf ein; Fahrmeir, Citizens and Aliens, S. 187–196. Vgl. zudem Reinecke, Grenzen, S. 134-177. Brubaker behandelt Ausweisungen nicht, und selbst Dieter Gosewinkel thematisiert sie nur am Rande. Beiden geht es stärker um die rechtlichen Setzungen als um deren administrative Konsequenzen. Trevisiol wendet sich zwar der Verwaltungspraxis zu, behandelt aber nur die Naturalisation. Brubaker, Citizenship and Nationhood; Gosewinkel, Einbürgern; Trevisiol, Einbürgerungspraxis. Eli Nathans thematisiert in seiner weit gespannten Analyse die preußischen Ausweisungen von 1885/86, geht aber sonst nicht ausführlich auf das Thema ein; Eli Nathans, The Politics of Citizenship in Germany. Ethnicity, Utility and Nationalism, Oxford/New York 2004, S. 118–129. Schließlich spricht auch Wertheimer die Ausweisung osteuropäischer Juden am Rande an; Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987, S. 47–49, 60–63. 117 Noiriel, Die Tyrannei, S. 66–75, 294–298; vgl. auch die Bemerkung Weichleins, dass die »besonderen Mitgliedschaftsrechte der Kommunen mit ihren juristischen Abwehrmöglichkeiten gegen wandernde Armut und wirtschaftliche Konkurrenz« den »Staatsbürgerschaftsrechten des Reichsangehörigen und den Abwehrmöglichkeiten des Nationalstaates an seinen Außengrenzen gewichen« seien; Weichlein, Nation und Region, S. 241.

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derungen im Ausweisungsrecht und einer sich wandelnden Struktur der Armenfürsorge verknüpft.118 Es hatte lange dem gängigen Armenrecht entsprochen, dass Gemeinden all jene Armen, die bei ihnen kein Niederlassungsrecht besaßen, in deren Heimatort oder einen anderen Ort jenseits der Gemeindegrenzen abschoben. Doch indem soziale Leistungen sich schrittweise zu einer Domäne des Staates entwickelten, verlagerte sich auch die Macht, Unbefugte auszuweisen. Hatten zuvor die lokalen Autoritäten Fremde aus ihrem Gemeindegebiet verwiesen, verfügten nun Staaten die Ausweisung ›lästiger‹ (mittelloser, krimineller, ethnisch unerwünschter) Ausländerinnen und Ausländer aus dem Staatsgebiet – und mussten zugleich die eigenen Bürger aufnehmen, falls ein anderer Staat sie abschob. ›Die eigenen‹ eindeutig von ›den fremden‹ Staatsangehörigen zu scheiden, wurde damit zunehmend bedeutsam. Im föderativen Deutschen Reich bestanden verschiedene Ebenen der Staatlichkeit nebeneinander. Das spiegelte sich in der Ausweisungspraxis wider, indem zwischen Reichsverweisungen auf der einen und Landesverweisungen auf der anderen Seite differenziert wurde. Beides waren unterschiedliche Maßnahmen. Die Reichsverweisung basierte auf dem Strafrecht und folgte den Vorgaben des Strafgesetzbuchs119: Ihr ging stets eine Gerichtsverhandlung voraus. Dagegen war die Landesverweisung eine rein administrative Maßnahme, die nicht auf einem Gerichtsurteil fußte. Sie erlaubte es, jeden ausländischen Bürger in einem formlosen Verfahren als ›lästig‹ abzuschieben. Rechtlich gesehen stellten beide Maßnahmen Gebietsverbote dar: Der oder die Ausgewiesene musste das staatliche Territorium verlassen und durfte es in der Regel auch künftig nicht betreten.120 Insofern war Ausländern, die des Reichs verwiesen wurden, der Aufenthalt im gesamten Reichsgebiet verboten. Dagegen mussten Ausländerinnen und Ausländer, die aus Preußen ausgewiesen wurden, das preußische Territorium verlassen, aber nicht in jedem Fall das gesamte Reichsgebiet.121

|| 118 Andreas Fahrmeir, Nineteenth-Century German Citizenships: A Reconsideration, in: The Historical Journal, 40. 1997, S. 721–752, v.a. S. 726; Eckhard Reidegeld, Armenpflege und Migration von der Gründung des Deutschen Bundes bis zum Erlass des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz, in: Bommes/Halfmann (Hg.), Migration, S. 253–282. 119 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, hg.v. Karl Pannier, 20. Aufl. Leipzig 1912, § 38–39, 284, 361–362. Zu der kontroversen Frage, ob es sich bei der ›Reichsverweisung‹ um eine Straf- oder eine polizeiliche Maßnahme handelte siehe Richard Mautner, Die Aufenthaltsbeschränkungen bestrafter Personen nach Deutschem Reichsrecht und Preußischem Landesrecht, Berlin 1911. 120 Zur rechtlichen Einordnung siehe Walter von Conta, Die Ausweisung aus dem Deutschen Reich und aus dem Staat und der Gemeinde in Preußen. Eine systematische Darstellung für den Gebrauch der Behörden und Privaten, Berlin 1904; Ernst Isay, Das deutsche Fremdenrecht, Bonn 1923, S. 199– 247; Kurt Wolzendorff, Die polizeiliche Landesverweisung im preußischen Staatsrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 64. 1908, S. 409–423; vgl. mit Blick auf die Weimarer Republik Johannes Schwartz, Die Ausweisung von Ausländern aus dem Deutschen Reich und aus Preußen, Coburg 1933. 121 Conta, Ausweisung.

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Den Praktiken der Landes- und Reichsverweisungen ist in der historischen Forschung bis dato wenig Beachtung geschenkt worden.122 Dabei wird gerade an der Ausweisungspolitik deutlich, dass sich im deutschen Migrationsregime armenrechtliche mit sozial- und nationalpolitisch motivierten Ausschließungsmechanismen verbanden. Zudem zeigt die Abschiebepraxis, wie sehr die deutschen Staaten in die Freizügigkeit ausländischer Migrantinnen und Migranten eingriffen. Nicht von ungefähr wurden Ausweisungen in der zeitgenössischen Rechtsliteratur und den politischen Debatten des Kaiserreichs wiederholt als Ausdruck eines sonst überwunden geglaubten Polizeistaates und als ein Indiz staatlicher Willkür betrachtet.123 Insofern wird mit Blick auf die Ausweisungspraxis nicht nur die Frage relevant, warum und in welchem Umfang ausländische Staatsangehörige ausgewiesen wurden, sondern durchaus auch, wie genau das geschah.

3.1 Die Reichsverweisungen als Instrumente der sozialen Kontrolle Die Ausweisung aus dem Reich hatte ebenso disziplinierenden wie sozialpolitischen Charakter. Denn mit Hilfe der Reichsverweisungen entfernten die deutschen Autoritäten in erster Linie ausländische Arme, Bettler und Vagabunden aus dem Staatsgebiet; ›Fremde‹ also, die keinen Anspruch auf soziale Leistungen hatten und als öffentliches Ärgernis galten. In ihrem Verfahren folgten die Reichsverweisungen einem einheitlichen Muster: Danach wurde ein Ausländer oder eine Ausländerin wegen Bettelns, Landstreicherei, gewerbsmäßiger Unzucht, Glücksspiel, Trunksucht, Diebstahl oder eines schwerwiegenden Strafdelikts gerichtlich verurteilt. Das Gericht (meist ein Schöffen- oder lokales Amtsgericht) übergab ihn oder sie daraufhin der zuständigen Landespolizeibehörde. Diese wiederum konnte anordnen, dass die betreffende Person – anstatt oder zusätzlich zur verhängten Strafe – aus dem Reich verwiesen wurde. Insgesamt wurden pro Jahr nur wenige Reichsverweisungen || 122 Vgl. allerdings die ereignisgeschichtliche Studie Neubachs zu den preußischen Massenausweisungen russisch-polnischer und jüdischer Migranten 1885/86; Neubach, Ausweisungen. Einige allgemeine Überlegungen zur europäischen (hier belgischen, niederländischen, französischen und preußischen) Ausweisungspolitik siehe bei Frank Caestecker, The Transformation of NineteenthCentury West European Expulsion Policy, 1880–1914, in: Fahrmeir/Faron/Weil (Hg.), Migration Control, S. 120–137. Der Sammelband von Sylvia Hahn/Andrea Komlosy/Ilse Reiter (Hg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa, 16.–20. Jahrhundert, Innsbruck 2006, gibt einen breit angelegten Überblick über die Ausweisungspraxis von der Frühen Neuzeit bis in die heutige Zeit, wobei ein Teil der Aufsätze sich Formen der Zwangsmigration widmet – was zwar der Vielfalt dient, der inhaltlichen Kohärenz des Bandes aber schadet. 123 Vgl. etwa die Bemerkung des Staatswissenschaftlers Ernst Isay, der angesichts des quasi unbegrenzten preußischen Ausweisungsrechts erklärte, es stelle einen »letzten Rest des Polizeistaats« dar; Isay, Fremdenrecht, S. 213f.

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angeordnet. Die Namen sämtlicher aus dem Reich Verwiesener mussten im ›Zentralblatt für das Deutsche Reich‹ veröffentlicht werden. Folgt man den Angaben dort, wurden im Jahr 1890 in 586 Fällen Ausweisungen angeordnet. 1900 waren es 490, im Jahr 1910 waren es 514 Fälle.124 Das entsprach nicht ganz der Anzahl derjenigen, die tatsächlich das Land verlassen mussten. Denn mitunter wurde nur der Name des ausgewiesenen Mannes als Familienoberhaupt genannt, während de facto die gesamte Familie ausreisen musste.125 Doch selbst dann war die Zahl der Reichsverweisungen, gemessen am Umfang der ausländischen Bevölkerung, nicht hoch. Nur ein geringer Teil derjenigen, die des Reichs verwiesen wurden, war wegen Diebstahl oder Betrug verurteilt worden. Die meisten verließen das Staatsgebiet, weil sie als ›Bettler‹ oder ›Landstreicher‹ aufgegriffen wurden.126 Ebenso wie das Umherziehen ohne festen Wohnsitz wurde die öffentliche Bitte um Almosen im Kaiserreich wie ein kriminelles Delikt behandelt. Diese abweisende Haltung gegenüber ›Wanderarmen‹ hatte vielfältige Hintergründe, lag aber vornehmlich in deren Fürsorge begründet und damit in der Frage, wer für die Betroffenen aufkommen sollte. Eng verbunden mit der Tradition eines auf Heimatgemeinden basierenden Armenrechts und gekoppelt an ethnisierende Vorurteile stießen gerade hochmobile Gruppen bei der Verwaltung auf Ablehnung. Ihre nicht-stationäre Lebensweise verlief quer zu den Ordnungsbemühungen der Bürokratie. Das zeigte insbesondere der Umgang mit den sogenannten ›Zigeunern‹, die erst vermittels der Kategorisierungs- und Überwachungsbemühungen von Polizei und Verwaltung zu einer eigenen ethnisch-homogenen Gruppe stilisiert und unter dem Etikett ›Zigeuner‹ zum Objekt vielfältiger Exklusionsbemühungen wurden.127 Zwar fielen die meisten der || 124 Vgl. die Angaben in den offiziellen Periodika ›Zentralblatt für das Deutsche Reich‹ und ›Deutsches Fahndungsblatt‹ sowie deren Zusammenfassung im ›Statistischen Jahrbuch für das Deutschen Reich‹. 125 Bei manchen hieß es, sie seien mit ihrer Frau oder »mit ihrer Familie« ausgewiesen worden, während die Namen der abhängigen Familienmitglieder nicht aufgelistet wurden Im ›Statistischen Jahrbuch‹ wiederum wird zunächst die Zahl der ausgewiesenen Familien aufgelistet. Auch da bleibt jedoch unklar, ob in den dann separat angeführten Angaben der weiblichen und männlichen Ausgewiesenen die Ehefrauen und Kinder enthalten sind oder nicht. 126 Z.B. bezogen sich von den 1905 angeordneten Reichsausweisungen 7,7 Prozent auf Verurteilungen nach § 39 des Strafgesetzbuches, während ca. 91 Prozent auf § 362 fußten. Von denjenigen Entscheidungen, die sich nach § 39 richteten, galten 69 Prozent Fällen von Diebstahl, Betrug und Landstreicherei, während 15,4 Prozent Prostitution oder Zuhälterei betrafen. Der Rest bezog sich auf die Führung falscher Namen oder Identitätspapiere. Von den Entscheidungen, die auf § 362 basierten, folgten wiederum 87,5 Prozent Delikten der Bettelei und Landstreicherei, 12,5 Prozent Diebstahl und ähnlichen Vergehen, 5,5 Prozent Prostitution und 3,5 Prozent falsche Identitätspapiere. Diese Verhältnisse unterstreichen, dass mit der Maßnahme primär ›Bettler‹ und ›Landstreicher‹ ausgeschlossen werden sollten; Daten entsprechend der Angaben im Zentralblatt für das Deutsche Reich, 33. 1905. 127 »Der Begriff Zigeuner wurde in vielen Fällen nicht für Personen gebraucht, die sich selbst als ethnische Gruppe bezeichneten und empfanden, denn viele Gruppen mit einer ambulanten Le-

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ausgewiesenen ›Vagabunden‹ oder ›Bettler‹ nicht unter die Kategorie ›Zigeuner‹, doch ähnelten sich die (ordnungs- und sozialpolitischen) Gründe für ihren Ausschluss. Gemessen an ihrem Anteil an der ausländischen Bevölkerung im Deutschen Reich128, wurden dabei deutlich weniger Frauen als Männer ausgewiesen. Lediglich 8,5 bis 13,1 Prozent der bis 1914 jährlich angeordneten Reichsverweisungen galten Frauen. Sie wurden zudem aus anderen Gründen als Männer ausgewiesen. Zwar musste etwa die Hälfte (52,4 Prozent) der im Jahr 1905 ausgewiesenen Frauen das Land verlassen, weil sie wegen Bettelei oder Landstreicherei verurteilt worden waren. Und Delikte wie Diebstahl oder Betrug kamen bei ihnen ähnlich häufig wie bei männlichen Ausgewiesenen vor (11,9 Prozent). Doch knapp ein Drittel der ausgewiesenen Frauen (28,6 Prozent) musste gehen, weil sie der ›gewerbsmäßigen Unzucht‹ beschuldigt wurden.129 Dagegen kamen Zuhälterei und Prostitution als Begründung von Ausweisungen bei Männern kaum oder gar nicht vor. Sich zu prostituieren gehörte zu den Möglichkeiten, die Migrantinnen in einer wirtschaftlich unsicheren Lage wiederholt wählten. Es ist jedoch schwer festzustellen, ob das auch auf die derart Beschuldigten zutraf oder ob ihnen aufgrund ethnisierender Vorurteile mangelnde sexuelle Moral vorgeworfen wurde. Denn zweifelsfrei nahmen Frauen und Männer in der moralischen Ökonomie der Zeit ebenso wie im tatsächlichen Wirtschaftsleben divergierende Positionen ein. Dass allein stehende Frauen sich selbst ernährten, widersprach dem gängigen bürgerlichen Genderkodex. Und gerade wenn sie unverheiratet waren oder nicht gemeinsam mit ihrem Ehemann migrierten, begaben sich Migrantinnen in eine wirtschaftlich wie moralisch angreifbare Position. Diese unterschiedliche Positionierung spiegelt sich in den Verweisungen wider.130 Überhaupt dienten die Ausweisungen den Autoritäten dazu, Formen ›devianten Verhaltens‹ bei nicht-deutschen Untertanen zu sanktionieren. Das traf auf die Prostitution ebenso zu wie auf den Vorwurf des Vagantentums. Denn die Deutung von || bensweise wurden in gleicher Weise etikettiert.« Leo Lucassen, Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700–1945, Köln 1996, S. 14. 128 Gemäß den Volkszählungen waren im Jahr 1890 von insgesamt 433.254 erfassten ausländischen Staatsangehörigen 43,7 Prozent Frauen, 1900 waren es 43,8 Prozent; Elsner/Lehmann, Ausländische Arbeiter, S. 25. Dass eine Frau als Nicht-Deutsche aufgeführt wurde, musste nicht heißen, dass ihre Eltern nicht Deutsche und sie nicht in Deutschland geboren war. Rechtlich folgte ihre Staatsangehörigkeit der ihrer Ehemänner. 129 Diese Angaben basieren auf einem Sample von 313 Anordnungen, die im Zentralblatt für das Deutsche Reich, 33. 1905, veröffentlicht wurden. 130 Siehe dazu ausführlicher Christiane Reinecke, Policing Foreign Men and Women: Gendered Patterns of Expulsion and Migration Control in Germany, 1880–1914, in: Marlou Schrover u.a. (Hg.), Illegal Migration and Gender in a Global and Historical Perspective, Amsterdam 2008, S. 57–81; zu einer ähnlichen Konstellation in der zeitgleichen US-amerikanischen Abschiebepraxis vgl. Deirde M. Moloney, Women, Sexual Morality, and Economic Dependency in Early U.S. Deportation Policy, in: Journal of Women’s History, 18. 2006, S. 95–122.

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Armut als einem gottgewollten Zustand hatte sich im Laufe des späten 19. Jahrhunderts zwar gewandelt, und individuelle Notlagen wurden vermehrt als gesellschaftlich bedingt und damit politisch gestaltbar betrachtet. Doch galten Bettelei und Landstreicherei weiterhin als moralisch verwerflich und wurden bei Ausländerinnen und Ausländern eben mit deren Entfernung aus dem Reichsgebiet geahndet.131 Insofern fungierte die Reichsverweisung primär als ein Instrument der sozialen Kontrolle und Disziplinierung, indem Bettelei, Kriminalität oder Prostitution geahndet wurden, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Darüber hinaus folgten die Verweisungen sozialpolitischen Überlegungen, indem sie halfen, Kostenträger auszuschließen, die – anders als Reichsangehörige – keinen Anspruch auf soziale Leistungen hatten. Sozialpolitische und disziplinierende Absichten griffen damit ineinander.

3.2 Die Landesverweisungen als Instrumente einer ethnischexklusiven Politik Die preußischen Landesverweisungen folgten einer anderen bürokratischen Logik als die Ausweisungen aus dem Reich. Das betraf zum einen das Verfahren, da die Landesverweisungen per Ministerialdekret geregelt wurden und als rein administrative Maßnahme den jeweiligen Beamten vergleichsweise viel Spielraum ließen. Zum anderen betraf es die politischen Interessen: Die preußische Regierung ordnete zwischen 1880 und 1914 wiederholt die Ausweisung von Personen an, die nicht in deren individuellem Verhalten begründet lag, sondern aus ihrer ethnischen, konfessionellen oder sozialen Zugehörigkeit resultierte. Das wird schon am Beispiel der Massenausweisungen deutlich, die Mitte der 1880er Jahre in Preußen gegen ausländisch-polnische und -jüdische Zuwanderer angeordnet wurden. Ähnlich wie die spätere Politik gegenüber den polnischen Landarbeitskräften waren die Ausweisungen maßgeblich von dem Bestreben motiviert, eine ›Polonisierung‹ der Grenzgebiete zu verhindern; und damit eine Bedrohung jener ethnisch-deutsch und evangelisch dominierten Zustände abzuwenden, die den konservativen Eliten vorschwebten. Noch in den 1870er Jahren waren Zuziehende aus Russland und Österreich-Ungarn in Preußen vergleichsweise unbehelligt geblieben. Ob sie eine Aufenthaltserlaubnis hatten, wurde meist nicht nachgeprüft, und viele bemühten sich daher gar nicht um eine Naturalisation.132 Einige waren sich ihres Ausländerstatus nicht einmal bewusst. Doch zu Beginn der 1880er

|| 131 Zur gewandelten Wahrnehmung von Armut im Kaiserreich siehe Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 18–22. 132 Vgl. die vielen diesbezüglichen Äußerungen in den preußischen Ausweisungsakten in GStA, I HA, Rep. 77, tit. 1176.

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Jahre verstärkte sich der Zustrom osteuropäischer Migranten. Parallel dazu vollzog sich in der deutschen Politik und Gesellschaft auf mehreren Ebenen eine Trendwende hin zu einer stärker konservativen, antiliberalen Politik – eine Entwicklung, die Hans-Ulrich Wehler als »allgemeine Entliberalisierung des öffentlichen und politischen Lebens« beschrieben hat.133 Während sich auf Reichsebene Bismarck seit den späten 1870er Jahren von den liberalen Parteien abwandte und der wirtschaftliche wie der politische Liberalismus an Einfluss verloren134, charakterisierte eine Abkehr von liberalen Maßgaben auch die preußische Politik gegenüber den Zuwandernden. Eine veränderte Praxis der statistischen Erfassung ausländischer Staatsangehöriger bildete den ersten Schritt auf diesem Weg hin zu einer restriktiveren Politik. So mussten die preußischen Oberpräsidenten seit 1882 regelmäßig Listen anfertigen, in denen sie die russischen Migrantinnen und Migranten aufführten, die in ihren Provinzen ansässig waren.135 Die Daten waren nach religiöser Zugehörigkeit (evangelisch, katholisch, jüdisch), nach Familienstand und nach Berufsgruppen (Handwerker, Kaufleute, Landarbeitskräfte) aufzuschlüsseln. Sie dienten in den folgenden Jahren dazu, Ausweisungen zu rechtfertigen und durchzuführen. Die Rede von einem Ordnen der Migrationsverhältnisse wird in diesem Kontext besonders plastisch. Denn tatsächlich war die Bürokratie bestrebt, die Bevölkerung nach bestimmten Kriterien (inländisch/ausländisch, jüdisch/nichtjüdisch, polnisch/nichtpolnisch) zu ordnen, bevor sie weitere, segregierende Maßnahmen verfügte. Dazu gehörte 1885 die maßgeblich von Preußens Innenminister von Puttkamer, Kultusminister von Gossler und Ministerpräsident von Bismarck initiierte Anweisung, ausländisch-polnische und -jüdische Migrantinnen und Migranten aus den preußischen Gebieten im Osten auszuweisen. Um dem »weiteren Anwachsen der russischpolnischen Elemente« entgegen zu treten, erklärte von Puttkamer am 26. März 1885 in einem Schreiben an die Oberpräsidenten der Grenzprovinzen, sollte jedem russisch-polnischen Untertanen der Grenzübertritt untersagt werden, sofern er sich nicht als Reisender ausweisen könne.136 Ebenso sei darauf Bedacht zu nehmen »die Ausweisung derjenigen Überläufer herbei zu führen, welche sich ohne die vorgeschriebene obrigkeitliche Erlaubnis im Lande aufhalten«. Die Anordnung markierte den Beginn einer verschärften Politik gegenüber ausländischen Polen und Juden, die bald – unabhängig davon, ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung besaßen oder nicht – in großem Umfang ausgewiesen und nur im || 133 Hans-Ulrich Wehler, Wie bürgerlich war das deutsche Kaiserreich?, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 243–280, hier S. 271. 134 Vergleiche zu dieser Trendwende auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 382–409. 135 1884 wurde die Erfassung abermals durchgeführt; Neubach, Ausweisungen, S. 13–17; vgl. außerdem die verschiedenen Übersichten und Listen in GStA, Rep. 77, tit. 1176, Nr. 2 a, Bd. 5. 136 GStA, Rep. 77, tit. 1176, Nr. 2 a, Bd. 5, 90f.

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Ausnahmefall eingebürgert wurden. Waren zuvor etwa 44.000 ausländischpolnische und -jüdische Migrantinnen und Migranten aus Russland und Galizien in den östlichen preußischen Provinzen ansässig gewesen, mussten infolge der Ausweisungen etwa 32.000 das Land verlassen. Bei etwa einem Drittel von ihnen handelte es sich um osteuropäische Juden.137 Die Ablehnung der osteuropäischen Zuwanderer, die in der Ausweisungspolitik zum Ausdruck kam, entsprach der wachsenden Popularität antisemitischer Positionen im Kaiserreich. Seit den späten 1870er Jahren verbreitete sich dort eine antisemitische Grundstimmung, die teils religiös, teils ökonomisch, nationalistisch und rassistisch motiviert war.138 Shulamit Volkov hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass sich im Kaiserreich der Antisemitismus zu einer eigenen Kultur verdichtete, zu einem anti-emanzipatorischen »kulturellen Code«, der verschiedene Werte und Ideen miteinander verknüpfte.139 Der daran gebundene ausschließende Gestus richtete sich ebenso gegen deutsche wie nicht-deutsche Juden, wobei das erhebliche Misstrauen gegenüber den jüdischen Migrantinnen und Migranten aus Russland und Österreich-Ungarn in einem stereotypen Bild ›des osteuropäischen Juden‹ mündete; eine Klischeevorstellung, die sich nach 1914 in dem negativ konnotierten und politisch instrumentalisierten Begriff des ›Ostjuden‹ verdichtete.140 Der an diesen Begriff gebundene Katalog antisemitischer Vorurteile schlug sich in den Entscheidungen über individuelle Ausweisungen nieder. Ob jemand abgeschoben wurde oder nicht, hing von verschiedenen Akteuren ab. Neben der (entscheidenden) ministerialen Instanz, dem preußischen Innenministerium, besaßen insbesondere die Oberpräsidenten der Provinzen einen großen Einfluss141, während die kommunalen Behörden zwar über wenig Entscheidungs-

|| 137 Neubach, Ausweisungen. S. 129. Zur Geschichte der Einwanderung osteuropäischer Juden während des Kaiserreichs vgl. die ausgezeichnete Studie von Wertheimer, Unwelcome. Bezüglich der Entwicklung des ›Bildes‹ der osteuropäischen Juden siehe Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, London 1982. Zur jüdischen Bevölkerung in den Ostprovinzen allgemein vgl. den Sammelband von Michael Brocke u.a. (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim 2000 sowie speziell zu Breslau: Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in der deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000. 138 Siehe hierzu Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, London 1988, v.a. S. 83–97; ders., Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848–1933, Oxford 1992. 139 Shulamit Volkov, Antisemismus als kultureller Code. Zehn Essays, 2. Aufl. München 2000, S. 13–36. 140 Zu diesem Begriff und den Problemen mit seiner Verwendung in der historischen Analyse vgl. Wertheimer, Unwelcome, S. 6; Aschheim, Brother, S. 257. 141 In den 1920er Jahren entschieden die Regierungspräsidenten darüber; Isay, Fremdenrecht, S. 199–247; Max Hahn, Die amtlichen Bestimmungen über die Ausweisung lästiger Ausländer, Berlin 1927.

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macht verfügten, sich aber häufig zu der konkreten wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Situation einzelner Personen äußerten. In diesem Kontext haben verschiedene regionale Studien gezeigt, dass sich die städtischen Behörden gegenüber ausländischen Juden mitunter inklusiver verhielten als die übergeordneten staatlichen Stellen.142 Damit zeugte die preußische Ausweisungspraxis zwar von einer exklusiven Zielrichtung der preußischen Politik, aber sie war nicht notwendigerweise ein Indiz für ein gespanntes Verhältnis zwischen Zugewanderten und Einheimischen auf lokaler Ebene. Ausländische Juden und Polen konnten bereits lange ansässig, mit einer Preußin verheiratet, wohlhabend und an ihrem Wohnort angesehen sein. Dennoch wurden sie oft ausgewiesen, weil sie aufgrund ihrer Ethnie und Religion unerwünscht waren. Gesicherte Finanzen und gesellschaftliches Ansehen schützten damit nicht unbedingt vor staatlichen Interventionen. Umgekehrt erhöhte sich für Ausländerinnen und Ausländer, die sozial nicht abgesichert waren, das Risiko, zum Verlassen des Staatsgebiets aufgefordert zu werden. Das wird unter anderem an der verschärften Ausweisungspraxis der Jahre 1905/06 deutlich. Bei den politischen Autoritäten war infolge der Revolution in Russland die Furcht vor sozialen und politischen Unruhen gewachsen, und sie beobachteten sorgenvoll den merklichen Anstieg der Zuwanderung von dort. So meldete die Berliner Polizei, dass von den 10.052 russischen Staatsangehörigen, die sich im Februar 1906 in der Stadt befanden, ganze 7.297 nach dem 1. Januar 1904 zugezogen waren. Auf diese Gruppe zielte der preußische Innenminister ab, der sich im Dezember 1905 an die Oberpräsidenten der Ostprovinzen und den Berliner Polizeipräsidenten wandte: Die vermehrte Einreise ausländischer Juden aus Russland, erklärte er in seinem Schreiben, dürfe nicht dazu führen, dass sich »diese Elemente […] im preußischen Staatsgebiet festsetzen«, vor allem wenn sie »den niederen Bevölkerungsschichten oder dem politisch besonders gefährlichen geistigen Proletariat« angehörten. Sie seien, sofern schon nicht ihre Einreise verhindert werden könne, auszuweisen.143 Migrantinnen und Migranten sollten mithin nicht aufgrund ihres individuellen Verhaltens ausgeschlossen werden, sondern es ging um deren Ausschluss aufgrund kollektiver Kriterien. So wurde im März 1906 beschlossen, von den 7.297 russischen Untertanen, die sich seit 1904 in Berliner Polizeirevieren angemeldet hatten, etwa 10 Prozent »und zwar überwiegend Juden, allein stehende Personen, und Personen, die nach ihrem Beruf und nach ihrer Beschäftigung zweifellos den niederen Ständen angehören (Proletarier)« sofort auszuweisen.144 Weitere 10 Prozent sollten unbehel|| 142 Siehe etwa die Studie van Rahdens zu Breslau sowie die Untersuchung von SchülerSpringorum zu Königsberg: van Rahden, Juden. Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen 1871–1945, Göttingen 1996, S. 94–99. 143 Landesarchiv Berlin (im Folgenden: LAB), A Rep. 406, Nr. 12, Bl. 4. Erlass des Preußischen Innenministers an die Ober-Präsidenten zu Königsberg, Danzig, Posen, Breslau, 23.12.1905. 144 LAB, A Rep. 406, Nr. 12, 30f, Berlin, Besprechung am 12.3.1906.

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ligt bleiben, während die verbleibenden 80 Prozent zum freiwilligen Verlassen des Staatsgebiets aufgefordert wurden. Dass in diesem Zusammenhang Ethnie und Religion eine zentrale Rolle spielten, wird auch daran deutlich, dass der Berliner Polizeipräsident anordnete, nicht-jüdische Russen deutscher Abstammung von den Ausweisungen auszunehmen – sofern sie politisch unverdächtig schienen. Nicht alle der 1906 angeordneten Ausweisungen wurden letztlich durchgeführt, sodass unter dem Strich weniger Personen als ursprünglich angekündigt das Land verlassen mussten. Kennzeichnend für die ethnisch-exklusive und politisch grundierte Stoßrichtung der preußischen Politik war die Maßnahme dennoch, zumal die 1905 formulierten Leitlinien in den folgenden Jahren weiter befolgt wurden.145 Auch jenseits der Ausweisungswellen von 1885/86 und 1905/06 wies die preußische Regierung regelmäßig ausländische Migrantinnen und Migranten aus. In welchem Umfang sie das genau tat, ist allerdings schwer festzustellen. Zwar wurden Angaben zu den preußischen Verweisungen ab 1893 im ›Königlich-Preußischen Central-Polizeiblatt‹ veröffentlicht146, doch sind zu wenige Ausgaben dieses Blattes erhalten geblieben. Die für die erste Hälfte des Jahres 1914 zugänglichen Angaben legen jedoch nahe, dass die Zahl der Landesverweisungen durchschnittlich höher lag als die der Reichsverweisungen. Bereits Mitte April 1914 verzeichnete das ›Zentrale Fahndungsblatt‹ 657 Ausweisungen aus dem Reich, Bayern und Preußen. Im Laufe des Jahres stieg ihre Zahl weiter an: Bis Ende September waren 2.200 Ausländer aus Preußen, Bayern und dem Deutschen Reich ausgewiesen worden; gegen Jahresende waren es insgesamt 2.797.147 Bei 415 dieser 2.797 Fälle handelte es sich um Reichsverweisungen148, die übrigen 2.382 waren Landesverweisungen aus Bayern und Preußen. Inwiefern die Zahlen in früheren Jahren ähnlich hoch waren, ist schwer zu sagen, denn 1914 kann in Hinblick auf Politik und Verwaltung kaum als ein typisches Jahr gelten. Doch war ein beträchtlicher Teil der Verweise bereits vor dem Kriegsausbruch im Juli angeordnet worden. Angesichts dessen und in Anbetracht der zahlreichen in den preußischen Akten dokumentierten Einzelfälle ist anzunehmen, dass – unabhängig von den jährlichen Abschiebungen ausländischer Saisonarbeitskräfte – Preußen sehr regelmäßig ausländische Zugewanderte des || 145 Noch 1912 rechtfertigte der Oberpräsident von Brandenburg eine von ihm verfügte Ausweisung damit, dass er den 1905 formulierten Grundsätzen gefolgt sei; BArch B, R/901, 35730, 3f. 146 Durch einen Erlass des Preußischen Innenministers vom 8.8.1893 wurde angeordnet, dass dort sämtliche wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung verfügten Ausweisungen lästiger Ausländer aus dem preußischen Staatsgebiete bekannt zu machen seien. Seit 1899 waren dann auch die aus wirtschaftlichen Gründen sowie wegen bestehender oder drohender Verarmung angeordneten Landesverweise (aber nicht die alljährlichen Abschiebungen der polnischen Arbeiter) dort zu veröffentlichen. 147 Nachweisung der im Jahre 1914 im Deutschen Fahndungsblatt und Preußischen sowie Bayerischen Zentralpolizeiblatt veröffentlichten gültigen ausgewiesenen Ausländer und Anarchisten, Guben 1914, in: Fahndungs-Nachrichten. Beilage zum Zentral-Steckbriefregister, 3.10.1914. 148 Zahlen gemäß der Angaben im Statistischen Jahrbuch für das Deutschen Reich

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Landes verwies. Und auch Bayern hatte im Vorjahr 1913 gegen 357 ausländische Staatsangehörige, von denen die meisten aus Österreich-Ungarn kamen, Landesverweisungen angeordnet.149 Damit war Preußen weder das einzige Land, das Ausländer auswies, noch folgte ausschließlich die preußische Politik einer ethnisch-exklusiven Logik. Das zeigt der Vergleich mit den Hansestädten Bremen und Lübeck. In beiden Stadtstaaten wurden zwischen 1880 und 1914 wiederholt Maßnahmen ergriffen, um zuwandernde Juden aus Russland und Österreich-Ungarn abzuwehren. Das Polizeiamt der Hansestadt Lübeck etwa erklärte im Mai 1910, es hätten in den vergangenen Jahren häufig galizische Juden versucht, sich mit ihren Familien in Lübeck niederzulassen, doch habe man diese Familien stets ausgewiesen.150 Um zu erfahren, ob man in anderen Bundesländern galizischen Juden den Aufenthalt gestattete, wandten sich die Lübecker nun an die Bremer Verwaltung. Dort wiederum hieß es, man weise die Galizier zwar nicht grundsätzlich aus, lege aber für jeden zuziehenden russischpolnischen oder österreichisch-ungarischen Juden eine Personalakte an.151 Dafür wurden bei den Behörden der früheren Aufenthaltsorte Erkundigungen eingezogen, und die verschiedenen Bremer Distrikte mussten regelmäßig über die neu Zugezogenen berichten. Sofern sich jemand als ›lästig‹ herausstellte, wurden er oder sie ausgewiesen. So bat der Senat im Februar 1900 festzustellen, inwiefern die wachsende Zahl der russisch-polnischen und galizischen Juden in der Stadt »eine Belästigung« darstellte, und wies im Anschluss einige Migranten aus.152 Überhaupt erfasste die Bremer Polizei sporadisch die Daten der sich im Staatsgebiet aufhaltenden osteuropäischen Juden, um auf dieser Basis weitere Maßnahmen zu ergreifen.153 An dieser Verwaltungsroutine zeigt sich, wie im Umgang mit Ausländern, und zumal mit ausländischen Juden, registrierende, dokumentierende und exkludierende Praktiken ineinander griffen. Damit wäre allerdings noch wenig über die tatsächlichen Effekte der Ausweisungen gesagt. Denn nicht jede Person, die ausgewiesen wurde, verließ auch das deutsche Staatsgebiet. Um eine Anordnung zum Verlassen des Staates zu umgehen, ergriffen Migrantinnen und Migranten unterschiedliche Strategien: Einige legten bei den Behörden Protest ein. Andere versuchten, unbemerkt wieder einzureisen oder wechselten statt ins Ausland lediglich in eines der anderen deutschen Länder über. In diesem Fall half ihnen die föderative Struktur des Deutschen Reichs. Denn rechtlich stand es den Autoritäten der verschiedenen Länder frei, eine Person, die aus einem anderen deutschen Staat ausgewiesen worden war, bei sich aufzunehmen. || 149 Siehe die Angaben im Bayerischen Zentral-Polizei-Blatt 1913. 150 StBr, 4,14/1-IV.D.6, 29. 151 StBr, 4,14/1-IV.D.6, 29, handschriftlich vorformulierter Antwortbrief. 152 StBr, 4,14/1-IV.D.6, 12. 153 StBr, 4,14/1-IV.D.6, 5; 12. Zu einer abermaligen Auseinandersetzung mit den Listen der zuziehenden galizischen und russisch-polnischen Juden im April 1910 vgl. etwa StBr, 4,14/1-IV.D.6, 28.

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Ihre Verwaltungsabläufe waren oft nicht aufeinander abgestimmt. Dazu aufgefordert, das eine deutsche Land zu verlassen, versuchten Migranten daher wiederholt, über die Landesgrenzen in ein anderes zu wechseln. Gerade aus Sicht der preußischen Bürokratie stellte diese Praxis einen Missstand dar. Denn wenngleich sie sich darum bemühte, Migranten stets über die Reichsgrenzen auszuweisen, gelang das nicht immer. Und die Versuche der preußischen Regierung, auf die übrigen deutschen Länder einzuwirken, blieben oft erfolglos.154 So listet ein Mitte der 1890er Jahre angefertigtes Verzeichnis der in Bremen wohnhaften russisch-polnischen und österreichisch-galizischen Juden 138 Personen auf, die seit Mitte der 1880er Jahre nach Bremen gezogen waren.155 Bei immerhin 36 dieser Personen war vermerkt, dass sie zuvor aus Preußen ausgewiesen worden waren. In den übrigen Fällen wurde das verneint beziehungsweise angemerkt, dass die Betreffenden zumindest »angeblich nicht« von dort abgeschoben worden waren. Damit notierten die Bremer Beamten zwar die zuvor erfolgte Landesverweisung, verwehrten den aus Preußen Verwiesenen aber nicht grundsätzlich den Zutritt zum Bremer Staatsgebiet. Jenseits dieser föderativen Bruchstellen fanden sich in der Gesellschaft des Kaiserreichs neben den Vertretern restriktiver Positionen auch Akteure, die sich für die Rechte der Migranten einsetzten. Hierzu gehörten neben den parlamentarischen Repräsentanten die Vertreter verschiedener Hilfsorganisationen, die auf Härten in der Migrationspolitik hinwiesen und in individuellen Fällen Ausweisungen zu verhindern suchten. Außerdem wehrten sich die Migrantinnen und Migranten selbst gegen ihre drohende Abschiebung. Ausländische Staatsangehörige – wie etwa der eingangs erwähnte Joseph Konopka – versuchten wiederholt, die gegen sie angeordneten Ausweisungen rückgängig zu machen. Dazu gehörte, dass sie schriftlich Protest einlegten. Denn während der Staat die unerlaubte Rückkehr zuvor Ausgewiesener für gewöhnlich kriminalisierte, indem er die Betreffenden inhaftierte oder erneut auswies, stellten Petitionen einen legalen Weg des Protestes dar. Diejenigen, die beim Innenministerium offiziell Beschwerde einlegten, konnten damit rechnen, dass die Beamten ihre Ausweisung überprüften. Wie viele dabei im Schnitt mit ihrer Petition erfolgreich waren, ist schwer festzustellen. Es fehlt an ausreichenden Daten. Doch zeigt die Analyse der zahlreich dokumentierten Einzelfälle, dass es vielen gelang, die angeordnete Ausweisung zwar nicht aufzuheben, aber doch die Dauer des Aufenthalts zu verlängern – oft um ein halbes Jahr, in einigen Fällen für mehrere Jahre.156

|| 154 Gosewinkel, Einbürgern, S. 220f. Barfuss hat zudem auf die Bemühungen Preußens hingewiesen, Bremen davon zu überzeugen, das System von Inländerlegitimierung und Rückkehrzwang zu übernehmen; Barfuss, ›Gastarbeiter‹, S. 95–102. 155 StBr, 4,14/1-IV.D.6, 6f. 156 Für diese Verzögerungen charakteristisch ist die Tatsache, dass von den 2.572 seit 1885 für Königsberg angeordneten Ausweisungen bis Ende 1887 erst 808 tatsächlich befolgt worden waren.

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Dabei hatten vor allem drei Argumente Aussicht auf Erfolg: 1. kommerzielle, indem die Petenten darum baten, mehr Zeit für die Auflösung ihrer Geschäfte zu erhalten, 2. soziale, indem die Betreffenden auf die Notlage zurückbleibender Angehöriger verwiesen und 3. militärische, indem die Ausgewiesenen oder deren Kinder nachweisen konnten, ihren Militärdienst in Preußen geleistet zu haben. Und noch ein weiteres Thema dominierte: Neben dem Bemühen, den eigenen Wert als steuerzahlende, wehrdienstleistende, wirtschaftlich produktive Bürger hervorzuheben, erklärten die Petenten wiederholt, dass sie sich, ungeachtet ihrer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit, ›deutsch‹ fühlten. Angesichts der Zwangslage, in der sich die Appellierenden befanden, gab diese Argumentation nicht notwendigerweise ihre tatsächliche Gefühlslage wieder. Doch dürfte die Prominenz der nationalen Thematik damit zu erklären sein, dass viele durch die Ausweisung überhaupt erst auf die Bedeutung ihrer Staatsangehörigkeit gestoßen wurden. Außerdem spiegelten sich in ihren Petitionen jene nationalistischen Obsessionen wider, die den Ausweisungen zugrunde lagen. Denn de facto waren es eben oft nationalistische – antipolnische und antisemitische – Bedenken, die die Exklusionsbemühungen anstießen. Es gab dabei im Deutschen Reich prinzipiell keine Regelung, die langfristig ansässige Ausländer vor einer Ausweisung bewahrt hätte. Ihr Aufenthaltsstatus war generell prekär; zumal das Staatsangehörigkeitsrecht sich tendenziell exklusiv verhielt und durch eine – insbesondere gegenüber Juden und Polen – diskriminierende Naturalisierungspraxis ergänzt wurde.157 Insofern war es die Verbindung von rechtlichem Rahmen und restriktiver Ausweisungspraxis, die den unsicheren Aufenthaltsstatus ausländischer Staatsangehöriger im Deutschen Reich begründete.

4 Schluss Der Historiker Charles S. Maier hat angeregt, bei der Periodisierung der jüngeren Geschichte einem strukturellen Narrativ zu folgen, das sich an der Kategorie der Territorialität orientiert.158 Während mit Blick auf aktuelle Globalisierungstendenzen gerne behauptet wird, dass nationalstaatlich-territoriale Strukturen an Relevanz verlieren, beschreibt Maier eine von ihm grob zwischen den 1860er und späten 1960er Jahren angesiedelte Epoche, in der sich Territorien zu einer zentralen Be-

|| Weitere 400 Personen sollten noch ausgewiesen werden, der Rest jedoch vorerst bleiben; SchülerSpringorum, Minderheit, S. 176. 157 Gosewinkel, Einbürgern, S. 263–277. Die »Handhabung der deutschen Staatsangehörigkeit« trug laut Gosewinkel nicht nur antipolnische, sondern auch antijüdische Züge; ebd., S. 270. 158 »Territoriality means simply the properties, including power, provided by the control of bordered political space, which until recently at least created the framework for national and often ethnic identity.« Maier, Consigning, S. 808.

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zugsgröße der Machtausübung entwickelten und die staatliche Durchmachtung voneinander abgegrenzter politischer Räume voranschritt. Die moderne Welt, so Maier, wurde von einem »Epistem der Abgrenzung« erfasst. Das deutsche Migrationsregime des ausgehenden 19. Jahrhunderts lässt sich in diese Epochenbeschreibung gut einordnen, indem sich der Ein- oder Ausschluss ›Fremder‹ in dieser Zeit von einer vormals kommunalen immer konsequenter auf die staatliche Ebene verlagerte und die Kontrolle der Mobilität anderer Staatsangehöriger an den Grenzen sowie auf dem eigenen staatlichen Territorium an Bedeutung gewann. Gerade an dem Versuch, die Mobilität ›Fremder‹ zu regulieren, zeigt sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der wachsende Herrschaftsanspruch des »umgrenzten Macht-Containers« Nationalstaat.159 Sei es durch die Abweisung an den Grenzen, die Forderung nach Legitimationspapieren oder die Ausweisung: Mit Hilfe dieser Praktiken beriefen sich die Staaten auf ihr souveränes Recht, ein Territorium zu kontrollieren, und suchten, nach innen wie außen das Bild eines abgeschlossenen, durchherrschten Raums zu zeichnen.160 Auf welche Weise staatliche Akteure die Migration fremder Bürgerinnen und Bürger kontrollierten, hing damit auch davon ab, wie ein Nationalstaat und seine territorial und personell organisierte Herrschaft sich historisch entwickelten. Im Falle der Migrationspolitik des Deutschen Reichs wird in diesem Zusammenhang ein Spannungsverhältnis erkennbar, zwischen einem verbreiteten ethnisch-homogenisierenden Nationsverständnis auf der einen und regional unterschiedlichen, nur schrittweise aufeinander abgestimmten Verwaltungsgepflogenheiten auf der anderen Seite. Während ein nationalistisches Ordnungsdenken und sozialplanerische bürokratische Ambitionen maßgeblich dazu beitrugen, dass das Bemühen um eine staatliche Kontrolle ausländischer Staatsangehöriger wuchs, setzten die Widersprüche im staatlichen Handeln sowie das ›eigen-sinnige‹ Handeln von Migranten und anderen Akteuren diesem Bemühen klare Grenzen.161 Die versuchte Regulierung von Wanderungsprozessen reagierte auf konfligierende Interessen. So stellte die Art und Weise, wie mit Transitreisenden umgegangen wurde, ebenso eine Reaktion auf die US-amerikanische Grenzpolitik dar wie sie eine Folge des wirtschaftlichen Interesses der Reedereien am Transport zahlender Passagiere, des biopolitischen Interesses an der Bekämpfung von Krankheiten, des sozialpolitischen Interesses an der Abwehr von Fürsorgeempfängern und des quasikolonialen Interesses am Ausschluss ethnisch unerwünschter Zuwanderer war. Der konkrete Umgang mit ausländischen Arbeitskräften wiederum, und damit die || 159 Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Berkeley/Los Angeles 1987, S. 13. 160 »In the processes of control and administration of immigration and emigration, the states concerned are applying a specific picture of the state and its territorial sovereign space.« Jenny Edkins/Véronique Pin-Fat, The Subject of the Political, in: Jenny Edkins/Nalini Persram/Véronique Pin-Fat (Hg.), Sovereignty and Subjectivity, London 1999, S. 1–18, hier S. 14. 161 Zum Konzept des Eigen-Sinns vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn.

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Spannung zwischen Regulierungsbemühungen einerseits und deren wiederholter Missachtung andererseits, war ebenso der aggressiven antipolnischen (und antikatholischen) Nationalitätenpolitik der konservativen preußischen Eliten geschuldet wie den ökonomischen Bedürfnissen der Arbeitgeber und der Agenda der Arbeiter selbst. Aus derart widerstreitenden Interessenlagen resultierten stets aufs Neue Hierarchien des Ein- und Ausschlusses, die ebensoviel über die Haltung der deutschen Gesellschaft zu ›Fremden‹ aussagen wie über ihre sozio-ökonomischen, nationalpolitischen und hygienischen Präferenzen und Ängste. Die Ordnung der Migrationsverhältnisse im Deutschen Kaiserreich war keinesfalls ein einheitlicher, in allen deutschen Ländern gleich verlaufender Prozess. Vielmehr war die administrative Infrastruktur für die Kontrolle ausländischer Migranten ungleich ausgebildet: stark an den östlichen Grenzen, schwach an den westlichen; stark in Preußen, schwach in den süddeutschen Staaten, stark bei der Überwachung der ausländisch-polnischen, schwach bei der Kontrolle der süd- oder westeuropäischen Saisonarbeitskräfte. Das heißt nicht, dass es keine Gemeinsamkeiten gab. Die Ablehnung sozial unerwünschter, als sozial deviant betrachteter Ausländerinnen und Ausländer etwa erstreckte sich auf das gesamte Reichsgebiet. Ebenso verbreitet war eine abwehrende Haltung gegenüber osteuropäischen, und insbesondere osteuropäisch-jüdischen Migranten, die eng an ein ethnisch-homogenisierendes Nationsverständnis, an antipolnische und antisemitische Ressentiments gebunden war. Auch ähnelte sich die transnationale Rahmung der innerdeutschen Politiken, die sich nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit anderen nationalen Migrationsregimen – im Falle der Transitmigration etwa der russischen Ausreisepolitik und den Zuzugsbestimmungen der USA – herausbildeten. Zudem ist es, jenseits der föderativen Bruchstellen, für die Entwicklung im Deutschen Reich kennzeichnend, dass sich Bürokraten deutschlandweit darum bemühten, standardisierte Prozesse zu entwickeln, um die ausländische Bevölkerung separat zu erfassen und sie für Polizei und Verwaltung ›lesbar‹ zu machen.162 Dazu gehörte deren nach unterschiedlichen Kriterien differenzierte quantitative Erfassung mit Hilfe der Volkszählungen und der polizeilichen Meldepflicht. Ebenso zählte dazu die Überprüfung individueller Migrantinnen und Migranten mit Hilfe von Legitimationspapieren, Betriebskontrollen und einem Zentralregister. Und es gehörte dazu die Abwehr ›lästiger Ausländer‹ in einem einheitlichen Ausweisungsverfahren. Viele dieser Praktiken zielten während des Kaiserreichs noch auf die Kontrolle spezifischer Gruppen ab, griffen aber später auf andere Migrantinnen und Migranten über. Die Regulierung der Ausländerbeschäftigung in den 1920er Jahren etwa basierte auf jenen Strukturen, die in Preußen und einigen anderen deutschen Staaten bereits vor 1914 installiert worden waren. Ähnliches kann für die massiven Ausweisungswellen der frühen 1920er Jahren gelten, die sich, stark antisemitisch || 162 Scott, Seeing like a State, S. 2.

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konturiert, maßgeblich gegen osteuropäisch-jüdische Migrantinnen und Migranten richteten und an die Abschiebepraktiken der Vorkriegszeit anschlossen. Insofern beeinflusste das vor 1914 schrittweise etablierte Regime der Erfassung und Kontrolle ausländischer Migranten nachhaltig die weitere Ordnung der Migrationsverhältnisse in Deutschland. Und ungeachtet der regionalen Unterschiede wuchs im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die infrastrukturelle Macht des deutschen Staates beträchtlich: Die politischen Autoritäten besaßen immer mehr Möglichkeiten, politische Entscheidungen in administrative Prozesse zu übersetzen – wenngleich sie auch dann nicht verhindern konnten, dass Migrantinnen und Migranten die versuchte Kontrolle ihrer Mobilität erfolgreich umgingen. An der Verwaltung von Migration wird damit deutlich, dass – abgesehen von ihrer globalen Situiertheit – Nationalstaaten de facto keine voneinander abgeschlossenen, unveränderlichen Entitäten darstellten; auch deswegen, weil sie intern zu stark differenziert waren: Politische Entscheidungen, administrative Praktiken und staatliche Infrastrukturen resultierten eben aus dem steten Mit– und durchaus auch Gegeneinander von Akteuren, die auf unterschiedlichen (lokalen, staatlichen, internationalen) Ebenen agierten und dort mitunter widerstreitende Interessen verfolgten. Zugleich macht erst die Analyse administrativer Praktiken und Infrastrukturen die Kontinuitäten in der deutschen Migrationspolitik verständlich. Schließlich waren es nicht allein gleich bleibende politische Ziele, sondern maßgeblich auch die Infrastrukturen nationalstaatlicher Macht, wie Grenzstationen und Ausweispapiere, Register und statistische Apparate – sowie die spezifischen Grenzziehungen zwischen eigenen und anderen, gesunden und kranken, gefährlichen und ungefährlichen, produktiven und lästigen Migranten, die sie etablierten – die dem deutschen Migrationsregime über politische Zäsuren hinweg Stabilität verliehen.

Jens Thiel

Kriegswirtschaftliche Interventionen: die Etablierung von Zwangsarbeitsregimen im Ersten Weltkrieg 1 Rahmenbedingungen und Dispositionen Für die Wechselbeziehungen zwischen staatlichen Dispositionen und Rahmenbedingungen sowie den migratorischen Prozessen, insbesondere im Bereich von Arbeitsmigration und Arbeitskräftepolitik, stellt der Erste Weltkrieg zweifelsohne eine einschneidende Zäsur dar. Kriegführung und kriegswirtschaftliche Interessen veränderten auch auf diesem Gebiet das komplizierte, im Kaiserreich immer wieder neu austarierte Verhältnis zwischen staatlicher Steuerung, Förderung, Intervention und Restriktion. Vor Kriegsbeginn 1914 war die in der Landwirtschaft dominierende polnische Arbeitsmigration ins Deutsche Reich – grosso modo – eine staatlich gelenkte und geförderte gewesen, die auf dem Prinzip der privatwirtschaftlich organisierten, aber mit den Behörden abgestimmten und kontrollierten Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften beruhte. Das sollte sich ab August 1914 vor allem in einem wesentlichen Punkt ändern. Für die Dauer des Krieges dominierte eine von kriegswirtschaftlichen Erfordernissen bestimmte, nun weitgehend vom Staat selbst organisierte, reglementierte und kontrollierte Form von Zwangsmigration. Ihr vorrangiges Ziel bildete die Arbeitskräftebeschaffung für die Kriegswirtschaft. Andere Formen der Arbeitskräftebeschaffung und -beschäftigung blieben jedoch weiter bestehen. Autoritäre staatliche Interventionen in der Migrations- und Arbeitskräftepolitik hatte es bereits vor 1914 gegeben. Von Zwangsarbeit im engeren Sinne oder gar von einem Zwangsarbeitssystem kann dabei jedoch nicht die Rede sein. Trotz der zweifelsohne vorhandenen restriktiven Elemente – etwa dem Legitimationszwang und dem Rückkehrgebot für die auslandspolnischen Arbeitskräfte – bestanden selbst für diese in ihren Freizügigkeitsrechten am meisten eingeschränkte Arbeitskräftegruppe immer noch verschiedene Möglichkeiten, Arbeitsplatz und Arbeitgeber zu wechseln oder ganz in ihre Heimat zurückzukehren.1 Eine tatsächliche Zäsur in der staatlichen Interventionspolitik auf den Gebieten der Migrations- und Arbeitskräftepolitik lässt sich erst für 1914 konstatieren. Die regelhafte und umfassende Anwendung von Zwangsmitteln bei der Beschäftigung und Rekrutierung von Ar|| 1 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, Bonn 2003, S. 86f.

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beitskräften im Ausnahmezustand des Krieges sollte charakteristisch für die staatliche Arbeitskräfte- und Migrationspolitik werden. Je weiter sich der Zwang als konstitutives Element einer solchen Politik durchsetzte, desto mehr differenzierte sich das nun entstehende Zwangsarbeitssystem aus, sodass für die folgenden Jahre streng genommen eigentlich von mehreren Zwangsarbeitssystemen gesprochen werden kann, dem nach und nach verschiedene Arbeitskräftegruppen unterworfen wurden. Denn mit zunehmender Kriegsdauer und der tendenziellen Verschlechterung der militärischen und kriegswirtschaftlichen Lage gingen die Verantwortlichen in der Militärführung und in der zivilen Reichsverwaltung zu einer ›totalen Mobilisierung‹ aller im deutschen Machtbereich befindlichen Arbeitskräfte über. Das zumindest waren Wunsch und Tendenz; die Realitäten der Kriegsgesellschaften im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten konterkarierten solche Bestrebungen jedoch immer wieder. Trotz dieser generellen Einschränkung erfasste die Arbeitskräftemobilisierung nach und nach immer neue Gruppen. Zu nennen wären hier im Deutschen Reich Frauen und Jugendliche, die von den Regelungen des ›Hilfsdienstgesetzes‹ vom Dezember 1916 erfasst wurden2, vor allem aber die tatsächlich oder vermeintlich ›zur Verfügung‹ stehenden Arbeitskräfte aus und in den besetzten Gebieten. Man ginge jedoch fehl, wenn man die deutsche Arbeitskräftepolitik gegenüber den ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Reich während des Ersten Weltkriegs als ein ausschließliches Zwangsarbeitsregime beschreiben würde. Zwangsarbeit war zwar die wichtigste, sicher auch spektakulärste kriegswirtschaftlich bedingte Option deutscher Arbeitskräftepolitik auf diesem Gebiet. Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften aus dem neutralen Ausland, aber auch aus den besetzten Gebieten blieb weiterhin eine Paralleloption. Aufgrund des geringeren Aufwandes, der weitgehenden Normalität und der Legalität des Prozederes wurde ihr sogar lange Vorrang vor anderen Formen der Arbeitskräfterekrutierung eingeräumt, zumindest im Hinblick auf die Gewinnung ziviler Arbeitskräfte.3 || 2 Zum Hilfsdienstgesetz und den Diskussionen um die Einführung des Arbeitszwangs und der ›totalen Mobilisierung‹ von Kriegswirtschaft und Arbeitsverwaltung in Deutschland siehe etwa: Hans-Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914–1920, Hamburg 1981, Bd. 1, S. 296–383; Gunther Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung in Württemberg 1914–1918, Stuttgart 1983, bes. S. 167–217; Robert B. Armeson, Total Warfare and Compulsory Labor. A Study of the Military-Industrial Complex in Germany During World War I, Den Haag 1964; Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin/Bonn 1985, bes. S. 133–206; David Meskill, Optimizing the German Workforce. Labor Administration from Bismarck to the Economic Miracle, New York 2010, S. 67–92. Zur Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung im Ersten Weltkrieg insgesamt siehe zudem grundlegend: Hans-Walther Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg 2003, S. 62–95. 3 Zum Verhältnis von Arbeiteranwerbung und Zwangsrekrutierung im Ersten Weltkrieg in den besetzten Gebieten siehe ausführlich Jens Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹. Anwerbung, Deportati-

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Die Ausländer, die während des Ersten Weltkriegs auf dem Gebiet des Deutschen Reiches arbeiteten, unterlagen hinsichtlich ihrer Behandlung daher zum Teil unterschiedlichen Richtlinien. Dabei spielte die Unterteilung der ausländischen Arbeitskräfte in ein starres Freund-Feind-Schema, das der Krieg nahelegte, zwar eine zentrale Rolle; Beschäftigung und Behandlung der ausländischen Arbeiter lassen sich aber nicht aus dieser maßgeblichen Prämisse allein ableiten. Ein ebenso wichtiger Aspekt für ihre Behandlung war ihre Unterscheidung in angeworbene und zwangsweise rekrutierte beziehungsweise beschäftigte Arbeitskräfte.4 Generell galten für Arbeitskräfte aus den mit Deutschland verbündeten Staaten oder aus neutralen Ländern keine Zwangsauflagen, sieht man von den üblichen Meldebestimmun-

|| on und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; Kai Rawe, Kriegsgefangene, Freiwillige und Deportierte. Ausländerbeschäftigung im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkriegs, in: Klaus Tenfelde/Hans-Christoph Seidel (Hg.), Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Bd. 1: Forschungen, Essen 2005, S. 35–61; Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg? Rekrutierung von Arbeitskräften aus Polen und dem Baltikum für die deutsche Kriegswirtschaft 1914–1918, in: Dieter Bingen/Peter Oliver Loew/Nikolaus Wolf (Hg.), Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen 1900–2007, Wiesbaden 2008, S. 143– 160; ders., Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn 2012. 4 Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs im Deutschen Reich allgemein siehe neben Herbert, Ausländerpolitik, S. 86–117, etwa auch Lothar Elsner, Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches während des1. Weltkrieges, Diss. Rostock 1964; ders., Foreign Workers and Forced Labor in Germany during the First World War, in: Dirk Hoerder (Hg.), Labor Migration in the Atlantic Economies. The European and North American Working Classes During the Period of Industrialization, Westport/London 1985, S. 189–222 (sowie zahlreiche weitere Aufsätze Elsners zu diesem Thema); Friedrich Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des 1. Weltkrieges, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1970, S. 281–311; Knut Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, Königstein/Ts. 1981; Karl Marten Barfuß, ›Gastarbeiter‹ in Nordwestdeutschland 1884–1918, Bremen 1986; Johann Woydt, Ausländische Arbeitskräfte in Deutschland. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Heilbronn 1987, S. 33–51; Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013, S. 34–37; ders., Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg. Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914– 1918, Sögel 1995; ders., Arbeitszwang und Zwangsarbeit – Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeitskräfte im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918, Bramsche 1998, S. 97–107; ders., Zwangsmigration und Zwangsarbeit – Ausländische Arbeitskräfte und bäuerliche Ökonomie im Ersten Weltkrieg, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 27. 1998, S. 135–168; Jens Thiel, Polnische und belgische Zwangsarbeiter in Deutschland im Ersten Weltkrieg, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 864–867.

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gen, Registrierungsformalitäten und Aufenthaltsbefristungen ab. So bestanden zum Beispiel für die niederländischen Arbeitskräfte – während des Krieges arbeiteten ca. 100.000 von ihnen in Industrie, Landwirtschaft oder Gewerbe –, aber auch die aus Dänemark, Norwegen, Schweden oder der Schweiz angeworbenen Arbeiter im Grunde dieselben, lediglich kriegsbedingt eingeschränkten Aufenthaltsbedingungen wie in der Vorkriegszeit.5 Sie konnten sich im Rahmen der allgemeinen Meldebestimmungen frei im Lande bewegen und unterlagen auch sonst keinerlei Einschränkungen. Hinsichtlich ihrer Beschäftigungsverhältnisse, der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Entlohnung galten – zumindest idealiter – die gleichen Regelungen wie für die deutschen Arbeitskräfte. In der Praxis kam es jedoch auch bei den angeworbenen Arbeitskräften zu Ausnahmen von dieser Regel. So findet sich auch bei der Behandlung der polnischen oder ruthenischen Arbeiter, die aus dem Staatsgebiet der verbündeten Habsburgermonarchie stammten, eine Reihe von Zwangselementen. Da diese Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft dringend benötigt wurden und Ersatzarbeitskräfte nicht oder nur schwer zu beschaffen waren, be- und verhinderten die zuständigen deutschen Behörden im Sommer und Frühherbst 1914 zunächst ihre Rückkehr – ohne dass dafür eine rechtliche Grundlage bestanden hätte.6 Die Landarbeitskräfte wurden genötigt, bis auf weiteres in der deutschen Landwirtschaft zu arbeiten. Erst Proteste der Regierung in Wien führten dazu, dass die Arbeitskräfte in ihre Heimat zurückkehren konnten – wo sie als Rekruten dringend benötigt wurden.7 Ein weiterer wichtiger Fall, der auf die Ambiva-

|| 5 Zur Anwerbung und Beschäftigung von Arbeitskräften insbesondere aus den Niederlanden und aus Skandinavien im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg siehe etwa Johan Kusters, De Tocht der duizenden. Maaslandse brikkenbakkers naar Duitsland 1840–1914, Eisden 1998; Michael KöstersKraft, Großbaustelle und Arbeitswanderung. Niederländer beim Bau des Dortmund-Ems-Kanals 1892–1900, Osnabrück 2000; Corrie van Eijl, Niederländische Arbeitswanderer in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 806–809; Claudius H. Riegler, Arbeitskräfterekrutierung für die deutsche Kriegswirtschaft in neutralen Ländern unter besonderer Berücksichtigung Schwedens 1915–1929, in: Arbeiterwanderungen, Ausländerbeschäftigung und Ausländerpolitik in den kapitalistischen Ländern Europas im 20. Jahrhundert, Rostock 1981, Bd. 1, S. 69–81; ders., Emigration und Arbeitswanderung aus Schweden nach Norddeutschland 1868–1914, Neumünster 1985; ders., Schwedische Arbeitswanderer in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 962–964; zusammenfassend zur Anwerbung im neutralen Ausland zudem Lothar Elsner/Joachim Lehmann, Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus 1900 bis 1985, Berlin 1988, S. 79–81 und Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, bes. S. 406–412. 6 Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 81. 7 Die Wiener Regierung, die sich in der Arbeitskräftefrage schon vor 1914 mehrfach in Konflikten mit dem Deutschen Reich befand, ließ sich im Blick auf die landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräfte aus Galizien nicht zuletzt von militärischen Prämissen leiten. Während der russischen Besetzung Galiziens etwa war sie durchaus bereit, die Polen und Ruthenen unter den wehrpflichtigen Saisonarbeitskräften zunächst in Deutschland zurückhalten zu lassen; siehe Lothar Elsner, Zu den Aus-

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lenz des Umgangs mit ausländischen Arbeitskräften verweist, sind die italienischen Arbeitskräfte in Deutschland. Sie hatten zumeist schon vor Kriegsbeginn im Reich – etwa im Baugewerbe, im Bergbau, in der Industrie, in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungsbereich – Beschäftigung gefunden. Ihre Situation veränderte sich auch nach dem Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Entente im Mai 1915 nicht gravierend.8 Die als ›feindliche Ausländer‹ eingestuften Staatsangehörigen der Kriegsgegner hingegen waren mit einem restriktiven und flächendeckenden Kontrollsystem konfrontiert. Nur für bestimmte, zahlenmäßig kleinere Arbeitskräftegruppen, die zumeist schon lange vor Kriegsbeginn in Deutschland gelebt und gearbeitet hatten, konnten Erleichterungen oder Ausnahmen erwirkt werden. So entschieden sich die zuständigen Behörden etwa im Falle der wenigen Hundert belgischen Glasarbeiter und Ingenieure in und um Düsseldorf, die auf Grund ihrer Qualifikation bereits vor dem Krieg in der dortigen Glasindustrie eine Schlüsselstellung inne hatten, für einen pragmatischen Umgang, der die Zwangsauflagen für die Arbeiter und ihre Familien auf ein als notwendig erachtetes Minimum von Meldevorschriften und Kontrollen beschränkte.9 Das Gros der Arbeitskräfte aus dem ›feindlichen‹ Ausland war während des Ersten Weltkriegs jedoch in ein sich schrittweise entwickelndes Zwangsarbeitsregime eingebunden. Die staatlichen Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Arbeitskräfteund Migrationspolitik richteten sich vor allem gegen vier Gruppen ausländischer Arbeitskräfte: erstens die Kriegsgefangenen, zweitens die auslandspolnischen, vorwiegend aus dem zarischen Russland stammenden Arbeitskräfte in Landwirtschaft, Industrie und Bergbau sowie drittens die 1916/17 aus Belgien ins Deutsche Reich deportierten Zwangsarbeiter. Viertens schließlich wurden auch Arbeitskräfte in den von Deutschland besetzten Gebieten in Belgien und Nordfrankreich sowie im Generalgouvernement Warschau und im sogenannten militärischen Verwaltungsbereich ›Ober-Ost‹, das ehemals zum Zarenreich gehörende Gebiete in Kurland, Litauen und Weißrussland umfasste, zur Zwangsarbeit herangezogen. Die zum Teil recht unterschiedlichen Voraussetzungen, Vorschriften und Rahmenbedingungen hinsichtlich der Beschäftigung sowie der Arbeits- und Lebensbedingungen der zwangsrekrutierten Arbeitskräfte lassen es also durchaus gerechtfertigt erscheinen, von Zwangsarbeitsregimen im Plural zu sprechen. || einandersetzungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn über die Saisonarbeiterfrage während des ersten Weltkrieges, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 18. 1969, S. 101–108; sowie ders., Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: Klaus J. Bade (Hg.), Auswanderer – Wanderarbeiter– Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. Ostfildern 1985, S. 537–557, hier S. 543–545. 8 Oltmer, Migration, S. 35. 9 Siehe dazu Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 63–65.

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2 Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen In den Kriegsjahren zwischen 1914 und 1918 standen für die deutsche Kriegswirtschaft und den Eigenbedarf von Heer und Marine insgesamt etwa 2,5 Millionen Kriegsgefangene zur Verfügung. Mit etwa knapp 1,5 Millionen beziehungsweise mehr als einer halben Million bildeten die russischen beziehungsweise französischen Kriegsgefangenen zahlenmäßig dabei die größten Gefangenengruppen. Zumindest die kriegsgefangenen Mannschaftsdienstgrade – Soldaten und Unteroffiziere – konnten nach den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Offiziere waren von diesen Bestimmungen ausgenommen, konnten aber auf freiwilliger Basis einer Arbeit nachgehen. Die Kriegsgefangenen durften allerdings nur zu solchen Arbeiten eingesetzt werden, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Kriegsführung oder der Kriegsbeziehungsweise Rüstungsindustrie im engeren Sinne standen. Da diese Bestimmungen dehnbar waren, kam es im Zusammenhang mit der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen im Deutschen Reich und im Etappen-, teils sogar im Operationsgebiet hinter den Fronten immer wieder zu Konflikten um die Zulässigkeit bestimmter Arbeiten, Beschäftigungsfelder oder Einsatzorte.10 Die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg lässt sich in drei Phasen gliedern; die erste, die Frühphase des unmittelbaren Übergangs von der Friedens- zur Kriegswirtschaft bis Ende 1914, die weitgehend vom Gedanken der Arbeit als ›Beschäftigungstherapie‹ bestimmt war; die zweite Phase, die von Anfang 1915 bis etwa zum Frühjahr 1916 reichte und von der Arbeit der Kriegsgefangenen vor allem in der Landwirtschaft, teilweise aber auch schon in Industrie und Bergbau gekennzeichnet war; und schließlich die dritte Phase, die von den Erfahrungen der verlustreichen Schlacht von Verdun (Februar bis Dezember 1916) und dem kriegswirtschaftlich einschneidenden Wechsel in der Obersten Heeresleitung im Herbst

|| 10 Zur Beschäftigung von Kriegsgefangenen im deutschen Machtbereich siehe etwa, teils mit regionalen Schwerpunkten, Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, bes. S. 279–432; Jürgen Rund, Ernährungswirtschaft und Zwangsarbeit im Raum Hannover 1914–1923, Hannover 1992; Kai Rawe, »…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!« Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005, S. 69–154; Wolfgang Laufer, Kriegsgefangene im preußischen Staatsbergbau, in: Lieselotte Kugler (Hg.), »Als der Krieg über uns gekommen war…« Die Saarregion und der Erste Weltkrieg, Saarbrücken 1993, S. 206–222; Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921, Essen 2006, bes. S. 248–318; sowie zusammenfassend Jochen Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914–1918, in: ders. (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkrieges, Paderborn 2006, S. 67–96; Herbert, Ausländerpolitik, S. 88–91. Zur Beschäftigung alliierter Kriegsgefangener in deutschen Arbeitskommandos und -formationen an der Westfront siehe zudem Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011.

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1916 geprägt war und bis Kriegsende andauerte. In dieser letzten Phase verlagerten sich die Schwerpunkte der Zwangsarbeit der Kriegsgefangenen hin zu Bergbau und Rüstungsindustrie, auch wenn die Landwirtschaft weiterhin eine wichtige, allerdings stetig zurückgehende Rolle spielte.11 So waren nach einer Statistik des Kriegsamtes, der Anfang November 1916 gebildeten kriegswirtschaftlichen Behörde im Deutschen Reich, im Dezember 1916 von den mehr als einer Million Kriegsgefangenen auf deutschem Reichsgebiet die weitaus meisten in der Land- und Forstwirtschaft (knapp 568.000) sowie in Industrie und Bergbau (knapp 376.000) beschäftigt. Etwa 34.000 Kriegsgefangene arbeiten direkt für die Heeresverwaltung; 14.000 waren mit sogenannten ›gemeinnützige Arbeiten‹, also im Wesentlichen Meliorationsarbeiten, und weitere knapp 30.000 in als nicht kriegswichtig eingestuften Unternehmen beschäftigt.12 Am Anfang der zwangsweisen Beschäftigung der Kriegsgefangenen standen Unsicherheit, Unterschätzung, Ratlosigkeit und Desorganisation. Die auf einen kurzen Kriegsverlauf zielenden Kriegsvorbereitungen der deutschen Militärführung hatten das Kriegsgefangenenproblem zwar nicht ganz vernachlässigt, es aber auch nicht als ein zentrales Themenfeld behandelt. Entsprechend unvorbereitet reagierten die Militärbehörden denn auch auf das Eintreffen der Kriegsgefangenen in Deutschland in den ersten Kriegswochen. Es ist bezeichnend, dass sich das zuständige preußische Kriegsministerium zunächst nicht veranlasst sah, neue Bestimmungen zur Unterbringung und Behandlung von Kriegsgefangenen auszuarbeiten. Der erste entsprechende Erlass, der die Unterbringung von Kriegsgefangenen regelte, stammte vom 11. August 1914. Er stellte im Wesentlichen eine im Wortlaut gleiche und nur um einige Ergänzungen erweiterte Wiederholung der entsprechenden Bestimmungen von 1870 dar.13 Auch organisatorisch fehlte es zunächst an vielem. Die Zustände in den provisorisch hergerichteten Kriegsgefangenenlagern waren zumindest anfangs entsprechend chaotisch; die Lebensverhältnisse für die Kriegsgefangenen miserabel. Die große Zahl der in den ersten Kriegswochen in deutsche Hände gefallenen Kriegsgefangenen verschlimmerte das Problem zusätzlich: Die ohnehin nur notdürftig vorbereiteten und hergerichteten Kriegsgefangenenlager kamen an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit und waren schon bald überfüllt. Gab es schon keine ernsthaften Planungen für den Umgang und die Unterbringung der Kriegsgefangenen im Allgemeinen, so existierten erst recht keine Überlegungen für ihre mögliche Beschäftigung. Als volks- oder kriegswirtschaftlicher Größe spielten sie in den ersten Kriegswochen überhaupt keine Rolle. Lediglich beim

|| 11 Diese Phaseneinteilung folgt der von Jochen Oltmer vorgeschlagenen und auch von Uta Hinz übernommenen Periodisierung des Kriegsgefangenenbeschäftigung; siehe Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, v.a. S. 261–313; sowie Hinz, Gefangen, bes. S. 252–254. 12 Gerundete Zahlen nach Hinz, Gefangen, S. 276 (dort auch weitere Übersichten und Zahlen). 13 Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, S. 292.

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Auf- und Ausbau des entstehenden Lagersystems für Kriegsgefangene war ihre Arbeitskraft eingeplant. Die Frage nach ihrem ökonomischen Nutzen stellte sich in den ersten Kriegswochen allenfalls als eine reziproke: Kriegsgefangene in deutscher Hand verminderten zumindest die Kampfkraft des Gegners; den feindlichen Kriegswirtschaften waren sie als potentielle Arbeitskräfte für die Dauer des Krieges entzogen.14 Bis Ende des Jahres 1914 boten sich in den Lagern verschiedene Einsatzmöglichkeiten, nicht nur bei den üblichen, für den Lagerbetrieb notwendigen ›inneren Arbeiten‹, sondern zum Teil auch in eigens eingerichteten Fachwerkstätten. Sie sollten vor allem dazu dienen, die Disziplin unter den Kriegsgefangenen sicherzustellen und ihr potentielles Unruhepotenzial einzuschränken. Erschöpfung statt Produktivität – so ließen sich die Absichten der Militärführung hinsichtlich der Zwangsarbeit der Kriegsgefangenen für die ersten Monate auf einen bündigen Nenner bringen. Die Arbeit in den Arbeitskommandos außerhalb der Lager hingegen, die seit Ende 1914 nach und nach ebenfalls möglich war, beruhte zunächst auf der Basis freiwilliger Meldungen. Sie bot den Gefangenen die Möglichkeiten, den Lagern mit seinen Krankheiten, der dort herrschenden Langeweile, dem militärischem Drill und den Ernährungsschwierigkeiten ein Stück weit zu entkommen.15 Auch das konnte, so die Erwartung der Militärbehörden, zu einer Befriedung der Kriegsgefangenen beitragen. Seit Dezember 1914 bestand außerdem die Möglichkeit, Kriegsgefangene in Unternehmen zu beschäftigen. Im Unterschied zu den unentgeltlich zu erbringenden Arbeitsleistungen im Bereich der sogenannten ›Lagerarbeiten‹ erhielten die Kriegsgefangenen für diese Tätigkeiten eine Entlohnung. Für die anfallenden Kosten für Verpflegung und Unterkunft der Kriegsgefangenen hatten die Unternehmen allerdings selbst aufzukommen. Solche Vorgaben waren allerdings nicht dazu angetan, deren Bereitschaft zu erhöhen, Kriegsgefangene zu beschäftigen. Erst nach dem für die deutsche Seite unerwarteten Rückschlag nach der ersten Marneschlacht Anfang September 1914, der den deutschen Vormarsch in Frankreich zum Stehen brachte, zeichnete sich ein Wandel ab. Die bis dahin als nachrangig behandelte Frage der Ausnutzung der Arbeitskraft von Kriegsgefangenen bekam nun ein neues Gewicht. Die zivile und die militärische Führung sahen sich nunmehr mit der Situation konfrontiert, dass der Krieg weitaus länger als erwartet dauern und sehr viel mehr Ressourcen als ursprünglich gedacht binden und verbrauchen würde. Je mehr sich diese Einsicht durchzusetzen begann, desto stärker rückten kriegswirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund. Die Ressourcenfrage im Allgemeinen und die Arbeiterfrage im Besonderen sollten die Entwicklungen in den folgenden Monaten und Jahren bestimmen. Auch die Beschäftigung von Kriegsgefangenen – als Zusatz- beziehungsweise als Ersatzarbeitskräfte für die eingezogenen deutschen Arbeitskräfte – gewann daher im Verlaufe des Jahres 1915 immer weiter || 14 Dazu ausführlich ebd., S. 291–295. 15 Hinz, Gefangen, S. 254f.

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an Bedeutung. Die Möglichkeiten ihres Einsatzes in der Kriegswirtschaft wurden stetig erweitert. Ab Frühjahr 1915 ließ das preußische Kriegsministerium die Beschäftigung von Kriegsgefangenen im Bergbau und im Hüttenwesen zu; analoge Regelungen erhielten auch für die anderen deutschen Bundesstaaten Gültigkeit. Im Sommer 1915 wurden die Bestimmungen dahingehend erweitert, dass Kriegsgefangene ab sofort auch für die anstehenden Erntearbeiten eingesetzt werden konnten. Hier, und in der Landwirtschaft überhaupt, kamen vor allem russische Kriegsgefangene zum Einsatz. Die Kriegsgefangenen sollten im Laufe des Krieges zur wichtigsten Ersatzarbeitskraftkategorie in der Landwirtschaft werden.16 Im Herbst 1915 dehnten die Behörden die entsprechenden Bestimmungen dann auch auf Unternehmen der kriegswichtigen Schwerindustrie aus. Den anfangs wichtigsten Einsatzbereich von Kriegsgefangenen in der ersten Phase des Kriegsgefangeneneinsatz stellten allerdings Kultivierungs- und Bodenverbesserungsarbeiten dar, die in unmittelbarer Nachfolge zu den ›Notstandsarbeiten‹ standen. Vor allem russische Kriegsgefangene wurden – neben russischpolnischen Saisonarbeitskräften und deutschen Erwerbslosen – zu Meliorationsund anderen Kultivierungsarbeiten vor allem in Nordwestdeutschland und in Ostpreußen, etwa in den weiten Moor- und Heidelandschaften des Emslandes, eingesetzt. Ihren Höhepunkt erlebten diese Arbeiten mit etwa 100.000 Kriegsgefangenen Anfang 1915. Mit der Umorientierung in der Frage der Kriegsgefangenenbeschäftigung wurden jedoch immer mehr Kriegsgefangene aus den Kultivierungslagern abgezogen. Kriegsgefangene sollten nun vornehmlich in der Landwirtschaft, aber auch in der Kriegsindustrie eingesetzt werden.17 Die zweite Phase der Kriegsgefangenenbeschäftigung, also von etwa Anfang 1915 bis Frühjahr 1916, ist von einer zunehmenden bürokratischen Professionalisierung und einer Umorientierung auf längerfristige Planungen für einen massenhaften Einsatz der Kriegsgefangenen gekennzeichnet. Dabei lässt sich auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten militärischen und zivilen Behörden und Ministerien beobachten. Uta Hinz zufolge erhielten die »ökonomische[n] Kriegsnotwendigkeiten« nun »grundsätzlichen Vorrang« gegenüber den völkerrechtlichen Verpflichtungen.18 Kriegswirtschaftliche Erfordernisse, die bislang nicht im Vordergrund gestanden hatten, dominierten nun immer mehr die Kriegsgefangenenfrage. Diese Entwicklung sollte schließlich in ihrer fast vollständigen Unterordnung unter die Erfordernisse der Kriegswirtschaft und der Totalisierung der Kriegsführung in der dritten Phase ab Herbst 1916 münden. Insbesondere in den für die Beschäftigung der Kriegsgefangenen zuständigen Behörden, allen voran dem preußischen Kriegsministerium sowie den Stellvertretenden Generalkommandos,

|| 16 Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, S. 289. 17 Ebd., bes. S. 294–313. 18 Hinz, Gefangen, S. 258.

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entwickelte sich eine gewisse behördliche Routine, die sich in einer zunehmenden Zahl grundlegender und detaillierter Erlasse und Richtlinien auf diesem Gebiet niederschlugen. Sie lösten nach und nach die alten Bestimmungen ab, die im Wesentlichen noch von der Vorkriegszeit geprägt waren oder sogar aus ihr stammten. Die mit dem Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen (und zugleich auch ausländischen Zivil- und Zwangsarbeitskräften) betrauten zivilen und militärischen Behörden passten ihr Verwaltungshandeln immer effektiver an die strukturellen Veränderungen des modernen Krieges und den veränderten Bedingungen der Kriegswirtschaft an. So wurden zum Beispiel ab Januar 1915 schrittweise die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass private Arbeitgeber leichter als zuvor Kriegsgefangene als Ersatzarbeitskräfte anfordern konnten. Die Anwendung von direktem Zwang sollte demnach eher vermieden werden, wirke er sich doch kontraproduktiv auf Arbeitsaufnahme und Arbeitslust der Kriegsgefangenen aus. In der Praxis der Kriegsgefangenenbeschäftigung sollte sich jedoch zeigen, dass solche Ansichten oft genug nur theoretischer Natur waren. Übergriffe und Gewalt gegenüber den arbeitenden Kriegsgefangenen gehörten von Anfang an zum Alltag der Zwangsarbeit. Nichts desto trotz versuchte das preußische Kriegsministerium, die ›Arbeitsfreude‹ der Kriegsgefangenen durch ein System von Anreizen und Vergünstigungen zu heben. Von zentraler Bedeutung war dabei die Frage des Verdienstes. Erste Regelungen vom Anfang des Jahres 1915 modifizierten die Verrechnungsmodalitäten für den Arbeitslohn, der den Kriegsgefangenen zustand, zwischen den Militärverwaltungen und den Arbeitgebern. Solche Regelungen divergierten in Bezug auf die Einsatzbereiche der Kriegsgefangenen. In der Landwirtschaft trugen die Arbeitgeber die Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Sie führten zudem einen festgelegten Betrag für die von den Gefangenen erbrachten Arbeitsleistungen an die Militärverwaltungen ab. In Gewerbe und Industrie wurden die Unterbringungs- und Verpflegungskosten hingegen von den Militärverwaltungen selbst getragen. Dafür führten die Arbeitgeber die Lohnkosten in Höhe der üblichen Arbeitslöhne für deutsche Arbeiter an die Militärverwaltungen ab. Die Kriegsgefangenen erhielten diesen Lohn jedoch nicht in voller Höhe ausgezahlt; lediglich ein geringer Teil davon gelangte am Ende in ihre Hände, den Rest behielten die Militärverwaltungen ein. Auch in Bezug auf den Arbeitsverdienst gab es eine branchenabhängige Spannbreite: Während in der Landwirtschaft Beschäftigte etwa 30 Pfennig pro Arbeitstag verdienten, stand den in Gewerbe, Industrie und Bergbau arbeitenden Kriegsgefangenen 25 Prozent des Gesamtlohnes zu. Die Kriegsgefangenen erhielten ihren Arbeitslohn zudem nicht oder nur teilweise bar ausgezahlt. Da die Vergütung über die Militärverwaltungen und damit über die Verwaltungen der Kriegsgefangenenlager erfolgte, wurde sie zum Teil in speziell nur für die Lager gedrucktem und auch nur

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dort gültigem Lagergeld ausgezahlt; der Rest wurde den Gefangenen gutgeschrieben und sollte bei Kriegsende abgerechnet werden.19 Die dritte Phase der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen seit Frühjahr 1915 war von der gezielten und wachsenden Beschäftigung von Kriegsgefangenen in der Kriegsindustrie, im Bergbau und in kriegsrelevanten gewerblichen Bereichen bis hin zu kommunalen Versorgungseinrichtungen bestimmt, auch wenn die Landwirtschaft weiterhin Hauptbeschäftigungsbereich blieb. Besonderes Augenmerk legten die Behörden auf den zielgerichteten Einsatz von Facharbeitern unter den Kriegsgefangenen. Mit der Einrichtung von speziellen Weiterbildungs- und Qualifikationsschulen in den Lagern erhielten als geeignet eingeschätzte Gefangene zudem die Möglichkeit, eine ihrer alten oder neu erworbenen Ausbildung entsprechende qualifizierte Arbeit in Industrie und Gewerbe zu übernehmen. Zunehmende Bedeutung erlangte der Zwangsarbeitseinsatz der Kriegsgefangenen im Bergbau und in der Rüstungsindustrie. Gerade in den Unternehmen der Rüstungsindustrie wurden die Grenzen des völkerrechtlich Zulässigen schnell erreicht und bald auch überschritten. Uta Hinz hat in diesem Zusammenhang mit Recht von einer »Erosion völkerrechtlicher Schranken« im Laufe des Kriegsjahres 1915 gesprochen20: Schien etwa eine Beschäftigung im Bergbau und in der Stahlindustrie noch relativ unumstritten, so verstieß sie dort, wo sie in einem direkten Zusammenhang mit der Produktion von Waffen, Munition oder militärischen Ausrüstungsgegenständen stand, eindeutig gegen die entsprechenden Bestimmungen der auch für das Deutsche Reich nach wie vor verbindlichen Haager Landkriegsordnung. Den behördlichen Anstrengungen zur Optimierung der Kriegsgefangenenbeschäftigung in dieser Phase entsprach die wachsende Nachfrage von Unternehmen nach Kriegsgefangenen. Da die Nachfrage das Angebot schnell überstieg, begannen bald Verteilungskämpfe um die nun wichtigste Arbeitskräftereserve.21 Spätestens ab Winter 1915/16 standen die Militärbehörden, insbesondere das preußische Kriegsministerium, deshalb vor einem strukturellen Verteilungsproblem. Zwar konnten in den Wintermonaten die für landwirtschaftliche Arbeiten vorgesehenen Kriegsgefangenen in Unternehmen der Rüstungsindustrie und des Bergbaus umgeleitet werden, aber spätestens im Frühjahr wurden sie wieder in der Landwirtschaft benötigt. Seit Anfang 1916 versuchte das preußische Kriegsministerium deshalb verstärkt, alle in den Kriegsgefangenenlagern noch verfügbaren Arbeitskräftereserven zu mobilisieren. Das geschah auf verschiedene Weise: teils durch die gänzliche oder teilweise Einstellung von nun als entbehrlich angesehenen Arbeiten, etwa den Meliorationsund anderen Bodenkultivierungsarbeiten, teils durch die Lockerung der Sicher-

|| 19 Dazu ausführlich ebd., S. 256–265. 20 Ebd., S. 262. 21 Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte, S. 86–93.

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heitsbestimmungen zur Abgabe von Kriegsgefangenen, teils durch das Anlegen weniger strenger Maßstäbe bei den medizinischen Untersuchungen zur Arbeitsfähigkeit, teils aber auch durch die großzügigere Einführung weiterer Stimuli für eine freiwilligen Arbeitsaufnahme. Dazu gehörten in der Landwirtschaft die Möglichkeit von Einzelunterbringungen oder in der Industrie die Einbeziehung der Kriegsgefangenen in das Akkordlohnsystem. Aber auch die schrittweise Reduzierung und Abstufung der Nahrungsrationen nach Art der Beschäftigung und erbrachter Arbeitsleistung sowie eine strengere Handhabung bestehender Richtlinien zur Gefangenenbehandlung in den Lagern sollten noch arbeitsunwillige Kriegsgefangene motivieren. Das Jahr 1916 markiert, um nochmals Uta Hinz zu zitieren, »eine zentrale Umwertung des Status« der Kriegsgefangenen: »Ihre Arbeitsleistung mutierte zum Dreh- und Angelpunkt des gesamten Gefangenenwesens, sie selbst wurden reduziert auf eine menschliche Kriegsressource«.22 Ab März 1916 unterlagen alle Kriegsgefangenen einem strengen Musterungsverfahren, das sie entsprechend ihrer Arbeitsfähigkeit in fünf Kategorien einteilte. Auch das Sanktionierungswesen wurde auf Druck des Kriegsministeriums sowohl in den Gefangenenlagern als auch auf den Arbeitskommandos verschärft. Etwaige ›Arbeitsunwilligkeit‹ oder ›Arbeitsverweigerungen‹, aber auch mangelnde Leistungen, wurden fortan schärfer geahndet. Aus völkerrechtlichen Gründen waren diesen Maßnahmen jedoch offiziell Grenzen gesetzt; körperliche Strafen oder Misshandlungen waren untersagt, sind jedoch insbesondere auf den Arbeitskommandos immer wieder vorgekommen. Als wirksamste Druckmittel waren materielle Strafen wie die Kürzung der Nahrungsmittelrationen vorgesehen.23 Die Tendenz zur »Ökonomisierung der Kriegsgefangenschaft«24 und zur Totalisierung der Kriegs- und Kriegswirtschaftsführung traten vor allem nach Übernahme der Obersten Heeresleitung durch Hindenburg und Ludendorff im Spätsommer 1916 deutlich zu Tage. Beredten Ausdruck fanden sie in den völlig übersteigerten kriegswirtschaftlichen Forderungen, die im sogenannten ›Hindenburg-Programm‹ formuliert wurden und in den damit verbundenen radikalen Versuchen mündeten, die noch verfügbar scheinenden Arbeitskräfteressourcen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten möglichst vollständig zu mobilisieren. Für letzteres standen zum einen das in seinen radikalen Grundintentionen im Wesentlichen gescheiterte ›Hilfsdienstgesetz‹, das aber selbst in seiner entschärften Form immerhin noch Frauen und Jugendliche einer strengen Dienstpflicht unterzog, und zum anderen der Übergang zu Zwangsarbeit und Deportationen in den besetzten Gebieten, auf die noch zurückzukommen sein wird.

|| 22 Hinz, Gefangen, S. 265–267 (Zitate S. 267). 23 Ebd., S. 267–269. 24 Ebd., S. 269.

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Für die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen stellte die Übernahme der Heeresleitung durch Hindenburg und Ludendorff allerdings keine so einschneidende Zäsur dar – im Übrigen auch nicht für die auslandspolnischen Arbeitskräfte in Landwirtschaft, Bergbau und Industrie, die im nächsten Abschnitt behandelt werden. Uta Hinz spricht in diesem Zusammenhang lediglich von »eine[m] weiteren Schub«25 und von weitgehenden Kontinuitäten in der Kriegsgefangenenbeschäftigung, wie sie spätestens seit Anfang 1916 zu verzeichnen waren. Die Schwerpunkte der Beschäftigung der Kriegsgefangenen verlagerten sich allerdings nun noch mehr und noch schneller hin zu Industrie und Bergbau. In der Landwirtschaft, die sich mit dem teilweisen Abzug ihrer kriegsgefangenen Arbeitskräfte konfrontiert sah, gelang es den Militärbehörden, »eine Art Saisonalisierung« der landwirtschaftlichen Produktion einzuführen, um das immer wieder postulierte Ziel der »Ernährung von Heer und Volk« sicherzustellen.26 Zur effizienteren Gestaltung und Zentralisierung der Kriegswirtschaft wurde im November 1916 eigens ein Kriegsamt errichtet, das allerdings dem preußischen Kriegsministerium unterstellt blieb. Auch das bayerische Kriegsministerium installierte nach preußischem Vorbild ein eigenständiges Kriegsamt mit entsprechenden Amts- und Nebenamtsstellen. Insbesondere im Bereich der Arbeitskräftepolitik und des Kriegsgefangenenwesens standen die Kriegsämter personell und strukturell in direkter Kontinuität zu den entsprechenden alten Abteilungen des Kriegsministeriums. Durch die neuen Strukturen mehrten sich allerdings auch Reibungsverluste und Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Behörden, insbesondere mit den Stellvertretenden Generalkommandos und in den Landkreisen. Hinzu kamen, stärker als zuvor, direkte Ein- und Zugriffsmöglichkeiten und -versuche der Obersten Heeresleitung. Dazu zählte vor allem der vereinbarte Vorbehalt, für die eigenen Bedürfnisse der Heeresleitung – etwa den Ausbau der militärischen Infrastruktur an den neu geordneten Fronten im Westen – direkt auf die bislang allein zur Verfügung und unter Verwaltung des Kriegsministeriums stehenden Arbeitskräfteressourcen, namentlich die Kriegsgefangenen, zugreifen zu können.27 Das alles führte nicht nur zu einer gewissen Forcierung in der Frage der Kriegsgefangenenbeschäftigung28, sondern wiederholt auch zu scharfen Konflikten zwischen Oberster Heeresleitung auf der einen und Kriegsministerien, Kriegsämtern und anderen Heimatbehörden sowie weiteren Einrichtungen und Unternehmen der Kriegswirtschaft auf der anderen Seite. Ein gehöriges Konfliktpotenzial war auch mit der im Hungerwinter 1916/17 vom preußischen Kriegsamt geplanten Umverteilung von Kriegsgefangenen aus der Landwirtschaft in Industrie und Bergbau in einer Größenordnung von zwanzig bis dreißig Prozent verbunden. Landwirtschaftli-

|| 25 Ebd., S. 270. 26 Oltmer, Kriegsgefangene, S. 90f. (Zitate S. 90). 27 Hinz, Gefangen, S. 270f. 28 Oltmer, Kriegsgefangene, S. 91.

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che Arbeitgeber wie Stellvertretende Generalkommandos, die die Versorgung der Bevölkerung in ihrem zuständigen Korpsbereich gefährdet sahen, protestierten wiederholt und torpedierten die Bestimmungen so gut es ging – mit der Folge, dass de facto deutlich weniger Kriegsgefangene als beabsichtigt aus den landwirtschaftlichen Unternehmen abgezogen werden konnten.29 Was sich in dieser Phase jedoch erhöhte, war der Druck, der auf die Kriegsgefangenen ausgeübt wurde. So wurden die Bestimmungen hinsichtlich ihrer Arbeitstauglichkeitseinstufung im Februar 1917 noch einmal verschärft. Das preußische Kriegsministerium stufte pauschal alle außerhalb der Lager beschäftigten Kriegsgefangenen als ›voll arbeitsfähig‹ ein; auch die noch in den Lagern befindlichen ›vermindert Arbeitsfähigen‹ sollten möglichst umfassend zu Arbeiten außerhalb der Kriegsgefangenenlager eingesetzt werden.30 Arbeitsverweigerungen oder »nachlassende Arbeitswilligkeit« wurden auf der Grundlage entsprechender Bestimmungen seit März 1917 noch strenger als zuvor geahndet.31 In einer Mischung aus ›Zuckerbrot und Peitsche‹ wurden neben der Androhung und Anwendung direkter Zwangsmittel aber auch erneut weitere Vergünstigungen in Aussicht gestellt oder gewährt, um die Arbeitsmotivation der Kriegsgefangenen zu erhöhen. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen waren, strukturell bedingt, in der Landwirtschaft im Allgemeinen am besten. Das betraf sowohl ihre Ernährungssituation und Unterkunftsmöglichkeiten als auch das Arbeitsregime. In kleineren landwirtschaftlichen Betrieben wurden Kriegsgefangene zum Teil sogar in den ›normalen‹ Arbeits- und Lebensalltag der Bauern eingebunden – den fast privaten Verkehr mit den übrigen dort Beschäftigten eingeschlossen. Eine Integration der Kriegsgefangenen war jedoch seitens der Behörden keineswegs erwünscht; entsprechende Gegenmaßnahmen wurden immer wieder angedroht und durchgeführt. Eine ›Fraternisierung‹ mit dem Feind war auch am Arbeitsplatz nicht vorgesehen und hatte für alle Beteiligten im Zweifelsfalle Bestrafungen zur Folge. Eine allgemeine Situationsbeschreibung ist allerdings schwierig, denn die mangelnde behördliche Kontrolle auf dem Lande konnte dazu führen, dass die für die Kriegsgefangenen geltenden Richtlinien umgangen oder nicht eingehalten wurden. Willkürliche Strafen bis hin zur körperlichen Züchtigung bei Konflikten waren so möglich, ohne dass die Arbeitgeber mit einer Ahndung durch die Aufsichtsbehörden rechnen mussten. In den Quellen überliefert sind zudem zahlreiche Übergriffe von Angehörigen der Wachmannschaften gegenüber Kriegsgefangenen auf landwirtschaftlichen Arbeitskommandos. Zulässig war in der Landwirtschaft zudem die Verlängerung des Arbeitstages, der in der Regel auf zehn Arbeitsstunden begrenzt war. Das konnte sogar ganz offiziell auf Antrag des Arbeitgebers erfolgen und kam

|| 29 Hinz, Gefangen, S. 271f. 30 Ebd., S. 272. 31 Ebd., S. 274.

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regelmäßig in der Erntezeit vor. Möglich war auch die Ausdehnung der Arbeitszeiten auf Sonn- und Feiertage. Schließlich muss festgehalten werden, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen in der vorwiegend kleinbäuerlich strukturierten Landwirtschaft Süd- und Südwestdeutschlands – etwa in Württemberg – teils erheblich von denen großen Agrarwirtschaften östlich der Elbe. unterschieden. In den Gutswirtschaften Ostelbiens herrschte für die Kriegsgefangenen ein ähnlich strenges Regime wie in Industrie und Bergbau.32 In Industrie und Bergbau hatten die Kriegsgefangenen – auch hier kann nur ein allgemeines Bild gezeichnet werden – im Allgemeinen unter sehr viel härteren Arbeits- und Lebensbedingungen zu leiden als ihre Kollegen in der Landwirtschaft. Ausnahmen bestätigten aber auch hier die Regel. Die Untersuchungen von Uta Hinz und Kai Rawe haben jedoch gezeigt, dass der Arbeitsalltag in den Arbeitskommandos der Industrie und des Bergbaus idealtypisch »den äußersten Punkt der Radikalisierung innerhalb des militärischen Zwangsarbeitssystems zwischen 1914 und 1918 in Deutschland« darstellte.33 Ulrich Herbert hat in diesem Zusammenhang besonders auf die brutale Behandlung der Kriegsgefangenen durch die Wachmannschaften, aber auch durch zivile Aufsichtspersonen wie Vorarbeiter, Meister und Kollegen hingewiesen. Besonders in Bergbauunternehmen kam es immer wieder zu Übergriffen und Handgreiflichkeiten, die dann wiederum zu Beschwerden und Klagen der betroffenen Gefangenen sowie Inspektionen durch die Behörden und in Einzelfällen sogar durch Besuchskommissionen aus neutralen Staaten führen konnten. Übertroffen wurde das brutale Vorgehen gegen die Kriegsgefangenen nur noch durch die Übergriffe auf die belgischen Deportierten im Winter 1916/17 und die Angehörigen der Zivil-Arbeiter-Bataillone an der Ost- und Westfront, auf die noch zurückzukommen sein wird, sowie auf die Kriegsgefangenen, die im Etappen- und Operationsgebiet an den Fronten eingesetzt wurden. Insbesondere bei der Beschäftigung der Kriegsgefangenen in unmittelbarer Frontnähe war teils rohe Gewalt an der Tagesordnung. Art und Weise der Behandlung, aber auch die unmittelbaren Kriegsinteressen dienende Art der Tätigkeiten, die zumeist in direktem Zusammenhang mit dem Ausbau der militärischen Infrastruktur standen, verstießen häufig und regelmäßig gegen die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung.34 Auch die Arbeitsanforderungen waren in der Schwerindustrie und im Bergbau oft härter als in der Landwirtschaft. Körperliche Schwerstarbeit und die Inkaufnahme von Gefahren für die Gesundheit waren üblich; die Verpflegungssituation hingegen in der Regel deutlich schlechter als in der Landwirtschaft. Lange, über die eigentlich vorgesehenen

|| 32 Siehe dazu insgesamt, aber mit Schwerpunkt auf Württemberg, ebd., S. 279–284; sowie für Niedersachsen bzw. das Emsland Oltmer, Bäuerliche Ökonomie, bes. S. 281–313. 33 Dazu Hinz, Gefangen, S. 283–692 (Zitat S. 283); sowie Rawe, Ausländerbeschäftigung, S. 69–154. 34 Siehe neben Hinz, Gefangen, S. 296–304, auch Jones, Violence, bes. S. 121–251.

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zehn Stunden pro Tag hinausgehende Arbeitszeiten waren auch in Industrie und Bergbau ebenso regelmäßig anzutreffen wie Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit.

3 Zwangsarbeit von ausländischen Zivilarbeitskräften Anders als im Falle der Kriegsgefangenen verfügte das Deutsche Reich hinsichtlich der Beschäftigung von ausländischen Zivilarbeitskräften bereits über eine vergleichsweise lange Tradition. Vor allem in der Landwirtschaft, aber auch in Industrie und Gewerbe hatten Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte vor 1914 eine dauerhafte oder saisonale Beschäftigung gefunden.35 1913 waren etwa 1,2 Millionen ausländische Arbeitskräfte im Deutschen Reich beschäftigt gewesen, etwa 900.000 davon allein in Preußen.36 Ihre Zahl war insbesondere seit den 1890er Jahren erheblich angestiegen. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitete in der Industrie, im Bergbau und im Baugewerbe, über ein Drittel in der Landwirtschaft; die restlichen Arbeitskräfte verteilten sich auf andere Branchen und Sektoren wie Handel und Verkehr oder Dienstleistungen.37 Die größten Gruppen ausländischer Arbeitskräfte stellten aus Russland und aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie stammende Polen und sogenannte Ruthenen, zumeist Ukrainer. Während die russisch-polnischen Arbeitskräfte vorwiegend in der Landwirtschaft arbeiteten, wurden die Ruthenen aus den östlichen Teilen der Habsburgermonarchie sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie beschäftigt. Eine weitere große Gruppe || 35 Aus der inzwischen umfangreichen Literatur zur Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland vor 1914 siehe neben Herbert, Ausländerpolitik, S. 13–84; Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte in Preußen-Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 879– 885; Oltmer, Migration, S. 32–37; und den einschlägigen Arbeiten von Klaus J. Bade (eine Zusammenstellung in: ders., Sozialhistorische Migrationsforschung, hg. v. Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004); auch Johannes Nichtweiß, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des deutschen Reiches (1890–1914). Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 bis 1914, Berlin 1959; Woydt, Ausländische Arbeitskräfte, S. 10–32; Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 29–83; oder Stefan Schubert, Saisonarbeit am Kanal. Rekrutierung, Arbeits- und Lebensverhältnisse ausländischer Arbeitskräfte beim Bau des Mittellandkanals im Osnabrücker Land 1910–1916, Frankfurt a.M. 2005. 36 Zum Problem der statistischen Erfassung und der Zuverlässigkeit entsprechender Zahlenangaben siehe Klaus Bade, Arbeiterstatistik zur ›Ausländerkontrolle‹. Die ›Nachweisungen‹ der preußischen Landräte über den ›Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter im preußischen Staate‹ 1906–1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 163–284; mit einer Reihe von quantitativen Angaben sowie einschlägigen Statistiken und Tabellen zudem Herbert, Ausländerpolitik, S. 13–84. 37 Herbert, Ausländerpolitik, S. 25 und S. 91.

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ausländischer Arbeitskräfte bildeten die Italiener, die im Ziegeleigewerbe, im Tiefbau, im Bergbau oder im Dienstleistungssektor Beschäftigung fanden.38 Insbesondere seit den 1890er Jahren wuchs die Zahl der dauerhaft oder saisonal ins Deutsche Reich kommenden Arbeitsmigranten. Eine strenge staatliche Kontrolle und Aufsicht, flankiert von regulierenden und lenkenden, oft auch nationalpolitisch ausgerichteten staatlichen Instrumentarien richtete sich vor allem gegen jene etwa 250.000 russisch-polnischen Saisonarbeitskräfte, die alljährlich zur Erntezeit vor allem in die Landwirtschaftsbetriebe der östlichen Teile des Deutschen Reiches kamen. In Preußen, aber auch in den übrigen deutschen Bundesstaaten, wurde vor allem in den Jahren unmittelbar vor 1914 ein engmaschiges System amtlicher Kontrolle, Steuerung und Arbeitsnachweise etabliert, das die Arbeitsmigration ausländischer, besonders auslandspolnischer Arbeitskräfte immer stärker reglementierte.39 Die entsprechenden administrativen Maßnahmen waren vor allem darauf gerichtet, die Freizügigkeit der Arbeitskräfte – insbesondere für jene, die aus Russisch-Polen und Österreich-Ungarn stammten – einzuschränken. Polnische Arbeitskräfte galten als ›billig und willig‹. Ihr Einsatz schien unverzichtbar; ihr dauerhafter Aufenthalt aber sollte unbedingt verhindert werden.40 Über die Möglichkeit, sie durch andere ausländische Arbeitskräfte – etwa aus Belgien oder China – zu ersetzen, ist in den zuständigen Behörden und Ministerien, aber auch bei den Unternehmern und Unternehmerverbänden immer wieder nachgedacht worden, ohne dass es zu einer Umsetzung in großem Maßstab gekommen wäre.41

|| 38 Zu Beschäftigung italienischer Arbeiter im späten Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg siehe beispielsweise Hermann Schäfer, Italienische ›Gastarbeiter‹ im deutschen Kaiserreich (1890–1914), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 27. 1982, S. 192–214; Ina Britschgi-Schimmer, Die wirtschaftliche und soziale Lage der italienischen Arbeiter in Deutschland. Ein Beitrag zur ausländischen Arbeiterfrage. Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe von 1916, Essen 1996; René Del Fabbro, Italienische Industriearbeiter im wilhelminischen Deutschland (1890–1914), in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 76. 1989, S. 202–228; ders., Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870–1918, Osnabrück 1996; ders., Italienische Wanderarbeiter im Deutschen Kaiserreich, in: Uwe Meiners/Christoph Reinders-Düselder (Hg.), Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde. Schlaglichter von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Cloppenburg 1999, S. 193–201; Adolf Wennemann, Arbeit im Norden. Italiener im Rheinland und Westfalen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Osnabrück 1997. 39 Dazu besonders Klaus Bade, ›Preußengänger‹ und ›Abwehrpolitik‹. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 91–162. 40 Klaus J. Bade, ›Billig und willig‹. Die ›ausländischen Wanderarbeiter‹ im kaiserlichen Deutschland, in: ders. (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 311–324; siehe insgesamt auch den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band. 41 Siehe dazu Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 124–228; zu den gescheiterten Bemühungen um flämische Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft zudem Jens Thiel, Belgische Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft. Arbeits-

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Zu Kriegsbeginn verließen viele der Arbeitskräfte aus den neutralen und verbündeten Ländern Deutschland umgehend. Die aus Österreich-Ungarn stammenden Wehrpflichtigen kehrten auf Grund entsprechender Vereinbarungen für den Kriegsfall in ihre Heimat zurück, um sich dort den Militärbehörden für die Einberufung zur Verfügung zu stellen. Die anfangs noch unklar gebliebene Situation der landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräfte aus der Habsburgermonarchie führten, wie erwähnt, zu Spannungen und Konflikten zwischen den beiden verbündeten Staaten, zumal sich das Deutsche Reich aus eigennützigen Gründen mit der Rückführung der Arbeitskräfte auffällig zurückhielt.42 Bis zum Herbst 1914 drängten die deutschen Behörden und Arbeitgeber zunächst darauf, dass die ausländischen Industriearbeitskräfte das Land verließen. Vor allem Industrie- und Bergarbeiter italienischer und österreichisch-ungarischer Staatsangehörigkeit wurden auf Grund der in den ersten Kriegsmonaten herrschenden Erwerbslosigkeit in Deutschland entlassen und in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Die Zahl der italienischen Industriearbeitskräfte sank binnen Jahresfrist von etwa 65.000 auf 13.000; die der österreichisch-ungarischen von knapp 190.000 auf 80.000.43 Erst nach der dramatischen Verschlechterung der Kriegslage seit Herbst 1914 setzte ein allmähliches Umdenken ein. Nach und nach, verstärkt ab Anfang 1915, drängten Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände, insbesondere aus den Industrie- und Bergbauzentren des Rheinlandes, Westfalens und Schlesiens, nunmehr auf die Zurückhaltung der sich im Reichsgebiet befindlichen polnischen Arbeitskräfte. Schließlich setzten sie sich sogar für Neuanwerbungen der jetzt immer dringender benötigten Arbeitskräfte in den besetzten Gebieten oder im neutralen Ausland ein.44 Aus den besetzten Gebieten im Westen (aus Belgien und Nordfrankreich) und im Osten, vornehmlich aus den die ehemals russischen Gebiete Polens umfassenden Generalgouvernement Warschau, weniger aus dem Militärverwaltungsgebiet ›Ober-Ost‹ im Baltikum, kamen im Laufe des Krieges mehrere Tausend angeworbene Arbeitskräfte ins Deutsche Reich, allein etwa 240.000 durch die Deutsche Arbeiter-Zentrale angeworbene Polen.45 Unter den Angeworbenen waren auch knapp 30.000 jüdische Arbeitskräfte, die vor allem nach Aufhebung der für sie geltenden Anwerbeeinschränkungen 1917 im Generalgouvernement Warschau ange-

|| marktpolitische Optionen und Interessen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Dittmar Dahlmann/Margrit Schulte Beerbühl (Hg.), Perspektiven in der Fremde? Arbeitsmarkt und Migration von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Essen 2011, S. 199–213, bes. S. 200–209. 42 Elsner, Auseinandersetzungen. 43 Herbert, Ausländerpolitik, S. 91. 44 Riegler, Arbeitskräfterekrutierung; Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹. 45 Herbert, Ausländerpolitik, S. 95; ausführlich dazu: Christian Westerhoff, Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Anwerbung und Beschäftigung von Arbeitskräften aus Rußland in Deutschland 1914–1916, in: Dahlmann/Schulte Beerbühl (Hg.), Perspektiven, S. 241–258; ders., Zwangsarbeit, bes. S. 53–179.

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worben worden waren. Bei ihnen handelte es sich teils um Facharbeitskräfte, teils aber auch um Ungelernte, die vorwiegend in der deutschen Industrie Aufnahme fanden. Die Anwerbung, aber auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der jüdischen Arbeitsmigranten in Deutschland waren, ähnlich wie die der nichtjüdischen russisch-polnischen Arbeitskräfte, von einer Mischung aus Zwang und Freiwilligkeit gekennzeichnet. Verschärfend auf ihre Situation wirkte sich aber noch etwas anderes aus: Sowohl bei den Behörden als auch den Arbeitgebern, zum Teil auch bei Kollegen und in der Bevölkerung, fanden sich hier bereits einige manifeste antisemitische Vorurteile, die in entsprechend motivierten, teils gewalttätigen Handlungen gegen diese Arbeitergruppe gipfelten. Waren bestimmten, politisch rechts stehenden Kreisen wie dem Alldeutschen Verband, schon die in- und ausländischen Polen im Deutschen Reich ein Dorn im Auge, so reagierten sie auf die ›ostjüdischen‹ Arbeitsmigranten noch aggressiver. Offene antisemitische Propaganda und Antisemitismus an den Arbeitsplätzen führten zu einer generellen und zum Teil gezielten Diskriminierung der jüdischen Arbeitskräfte aus Osteuropa in Deutschland.46 Als paradigmatisch für den Übergang von einer autoritären Arbeitskräftepolitik mit Zwangselementen im Kaiserreich zu einem regelrechten Zwangsarbeitssystem im Ersten Weltkrieg lässt sich die Situation der russisch-polnischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschreiben, die sich im August 1914, also mitten in der Erntezeit, im Deutschen Reich aufhielten. Bis dahin unterlagen diese Saisonarbeitskräfte einem strengen Rückkehrzwang. Während der ›Karenzzeit‹ in den Wintermonaten, zwischen Dezember und Februar, mussten sie das Reichsgebiet verlassen. Auch 1914 sollten sie spätestens bis zum 1. Dezember in ihre Heimat zurückkehren. Angesichts der Kriegslage und des immer fühlbareren Arbeitskräftemangels änderten die zuständigen Ministerien – vor allem das preußische Innen- und das Landwirtschaftsministerium – im Oktober 1914 ihre Politik gegenüber den russischpolnischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft, aber auch in der Industrie. Empfehlungen, die im Reich befindlichen polnischen Arbeitskräfte aus Russland möglichst noch im bevorstehenden Winter an ihren Arbeitsplätzen in Landwirtschaft und Industrie zu binden, folgte Anfang November 1914 die Aufhebung des bislang üblichen Rückkehrgebotes. Die eben noch geforderte Rückkehr in ihre Heimat wurde ihnen nun für die Dauer des Krieges sogar ausdrücklich verboten. Flankiert von diesen Bestimmungen lockerten die Behörden schrittweise auch das bis dahin geltende Verbot der Beschäftigung von auslandspolnischen Arbeitskräften in Industrie und Bergbau Westdeutschlands. Vor allem auf Druck der dortigen Unternehmer, die den stetig steigenden Arbeitskräftebedarf mit allen zur Verfügung ste-

|| 46 Vgl. neben Herbert, Ausländerpolitik, S. 99–103, vor allem: Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914–1923, Hildesheim 1995; sowie Lothar Elsner, Zur Haltung der deutschen Regierung gegenüber den sogenannten Ostjuden während des 1. Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren, in: Migrationsforschung, 25. 1991, S. 19–31.

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henden Mitteln zu decken versuchten, wurden die bisherigen Bestimmungen im Laufe des Jahre 1915 schrittweise aufgegeben und das Rückkehrverbot für die Dauer des Krieges auch in der Industrie durchgesetzt. Das verstärkte Bemühen um eine möglichst feste Bindung der auslandspolnischen Arbeitskräfte an ihren Arbeitsplatz machte es diesen nahezu unmöglich, ihren Arbeitsplatz ohne die Zustimmung von Arbeitgebern und Behörden zu wechseln. Parallel zur Umwandlung des Rückkehrzwangs in ein Rückkehrverbot verschärften die zuständigen Behörden – das preußische Kriegsministerium und die Stellvertretenden Generalkommandos mit ihren untergeordneten Dienststellen – das Zwangsarbeitssystem auch hinsichtlich Disziplinierung, Kontrolle und Reglementierung. Ausgenommen oder nur in einem vergleichsweise geringen Ausmaß von diesen verschärften Regelungen betroffen waren lediglich die Arbeitskräfte aus den neutralen Staaten, etwa aus den Niederlanden oder aus den skandinavischen Ländern, die sich bei Kriegsbeginn entweder im Reich aufhielten oder im Laufe des Krieges neu angeworben wurden. Zwar wurde die anfangs erörterte Idee, die russisch-polnischen Saisonarbeitskräfte zu kasernieren oder in Lagern zu internieren, vor allem aus Kapazitätsgründen schon bald wieder fallengelassen; ihre strenge Beaufsichtigung blieb aber für die gesamte Dauer des Krieges für Behörden wie für Arbeitgeber eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Arbeitsniederlegungen, auch solche spontaner Art, ›Unbotmäßigkeiten‹ oder gar Widersetzlichkeiten gegenüber Arbeitgebern und Aufsichtspersonal oder Flucht und Fluchtversuche wurden streng geahndet. Schon bei geringsten Anlässen griffen die Behörden hart durch. Polen, die solcher Delikte beschuldigt wurden, konnten inhaftiert werden. Die Verhaftung sowie die Verhängung von Arbeitszwang als juristische Strafe drohten ihnen auch, wenn sie sich weigerten, einen Arbeitsvertrag zu verlängern oder einen neuen zu unterschreiben. Während des Krieges verschlechterten sich auch die allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen der russisch-polnischen Arbeitskräfte in Landwirtschaft, Bergbau und Industrie, zum Teil sogar erheblich.47 Das hatte nicht nur mit der katastrophalen Versorgungslage im Deutschen Reich insgesamt zu tun.48 Die zunehmende Rechtlosigkeit der russisch-polnischen Arbeitskräfte – Folge des eingeführten Zwangsarbeits- und Repressionssystems – erlaubte es den Behörden und Arbeitgebern, immer weniger Rücksichten bei der Ausbeutung der Arbeitskraft zu nehmen. Dazu gehörte eine Absenkung der Real- und sogar teilweise der Nominallöhne. Die behördliche Bestimmungen ermöglichten es den Arbeitgebern, einen Teil des Loh|| 47 Beispiele für die Arbeits- und Lebensbedingungen während des Ersten Weltkriegs: Rawe, Ausländerbeschäftigung, bes. S. 222–248; und Wolfram Pyta, Polnische und belgische Arbeiter in Preußen während des Ersten Weltkrieges, in: Geschichte in Köln, 14. 1983, S. 62–120. 48 Zur Ernährungslage im Ersten Weltkrieg siehe zusammenfassend Gustavo Corni, Hunger, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 565–567; Arnulf Huegel, Kriegsernährungswirtschaft Deutschlands während des Ersten und Zweiten Weltkrieges im Vergleich, Konstanz 2003, bes. S. 100–205.

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nes nicht mehr in bar auszuzahlen, sondern durch Lebensmittel oder gar durch nach dem Krieg einzulösende, also im Grunde wertlose Gutscheine zu ersetzen.49 Diese Mischung aus restriktiven behördlichen Bestimmungen (Rückkehr-, Ortswechsel- und Arbeitsplatzwechselverbot), dem Ausbau des Kontroll- und Repressionsapparates sowie einer teils systematisch betriebenen oder begünstigten Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Arbeitgeber vor Ort führte während des Ersten Weltkriegs zur Etablierung eines spezifischen Zwangsarbeits- und Repressionssystems gegenüber den auslandspolnischen Arbeitern. Trotz einiger wichtiger Gemeinsamkeiten unterschied es sich jedoch qualitativ in zentralen Punkten von der Beschäftigung ausländischer Arbeiter im Kaiserreich vor 1914. Einige besonders restriktive Bestimmungen wurden zwar in der zweiten Kriegshälfte zum Teil wieder etwas gelockert; am grundsätzlichen Charakter des seit Kriegsbeginn bestehenden Zwangsarbeitssystems änderte sich jedoch nichts. Auch die allgemein schwierigen, oft extrem harten Arbeits- und Lebensbedingungen blieben für die auslandspolnischen Zivilarbeitskräfte im Deutschen Reich sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie alltägliche Normalität, ebenso die fast durchgehend zu beobachtende Diskriminierung, oft auch direkt am Arbeitsplatz. Eine Arbeitskräftegruppe, die für die Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg einen exponierten Platz einnimmt, sind die ins Deutsche Reich deportierten Erwerbslosen und Arbeiter aus dem besetzten Belgien. Ihre Deportation zur Zwangsarbeit nach Deutschland markiert auf besonders eindringliche Weise die Politik der systematischen Zwangsanwendung gegenüber ausländischen Arbeitskräften im Ersten Weltkrieg.

4 Belgische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich Am 26. und 27. Oktober 1916 begannen im Generalgouvernement Belgien, dem Teil des besetzten Landes, das einer Zivilverwaltung unterstand, die ersten Deportationen zur Zwangsarbeit. Aber bereits seit Anfang Oktober war es – auf Grund eines entsprechenden Erlasses der neuen Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff – zu Zwangsaushebungen für sogenannte ›Zivil-Arbeiter-Bataillone‹ in den militärisch verwalteten Besatzungsgebieten Belgiens und Nordfrankreichs (im sogenannten Operations- und Etappengebiet), im Generalgouvernement Warschau und im Militärverwaltungsgebiet Ober-Ost gekommen. Die dort zwangsrekrutierten Arbeitskräfte kamen fast ausschließlich in diesen Gebieten selbst zum Einsatz, wurden also nicht als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich deportiert.50

|| 49 Herbert, Ausländerpolitik, S. 94f. 50 Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 123–132.

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Die Auswahl und die Zwangsabschiebung der Erwerbslosen im Generalgouvernement Belgien oblagen den jeweiligen militärischen Kommandanten vor Ort. Da entsprechende Erfahrungen für solche Strafaktionen weitgehend fehlten und entsprechende Befehle und Durchführungsbestimmungen erst im Laufe der Deportationen konkretisiert wurden, öffneten sich Handlungsspielräume, die nicht selten zu willkürlichem Vorgehen und brutalen Übergriffen führten, die noch über das Beabsichtigte hinausgingen. Die zur Deportation bestimmten belgischen Männer wurden je nach Arbeitsfähigkeit in Kontrollversammlungen selektiert, unter militärischer Bewachung festgehalten und anschließend mit der Eisenbahn, meist in ungeheizten Viehwaggons, über die Grenze ins Reichsgebiet abtransportiert. Die zurückbleibenden Familienangehörigen, die völlig unzureichende Versorgung der Deportierten mit Nahrung und Kleidung, die der Jahreszeit entsprechend schlechten Witterungsbedingungen, all das bot ein Bild des Elends und der Verzweiflung. In der Zeit vom 26. Oktober 1916 bis zum vorläufigen Ende der Deportationen aus dem Generalgouvernement am 10. Februar 1917 wurden insgesamt etwa 60.000 Belgier zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht.51 Nach dem strapaziösen Transport kamen die belgischen Deportierten zunächst in Sammellager, die bereits bestehenden Kriegsgefangenenlagern angegliedert waren. Offiziell hießen die Sammellager, die zur Aufnahme der Belgier bestimmt waren, ›Verteilungsstellen‹ oder ›Unterkunftsstätten für Industriearbeiter‹. Mit einer solchen verharmlosenden Bezeichnung sollte der Eindruck vermieden werden, es würde sich bei diesen Lagern um ›Konzentrationslager‹ handeln – eine Befürchtung, die vor allem das Auswärtige Amt mit Blick auf die erwarteten internationalen Proteste geäußert hatte. Die Lager waren aufgrund der knappen Vorbereitungszeit nur notdürftig für die Aufnahme der Deportierten hergerichtet worden. Entsprechend chaotisch gestalteten sich die Verhältnisse in den Lagern. Hinzu kam, dass die militärischen Verantwortlichen anfangs fest davon ausgegangen waren, dass die Belgier nur einige Tage in den Lagern verbringen würden. Ziel war es, die Belgier von den Lagern aus so schnell wie möglich zu den für sie bestimmten Arbeitsstätten in den kriegswirtschaftlich wichtigen Unternehmen zu bringen, wo ihnen entsprechender Wohnraum zur Verfügung gestellt werden sollte. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Viele der deportierten Belgier blieben während der gesamten Dauer ihres unfreiwilligen Aufenthaltes in Deutschland in den Lagern, wo bald Hunger, Krankheiten und äußerst schlechte sanitäre und hygienische Zustände herrschten. Die Sterblichkeit in den Lagern war entsprechend hoch. Die Zahl der in den deutschen Zwangsarbeiterlagern gestorbenen belgischen Arbeiter betrug nach amtli-

|| 51 Ebd., bes. S. 140–147; Christoph Roolf, Die Deportation von belgischen Arbeitern nach Deutschland 1916/17, in: ders./Simone Rauthe (Hg.), Projekte zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deutschland und Europa in Düsseldorfer Magister- und Examensarbeiten, Neuried b. München 2000, S. 30– 57.

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chen deutschen Schätzungen etwa 1.25052, nach belgischen mehr als 1.300. Möglicherweise ist ihre Zahl aber noch höher zu veranschlagen.53 Die äußerst schlechten Lebensbedingungen in den Gefangenenlagern und in den bald entstehenden Nebenlagern waren jedoch nicht nur das Ergebnis der unzureichenden Vorbereitungen und der allgemein schlechten Versorgungslage im Herbst und Winter 1916/17. Sie hatten durchaus Methode. In den Grundsätzen des preußischen Kriegsministeriums vom November 1916, die die Behandlung der ›belgischen Abschüblinge‹ festlegten, hieß es aufschlussreich: »Der Aufenthalt der Leute in der Verteilungsstelle muss so eingerichtet werden, dass möglichst jeder zum Abschluß eines Arbeitsvertrages bewogen wird. […] Durch straffe Zucht und nachdrückliche Heranziehung zu den inneren notwendigen Arbeiten auf der Verteilungsstelle muss die Vorbedingung dafür geschaffen werden, dass die Belgier jede Gelegenheit zu gut bezahlter Arbeit außerhalb der Verteilungsstelle als eine erwünschte Verbesserung ihrer Lage begrüßen.«54

Die Lagerverhältnisse trugen also keineswegs dazu bei, die Arbeitswilligkeit der Deportierten zu heben. Im Gegenteil: Sie erzeugten vielmehr ein Klima von Hass, Verbitterung und Resistenz. Vergünstigungen und kleinere ›Annehmlichkeiten‹, wie die Benutzung von Bibliotheken, die Veranstaltung von Konzerten oder Spielen, die bei der Behandlung der Kriegsgefangenen üblich waren, gab es für die Deportierten nicht. Sie waren ihnen sogar explizit untersagt. Gewalt gegen die belgischen Deportierten wurde toleriert, mitunter sogar ausdrücklich zur Leistungssteigerung empfohlen. So ermunterte das preußische Kriegsamt die Wachmannschaften der in landwirtschaftlichen Arbeitskommandos eingesetzten belgischen Deportierten, gegebenenfalls »ohne Zaudern und ohne Scheu vor Verantwortung« auch »einmal derb zuzugreifen«.55 Zahlreiche Einzelvorschriften reglementierten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der deportierten belgischen Zwangsarbeiter in- und außerhalb der Lager. Die von den Kriegsministerien – neben dem Feder führenden preußischen zeichne|| 52 Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1926, Reihe 3: Völkerrecht im Weltkrieg, Berlin 1927, S. 375. 53 Fernand Passelecq, Déportation et travail forcé des ouviers et de la population civile de la Belgique occupé 1916–1918, Paris/New Haven 1929, S. 398f. Zur Diskussion über die Sterblichkeitsrate belgischer Deportierter siehe auch Mark Spoerer, The Mortality of Allied Prisoners of War and Belgian Civilian Deportees in Germany Custodies During World War I. A Reappraisal of the Effect of Forced Labour, in: Population Studies, 60. 2006, S. 121–136. 54 Grundsätze über Heranziehung arbeitsscheuer Belgier zu Arbeiten in Deutschland, Erlaß des preußischen Kriegsministeriums, Kriegsamt, Nr. 893/10.16 A.Z.(S.) I. Ang., Geheim, 15.11.1916, abgedruckt in: Völkerrecht im Weltkrieg, Berlin 1927, S. 246. 55 Erlass des preußischen Kriegsministeriums/Kriegsamt, Nr. 354/1.17 A.Z.(S.), 3a, 1.2.1917, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, M 77/1, 866, Bl. 50.

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ten auch das bayerische, das württembergische und das sächsische Kriegsministerium verantwortlich – und von den Stellvertretenden Generalkommandos für ihre Zuständigkeitsbereiche erlassenen Vorschriften nötigten die belgischen Arbeiter zum Beispiel zum Tragen festgenähter Armbinden oder anderer Abzeichen. Die Kennzeichnung der belgischen Arbeiter, die in ähnlicher Weise übrigens auch für polnischen Arbeitskräfte und die Angehörigen der Zivil-Arbeiter-Bataillone im Operations- und Etappengebiet galt, hatte in erster Linie praktische Gründe. Sie diente der leichteren Identifizierbarkeit der Arbeiter und erschwerte ein Verlassen des Arbeitsortes. Gleichzeitig aber stellte die unterschiedliche Kennzeichnung auch eine Stigmatisierung der jeweiligen Gruppen dar, die in der Praxis durchaus eine unterschiedliche Behandlung je nach nationaler Herkunft nach sich ziehen konnte.56 Hinsichtlich der rechtlichen Stellung der belgischen Zwangsarbeiter verrieten insbesondere die Formulierungen zu Status und Zulässigkeit ihrer Beschäftigung große Unsicherheiten seitens der Behörden. Obwohl eine Arbeitsverpflichtung selbst nach Auffassung des preußischen Kriegsministeriums eigentlich nur für Kriegs-, jedoch nicht für Zivilgefangene zulässig war, legten die oben erwähnten ›Grundsätze‹ des Ministeriums fest, dass zwischen Kriegsgefangenen, Zivilgefangenen und anderen ›feindlichen Ausländern‹ keine Unterschiede gemacht werden sollten. Jede dieser Arbeitskräftegruppen konnte, so jedenfalls eine entsprechende Verfügung vom November 1916, auch »auf dem Zwangswege« zu Arbeiten herangezogen werden.57 Angesichts dieser völkerrechtlich außerordentlich bedenklichen Rechtsauffassung versuchte das preußische Kriegsministerium die Arbeiter unter allen Umständen für den Abschluss eines Arbeitsvertrags zu gewinnen – mit mäßigem Erfolg. Diese Unklarheiten blieben bis zur Rückkehr der deportierten Zwangsarbeiter nach Belgien im Frühjahr 1917 bestehen. So wurden die deportierten Belgier von den zivilen oder militärischen Behörden zum Teil weiterhin als ›Zivilgefangene‹ geführt. Für diesen Status wäre aber eine kriegsrechtlich relevante Tat und eine entsprechende juristische Ahndung Voraussetzung gewesen. Beides traf für die deportierten Belgier jedoch nicht zu. Einfacher wurde es, wenn die deportierten belgischen Zwangsarbeiter ein Arbeitsvertragsverhältnis eingingen. Mit Vertragsunterzeichnung wurden sie automatisch zu ›freiwilligen Zivilarbeitern‹ und damit zu ›freien feindlichen Ausländern‹, für die nicht mehr die ›Grundsätze über die Heranziehung arbeitsscheuer Belgier‹ galten, sondern die allgemeinen Melde- und Überwachungsvorschriften für ›feindliche Ausländer‹, denen etwa auch die russischpolnischen Arbeitskräfte unterlagen.58 || 56 Zu den Arbeits- und Lebensbedingungen belgischer Zwangsarbeiter in Deutschland sowie zur Kennzeichnungspflicht siehe Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 148–156. 57 Grundsätze über Heranziehung arbeitsscheuer Belgier zu Arbeiten in Deutschland, Erlass des preußischen Kriegsministeriums, Kriegsamt, Nr. 893/10.16 A.Z.(S.) I. Ang., Geheim, 15.11.1916, abgedruckt in: Völkerrecht im Weltkrieg, S. 246. 58 Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 150f.

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Für die in ein freies Arbeitsverhältnis wechselnden Deportierten legte das preußische Kriegsamt im Dezember 1916 neue ›Richtlinien‹ vor, die Unterkunft, Verpflegung, Entlohnung, Bekleidung und Arbeitsbedingungen in der deutschen Kriegswirtschaft verbindlich regelten. Nach diesen Bestimmungen hatte der Arbeitgeber für Verpflegung, Arbeitsgeräte, Transportkosten, Unterkunft und gegebenenfalls Bekleidung sowie für die Zusatzversorgung mit alkoholfreien Getränken, Bier, Wein, Tabak und Gebrauchsgegenständen zu sorgen. Für ihre Unterkunft und Verpflegung wurde den Belgiern ein entsprechender Betrag vom Lohn abgezogen. Diesen Wechsel vollzogen jedoch mit ca. 13.000 Belgiern weniger als ein Fünftel der Deportierten. Alle anderen blieben in den ›Verteilungsstellen‹ und ihren Nebenlagern, wo sie im Rahmen von Arbeitskommandos zwangsweise innerhalb oder außerhalb des Lagers zu verschiedenen Arbeiten eingesetzt wurden. Dazu gehörten vor allem die von den Militärbehörden als ›Übergangsarbeiten‹ deklarierten schweren körperlichen Arbeiten in der Landwirtschaft, bei den Meliorationen, beim Straßenbau oder sogar im Bergbau. Da diese ›Übergangsarbeiten‹ meist weitab der ursprünglichen Stammlager, beispielsweise in Ostpreußen, stattfanden, entstanden an den jeweiligen Arbeitsorten kleinere Außenlager für die belgischen Deportierten. Hier herrschten Hunger, Krankheit und sehr schlechte sanitäre und hygienische Verhältnisse, meist noch drastischer als in den Stammlagern. Verbitterung und Hass der belgischen Zwangsarbeiter äußerten sich in verschiedenen Formen des passiven Widerstandes. Dazu gehörten in erster Linie Arbeitsverweigerungen und das unerlaubte Entfernen von der Arbeitsstelle; Delikte, die von den zuständigen Amtsgerichten in der Regel mit Gefängnisstrafen in Höhe von einer bis sechs Wochen Haft geahndet wurden. In den ›Verteilungsstellen‹ und auf den Arbeitskommandos kam es immer wieder zu offenen Widersetzlichkeiten und Fluchtversuchen, die für die Deportierten im Einzelfall sogar tödlich enden konnten und für die an der Tat beteiligte Angehörige der Wachmannschaften eine kriegsgerichtliche Untersuchung nach sich zogen. Andere von belgischen Arbeitern begangene ›Straftaten‹ zeugen von der Notlage der Deportierten. Die in den offiziellen Statistiken als Diebstahl, Hehlerei oder Mundraub geführten Vergehen belgischer Deportierter erwiesen sich fast immer als der unmittelbaren Not geschuldete Kartoffel-, Feld- oder Forstdiebstähle.59 Schon nach wenigen Wochen zeigte sich, dass die Hinwendung zur Deportation und Zwangsarbeit als Mittel der Arbeitskräftebeschaffung in den besetzten belgischen Gebieten in mehrfacher Hinsicht in einem Fiasko zu enden drohte. Spätestens im Januar 1917 war allen Verantwortlichen klar geworden, dass die Deportationen ihr eigentliches Ziel, die Bereitstellung einer genügend großen Zahl von belgischen Arbeitskräften für die deutsche Kriegswirtschaft, verfehlt hatten. Recht schnell verloren Unternehmen ihr anfangs gezeigtes Interesse an der Beschäftigung belgischer || 59 Ebd., S. 154f.

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Zwangsarbeiter. Vorbehalte einiger Industrieller hatte es schon im Vorfeld gegeben. Aber auch die zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen einzelner Unternehmen mit den Zwangsarbeitern wurden zumeist als negativ eingeschätzt. Ethisch-moralische Argumente spielten dabei so gut wie keine Rolle.60 Nachdem sich die Zivilverwaltung im Generalgouvernement Belgien, der Reichskanzler, die zuständigen zivilen Reichsämter, der bayerische Ministerpräsident und einige Reichstagsabgeordnete wiederholt für das Ende der Deportationen in Belgien eingesetzt hatten, signalisierten letztendlich auch das preußische Kriegsministerium und die Oberste Heeresleitung Anfang 1917 ihr Entgegenkommen. Ein mühsam ausgehandelter Kompromiss sollte nach außen hin das Scheitern der Deportationspolitik kaschieren. Ein kaiserlicher Erlass verkündete schließlich am 14. März 1917 das vorläufige Ende der Deportationen aus dem Generalgouvernement Belgien. Es sollte jedoch noch bis zum Mai 1917 dauern, ehe ein Erlass des preußischen Kriegsministeriums auch die Zwangsarbeit für diejenigen belgischen Deportierte für beendet erklärte, die sich noch in den deutschen Lagern befanden. Auch diese 20.000–25.000 belgischen Deportierten konnten in ihre Heimat zurückkehren, wo einige von ihnen allerdings erneut in Lagern festgehalten und zur Zwangsarbeit ins Operations- und Etappengebiet deportiert wurden.61

5 Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten In den militärisch verwalteten frontnahen Gebieten Belgiens und Nordfrankreichs gehörte die Anfang Oktober 1916 angeordnete Zwangsarbeit bis fast unmittelbar vor Kriegsende im Herbst 1918 zum Besatzungsalltag. Neben den etwa 60.000 Belgiern, die aus dem Generalgouvernement Belgien zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht worden waren, hatte die deutsche Militärverwaltung ab Oktober 1916 weitere mehr als 60.000 Belgier und Nordfranzosen in das Operations- und Etappengebiet zur Zwangsarbeit deportiert. Sie wurden zu sogenannten Zivil-ArbeiterBataillonen (ZAB) zusammengefasst. Die ZAB waren militärisch organisiert und gliederten sich in vier Kompanien zu je 500 Arbeitern. Die Bewachung jeweils eines Bataillons übernahm eine Landsturm-Kompanie. Die Arbeiter sollten durch eine zehn Zentimeter breite Armbinde auf dem rechten Oberarm – für die Belgier gelb, für die Franzosen rot und für die mit ihnen eingesetzten kriegsgefangenen Russen

|| 60 Ders., Zwangsarbeit als kriegswirtschaftliche Option im Ersten Weltkrieg? Interessenkongruenzen und Interessenkonflikte zwischen Militär, Politik und Wirtschaft im Deutschen Reich, in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien, Paderborn 2013, S. 127–142. 61 Ders., ›Menschenbassin Belgien‹, S. 156–162.

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grün – gekennzeichnet werden.62 Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter in den ZAB waren ähnlich schwierig wie die der Deportierten 1916/17 in Deutschland. Eine genaue Zahl der in den ZAB verstorbenen belgischen Arbeiter ließ sich nach Kriegsende nicht mehr ermitteln. Es ist davon auszugehen, dass mindestens 1.000–1.300, vermutlich aber mehr Belgier und Nordfranzosen als Zwangsarbeiter im Operations- und Etappengebiet den Tod fanden.63 Abgesehen von der im Frühjahr 1918 offiziell verkündeten, allerdings nur zum Teil realisierten Auflösung der ZAB ging auch die zwangsweise Heranziehung der Zivilbevölkerung zu als ›Notstandsarbeiten‹ deklarierten militärischen Infrastrukturarbeiten weiter. In den letzten Monaten des Krieges verschärfte sich die Situation sogar noch einmal: In Folge der systematischen Rückzugs der deutschen Armeen, des Ausbaus der Defensivstellungen und der dadurch notwendigen Bau- und Transportarbeiten wuchs der Arbeitskräftebedarf der deutschen Heeresleitung 1917 und vor allem 1918 wieder stark an. Nicht nur die Arbeiterbevölkerung, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen, bis hinein in die bürgerlichen Mittel- und Oberschichten, wurden nun bis Kriegsende zwangsweise zu Heeresinfrastrukturarbeiten, insbesondere zu Eisenbahnarbeiten, eingesetzt. Zum Teil ähnliche, in manchen Punkten jedoch auch unterschiedliche Entwicklungen gab es in den östlichen Besatzungsgebieten. Während die Zwangsrekrutierungen auf dem Territorium des Generalgouvernements Warschau zwar geplant, aber nicht systematisch betrieben wurden und zahlenmäßig nicht mit denen in Belgien zu vergleichen waren, kam es im Militärverwaltungsgebiet Ober-Ost zu umfangreichen Zwangsaushebungen von Arbeitskräften. Im Generalgouvernement Warschau, vor allem im Großraum Lodz, fanden im Herbst 1916, Zwangsrekrutierung von etwa 5.500 zumeist jüdischen Männern, vereinzelt auch Frauen, statt. Etwa 3.000 von ihnen erklärten sich unter den gegebenen Umständen ›freiwillig‹ dazu bereit, in Deutschland arbeiten zu wollen. Aber nur die Hälfte von ihnen wurde dann tatsächlich als ›geeignet‹ auch in ein Unternehmen im Deutschen Reich vermittelt. Knapp 2.000 Arbeiter aus Lodz wurden schließlich Ende 1916 in ein ZivilArbeiter-Bataillon eingereiht. Unter sehr harten Bedingungen kamen diese Zwangsarbeiter beim Eisenbahnbau in Westlitauen, gelegentlich grenzüberschreitend auch in Ostpreußen, zum Einsatz. In Ober-Ost hingegen wurden Frauen und Männer nach Einführung der Arbeitspflicht sehr viel stärker zur Zwangsarbeit herangezogen als im Generalgouvernement Warschau. Ähnlich wie in Belgien und Nordfrankreich wurde ein Teil der männlichen Bevölkerung nach Einführung der Dienstpflicht im Herbst 1916 für neu aufgestellte Zivil-Arbeiter-Bataillonen zwangsrekrutiert. Hier

|| 62 Ebd., S. 129 bzw. 131. 63 Siehe dazu ebd., S. 129. Die Reichsentschädigungskommission ging 1921 von 1.056 nachweisbaren Todesfällen in den ZAB aus; der belgische Sachverständige Fernand Passelecq hingegen von 1.298; vgl. Passelecq, Déportation, S. 398f.

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waren die Arbeits- und Lebensbedingungen besonders hart. Aber schon vor Herbst 1916 war die lokale Zivilbevölkerung in Ober-Ost von den Militärbehörden in großem Umfang zwangsweise zu ›Notstandsarbeiten‹ oder zum Ausbau der militärischen Infrastruktur herangezogen worden, teils bereits in ›Arbeiterkolonnen‹. Das blieb bis Kriegsende so. Genaue Zahlenangaben über den Umfang des Zwangsarbeitseinsatzes im Generalgouvernement und in Ober-Ost fehlen jedoch, zumal die Grenzen zwischen zwangsweisem und unter den gegebenen Umständen ›freiwilligem‹ Arbeitseinsatz fließend waren Eingesetzt wurden die polnischen und baltischen Zwangsarbeitskräfte jedoch, von der erwähnten Ausnahme der Arbeiter aus dem Großraum Lodz abgesehen, fast ausschließlich im Generalgouvernement Warschau oder in Ober-Ost selbst.64

6 Fazit und Ausblick Resümiert man die Entwicklung der Zwangsarbeit im Deutschland des Ersten Weltkriegs, so fallen zunächst zwei Aspekte auf. Zum einen stellt die Etablierung eines – oder genauer mehrerer regelrechter Zwangsarbeitssysteme einen eigendynamischen und dialektischen Prozess dar, der in dieser Form nur vor dem Hintergrund einer militärischen Auseinandersetzung zu verstehen ist, die Züge eines ›totalen Krieges‹ angenommen hatte. Zum anderen steht das Zwangsarbeitssystem des Ersten Weltkriegs zwar durchaus in gewisser Weise in einer Kontinuitätslinie zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter im Kaiserreich. Zugleich aber stellt sie auch einen markanten Bruch mit der bis dahin praktizierten Arbeitskräftepolitik und Ausländerbeschäftigung dar. Vereinfachende Analogieschlüsse sind daher fehl am Platze. Auch wenn die deutsche Arbeitskräftepolitik im Kaiserreich vor Beginn des Ersten Weltkriegs bereits einzelne Zwangselemente aufwies, die vor allem die aus dem polnischen Teil des Zarenreiches stammenden landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräfte betraf, so kann für die Zeit vor 1914 nicht von einem systematischen Einsatz von Zwangsarbeit die Rede sein. Entsprechende Versuche, besonders der Zwangsarbeitsforschung in der DDR, die zweifelsohne restriktive Politik und die zum Teil sehr harten Arbeitsund Lebensbedingungen der russisch-polnischen Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft als Zwangsarbeit zu beschreiben, und zwar als eine, die in einer direkten Kontinuitätslinie zur der im ›Dritten Reich‹ steht, verwischt nicht nur die qualitativen Differenzen zum Ersten Weltkrieg.65 Ein solcher Ansatz verkennt auch die quan|| 64 Siehe dazu ausführlich Westerhoff, Zwangsarbeit, bes. S. 181–245; für die Zwangsrekrutierungen in Lodz S. 207f. 65 Als Beispiele für eine solche Interpretation siehe etwa Lothar Elsner, Zum Wesen und zur Kontinuität der Fremdarbeiterpolitik des deutschen Imperialismus, in: Wesen und Kontinuität der Fremdarbeiterpolitik des deutschen Imperialismus, Rostock 1974, S. 2–76; ders., Kontinuität und Wandel

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titative Dimension des nationalsozialistischen Zwangsarbeitseinsatz, der sieben bis elf Millionen Frauen, Männer und Jugendliche – Zivilisten, Kriegsgefangene und Häftlinge aus den Konzentrationslagern – aus ganz Europa betraf. Allein die Tatsache, dass das nationalsozialistische Konzept der ›Vernichtung durch Arbeit‹ konstitutiv zum Zwangsarbeitssystem des Zweiten Weltkriegs gehörte, verweist auf die signifikanten Unterschiede zwischen der deutschen Arbeitskräftepolitik im Kaiserreich bis 1914, den Zwangsarbeitssystemen im Ersten und schließlich im Zweiten Weltkrieg.66 Selbstverständlich waren die Zwangsarbeitssysteme des Ersten Weltkriegs nicht voraussetzungs- oder folgenlos. So ist die Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg nicht ohne die vielfältigen Erfahrungen zu verstehen, die die zivilen staatlichen Verwaltungen, die Polizei- und Militärbehörden, die Unternehmen und auch Teile der eingesetzten Arbeitskräfte bereits vor Kriegsbeginn in Deutschland gesammelt hatten. Die ab August 1914 für den (Zwangs-)Arbeitseinsatz von Zivilisten und nun auch Kriegsgefangenen verantwortlichen Behörden und Personen konnten bei der Rekrutierung, Beschäftigung und Kontrolle der Arbeitskräfte auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie im jahrzehntelangen Umgang mit ausländischen Zivilarbeitern in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft gesammelt hatten. Ob und inwieweit die in den deutschen Kolonien praktizierte Zwangsarbeit einen weiteren Erfahrungshintergrund darstellt, lässt sich bislang nicht belegen. Dass die dortige Bevölkerung auf vielfache Weise zwangsweise und systematisch zu Arbeiten für die Kolonialverwaltungen, aber auch private Unternehmen herangezogen wurde, war bekannt und ist vielfach belegt, im Übrigen nicht nur für den deutschen Fall.67 Wie ein entsprechender Erfahrungs- und Wissenstransfer erfolgt sein könnte und ob er sich konkret in

|| imperialistischer deutscher Ausländerpolitik im Meinungsstreit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 38. 1989, S. 17–22. 66 Zur Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg siehe den Beitrag von Mark Spoerer in diesem Band. 67 Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 27–30. Zu den Arbeitsverhältnissen, Arbeiteranwerbungen, Arbeitserziehungskonzepten und zur Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien bis hinein in den Ersten Weltkrieg liegt eine ganze Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen vor. Stellvertretend sei hier verwiesen auf Jürgen Zimmerer, Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, Münster 2001, bes. S. 176–242; Casper W. Erichsen, Zwangsarbeit im Konzentrationslager auf der Haifischinsel, in: Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 80–85; Jonas Kreienbaum, »Wir sind keine Sklavenhalter«. Zur Rolle der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908), in: Christoph Jahr/Jens Thiel (Hg.), Lager vor Auschwitz. Orte von Internierung, Zwang und Gewalt im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 68–83; ders., »Ein trauriges Fiasko«. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908, Hamburg, S. 138–143 und 247–258; Michael Pesek, Afrikanische Träger im Ersten Weltkrieg, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 13, 3 (2014), S. 27–53.

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der Zwangsarbeiterbeschäftigung, besonders in den besetzten Gebieten, niederschlug, ist in der Forschung eine noch weitgehend offene Frage. Während Behörden und Arbeitgeber bei der Beschäftigung von zivilen Arbeitskräften im Ersten Weltkrieg über entsprechende Erfahrungen verfügten, die sie verhältnismäßig schnell an die neue Situation nach Beginn des Krieges anzupassen wussten, standen sie im Falle der 2,5 Millionen Kriegsgefangenen vor einer neuen Herausforderung. Allein die Größenordnung stellte ein Novum dar und unterschied die deutsche Arbeitskräftepolitik im Übrigen schon dadurch von der vor 1914. Die anfängliche Überforderung der Behörden in dieser Beziehung verdeutlicht, wie neuartig die Zwangsarbeiterbeschäftigung im Deutschen Reich nach 1914 gewesen war. Erst im Laufe des Ersten Weltkriegs kehrte so etwas wie ›Normalität‹ im Umgang mit den Kriegsgefangenen ein. Aber auch die Arbeitgeber, die ebenfalls nicht über entsprechende Erfahrungen verfügten, taten sich mit dieser besonderen Arbeitskräftegruppe anfangs schwer. Auch sie verstanden es erst im Laufe der Zeit, die Arbeitskraft der kriegsgefangenen Zwangsarbeiter immer effektiver auszubeuten. Schon nach wenigen Kriegsmonaten sollten sie in vielen Unternehmen, aber auch für die deutsche Kriegswirtschaft insgesamt, zu einer unverzichtbaren Arbeitskräftegruppe werden. In einigen Bergbauunternehmen stellen die kriegsgefangenen Zwangsarbeiter zwischen zehn und dreißig Prozent aller Beschäftigten.68 An diesem Befund änderten auch die vielfältigen Probleme nichts, die sich für die Unternehmen aus der zwangsweisen Beschäftigung von Arbeitskräften ergaben. Zwangsarbeit war zwar aus Sicht der Unternehmen eine notwendige, keineswegs aber immer eine besonders profitable Angelegenheit. Der Aufwand für Überwachung, Verpflegung und Unterkunft, für den die Unternehmen wenigstens zum Teil aufkommen mussten, stand häufig in keinem günstigen Verhältnis zu den von den Zwangsarbeitern erwirtschafteten Erträgen. Auch der Qualifizierungsstand entsprach oft nicht den Anforderungen. Entsprechende Schulungen und lange Einarbeitungszeiten schmälerten den Gewinn zusätzlich. Aus rein ökonomischer Sicht war die Beschäftigung von Zwangsarbeitern also zum Teil eine durchaus zweischneidige Angelegenheit; die Skepsis gegenüber der Beschäftigung von Kriegsgefangenen und andere Zwangsarbeitskräften, die sich bei vielen, insbesondere kleineren und mittelständischen Unternehmen findet, hatte hier ihre Ursache.69 Insgesamt gesehen stellt die Arbeitskräftepolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg einen wichtigen Einschnitt hinsichtlich der Interdependenzen zwischen Staat und Migration dar. Die kriegswirtschaftlichen Interventionen – hervorgerufen durch tatsächliche oder vermeintliche ›Kriegsnotwendigkeiten‹ – führten zu

|| 68 Herbert, Ausländerpolitik, S. 89, sowie mit weiteren Beispielen Rawe, Ausländerbeschäftigung und Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte. 69 Siehe neben Herbert, Ausländerpolitik, bes. S. 116f., für das Beispiel der belgischen Arbeiter Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 163–168 und ders., Zwangsarbeit.

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einer entscheidenden Verschiebung des Verhältnisses von Zwang und Freiwilligkeit in der Arbeitsmigration. Die traditionellen, auf Anwerbung beruhenden Formen der Arbeitswanderung, die Arbeitskräftepolitik und Arbeitsmigration im Kaiserreich bis 1914 geprägt hatten, wurden auch während des Ersten Weltkriegs nicht ganz aufgegeben, auch wenn es zu einigen kriegsbedingten Einschränkungen, etwa in Bezug auf Arbeitskräftegruppen aus dem nun ›feindlichen‹ Ausland kam. Arbeitskräfte wurden sowohl in den besetzten Gebieten als auch im neutralen Ausland angeworben, ohne dass es einen gravierenden Unterschied in den Formen der Rekrutierungen im Vergleich zur Vorkriegszeit gegeben hätte. Sie blieben sogar die bevorzugte Option der Verantwortlichen in Bürokratie und Unternehmen, obwohl sie sich aufgrund der Kriegslage nur noch in begrenztem Umfange verfolgen ließen. Daneben aber etablierte sich ein Zwangsarbeitssystem – im Grunde sogar mehrere miteinander verschränkte Zwangsarbeitssysteme – das für die Kriegswirtschaft zunehmend an Bedeutung gewann, insbesondere unter den Bedingungen eines Krieges, der seit Herbst 1916 zunehmend die Züge eines »totalen Krieges«70 annahm. Ganz gleich, wie hoch man die Vorbildwirkung der Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg für die im Zweiten veranschlagt und die Akzente in der Bewertung von Erfahrungshorizont und Erfahrungstransfer setzt; unbestritten ist, dass vom Ersten Weltkrieg wichtige Impulse für die Etablierung des NS-Zwangsarbeitsregimes ausgingen. Die vom Paradigma einer totalen Mobilisierung geprägte staatlich-militärische Interventionspolitik, die zunehmende Einflussnahme des Staates auf den Arbeitsmarkt im Allgemeinen und die Ausländerbeschäftigung im Besonderen hatte neue Maßstäbe gesetzt. Neue Handlungsoptionen waren erprobt worden und hatten sich wenigsten teilsweise auch als realisierbar herausgestellt. Die im Ersten Weltkrieg praktizierte Zwangsarbeit sollte als »Erfahrungsgrundlage«, ja sogar als »Probelauf«71 weitreichende Folgen bis hin zum Zwangsarbeitssystem im Zweiten Weltkrieg zeitigen. Auf naheliegende Vergleichsaspekte zwischen den Zwangsarbeitssystemen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg hat bereits Ulrich Herbert hingewiesen und in diesem Zusammenhang einige strukturelle Gemeinsamkeiten und augenfällige Ähnlichkeiten genannt, etwa die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen, die oft unverhältnismäßig strengen und unangemessenen Strafen bei vermeintlichen oder tatsächlichen Vergehen, die Misshandlungen durch das Bewachungspersonal, || 70 Zum Konzept des Ersten Weltkriegs als ›totalen Krieg‹ siehe etwa Stig Förster, Das Zeitalter des totalen Krieges 1861–1945. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 8. 1999, S. 12–29. 71 Zur Vorbildwirkung der Zwangsarbeit im Ersten für den Zweiten Weltkrieg als ›Erfahrungsgrundlage‹, ›Probelauf‹ oder ›Lernprozess‹ siehe dezidiert Ulrich Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 285–304; ders., Fremdarbeiter, S. 24; ders., Ausländerpolitik, S. 87.

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die zum Teil nationalen Kriterien folgenden Hierarchien der ausländischen (Zwangs-)Arbeitskräfte und des Umgangs mit ihnen oder ihre Kennzeichnung mit nationalen Farben oder Symbolen.72 Neuere Arbeiten zur Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg haben diesen Befund in wesentlichen Punkten zum Teil bestätigt, zum Teil aber auch relativiert. Insbesondere Christian Westerhoff wies in seinen Forschungen zur Zwangsarbeit im besetzten Polen und in dem unter direkter militärischer Kontrolle stehenden Verwaltungsgebiet ›Ober-Ost‹ im Baltikum auf gewichtige Unterschiede zur Praxis der Zwangsarbeit in den beiden Weltkriegen hin. Auf Grund fehlender personeller Kontinuitäten und des unterschiedlichen Grades der Brutalität der Zwangsarbeiterregimes im Ersten und im Zweiten Weltkrieg schlägt Westerhoff an Stelle der von Herbert ins Spiel gebrachten Begriffe, insbesondere den des ›Probelaufs‹73, den eines etwas weiter gefassten des ›Erfahrungshorizonts‹ vor. Für dessen konkrete Beschreibungen und Einordnung sind jedoch noch eingehendere vergleichende Forschungen74 sowie eine stärkere Berücksichtigung der europäischen und globalen Perspektive notwendig.75 Auch wenn sich die Zwangsarbeitsregime der beiden Weltkriege hinsichtlich ihres Umfangs und der nur für den Zweiten Weltkrieg relevanten Vernichtungsdimension also deutlich unterschieden, so bleibt der abschließende Befund, dass von der Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg entscheidende Impulse für spätere (kriegs-)wirtschaftlich induzierte staatliche Interventionen im Bereich von Arbeitskräftepolitik und Arbeitsmigration ausgingen. Die Möglichkeiten, freilich aber auch die Grenzen einer zwangsweisen Rekrutierung und Beschäftigung von (ausländischen) Arbeitskräften waren im Ersten Weltkrieg in einer bis dahin nicht gekannten Größenordnung – betroffen waren insgesamt mehr als drei Millionen zivile oder kriegsgefangene Zwangsarbeiter – ausgelotet worden. Das Zwangsarbeitssystem des Ersten Weltkrieges hatte eine »Alternative zum freien Arbeitsmarkt«76 aufgezeigt, die eine Generation später die deutsche Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg, in freilich ganz anderen verbrecherischen Dimensionen, maßgeblich prägen sollte. || 72 Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß; ders., Ausländerpolitik, bes. die Beispiele S. 109–117. 73 Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß, S. 304. 74 Westerhoff, Zwangsarbeit, bes. S. 319–330 (Zitat S. 330). Zum Kontinuitätsproblem bzw. zum ›Erfahrungshintergrund‹ siehe auch die Überlegungen in Thiel, ›Menschenbassin Belgien‹, S. 319– 328 sowie Christian Westerhoff, Zwangsarbeit in zwei Weltkriegen, in: Ernst Piper (Hg.), Das Zeitalter der Weltkriege. Deutschland und Europa 1914 bis 1945, Köln 2014, S. 136-147. 75 Jochen Oltmer, Erzwungene Migration: ›Fremdarbeit‹ in zwei Weltkriegen, in: Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 347–362. Zu Formen von Zwangsarbeit von Zivilisten und/oder Kriegsgefangenen bzw. militärisch organisierter Zivilarbeiterbeschäftigung in anderen kriegsführenden Staaten und nichteuropäischen Kriegsschauplätzen siehe die Bemerkungen und Verweise in: Jens Thiel/Christian Westerhoff, Forced Labour, in: 1914–1918– online. International Encyclopedia of the First World War, http://www.1914-1918-online.net/, Berlin 2014. 76 Schulte Beerbühl, Perspektiven, S. 17.

| Teil IV: Demokratischer Wohlfahrtsstaat und revisionistische Mittelmacht: Protektionismus und Migration in der Weimarer Republik

Jochen Oltmer

Abwicklung einer Kriegsfolgelast: die Repatriierung der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs Der Erste Weltkrieg endete für Deutschland mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 beziehungsweise mit dem Versailler Friedensvertrag, der am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Mit dem Krieg, seinem Ende und den Staatenbildungsprozessen in seiner Nachfolge verbanden sich in Europa millionenfache Wanderungen, die als Zwangs- und Gewaltmigrationen (Flucht, Umsiedlung, Vertreibung) zu verstehen sind oder als Repatriierung beziehungsweise Rückkehr von Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten (Flüchtlinge, Deportierte, Kriegsgefangene) eingeordnet werden können. Mit dem Ersten Weltkrieg und seiner unmittelbaren Nachkriegszeit erreichte das ›Jahrhundert der Flüchtlinge‹ seinen ersten Höhepunkt. Deutschland war im ersten Jahrfünft nach Kriegsende Ziel und Ausgangsraum verschiedener politisch bedingter Zuwanderungsbewegungen, die unmittelbar mit den Entwicklungen des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang standen und damit als Kriegsfolgen interpretiert werden können. Das gilt insbesondere 1. für die Zuwanderung von über einer Million Deutschen aus den nach dem Ende des Krieges abgetretenen Gebieten des Reiches; 2. für die Anwesenheit von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus dem Russland der Revolution und des Bürgerkriegs; 3. für die Zuwanderung von osteuropäischen Juden1 sowie schließlich 4. für die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ungeklärte Situation Hunderttausender während des Krieges internierter Kriegsgefangener vornehmlich aus Russland, die trotz des Waffenstillstandes nicht zurückkehren konnten oder wollten. Die folgenden Bemerkungen gelten im Anschluss an das vorangegangene Kapitel2 zur Geschichte von Gewaltmigration und Zwangsarbeit während des Ersten Weltkriegs der Repatriierung dieser zuletzt genannten Gruppe der Kriegsgefangenen sowie den verschiedenen Akteuren und Interessen, die diesen Prozess mit je unterschiedlicher und sich stets wandelnder Handlungsmacht beeinflussten. Die Geschichte der Kriegsgefangenschaft im Deutschland des Ersten Weltkriegs endete erst vier Jahre nach Kriegsende im Sommer 1922. Kriegsgefangene bildeten ein gewichtiges außen-, sicherheits- und arbeitsmarktpolitisches Problem für die frühe Weimarer Republik.3 Bei den noch nach Jahresbeginn 1919 in Deutschland || 1 Diese drei Bewegungen werden in den Artikeln von Jochen Oltmer thematisiert, die dem vorliegenden Beitrag nachfolgen. 2 Hierzu siehe den Beitrag von Jens Thiel in diesem Band. 3 Hierzu ausführlich Jochen Oltmer, Repatriierungspolitik im Spannungsfeld von Antibolschewismus, Asylgewährung und Arbeitsmarktentwicklung. Kriegsgefangene in Deutschland 1918–1922, in:

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internierten Kriegsgefangenen handelte es sich ausschließlich um ehemalige Angehörige der längst nicht mehr bestehenden zarischen Armee. Ein ganzer Komplex verschiedener Faktoren und Interessen trug dazu bei, dass Hunderttausende russländischer Kriegsgefangener noch weit über das Kriegsende hinaus in Deutschland blieben.

1 Waffenstillstand und Repatriierungspolitik Artikel 10 des Waffenstillstandsabkommens vom 11. November 1918 regelte die Repatriierung der mehr als zwei Millionen in Deutschland internierten Kriegsgefangenen in ihre Heimatstaaten. Er verpflichtete die deutsche Seite, »sämtliche Kriegsgefangenen der Alliierten und der Vereinigten Staaten einschließlich der im Anklagezustand Befindlichen und Verurteilten […] ohne Recht auf Gegenseitigkeit […] unverzüglich in ihre Heimat zu befördern«.4 Den Westalliierten, die das Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland abschlossen, ging es dabei um den sofortigen Rücktransport der kriegsgefangenen Soldaten vorrangig ihrer eigenen Armeen. Sie forderten von der deutschen Regierung die Auslieferung der etwa 940.000 nichtrussländischen Kriegsgefangenen (darunter 446.000 Franzosen, 359.000 Briten, 3.300 US-Amerikaner) innerhalb einer kurzen Frist von 36 Tagen. Dem auf deutscher Seite zuständigen Unterkunftsdepartement im preußischen Kriegsministerium gelang es nicht, diese Terminvorgabe einzuhalten. Verantwortlich machte es dafür vor allem die ebenfalls im Waffenstillstandsabkommen vorgesehene Abgabe eines großen Teils des deutschen Transportmaterials, die militärische Räumung der besetzten Gebiete in Frankreich und Belgien und des erhebliche Teile Westdeutschlands umfassenden entmilitarisierten Gebiets sowie nicht zuletzt die revolutionären Ereignisse in Deutschland. Dennoch waren bis etwa Mitte Dezember bereits rund 350.000 Kriegsgefangene in ihre Heimatstaaten zurücktransportiert worden. Anfang Januar 1919 folgten die letzten 175.000 britischen Gefangenen; die zu diesem Zeitpunkt noch internierten fast 450.000 französischen Gefangenen konnten innerhalb von zwei Wochen bis Mitte Januar vor allem per Bahn in ihre Heimat zurückkehren. Insgesamt umfassten die Kriegsgefangenen-

|| ders. (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 267–294; Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921, Essen 2006, S. 319–352. 4 Das Waffenstillstandsabkommen zu Compiègne vom 11. November 1918, in: Johannes Hohlfeld (Hg.), Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten. Urkunden und Aktenstücke zur inneren und äußeren Politik des Deutschen Reiches, Berlin 1927, S. 654–659, hier S. 655.

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transporte im Dezember 1918 und Januar 1919 täglich 11.000–13.000 Personen.5 Bis zum 15. Januar 1919 – also etwa zwei Monate nach Abschluss des Waffenstillstandsabkommens – waren dann beinahe alle Kriegsgefangenen aus den USA, Großbritannien und Frankreich repatriiert worden, darüber hinaus jene aus Griechenland, Serbien und Rumänien.6 Die Repatriierung der russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland ließen die Westalliierten demgegenüber zunächst unbeachtet.7 Anfang Dezember 1918 befanden sich noch rund 1,2 Millionen russländische Gefangene im Reich, auch wenn ihre Zahl langsam sank, weil sich immer mehr von ihnen auf eigene Faust in Richtung Osten aufmachten. Außerdem forcierten die deutschen Behörden die Repatriierung: Die Kriegsgefangenen galten ihnen als innenpolitische Gefahr in den Nachkriegswirren, nicht zuletzt, weil sie im Verdacht standen, bolschewistische Vorstellungen von einer Weltrevolution zu unterstützen oder mit ihnen zu sympathisieren. Hinzu traten finanzpolitische Überlegungen wegen der hohen Kosten für die Unterbringung sowie arbeitsmarktpolitische Erwägungen, schienen sie doch in einer Konkurrenz um Arbeitsplätze mit gerade demobilisierten ehemaligen deutschen Soldaten zu stehen. Bis zum 16. Januar 1919 hatte sich die Zahl der Kriegsgefangenen aus dem ehemaligen Zarenreich auf fast die Hälfte des Dezemberstandes reduziert (650.000). In der Zwischenzeit war mit der ›Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene‹ eine eigene Behörde eingerichtet worden, in der alle bis dahin in verschiedenen Ministerien angesiedelten Kompetenzen zu den Kriegs- und Zivilgefangenen zusammengeführt wurden.8 Leiter der am 7. Dezember 1918 eingerichteten Reichszen-

|| 5 Zur Übernahme der Kriegsgefangenen auf westalliierter Seite siehe Richard B. Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War. A Study in the Diplomacy of Captivity, New York 1990, S. 175–178; Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011, S. 257–314. 6 Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1928. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden, 3. Reihe: Völkerrecht im Weltkrieg, Bd. 3: Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts, 2. Halbbd., Berlin 1927, S. 693; Hartmut Unger, Zwischen Ideologie und Improvisation. Moritz Schlesinger und die Rußlandpolitik der SPD 1918–1922, Frankfurt a.M. 1996, S. 109f. Die Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen. Amtlicher Bericht der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland, Berlin 1920; hierzu siehe auch Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, S. 97–105, 125–136. 7 Edward F. Willis, Herbert Hoover and the Russian Prisoners of World War I. A Study in Diplomacy and Relief, 1918–1919, Stanford, CA 1951, S. 18f. 8 Zur Arbeit der Reichszentralstelle siehe die Autobiographie des stellvertretenden Leiters: Moritz Schlesinger, Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst, hg.v. Hubert Schneider, Köln 1977, und seines Mitarbeiters in Moskau: Gustav Hilger, Wir und der Kreml. Deutsch-

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tralstelle9 wurde der sächsische MSPD-Reichstagsabgeordnete Daniel Stücklen (1869–1945), der seit 1903 Mitglied des Reichstages war.10 Als Stellvertretender Leiter fungierte Moritz Schlesinger. Der Berliner Vollzugsrat hatte ihn am 10. November 1918 dem Unterkunftsdepartment im preußischen Kriegsministerium zugeteilt und beauftragt, »in Angelegenheiten der Kriegsgefangenen alle Anordnungen selbständig zu treffen«.11 Die Reichszentralstelle übernahm auch die Regelung des Rücktransports der russländischen Kriegsgefangenen. »Katastrophale Bedingungen« resultierten zum Teil aus dem Ziel der zuständigen deutschen Stellen Ende 1918/Anfang 1919, auch die russländischen Kriegsgefangenen so schnell wie möglich abzutransportieren beziehungsweise ihrem Rückmarsch auf einige Faust keine Hindernisse in den Weg zu legen.12 Die deutschen Behörden kannten und akzeptierten diese Bedingungen im Interesse einer schnellen Abschiebung: Da es keine reguläre amtliche Kommunikation mit russländischen Dienststellen gab, wurden die Kriegsgefangenen bis an die von den deutschen Truppen kontrollierte Demarkationslinie im Osten transportiert. Dort waren wegen der Bürgerkriegssituation entweder überhaupt keine funktionsfähigen russländischen Behörden vorhanden oder sie zeigten sich nicht zureichend informiert beziehungsweise instruiert und sehr häufig nicht in der Lage, den weiteren Transport der Kriegsgefangenen zu organisieren. Am 16. Januar 1919 verbot die alliierte Waffenstillstandskommission jede weitere Rückbeförderung russländischer Kriegsgefangener unter deutscher Leitung nach dem 24. Januar. Eine ›Interalliierte Kommission zur Heimbeförderung der russischen Kriegsgefangenen‹ wurde gebildet, die unmittelbar für alle die russländischen Gefangenen betreffenden Fragen zuständig sein sollte und die Reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene zu ihrem ausführenden Organ machte. Der Stopp der

|| sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, Frankfurt a.M./ Berlin 1955, S. 34–46. 9 Bekanntmachung, betreffend die Errichtung einer Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene. Vom 2. Januar 1919, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.), 1919, S. 2; Beauftragter des Vollzugsrates für Kriegsgefangenenfragen, zugeteilt dem Kriegsministerium (U.D.), Schlesinger an Vorsitzenden der Reichsregierung, Ebert, 27.11.1918, Bundesarchiv Berlin (BArch B) R43, Nr. 2512. 10 Biographische Anmerkungen bei: Martin Schumacher (Hg.), MdR, die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Eine biographische Dokumentation, 3. Aufl. Düsseldorf 1994, Nr. 1578; Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898–1918. Biographisch-statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986, S. 211; Walter Killy/Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, München 1998, S. 608; Franz Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus, Bd. 1: Verstorbene Persönlichkeiten, Hannover 1960, S. 305f. 11 Schlesinger, Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst, S. 18–26; Unger, Zwischen Ideologie und Improvisation, S. 107–111. 12 Schlesinger, Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst, S. 47; siehe auch Hilger, Wir und der Kreml, S. 30f.; Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War, S. 171f.

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Kriegsgefangenenrepatriierung und die Bildung der Interalliierten Kommission gingen aus von Marschall Foch als Oberkommandierendem der alliierten Truppen. In einem Memorandum vom 11. Januar 1919 verwies er auf die katastrophale Lage der russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland und bei deren forciertem Rücktransport. Als ganz besonders wichtig stufte er zudem die Gefahr ein, dass die nach Russland zurückgekehrten Kriegsgefangenen die Reihen der Roten Armee im Bürgerkrieg verstärkten.13 Winston Churchill zufolge, zu diesem Zeitpunkt britischer Heeres- und Luftwaffenminister, gingen die Überlegungen Fochs aber noch weiter: Ziel sei es gewesen, russländische Kriegsgefangene in Deutschland für eine alliierte Armee zu rekrutieren, die gegen die Rote Armee eingesetzt werden konnte.14 Von nun an gab es für mehr als ein Jahr keine Transporte mehr nach Russland.15 Bei der Volkszählung am 8. Oktober 1919 – fast ein Jahr nach Kriegsende – wurden reichsweit 182.748 russländische Kriegsgefangene ermittelt. Da diese Kategorie allerdings nicht ordnungsgemäß erfasst werden konnte, ging das Statistische Reichsamt von rund 270.000 zu diesem Zeitpunkt aus. Das waren etwa 15 Prozent aller Kriegsgefangenen, die bei Kriegsende im Reich interniert gewesen waren beziehungsweise über 20 Prozent aller russländischen Kriegsgefangenen: Mehr als ein Fünftel der russländischen Kriegsgefangenen war demnach ein Jahr nach dem faktischen Kriegsende und mehr als anderthalb Jahre nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918, der bereits die gegenseitige Rückführung der Kriegsgefangenen geregelt hatte, noch nicht in die Heimat zurücktransportiert worden.16 Der Repatriierungsstopp mochte zwar mithin die Zahl der russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland hoch halten. Die von den Westalliierten ins Auge gefasste direkte Rekrutierung der Kriegsgefangenen für antibolschewistische Truppenkontingente allerdings scheiterte. Es gelang zudem nicht, eine alliierte Strategie

|| 13 Hierzu siehe die alliierten Forderungen im Rahmen der Diskussion der Waffenstillstandskommission bei der zweiten Verlängerung des Waffenstillstandsabkommens: Edmund Marhefka (Hg.), Der Waffenstillstand 1918–1919. Das Dokumenten-Material der Waffenstillstands-Verhandlungen von Compiègne, Spa, Trier und Brüssel. Notenwechsel – Verhandlungsprotokolle – Verträge – Gesamttätigkeitsbericht, Bd. 1: Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne und seine Verlängerungen nebst den finanziellen Bestimmungen, Berlin 1928, S. 141–143. 14 Willis, Herbert Hoover and the Russian Prisoners of World War I, S. 23; siehe auch Herbert Helbig, Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958, S. 35; Alex P. Schmid, Churchills privater Krieg, Intervention und Konterrevolution im russischen Bürgerkrieg, November 1918–März 1920, Zürich 1974, S. 76, 116, 160–165. 15 Hierzu insgesamt Helbig, Die Träger der Rapallo-Politik, S. 28–38; Schlesinger, Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst, S. 54–56. 16 Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nach Ermittlungen des Statistischen Reichsamts noch rund 600.000 deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft, zum größten Teil in Frankreich und Russland; Arthur Golding, Die Wanderbewegung in Ostpreußen seit der Jahrhundertwende mit besonderer Berücksichtigung der Abwanderung vom Lande, in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamts, 69. 1920, S. 203–234, hier S. 206.

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zu entwickeln, die die zukünftige Repatriierung so gestaltete, dass die Kriegsgefangenen in jene Gebiete des ehemaligen zarischen Territoriums hätten zurückgeführt werden können, die unter Kontrolle der weißen Truppen standen.17 Nach Ansicht Willis‘ resultierte das Scheitern aus einer »confusion of interests and the unwillingness of the Allied government to incur any expenses«.18 Die westalliierte Intervention in die Kriegsgefangenenfrage in Deutschland blieb damit trotz der »fear of Bolshevism« von der »fear of the cost« beherrscht.19 Daran änderten auch die Bemühungen der zahlreichen russländischen Emigrantenverbände in Deutschland nichts, die in den Kriegsgefangenen ebenfalls eine Rekrutierungsbasis für die weißen Truppen im Bürgerkrieg sahen und Einfluss auf die Alliierten und die deutsche Reichsregierung zu nehmen suchten.20

2 Kriegsgefangene als landwirtschaftliche Arbeitskräfte 1919/20 Eine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit den russländischen Kriegsgefangenen ganz anderer Art fanden jene deutschen Ressorts, die für die Landwirtschaft zuständig waren. Bereits in den im Schatten der Kriegsniederlage stehenden Demobilmachungsplanungen Ende Oktober 1918 wurde in knappen Worten die zukünftige Linie für die Politik gegenüber Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitskräften festgelegt. Am Tag des Waffenstillstandsangebots an die Alliierten hieß es: »Kriegsgefangene und ausländische Arbeiter dürfen keinem deutschen Arbeiter im Wege stehen«.21 Allerdings wurde bereits für den landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt einschränkend verfügt, dass sie erst dann entlassen werden dürften, »wenn Ersatz zur Stelle ist«.22 Eine Beschäftigung von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft || 17 Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War, S. 172f. 18 Willis, Herbert Hoover and the Russian Prisoners of World War I, S. 59; siehe auch Robert C. Williams, Russian War Prisoners and Soviet-German Relations, 1918–1921, in: Canadian Slavonic Papers, 9. 1967, H. 2, S. 270–295, hier S. 274f. 19 Willis, Herbert Hoover and the Russian Prisoners of World War I, S. 58. Zur alliierten Militärkontrollpolitik siehe insgesamt Jürgen Heideking, Vom Versailler Vertrag zur Genfer Abrüstungskonferenz. Das Scheitern der alliierten Militärkontrollpolitik gegenüber Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 28. 1980, H. 2, S. 45–68. 20 Karl Schlögel, Berlin: ›Stiefmutter unter den russischen Städten‹, in: ders. (Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994, S. 234–259, hier S. 236. 21 Niederschrift über die Sitzung der Kommission für Demobilmachung der Arbeiterschaft am 29. Oktober 1918, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GStA), Rep. 197 AIa, Nr. 20. 22 Ebd.

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blieb demnach auch weiterhin möglich.23 Die Kriegsgefangenen sollten deshalb zur Arbeit verpflichtet bleiben24 – eine Anordnung, die nach dem Grundsatz: »Wer nicht arbeitet, hat keinen Anspruch auf Verpflegung«25 durchzusetzen sei. Bereits vor dem Abschluss der personellen Demobilmachung des Heeres im Januar/Februar 1919 nahm mit dem Beginn der Frühjahrsarbeiten 1919 die Nachfrage nach Kriegsgefangenen als Arbeitskräften in der Landwirtschaft wieder zu. Ministerialrat Faaß vom Reichsernährungsministerium, im Übrigen einer der wenigen hohen Ministerialbeamten der Weimarer Republik, die der Gewerkschaftsbewegung (Deutscher Landarbeiter-Verband) entstammten, berichtete, dass »innerhalb des ersten Vierteljahres […; nach Kriegsende] etwa 700.000 Gefangene und 350.000 ausländische Arbeiter ihre deutschen landwirtschaftlichen Arbeitsstellen« verlassen hätten. »Großer Arbeitsmangel [gemeint: Arbeitskräftemangel, J.O.] griff in der Landwirtschaft Platz.«26 Die Kommandanturen der Kriegsgefangenenlager wurden deshalb bald mit Anträgen auf die Beschäftigung von Kriegsgefangenen »geradezu überschwemmt«.27 In der preußischen Provinz Hannover berichtete die für die überregionale Vermittlung von Arbeitskräften zuständige Zentralauskunftsstelle in Hannover, dass »täglich von früh morgens bis zum späten Abend Landwirte, die um die Erlaubnis zur Weiterbeschäftigung beziehungsweise Wiedererlangung ihrer Kriegsgefangenen nachsuchen« erschienen seien.28 Die Landwirte erachteten die Arbeitskraft der Kriegsgefangenen für dringend nötig, weil »geeignete deutsche Arbeitskräfte nicht zu erlangen seien, oder daß man die von deutschen Arbeitern verlangten Löhne nicht bezahlen könne«29, eine Auffassung, die Faaß teilte.30 Eine große || 23 Eine gleichgerichtete Regelung wurde auch für den Bergbau getroffen, um ein Absinken der Produktion zu verhindern; ebd. 24 Telegramm Soldatenrat in Berlin an Inspektion der Kriegsgefangenenlager X. Armeekorps in Hannover, 14.11.1918, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück (StA Os), Dep. 3bIII, Nr. 586. 25 Ebd. 26 Fritz Faaß, Die ausländischen Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, in: Berichte über Landwirtschaft, N.F., 6. 1927, S. 115–158, hier S. 133f.; Joachim Tessarz, Die Rolle der ausländischen landwirtschaftlichen Arbeiter in der Agrar- und Ostexpansionspolitik des deutschen Imperialismus in der Periode der Weimarer Republik (1919–1932), Diss. Halle-Wittenberg 1962, S. 58; Drohende Hungersnöte, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt, 27. 1918/19, Sp. 173–175; Äußerung von Staatssekretär Wurm (Kriegsernährungsamt) anlässlich der Reichskonferenz am 25.11.1918, abgedruckt in: Erich Matthias (Hg.), Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, Düsseldorf 1969, S. 201f.; Andreas Peter, Das ›Russenlager‹ in Guben, Potsdam 1998, S. 74f. 27 Beispiel: Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers in Soltau an Landräte der Provinz Hannover, 7.2.1919, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (HStA H), Hann. 122a, Nr. 7012. 28 Zentralauskunftsstelle für den Arbeitsmarkt in Hannover an Landräte der Provinz, 20.2.1919, StA Os, Dep. 3bIII, Nr. 586. 29 Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers in Soltau an Landräte der Provinz Hannover, 7.2.1919, HstA H, Hann. 122a, Nr. 7012. Die noch vorhandenen Kriegsgefangenen würden Angebote aus der Landwirtschaft bereitwillig übernehmen mit dem »Drang nach größerer Freiheit und besserer Lebensweise«.

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Zahl nicht registrierter Gefangener werde darüber hinaus von Landwirten »vor den revidierenden Patrouillen […] versteckt gehalten« und irregulär von ihnen beschäftigt beziehungsweise sogar »zur Flucht aus den Gefangenenlagern verleitet«.31 Die Zahl der beschäftigten Kriegsgefangenen erhöhte sich nun erneut, zumal angesichts des Repatriierungsverbots der Alliierten seit Ende Januar 1919 der Umfang der Gefangenenpopulation mit an die 300.000 das ganze Jahr über stabil blieb. Wegen der demobilmachungsbedingten Erwerbslosigkeit im städtisch-industriellen Sektor wurde dort nur selten die Beschäftigung von Kriegsgefangenen genehmigt, sie blieb damit 1919 eine landwirtschaftliche Angelegenheit.32 Konfliktfrei war die Zunahme der Kriegsgefangenenbeschäftigung in der ersten Jahreshälfte 1919 nicht: Demobilmachungsbehörden und Arbeitsverwaltung beharrten auf dem absoluten Vorrang deutscher Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt.33 Zwar genehmigten sie die Beschäftigung von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft, wollten deren Umfang aber so gering wie möglich halten, weil die Kriegsgefangenenbeschäftigung ihres Erachtens verhinderte, dass die Landwirte sich aktiv um einheimische Arbeitskräfte bemühten.34 In den ersten Monaten 1919 orientierten sich die Militärbehörden an diesen Vorstellungen und Vorgaben der Arbeitsverwaltung. Die Lagerkommandanturen wurden verpflichtet, erst dann Kriegsgefangene abzugeben, wenn die für den Arbeitsmarktausgleich in den Provinzen zuständigen Zentralauskunftsstellen zustimmten und Versuche einer Rekrutierung einheimischer Arbeitskräfte nachweislich erfolglos geblieben waren.35 Erst als sich im Frühjahr und Frühsommer 1919 erneut erhebliche Verzögerungen bei der Repatriierung russischer Kriegsgefangener abzeichneten, ließen sich die Militärbehörden auf eine vermehrte Freigabe von Kriegsgefange-

|| 30 Faaß, Die ausländischen Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, S. 134. 31 Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers in Soltau an Landräte der Provinz Hannover, 7.2.1919, HStA H, Hann. 122a, Nr. 7012. 32 Niederschrift betreffend Besprechung vom 13.12.1919 über Russenablösung aus Arbeitsstellen, Berlin, 14.12.1919, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 33 Zum in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten ›Inländervorrang‹ zum ›Schutz des nationalen Arbeitsmarkts‹ vor Ausländerbeschäftigung siehe den Beitrag von Jochen Oltmer über die protektionistische Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik in diesem Band. 34 Telegramm Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung in Berlin an Demobilmachungskommissare, 19.3.1919, StA Os, Rep. 430, Dez. 502, acc. 24/43, Nr. 81; Zentralauskunftsstelle für Arbeitsnachweise in Hannover an Arbeitsnachweise, 27.3.1919, StA Os, Dep. 3bIII, Nr. 586; Reichsarbeitsministerium in Berlin an Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten in Berlin, 25.5.1919, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100; Generalkommando X. Armeekorps in Hannover an Oberpräsident in Hannover, 11.3.1919, HStA H, Hann. 122a, Nr. 7012. 35 Runderlass Kriegsamt in Berlin, 18.11.1918, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100; dass., 9.11.1918, ebd.; Reichsarbeitsministerium in Berlin an Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 25.5.1919, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100; Generalkommando X. Armeekorps in Hannover an Oberpräsident in Hannover, 11.3.1919, HStA H, Hann. 122a, Nr. 7012.

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nen aus den Lagern zur Arbeit – insbesondere in der Landwirtschaft – ein: Hinweise auf Kostenersparnis und Entmilitarisierung (und damit Mangel an Wachsoldaten) legitimierten diese Politik. Gleichzeitig schien der Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft und die insgesamt entspanntere Arbeitsmarktlage36 eine stärkere Beschäftigung von Kriegsgefangenen zu rechtfertigen.37 Ein Verbleiben der Kriegsgefangenen auf den Arbeitsstellen beziehungsweise ihre Vermittlung war nur deshalb möglich, weil die Interalliierte Kommission sich damit einverstanden erklärt hatte.38 Die in der Landwirtschaft beschäftigten Kriegsgefangenen blieben auch weiterhin in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt: Bei Unterbringung, Verpflegung und Lohnzahlung sollten sie zwar einheimischen Arbeitskräften nach den »gültigen tariflichen oder ortsüblichen Vereinbarungen« gleichgestellt sein. Die Arbeitgeber hatten einen Teil ihres Lohnes einzubehalten und an die Verwaltungen der Kriegsgefangenenlager abzuliefern, die damit die Versorgung mit Bekleidung finanzierten.39 Die Personalien wurden den jeweiligen Orts- und Polizeibehörden mitgeteilt, die Arbeitsstelle der beschäftigten Kriegsgefangenen auf der Ausweiskarte der Lagerverwaltung vermerkt. Ebenso wie bei ausländischen Arbeitskräften in der Vorkriegszeit40 war das Verlassen der Arbeitsstelle als ›Kontraktbruch‹ Anlass für die Verfolgung durch die Polizeibehörden und eine Rückführung in die Lager. Dadurch sollte eine freie Arbeitsaufnahme der Gefangenen verhindert werden. Die Kriegsgefangenen blieben für die Arbeitgeber disponible Arbeitskräfte mit erheblich eingeschränkten Rechten: Wurde der Gefangene als Arbeitskraft »nicht mehr benötigt«, konnte er sofort an das Lager zurückgegeben werden. Arbeitsverweigerung war ebenfalls mit dem Rücktransport ins Lager zu ahnden. Im Spätsommer 1919 wurde erneut die Frage der Repatriierung der russländischen Kriegsgefangenen virulent. Hintergrund dafür war der im September abgeschlossene Rückzug der alliierten Interventionstruppen aus dem Bürgerkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs, der das Interesse der Alliierten an einer Zurückhaltung der russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland erheblich verminderte. Das war bereits deutlich geworden durch die Rückgabe der Verantwortung für die Kriegsgefangenen durch die Interalliierte Kommission – die zugleich

|| 36 Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918– 1927, Stuttgart 1992, S. 422, Tab. 13. 37 Telegramm Kriegsministerium in Berlin an preußische Generalkommandos, 7.7.1919, GStA, Rep. 197 AIa, Nr. 13. 38 Kriegsministerium in Berlin an Inspektionen der Kriegsgefangenenlager, 19.7.1919, BArch B, R3901, Nr. 572. 39 Protokoll des Besprechungsergebnisses mit den Lagerkommandanten der russischen Kriegsgefangenenlager [!] am 2., 3. und 4. Februar 1920 im Herrenhause zu Berlin, GStA, Rep 87 B, Nr. 16100. 40 Hierzu siehe den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band.

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ganz aufgelöst wurde – an die deutsche Regierung am 2. August 1919.41 Dem geplanten Beginn neuer Transporte durch das Internationale Rote Kreuz ab Mitte Januar 1920 sollte ab Ende Oktober 1919 die Rückführung möglichst aller Kriegsgefangener von den Arbeitsstellen in die Unterkunftslager vorangehen, um eine zügige Zusammenstellung größerer Transporte zu erleichtern. Eine stufenweise Zurückziehung der Kriegsgefangenen von den Arbeitsstellen schien dabei nicht nur wegen mangelnder Kapazitäten in den großen Unterkunftslagern notwendig zu sein (die vorhandenen 35 Lager konnten nur 130.000 Kriegsgefangene aufnehmen), sondern auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen erwünscht. Die Arbeitsverwaltung war bestrebt, »einen solchen Zeitpunkt für die Zurückziehung der Kriegsgefangenen zu finden und zu wählen, der die Landwirtschaft am wenigsten fühlbar treffen würde. Mit Rücksicht darauf, daß im November und Dezember die wichtigsten landwirtschaftlichen Arbeiten im allgemeinen beendet waren […], hielt die zentrale Auskunftsstelle den Spätherbst und Frühwinter für den geeigneten Zeitpunkt für die Zurückziehung der Kriegsgefangenen«.42 Die bis zum 15. Dezember 1919 laufende Rückführung in die Lager sollte zudem – auch darin zeigt sich das weiterhin große Gewicht der Kriegsgefangenen als landwirtschaftliche Arbeitskräfte – in Einzelfällen bis zum letzten Augenblick verzögert werden können, wenn dies aufgrund des Arbeitskräftebedarfs der Landwirtschaft erforderlich schien.43 Dann aber wurde die gesamte Operation angesichts der seit Sommer 1919 immer erfolgreicheren Offensiven der ›Roten Armee‹ gegen die ›weißen‹ Truppen an allen Fronten zunächst aufgehoben: Estland, Lettland, Litauen und Polen verweigerten auf Druck der Alliierten die Durchreise der russländischen Gefangenen aus Deutschland, weil »die Mehrzahl der Gefangenen im bolschewistischen Rußland beheimatet sei, dem man keine Verstärkung zuführen wolle«.44 Transporte über See wurden ebenfalls von der Entente nicht mehr gestattet.45 Anfang 1920 war damit unübersehbar geworden, dass die Repatriierung der russländischen Kriegsgefangenen sich erneut erheblich verzögern würde und kaum innerhalb weniger Wochen mit einer größeren Transportoperation zu bewerkstelli-

|| 41 Willis, Herbert Hoover and the Russian Prisoners of World War I, S. 48; Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War, S. 173. 42 Zentralauskunftsstelle für Arbeitsnachweise in der Provinz Hannover an Regierungspräsident in Osnabrück, 14.1.1920, StA Os, Dep. 3bIII, Nr. 586. 43 Zentralauskunftsstelle für Arbeitsnachweise in der Provinz Hannover an Landräte, 23.10.1919, ebd. 44 Stellungnahme Heeresabwicklungsstelle des preußischen Kriegsministeriums, Niederschrift betreffend Besprechung vom 13.12.1919 über Russenablösung aus Arbeitsstellen, Berlin, 14.12.1919, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 45 Stellungnahme Heeresabwicklungsstelle des preußischen Kriegsministeriums, Protokoll des Besprechungsergebnisses mit den Lagerkommandanten der russischen [!] Kriegsgefangenenlager am 2., 3. u. 4. Februar 1920 im Herrenhause zu Berlin, ebd.

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gen war. Das galt auch deshalb, weil viele Kriegsgefangene Widerstand gegen die Repatriierung leisteten, wie etwa in der Provinz Hannover: »Schon bei Beginn der Zurückziehung der Gefangenen [November 1919, J.O.] konnte hier und dort bemerkt werden, wie die Gefangenen der Zurückziehung in die ihnen längst unbequemen Lager dadurch zu begegnen suchten, daß sie von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Kreis zu Kreis zogen. Der Russe arbeitet einige Tage auf diesem Hofe, wanderte nach einigen Tagen ab und erscheint dann auf einem anderen Hof. Diese Erscheinung des Herumvagabundierens der russischen Kriegsgefangenen trat – so wird übereinstimmend von Arbeitsnachweisen, aus der Bevölkerung und von Behörden berichtet – je energischer die Zurückziehung der Gefangenen seitens der Lager (in Verbindung mit den zuständigen Landräten und öffentlichen Arbeitsnachweisen) betrieben wurde, in um so größerem Umfange allenthalben hervor; sie zeigte sich in gewissen Gegenden der Provinz Hannover bereits als eine gewisse Landplage, die dringend gesteuert werden muß«.46

Die Frage nach der weiteren Einbeziehung der Kriegsgefangenen in den Arbeitsmarkt – unter der Prämisse, »allmählich wieder Ordnung in den Arbeitsmarkt«47 zu bringen – wurde damit Anfang 1920 erneut aufgeworfen. Die Heeresabwicklungsstelle im preußischen Kriegsministerium forderte die Beschäftigung von Kriegsgefangenen außerhalb der Lager aufgrund mangelnder Lagerkapazitäten. Im Hintergrund stand dabei auch die durch den Versailler Vertrag geregelte Abrüstung des Heeres auf 100.000 Mann, die eine weitere militärische Verwaltung und Bewachung der großen Unterkunftslager aus Sicht des Kriegsministeriums nicht mehr möglich erscheinen ließ. So waren die für die Bewachung der Kriegsgefangenen aufgestellten Verbände im Umfang von 18.000 Mann bereits außerhalb des Reichswehrhaushalts etatisiert und nicht mehr in den Rahmen der Reichswehr eingebunden; nach dem 1. April 1920 wurden sie schließlich als entmilitarisierte ›Sicherheitswehr‹ geführt, deren Mitglieder nicht zu den Soldaten zählten. Auch das Reichsfinanzministerium forderte die Kriegsgefangenenbeschäftigung. Angesichts der inflationsbedingten Teuerung aller Verbrauchsgüter bei weiterhin kritischer Versorgung mit Nahrungsmitteln glaubte es, eine zureichende Finanzierung des Lebensunterhalts der Kriegsgefangenen in den Lagern nicht mehr gewährleisten zu können. »Grundsätzlich« hatte auch das Reichsarbeitsministerium »gegen die Vermittelung der russischen Kriegsgefangenen zu Arbeiten keine Bedenken« mehr: »In Rücksicht darauf, daß die kriegsgefangenen Russen z.T. u.U. noch || 46 Zentralauskunftsstelle für Arbeitsnachweise in Hannover an Regierungspräsident in Osnabrück, 14.1.1920, StA Os, Dep. 3bIII, Nr. 586; Kreisrat des Landesschutzbezirkes Celle in Celle an Heeresabwicklungsamt Preußen in Berlin, 15.5.1920, BArch B, R3901, Nr. 761; Beispiele aus einem großen Unterkunftslager: Klaus Otte, Lager Soltau. Das Kriegsgefangenen- und Interniertenlager des Ersten Weltkriegs (1914–1921). Geschichte und Geschichten, Soltau 1999, S. 258–278. 47 Stellungnahme Reichsarbeitsministerium, Protokoll des Besprechungsergebnisses mit den Lagerkommandanten der russischen [!] Kriegsgefangenenlager am 2., 3. und 4. Februar 1920 im Herrenhause zu Berlin, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100.

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auf Jahr und Tag in Deutschland bleiben werden, müssen sie auch beschäftigt werden«. Weil aber Industrie und Gewerbe über eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften verfügten, Erwerbslosigkeit trotz Inflationskonjunktur herrsche und noch immer Mittel für Notstandsarbeiten aufgebracht werden müssten, dürften die Kriegsgefangenen ausschließlich in landwirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse gebracht werden: Dort seien sie »im Interesse der Volksernährung geradezu unentbehrlich«, zumal angesichts einer im Vergleich zur Vorkriegszeit sehr geringen Zahl ausländischer Saisonarbeitskräfte.48 Außerdem hätten sich die Kriegsgefangenen als nützliche Arbeitskräfte erwiesen – »die in manchen Kreisen verbreitete Ansicht, die russischen Kriegsgefangenen als kulturell auf niedriger Stufe stehend betrachten zu können, [sei deshalb] durchaus unangebracht […]. Wenn der russische Kriegsgefangene ein tüchtiger landwirtschaftlicher Arbeiter ist, so ist er damit vielen deutschen Arbeitern, die sich nicht mehr den Umständen entsprechend umstellen können, überlegen«.49 Anfang 1920 waren erneut so viele Kriegsgefangene beschäftigt wie vor der im Oktober 1919 einsetzenden Aktion zur Rückführung nach Russland.50 Ein grundsätzliches Dilemma der Arbeitsmarktpolitik in der frühen Weimarer Republik wird in diesem Zusammenhang deutlich: Trotz vergleichsweise hoher Inländererwerbslosigkeit wurde Ausländerbeschäftigung zugelassen. Die Arbeitsmarktpolitik strebte danach, städtisch-industrielle Erwerbslosigkeit und Arbeitskräftebedarf landwirtschaftlicher Betriebe durch Zuführung städtischer Erwerbsloser auf das Land auszugleichen.51 Widerstand dagegen kam nicht nur von Seiten städtisch-industrieller Arbeitskräfte, die geringere Löhne, schlechtere Arbeits- und Lebensbedingungen nicht akzeptieren wollten. Auch die landwirtschaftlichen Arbeitgeber wandten sich gegen eine so forcierte Arbeitskräftepolitik, die ihnen in ihren Augen unqualifizierte und zu teure Arbeitskräfte zu überlassen schien.52 Kriegsgefangene dagegen waren als ›billige und willige‹ Arbeitskräfte ökonomisch attraktiver als die von der Arbeitsverwaltung – zudem in nicht ausreichender Zahl – || 48 Zum Rückgang der Ausländerbeschäftigung in der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe den Beitrag von Jochen Oltmer zur protektionistischen Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik in diesem Band. 49 Stellungnahme Reichsarbeitsministerium, Protokoll des Besprechungsergebnisses mit den Lagerkommandanten der russischen [!] Kriegsgefangenenlager am 2., 3. und 4. Februar 1920 im Herrenhause zu Berlin, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 50 Geschäftsbericht des Landesarbeits- und Berufsamtes Niedersachsen für die Jahre 1920 und 1921 (vom 1. April 1920 bis 31. März 1922), StA Os, Dep. 3bIII, Nr. 586. 51 Gunther Mai, Arbeitsmarktregulierung oder Sozialpolitik? Die personelle Demobilmachung in Deutschland 1918 bis 1920/24, in: Gerald D. Feldman/Carl-Ludwig Holtfrerich/Gerhard A. Ritter/ Peter-Christian Witt (Hg.), Die Anpassung an die Inflation, Berlin/New York 1986, S. 202–236, hier S. 212f.; Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung an Demobilmachungskommissare, 4.1.1919, BArch B, R3901, Nr. 571. 52 Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 195–219.

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angebotenen Arbeitskräfte aus dem städtisch-industriellen Bereich. Die Kriegsgefangenen mochten zwar bereits 1919 in der Lohnhöhe den einheimischen Arbeitskräften gleichgestellt worden sein. Aber das bedeutete keine Verringerung ihrer ökonomischen Attraktivität, solange es keine Tarifverträge in der Landwirtschaft gab und die Lohnsätze im Agrarsektor unter denen städtisch-industrieller Vergleichswerte blieben; eine Rekrutierung von Arbeitskräften auf dem inländischen Arbeitsmarkt von außerhalb der Landwirtschaft aber hätte eine deutliche Erhöhung der Löhne bei den landwirtschaftlichen Arbeitskräften vorausgesetzt, die mit einer ebenso deutlichen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen einhergehen musste. Im März 1920 entwickelte die paritätische Reichsarbeitsgemeinschaft land- und forstwirtschaftlicher Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen gegenüber der Reichsregierung einen Vorschlag zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse ausländischer Arbeitskräfte, in dem von einer Gleichbehandlung von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitskräften ausgegangen wurde. Diesen Vorschlag – der die Grundlage für die Entwicklung des die Ausländerbeschäftigung in der Weimarer Republik kennzeichnenden ›Genehmigungsverfahrens‹ bildete53 – nahm die Reichsregierung im Juli 1920 auf und wendete ihn als Leitlinie für die Überprüfung des Bedarfs an ausländischen Arbeitskräften an: Im Sinne des 1919 bereits im Ansatz vertretenen ›Inländervorrangs‹ wurde nun verbindlich festgeschrieben, dass sowohl ausländische Zivilarbeitskräfte als auch Kriegsgefangene nur in solchen landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt werden durften, denen keine einheimischen Arbeitskräfte vermittelt werden konnten. Um Lohndruck zu vermeiden, mussten beide Gruppen unter den gleichen Tarifbedingungen bei gleicher Arbeitszeit beschäftigt werden wie deutsche Arbeitskräfte.54 Ebenso wie die ausländischen Zivilarbeitskräfte konnten die Kriegsgefangenen Gewerkschaften beitreten, besaßen das Streikrecht und durften zugleich nicht als Streikbrecher eingesetzt werden.55

3 Repatriierung oder Verbleib? Nach einer Unterbrechung von fast anderthalb Jahren verminderte sich ab Mitte 1920 die Zahl der russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland wieder. Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung fanden am 19. April 1920 ihren Abschluss in einem ›Abkommen über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsge|| 53 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer zur protektionistischen Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik in diesem Band. 54 Faaß, Die ausländischen Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, S. 137f. 55 Entscheide des Reichsarbeitsministeriums betreffend russische Kriegsgefangene (11.10.1920), in: Der Arbeitsnachweis in Deutschland, 8. 1920/21, Nr. 4, S. 49.

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fangenen und Zivilinternierten‹, das am 31. Mai 1920 in Kraft trat und die Frage der Kriegsgefangenen endgültig regeln sollte.56 Technisch möglich angesichts des Fehlens direkter Grenzen zwischen Deutschland und Sowjetrussland wurde die Umsetzung des Abkommens erst durch die Unterstützung des Internationalen Roten Kreuzes, das Verhandlungen mit Estland und Litauen aufnahm und erreichte, dass die Repatriierungstransporte über die Häfen Narva und Riga abgewickelt werden konnten. Zudem erklärte Finnland seine Bereitschaft, ein Durchgangslager bereitzustellen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schuf auch in anderer Beziehung die Voraussetzungen für den Abtransport: Angesichts der Übergabe des weitaus größten Teils der deutschen Handelsflotte an die Alliierten standen kaum Schiffe zur Verfügung. Erst durch eine Intervention des Hochkommissars des Völkerbundes für die Rückführung der Kriegsgefangenen, des Polarforschers und norwegischen Diplomaten Fridtjof Nansen, wurde es möglich, britische Schiffe für die Repatriierung zu nutzen. Die gesamte technische Umsetzung der Repatriierung stand unter der Leitung des Internationalen Roten Kreuzes in Verbindung mit Hochkommissar Nansen.57 Bereits in der Woche nach dem Inkrafttreten des deutsch-sowjetischen Vertrags begann der Abtransport der Kriegsgefangenen. Mit Hilfe von 14 Schiffen wurden pro Woche ca. 5.000 russische Kriegsgefangenen über den Hafen Stettin abtransportiert. Am 1. Oktober 1920 zählte das Heeresabwicklungsamt insgesamt noch rund 130.000 russländische Kriegsgefangene im Reich. Angesichts der Devise, die Kriegsgefangenen so spät wie möglich von den landwirtschaftlichen Arbeitsstellen zurückzuziehen, war davon mit rund zwei Dritteln der größte Teil noch an den Arbeitsplätzen zu finden. Das restliche Drittel befand sich in einem der 24 vorhandenen Kriegsgefan-

|| 56 Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten vom 19.4.1920, in: RGBl., 1920, S. 1184–1186; Ergänzungsabkommen zu den zwischen dem Deutschen Reiche und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik am 19. April 1920 geschlossenen Abkommen über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, in: RGBl., 1921, S. 1161–1167; siehe auch Johannes Zelt, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in den Jahren 1917–1921 und das Problem der Kriegsgefangenen und der Internierten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 15. 1967, H. 6, S. 1015–1032, hier S. 1030–1032; Günter Rosenfeld, Sowjetrußland und Deutschland 1917–1922, Berlin 1960, verweist darauf, dass dieses Abkommen »den ersten Durchbruch auf dem Wege zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Sowjetrußland und der Weimarer Republik« darstellte. 57 Dieter Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden. Das Internationale Rote Kreuz 1863– 1977, Göttingen 1992, S. 119; ausführliche Dokumentation der Aktivitäten des Internationalen Roten Kreuzes: Rapport Général du Comité international de la Croix-Rouge sur son activité de 1921 à 1923, Genf 1923, S. 95–134; Gerald H. Davis, Deutsche Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg in Rußland, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 31. 1982, S. 37–49, hier S. 45.

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genenlager, darunter als größtes Lager Celle (Provinz Hannover), das deutlich mehr als ein Drittel aller in Lagern befindlichen Kriegsgefangenen beherbergte.58 Zeitgleich verschärften sich die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die russländischen Kriegsgefangenen in Deutschland. Ein wesentlicher Hintergrund war die erneute Zunahme der Zahl internierter russländischer Soldaten auf deutschem Boden durch den Übertritt von mindestens 50.000 Soldaten der Roten Armee über die Reichsgrenze im Zuge des polnisch-sowjetischen Kriegs. Soldaten der 4. Sowjetarmee, der 53. Schützendivision und des 3. Kavalleriekorps waren nach einer erfolgreichen Offensive im ›Korridor‹ von polnischen Truppen im August 1920 in eine militärisch ausweglose Situation manövriert worden. Einer Gefangennahme durch das polnische Heer entkamen sie durch den Grenzübertritt nach Ostpreußen.59 Entsprechend der Richtlinien der Haager Landkriegsordnung von 190760 wurden die Soldaten der Roten Armee interniert und in kurzer Frist auf dem Seeweg aus Ostpreußen in Richtung Westen transportiert, wo insgesamt 14 Internierungslager zur Verfügung gestellt wurden.61 Die internierten Soldaten der Roten Armee schienen aus Sicht einiger Ressorts sowie Kreisen der konservativ-nationalistischen Öffentlichkeit die ›bolschewistische Gefahr‹ in Deutschland weiter zu verstärken. Das Reichsministerium des Innern forderte eine Separierung der politischen Kommissare der Roten Armee von den Truppen und eine Aufteilung aller größeren Truppenteile auf unterschiedliche Lager. Hier herrschte die Auffassung vor, eine geschlossene Rote Armee unter dem Kommando politischer Kommissare könne in die scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen eingreifen, wie sie zuletzt im März im Kapp-Lüttwitz-Putsch62 und den folgenden Kämpfen im Ruhrgebiet zwi|| 58 Johannes Baur, Zwischen ›Roten‹ und ›Weißen‹ – Russische Kriegsgefangene in Deutschland nach 1918, in: Karl Schlögel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941: Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995, S. 93–108, hier S. 97. 59 Johannes Zelt, Kriegsgefangen in Deutschland. Neue Forschungsergebnisse zur Geschichte der Russischen Sektion der KPD (1919–1921), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 15. 1967, H. 4, S. 621–638, hier S. 626f.; ders., Die politische Arbeit unter russischen Kriegsgefangenen und internierten Rotarmisten in Deutschland während des ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit, in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 6. 1962, S. 568–584, hier S. 581; Gerhard Wagner, Deutschland und der polnisch-sowjetische Krieg 1920, Wiesbaden 1979, S. 11; Horst Günther Linke, Deutschsowjetische Beziehungen bis Rapallo, 2. Aufl. Köln 1972, S. 117: Linke spricht von 70.000 Soldaten der Roten Armee; Baur, Zwischen ›Roten‹ und ›Weißen, S. 96, hingegen von 65.000 Soldaten. Baur zitiert allerdings auch eine sowjetische Quelle, die sogar von 90.000 Soldaten ausgeht; Unger, Zwischen Ideologie und Improvisation, S. 159. 60 Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs. Vom 18. Oktober 1907, in: RGBl. 1910, S. 170f. 61 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 4.3.1921, GStA, Rep. 77, Tit. 4036, Nr. 9, Bd. 1. 62 Zu den politischen Verwicklungen russischer Emigranten und den Planungen der Einbeziehung von russischen Kriegsgefangenen in den Kapp-Lüttwitz-Putsch siehe Williams, Russian War Prisoners and Soviet-German Relations, S. 283–288.

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schen Freikorps beziehungsweise seit April Reichswehr und Roter Ruhrarmee kulminierten. Die Reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene hingegen setzte gegen das Reichsministerium des Innern, das durch das Reichswehrministerium unterstützt worden war, durch, dass die politischen Kommissare bei den Truppen blieben, weil nur sie in der Lage schienen, die Disziplin in den Lagern aufrechtzuerhalten. Die Internierten wurden aber nicht, wie die russländischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs, auf Arbeitsstellen im Reich vermittelt. Vielmehr bemühte sich die Reichszentrale darum, die Repatriierung zu forcieren.63 Nach Abschluss des sowjetisch-polnischen Waffenstillstandsvertrags am 12. Oktober 1920 begann die Repatriierung auch der internierten Soldaten der Roten Armee, die bis Juli 1921 beendet wurde.64 1.160 ehemalige Internierte verweigerten die Repatriierung. Sie wurden vom Lager Lichtenhorst aus der Internierung in die Provinz Hannover entlassen, wo sie vor allem in landwirtschaftliche Arbeitsstellen vermittelt werden sollten.65 Am 16. April 1921 erstattete die Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene einen Bericht über die Rückführung der russischen Kriegsgefangenen.66 Danach waren von den am 19. April 1920, dem Tag des Abkommens mit der sowjetrussischen Regierung über die ›Heimschaffung‹ von Kriegsgefangenen, knapp über 300.000 Kriegsgefangenen insgesamt 276.887 registriert, mindestens 30.000 »flüchtig im Lande«. Von dieser Gesamtzahl waren bis April 1921 insgesamt 252.675 in ihre Heimat zurücktransportiert worden. Weitere 13.899 befanden sich noch in deutschen Lagern, ihr Abtransport sollte im Mai erfolgen. Insgesamt 10.313 der registrierten russländischen Kriegsgefangenen hatten auf den Rücktransport verzichtet und ihr Interesse bekundet, in Deutschland zu bleiben. Davon befanden sich 3.480 in den Lagern, 6.833 auf Arbeitsstellen. Bei einer Zahl von geschätzten 30.000 nichtregistrierten, ›flüchtigen‹ Kriegsgefangenen bezifferte die Reichszentrale die Gesamtzahl der nach dem Mai 1921 noch im Reich befindlichen Kriegsgefangenen auf mehr als 40.000. In den folgenden Monaten bemühten sich Polizeibehörden und Arbeitsverwaltung weiter darum, alle noch im Reich lebenden Kriegsgefangenen zu registrieren und – soweit sie zustimmten – in ihre Heimat zurückzutransportieren.67 Zu diesen || 63 Schlesinger, Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst, S. 148–150; Zur Russenvermittlung, in: Der Arbeitsnachweis in Deutschland, 8. 1920/21, Nr. 18, S. 249. 64 Rückbeförderung von Kriegsgefangenen nach Rußland, in: Nachrichtenblatt des Reichsamts für deutsche Einwanderung, Rückwanderung und Auswanderung (Reichswanderungsamt), 3. 1921, Nr. 15, S. 573. 65 Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Landesarbeitsamt Niedersachsen in Hannover, 21.6.1921, GStA, Rep. 77, Tit. 4036, Nr. 9, Bd. 1. 66 Protokoll einer am 16.4.1921 im Reichsfinanzministerium stattgehabten Sitzung betreffend Fürsorge für die auf den Transport verzichtenden Kriegsgefangenen, Reichsministerium für Finanzen, Berlin, 28.4.1921, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 67 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 4.5.1921, GStA, Rep. 77, Tit. 4036, Nr. 9.

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Maßnahmen zählte etwa ein im Februar 1921 in vielen Tageszeitungen abgedruckter Aufruf an die noch im Reich befindlichen, ›flüchtigen‹ Kriegsgefangenen, sich – verbunden mit einer Amnestie – zur Repatriierung zu melden. Die Kriegsgefangenen seien »eindringlichst auf die Nachteile hinzuweisen«, die sich aus einem Verbleiben in Deutschland ergäben, da »die Not des eigenen Volkes die deutsche Regierung zu besonderen fremdenpolizeilichen Maßnahmen zwingt«. Zu bedenken seien »die hiermit verbundenen Härten, welche die in Deutschland verbleibenden Kriegsgefangenen treffen würden«.68 Die Polizeibehörden wurden insbesondere aufgefordert, auf die (landwirtschaftlichen) Arbeitgeber einzuwirken, die im Interesse der Erhaltung ihrer Arbeitskräfte dazu neigten, die bei ihnen beschäftigten Kriegsgefangenen in ihrem Bestreben zu unterstützen, in Deutschland zu bleiben.69 Im November 1921 aber war diese Phase abgeschlossen: »Von einer weiteren Einwirkung auf die jetzt noch in Deutschland befindlichen russischen Kriegsgefangenen und Internierten«, berichtete das Reichsinnenministerium an die Landesregierungen, »ist kein nennenswerter Erfolg in der Richtung mehr zu erwarten, daß noch eine größere Zahl von ihnen sich zur Rückkehr nach Rußland entschließt. Vielmehr scheint die überwiegende Mehrzahl von ihnen es unter allen Umständen vorzuziehen, wenn auch unter den schwierigsten Verhältnissen, zur Zeit in Deutschland zu verbleiben«. Die Finanzlage des Reiches gestatte eine weitere Aufrechterhaltung von Gefangenenlagern nicht. Deshalb müsse unter allen Umständen versucht werden, die Kriegsgefangenen »soweit es sich mit der Lage des Arbeitsmarktes verträgt, möglichst restlos aus den Lagern heraus in eine auch für unsere Volkswirtschaft nutzbringende Arbeit unterzubringen, bei der sie zugleich sich den Lebensunterhalt selbst verdienen«.70 Alle bereits beschäftigten Kriegsgefangenen wurden aus der Gefangenschaft entlassen »und damit freie Ausländer«. Alle noch in den Lagern lebenden Kriegsgefangenen sollten durch die Landesarbeitsämter möglichst schnell ebenfalls auf Arbeitsstellen vermittelt werden, damit auch sie aus der Kriegsgefangenschaft entlassen werden konnten.71 Die Maßnahme fand die Unterstützung gerade auch der landwirtschaftlichen Interessenvertretungen, die in den »zahlreichen, nicht-bolschewistischen ehemaligen russischen Kriegsgefangenen, die vorläufig nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, weil dies für die meisten den sicheren Tod bedeuten würde«, einen wertvollen »Ersatz« sahen, da »diese ehemaligen Gefangenen […] || 68 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 8.2.1921, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100; der Aufruf ist abgedruckt in: Peter, Das ›Russenlager‹ in Guben, S. 137. 69 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 8.2.1921, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 70 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 14.11.1921, GStA, Rep. 77, Tit. 4036, Nr. 9. 71 Hierzu auch Anfrage Nr. 1312 (Bartz, Hannover), 24.12.1921, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, I. Wahlperiode 1920/24, Bd. 370, S. 3214.

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gerne die Stelle der polnischen Schnitter einnehmen« würden.72 Reichskommissar Stücklen sah deshalb in der vor allem von der DNVP initiierten Kampagne gegen die russischen Kriegsgefangenen als ›Bolschewisten‹ ein parlamentarisches Scheingefecht, das die Kriegsgefangenen für innenpolitische Zwecke instrumentalisierte: »Erst schreit man über die bolschewistische Gefahr, und als man sieht, daß die Arbeitskräfte verschwinden, verlangt man von der Regierung: Laßt einen Teil der Leute da, wir brauchen sie als Arbeitskräfte«.73 Damit endete die Geschichte der Kriegsgefangenenbeschäftigung im Reich während des Ersten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dem Abschlussbericht der Abwicklungsstelle der Reichsstelle für Kriegs- und Zivilgefangene zufolge blieben offiziell rund 4.500 ehemalige russländische Kriegsgefangene auf Dauer im Reich, weitere 8.000–15.000 hatten sich der Kontrolle entzogen, möglicherweise belief sich die Zahl der im Reich verbliebenen russischen Kriegsgefangenen also auf an die 20.000.74 Im Sommer 1922 wurden die letzten beiden Kriegsgefangenenlager aufgelöst.75 Im Juli 1922 schloss auch das Internationale Rote Kreuz seine Repatriierungsaktion. Unter der Verantwortung des Internationalen Roten Kreuzes in Verbindung mit dem Hochkommissar des Völkerbundes für die Rückführung der Kriegsgefangenen, Nansen, waren zwischen dem 10. Mai 1920 und dem 12. Juli 1922 insgesamt 425.000 russländische, deutsche und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene repatriiert worden.76 Fridtjof Nansen erhielt für sein jahrelanges Engagement um die Repatriierung der Kriegsgefangenen 1922 den Friedensnobelpreis.

4 Schluss Kriegsgefangene blieben mehrere Jahre über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus ein Gegenstand außen-, innen- und sicherheits- sowie arbeitsmarktpolitischer Diskussionen in Deutschland. Die erste Phase der Kriegsgefangenenpolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit war bestimmt durch die Versuche der zuständigen deutschen Behörden, vor dem Hintergrund der Demobilmachung der deutschen || 72 Reichs-Landbund in Berlin an Reichsfinanzministerium, 24.2.1921, GStA, Rep. 87 B, Nr. 16100. 73 47. Sitzung, 15.12.1920, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, I. Wahlperiode 1920/24, Bd. 346, S. 1693 A. 74 Schlögel, Berlin: »Stiefmutter unter den russischen Städten«, S. 237 schätzt die Zahl auf 15.000– 20.000. 75 Ebd.; Baur, Zwischen ›Roten‹ und ›Weißen‹, S. 98. 76 Rapport Général du Comité international de la Croix-Rouge sur son activité de 1921 à 1923, S. 132; siehe auch Renée-Marguerite Cramer, Rapatriement des prisonniers de guerre centraux en Russie et en Sibérie et des prisonniers de guerre russes en Allemagne, in: Revue internationale de la CroixRouge, 2. 1920, S. 526–556; Cécile M. Ringgenberg, Die Beziehungen zwischen dem Roten Kreuz und dem Völkerbund, Bern 1970, S. 44–51.

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Truppen und der Rückkehr der Soldaten alle russländischen Kriegsgefangenen so rasch wie möglich in ihre Heimat zu transportieren. Die Kriegs- und Bürgerkriegssituation in Ostmittel- und Osteuropa bildete einen wesentlichen Einflussfaktor, der den Rücktransport der russländischen Kriegsgefangenen behinderte und phasenweise unmöglich machte. Der Bürgerkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs wirkte dabei sogar in dreifacher Weise: Zum einen war er ein wesentlicher Hintergrund für den von den Westalliierten ausgesprochenen Stopp des Abtransportes; zum andern kappte er viele Transport- und Kommunikationsverbindungen; zum dritten sorgte er dafür, dass die zugleich in Russland noch befindlichen deutschen Kriegsgefangenen nicht zurücktransportiert werden konnten, sodass auch die deutsche Seite zunehmend weniger eine Veranlassung für einen Rücktransport der noch auf ihrem Territorium befindlichen russländischen Kriegsgefangenen sah. Kriegsgefangene schienen in mehrfacher Hinsicht ein Sicherheitsproblem zu sein: Unmittelbar nach Kriegsende galten sie als die Sicherheit der Bevölkerung gefährdendes Element, weil ihre Bewachung aufgrund der revolutionären Ereignisse in Deutschland nicht mehr gewährleistet zu sein schien, denn viele Bewachungsmannschaften verließen mit dem Beginn der Demobilmachung schlichtweg ihre Posten. Darüber hinaus wurden sie je nach politischer Ausrichtung des Betrachters von dem einen als ›bolschewistische Gefahr‹ wahrgenommen, die sorgsam von der einheimischen Bevölkerung abzuschirmen und bei erstbester Gelegenheit abzuschieben sei. Dem anderen galten sie als Truppenreservoir weißer Konterrevolutionäre, die die Freikorps verstärken und konservativ-nationalistische Kreise – bis hin zum Kapp-Putsch – unterstützen konnten. Nicht zuletzt zählten sie für eine dritte Gruppe, die auf eine revolutionäre Veränderung der deutschen Gesellschaft hinarbeitete, zu den Kräften, die als potenzielle Soldaten einer Roten Armee mithelfen konnten, in Deutschland eine Revolution durchzusetzen und abzusichern. Die ohnehin sehr spärliche Forschung zu den russländischen Kriegsgefangenen im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit hat über die beschriebenen innen- und sicherheitspolitischen Diskussionsfelder hinaus einen Aspekt lange fast völlig übersehen: Angesichts der Rückwanderung eines großen Teils der ausländischen Arbeitswanderer nach Kriegsende und insgesamt geringer Zuwanderung mit Beginn des Jahres 1919 bildeten Kriegsgefangene eine wichtige Arbeitskräftekategorie: In der deutschen Landwirtschaft waren 1919 wesentlich mehr Kriegsgefangene beschäftigt als ausländische Arbeitswanderer. Da sie vergleichsweise ›billig‹ und ›willig‹ waren, blieben sie begehrte Arbeitskräfte. Das vorhandene Potenzial an kriegsgefangenen Arbeitskräften trug offensichtlich mit dazu bei, die Konzeption der Demobilmachungsbehörden scheitern zu lassen, einheimische städtischindustrielle Erwerbslose in die Landwirtschaft zu vermitteln; die Beschäftigung von Kriegsgefangenen schien außerdem einen gewissen Anteil an der Verhinderung der Anpassung der landwirtschaftlichen Löhne, Arbeits- und Unterkunftsbedingungen an ein höheres städtisch-industrielles Niveau zu haben.

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Die Geschichte der Kriegsgefangenschaft im Nachkriegsdeutschland endete mit dem verstärkten Rücktransport 1920/21. Ein möglicherweise bis zu 20.000 Menschen umfassender Rest verblieb nach 1922 in Deutschland – für den rückschauenden Betrachter verschwinden sie in dem breiten Strom der russländischen Emigration oder in der nach Zehntausenden zählenden Kategorie der ausländischen Arbeitskräfte. Die verantwortlichen deutschen Behörden führten 1921/22 mithin keine Zwangsrepatriierungen durch, trotz entsprechender Forderungen konservativnationalistischer Kreise. Vielmehr duldete die Weimarer Republik die Kriegsgefangenen, ebenso wie die Internierten der Roten Armee, die im Zuge des polnischsowjetischen Krieges nach Deutschland gekommen waren und nicht in eine Repatriierung in ihre Heimat einwilligten.

Jochen Oltmer

Schutz für Flüchtlinge in der Weimarer Republik Staaten entscheiden mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener, die als schutzberechtigte Flüchtlinge anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildete immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Handelns von und des Aushandelns durch Individuen, Kollektive(n) und (staatliche(n)) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets wandelten. Mit der permanenten Veränderung der politischen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Perzeption von Migration verband sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als Flüchtling wahrgenommen und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wurde. Eine grundlegende Zäsur bildete der Erste Weltkrieg, der am Beginn eines Zeitabschnitts stand, der vielfach als »Jahrhundert der Flüchtlinge«1 vor dem Hintergrund insbesondere deutlich vermehrter Schutzersuchen neue Herausforderungen hinsichtlich des Aufund Ausbaus von Schutzsystemen mit sich brachte. Flüchtlingspolitik und Asylpraxis in Deutschland zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Austreibung Hunderttausender nach 1933 sind in der Forschung bislang nur peripher thematisiert worden, während zugleich relativ viele Kenntnisse über die internationale Entwicklung im Blick auf zivilgesellschaftliche und juristische Diskussionen um Asyl und über die Flüchtlingshilfe (zum Beispiel: Völkerbund, Internationales Komitee vom Roten Kreuz) vorliegen.2 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, wesentliche Parameter der politischen Diskussion um die Aufnahme von Zwangsmigrantinnen und -migranten herauszuarbeiten und dabei nach den Aktionen und Reaktionen staatlicher Institutionen vor dem Hintergrund einer veränderten Perzeption von Migration nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Gefüge zahlreicher weiterer Akteure mit ihren je spezifischen Interessen zu fragen. Mithin geht es um den Prozess der Aushandlung von Asyl in der Weimarer Republik unter vornehmlicher Berücksichtigung des Handelns staatlicher Institutionen.

|| 1 Carl D. Wingenroth, Das Jahrhundert der Flüchtlinge, in: Außenpolitik, 10. 1959, H. 8, S. 491–499. 2 Das verdeutlichen beispielsweise Frank Caestecker/Bob Moore, Refugee Policies in Western European States in the 1930s. A Comparative Analysis, in: IMIS-Beiträge, 1998, H. 7, S. 55–103; Claudena M. Skran, Refugees in Inter-War Europe. The Emergence of a Regime, Oxford 1995; Peter Gatrell, The Making of the Modern Refugee, Oxford 2013, S. 52–81.

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1 Rückblick: Flucht und Asyl im ›langen‹ 19. Jahrhundert Die Geschichte der Etablierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert war begleitet von Flucht und Verfolgung aus politischen Gründen. Einige Zehntausend Menschen, die bewusst den Kampf gegen das herrschende politische System ihres jeweiligen Herkunftsstaates aufgenommen hatten, ergriffen zumeist vor der Verfolgung nationaler, demokratischer, liberaler und sozialistischer Bewegungen die Flucht. Wie viele es gewesen sein mögen, die sich zur Flucht entschlossen oder ausgetrieben worden waren, lässt sich auch nicht annäherungsweise sagen. Nur selten wurde die Zahl der Ausländer in den einzelnen europäischen Staaten systematisch erfasst sowie nach Nationalitäten und rechtlichem Status kategorisiert. Festgehalten werden kann aber, dass die Gruppe von Menschen, die für sich den Status als politisch Verfolgte in Anspruch nahmen, sehr heterogen war: frühsozialistische Handwerker fanden sich ebenso darunter wie nationalliberale politische Intellektuelle oder auch Mitglieder bewaffneter nationaler Befreiungsbewegungen.3 Mehrere Emigrationswellen und Hochphasen der politischen und publizistischen Thematisierung von politisch bedingten Migrationen lassen sich im ›langen‹ 19. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg ausmachen: Eine erste gab es in der Phase der verschärften Restauration im Jahrfünft nach dem Wiener Kongress 1814/15. Eine zweite folgte nach den Unruhen, die in weiten Teilen Europas im Kontext der Pariser Julirevolution von 1830 standen. Dazu zählte auch die ›Große Emigration‹, die mehrere Zehntausend polnische Flüchtlinge nach Westeuropa führte.4 Die europäische Revolution von 1848 hinterließ ebenfalls wesentliche Spuren im Migrationsgeschehen. Seit den 1870er Jahren ging es vornehmlich um politisch erzwungene Wanderungen im Gefolge des Kampfes mittel- und osteuropäischer Staaten gegen sozialistische und anarchistische Bewegungen. Dabei blieben die Staaten Mittel- sowie Ostmittel- und Osteuropas Hauptausgangsräume politisch forcierter Migrationen. || 3 Beatrix Mesmer, Die politischen Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, in: André Mercier (Hg.), Der Flüchtling in der Weltgeschichte. Ein ungelöstes Problem der Menschheit, Bern/Frankfurt a.M. 1974, S. 209–239; Hans Henning Hahn, Möglichkeiten und Formen politischen Handelns in der Emigration. Ein historisch-systematischer Deutungsversuch am Beispiel des Exils in Europa nach 1830 und ein Plädoyer für eine international vergleichende Exilforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 23. 1983, S. 123–161; Herbert Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA, Berlin 1992; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 187–209. 4 Stefan Kieniewicz, Europa und der Novemberaufstand, in: Peter Ehlen (Hg.), Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft, München 1982, S. 15–30; Slawomir Kalembka, Der Novemberaufstand und die Große Emigration als beziehungsgeschichtliches Problem, in: ebd., S. 121–130.

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Ein Großteil der Europäer, die vor staatlicher Gewalt und Verfolgung auswichen, kam aus dem Deutschen Bund beziehungsweise dem Deutschen Reich. Das galt sowohl für die Zeit des Vormärz, der gescheiterten Revolution von 1848/49 als auch für das späte 19. Jahrhundert, vor allem im Kontext des Anti-Sozialistengesetzes 1878 bis 1890.5 Insgesamt lässt sich festhalten, dass Fluchtbewegungen im 19. Jahrhundert kein Massenphänomen waren und im Blick auf das gesamte grenzüberschreitende Wanderungsgeschehen nur vergleichsweise geringe Dimensionen einnahmen. Die wenigen Menschen, die im 19. Jahrhundert als Motiv für ihren Grenzübertritt politische Verfolgung geltend machten, waren in der Regel deshalb zu Flüchtlingen geworden, weil ihre politischen Aktivitäten den Obrigkeiten im Herkunftsland missfielen. Im Wesentlichen lassen sich zwei unterschiedliche rechtliche Wege der Aufnahme solcher Flüchtlinge in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ausmachen: Zum einen konnten sie ohne weitere Berücksichtigung der Motive und Hintergründe ihrer räumlichen Bewegung im Rahmen von Regelungen zur Zulassung von Einwanderern aufgenommen werden. Ihr rechtlicher Status unterschied sich dann nicht von jenen Einwanderern, deren Zuwanderung nicht primär politischen Motiven unterlag. Vor allem Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika wurden auf diese Weise wichtige Aufnahmeländer europäischer Flüchtlinge des 19. Jahrhunderts, insbesondere auch aus dem deutschsprachigen Raum.6 Zum andern war die Gewährung eines spezifischen Rechtsstatus für Flüchtlinge möglich. Das aber geschah in der Regel ausschließlich als eine Ausnahme innerhalb von Vorgaben zur Auslieferung ausländischer Staatsangehöriger und bot damit Schutz vor der Überstellung an den Herkunftsstaat. Politisches Asyl im engeren Sinne war also im 19. Jahrhundert zumeist ein Bestandteil des Auslieferungsrechts.7

|| 5 Jacques Grandjonc, Die deutsche Binnenwanderung in Europa 1830 bis 1848, in: Otto Büsch/ Hans Herzfeld (Hg.), Die frühsozialistischen Bünde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vom ›Bund der Gerechten‹ zum ›Bund der Kommunisten‹ 1836–1847. Ein Tagungsbericht, Berlin 1975, S. 3–20. 6 Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert, S. 79; Rosemary Ashton, Little Germany. Exile and Asylum in Victorian England, Oxford/New York 1986, S. 25–55; Bernard Porter, The Refugee Question in Mid-Victorian Politics, Cambridge 1979, S. 12–45; Sabine Sundermann, Deutscher Nationalismus im englischen Exil. Zum sozialen und politischen Innenleben der deutschen Kolonie in London 1848–1871, Paderborn 1997, S. 23–48; Michael Just, Politische Flüchtlinge gehen nach Amerika, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 32. 1982, H. 4, S. 435–440; Ulrich Klemke, »Eine Anzahl überflüssiger Menschen«. Die Exilierung politischer Straftäter nach Übersee: Vormärz und Revolution 1848/49, Frankfurt a.M. 1994, S. 11–23. 7 August Herbold, Das politische Asyl im Auslieferungsrecht, Diss. Heidelberg 1933; Hans-Georg Hutzenlaub, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, Diss. Freiburg i.Br. 1976; Wolfgang Abendroth, Asylrecht, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl. Berlin 1960, Bd. 1, S. 89–93, hier S. 91.

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Das politische Asyl bildet zwar eine der »ältesten Rechtseinrichtungen der Menschheit«, wie der Rechtswissenschaftler Otto Kimminich formulierte.8 Aber erst mit dem Aufstieg des Nationalstaats sind im 19. Jahrhundert übergreifende rechtliche Grundlagen für die Asylgewährung als Schutz vor Auslieferung in gesetzesförmigen Regelungen fixiert worden. Seit den Revolutionen von 1830 wurden in Frankreich und Belgien politisch motivierte Delikte als Gründe für die Nicht-Auslieferung von Flüchtlingen gesetzlich festgeschrieben. Vorbildcharakter für Westeuropa entwickelte dabei vor allem das belgische Auslieferungsgesetz von 1833, dem ähnliche Regelungen in den Niederlanden 1849, Luxemburg und Großbritannien 1870 sowie in der Schweiz 1892 folgten. Obwohl sich der Grundsatz der Nicht-Auslieferung politischer Flüchtlinge in einigen westeuropäischen Staaten durchsetzte, blieb die Macht des jeweiligen aufnehmenden Staates faktisch unbeschränkt, auszuweisen, abzuschieben und zurückzuweisen – die Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts gab es nicht, von den Niederlanden seit 1849 abgesehen.9 Asyl blieb in den Aufnahmestaaten Europas damit immer ein politisch motivierter Akt der Duldung. Anders als viele Staaten Westeuropas blieben die Staaten Mittel-, Ostmittel- und Osteuropas als Hauptausgangsräume politisch motivierter Migrationen durch asylfeindliche Haltungen gekennzeichnet. Deutschland war im 19. Jahrhundert kaum jemals ein Aufnahmeland für politisch Verfolgte – im Gegenteil: Die Staaten des Deutschen Bundes einigten sich 1832 in Reaktion auf das Hambacher Fest auf den Grundsatz der gegenseitigen Auslieferung politischer Straftäter – während die gegenseitige Auslieferung bei gewöhnlichen Straftaten erst mehr als zwei Jahrzehnte später, 1854 nämlich, festgelegt wurde. Auf die innerdeutsche Auslieferungsverpflichtung von 1832 folgte 1834 ein Vertrag Preußens, Österreichs und Russlands über die gegenseitige Auslieferung bei politischen Delikten.10 In den 1880er Jahren wurde die deutsch-russisch-österreichisch-ungarische Zusammenarbeit in diesem Feld wieder aktiviert, zunächst durch eine verstärkte informelle Abstimmung der Polizeibehörden.11 Ein von Reichskanzler Otto von Bismarck angeregtes Abkommen des Reiches mit Russland 1885 sah die gegenseitige Auslieferung politischer Flüchtlinge vor. Der Reichstag widersetzte sich der Ratifizierung, Preußen und Bayern aber schlossen den Vertrag separat. Mehrfach scheiterten bis zum Ersten Weltkrieg in Länderparlamenten und im Reichstag Versuche,

|| 8 Otto Kimminich, Asylrecht, Neuwied/Berlin 1968, S. 7. 9 Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert, S. 28–34. 10 Christian Baltzer, Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, Bonn 1966, S. 34–77. 11 Joachim Wagner, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Heidelberg/Hamburg 1981, S. 402–406.

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die Aufkündigung dieser beiden Verträge zu erzwingen.12 Seit 1892 beschäftigte sich der Deutsche Reichstag zudem mehrfach vergeblich mit einem der westeuropäischen Entwicklung folgenden Auslieferungsgesetz, das auch die Asylgewährung regeln sollte: Die Gesetzesinitiativen wurden von der Reichsleitung blockiert oder von der Reichstagsmehrheit abgelehnt.13 Wie in vielen europäischen Staaten war damit selbst das schlichte Auslieferungsasyl in Deutschland bis zum Ende des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg nicht gesetzlich geregelt.

2 Massenzwangswanderungen nach dem Ersten Weltkrieg und protektionistische Migrationspolitik Mit dem Ersten Weltkrieg und den politischen Wandlungen in seinem Gefolge gewannen politisch gesteuerte und politisch bedingte räumliche Bewegungen an Gewicht.14 Massenabwanderungen begleiteten vor allem den Bürgerkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Sie zielten in erster Linie auf West- und Mitteleuropa. Es kann davon ausgegangen werden, dass rund 10 Millionen Menschen aufgrund der politischen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bis Mitte der 1920er Jahre Grenzen überschritten.15 Die umfangreichste einzelne Gruppe bildeten die wahrscheinlich ein bis zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Russland von Revolution und Bürgerkrieg. Die Mittelmächte des Ersten Weltkriegs, die Kriegsverlierer also zusammengenommen, sahen sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit gezwungen, insgesamt mindestens 2 Millionen Menschen aus den verlorengegangenen Territorien aufzunehmen.16 Darüber hinaus schwanden mit und nach dem Ersten Weltkrieg die im 19. Jahrhundert noch kaum beschränkten Möglichkeiten für Europäer, sich als Einwanderer in Übersee niederzulassen. Deutschland war lange das wichtigste Transitland für || 12 Karl Oswald, Der preußisch-russische und der bayerisch-russische Auslieferungsvertrag, Diss. Rostock 1914; Wolfgang Mettgenberg, Das politische Asyl und seine Grenzen, in: Zeitschrift für Völkerrecht, 16. 1932, S. 731–741, hier S. 732–735. 13 Herbold, Das politische Asyl im Auslieferungsrecht, S. 20f.; Willi Reucher, Das Verhältnis des Auslieferungsgesetzes und der Auslieferungsverträge zueinander unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Rechtsprechung in Auslieferungssachen, Diss. Würzburg 1937, S. 1–5. 14 Hierzu und zum Folgenden Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, Kap. 4. 15 Michael R. Marrus, Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 61. 16 Dudley Kirk, Europe’s Population in the Interwar Years, Princeton 1956, S. 105.

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Migrantinnen und Migranten aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa in Richtung Übersee gewesen. Für sie wurde das Reich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg immer häufiger auch Endstation beziehungsweise wesentlich länger Zwischenstation. Mit dem ›Quota Act‹ von 1921 führten die USA erstmals Quoten für die einzelnen Herkunftsländer ein, die sich vor allem gegen die seit Ende des 19. Jahrhunderts dominierende ›New Immigration‹ aus Ost-, Ostmittel-, Südost- und Südeuropa richteten. 1924 und 1927 wurden diese Quoten weiter verschärft. Sogleich verschob sich die Zusammensetzung der europäischen Zuwanderung in den Vereinigten Staaten von Amerika: 1910–1915 war die ›Neue Einwanderung‹ noch um das Dreifache höher als die ›Alte Einwanderung‹ aus West-, Mittel- und Nordeuropa gewesen. In den 1920er Jahren ging dieses Übergewicht auf 54 Prozent zurück. Hinzu kam, dass die Quotenregelung die Zuwanderung bürokratisierte und restriktive Ausführungsbestimmungen dazu beitrugen, dass die Quoten sogar durchweg unterschritten wurden. Mit dem Ersten Weltkrieg war außerdem im gesamten atlantischen Raum im zwischenstaatlichen Personenverkehr der Sichtvermerkzwang – in der Regel sowohl Ein- als auch Ausreisevisa – eingeführt worden.17 Nach dem Krieg wurde der Sichtvermerkzwang auf der Basis von zwischenstaatlich vereinbarten Meistbegünstigungsklauseln zwar in vielen Fällen wieder aufgehoben, blieb aber dennoch eine Barriere für die räumliche Bewegung von Menschen in Europa und für Europäer, die den Kontinent verlassen wollten. Hinzu kamen die ökonomischen Wirkungen des Krieges. Es verlagerten sich die bis dahin auf Europa ausgerichteten weltwirtschaftlichen Strukturen, die mit ihren ungleichen Austauschbeziehungen Rohstoffe und Lebensmittel nach Europa gebracht und hier über die Fertigwarenexporte das Wachstum des sekundären Sektors beschleunigt hatten. 1913 hatte der Warenaustausch zwischen den nicht-europäischen Ländern nur 25 Prozent des Welthandels ausgemacht, zwischen 1925 und 1938 lag er bei 40 Prozent – ein Indikator für die wirtschaftliche Schwächung Europas. Einen wirtschaftspolitischen Lösungsversuch in der Krise bildete die protektionistische Abgrenzung der einzelnen Volkswirtschaften voneinander, ein Kennzeichen von De-Globalisierung und weltwirtschaftlicher Desintegration. Grenzüberschreitende Bewegungen – Warenaustausch, Kapitalverkehr, Wanderungen – gingen massiv zurück. Neue Instrumente von Migrationskontrolle und -steuerung wurden nun nach 1918 Grenzsperren und Kontingentierungen.18

|| 17 John Torpey, The Great War and the Birth of the Modern Passport System, in: Jane Caplan/John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 256–270. 18 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer über die protektionistische Arbeitsmigrationspolitik in diesem Band.

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Vor diesem Hintergrund sahen sich erstens europäische Migranten, die sich als politische Flüchtlinge verstanden, wesentlich größeren Barrieren gegenüber, Europa verlassen und in Übersee Zuflucht suchen zu können. Zweitens mussten Migrantinnen und Migranten, die europäische Grenzen überschreiten wollten oder mussten, angesichts der auf den ›Schutz nationaler Arbeitsmärkte‹ sowie auf die Abwehr gesellschaftlich unerwünschter Zuwanderer zielenden Restriktionen nunmehr häufiger einen Hintergrund politischer Verfolgung geltend machen, um überhaupt Zugang zu finden. Damit erwies sich im Europa nach dem Ersten Weltkrieg die Frage der Gestaltung der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Aufnahme von Menschen, die als Flüchtlinge oder Vertriebene galten, vordringlicher denn je. Europaweit blieben Flüchtlingsaufnahme und Asylpraxis weiter ausgerichtet auf den einzelnen politischen Aktivisten des 19. Jahrhunderts und nicht auf die wesentlich größere Zahl von Migrantinnen und Migranten des ›Jahrhunderts der Flüchtlinge‹. »Diese Völkerwanderung entsprang zwar ohne Zweifel politischen Ursachen«, analysierte der Staats- und Verfassungstheoretiker Otto Kirchheimer, »aber die Masse der neuen Wanderer setzte sich nur zum geringsten Teil aus Menschen zusammen, die aus politischer Betätigung kamen oder entschlossen waren, den Kampf gegen das Regierungssystem, dem sie entronnen waren, bis zum logischen Ende, bis zu dessen Sturz also, fortzuführen.«19 Während die wenigen Migrantinnen und Migranten, die im 19. Jahrhundert in europäischen Staaten als politische Flüchtlinge Aufnahme fanden, vor allem als sicherheitspolitische, gelegentlich auch als außenpolitische Probleme gesehen wurden, erschien der Massenzustrom des ›Jahrhunderts der Flüchtlinge‹ vor allem als ein Problem des intervenierenden Sozialstaats. Eingriffe in den Arbeits- und Wohnungsmarkt erwiesen sich als notwendig, das soziale Sicherungssystem und der Bildungssektor schien belastet – nicht zuletzt rief die Zuwanderung Widerstände in den Bevölkerungen hervor bis hin zu offen feindseligen Reaktionen. Zumeist figurierte die Flüchtlingsaufnahme als gravierendes soziales, wirtschaftliches, politisches und kulturelles Problem, das viele Nachteile und Gefahren in sich zu bergen schien: Ängste vor der Zunahme der Erwerbslosigkeit, der Überforderung des sozialen Sicherungssystems oder der kulturellen und politischen ›Überfremdung‹ beherrschten die Debatte. Das galt auch für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kategorie der als Flüchtlinge anerkannten Menschen unterlag in der Weimarer Republik dem prekären Status der Duldung aufgrund politischer Erwägungen. Ein Überblick über die Asylrechtsdiskussion in der Weimarer Republik verdeutlicht die Parameter einer Nicht-Integrationspolitik, die sich an einem Verbleiben der Zuwanderer nie interessiert zeigte.

|| 19 Otto Kirchheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Neuwied/Berlin 1965, S. 515.

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3 Asylrechtsdiskussionen in der Weimarer Republik Nach fast vier Jahrzehnten der Auseinandersetzung seit dem ersten Antrag zur Verabschiedung eines Auslieferungsgesetzes im Reichstag 1892 wurde am 23. Dezember 1929 das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ in Kraft gesetzt20, das sich in der Tradition des belgischen Auslieferungsgesetzes von 1833 sah.21 In der Weimarer Republik waren in publizistischer Diskussion und politischer Debatte einige spektakuläre Auslieferungsfälle hervorgetreten, die eine gesetzliche Regelung notwendig erscheinen ließen: 1920 etwa ging es um die Frage der Auslieferung des am KappLüttwitz-Putsch führend beteiligten Generallandschaftsdirektors a.D. Wolfgang Kapp, der nach Schweden geflohen war, und des nach Ungarn ausgewichenen Obersten Max Bauer, dem Vertrauten des ehemaligen Generalquartiermeisters der Obersten Heeresleitung Erich Ludendorff. Beide Ersuchen wurden abgelehnt. 1924 erging ein – ebenfalls später abgelehntes – deutsches Auslieferungsersuchen wiederum an Ungarn, wohin sich die Mörder von Reichsfinanzminister Matthias Erzberger geflüchtet hatten.22 Große Publizität erreichte 1921/22 der Antrag Spaniens an das Reich auf Auslieferung der Mörder des spanischen Ministerpräsidenten Eduardo Dato, der für erhebliche diplomatische Verwicklungen sorgte und zu erregten Debatten im Reichstag und im preußischen Landtag führte.23 Der westeuropäischen Entwicklung des Auslieferungsasyls seit den 1830er Jahren folgend, wurde mit dem ›Deutschen Auslieferungsgesetz‹ 1929 der Asylschutz erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt durch die Festschreibung eines

|| 20 Wortlaut: Deutsches Auslieferungsgesetz. Vom 23. Dezember 1929, in: Reichs-Gesetzblatt (RGBl.), 1929, Teil 1, S. 239–244. 21 Hutzenlaub, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, S. 30. In der Reichstagsvorlage des Gesetzes begründete die Reichsregierung die Gesetzesinitiative mit den Worten: »Die Bestimmung sichert das vor einem Jahrhundert schwer erkämpfte, dann aber von allen Kulturstaaten hochgehaltene sog. politische Asyl. Die Reichsregierung hat noch in den letzten Jahren mehrfach erklärt, daß sie es als ihre Pflicht betrachte, das politische Asyl zu wahren«. Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, Reichsministerium der Justiz, 5.9.1928, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 431, Nr. 362, S. 10. 22 Hans-Heinrich Jescheck, Erzberger Mörder-Fall, in: Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 440; H. Delius, Die Auslieferung der ›Erzbergermörder‹, in: Deutsche JuristenZeitung, 29. 1924, H. 17/18, Sp. 720–722; zum Hintergrund: Martin Sabrow, Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994, S. 17–27; Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt a.M. 1976, S. 428–440. 23 Steffan, Das politische Asyl, in: Juristische Wochenschrift, 62. 1933, H. 50, S. 2811f.; detailliert zum Auslieferungsfall im Zusammenhang mit der Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten Dato: Wolfgang Mettgenberg, Die Auslieferung der Mörder des spanischen Ministerpräsidenten Dato durch das Deutsche Reich (Auslieferungsfall Fort), in: Zeitschrift für Völkerrecht, 12. 1923, S. 300–321.

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Verbots der Auslieferung bei politischen Straftaten.24 Zudem wurde das Auslieferungs- beziehungsweise Ausweisungsverfahren zu einer gerichtlichen Angelegenheit und damit dem unmittelbaren Einfluss der Verwaltungsbehörden entzogen; den Entscheidungen der Gerichte setzte das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ engere Grenzen als die bis dahin gültigen Regelungen des Auslieferungsrechts und der zahlreichen Auslieferungsverträge. Vor allem geschah dies durch eine im Vergleich zu anderen Auslieferungsgesetzen klarere Definition der Straftaten25, bei denen eine Auslieferung an einen fremden Staat ausgeschlossen wurde: »Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn die Tat, welche die Auslieferung veranlassen soll, eine politische ist oder mit einer politischen Tat derart im Zusammenhang steht, daß sie diese vorbereiten, sichern, decken oder abwehren sollte« (§ 3, Abs. 1). Als politische Taten sollten dem ›Deutschen Auslieferungsgesetz‹ zufolge solche gelten, »die sich unmittelbar gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates, gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches, gegen eine verfassungsmäßige Körperschaft, gegen die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen oder Abstimmungen oder gegen die guten Beziehungen zum Ausland richten« (§ 3, Abs. 2). Straftaten mit Tötungsabsicht allerdings wurden ausgenommen, abgesehen von solchen Fällen, in denen sie »im offenen Kampfe« verübt wurden (§ 3, Abs. 3).26 Das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ vermittelte also insgesamt kein positives Recht auf individuelles Asyl. Es legte in § 1 die umfassenden Auslieferungsbefugnisse des Staates fest und formulierte in § 3 eine Beschränkung dieser Macht des Staates. Es verhinderte zwar eine Auslieferung eines politisch Verfolgten; zugleich schützte es ihn aber nicht vor Abschiebung oder Ausweisung; auch die behördliche Zurückweisung an der Grenze verhinderte das Auslieferungsgesetz nicht. Damit ging das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ als begrenztes ›Auslieferungsasyl‹ nicht über die westeuropäischen Vorbilder des 19. Jahrhunderts hinaus.27 Die Frage einer Einführung eines eigenständigen individuellen Asylrechts für politische Flüchtlinge war im Rechtsausschuss des Reichstages durchaus diskutiert worden. Die KPD hatte in der Generaldebatte den Antrag gestellt, anstelle eines ›Deutschen Auslieferungsgesetzes‹ ein »Gesetz über die Ausübung des völkerrechtlichen Asyls und die Auslieferung« zu entwerfen; denn »das Recht zur Auslieferung sei durch die Gewährung des Asyls für die vom Ausland Verfolgten begrenzt, nicht

|| 24 Werner Fraustädter, Deutsches Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929 und andere neue Vorschriften der Rechtshilfe in Strafsachen einschließlich der Auslieferung, Berlin 1930, S. 21. 25 Hutzenlaub, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, S. 29–40. 26 Hierzu siehe die Auflistung der damit verbundenen Delikte bei Peter Reisner, Die Voraussetzungen der Auslieferung und das Auslieferungsverfahren nach Erlaß des Auslieferungsgesetzes, Leipzig 1932, S. 71f.; siehe auch Hans Müller, Das politische Asyl. Eine völkerrechtliche Studie zum Problem des politischen Delikts im Auslieferungsrecht, mit einem Vorschlag zu einer modernen Klausel des politischen Asyls, Diss. Rostock 1934, S. 20–37. 27 Hutzenlaub, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, S. 41–45.

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umgekehrt das Asyl durch die Pflicht zur Auslieferung«. Deshalb sei »die Voraussetzung für die Regelung des Auslieferungsrechts die gesetzliche Regelung des Asylrechts« und die Einführung eines positiven Asylrechts als »Recht des Verfolgten auf Aufenthalt und Niederlassung im Inland«. Der Antrag der KPD wurde im Rechtsausschuss bei der Diskussion der einzelnen Bestimmungen des Entwurfs für ein ›Deutsches Auslieferungsgesetz‹ weiter präzisiert und in der Debatte im Plenum des Reichstages im Dezember 1929 noch einmal eingebracht. Bei einem Recht auf Asyl für politische Flüchtlinge müsse nicht nur die Auslieferung geregelt werden, sondern auch die Ausweisung, argumentierte der Redner der KPD: Ein Verbot der Auslieferung hindere die Polizeibehörden nicht daran, einen politischen Flüchtling als ›lästigen Ausländer‹ abzuschieben. Zudem sei es gängige Praxis der Grenzpolizeibehörden, Ausländer an der Grenze sofort zurückzuweisen, wenn sie nicht über ausreichende Personalpapiere verfügten, was bei politischen Flüchtlingen die Regel sei; selbst wenn es ihnen gelänge, die Grenze illegal zu überschreiten, um im Inland Schutz zu suchen, sei die Abschiebung aufgrund des Fehlens ordnungsgemäßer Papiere und einer Einreiseerlaubnis die Regel.28 Politische Flüchtlinge dürften aber dem Antrag der KPD-Reichstagsfraktion zufolge »unter keinen Umständen an den deutschen Grenzen abgewiesen und nach erfolgter Grenzüberschreitung ausgewiesen werden.« Solange dieser Grundsatz nicht umgesetzt werde, erfülle die Schutzbestimmung des ›Deutschen Auslieferungsgesetzes‹ für politisch Verfolgte nicht ihren Sinn. Zwar solle die Auslieferung eines politischen Flüchtlings dem Gesetz zufolge verboten werden. In den wenigsten Fällen aber könne es überhaupt zu einem Auslieferungsgesuch eines anderen Staates kommen, weil ein Großteil der Schutz suchenden politisch Verfolgten gar keine Aufnahme im Reich finde, sondern bereits an der Grenze abgewiesen worden sei. Politische Flüchtlinge könnten »keine Ruhe, keinen Aufenthalt in Deutschland finden«, sie würden vielmehr »von Grenze zu Grenze durch ganz Europa gehetzt«.29 Die Gewährung von Asyl müsse im Einzelfall durch einen besonderen Ausschuss geprüft werden, Asylberechtigte sollten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen und besondere Ausweise erhalten. Der kommunistische Antrag sah zugleich eine Einschränkung des Kreises derjenigen politisch Verfolgten vor, die Asyl erhalten konnten: Ausgenommen werden sollten solche »strafbaren Handlungen, die die Errichtung einer Monarchie oder der offenen Gewaltherrschaft der || 28 Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Alexander für die Kommunistische Reichstagsfraktion, 106. Sitzung am 2.12.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3380A, B; siehe dazu auch Felix Halle, Die politischen Flüchtlinge und das Asylrecht. Rede auf der 1. Reichstagung ›Rote Hilfe‹ am 17. Mai 1925 in Berlin, Berlin 1925. 29 Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Alexander für die Kommunistische Reichstagsfraktion, 106. Sitzung am 2.12.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3381A.

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Bourgeoisie oder einzelner ihrer Gruppen oder einer anderen Form der faschistischen Herrschaft zum Gegenstande haben, insbesondere der in Verfolg faschistischer Bestrebungen unternommene Mord oder Mordversuch«.30 Der Antrag der KPD auf die Einführung eines individuellen Asylrechts wurde ohne grundsätzliche Diskussion von den Vertretern der anderen Parteien im Rechtsausschuss abgelehnt. Reichsjustizminister Erich Koch-Weser betonte, der Begriff des Politischen sei im Antrag der KPD zu einseitig. Die Vertreter der SPD im Rechtsausschuss wandten sich nicht grundsätzlich gegen die Einführung eines Asylrechts, verwiesen aber darauf, ein Auslieferungsgesetz sei nicht der rechte Ort für die Diskussion eines Asylrechts.31 Am Schluss der Debatte forderten die SPDVertreter im Rechtsausschuss die Reichsregierung auf, ein ›Reichs-Fremdenrecht‹ zu schaffen, das sich vor allem auch der Aufgabe widmen sollte, das Asylrecht zu regeln. Der Antrag wurde knapp, bei Stimmengleichheit, abgelehnt.32 Auch dieser Antrag der SPD auf Einführung eines Asylrechts innerhalb eines reichseinheitlich geregelten Fremdenrechts spielte bei der Debatte um das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ im Reichstag erneut eine Rolle, konnte allerdings auch in diesem Gremium keine Mehrheit finden. Vor allem vor dem Hintergrund der Debatten um die Aufnahme von Leo Trotzki, der 1929 aus der UdSSR ausgewiesen und dem in Europa kein Asyl gewährt worden war, habe sich erneut die Dringlichkeit der Einführung eines Asylrechts in Deutschland gezeigt, betonte der Redner der SPD-Reichstagsfraktion.33 In der Asylgesetzgebung gelang zwar Ende der 1920er Jahre mit dem ›Deutschen Auslieferungsgesetz‹ eine Angleichung an einen westeuropäischen Rechtsstandard, der dort bereits 50 bis 100 Jahre zuvor erreicht worden war. Das begrenzte ›Auslieferungsasyl‹ aber erfasste nur einen sehr kleinen Teil der politischen Flüchtlinge überhaupt. Insgesamt war die Zahl der Auslieferungsverfahren in Deutschland relativ gering, der Anteil politischer Hintergründe minimal. 1927 waren 215 Auslieferungsbegehren beim Auswärtigen Amt eingegangen, 14 wurden abgelehnt, 153 bewilligt. Anderweitig oder noch nicht erledigt blieben am Jahresende 48 Auslieferungsersuchen. Der größte Teil der Auslieferungsersuchen kam aus den östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten Deutschlands, aus denen zugleich auch die überwiegende Zahl ausländischer Arbeitswanderer in Deutschland stammte: aus

|| 30 Ebd. 31 Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: ebd., Anlagen, Bd. 473, S. 2, 5–7. 32 Ebd., S. 33. 33 Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Marum für die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion, Sitzung am 2.12.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3376D.

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der Tschechoslowakei 64, aus Österreich 47 und aus Polen 16.34 In der ersten Jahreshälfte 1928 lag das Verhältnis bei 111 Auslieferungsersuchen zu 7 Ablehnungen, in der ersten Jahreshälfte 1929 bei 140 Ersuchen zu 4 Ablehnungen.35 Bei den Ablehnungen wiederum war nur ein Teil unter Hinweis auf eine politische Straftat abgelehnt worden. Das zeigen die Angaben für Bayern: Zwischen 1921 und 1928 wurden hier 337 Auslieferungsersuchen gezählt, die in 328 Fällen zur Auslieferung führten. Bei den neun Gesuchen, in denen die Auslieferung verweigert worden war, hatte es sich in acht Fällen um Deutsche gehandelt, die grundsätzlich an einen anderen Staat nicht ausgeliefert werden durften (gemäß Art. 112 der Weimarer Reichsverfassung). Nur in einem Fall war ein politischer Hintergrund anerkannt worden – bei einem Ungarn, der nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik von 1919 geflohen war.36 Erweitert und ergänzt in Richtung auf ein positives individuelles Asylrecht im Sinne des Antrags der sozialdemokratischen und kommunistischen Vertreter im Rechtsausschuss des Reichstags wurde das ›Deutsche Auslieferungsgesetz‹ erst kurz vor dem Ende der Weimarer Republik und wenige Wochen vor der verfassungswidrigen Absetzung der sozialdemokratisch geführten Minderheitsregierung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. In der ›Polizeiverordnung über die Behandlung der Ausländer‹ (Ausländer-Polizeiverordnung) des preußischen Innenministers vom 27. April 1932, die ab 1. Juli 1932 galt, legte § 15, Abs. 4 die »vornehme Pflicht Preußens fest, politischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren«.37 Ein Ausländer sollte dann nicht ausgewiesen werden, »wenn er glaubhaft macht, daß er als politischer Flüchtling bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat der Verfolgung ausgesetzt sein würde«. Diese Vorschrift galt auch für die Zurückschiebung von in den Grenzbezirken angetroffenen Ausländern ohne ordnungsgemäße Papiere über die preußischen Grenzen.38 Das war eine zukunftsweisende Neuerung, die über das westeuropäische Auslieferungsasyl deutlich hinausging. Bis dahin hatten im deutschen Ausweisungsrecht politische Motive explizit nicht als Hinderungsgründe für eine Abschiebung oder Abweisung an den Grenzen durch die Polizeiverwaltungen gegolten. Vielmehr hatte in Preußen, so der Rechts-

|| 34 Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1927, in: Reichsministerialblatt, 56. 1928, Nr. 51, S. 658–660. 35 Roesner, Auslieferungsstatistik für das 1. Halbjahr 1929, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 35. 1930, Sp. 156; Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1928, in: Reichsministerialblatt, 56. 1928, Nr. 52, S. 680–683. 36 Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 473, S. 28. 37 L. Gutmann, Rechte und Pflichten der Ausländer, Berlin 1932, S. 5. 38 Die neue Preußische Polizeiverordnung über die Behandlung der Ausländer (AusländerPolizeiverordnung ab 1. Juli 1932). Textausgabe, abgedruckt in: ebd., S. 7–22, hier S. 11, 13.

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wissenschaftler Ernst Isay 1923, ebenso wie in den anderen Ländern des Reiches39, im Feld von Ausweisungsrecht und Ausweisungspraxis, »noch der Polizeistaat« Bestand gehabt. Die Möglichkeiten der Ausweisung waren für die Polizeibehörden beinahe unbegrenzt: »Der Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn er sich ›lästig macht‹, ›unliebsam‹, ›unerwünscht‹ ist«. Zugleich war der Katalog der Ausweisungsgründe fast unüberschaubar: »Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mag nun der Ausländer durch strafbares oder durch bloß normwidriges Verhalten, z.B. durch Schieber- oder Valutageschäfte, durch Nichtbesitz eines ordnungsmäßigen Ausweises usw. jene Güter bedrohen), Gefahren politischer Art, kulturelle Gefahren (Überschwemmung des inländischen Gebiets durch Ausländermassen geringen Kulturgrads), wirtschaftliche Gefahren (Wohnungsnot, Überangebot an Arbeitskräften, Mangel einer ›nutzbringenden Beschäftigung‹ des Ausländers, Ernährungsschwierigkeiten).«

Auch fester Wohnsitz und dauerhafte Niederlassung standen einer Ausweisung nicht entgegen.40 Ein Erlass des preußischen Innenministeriums vom 21. Oktober 1921, der die den gleichen Gegenstand behandelnden Erlasse vom 1. November 1919 und vom 20. Februar 1920, vom 1. Juni 1920 und vom 17. November 1920, vom 28. Februar 1921 sowie vom 25. Juni 1921 und vom 17. August 1921 aufhob, fasste solche Ausweisungsgründe zu einem umfangreichen Katalog zusammen. Die im höchstens halbjährlichen Abstand erfolgenden Ausweisungserlasse lassen zum einen deutlich werden, wie undurchsichtig die Materie insgesamt war und zum anderen, wie hoch sich der Regelungsbedarf aus Sicht der Innenverwaltung darstellte. »Dabei hat als leitender Gedanke zu gelten«, formulierte das preußische Innenministerium, »daß die andauernde Notlage des Staates, insbesondere die noch immer vorhandenen Ernährungsschwierigkeiten, die Wohnungsnot und die Lage des Arbeitsmarktes dazu zwingen, die Genehmigung zum Aufenthalt in Preußen auf Ausländer zu beschränken, deren Zuwanderung und Aufenthalt im Inlande als erwünscht angesehen werden kann oder wenigstens den auf das Gesamtwohl zu nehmenden Rücksichten nicht widerspricht. Gegen die weitere Zuwanderung anderer Ausländer sollten die Landesgrenzen im allgemeinen gesperrt bleiben. Bereits Eingewanderte, die sich der Erlaubnis zum Verbleiben im Inlande unwürdig gezeigt haben, oder

|| 39 Die Regelungen in den anderen deutschen Staaten entsprachen weitgehend den preußischen Vorschriften; Werner Kobarg, Ausweisung und Abweisung von Ausländern, Berlin-Grunewald 1930, S. 77f.; Wilhelm A. Behr, Die Auslieferung im Deutschen Rechts- und Bundesstaat. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung zum Deutschen Auslieferungsrecht vom 23.12.1929, Diss. Bonn 1931, Abschnitt B. 40 Ernst Isay, Das deutsche Fremdenrecht. Ausländer und Polizei, Berlin 1923, S. 214f.; siehe auch Behr, Die Auslieferung im deutschen Rechts- und Bundesstaat, S. 49–53, 67–72; Heinrich Pohl, Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern im Auslieferungswesen, in: Zeitschrift für Völkerrecht, 14. 1928, S. 1–22, hier S. 3f.; Karl Doering-Manteuffel, Die rechtlichen Grundlagen für die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland, Diss. Erlangen 1929, S. 87f.

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dem Staate sonst lästig fallen, sind im Wege des Zwanges zur Abwanderung zu bringen, d.h. auszuweisen.«41

Konnte eine Ausweisung nicht erfolgen, weil zum Beispiel die Aufnahme an der Grenze durch einen anderen Staat verweigert wurde, erfolgte eine Internierung, die nach den Vorschriften des Erlasses vom 21. Oktober 1921 allerdings nicht als Strafe galt, sondern als »Unterbringung in einem Sammellager«, die ein »Untertauchen in den Großstädten und den dichtbevölkerten Industriebezirken« verhindern sollte. Internierungslager gab es für diesen Zweck in Cottbus-Sielow (Provinz Brandenburg) und in Eydtkuhnen (Ostpreußen). »Diese Lager sind auch zur Aufnahme von Frauen und Kindern eingerichtet«. Die Lage beider Internierungslager an den preußischen Ostgrenzen lässt deutlich werden, dass Ausweisungen vornehmlich Ausländer aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa betrafen, wie auch Isay vermerkt.42 Im Juli 1923 wurde die Internierung in Sammellagern schließlich aus Kostengründen untersagt, die Sammellager selbst wurden geschlossen.43 Ausweisung blieb, nachdem der Ministerialerlass vom 21. Oktober 1921 schließlich am 24. August 1923 leicht modifiziert worden war, bis zur preußischen Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 eine kaum beschränkte Maßnahme der Polizeibehörden, gegen die der Rechtsweg über eine Verwaltungsklage nicht eingeschlagen werden konnte.44 Jede Ausweisung war erlaubt, wenn »der Ausländer den auf das Gemeinwohl des Gaststaates zu nehmenden Rücksichten zuwider gehandelt hat«, formulierte der Ausweisungserlass des preußischen Innenministers vom 24. August 1923. Sicherheitsgefahren brauchten von daher nicht vorzuliegen. Verwaltungsbeschwerden waren zwar möglich, hatten aber keine aufschiebende Wirkung. Der Willkür bei den Ausweisungen war auch deshalb kaum eine Schranke gesetzt, weil die Ausweisungsbefugnis bei den Orts- und Kreispolizeibehörden lag – anders als in anderen europäischen Staaten, wo ausschließlich die Innen- oder Justizministerien, teilweise auch das Staatsoberhaupt die Ausweisungsbefugnisse innehatte. Damit war in Preußen eine einheitliche Ausweisungspolitik faktisch unmöglich, zumal häufig die Begründungen für Ausweisungen nur auf lokale Interessen zurückgeführt werden konnten, denen allein schon durch die Ortsverweisung Genüge getan worden wäre.45 Damit blieb zugleich im Umkehrschluss auch eine einheitliche Asylpolitik faktisch unmöglich.

|| 41 Runderlass preußisches Ministerium des Innern in Berlin, 21.10.1921, Bundesarchiv Berlin (BArch B), R3901, Nr. 766. 42 Isay, Das deutsche Fremdenrecht, S. 220. 43 Kobarg, Ausweisung und Abweisung von Ausländern, S. 75; siehe auch Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 327–343. 44 Ebd., S. 70f., 76. 45 Ebd., S. 72–74.

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Die klare Beschränkung des Ausweisungskatalogs durch die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 bei politischen Flüchtlingen, aber auch in anderen Fällen (mehr als fünf- beziehungsweise zehnjährige Anwesenheit im Reichsgebiet, Alter unter 15 Jahren; unbillige Härte für Ehefrau und minderjährige Kinder, erfolgloses Auslieferungsgesuch des Staates, in den abgeschoben werden sollte) sowie die Entwicklung eines beschränkten Kanons von Straftaten, die mit einer Ausweisung geahndet werden konnten, stellte demgegenüber eine wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung von Ausländern und insbesondere von politischen Flüchtlingen dar. Das galt auch deshalb, weil die Zulassung von Ausländern mit der Aufenthaltserlaubnis (§ 1) einen klaren Rechtstitel erhielt. Nach Einschätzung des Rechtswissenschaftlers Günter Renner legte die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 »mit ihrer Systematik und ihren Bestands- und Schutzvorschriften […] den Grundstein für die spätere Ausländergesetzgebung in Deutschland.« Sie sei »trotz einiger restriktiver Bestimmungen […] im Grunde genommen von weitsichtiger Liberalität gekennzeichnet« gewesen.46 Aber auch die enthaltenen Asylregelungen, die in etwa den später in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 festgeschriebenen Maßstäben entsprachen, wurden angesichts der wenige Monate später folgenden nationalsozialistischen Machtübernahme für die Rechtspraxis nicht mehr relevant. Deutschland wurde nach 1933, wie bereits im 19. Jahrhundert, nun aber mit ganz anderen Dimensionen, wieder ein asylfeindliches Land, das selbst Hunderttausende ins Exil trieb.

4 Praktiken des Flüchtlingsschutzes und Internationalisierung der Flüchtlingspolitik Die Aufnahme politisch motivierter oder politisch bedingter Zuwanderungen konnte angesichts des schmalen Anwendungsbereichs der getroffenen asylrechtlichen Regelungen in der Weimarer Republik ausschließlich über die Duldung einzelner Gruppen oder über völkerrechtliche Bindungen erfolgen.47 Völkerrechtlich unzulässig waren etwa Abschiebungen und Auslieferungen von Ausländern, die sich dem

|| 46 Günter Renner, Ausländerrecht in Deutschland. Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 18; siehe auch ders., Staatliche Souveränität und die Verweigerung des weiteren Aufenthalts. Zur Geschichte des deutschen Ausweisungsrechts, in: Klaus Barwig u.a. (Hg.), Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat. Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 1995, Baden-Baden 1996, S. 23–38, hier S. 33f. 47 Hierzu und zum Folgenden Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, S. 219–267; Annemarie H. Sammartino, The Impossible Border. Germany and the East, 1914–1922, Ithaca 2010, S. 171–194.

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Militärdienst entzogen hatten.48 Das betraf vor allem nach Deutschland ausgewichene polnische Staatsbürger (in erster Linie im polnisch-sowjetischen Krieg von 1920). Geduldet wurden im Deutschland der Weimarer Republik vor allem osteuropäische Juden, die geltend machen konnten, vor Pogromen geflohen zu sein, sowie Flüchtlinge der Russischen Revolution und des folgenden Bürgerkriegs. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgewirkungen der Duldung, die insgesamt einen sehr prekären Aufenthaltsstatus bedeutete, sollen anhand dieser beiden Beispiele im Folgenden kurz vertieft werden: In dem halben Jahrhundert zwischen 1880 und 1929 verließen rund 3,5 Millionen Juden Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa; Hauptziel waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Deutschland war für osteuropäische Juden bis zum Ersten Weltkrieg ganz wesentlich nur Durchgangsstation. Nur rund 78.000 osteuropäische Juden wanderten zwischen 1880 und 1914 in das Reich ein, sie bildeten damit eine ausgesprochen kleine Gruppe unter den rund 2 Millionen ostmittel-, südost- und osteuropäischen Juden, die über Hamburg und Bremen in diesem Zeitraum Europa verließen.49 Im Ersten Weltkrieg erhöhte sich die Zahl der aus dem Osten Europas stammenden Juden im Reich erheblich; Hintergrund war eine deutsche Anwerbepolitik, die angesichts des Arbeitskräftemangels im Reich rund 30.000 ›Ostjuden‹ im von deutschen Truppen besetzten Teil Russisch-Polens rekrutierte. Im April 1918 aber wurde die Rekrutierung osteuropäisch-jüdischer Arbeitskräfte untersagt – eine ethnonational und antisemitisch motivierte Abwehrpolitik hatte sich nach erheblichen Protesten, insbesondere auch aus den Verbänden des ›Organisierten Nationalismus‹, gegen eine auf Arbeitskräfteanwerbung um jeden Preis ausgerichtete Politik durchgesetzt.50 Mit Kriegsende 1918 scheiterte die geplante Repatriierung51: Angesichts des virulenten Antisemitismus waren die ostmittel- und osteuropäischen Staaten, vor allem Polen, aber auch die Tschechoslowakei, die baltischen Staaten, Ungarn und die Ukraine, nicht bereit, Rückwanderer aus Deutschland aufzunehmen. Im Gegenteil: Es kam im Kontext der Staatsbildungen vor dem Hintergrund tiefgreifender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen zu schweren gewalttätigen Ausschrei-

|| 48 Otto Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, Köln 1962, S. 119f.; Hans Hahn, Das materielle Auslieferungsrecht im Deutschen Auslieferungsgesetz, Diss. Erlangen 1930, S. 35f. 49 Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/ Oxford 1987, Kap. I; Michael Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung 1881–1914. Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Stuttgart 1988, Kap. 2 und 6. 50 Hierzu siehe den Beitrag von Jens Thiel in diesem Band. 51 Hierzu und zum Folgenden siehe auch Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986, S. 250–323; Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914–1923, Hildesheim 1995, S. 55–60.

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tungen gegen Juden52, deren Zahl auf nicht weniger als 2.000 beziffert worden ist. Zehntausende wurden ermordet. Viele Juden suchten den Weg über die Grenzen nach Westen, der Völkerbund schätzte ihre Zahl 1921 auf 200.000, andere Quellen sprechen sogar von 300.000.53 Eine wichtige Durchgangsstation auf dem Weg vor allem nach Deutschland, Frankreich, in die Niederlande, nach Belgien, Großbritannien und in die Vereinigten Staaten von Amerika war Polen, das 1921 fast 100.000 jüdische Flüchtlinge aus Russland und der Ukraine beherbergte. Weitere Transitländer bildeten die Freie Stadt Danzig, deren Hafen zwischen 1920 und 1925 rund 60.000 osteuropäische Juden zur Weiterreise nutzten, Rumänien, wo der Völkerbund 1922 rund 45.000 jüdische Flüchtlinge zählte, sowie die Tschechoslowakei und insbesondere Prag, wo innerhalb von drei Monaten Mitte 1921 ca. 10.000 durchreisende jüdische Flüchtlinge gezählt wurden. Nicht selten forcierten diese Staaten die schnelle Weiterwanderung. Rumänien entzog dem größten Teil der jüdischen Flüchtlinge die Aufenthaltsgenehmigung und schob sie ab. Polen verhängte 1921 eine Grenzsperre nach Osten, betrieb ebenfalls Massenausweisungen und drohte mit Abschiebungen in die Herkunftsländer. Unterstützung kam vor allem von jüdischen Hilfsorganisationen, seltener von Seiten des Völkerbundes.54 Trotz einer Grenzsperre kamen bis 1921 rund 70.000 Juden aus Ostmittel- und Osteuropa nach Deutschland. Zumindest in den ersten Monaten nach Kriegsende konnten die deutschen Grenzen relativ einfach überwunden werden. Die militärisch gesicherten Grenzsperrmaßnahmen gegen Juden vom April 1918 hatten ein völliges Zuwanderungsverbot bedeutet. Nach dem Ende des Krieges gab es diese vollständige Blockade des Grenzübertritts nicht mehr; es blieb stattdessen bei einer allgemeingültigen, also keineswegs nur Juden betreffenden Visumpflicht, wie sie am 21. Juni 1916 eingeführt worden war.55 Einreisebegründungen wurden geprüft und

|| 52 Zusammenfassend Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 4. Aufl. München 1998, S. 186– 204; Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922, Wiesbaden 1981, S. 181–264; Dietrich Beyrau, Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918–1939, in: Geschichte und Gesellschaft, 8. 1982, S. 205–232, hier S. 217–228; Ilya Trotzky, Jewish Pogroms in the Ukraine and in Byelorussia (1918–20), in: Gregor Aronson u.a. (Hg.), Russian Jewry 1917–1967, New York 1969, S. 72–87. 53 Eugene M. Kulischer, Jewish Migrations. Past Experiences and Post-War Prospects, New York 1943, S. 24f. 54 Marrus, Die Unerwünschten, S. 72–80; Ezra Mendelsohn, The Jews of East Central Europe between the World Wars, Bloomington 1987. 55 Verordnung, betreffend anderweite Regelung der Paßpflicht. Vom 21. Juni 1916, in: RGBl. 1916, S. 599; ergänzt wurde diese Verordnung Mitte 1919: Verordnung über die Abänderung der Verordnung vom 21. Juni 1916, betreffend anderweite Regelung der Paßpflicht. Vom 10. Juni 1919, in: ebd., 1919, S. 516: »Wer das Reichsgebiet verläßt oder wer aus dem Ausland in das Reichsgebiet eintritt, ist verpflichtet, sich durch einen Paß über seine Person auszuweisen. Der Paß bedarf vor dem jedesmaligen Grenzübertritte des Sichtvermerks der zuständigen deutschen Behörde.«

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der Aufenthalt in der Regel zeitlich befristet.56 Visumpflicht und Grenzkontrollen konnten allerdings »nicht mit durchschlagendem Erfolge« durchgesetzt werden, wie der preußische Innenminister im November 1919 zugab: Personalmangel verhinderte eine vollständige Überwachung der preußischen Ostgrenze, außerdem hatten die Verschiebung eines erheblichen Teils der östlichen Staatsgrenzen und die allfälligen Grenzkonflikte mit dem neuen polnischen Staat einen erheblichen sicherheitspolitischen Kontrollverlust zur Folge.57 Mit der zunehmenden Konsolidierung der neuen Grenzen wurden illegale Grenzübertritte schwieriger. Eine Verbesserung des grenzpolizeilichen Regimes lag im besonderen Interesse des preußischen Innenministeriums, um eine vermehrte Zuwanderung weiterer »legitimationsloser Elemente« zu verhindern.58 An der Grenze aufgegriffene Personen wurden unmittelbar über die Grenze zurückgeschoben, Streifen der Grenzpolizei im Hinterland zur Überwachung der Wege, in Eisenbahnzügen und auf grenznahen Bahnhöfen verstärkt. Zumindest Preußen duldete zunächst den Aufenthalt osteuropäisch-jüdischer Flüchtlinge. In einem Erlass vom 1. November 1919 nahm das preußische Innenministerium »trotz der Nöte der inländischen Bevölkerung aus völkerrechtlichen und aus Gründen der Menschlichkeit zur Zeit und bis auf weiteres grundsätzlich davon Abstand«, die osteuropäischen Juden auszuweisen, »selbst wenn sie unter Umgehung der Grenzsperre und ohne im Besitz der vorgeschriebenen Legitimationspapiere und der Einreiseerlaubnis zu sein, eingewandert sind«; denn bei einer Ausweisung in ihre Herkunftsländer drohe ihnen »nach Lage der Verhältnisse vielfach unmittelbare Gefahr für Leib und Leben«, zumindest aber eine »Bestrafung wegen Fahnenflucht und Wehrpflichtentziehung«.59 Die Schutzgewährung war umstritten. In einer Besprechung der zuständigen Reichs- und Länderressorts wurde der preußischen Staatsregierung vorgehalten, geltendes Recht zu brechen. »Mit Sicherheit sei zu erwarten, daß die Aussicht, auch bei unerlaubter Überschreitung der Reichsgrenze in Preußen geduldet zu werden, für die Ostjuden in erhöhtem Maße einen Anreiz zur unerlaubten Einwanderung nach Deutschland bilden werde«, hob der Vertreter des Reichsinnenministeriums hervor. »Insofern bedeute die in Preußen getroffene Regelung eine große Gefahr für die einheimische Bevölkerung«, eine Auffassung, der sich die anderen Reichsressorts und die beteiligten außerpreußischen Ländervertreter anschlossen. || 56 Auswärtiges Amt in Berlin an sämtliche diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen und Paßstellen, 26.3.1923, BArch B, R3901, Nr. 785. 57 Im Osten könne »jeder mühelos ohne Ausweispapiere die Reichsgrenze überschreiten«; Niederschrift über das Ergebnis der am 10. November 1919 auf Einladung des Reichministeriums des Innern im Reichsratssitzungssaal des Reichstags abgehaltenen Beratung, betreffend fremdenpolizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung der Zuwanderung von Ausländern, BArch B, R3901, Nr. 571. 58 Runderlass preußisches Ministerium des Innern in Berlin, 1.11.1919, ebd. 59 Ebd.

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Gestützt wurde diese Position durch eine Expertise des Reichswanderungsamtes60, das die von Preußen betonte ›Gefahr für Leib und Leben‹ anzweifelte: »Die von den vorbotswidrig eingewanderten Ostjuden stets vorgeschützte Pogromgefahr im Abwanderungsland bestehe entweder überhaupt nicht oder nur in einer Form, für welche die Bezeichnung ›Pogrom‹ nicht zutreffe«. Anzunehmen sei vielmehr, betonte das Reichswanderungsamt, dass die Zuwanderung der osteuropäischen Juden »durch praktische Gründe veranlaßt werde. In Deutschland sei trotz der dort herrschenden Not die Lebenshaltung ungleich billiger und bequemer als in den östlichen Randstaaten. Auch seien dort die jüdischen Elemente, welche sich mit unerlaubten Geschäften befaßten, gegenwärtig bei weitem nicht so eingeengt, wie z.B. in Polen, wo Betrügereien weniger durch die Behörden als vielmehr durch Selbsthilfe der Bevölkerung geahndet würden.«

Resümierend hob das Reichswanderungsamt hervor: »Flucht vor persönlichen Gefahren für Leben und Eigentum und Fahnenflucht dienten in der großen Mehrzahl der Fälle lediglich als Vorwand für die verbotswidrige Einwanderung nach Deutschland.«61 1919–1923 verschärften sich antisemitische Aktivitäten in Deutschland deutlich. Das galt sowohl für offene Gewalt (Straßenkrawalle, Überfälle, Geiselnahmen) gegen osteuropäische Juden62 als auch für die Initiierung einer weitaus restriktiveren Politik auf Reichs- und Länderebene.63 In Bayern kulminierte, ähnlich wie in Rumänien, Polen oder Österreich, der regierungsamtliche Antisemitismus 1923 in dem Versuch der Initiierung einer Massenausweisung.64 In Preußen wurde die 1919 noch großzügige Asylgewährung immer schärferen Restriktionen unterworfen. Ein Erlass des preußischen Innenministers vom 17. November 1920 verdeutlicht das: Zwar könne den ›ostjüdischen‹ Einwanderern »ein Asylrecht grundsätzlich« nicht versagt werden. »Die Gewährung eines solchen Asylrechts setzt aber voraus, daß dadurch nicht wesentliche Lebensinteressen des eigenen Landes beeinträchtigt werden. Diese Voraussetzung ist heute nicht mehr unbeschränkt gegeben«. Damit wurde die Gewährung von Asyl nicht davon abhängig || 60 Zur Geschichte des Reichswanderungsamts siehe Klaus J. Bade, »Amt der verlorenen Worte«: Das Reichswanderungsamt 1918 bis 1924, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 39. 1989, H. 3, S. 312– 321. 61 Niederschrift über das Ergebnis der am 10. November 1919 auf Einladung des Reichministeriums des Innern im Reichsratssitzungssaal des Reichstags abgehaltenen Beratung, betreffend fremdenpolizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung der Zuwanderung von Ausländern, BArch B, R3901, Nr. 571. 62 Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 27–37. 63 John P. Fox, Weimar Germany and the ›Ostjuden‹, 1918–1923: Acceptance or Expulsion?, in: Anna C. Bramwell (Hg.), Refugees in the Age of Total War, London 1988, S. 51–68. 64 Reiner Pommerin, Die Ausweisung von ›Ostjuden‹ aus Bayern 1923. Ein Beitrag zum Krisenjahr der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 34. 1986, H. 3, S. 311–340.

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gemacht, ob und inwieweit die zugewanderten osteuropäischen Juden Verfolgungen ausgesetzt waren, vielmehr sollte das Interesse des Aufnahmelandes im Vordergrund stehen. Nicht nur diejenigen Zuwanderer mussten dem Erlass zufolge ausgewiesen werden, die sich einer Straftat schuldig gemacht hatten, sondern auch jene, »denen es nicht gelingt, Unterkommen und Arbeit im Inlande zu finden«. Falls eine Ausweisung nicht möglich sei, müsse eine Unterbringung in den erwähnten ›Internierungslagern‹ erfolgen, die im Frühjahr 1921 eingerichtet und 1923 aus Kostengründen wieder aufgelöst worden waren. Selbst jene osteuropäisch-jüdischen Zuwanderer, die im Inland geduldet wurden, sollten veranlasst werden, »sich in anderen Ländern ein Fortkommen zu suchen, die wirtschaftlich besser stehen als wir«.65 Solche Weiterwanderungen, motiviert durch die antisemitischen Ausschreitungen, die zunehmend restriktivere Asylpolitik und die angespannte wirtschaftliche Lage der frühen Weimarer Republik, ließen die im Ersten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich angestiegene Zahl der osteuropäischen Juden rasch wieder sinken. Bei der Volkszählung 1925 wurden rund 108.000 Juden aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa gezählt. Damit hatte sich ihre Zahl im Vergleich zur vorangegangenen Volkszählung von 1910 nur um 30.000 erhöht, obwohl rund 100.000 allein zwischen 1914 und 1921 zugewandert waren. Bis zur nächsten Volkszählung 1933 sank ihre Zahl weiter um rund 10.000 auf 98.000. Ähnliche Muster zeigten sich im Kontext der Zuwanderung aus dem Russland von Revolution und Bürgerkrieg.66 Während im Revolutionsjahr 1917 erst wenige Menschen Russland angesichts der politischen Umwälzungen verlassen hatten, darunter viele Adelige und Unternehmer, die häufig große Teile ihres Besitzes retten konnten, entwickelte sich die Abwanderung im Zuge des Bürgerkriegs zur Massenerscheinung. Vor allem 1920 und 1921 nahm die Zahl der Flüchtlinge mit den Niederlagen der weißen Truppen sehr stark zu. Die schwere Hungersnot in der UdSSR 1921/22, von der nicht weniger als 22 Millionen Menschen betroffen waren und in || 65 Runderlass preußisches Ministerium des Innern in Berlin, 17.11.1920, BArch B, R3901, Nr. 761. 66 Hierzu und zum Folgenden Hans-Erich Volkmann, Die russische Emigration in Deutschland 1919–1929, Würzburg 1966, S. 1–9; Karl Schlögel, Berlin: ›Stiefmutter unter den russischen Städten‹, in: ders. (Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994, S. 234–259; Bettina Dodenhoeft, »Laßt mich nach Rußland heim«. Russische Emigranten in Deutschland von 1918 bis 1945, Frankfurt a.M. 1993; Ludger Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Politik, Wien 1984, S. 47f. Die Schätzungen über die Zahl der Flüchtlinge aus Russland gehen weit auseinander, sie reichen von einer Million bis zu drei Millionen. Einen niedrigen Wert von 1 Million nehmen Zolberg, Suhrke und Aguayo an, indem sie auf jene Nationalitäten innerhalb des ehemaligen Russischen Reiches hinweisen, die eine ›Rückwanderung‹ antraten (sie nennen vor allem Polen und Deutsche) und diese nicht zu den Flüchtlingen zählen; Aristide R. Zolberg/Astri Suhrke/Sergio Aguayo, Escape from Violence. Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World, New York/Oxford 1989, S. 17.

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deren Verlauf wahrscheinlich 5 Millionen Menschen starben67, trug erheblich zum Anstieg der Abwanderungen bei. Hinzu kamen zahlreiche Ausweisungen aus der UdSSR, die 1922 ihren Höhepunkt erreichten. Die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Zarenreich wurden buchstäblich über die ganze Welt verstreut, der größte Teil aber sammelte sich zunächst in Polen, den Balkanländern, in Deutschland und Frankreich, starke Flüchtlingskolonien aber gab es selbst in den chinesischen Städten Harbin und Shanghai. Deutschland wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit eines der zunächst wichtigsten Aufnahmeländer für die russländischen Flüchtlinge. Insgesamt sollen sich nach Zählungen der ›Russischen Delegation für Kriegsgefangene und Rückwanderung in Deutschland‹ 1919 rund 100.000 Flüchtlinge im Deutschen Reich aufgehalten haben. 1920 berichtete dann das Amerikanische Rote Kreuz von 560.000 russländischen Flüchtlingen in Deutschland. Diesen wahrscheinlich zu hoch liegenden Angaben zufolge gab es in Europa zu diesem Zeitpunkt rund 2 Millionen russländische Flüchtlinge, nur in Polen lag ihre Zahl mit rund einer Million über der in Deutschland. Frankreich hatte rund 175.000 aufgenommen, die Türkei und Österreich jeweils 50.000, Finnland 25.000, Jugoslawien und Italien jeweils 20.000.68 Seinen Höhepunkt erreichte der Zustrom aus den Gebieten des ehemaligen Zarenreichs in den Jahren 1922 und 1923. Nach Angaben des Völkerbundes und des Auswärtigen Amtes hielten sich in diesen beiden Jahren rund 600.000 russländische Flüchtlinge im Reichsgebiet auf, von denen 1923 allein in Berlin rund 360.000 Schutz gefunden hatten. Vor allem die Wohnungsnot in Deutschland schien die Aufnahme zu einem erheblichen sozialen Problem werden zu lassen. Sammelunterkünfte wurden in großer Zahl eingerichtet, nicht selten handelte es sich um ehemalige Kriegsgefangenenlager. Mehrere ›Russenlager‹ entstanden, die zum Teil für viele Jahre notdürftig Unterkunft boten. Nicht nur Probleme des Wohnungs- und Arbeitsmarkts waren Hintergrund für den Rückgang der Zahl russländischer Flüchtlinge in Deutschland nach 1923. Hinzu kam eine insgesamt sehr restriktive deutsche Flüchtlingspolitik, die sich an einem Verbleiben der Zuwanderer in Deutschland nicht interessiert zeigte: Wie die osteuropäischen Juden wurden auch die russländischen Flüchtlinge höchstens geduldet, ohne dass mit der Duldung ein Rechtsanspruch auf Aufenthalt verbunden gewesen wäre. Ausweisungen blieben jederzeit möglich. Die deutschen Arbeitsämter durften russländische Flüchtlinge nicht vermitteln. Diese hatten deshalb kaum eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt in Deutschland legal zu verdienen und damit die Voraussetzung zu schaffen, von Fürsorgeleistungen unabhängig zu werden und

|| 67 Helmut Altrichter, »Offene Großbaustelle Rußland«. Reflexionen über das »Schwarzbuch des Kommunismus«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 47. 1999, H. 3, S. 321–361, hier S. 351, 353. 68 Ernst Drahn, Russische Emigration. Eine kulturstatistische Studie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 89. 1930, S. 124–130, hier S. 125f.

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die Lagerunterkünfte zu verlassen. Der größte Teil von ihnen sah deshalb für sich in Deutschland keine Zukunft.69 Starke Weiterwanderungen waren die Folge: Nach 1923 sank die Zahl der russländischen Flüchtlinge im Exilland Deutschland immer weiter ab: Für 1925 gibt die ›Flüchtlingsinspektion des Internationalen Arbeitsamtes‹ in Genf eine Zahl von noch 150.000 russländischen Flüchtlingen an; für 1928 war ebenfalls von etwa 150.000 die Rede, für 1933 noch von ca. 100.000, von denen in Berlin rund 40.000 lebten. Bildete zunächst das ›Russische Berlin‹ das europäische Zentrum der Emigration mit wichtigen kulturellen und politischen Funktionen, übernahm mit der Abwanderung vieler Flüchtlinge aus Deutschland Mitte der 1920er Jahre das ›Russische Paris‹ diese Rolle und behielt sie bis zum Einmarsch der deutschen Truppen 1940. Frankreich verfügte zwar auch nicht über ein ausgebautes Asylrecht, verfolgte aber streckenweise in den 1920er Jahren eine weniger restriktive Ausländerpolitik, weil es einen großen Bedarf an ausländischen Arbeitskräften hatte.70 Es war deshalb bereit, ein höheres Maß an Rechts- und Statussicherheit zu gewähren als Deutschland. Schätzungen über die Zahl der russländischen Flüchtlinge in Frankreich bewegen sich für die späten 1920er Jahre zwischen 120.000 und 400.000, wobei wohl eher eine Zahl von unter 200.000 anzunehmen ist.71 Doch das Zentrum der Emigration wanderte weiter über den Atlantik, Nordamerika wurde immer häufiger Ziel der stufenweisen räumlichen Distanzierung von der Heimat. Der Zweite Weltkrieg verlagerte endgültig das Zentrum der russländischen Emigration in die USA mit einem politischen und kulturellen Schwergewicht auf New York. In den 1920er Jahren begann – sehr zögerlich – die Geschichte supranationaler Flüchtlingshilfsorganisationen: Eine vom Internationalen Roten Kreuz im Februar 1921 einberufene Konferenz aller an der Flüchtlingshilfe beteiligten privaten Hilfsorganisationen forderte vom Völkerbund die Einrichtung einer internationalen Koordinationsstelle und die Einführung eines international einheitlichen Rechtsstatus für alle Flüchtlinge.72 Der Völkerbund reagierte mit einer Regierungskonferenz im || 69 J.M. Rabinowitsch, Die Rechtslage der staatenlosen russischen Emigranten in Deutschland, in: Osteuropa. Zeitschrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens, 3. 1927/28, S. 617–625, hier S. 620; siehe auch Sigismund Gargas, Die Staatenlosen, Leiden 1928, Kap. V. 70 Greg Burgess, Refuge in the Land of Liberty. France and its Refugees, from the Revolution to the End of Asylum, 1787–1939, Basingstoke 2008, S. 145–164; Michael G. Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume. Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880–1940, Frankfurt a.M. 2012. 71 Robert H. Johnston, ›New Mecca, New Babylon‹. Paris and the Russian Exiles, 1920–1945, Kingston/Montreal 1988, S. 23–25. 72 Hierzu und zum Folgenden: Wiltrud von Glahn, Der Kompetenzwandel internationaler Flüchtlingshilfsorganisationen – vom Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1992, S. 10–26; Cécile M. Ringgenberg, Die Beziehungen zwischen dem Roten Kreuz und dem Völkerbund, Frankfurt a.M. 1970, S. 58–70; Otto Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, Darmstadt 1983, S. 23–30; ders., Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 215–225, 230–235; Werner von

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August 1921, bei der Vertreter wichtiger Aufnahmeländer für russländische Flüchtlinge zusammenkamen. Deutschland wurde nicht beteiligt, weil es nicht Mitglied des Völkerbundes war. Die Konferenz einigte sich auf die Ernennung des norwegischen Polarforschers und Diplomaten Fridtjof Nansen zum ›Hohen Kommissar des Völkerbundes im Zusammenhang mit dem Problem betreffend die russischen Flüchtlinge‹. Nansen hatte bereits seit Frühjahr 1920 erfolgreich als ›Hoher Kommissar des Völkerbundes für die Heimschaffung der Kriegsgefangenen aus Russland‹ sowie als Hochkommissar des Internationalen Roten Kreuzes fungiert mit der Aufgabe, die Bekämpfung der Hungersnot in Sowjetrussland zu koordinieren und zu organisieren. Vom Völkerbund wurde er mit dem Auftrag ausgestattet, als Völkerbundskommissar für russländische Flüchtlinge deren Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen als drängendstem wirtschaftlichen und sozialen Problem zu gewährleisten. Zudem sollte er Hilfsmaßnahmen von Seiten der betroffenen Staaten und privater Hilfsorganisationen koordinieren. Den dritten Aufgabenbereich markierte die Lösung der Passfrage und die Verbesserung des aufenthaltsrechtlichen Status der russländischen Flüchtlinge, der sich durch die Ausbürgerungsdekrete der sowjetrussischen Regierung im Oktober und Dezember 1921 noch verschlechtert hatte. Eine Lösung in der Passfrage wurde mit einem völkerrechtlichen Übereinkommen der wichtigsten 16 Aufnahmeländer im Juli 1922 erzielt, das den Teilnehmerstaaten die Vergabe von ›Nansen-Pässen‹ vorschlug. Zwar gelang es nicht, mit Hilfe des Nansen-Passes einen verfestigten Aufenthaltsstatus festzuschreiben. Immerhin bot der Nansen-Pass den russländischen Flüchtlingen aber die Möglichkeit, legal Grenzen zu überschreiten und eine Abwanderung nach Übersee zu realisieren. Insgesamt 53 Staaten schlossen sich in den folgenden Jahren dem Übereinkommen an, auch Deutschland beteiligte sich und führte 1924 den Nansen-Pass ein.73 Im Laufe der 1920er Jahre wurde das Instrument des Nansen-Passes noch mit Hilfe weiterer multilateraler Übereinkommen ergänzt. Damit wurde der Rechtsstatus der Flüchtlinge verbessert und ihre Bewegungsfreiheit erhöht. 1925 gewann die internationale Hilfe für die russländischen Flüchtlinge dadurch weiter an Durchschlagkraft, dass die Bereiche Arbeitsbeschaffung, Ansiedlung, Integration und Auswanderung in einer eigenständigen Flüchtlingsabteilung im Genfer Internationalen Arbeitsamt zusammengezogen wurden. 1929 fasste der Völkerbund seine Flüchtlingsämter im ›Internationalen Nansen-Amt für Flüchtlinge‹ zusammen. Auf die neue Flüchtlingswelle der 1930er Jahre aber war das Amt weder vorbereitet noch durfte es sich aufgrund der sehr zurückhaltenden Politik des Völkerbundes hier

|| Schmiden, Die Flüchtlingshilfe des Völkerbundes, in: Walter Schätzel/Theodor Veiter (Hg.), Handbuch des internationalen Flüchtlingsrechts, Wien 1960, S. 219–244, hier S. 219–239. 73 Bekanntmachung zur Ausführung der Paßverordnung. Vom 4.6.1924, in: RGBl., 1924, S. 613– 637, hier S. 623f.

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engagieren. Es blieb nur für die ›Nansen-Flüchtlinge‹ der 1920er Jahre zuständig und damit vor allem für russländische und armenische Flüchtlinge.

5 Fazit: prekärer Schutz durch beschränkte Duldung in der Weimarer Republik Deutschland entwickelte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum wichtigsten europäischen Zielland für Flüchtlinge. Diese Position trat das Reich seit 1922/23 an Frankreich ab. Neben der wirtschaftlichen und sozialen Krisenlage trugen migrationspolitische Entscheidungen dazu bei: Politik und Verwaltung zeigten sich an einem Verbleiben der Flüchtlinge in Deutschland meist nicht interessiert und boten weder rechtliche noch wirtschaftliche Integrationshilfen. Es gelang den Interessenvertretern der Flüchtlingsgruppen und dem preußischen Innenministerium, das zunächst eine asylfreundliche Politik vertrat, nicht, einen Asyldiskurs zu etablieren. Reichsinnenministerium und Reichsarbeitsministerium akzeptierten eine rechtliche Sonderstellung von Flüchtlingen nicht, sodass sich auch keine Ausnahmeregelungen von den restriktiven Bestimmungen in der Ausländerbeschäftigung erreichen ließen. Das erschwerte den Flüchtlingen die Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt in Deutschland legal zu verdienen und damit die Voraussetzung dafür zu schaffen, von Fürsorgeleistungen der Hilfsorganisationen unabhängig zu werden oder die Flüchtlingslager zu verlassen. Flüchtlinge wurden in der Weimarer Republik nur geduldet, die Abschiebungskompetenz der Polizeibehörden blieb, nachdem die asylfreundliche preußische Politik Anfang der 1920er Jahre an Bedeutung verlor, faktisch uneingeschränkt. Die Überforderung vieler europäischer Aufnahmestaaten und ihr weithin geringes Interesse an der Integration von Flüchtlingen in der Zwischenkriegszeit hatten zur Ausprägung erster Ansätze internationaler Lastenteilung gegenüber dem europäischen Flüchtlingsproblem geführt. Das war der Hintergrund für den – sehr zögernden – Beginn der Initiativen des Völkerbunds zur Etablierung supranationaler Flüchtlingshilfsorganisationen. Die nationalsozialistische Austreibung von Hunderttausenden sollte allerdings bald beweisen, dass diese Ansätze in der Internationalisierung der Flüchtlingspolitik vollkommen unzureichend waren. Die ohnehin protektionistischen Tendenzen der Zuwanderungs- und Asylpolitik in den europäischen Staaten der 1920er Jahre wurden angesichts der globalen ökonomischen Desintegration in der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren noch übertroffen. Das 1933 vom Völkerbund in Lausanne eingerichtete ›Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland‹ war deshalb in einer sehr schwachen Position. Alle weiteren zwischenstaatlichen Initiativen blieben am Ende ebenfalls mehr oder minder folgenlos.

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Zuwanderung von Deutschen aus den abgetretenen Gebieten: Aufnahme und Abwehr von ›Grenzlandvertriebenen‹ Die Nachfolgestaaten der mittel- und südosteuropäischen Verlierer des Ersten Weltkriegs (Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien) sahen sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit genötigt, insgesamt weit über 2 Millionen Menschen aus den verlorengegangenen Territorien aufzunehmen. Besonders große Dimensionen erreichten solche Zuwanderungsbewegungen ehemaliger Staatsangehöriger in einigen Nachfolgestaaten des untergegangenen Habsburgerreiches. Von den Menschen, die Ende der 1920er Jahre in Österreich lebten, waren fast 800.000, und damit über 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, außerhalb der neuen Grenzen auf einem der Territorien der anderen Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches geboren. Ähnliches galt für Ungarn, das 500.000 Menschen beherbergte, die nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien zugewandert waren. Im Deutschen Reich blieb der Anteil der Zuwanderer deutscher Staatsangehörigkeit aus den nach dem Ersten Weltkrieg an Polen (große Teile Posens und Westpreußens sowie Ostoberschlesien), Frankreich (Elsass-Lothringen), Belgien (EupenMalmedy), Dänemark (Tondern) und die Tschechoslowakei (Hultschiner Ländchen) abgetretenen Gebieten an der Gesamtbevölkerung zwar wesentlich geringer als in Österreich und Ungarn. Dennoch handelte es sich bei einer Zahl von rund 1 Million Menschen um die größte unter allen Zuwanderungsbewegungen, die die Weimarer Republik erlebte – und das zum überwiegenden Teil in den durch schwere wirtschaftliche, soziale und politische Krisen gekennzeichneten Nachkriegsjahren 1918– 1923. Aus Elsass-Lothringen kamen ca. 150.000 Menschen in das Rest-Reich, weitere 16.000 Zuwanderer stammten aus den ehemaligen deutschen Kolonien. Weitaus umfangreicher noch war die Zuwanderung aus den nach dem Versailler Vertrag an Polen abgetretenen Ostgebieten Preußens beziehungsweise des Reiches. Bis Mitte 1925 zählte das Statistische Reichsamt 850.000 deutsche Abwanderer aus den neuen polnischen Westgebieten. Auf die Zuwanderungsbewegung aus den ehemaligen Reichsgebieten konzentrierte sich ein erheblicher Teil der Diskussion um Flucht und Flüchtlinge in der frühen Weimarer Republik. Der Leiter der Abteilung für Flüchtlingsfürsorge des Deutschen Roten Kreuzes, Wolfram Freiherr von Rotenhan, verdeutlichte dies in einem Interview 1922: »Der Begriff Flüchtling hat sich […] seit Beendigung des Krieges wesentlich verschoben. Während des Krieges und noch lange nach dem Waffenstillstand war ›Flüchtling‹ der aus dem feindlichen Auslande verdrängte Reichsdeutsche oder deutschstämmige Auslandsdeutsche. […] Heute sind ›Flüchtlinge‹ vor allem die aus den abgetretenen und besetzten Gebieten des Reiches verdrängten

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Deutschen«.1 Obwohl eine solche Zuweisung der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf Deutsche aus den abgetretenen Gebieten eine privilegierte Aufnahme vermuten lässt, war die Migrationspolitik der Weimarer Republik alles andere als offen gegenüber der Zuwanderung jener Deutschen, die im amtlichen und öffentlichen Sprachgebrauch auch ›Grenzlandvertriebene‹ hießen. Im Folgenden soll verdeutlicht werden, welche außen- und sicherheitspolitischen sowie wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Begründungen von wem vor dem Hintergrund welchen Interesses geltend gemacht wurden, um eine Einwanderung von (ehemaligen) Reichsdeutschen aus den abgetretenen Gebieten zu beschränken oder sogar möglichst ganz zu verhindern.2

1 Die Aufnahme der Abwanderer aus ElsassLothringen – ein Vorbild für die Aufnahme deutscher Zuwanderer aus dem Osten? Unmittelbar mit dem Waffenstillstand 1918 bereits setzten Ausweisungen, Abschiebungen und Abwanderungen aus dem sogleich von französischen Truppen besetzten Elsass-Lothringen ein.3 Bei dem größten Teil der Migrantinnen und Migranten handelte es sich um Personen, die nach der Annexion Elsass-Lothringens durch das Deutsche Reich 1871 zugewandert waren; demgegenüber blieb die Zahl der abwandernden ›Alt-Elsass-Lothringer‹ gering. Das Statistische Reichsamt ging von 120.000 Menschen aus, die bis Ende des Jahres 1920 aus Elsass-Lothringen in das verkleiner|| 1 Flüchtlingsnot und Flüchtlingsfürsorge. Aus einer Unterredung des Leiters der Flüchtlingsfürsorge des Deutschen Roten Kreuzes Freiherr von Rotenhan mit einem Pressevertreter, in: Blätter des Deutschen Roten Kreuzes: Wohlfahrt und Sozialhygiene, 1. 1922, H. 11, S. 292–295, hier S. 292. 2 Zum Gesamtkomplex siehe Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 89–139; siehe hierzu auch Annemarie H. Sammartino, The Impossible Border. Germany and the East, 1914–1922, Ithaca 2010, S. 96–119. 3 François Roth, Die Rückkehr Elsaß-Lothringens zu Frankreich, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkungen – Wahrnehmungen, Essen 2001, S. 126–144, hier S. 132; zur Eingliederung Elsass-Lothringens in den französischen Staatsverband nach 1918 und den wirtschaftlichen, verwaltungstechnischen und kulturellen Problemstellungen siehe Stefan Fisch, Assimilation und Eigenständigkeit. Zur Wiedervereinigung des Elsaß mit dem Frankreich der Dritten Republik nach 1918, in: Historisches Jahrbuch, 117. 1997, S. 111–128; Christiane Kohser-Spohn, Staatliche Gewalt und der Zwang zur Eindeutigkeit: Die Politik Frankreichs in Elsaß-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Philipp Ther/Holm Sundhaussen (Hg.), Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert. Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich, Wiesbaden 2001, S. 183–202; dies., Die Vertreibung der Deutschen aus Elsaß-Lothringen 1918–1920, in: Jerzy Kochanowski (Hg.), Die ›Volksdeutschen‹ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei: Mythos und Realität, Osnabrück 2006, S. 79–94.

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te Reichsgebiet übergesiedelt waren. Davon hatten rund vier Fünftel das ehemalige ›Reichsland‹ bereits innerhalb eines Jahres nach dem Abschluss des Waffenstillstandes verlassen.4 Zwischen 1920 und 1923 stieg die Zahl noch leicht auf insgesamt ca. 150.000 an, womit diese Migration im Wesentlichen ihren Abschluss fand.5 Anders als im Falle der kriegsfolgebedingten Abwanderungen aus den östlichen Abtretungsgebieten, auf die noch einzugehen sein wird, stammten die abgewanderten Elsass-Lothringer selten aus der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Überdurchschnittlich hoch war mit etwa 16.000 hingegen die Zahl der Beamten (Verwaltungs-, Polizei-, Militär-, Post- und Bahnbeamte, Richter, Lehrer, Pfarrer). Der selbst aus Elsass-Lothringen stammende Jurist Robert Ernst kam 1920 zu dem Ergebnis, dass von den bis dahin insgesamt ermittelten etwa 110.000 Abwanderern aus ElsassLothringen allein 50.000 zu den Beamten beziehungsweise im Reichsdienst stehenden Eisenbahnarbeitern sowie deren Familienangehörigen zählten. Unter den Migrantinnen und Migranten, die nicht dem öffentlichen Dienst angehörten, entstammten in Elsass-Lothringen überdurchschnittlich viele montanindustriellen Berufen. Hintergrund war vor allem die starke Zuwanderung reichsdeutscher Erwerbstätiger im Zuge des rapiden Auf- und Ausbaus der lothringischen Montanindustrie seit dem späten 19. Jahrhundert. Überdurchschnittlich viele abgewanderte Elsass-Lothringer kamen darüber hinaus aus den Wirtschaftsabteilungen Handel und Verkehr.6 Die Aufnahme der Zuwanderer aus Elsass-Lothringen im Reich verlief nach dem Waffenstillstand im November 1918 zunächst gänzlich ungeregelt. Der größte Teil überschritt bei Kehl den Rhein und befand sich damit auf badischem Territorium. Dort boten zunächst lokale Organisationen des Roten Kreuzes Unterstützung, bald waren alle Hotels und Gasthäuser mit Elsass-Lothringern belegt. Wie die weitere Hilfe und die Weiterleitung zu regeln sein würden, blieb bis Jahresende 1918 ungeklärt. Bei wachsender Zuwanderung wurde im Januar 1919 die ›Reichszentrale für die Übernahme der vertriebenen Elsaß-Lothringer‹ in Freiburg i.Br. mit fünf Übernahmestellen an den Rheinbrücken eingerichtet. Mit Unterstützung des Roten Kreuzes in den einzelnen Ländern des Reiches konnten die Zuwanderer frei in die von ihnen gewählten Zielorte reisen. Reisende ohne Ziel wurden jenen Ländern des Reiches zugewiesen, deren Staatsangehörigkeit sie besaßen. Die Fürsorge am Zielort

|| 4 Robert Ernst, Die Eingliederung der vertriebenen Elsaß-Lothringer in das deutsche Wirtschaftsleben im Augenblick seines Tiefstandes, Berlin/Leipzig 1921, S. 20f.; Denkschrift über Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland in den Jahren 1910 bis 1920, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 1. Wahlperiode 1920, Anlagen, Bd. 372, S. 4382–4404, hier S. 4392; siehe auch Roth, Die Rückkehr Elsaß-Lothringens zu Frankreich, S. 133f. 5 Irmgard Grünewald, Die Elsaß-Lothringer im Reich 1918–1933. Ihre Organisation zwischen Integration und ›Kampf um die Seele der Heimat‹, Frankfurt a.M. 1984, S. 57. 6 Ernst, Die Eingliederung der vertriebenen Elsaß-Lothringer, S. 54–66; J. Rossé u.a. (Hg.), Das Elsaß von 1870–1932, Colmar 1938, Bd. 4, S. 87, Tab. 36.

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blieb in den Händen des Roten Kreuzes. Die Reichszentrale in Freiburg bemühte sich auch um die Arbeitsvermittlung. Für die Vermittlung der Beamten, deren Weiterbesoldung zunächst das Reich übernahm, sorgte die ›Zentralstelle für elsaßlothringische Beamte und Ruhegehaltsempfänger‹ im Reichsministerium des Innern. Sie war der dort angesiedelten ›Abteilung Elsaß-Lothringen‹ zugeordnet, der auch die gesamte Organisation zur Übernahme der Zuwanderer im Reich unterstellt wurde.7 Nur in zwei Fällen gab es Ausnahmen von der direkten Weiterleitung der elsasslothringischen Zuwanderer. Vornehmlich um den zahlreichen Beschäftigten aus dem Montanbereich die Suche nach Arbeit und Wohnung zu erleichtern, wurden vom Roten Kreuz durch deren Zentralfürsorgestellen in Essen und Münster Sammellager eingerichtet. Das Sammellager der Zentralfürsorgestelle in Essen durchliefen bis zum 1. Oktober 1920 ca. 3.000 Arbeiter mit etwa 4.000 bis 5.000 Familienangehörigen. Die durchschnittliche Aufenthaltszeit im dortigen Lager betrug zwei Monate. In Münster war die Aufenthaltszeit mit zwei bis vier Wochen deutlich kürzer; etwa 1.800 Arbeiter mit etwa 5.000 Familienmitgliedern fanden hier vorübergehend Aufnahme.8 Insgesamt verlief die wirtschaftliche und soziale Integration des weitaus überwiegenden Teils der etwa 150.000 Migrantinnen und Migranten aus Elsass-Lothringen relativ spannungsarm: Die meisten kamen so früh nach Kriegsende, dass sie mit der im Reich immer weiter verschärften Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht in dem Maße konfrontiert wurden wie später eintreffende Migrationsbewegungen.9 Ihre relativ schnelle Vermittlung in Arbeitsstellen wurde dadurch erleichtert, dass ein ganz erheblicher Teil im öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen war und nun andernorts übernommen wurde. Für die Integration in den Arbeitsmarkt förderlich war darüber hinaus die relativ große Zahl von Beschäftigten aus der Montanindustrie. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ergab sich ein erheblicher Arbeitskräftemangel in den Bergwerken an Ruhr und Emscher10: »Das rheinisch-westfälische Industriegebiet« allein habe deshalb, stellte das Reichsministerium des Innern Mitte 1922 fest, »fast die gesamte || 7 Ernst, Die Eingliederung der vertriebenen Elsaß-Lothringer, S. 104–184; Grünewald, Die ElsaßLothringer im Reich, S. 55–61, 76–85. Die Unterbringung der preußischen Beamten wurde mit dem ›Gesetz über die Unterbringung von mittelbaren Staatsbeamten und Lehrpersonen‹ vom 30.3.1920 geregelt, siehe: Unterbringungsgesetz, in: Bill Drews/Franz Hoffmann (Hg.), Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, 3. Aufl. Berlin/Leipzig 1928, S. 862f. 8 Ernst, Die Eingliederung der vertriebenen Elsaß-Lothringer, S. 113f. 9 Bericht betreffend Abbau der Vertriebenenfürsorge, Reichsministerium des Innern, Berlin, 29.7.1922, Bundesarchiv Berlin (BArch B), R3901, Nr. 788; hierzu siehe beispielsweise auch: Bericht, Reichsministerium des Innern. Abteilung für Elsaß-Lothringen, Berlin, 11.1.1921, BArch B, R1501, Nr. 18404. 10 Albin Gladen, Der Ruhrbergbau in der Inflationsperiode, in: Otto Büsch/Gerald D. Feldman (Hg.), Historische Prozesse der deutschen Inflation 1914 bis 1924, Berlin 1978, S. 188–196, hier S. 188–191.

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elsaß-lothringische Arbeiterschaft […] aufgesogen«.11 Deshalb wurden die Vermittlungsziffern der beiden Lager des Roten Kreuzes in Essen und Münster als günstig eingestuft: Robert Ernst etwa betrachtete 1920 eine obligatorische Einweisung in solche Durchgangslager nach dem Grenzübertritt als Modell für die erste Stufe einer gelenkten Integration, zumal ihm auch die Aufenthaltszeiten in den beiden Lagern als relativ kurz erschienen. Die Zuweisung in Durchgangslager habe den Vorteil, die Zuwanderer arbeits- und wohnungsmarkt-, siedlungs- und sicherheitspolitischen Überlegungen entsprechend in bestimmte Berufe und/oder Regionen lenken, zugleich aber auch die Abwanderung besser kontrollieren zu können.12 Neben der zunehmend schwierigeren Situation auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt war diese Erfahrung eine wichtige Motivation für die zuständigen Reichsstellen, im Blick auf die Aufnahme der reichsdeutschen Abwanderer aus den abgetretenen Ostgebieten auf Durchgangslager zu setzen. Allerdings gelang es damit weder, die Abwanderung zu kontrollieren noch bestimmte politische Vorgaben für die Integration zu erfüllen. Vielmehr ging es schließlich nur mehr um die Verwaltung des Mangels über die Einweisung von Zehntausenden von Menschen in Lager – »die klassische Nichtlösung des Flüchtlingsproblems«.13 Verschiedene Gründe lassen sich dafür ausmachen, dass sich die Aufnahme von Reichsdeutschen aus den an Polen abgetretenen ehemals preußischen Ostgebieten als weitaus konfliktträchtiger erwies. Dabei war ganz wesentlich, dass Rückkehrmöglichkeiten für die Zuwanderer aus Elsass-Lothringen in absehbarer Zeit als nicht realistisch erschienen. Zwar zählte auch Elsass-Lothringen zu den Gebieten, die durch eine Revision des Versailler Vertrages an Deutschland zurückfallen sollten; angesichts der französischen Machtposition schien aber selbst mittelfristig eine solche Revision nicht möglich zu sein. Polen galt der deutschen Außenpolitik demgegenüber gerade wegen seiner starken Minderheitenbevölkerung als ein schwacher ›Saisonstaat‹ mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, der nur aufgrund der massiven Unterstützung Frankreichs bestehen könne.14 Eine Revision der territorialen Veränderungen in den ehemaligen Ostgebieten des Reiches schien mittelfristig möglich. Einen hohen Stellenwert hatte für die deutsche Außenpolitik dabei die Erhaltung der deutschen Minderheit in den abgetretenen Gebieten. Abwanderungen von dort lagen deshalb nicht im Interesse des Reiches, auch wenn Zuwanderer aus den abgetrete-

|| 11 Bericht betreffend Abbau der Vertriebenenfürsorge, Reichsministerium des Innern in Berlin, 29.7.1922, BArch B, R3901, Nr. 788. 12 Ernst, Die Eingliederung der vertriebenen Elsaß-Lothringer, S. 113–115. 13 Mathias Beer, »Ich möchte die Zeit nicht missen«. Flüchtlingslager nach 1945 als totale Institutionen?, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, 29. 2000, H. 3, S. 186–193, hier S. 191f. 14 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 2. Aufl. Darmstadt 1993, S. 6–9; Gottfried Niedhart, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 3. Aufl. München 2013, S. 13–16, 76f.

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nen Gebieten des Ostens im Reich aus kriegsfolgerechtlichen, innenpolitischen und humanitären Erwägungen unterstützt wurden. Dabei gab es ganz andere Herausforderungen als im Falle der Übernahme von Elsass-Lothringern: Die Zahl der Zuwanderer war weitaus größer. Der überwiegende Teil kam später in das verkleinerte Reichsgebiet und fand eine wesentlich ungünstigere Situation auf dem Wohnungsmarkt, aber auch – nicht zuletzt wegen der ganz anderen Berufsstruktur – auf dem Arbeitsmarkt vor. Zwar gab es auch hier einen hohen Anteil von Beschäftigten aus dem staatlichen Sektor – einschließlich der Familienangehörigen lag der Anteil bei möglicherweise einem Drittel.15 Etwa die Hälfte aller Zuwanderer aber stammte wahrscheinlich aus der Land- und Forstwirtschaft, wobei ein Großteil zu den selbstständigen Landwirten und deren Familienangehörigen gehört haben dürfte. Wegen der begrenzten Ansiedlungsmöglichkeiten für Landwirte im Reich und weil im Zuge der Inflation aus einem möglichen Verkauf des Besitzes beziehungsweise aus Entschädigungszahlungen stammende Bargeldbeträge sehr schnell an Wert verloren, blieb für diese Zuwanderer die Chance gering, neuen landwirtschaftlichen Besitz zu erwerben. Göpel stellte bei einer Erhebung in 20 Durchgangslagern an einem Stichtag im Februar 1923 fest, dass von den insgesamt erfassten 1.736 Familien aus der landwirtschaftlichen Bevölkerung 1.244 vordem selbstständige landwirtschaftliche Besitzer gewesen waren. Von den im April des gleichen Jahres in den Lagern erfassten 1.450 Familien mit landwirtschaftlichem Besitz hatten mehr als ein Drittel (579) kein Vermögen mitgebracht und nur 16 ein Vermögen von mehr als einer Million Mark, was zu diesem Zeitpunkt nur mehr einem Gegenwert von rund 50 US-Dollar entsprach.16 Das Rote Kreuz zählte 1918–1920 etwa 400.000 Abwanderer aus den an Polen abgetretenen Gebieten, mit steigender Tendenz: 1918: 25.028, 1919: 123.217, 1920: 245.198.17 1921/22 blieb die Abwanderung auf hohem Niveau: Den Angaben des Reichswanderungsamts zufolge stieg die Zahl der abgewanderten Deutschen bis Ende Oktober 1922 auf knapp 780.000 an.18 Zwischen dem 1. November 1922 und || 15 Maria Wanda Wanatowicz, Die Deutschen im staatlichen Sektor des öffentlichen Lebens in Großpolen, Westpreußen und Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 48. 1999, H. 4, S. 555–582, hier S. 555f. 16 Kurt Göpel, Die Flüchtlingsbewegung aus den infolge des Versailler Vertrages abgetretenen Gebieten Posens und Westpreußens und ihre Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft, Diss. Gießen 1924, S. 215, 221–224; siehe auch J.H.E. Büttner, Die Arbeitsvermittlung für die aus Polen verdrängten Ansiedler, in: Arbeit und Beruf, 2. 1922, Nr. 5, S. 118. 17 Denkschrift über die Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland in den Jahren 1910 bis 1920, in: Verhandlungen des Reichstags, 1. Wahlperiode 1920, Anlagen, Bd. 372, S. 4384, 4398, 4400. 18 Bericht über die Wanderungsbewegung von und nach den an Polen abgetretenen Gebieten in der Zeit vom 1. November 1922 bis 31. Dezember 1923, Reichswanderungsamt in Berlin, 1.3.1924, BArch B, R1501, Nr. 18391; Einwanderung aus den Provinzen Posen und Westpreußen, in: Internationale Rundschau der Arbeit, 3. 1925, H. 3, S. 223f.

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dem 31. Dezember 1923 betrug die Abwanderung dann insgesamt nur noch 46.911 Personen, wovon die Hälfte allein in den drei Monaten von November 1922 bis Januar 1923 verzeichnet wurde, weil mit dem 10. Januar 1923 die mit dem Versailler Vertrag dekretierte freie Abwanderung nach Deutschland endete.19 Im weiteren Verlauf des Krisenjahres 1923 ging die Abwanderung immer weiter zurück bis auf 441 Personen im Dezember 1923 – das entsprach nur noch 5 Prozent des Vorjahreswertes.20 Dieser Rückgang ergab sich nicht zuletzt auch aus einer Zuzugssperre, die die Reichsregierung 1923 in Kraft gesetzt hatte, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Zuwanderung besser steuern zu können. Die Daten von Rotem Kreuz und Reichswanderungsamt entsprechen in etwa den im Rahmen der deutschen Volkszählung 1925 ermittelten rund 850.000 Menschen im neuen Reichsgebiet, die auf die – speziell für die Ermittlung von kriegsbedingten Zuwanderungsbewegungen aufgenommene – Frage nach dem Wohnort vor Kriegsbeginn 1914 Gemeinden in den abgetretenen Ostgebieten angegeben hatten.21 Die Abwanderung galt in Deutschland von vornherein als erhebliche Gefahr, die den Handlungsspielraum der deutschen Außenpolitik, die auf eine Revision der im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen zielte, einzuschränken schien. Das sprach zum Beispiel aus einer Äußerung des dem dortigen Konsulat beigeordneten ›Fürsorgekommissars für Pommerellen‹ des Deutschen Roten Kreuzes gegenüber dem Auswärtigen Amt: »Hält die deutsche Auswanderung an, so werden die Reihen des Deutschtums so gelichtet, dass der Schutz der deutschen Minderheit kaum noch durchzuführen sein wird. Alle weitergehenden Hoffnungen, eine Verbindungsbrücke zwischen Ostpreußen und dem Reich zu schaffen, müßten endgültig begraben werden«.22

Ein wesentlicher Bestandteil deutscher Außenpolitik gegenüber Polen musste die Stabilisierung der deutschen Minderheit sein. Zwei unterschiedliche Wege erschienen der Weimarer Revisionspolitik, die von allen Regierungen getragen wurde, in || 19 Marek Stażewski, Exodus. Migratcja Ludności Niemieckiej z Pomorza do Rzeszy po i Wojnie Światowej, Danzig 1998, S. 321. 20 Bericht über die Wanderungsbewegung von und nach den an Polen abgetretenen Gebieten in der Zeit vom 1. November 1922 bis 31. Dezember 1923, Reichswanderungsamt in Berlin, 1.3.1924, BArch B, R1501, Nr. 18391. 21 Vorläufige Ergebnisse der Volkszählung im Deutschen Reich vom 16. Juni 1925 mit einem Anhang: Die abgetretenen Gebiete und das Abstimmungsgebiet an der Saar nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 1. XII. 1910 (Wirtschaft und Statistik, Sonderh. 2), Berlin 1925, S. 8. 22 Bericht des Fürsorgekommissars für Pommerellen an Auswärtiges Amt in Berlin über die Lage der Deutschen in Pommerellen, 5.11.1920, zitiert nach Albert S. Kotowski, Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919–1939, Wiesbaden 1998, S. 52f.; siehe auch Preußisches Ministerium des Innern in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 9.11.1926, BArch B, R3901 Nr. 778; Rudolf von Broecker, Der Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit im Reiche. Eine Darstellung seiner Rechtslage, Berlin 1930, S. 21f.

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der Anfangsphase der Republik als besonders erfolgversprechend: Anreize für die deutsche Minderheit, in den neuen polnischen Westgebieten zu verbleiben, und direkte oder indirekte Erschwerungen der Zuwanderung von dort ins Reich.23 Anreize für das Verbleiben in den abgetretenen Gebieten suchte das Reich über eine ›vorbeugende Flüchtlingsfürsorge‹ oder ›vorweggenommene Entschädigung‹ zu leisten, bei der verschiedene Wege der finanziellen Unterstützung der deutschen Minderheit in Polen erschlossen wurden. Niemals handelte es sich dabei um amtliche Maßnahmen und Leistungen. Mit Hilfe verschiedener privater Organisationen, die verdeckt erhebliche Reichsmittel erhielten, wurden seit 1921 einerseits deutsche Unternehmen in den abgetretenen Gebieten gestützt und gefördert, vornehmlich über günstige Darlehen und Zuschüsse, auch mit dem Ziel, Arbeitsgelegenheit für Zugehörige der deutschen Minderheit zu sichern oder zu schaffen. Andererseits sollten Erwerbslosenfürsorge sowie Renten- und Pensionszahlungen die wirtschaftliche Situation der deutschen Minderheit stabil halten.24 Das Reich übernahm zudem die verdeckte Finanzierung des deutschen Vereinswesens, der Presse und des Schulwesens in Polen. Norbert Krekeler geht davon aus, dass das starke finanzielle Engagement der Weimarer Republik zugunsten der deutschen Minderheit »einen erheblichen Anteil« daran hatte, dass die Abwanderung aus den an Polen abgetretenen Gebieten seit 1923 abebbte.25 Vor allem in der Anfangsphase blieben die Bemühungen um eine Begrenzung der Abwanderung mit Hilfe der indirekten Unterstützung der deutschen Minderheit in Polen gering. Mit dem Anlaufen der ersten Förderprojekte verschärfte das Reich im April 1921 zugleich die Einreisebestimmungen für Zuwanderer aus den abgetretenen Gebieten und erweiterte damit den Maßnahmenkatalog um eine restriktive Variante: Die deutschen Konsulate durften danach nur noch dann eine Unterstützung bei der Ausreise gewähren, wenn die Antragsteller nachweisen konnten, dass auf polnischer Seite eine unmittelbarer Nötigung zur Abwanderung vorlag. Ohne die Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus durch deutsche Organisationen sollte zudem im Reich kein Entschädigungsanspruch mehr geltend gemacht werden dürfen.26 Eine weitere Beschränkung betraf die Freizügigkeit der Abwanderer nach dem

|| 23 Hierzu siehe insgesamt Karl-Heinz Grundmann, Deutschtumspolitik zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Studie am Beispiel der deutsch-baltischen Minderheit in Estland und Lettland, Hannover 1977, S. 41–60, 123–158, 339–376; Michael Fahlbusch, »Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!« Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994, S. 4–15, 27–48. 24 Hierzu siehe vor allem Norbert Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik in der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen, Stuttgart 1973, S. 51–63. 25 Ebd., S. 64. 26 Die Entschädigungsansprüche regelten das Gesetz über den Ersatz der durch die Abtretung deutscher Reichsgebiete entstandenen Schäden (Verdrängungsschädengesetz) vom 28.7.1921, in: Reichs-Gesetzblatt (RGBl.), 1921, S. 1021–1031 sowie das Gesetz über die Festsetzung von Entschädi-

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Überschreiten der Reichsgrenze. Nur diejenigen, die die Zuzugsgenehmigung einer Gemeinde in Deutschland vorlegen konnten, durften dorthin weiterreisen, alle anderen wurden als ›ziellose Flüchtlinge‹ behandelt, denen Wohnorte zugewiesen beziehungsweise die in Lager eingewiesen wurden, wenn keine Wohnungen verfügbar waren.27 Auch die Aufnahmepolitik des Reichs wurde mithin zunehmend stärker auf die Abwehr von Zuwanderungen aus den abgetretenen Gebieten ausgerichtet: Fürsorge, Unterstützung und Entschädigung der ›Grenzlandvertriebenen‹ im Reich galten als starker Anreiz zur Abwanderung. Dieses Dilemma fand eine – den seit 1921 eingeschlagenen Wegen der ›Deutschtumspolitik‹ entsprechende – Lösung unter dem restriktiven Leitsatz ›Abbau der Flüchtlingsfürsorge‹, der im Folgenden beleuchtet werden soll.

2 Abwanderung aus den abgetretenen Gebieten des Ostens: ›Heimkehrlager‹ und ›Flüchtlingsfürsorge‹ Während 1918 und 1919 der weitaus überwiegende Teil der Abwanderer aus den abgetretenen Gebieten im Osten ohne Unterstützung des Roten Kreuzes und staatlicher Stellen in das Reich zuwanderte, hatte sich das Verhältnis seit 1920 bereits umgekehrt. 1918/19 reisten rund 70 Prozent, 1920 und 1921 nur mehr 40 Prozent der Zuwanderer ohne Unterstützung ein. 1922 sank dieser Anteil weiter auf nur noch 30 Prozent.28 Bereits die erste Zusammenstellung der Richtlinien zur Fürsorge für die Zuwanderer aus den abgetretenen Gebieten von 1920 betonte in § 1 den Ausnahmecharakter der Hilfe: »Für alle Deutschen in den auf Grund des Friedensvertrages abzutretenden Gebieten gilt die Pflicht, in der bisherigen Heimat zu bleiben, auch wenn sie an einen fremden Staat abgegeben wird.«29 Bis zum Sommer 1920 gab es keine reichsweit agierende amtliche Stelle für die Verwaltung des Zuwandererstromes. Durch Kabinettsbeschluss vom 30. August 1920 wurde das ›Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge‹ geschaffen, das dem Reichsministerium des Innern zugeordnet wurde. Zum Reichskommissar ernannte die Reichsregierung den sächsi|| gungen und Vergütungen für Schäden aus Anlaß des Krieges und des Friedensschlusses (Entschädigungsordnung) vom 30.7.1921, in: RGBl., 1921, S. 1046–1067. 27 Bericht betreffend Abbau der Vertriebenenfürsorge, Reichsministerium des Innern in Berlin, 29. Juli 1922, BArch B, R3901, Nr. 788. 28 Göpel, Die Flüchtlingsbewegung aus den infolge des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten, S. 197. 29 Richtlinien zur Handhabung der Fürsorge für die aus den abgetretenen Grenzgebieten Preußens stammenden Flüchtlinge im Deutschen Reich, o. Datum (Frühjahr 1920), BArch B, R1501, Nr. 18403.

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schen Mehrheitssozialdemokraten Daniel Stücklen (1869–1945), der seit 1903 Mitglied des Reichstages war. Er hatte bereits seit Januar 1919 die ›Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene‹ geleitet und war damit für die Rückführung deutscher Soldaten aus alliierter Kriegsgefangenschaft sowie für die Politik gegenüber den weit über das Kriegsende hinaus im Reich verbliebenen russländischen Kriegsgefangenen verantwortlich gewesen.30 Die Hauptaufgabe des Reichskommissars lag neben dem Transport der Abwanderer in das Reichsgebiet in der Errichtung und Unterhaltung von Durchgangs- und Sammellagern. Die Aufnahme der die Grenze überschreitenden Reichsdeutschen aus dem Osten erfolgte wie bei den Elsass-Lothringern vornehmlich über Grenzübernahmestellen (›Übernahmekommissariate‹) und ›Flüchtlingsverteilungsstellen‹ des Deutschen Roten Kreuzes, die über die ›Flüchtlingszentrale Ost‹ in Frankfurt/ Oder dirigiert wurden. Dem Roten Kreuz unterstanden darüber hinaus auch die ›Fürsorgekommissare‹ bei den deutschen Konsulaten in den abgetretenen Gebieten. Gesteuert wurde die gesamte Tätigkeit des Deutschen Roten Kreuzes in diesem Feld durch die Abteilung ›Flüchtlingsfürsorge‹ beim Hauptvorstand in Berlin. Jeder Landes- und Provinzialverein unterhielt zudem separate Abteilungen zur ›Flüchtlingsfürsorge‹. In den Ländern des Reiches und in jenen preußischen Provinzen, die besonders viele Zuwanderer aus den abgetretenen Gebieten zählten, wurden darüber hinaus ›Zentralfürsorgestellen‹ des Roten Kreuzes eingerichtet, deren Aufgabe vor allem darin bestand, die Zuwanderer auf die einzelnen Gemeinden zu verteilen.31 Innerhalb der dem Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge unterstellten Lager gab es eine klare Trennung der Zuständigkeitsbereiche der vom Reichskommissar ernannten Lagerdirektoren und der Kommissare des Roten Kreuzes. Die Bewohner der Lager waren vom Reichskommissar mit Lebensmitteln zu versorgen und gesundheitlich zu überwachen. Darüber hinaus wurden in den Lagern vom Lagerdirektor befehligte starke Polizeikräfte stationiert, »da sich in den Lagern vielfach schwierige Elemente befinden«.32 Die eigentliche Fürsorge, die sich vor allem auf die Versorgung mit Kleidung und auf den Schulunterricht für die Kinder erstreckte, sowie die Hilfestellung bei der Suche nach Arbeit und Wohnung aber lagen beim Roten Kreuz, das in den Lagern Personal stationierte und auf ehrenamt-

|| 30 Hierzu siehe den Beitrag von Jochen Oltmer über die Repatriierung der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs in diesem Band. 31 Zur Organisation der Fürsorge durch das Rote Kreuz siehe vor allem Göpel, Die Flüchtlingsbewegung aus den infolge des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten, S. 52–55; Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz, Abt. XI (Flüchtlingsfürsorge), Verzeichnis der Übernahme-, Zentralfürsorge- und örtlichen Fürsorgestellen der Flüchtlingsfürsorge der deutschen Vereine vom Roten Kreuz, Berlin o.J., S. 3–6. 32 Preußisches Ministerium des Innern in Berlin an Regierungspräsident in Potsdam, 6.11.1920, BArch B, R1501, Nr. 18403.

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liche Kräfte vor Ort zurückgriff.33 Während das Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge im Wesentlichen eine administrative Funktion im System der Aufnahme von Zuwanderern aus den abgetretenen Gebieten hatte, übernahm das Rote Kreuz den fürsorgerischen Part. Bis Anfang 1920 blieb die Zuwanderung aus den abgetretenen Gebieten weitgehend ungeregelt. Da es sich um Reichsangehörige handelte, die die Grenze zum Reichsgebiet überschritten, schienen Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit nicht möglich zu sein. Das änderte sich mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920, der die Grenzen des Deutschen Reiches zu Polen festlegte und aus den Deutschen in den abgetretenen Gebieten, soweit sie nicht für Deutschland optierten, auch staatsrechtlich polnische Staatsangehörige machte. Nun wurde die Abwanderung zunehmend stärker geregelt.34 Die Zuständigkeit für die Kontrolle und Steuerung der Abwanderung lag bei den den Generalkonsulaten im abgetretenen Gebiet beigegebenen ›Fürsorgekommissaren‹ des Deutschen Roten Kreuzes. Sie unterhielten Geschäftsstellen in allen größeren Städten und knüpften ein Netz von ›Vertrauensleuten‹. Die Fürsorgekommissare hatten die Aufgabe, bei der Abwanderung von Zugehörigen der deutschen Minderheit mitzuwirken, die Personalien an die zuständigen Stellen im Reich weiterzuleiten und den Abtransport zu regeln. Eine Abwanderung allerdings sollten die Fürsorgekommissare nur dann unterstützen, wenn sie feststellten, dass es sich tatsächlich um Personen handelte, die sich einem Zwang zur Abwanderung ausgesetzt sahen.35 Wurde von Seiten des Fürsorgekommissars keine Fürsorgeberechtigung festgestellt, durften Reisepapiere für das Deutsche Reich nur dann ausgegeben werden, wenn die betreffende Person die Zuzugsgenehmigung einer Gemeinde im Reich || 33 Rundschreiben Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin, 26.10.1920, BArch B, R1501, Nr. 18403. 34 Der Versailler Vertrag regelte in Art. 91 in Verbindung mit Art. 3 des Minderheitenschutzvertrages zwischen Polen und den Alliierten vom 28. Juni 1919 das Optionsverfahren. Danach erhielten in den neuen polnischen Westgebieten ansässige Reichsdeutsche automatisch die polnische Staatsangehörigkeit. Eine Option für die deutsche Staatsangehörigkeit war innerhalb von zwei Jahre nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages möglich. Zwischen Deutschland und Polen umstritten war, ob es nach der Option für Deutschland eine Verpflichtung oder nur eine Möglichkeit zur Abwanderung nach Deutschland geben sollte. In diesen Zusammenhang gehört auch der ›Optantenkrieg‹ von 1925, der noch einmal zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Abwanderungen aus den neupolnischen Westgebieten nach Deutschland führte; hierzu siehe Jens Boysen, Die polnischen Optanten: Ein Beispiel für den Zusammenhang von Krieg und völkerrechtlicher Neuordnung, in: Bruno Thoß/ Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 593–613. Nach Angaben des Statistischen Reichsamtes betrug die Zahl der aus Polen im Rahmen des deutsch-polnischen ›Optantenkrieges‹ ausgewiesenen Deutschen rund 25.000; Arthur Golding, Statistik der Entdeutschung des Ostens, in: Volk und Reich. Politische Monatshefte, 7. 1931, H. 7, S. 486–506, hier S. 493. 35 Richtlinien zur Handhabung der Fürsorge für die aus den abgetretenen Grenzgebieten Preußens stammenden Flüchtlinge im Deutschen Reich, o. Datum (Frühjahr 1920), BArch B, R1501, Nr. 18403.

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vorweisen konnte. Eine weitere Unterstützung durch das Rote Kreuz oder durch eine staatliche Stelle erfolgte in solchen Fällen nicht. Für Personen hingegen, denen eine Fürsorgeberechtigung zugestanden worden war, gab es seit dem Frühjahr 1920 zwei Möglichkeiten: entweder legten sie eine Zuzugsgenehmigung für einen Zielort vor, oder sie überschritten die Grenze nach Deutschland als ›ziellose‹ Personen in geschlossenen Transporten. Die von den Fürsorgekommissaren zusammengestellten Transporte liefen nach Frankfurt/Oder (Brandenburg), Schneidemühl oder Hammerstein (beide Posen-Westpreußen), wo sie zunächst von den dortigen Übernahmekommissariaten registriert wurden. Die ›ziellosen‹ Zuwanderer wurden hier der ›Flüchtlingszentrale Ost‹ in Frankfurt/Oder gemeldet, von der aus die weitere Verteilung erfolgte – entweder direkt in Gemeinden, in denen Wohnungen und Arbeitsstellen verfügbar waren, oder zu Verwandten im Reich. Die meisten der gemeldeten Zuwanderer aber konnten in der Regel nicht auf diesem Wege weiterreisen. Sie wurden seit der zweiten Jahreshälfte 1920 in ›Heimkehrlagern‹ aufgenommen, von denen aus die weitere Verteilung erfolgen sollte.36 In den Jahren 1920 bis 1925 errichtete das Reich insgesamt 26 solcher Durchgangslager, die Ende 1922/Anfang 1923 ihre höchsten Belegstärken mit zeitgleich etwa 40.000 Menschen erreichten. Bis Anfang Januar 1921, also nach etwa vier Monaten der Tätigkeit des Reichskommissariats für Zivilgefangene und Flüchtlinge, waren 5.000 Zuwanderer aus den abgetretenen Gebieten gezählt worden, die die ›Heimkehrlager‹ bereits durchlaufen hatten. 12.000 lebten zu dieser Zeit noch in den Lagern.37 Innerhalb von rund 16 Monaten hatten bis Ende 1921 insgesamt ca. 70.000 Zuwanderer die ›Heimkehrlager‹ durchlaufen und waren im Reichsgebiet untergebracht worden. Diese Zahl lag etwa dreifach höher als die der Lagerbewohner zu diesem Zeitpunkt.38 Bis April 1923, also nach wiederum rund 16 Monaten, hatte sich diese Zahl nach Angaben von Reichskommissar Stücklen auf rund 200.000 erhöht. Zu dieser Zeit befanden sich etwa 36.000 Menschen in den Lagern.39 In der ersten || 36 Göpel, Die Flüchtlingsbewegung aus den infolge des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten, S. 68–83. 37 Aufzeichnung über das wesentliche Ergebnis der Besprechung über die Heimkehrlager. Sitzung am 19. Januar 1921 im Reichstagsgebäude, einberufen durch den Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge, BArch B, R1501, Nr. 18403. 38 Erläuterungen zum Entwurf des Haushalts für die Ausführung des Friedensvertrags für das Rechnungsjahr 1922, Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 17.1.1922, BArch B R1501, Nr. 18401. 39 Niederschrift über die am Dienstag, dem 10.4.1923 im Reichsfinanzministerium stattgehabte Besprechung über eine Beteiligung Preußens an den Kosten der Läger des Reichskommissars für Zivilgefangene und Flüchtlinge (Abbau der Lagerfürsorge), BArch B, R3901, Nr. 788; diese Zahl deckt sich in etwa mit den Angaben des Reichsgesundheitsamtes, das für die medizinische Betreuung der Lagerbewohner verantwortlich zeichnete. Bis Januar 1923 hatte es 211.000 Lagerinsassen registriert; Reichsgesundheitsamt in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 9.1.1923, BArch B, R1501, Nr. 18405.

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Jahreshälfte 1924 wurden die Belegzahlen mit dem Ziel der gänzlichen Auflösung der Lager massiv reduziert. Am 14. Juni 1924 lebten in den ›Heimkehrlagern‹ nur noch 4.985 Personen.40 Am 31. Oktober 1924 gab es nur noch das Lager Zossen mit 636 Bewohnern.41 Nach dem Abtransport der letzten 13 Insassen Anfang Mai wurde auch dieses letzte ›Heimkehrlager‹ am 15. Mai 1925 aufgelöst.42 Die ›Heimkehrlager‹ waren in der Regel ehemalige Kriegsgefangenenlager, die in einigen Fällen vor der Aufnahme von ›Grenzlandvertriebenen‹ erst noch von Kriegsgefangenen geräumt werden mussten. Sie waren 1914/15 häufig in großer Eile notdürftig als Barackenlager errichtet worden. Zu Instandsetzungsarbeiten war es kaum gekommen. Die Lager blieben zumeist echte Notunterkünfte, zum Teil in sehr schlechtem Zustand. Erfolgreich konnten die ›Heimkehrlager‹ im Rahmen der Integrationspolitik im Sinne ihrer Konzeption in der Anfangsphase der Weimarer Republik nur sein, wenn es gelang, den Zuwanderern rasch ein Verlassen der Lager zu ermöglichen. Neben der Wohnungsvermittlung war der Nachweis von Arbeit dabei der wesentliche Faktor. Hindernisse gab es nicht nur aufgrund von allgemeinen Problemen des – nur während des Inflationsbooms entspannten – Arbeitsmarkts in der Frühphase der Weimarer Republik. Darüber hinaus waren die ›Heimkehrlager‹ und ihre Bewohner in besonderem Maße Abbild der Vermittlungsprobleme am Arbeitsmarkt; denn zu einem längeren Lageraufenthalt sahen sich vor allem jene genötigt, die nicht rasch Arbeit finden konnten. Nach Ermittlungen des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt fanden sich im Lager Altengrabow beinahe ausschließlich »Angehörige solcher Berufszweige […], in denen größere Arbeitslosigkeit herrscht«, weshalb der Vermittlungserfolg beschränkt blieb.43 Ein wesentlicher Teil der Bewohner der ›Heimkehrlager‹ war zudem auf Dauer erwerbsunfähig und/oder fürsorgebedürftig.44

|| 40 Nachweisung über das Ergebnis der Lagerentleerung auf Grund der Verordnung vom 17. Dezember 1923 in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis 14. Juni 1924, Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 26.6.1924, BArch B, R1501, Nr. 18401. 41 Bericht über den Stand des Abbaues der Heimkehrlager bei der Auflösung des Reichskommissariates und Übernahme der Geschäfte durch die Abwicklungsstelle am 31. Oktober 1924. Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge – Abwicklungsstelle – in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 10.11.1924, BArch B, R1501, Nr. 18401. 42 Reichsministerium des Innern in Berlin an Industrie- und Handelskammer zu Berlin, 16.7.1925, BArch B, R1501, Nr. 18408. Auch die Abwicklungsstelle des Reichskommissariats für Zivilgefangene und Flüchtlinge beendete mit Ende Mai 1925 ihre Arbeit, Reichsministerium des Innern in Berlin, 29.5.1925, BArch B, R1501, Nr. 18402. 43 Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt in Magdeburg an Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin, 16.4.1921, BArch B, R3901, Nr. 878. 44 Vermerk Reichsministerium des Innern in Berlin, 24.6.1921, BArch B, R1501, Nr. 18403; Erwin Hampe, Die Flüchtlingsvermittlung in Schlesien seit dem Herbst 1922, in: Arbeit und Beruf, 2. 1922, Nr. 7, S. 164f.

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3 Beschränkung der Zuwanderung durch ›Abbau der Flüchtlingsfürsorge‹ Ein Erlass des Reichsministeriums des Innern vom 9. Mai 1922 forderte den weitreichenden ›Abbau der Flüchtlingsfürsorge‹. Das Hauptziel aller entsprechenden Maßnahmen müsse sein, »den Zugang in die Lager auf das Mindestmaß zu beschränken und diese selbst mit größter Beschleunigung zu entleeren.«45 Wirkungslos geblieben sei der gegenüber den Zuwanderern aus den an Polen abgetretenen Gebieten von Beginn an durchgesetzte restriktive Ansatz, nur jene direkt in eine Aufnahmegemeinde ziehen zu lassen, die vor Reiseantritt eine Zuzugsgenehmigung nachweisen konnten, alle anderen aber zunächst in ›Heimkehrlager‹ einzuweisen: »Der mit dieser Maßnahme vornehmlich verfolgte Zweck, die in den abgetretenen Ostgebieten wohnhaften Deutschen tunlichst zum Verbleiben auch unter polnischer Herrschaft zu bestimmen, wird als gescheitert angesehen werden müssen. Die Abwanderung hat sich nicht aufhalten lassen, und es dürfte heute bereits feststehen, daß diejenigen Deutschen, die letzten Endes in den abgetretenen Gebieten verbleiben, nur einen geringen Bruchteil der früher daselbst ansässigen deutschen Bevölkerung ausmachen werden.«

Auch die Lenkung der Zuwanderung im Reich sei gescheitert, urteilte das Reichsinnenministerium: »Soweit die Beschränkung der Freizügigkeit hingegen bezweckte, eine Zuwanderung in solchen Gemeinden zu verhindern, in denen die Wohnungsnot eine Unterbringung nicht gestattet, ist der Erfolg in einer Weise eingetreten, wie er durch die örtlichen Verhältnisse wohl häufig nicht geboren war. Erfahrungsgemäß lehnt jede Gemeinde seit geraumer Zeit jeglichen Zuzug ab, und es ist erstaunlich, daß überhaupt noch ein so starker Prozentsatz der Ostvertriebenen ein Unterkommen gefunden hat, ohne durch die Lagerfürsorge gegangen zu sein.«

Insgesamt hätten die Gemeinden weitaus mehr Abwanderer direkt aufnehmen können; stattdessen habe die ›Flüchtlingszentrale Ost‹ zu häufig die Einweisung in ein Lager verfügt, ohne andere Unterbringungsmöglichkeiten in den Ländern zu prüfen. Es hätte sich als wesentlich effektiver erweisen können, so der Bericht des Reichsinnenministeriums, die Unterbringungskosten der Zuwanderer in den Zuzugsgemeinden zu übernehmen, als die Lagerfürsorge zu finanzieren, die letztlich nach dem Verlassen des Lagers dennoch Unterstützungszahlungen notwendig machte: »Von allen Arten der Fürsorge ist die Lagerfürsorge die bedenklichste. Ihre Zurückführung auf ein Mindestmaß muß das Bestreben aller beteiligten Stellen sein. Sie ist nicht nur aus dem

|| 45 Reichsministerium des Innern in Berlin. Bericht betreffend Abbau der Vertriebenenfürsorge, 29.7.1922, BArch B, R3901, Nr. 788.

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Grund zu verweisen, weil sie das Reich im höchsten Maße und in fast durchweg unproduktiver Weise belastet«.

Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung wurden im Rahmen des ›Abbaus der Flüchtlingsfürsorge‹ im Frühjahr 1923 finanzielle Anreize für die Gemeinden geboten, Abwanderer aufzunehmen: Zwar waren die Gemeinden bereits nach dem Gesetz über Maßnahmen gegen den Wohnungsmangel vom 11. Mai 1920 verpflichtet, deutsche Zuwanderer bevorzugt aufzunehmen und Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Dieser Verpflichtung entzogen sich die Gemeinden aber häufig unter Verweis auf das geringe Wohnraumangebot. Um Kostenargumenten in diesem Zusammenhang von vornherein keine Geltung zu verschaffen, bewilligte das Reichsministerium des Innern den Gemeinden eine Beihilfe für jeden aufgenommenen Abwanderer – nicht ohne zugleich mit Zwangsmaßnahmen für den Fall zu drohen, dass die Gemeinden sich nicht häufiger bereit zeigten, Abwanderern aus den abgetretenen Ostgebieten leerstehende Wohnungen zur Verfügung zu stellen.46 Da der Erfolg dieser Maßnahme ausblieb, wurde die Beihilfe drei Monate später noch einmal erhöht.47 Hintergrund der Maßnahme war die vollständige Belegung aller Aufnahmeeinrichtungen seit Herbst 1922. Als weitere Konsequenz wurde im Oktober 1922 eine Zuwanderungssperre erlassen.48 Im Dezember wurde sie auf Drängen des Auswärtigen Amtes aber bereits wieder gelockert, weil die Zahl der Anträge aus den abgetretenen Gebieten im Osten auf Übersiedlung in das Reich so stark angestiegen war, dass Friktionen in der ›Deutschtumspolitik‹ aufgrund von massiven Protesten der betroffenen Abwanderungswilligen befürchtet wurden. Um weitere Kapazitäten zu schaffen, wurden im Herbst 1922 beschleunigt noch drei weitere große ›Heimkehrlager‹ errichtet.49 Im Laufe des Krisenjahres 1923 wuchs der Druck auf das Reichskommissariat, Kosten einzusparen und die Lagerbevölkerung deutlich zu verringern. Ende 1923 wurde die Räumung aller Lager verfügt und den Gemeinden auferlegt, die Lagerbewohner zu übernehmen. Zwangsmaßnahmen zur Lagerräumung waren vom Roten Kreuz bereits im Frühjahr 1923 vorgeschlagen worden; sie wurden zunächst aber zurückgestellt, weil sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt im Reich aufgrund

|| 46 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 28.4.1923, ebd.; siehe auch Anordnung, betreffend den Zuzug von ortsfremden Personen und Flüchtlingen. Vom 23. Juli 1919, in: RGBl., 1919, S. 1353–1355. 47 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 28.7.1923, BArch B, R3901, Nr. 788. 48 Rundschreiben Reichsministerium des Innern in Berlin betreffend Eindämmung des Flüchtlingszustroms, 2.10.1922, BArch B, R1501, Nr. 18390. 49 Göpel, Die Flüchtlingsbewegung aus den infolge des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten, S. 207f.

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von Ruhrbesetzung und ›Ruhrkampf‹ noch weiter verschärft hatte.50 Die ›Verordnung über die Auflösung der Flüchtlingslager‹ vom 17. Dezember 1923 sah vor, dass die ›Heimkehrlager‹ bis zum 1. März 1924, innerhalb von kaum mehr als zwei Monaten, zu räumen seien. Alle Lagerbewohner mussten einem vom Reichsrat beschlossenen Verteilungsplan entsprechend auf die Länder des Reiches verteilt werden, die Länder für die Unterbringung in den einzelnen Gemeinden sorgen. Die Gemeinden wurden verpflichtet, Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Sie erhielten das Recht, Wohnraum inklusive Mobiliar zu beschlagnahmen und diese Maßnahme mit Hilfe polizeilicher Gewalt durchzusetzen.51 Zum 1. Juli 1923 wurde dem Roten Kreuz, das in den zurückliegenden Jahren permanent 4.000 bis 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Übernahmeund Aufnahmeeinrichtungen eingesetzt hatte52, die Lagerfürsorge entzogen, um – von der Kosteneinsparung durch massive Verminderung des Personals abgesehen – alle Aufgaben in den Lagern in den Händen der Lagerdirektoren vereinigen zu können. Auf diese Weise sollte die Richtlinienkompetenz des Reichskommissariats für die »beschleunigte Leerung der Lager durch Überführung der Flüchtlinge in das Erwerbsleben« gestärkt werden.53 Zugleich wurden kleinere Lager geschlossen, um die großen voll belegen zu können.54 Tausende von Lagerinsassen wurden deshalb von einem Lager zum nächsten transportiert, ein Vorgang, der mit erheblichen Friktionen verbunden war: Zum einen weigerten sich viele Lagerbewohner, einen aus ihrer Sicht sinnlosen Ortswechsel durchzuführen, der sie nicht einem Wohn- und Arbeitsort außerhalb des Lagers näher brachte. Zum andern gab es Proteste aus den Landkreisen und Gemeinden, in denen die nunmehr weiter vergrößerten Lager lagen. Hinzu traten Schreckbilder von einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch die Abwanderer: Für das oberschlesische ›Heimkehrlager‹ Lamsdorf war die

|| 50 Niederschrift über das Ergebnis der am 8. August 1923 abgehaltenen Besprechung über Fragen der Flüchtlingsfürsorge, Reichsministerium des Innern, BArch B, R3901, Nr. 788. 51 Verordnung über die Auflösung der Flüchtlingslager. Vom 17. Dezember 1923, in: RGBl., 1923, S. 1202f.; siehe auch Hans-Erich Volkmann, Die russische Emigration in Deutschland 1919–1929, Würzburg 1966, S. 10. 52 Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990, Paderborn 2002, S. 183. 53 Niederschrift über das Ergebnis der am 17.3.1923 im Reichsministerium des Innern abgehaltenen kommissarischen Beratung, betreffend Verringerung des Personalbestandes der Rotkreuzkommissare in den Heimkehrlagern, Reichsministerium des Innern, 19.3.1923, BArch B, R1501, Nr. 18405; Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Landesämter für Arbeitsvermittlung, 31.5.1923, BArch B, R3901, Nr. 788; Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 7.9.1923, BArch B, R1501, Nr. 18401; Jahresbericht des Deutschen Roten Kreuzes. 1. April 1923–31. März 1924, Berlin 1925, S. 26. 54 Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 5.10.1923, BArch B, R1501, Nr. 18401.

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Rede von der Gefahr einer Konzentration von Zuwanderern an der polnischen Grenze, die im Falle von militärischen Konflikten mit Polen zur Folge haben dürfte, dass »unmittelbar im Rücken der zur Landesverteidigung berufenen Formationen sich eine Konzentration unerwünschter Elemente befindet, die im Ernstfall mit den normalen Mitteln der zivilen Obrigkeit (Landjägerei und Schupo) kaum würden gebändigt werden können«. Die Beschreibung der Lagerbewohner reichte von »unbotmäßig« über »radikal« bis zum grenznahen »Herd kommunistischer Umtriebe«.55 Auch im schleswig-holsteinischen Lockstedt war von der »großen Zahl bedenkliche[r] Elemente« die Rede: »Naturgemäß haben diese Elemente Fühlung mit der kommunistischen Partei«.56 Es handele sich überall in den Lagern um »arbeitsscheue Elemente«, räsonierte Reichskommissar Stücklen: »Was sich heute noch in den Lagern befindet, ist […] zu einem großen Teil der Bodensatz der großen Welle die über die deutschen Grenzen gekommen ist. Wer von diesen Leuten in das Erwerbsleben überführt wird, betrachtet darin eine unerfreuliche Behandlung und glaubt mit Beschwerden zu erreichen, sich noch längere Zeit auf Kosten des Reiches ernähren zu können.«57

Die Räumung der Lager erwies sich als außerordentlich konfliktreich, zumal sie zum Teil mit Zwangsmitteln durchgeführt wurde, die auch zu Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Ressorts führten. Im Anschluss an die Räumung des Lagers Frankfurt/Oder sprach der verantwortliche Reichskommissar Stücklen selbst von »Härten und Widerwärtigkeiten, die sich zweifellos in hohem Maße« ergeben hätten. Er selbst lehne aber jede Verantwortung dafür ab, da er sich von vornherein gegen die schnelle Räumung der Lager aus Erwägungen der Kosteneinsparung ausgesprochen habe, sich aber gezwungen sehe, die am 17. Dezember 1923 vom Reich verordnete Räumung der Lager durchzuführen. Deshalb habe er auch eingewilligt, Lagerinsassen die Lagerverpflegung zu entziehen, um sie zum Verlassen der Lager zu nötigen; zudem habe er wegen der Eile, in der die Lagerräumung zu betreiben gewesen sei, keine Möglichkeit gehabt, die Unterbringung der Abwanderer außerhalb der Lager zu prüfen.58 Beschwerden der Lagerbewohner in Frankfurt/Oder schloss sich vor allem das preußische Innenministerium an: Den Abwanderern sei zugesichert worden, dass zum einen ihre Unterbringungswünsche berücksichtigt werden würden; zum an-

|| 55 Regierungspräsident in Oppeln an Reichsministerium des Innern in Berlin, 4.1.1924, BArch B, R1501, Nr. 18407. 56 Landrat in Itzehoe an Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin, 28.10.1923, BArch B, R1501, Nr. 18406. 57 Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 30.11.1923, ebd. 58 Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 28.7.1924, BArch B, R1501, Nr. 18401.

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dern sei ihnen eine Entschädigung ihrer Vermögensverluste vor dem Ende des Lageraufenthalts garantiert worden. Zudem sei »immer wieder betont worden, dass die Lagerinsassen Anspruch auf Unterkunft in Räumen haben, die sich tatsächlich für die Unterbringung von Menschen eignen und die die Flüchtlinge unter Berücksichtigung ihres Familienstandes und ihres Gesundheitszustandes und Alters gebrauchen können, und ferner, daß bei der Unterbringung der Flüchtlinge auf ihre berufliche Tätigkeit und auf die Möglichkeit einer Existenzgründung für sie am Unterkunftsort weitgehend Rücksicht genommen werden muß.«

Die Lagerräumung sei vom Reichskommissariat unter Missachtung dieser Grundsätze durchgeführt worden, da entsprechende Unterkunfts- und Arbeitsmöglichkeiten nicht zur Verfügung gestanden hätten; deshalb könne das preußische Innenministerium die Reaktion der Abwanderer, nämlich die wiederholte »Weigerung, das Lager zu verlassen, als zulässig anerkennen. Es entspricht meines Erachtens nicht dem Sinn der Richtlinien über die Entleerung der Lager, wenn ein Lagerverwalter sich in solchen Fällen ausschließlich von dem Bestreben auf sofortige Durchsetzung der Abbeförderung leiten läßt.«59 Die Konflikte um die Räumung der Lager beleuchtet auch das Bild der aufnehmenden Gesellschaft von den Lagerbewohnern. Mathias Beer hat für die deutsche Nachkriegsgesellschaft nach 1945 Aspekte herausgearbeitet60, die auch für die ›Heimkehrlager‹ 1920–1924 wesentlich waren: Politik, Verwaltung und weiterer Öffentlichkeit galten die Lager als ökonomisch, sozial, politisch und moralisch gefährlich, sowohl für die Lagerbewohner als auch für die Gesellschaft insgesamt. Die Lagerbewohner selbst seien durch den monate-, zum Teil auch jahrelangen Aufenthalt in den Lagern zu nicht mehr arbeitsfähigen ›Staatsrentnern‹ erzogen worden, die keine ökonomische Eigeninitiative mehr entwickeln könnten und nur noch als Empfänger von Sozialleistungen ihr Leben fristeten. Selbst politisch erschienen die Lager als Unruheherde: In der Phase der Auflösung der ›Heimkehrlager‹ 1923/24, die von Protesten der Bewohner begleitet waren, verfestigte sich die Angst vor der ›kommunistischen‹ oder ›bolschewistischen‹ Gefährdung durch die Lagerbewohner. Auch moralisches Gefahrenpotenzial gehe von den Lagern aus. Das schien etwa für Kriminalität und den Niedergang herkömmlicher Normen der Sexualmoral zu gelten. Mit dem 31. Dezember 1923 endete wegen der »finanziellen Notlage des Reichs« die Sonderfürsorge für die Zuwanderer aus den an Polen abgetretenen Gebieten. || 59 Preußisches Ministerium des Innern in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 1.8.1924, ebd. 60 Mathias Beer, Lager als Lebensform in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Zur Neubewertung der Funktion der Flüchtlingswohnlager im Eingliederungsprozeß, in: Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 56–75, hier S. 63–66.

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Mussten Zuwanderer nach diesem Termin Sozialleistungen in Anspruch nehmen, so war dies nur noch über die regulären Sozialversicherungen beziehungsweise über die Erwerbslosenfürsorge möglich.61 Kamen Sozialversicherungsleistungen nicht in Frage, mussten Mittel aus der kommunalen Armenpflege in Anspruch genommen werden, die den Kommunen zu 80 Prozent vom Reich ersetzt wurden.62 Zum 31. Oktober 1924 wurde das Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge aufgelöst.

4 Fazit: das Scheitern einer Begrenzung der Zuwanderung von Deutschen aus den abgetretenen Gebieten Die Aufnahme von Deutschen aus den nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen Gebieten stellte die Weimarer Republik unter erheblichen Legitimationsdruck. Zum einen sah sie sich aus kriegsfolge- und staatsangehörigkeitsrechtlichen Gründen gezwungen, deren Migration zu organisieren. Zum andern erschien die Aufnahme als eine erhebliche Belastung für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und soziales Sicherungssystem im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zum dritten galt das Verbleiben der Deutschen in den abgetretenen Gebieten zugleich als eine Zukunftsoption: Starke deutsche Minderheiten in den Abtretungsgebieten schienen die Chancen einer erfolgreichen Revisionspolitik wesentlich zu erhöhen. Dieses Dilemma der Weimarer Politik gegenüber den Zuwanderern aus den abgetretenen Gebieten im widersprüchlichen Gemengelage von außenpolitischen Revisionsinteressen, wirtschafts- und sozialpolitischen Belastungstopoi und kriegsfolge- und staatsangehörigkeitsrechtlichen Bindungen, die durch humanitäre Gesten verbrämt wurden, führte zu einer widersprüchlichen Aufnahme- und Integrationspolitik. Sie war niemals aktiv, sondern reagierte mit dem Aufbau von Aufnahmeeinrichtungen erst, als sich bereits Zehntausende von Zuwanderern aus den abgetretenen Gebieten im Reich befanden. Den restriktiven ›Abbau der Flüchtlingsfürsorge‹ hingegen betrieb diese Politik aus finanziellen Gründen bereits zu einem Zeitpunkt, als der Höhepunkt der Zuwanderung noch gar nicht erreicht war. Sinnfällig für das Scheitern der ausschließlich reaktiven Integrationspolitik des Reiches und der Länder war der Einsatz von Zuwanderungssperren als Versuch, die Kontrollkompetenz des Reiches wiederzuerlangen.

|| 61 Reichsministerium des Innern in Berlin an Hauptstelle des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin, 1.11.1923, BArch B, R3901, Nr. 788. 62 Reichsministerium des Innern in Berlin an Landesregierungen, 10.11.1923, ebd.

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Im Ergebnis scheiterte die Aufnahme- und Integrationspolitik völlig: Weder gelang es ihr, die aus revisionspolitischen Gründen bekämpfte Abwanderung aus den abgetretenen Gebieten zu verhindern, noch förderte die erst spät aufgebaute Infrastruktur die Integration der Zuwanderer effektiv. Es gab zwar ein tiefgestaffeltes, militärisch organisiertes System des Transportes der Zuwanderer und ihrer Weiterleitung in Übernahmeeinrichtungen und ›Heimkehrlager‹. Dieser Infrastruktur zur Aufnahme der Zuwanderer aus den abgetretenen Gebieten war aber kein adäquates Angebot zur wirtschaftlichen und sozialen Integration nachgelagert. Im Wesentlichen blieben die Zuwanderer darauf angewiesen, selbst Arbeitsstellen und Wohnungen zu finden, weil die entsprechenden Integrationseinrichtungen lange nicht funktionierten, Länder und Gemeinden sich erst unter Androhung von Zwangsmaßnahmen bereitfanden, Maßnahmen zur sozialen und wirtschaftlichen Integration zu treffen. Jenen Zuwanderern, die als nicht vermittelbar für den Arbeitsmarkt galten, blieb nur die Möglichkeit, zum Teil jahrelang in den Lagern auszuharren.

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›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹. Grenzen privilegierter Migration in der Weimarer Republik Moderne Gesellschaften sind Rudolf Stichweh zufolge durch eine »Asymmetrie von Austritt aus einem Staat und Eintritt in ein fremdstaatliches System« gekennzeichnet: Während für den Einzelnen eine Abwanderung in der Regel ohne wesentliche Hindernisse möglich sei, erfordere die Zuwanderung meist die Überwindung erheblicher Barrieren. Für den staatlichen Umgang mit Migration heiße das: Ein Recht auf Auswanderung gebe es beinahe überall, ein Recht auf Zuwanderung demgegenüber fast nirgendwo.1 Ausnahmen von dieser Regel aber lassen sich dennoch formulieren: Menschen, die als Mitglieder des eigenen Kollektivs galten, ist nicht selten ein privilegierter Zugang offeriert worden. Die deutsche Migrationsgeschichte kennt seit dem späten 19. Jahrhundert die bewusste Bevorzugung einzelner Kollektive auf der Basis ethno-nationaler Konstruktionen. Nationalistische Vorstellungen in Deutschland wurden in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend durch ›großdeutsche‹, dann ›alldeutsche‹ Orientierungsmuster geprägt. Das Reich galt nationalistischen Kreisen insofern als unvollendet, als eine große Zahl von Deutschen in zum Teil relativ geschlossenen Siedlungsgebieten außerhalb des Reiches (vor allem in Südost-, Ostmittel- und Osteuropa) lebte. Die Verbindung von ethno-nationaler Konstruktion und grenzüberschreitender Migration spiegelte im späten deutschen Kaiserreich unter anderem die Diskussion um das Staatsangehörigkeitsrecht. Die jahrzehntelange Debatte um die Inklusion von Zuwanderern in den Verband der Staatsbürger mündete schließlich kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs in das ›Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz‹ von 1913, das von der Weimarer Republik ohne wesentliche Veränderungen übernommen wurde.2 Ein zentrales Element bildete die stärkere Bindung von ›Deutschstämmigen‹ an das Reich: Das neue Staatsangehörigkeitsrecht ermöglichte einerseits die Aufrechterhaltung der Staatsbürgerschaft für Ausgewanderte und ließ andererseits die (Wieder-)Einbürgerung von Deutschen, die ausgewandert waren,

|| 1 Rudolf Stichweh, Migration, nationale Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung der Weltgesellschaft, in: Michael Bommes/Jost Halfmann (Hg.), Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen, Osnabrück 1998, S. 49–61, hier S. 52. 2 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz. Vom 22. Juli 1913, in: Reichs-Gesetzblatt (RGBl.), 1913, S. 583–593.

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unter großzügigen Bedingungen zu.3 Der ›Rückwanderer‹ als politisches und rechtliches Konstrukt war damit etabliert. »Größere Rückwanderungsbewegungen können in alten geschlossenen Auslandssiedlungen entstehen, wenn politische Veränderungen oder wirtschaftliches Elend im Staat der Niederlassung die Zukunftsaussichten der dortigen deutschen Siedler derart verschlechtern, daß ihnen der Versuch des Wiederaufbaues einer neuen Lebensgrundlage unter dem Schutze der alten Heimat mehr Erfolg verspricht als der Versuch, den Schwierigkeiten im Staate der Niederlassung Trotz zu bieten und durchzuhalten«,

hob das autoritative ›Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung‹ 1928 hervor.4 Die Formulierung von Kriterien der Zulassung oder Abweisung einer ›Rückwanderung‹ von ›Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit‹5 erwies sich in der Weimarer Republik entscheidend abhängig von der Perzeption der Minderheitenverhältnisse im östlichen Europa, kreiste die Diskussion doch vornehmlich um die Frage, ob nicht der Verbleib der Minderheiten für die deutsche Politik vorteilhafter sei als deren Zuwanderung ins Reich; denn ›deutschstämmige‹ Minderheiten im Ausland galten vor allem als ein wesentliches Instrument deutscher Außenpolitik.6

1 Rückblick: ›Rückwanderung‹ ins Kaiserreich und Förderung des ›Deutschtums‹ im preußischen Osten Starke Weiterwanderungen aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittelund Südosteuropa setzten bereits im späten 19. Jahrhundert ein. Viele der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert im Zarenreich angesiedelten deutschen Kolonisten beispielsweise zogen seit den 1870er Jahren weiter in die Vereinigten Staaten von || 3 Hierzu siehe vornehmlich Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 278–327; Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994, S. 156–183; Wolfgang J. Mommsen, Nationalität im Zeichen offensiver Weltpolitik. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz des Deutschen Reiches vom 22. Juni 1913, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 128–141; Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007, Kap. IV. 4 Art. ›Rückwanderer‹, in: Bill Drews/Franz Hoffmann (Hg.), Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, 3. Aufl. Berlin/Leipzig 1928, Bd. 2, S. 510–512, hier S. 510. 5 Rudolf von Broecker, Der Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit im Reiche. Eine Darstellung seiner Rechtslage. Berlin 1930, S. 39. 6 Insgesamt siehe hierzu und zum Folgenden auch Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, Kap. 3.

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Amerika, nach Lateinamerika, Kanada und Australien, nachdem die russische Regierung seit den 1860er Jahren schrittweise wichtige Privilegien zurückgenommen hatte und Mangel an bewirtschaftbarem Land die ökonomische Entwicklung hemmte. Die erste russische Volkszählung erfasste 1897 eine Gesamtbevölkerung »deutscher Muttersprache« in Höhe von 1,8 Millionen.7 Zwischen 1870 und 1914 sollen rund 116.000 Deutsche aus dem Zarenreich allein in die USA ausgewandert sein, der größte Teil davon nach 1900.8 Das Ziel Deutschland gewann für ›Deutschstämmige‹ aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an Gewicht: Auf der Grundlage des finanziell sehr gut ausgestatteten, innenpolitisch aber höchst umstrittenen ›Ansiedlungsgesetzes‹ vom 26. April 1886 strebte die preußische Regierung danach, in den Provinzen Posen und Westpreußen polnischen Landbesitz zur Ansiedlung deutscher Bauern aufzukaufen. Die ›Königliche Ansiedlungskommission für die Provinzen Posen und Westpreußen‹ ging vor allem seit der Jahrhundertwende dazu über, unter Deutschen im Ausland, vornehmlich im Zarenreich, zu werben, weil die Zahl der Siedlungsbewerber im Inland immer kleiner wurde. Von den 1888–1914 insgesamt 21.683 angesiedelten Familien – ein Ergebnis, das weit hinter den hochgesteckten Erwartungen zurückblieb – kam mit 5.480 Familien rund ein Viertel aus dem Ausland. Darunter wiederum dominierten Familien deutscher Herkunft aus Russland (4.900) vor solchen aus Galizien (500) und Ungarn (80). Unter den Deutschen aus Russland stammte der weitaus überwiegende Teil aus Russisch-Polen (3.540 Familien), der Rest vor allem aus Wolhynien. Da sich die Anwerbetätigkeit der Kommission unter ›Deutschstämmigen‹ vornehmlich auf die Zeit nach 1900 konzentrierte9, blieben in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Anteile der Siedler aus dem Ausland überproportional hoch. Das Spitzenjahr bildete 1905 mit 41,9 Prozent. Noch umfangreicher als die Gruppe der angesiedelten selbstständigen deutschen Landwirte aus dem Ausland war jene der ›deutschstämmigen‹ Landarbeiterinnen und Landarbeiter, die für die Güter des preußischen Ostens angeworben wurden. Auch hier ging es um die Verdrängung von Polen, in diesem Fall aber nicht von preußischen Staatsangehörigen polnischer Sprache, sondern der jährlich zu Hunderttausenden in die preußische Landwirtschaft strömenden polnischen land-

|| 7 Vladimir M. Kabuzan, Die deutsche Bevölkerung im Russischen Reich (1796–1917). Zusammensetzung, Verteilung, Bevölkerungsanteil, in: Ingeborg Fleischhauer/Hugo H. Jedig (Hg.), Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart. Ein internationaler Beitrag zur deutschsowjetischen Verständigung, Baden-Baden 1990, S. 63–82, hier S. 71–74, 79. 8 Detlef Brandes, Die Deutschen in Rußland und der Sowjetunion, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 85–134, hier S. 85. 9 Bis Ende 1899 waren insgesamt nur 120 Familien angesiedelt worden; Oberpräsident in Posen an Kaiser Wilhelm II., 12.7.1903, Bundesarchiv Berlin (BArch B), R901, Nr. 30007.

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wirtschaftlichen Arbeitswanderer aus dem russischen Zentralpolen und dem österreichisch-ungarischen Galizien.10 Insgesamt rund 26.000 aus Russland zugewanderte Deutsche warb der 1909 in Berlin auf Veranlassung und mit massiver Unterstützung preußischer amtlicher Stellen gegründete ›Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer‹11 in den letzten sechs Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an. Sie kamen zu rund zwei Dritteln aus Wolhynien.12 Der Umfang der Zuwanderung aus dem Zarenreich stammender deutscher Landarbeiterinnen und Landarbeiter blieb allerdings sehr deutlich unter der Zahl der jährlichen Zuwanderungen auslandspolnischer Landarbeitskräfte, die 1909 rund 216.000 betrug und bis 1914 auf ca. 251.000 anstieg.13 Das Ziel der Anwerbung von ›Rückwanderern‹ wurde klar formuliert: Die ›Landflucht‹ könne mit der Zuwanderung ›deutschstämmiger Rückwanderer‹ in ihren Folgen für die ostelbische Landwirtschaft gedämpft, unerwünschte ausländischpolnische Saisonarbeitskräfte14 ersetzt und den »patriarchalischen Beziehungen zwischen Gutsherrschaft und Arbeiterschaft, die heute schon so oft fehlen, eine neue Grundlage gegeben werden«. Und darüber hinaus habe die Rekrutierung der deutschen Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Russland auch eine innenpolitische Stabilisierungsfunktion: || 10 Klaus J. Bade, Politik und Ökonomie der Ausländerbeschäftigung im preußischen Osten 1885– 1914: die Internationalisierung des Arbeitsmarkts im ›Rahmen der preußischen Abwehrpolitik‹, in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 273–299. 11 Der Fürsorgeverein wurde als private Organisation gegründet, um parlamentarische Kontrollen auszuschließen und die preußische Staatsregierung nicht in für die politischen Beziehungen mit anderen Staaten gefährliche illegale Aktivitäten zu verwickeln. Die Initiative ging aus vom Preußischen Landesökonomie-Kollegium als Zentrale der preußischen Landwirtschaftskammern, das auch im Vorstand des Vereins vertreten war; die Finanzierung des Vereins erfolgte aus Mitteln des preußischen Staates. Der Fürsorgeverein erhielt faktisch amtliche Aufgaben im Zusammenhang des Verfahrens zur Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit an ›deutschstämmige‹ Landarbeiter aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Vor dem Ersten Weltkrieg unterhielt der Verein mehrere Vermittlungsstellen in Deutschland. Er verfügte zudem in Russland über insgesamt 106 ›Vertrauensleute‹, die Abwanderungswilligen die Arbeitsaufnahme als Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Deutschland nahelegen sollten, sowie 110 ›Vertrauensleute‹ in Deutschland, die den Kontakt zu den landwirtschaftlichen Arbeitgebern vermittelten. Ende März 1914 hatte der Fürsorgeverein insgesamt 627 Mitglieder, darunter 9 Landwirtschaftskammern und 20 Landkreise, weitere wichtige korporative Mitglieder waren zudem die Hamburg-Amerika-Linie und der Ostmarkenverein; Hans-Siegfried Weber, Rücksiedlung Auslandsdeutscher nach dem Deutschen Reiche, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 105. 1915, S. 721–796, hier S. 772. 12 Preußisches Ministerium des Innern in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 22.7.1913, BArch B, R901, Nr. 30004. 13 Klaus J. Bade (Hg.), Arbeiterstatistik zur Ausländerkontrolle: Die ›Nachweisungen‹ der preußischen Landräte über den ›Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter im preußischen Staate‹ 1906–1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 163–283. 14 Preußische Ministerien für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, des Innern und für Finanzen in Berlin an Oberpräsidenten, 28.5.1909, BArch B, R901, Nr. 30007.

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»Wir dürfen nicht vergessen, daß die sozialdemokratische Partei ihre Anstrengungen mit aller Energie darauf richtet, den Mangel an Landarbeitern zu einer dauernden Erscheinung zu machen. Die Agenten der Partei sind neuerdings besonders organisiert zum Zweck der Aufhetzung der ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter. Durch richtige Behandlung der deutschen Rückwandrer kann diesen Bestrebungen ein fester Damm entgegengesetzt werden«.15

Darüber hinaus wurde in der vor allem vom extrem nationalistischen Alldeutschen Verband unterstützten Werbung für die Rekrutierung ›deutschstämmiger Rückwanderer‹ betont, dass die zuwandernden Familien sehr kinderreich seien. Daraus erwachse nicht nur für das Ziel einer Verdrängung der Polen ein Vorteil, vielmehr werde auf diesem Weg auch dem preußischen Heer eine stattliche Anzahl Rekruten zugeführt, die sonst in ausländischen Heeren ihrer Dienstpflicht hätten genügen müssen.16 Der Gründer und Leiter des Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer, Alfred Borchardt, zuvor landwirtschaftlicher Sachverständiger an der deutschen Botschaft in St. Petersburg, fasste die Argumente zugunsten der Beschäftigung der deutschen Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus dem Zarenreich knapp zusammen: »Die Vorzüge sind das im Kern unverdorbene Deutschtum, die Festigkeit im Glauben, das patriarchalische Familienleben, die tiefverwurzelte Liebe zum Landleben und der große Kinderreichtum«.17 In einem Immediatbericht an Kaiser Wilhelm II. zeichnete der Oberpräsident der Provinz Posen die anfänglichen Anwerbeaktionen in Russland nach. Die Reichsleitung habe zwar seit den 1890er Jahren die Anwerbung in Russland forciert, angesichts möglicher außenpolitischer Verwicklungen wegen des russischen Anwerbeund Auswanderungsverbots »aber nur unter der Bedingung, daß die Agitation sehr vorsichtig betrieben werde, lediglich also privat erscheine und jeden Schein einer Beziehung zur Ansiedlungskommission vermeide.« Seit 1901 seien in diesem Sinne mit Hilfe von Agenten deutscher Schifffahrtslinien Tausende von Flugblättern in den deutschen Siedlungskolonien verteilt und dort zugleich mit Hilfe des Alldeutschen Verbandes Adressen gesammelt worden: »Die Flugblätter gingen sämtlich unter Deckadressen, zum großen Teil wurden sie vom russischen Gebiete aus versandt, um die Aufmerksamkeit der russischen Behörden nicht zu erwecken«. Die Werbemaßnahmen der Ansiedlungskommission seien durchaus erfolgreich gewesen, betonte der Posener Oberpräsident von Waldow, bei den ›deutschstämmigen‹ Kolonisten habe »das Flugblatt der Ansiedlungskommission die Sehnsucht nach der alten deutschen Heimat« geweckt, wo sie »als Deutsche unter Deutschen leben« könnten.18

|| 15 Deutsche Rückwandrer aus Rußland. Ein Leitfaden für ländliche Arbeitgeber, Berlin 1908, S. 24f. 16 Weber, Rücksiedlung Auslandsdeutscher nach dem Deutschen Reiche. 17 Alfred Borchardt, Deutschrussische Rückwanderung, in: Preußische Jahrbücher, 162. 1915, H. 1, S. 1–20, hier S. 12. 18 Oberpräsident in Posen an Kaiser Wilhelm II. in Berlin, 12.7.1903, BArch B, R901, Nr. 30007.

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Auch der Leiter des Fürsorgevereins betonte, dass seine Organisation ebenfalls nur »im stillen« in Russland arbeiten könne und zudem schon häufig für den illegalen Grenzübertritt der ›deutschstämmigen Rückwanderer‹ habe Sorge tragen müssen: »Sie mußten, wollten sie das Mutterland erreichen, unter Lebensgefahr [….] insgeheim die Grenze zu überschreiten suchen. Damit war als höchst unbequeme Zugabe in den meisten Fällen die auch nur vorübergehende Möglichkeit straffreier Rückkehr nach der bisherigen Heimat verwirkt.«19

Während des Ersten Weltkriegs gewann die Diskussion um die ›Rückwanderer‹ eine neue Dynamik. Nach der Eroberung durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen entwickelte sich das schwer zerstörte Wolhynien zum Zentrum der Abwanderung von Deutschen russischer Staatsangehörigkeit. Der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer brachte während des Ersten Weltkriegs insgesamt etwa 60.000 Deutsche aus Russland ins Reich, darunter 30.000 Wolhyniendeutsche, von denen rund 25.000 vor allem der Landwirtschaft in Ostpreußen zugewiesen wurden. Der größte Teil der ›Rückwanderer‹ kam seit 1916 nach Deutschland. Von den 33.429 bis zum 31. April 1917 vom Fürsorgeverein rekrutierten ›Deutschstämmigen‹ waren 24.102 seit dem 1. Mai 1916 eingereist. Rund zwei Drittel der etwa 33.000 bis Ende April 1917 im Reich eingetroffenen ›Rückwanderer‹ hatte der Fürsorgeverein auf Arbeitsstellen vermittelt (23.357).20 Bei dieser Zuwanderung ging es, anders als der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer herauszustellen suchte, nicht primär um eine Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Erwägungen. Vielmehr stand die gezielte Rekrutierung von Arbeiterinnen und Arbeitern zur Verminderung des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels in Deutschland im Vordergrund. Es ging, wie der deutsche Ökonom Karl C. Thalheim rückblickend 1926 formulierte, darum, »die Menschenverluste des Krieges ohne Inanspruchnahme fremdstämmiger Arbeitskräfte« auszugleichen und neu eroberte Gebiete mit für zuverlässig gehaltenen Siedlern zu sichern: »Eine solche Möglichkeit glaubte man in der Rückführung der in Südrußland und an der Wolga siedelnden deutschen Bauern zu entdecken«.21 In Thalheims Einschätzung klangen bereits zwei Diskussionsstränge an, die im Ersten Weltkrieg wesentlich waren und

|| 19 Borchardt, Deutschrussische Rückwanderung, S. 8; siehe auch Deutsches Konsulat in Moskau an Reichskanzler in Berlin, 13.2.1908, BArch B, R1501, Nr. 18372. 20 Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer in Berlin an Reichsamt des Innern in Berlin, 24.1.1918, BArch B, R1501, Nr. 18385; Dieter Neutatz, Die ›deutsche Frage‹ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856–1914), Stuttgart 1993, S. 432. 21 Karl C. Thalheim, Das deutsche Auswanderungsproblem der Nachkriegszeit, Jena 1926, S. 114; siehe auch W. von Altrock, Die Bedeutung der deutschen Rückwanderung aus Rußland für die deutsche Landarbeiterfrage, in: Jahrbuch für Wohlfahrtspflege auf dem Lande, Sonderreihe 1: Archiv für Landarbeiterfrage, 2. 1920, H. 1, S. 16–26.

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zum Teil auch die Debatte in der Nachkriegszeit bestimmten: Zum einen ging es um die Frage von Möglichkeiten und Nutzen der ›Rückwanderung‹ in das Reich, wobei die Entwicklungschancen nach dem (siegreich beendeten) Krieg im Mittelpunkt standen. Zum andern war die ›Rückwanderung‹ von ›Deutschstämmigen‹ ein Thema der Bevölkerungspolitik in den besetzten und bald zu annektierenden Gebieten. ›Rückwanderung‹ wurde bereits im ersten Kriegsjahr im Zuge der annexionistischen Planungen für die Einrichtung eines ›Grenzstreifens‹ im Osten intensiv diskutiert. Vorgesehen war vor dem Hintergrund militärischer und wirtschaftlicher, aber auch ethno-nationaler Interessen die Annexion russischer Territorien entlang der preußischen Grenze von Ostpreußen im Norden bis Schlesien im Süden. In Fortsetzung der Ansiedlungspolitik im preußischen Osten schien eine solche Inbesitznahme nur in Verbindung mit einer Siedlungspolitik die militärstrategischen Erwartungen erfüllen zu können22 – die Schaffung »eines sicheren deutschen Grenzwalls durch Siedlungskolonisation«.23 Mitte 1915 bereits wurden erste Maßnahmen der Siedlungspolitik diskutiert, die auf die ›Germanisierung‹ des ›Grenzstreifens‹ zielten. Dabei kamen auf dieser regierungsamtlichen Ebene auch erstmals Deutsche in Russland zur Sprache, denen eine wichtige Rolle bei dem Projekt ›Germanisierung‹ zugeschrieben wurde.24 Anfang 1917 diskutierten die zuständigen preußischen und Reichsressorts sowie die Oberste Heeresleitung und das Oberkommando Ost diese Fragen erneut. Zu enteignen sei der Besitz »russisch-orthodoxer Eigentümer«, die nach der Annexion ohnehin »von dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen bleiben« sollten. Eine Entschädigung werde hierfür von Seiten des russischen Staates zu leisten sein.25 Dem Ziel der Annexion eines mit Hilfe ›deutschstämmiger‹ Kolonisten aus Russland ›germanisierten‹ ›Grenzstreifens‹ entlang der preußischen Ostgrenze – nach umfangreichen ›Umsiedlungen‹ der ansässigen Bevölkerung – war damit von allen beteiligten Ressorts breit zugestimmt worden.26 Der weitere forcierte Vormarsch der deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen 1917 und Anfang 1918 schien eine in ihren Zielen weit ausgreifende deut|| 22 Imanuel Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914–1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck/Hamburg 1960, S. 230–239. 23 So die Äußerung des Direktors der Kolonialschule in Witzenhausen, der als einer der ersten ›Rückwanderer‹ ins Reich brachte: Fabarius, Neue Wege der deutschen Kolonialpolitik nach dem Kriege, in: Der deutsche Auswanderer, 14. 1916, Nr. 1/2, S. 10–31, hier S. 16. 24 Preußisches Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten in Berlin an preußisches Staatsministerium in Berlin, 19.7.1915, abgedruckt in: Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914–1918, Dok. 1, S. 150f., hier S. 150. 25 Protokoll einer Besprechung über die »Rückwanderung deutscher Stammesgenossen aus Rußland und sonstigen Ländern und die dieserhalb in die Friedensverträge aufzunehmenden Bestimmungen« im Auswärtigen Amt in Berlin, 31.3.1917, BArch B, R3901, Nr. 18385. 26 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1967, S. 236–238.

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sche Annexionspolitik in Ostmittel- und Osteuropa immer realistischer werden zu lassen. Auf der Konferenz zur Ausgestaltung einer Politik der privilegierten Migration der ›Rückwanderer‹ am 2. März 1918 wurde beschlossen, »eine Organisation zu schaffen und so auszugestalten […], daß sie allen Anforderungen gewachsen sei«. Die Aufgaben einer solchen im Rahmen einer ethno-national orientierten Migrationssteuerung tätigen Organisation seien vielfältig: Sie habe die Bereitschaft zur ›Rückwanderung‹ von ›Deutschstämmigen‹ zu fördern, Zahl, Qualifikationen und Vermögen der Personen, die sich zur ›Rückwanderung‹ entschlossen hätten, zu erfassen, in den Herkunftsgebieten eine Auswahl unter den potenziellen ›Rückwanderern‹ zu treffen und sie im Rahmen wirtschafts-, sozial- und sicherheitspolitisch definierter Aufnahmekapazitäten in das Reich zu bringen. Zudem müsse sie den ›Rückwanderern‹ bei der Liquidation ihres Besitzes behilflich sein. Auch im Reich selbst habe sie die ›Deutschstämmigen‹ zu unterstützen, nämlich die ›Rückwanderung‹ zu organisieren, Sammellager bereitzustellen und Arbeit beziehungsweise Siedlerstellen nachzuweisen. Im Sinne der Ergebnisse dieser Besprechung wurde am 29. Mai 1918 eine ›Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswanderung‹ offiziell eingerichtet. Ihr Vorsitzender sah später das Motiv für die Gründung der Reichswanderungsstelle in der »Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß diese Mengen wertvollen Deutschtums sich nicht planlos über Deutschland ergössen«. Es habe sich darum gehandelt, »eine zentrale Stelle im Reiche zu schaffen, die dem Wanderungsstrom Wege und Ziele weisen sollte.«27 Es ging bei der Reichswanderungsstelle also nicht primär um die Unterstützung von Kolonisten deutscher Herkunft in einer kriegsbedingten Notlage, sondern um die Suche nach als zugehörig verstandenen Arbeitskräften und Siedlern. Die Reichswanderungsstelle war damit eine bevölkerungspolitisch motivierte Gründung mit dem Ziel, Kriegsfolgen durch Migrationssteuerung zu bereinigen. Die Gründung der Reichswanderungsstelle erfolgte auf dem Höhepunkt der deutschen Annexionspolitik, in einer Phase, in der die Oberste Heeresleitung (OHL) die Federführung in diesem Feld vollständig übernommen hatte, wie zuletzt auch die ›Denkschrift über den polnischen Grenzstreifen‹ vom 5. Juli 1918 deutlich machte. Diese fasste noch einmal alle militärischen, wirtschaftlichen und ethno-nationalen Argumente für die aus Sicht der OHL notwendige, weit ausgreifende Grenzverschiebung nach Osten zusammen. Auch für die Frage der ›Rückwanderung‹ und die Aufgaben der Reichswanderungsstelle war diese Denkschrift General Ludendorffs maßgeblich:

|| 27 Walter Jung, Entstehung und Aufgaben des Reichswanderungsamts, in: Auswandererberatung und Auswandererfürsorge, eine Notwendigkeit der Zeit (Jahrbuch für Wohlfahrtspflege auf dem Lande, H. 4), Berlin 1920, S. 5–7, hier S. 5.

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»Wir haben für die Jahre nach dem Kriege mit einem Strom deutscher Rückwanderer zu rechnen, und es liegt […] vollkommen in der Hand der Staatsbehörden, diesen Strom so zu lenken, wie es das Interesse des Deutschen Reiches erfordert. […] Allein die Zahl der aus Rußland zur Rückwanderung entschlossenen Deutschen wird auf 1 ½ Millionen = 300.000 Familien geschätzt. […] Für alle diese Rückwanderer muß Platz geschaffen werden. Das geringe noch vorhandene Siedlungsland im Reiche sowie das neu hinzutretende Siedlungsland im Baltenlande und in Litauen reichen nicht aus, um für diese Rückwanderer Platz zu schaffen. Auch dazu ist die Erwerbung des Grenzstreifens notwendig.«28

2 ›Rückwanderung‹ als Gefahr für die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die Minderheitenpolitik des Reiches Die Kriegsniederlage des Reiches 1918 ließ eine Umsetzung der im letzten Kriegsjahr entwickelten Konzeptionen zur ›Rückwanderung‹ Deutscher aus Russland unmöglich werden: Im März 1919 machte die Reichswanderungsstelle deutlich, dass »vom Nützlichkeitsstandpunkt der deutschen Politik das Weiterverbleiben der Kolonisten […,] und zwar wie bisher als ukrainische oder russische Staatsbürger […,] in Anbetracht der derzeitigen politischen Verhältnisse« ohne Alternative sei. Zum einen verspreche das Weiterbestehen der Siedlungskolonien die »Erhaltung des Deutschtums dort«; zum andern gebe es keine Möglichkeit für das Reich, eine ›Rückwanderung‹ zu forcieren.29 Die Schlussfolgerung des Reichswanderungsamtes, das im Mai 1919 aus der Reichswanderungsstelle hervorgegangen war, für die weitere Politik gegenüber den während des Krieges nach Deutschland gekommenen beziehungsweise gelockten ›Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit‹ war eindeutig: Es bestehe »ein zwingendes Interesse […], die Rückkehr der Flüchtlinge ins Ausland soweit irgend möglich zu fördern«. Sie werde einen Beitrag leisten den deutschen Arbeits- und Wohnungsmarkt durch die Abwanderung »völlig mittellos[er]« Menschen zu entlasten, die sich zudem zum Teil »in der dauernden Fürsorge«30 befänden.

|| 28 Chef des Generalstabes des Feldheeres im Großen Hauptquartier an Reichskanzler in Berlin, 5.7.1918, abgedruckt in: Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914–1918, Dok. 8, S. 170–178, hier S. 174–176; siehe auch die ausführliche ›Denkschrift betreffend die deutschen Kolonien in dem ehemaligen russischen Kaiserreich und ihre Rückwanderung nach Deutschland‹, Auswärtiges Amt, März 1918, BArch B, R901, Nr. 30006. 29 Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswanderung in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 8.3.1919, BArch B, R1501, Nr. 18388. 30 Reichsamt für deutsche Einwanderung, Rückwanderung und Auswanderung in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 18.1.1921, BArch B, R1501, Nr. 18389.

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Insgesamt verließen in dem Jahrfünft der Wirren von Russischer Revolution, deutscher Besetzung und russischem Bürgerkrieg 1917–1921/22 schätzungsweise etwa 120.000 ›Deutschstämmige‹ das Gebiet des ehemaligen Zarenreichs in Richtung Deutschland. Der weitaus überwiegende Teil traf noch während des Krieges beziehungsweise im Verlaufe des Rückzugs der deutschen Truppen ein. Für etwa die Hälfte von ihnen war Deutschland nur mehr eine Station auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Lateinamerika oder Kanada.31 In der Weimarer Republik rückten die Protagonisten von dem im Weltkrieg entwickelten Postulat immer weiter ab, die Zuwanderung von ›Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit‹ habe ein hohes bevölkerungspolitisches Gewicht für das Reich. Die Diskussion um die ›Rückwanderer‹ und ihre Positionierung in der deutschen Migrationspolitik konzentrierte sich wesentlich auf die Jahre 1921/22 sowie 1929/30. Für das Russland der Jahre von Revolution und Bürgerkrieg 1917–1922 werden immense Bevölkerungsverluste angenommen, die sich Schätzungen zufolge auf etwa 13 Millionen Menschen summieren. Davon sollen rund 2,5 Millionen als Angehörige bewaffneter Verbände der Bürgerkriegsparteien umgekommen sein; 1,5 bis 2 Millionen gingen in die Emigration; 2 Millionen fanden durch Epidemien den Tod; 1 Million wurden Opfer von Terrormaßnahmen und Banditenunwesen; rund 300.000 kamen bei Pogromen gegen Juden ums Leben. Der größte Teil aber, über 5 Millionen Menschen, starb aufgrund der Hungersnot von 1921/22.32 Zu den Opfern zählten auch viele ›Deutschstämmige‹. Ihre Zahl soll sich, den Ergebnissen der sowjetischen Volkszählung von 1926 und Schätzungen zufolge, zwischen Ende 1918 und Ende 1926 von 1,621 Millionen auf 1,238 Millionen verringert haben. Die für den Rückgang der Gesamtbevölkerung 1917–1922 genannten Gründe galten in gleichem Maße für sie; auch hier dominierte eindeutig die Hungersnot von 1921/22. Zerstörungen im Bürgerkrieg, existenzbedrohende Zwangsablieferungen und Missernten verschärften die Ernährungssituation seit 1920 so dramatisch, dass Schätzungen für 1921 von rund 25 Millionen Hungernden in Sowjetrußland ausgehen. Das Zentrum der Hungersnot bildete das Gouvernement Saratov, hier hungerten 2,1 von 2,9 Millionen Menschen. Das Gouvernement Saratov umschloss das Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen, hier entstand 1924 die ›Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen‹. Mitte 1921 hungerten drei Viertel aller Menschen im Wolgagebiet, im Winter 1921/22 fast alle. Im Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen ging die Bevölkerung durch Hungertod und Abwanderung von Ende 1920 bis zum 15. August 1921 von 452.000 auf 359.000, insgesamt also um fast ein Viertel,

|| 31 Martin Schmidt, Wolgadeutsche Emigranten im Deutschen Reich zwischen 1917 und 1933. Ihre Organisationen, Publikationen und der Stellenwert der Wolgakolonien für die deutsch-russischen Beziehungen, Magisterarbeit Freiburg i.Br. 1993, S. 42f. 32 Helmut Altrichter, »Offene Großbaustelle Rußland«. Reflexionen über das »Schwarzbuch des Kommunismus«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 47. 1999, H. 3, S. 321–361, hier S. 351, 353.

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zurück.33 Allein im Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen starben – nach Angaben der sowjetischen Regierung, die als zu niedrig eingeschätzt werden müssen – 48.000 Menschen und damit 10 Prozent aller dortigen Kolonisten deutscher Herkunft. Darüber hinaus flohen rund 74.000 Deutsche zwischenzeitlich aus der Wolgaregion, rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, vor dem Hunger aus ihren Dörfern in solche Gegenden, die eine bessere Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten schienen: Sibirien, Zentralasien, die Kaukasusregion, die Ukraine und Zentralrussland.34 Einige Tausend wichen aber auch über die Grenzen Sowjetrusslands aus, möglicherweise 2.000 bis 3.000 fanden in Deutschland Aufnahme.35 Auf erste Meldungen über Bewegungen ›Deutschstämmiger‹ aus den sowjetrussischen Hungergebieten nach Westen, von denen angenommen wurde, dass sie sich »in Massen nach Deutschland wenden«, reagierte das Reichsinnenministerium schon im Sommer 1921 mit einer klaren Abwehrpolitik: »Mit allen Mitteln wird angestrebt werden müssen, den Zustrom dieser Flüchtlinge von Deutschland fernzuhalten«. Eine Zuwanderung sei zu verhindern im Interesse des »Schutz[es] der einheimischen Bevölkerung vor einer weiteren Verschlechterung der Lebensverhältnisse« angesichts von Wohnungsnot, Erwerbslosigkeit und Problemen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Das Reichswanderungsamt wurde angewiesen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln »die Deutschstämmigen in Rußland festzuhalten oder nach anderen Gegenden außerhalb Deutschlands zu lenken«.36 Das Reichswanderungsamt wandte sich allerdings gegen die strikte Blockadepolitik des Reichsinnenministeriums. Die Gerüchte über nach Deutschland strebende Massenfluchtbewegungen seien falsch. Deshalb sei »aus Gründen der Menschlichkeit und in Anbetracht der Deutschstämmigkeit« der voraussichtlich wenigen tatsächlich die Grenze nach Deutschland überschreitenden Flüchtlinge ein »tunlichst weitgehendes Entgegenkommen« anzuraten. Im Ausland, vor allem aber im Inland werde eine strikte Grenzsperre auf Unverständnis stoßen, zumal die deutsche Asylpolitik ohnehin erheblichen Widerspruch hervorrufe: In der Öffentlichkeit werde man es »nie verstehen, wenn diese elendesten unserer deutschen Volksgenossen jetzt verschlossene Türen in Deutschland finden würden und an der deutschen Grenze verhungern müßten, während man Scharen von fremdstämmigen Elementen, insbesondere Ostjuden mit Rücksicht auf ihnen angeblich drohende russische und polnische Pogrome, unter ausdrücklicher regierungsseitiger Berufung

|| 33 Alfred Eisfeld, Die Rußland-Deutschen, München 1992. 34 James W. Long, The Volga Germans and the Famine of 1921, in: The Russian Review, 51. 1992, S. 510–525. 35 Adolf Eichler, Rußlanddeutsche im Reich, in: Jahrbuch der Hauptstelle für Sippenkunde des Deutschtums im Ausland, 4. 1939, S. 267–271. 36 Reichsministerium des Innern in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 9.8.1921, BArch B, R1501, Nr. 18389.

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auf Menschlichkeitspflichten in Deutschland dauernd gastliche Aufnahme gewähre.«37 Erwägungen humanitärer Hilfeleistung und ethno-nationaler Bevorzugung bildeten also den Hintergrund für das Plädoyer des Reichswanderungsamtes zugunsten einer Politik der schützenden Aufnahme einer für gering erachteten Zahl potenzieller Zuwanderer von der Wolga. Weil sich auch das Auswärtige Amt gegen eine strikte Grenzsperre wandte, tolerierte die Reichsregierung zunächst die Zuwanderung aus den sowjetrussischen Hungergebieten. Wie rasch allerdings die Akzeptanzschwelle der Innenressorts überschritten sein konnte, zeigte sich bald: Bis Ende Dezember 1921 hatte die Zahl der ›Deutschstämmigen‹, denen es gelungen war, Polen zu erreichen und die deutsche Grenze zu überschreiten, 500 bis 600 erreicht. Damit war für das Innenministerium die Grenze des tolerablen »kleinen Rahmens« der Zuwanderung Schutz suchender Deutscher aus Russland erreicht, zumal viele unter ihnen schwer erkrankt waren und die Behörden im Inland nicht auf deren Aufnahme vorbereitet wurden. Vor allem die Ereignisse am 6. Dezember 1921 im Aufnahmelager Frankfurt/ Oder veranlassten das Reichsministerium des Innern, die Grenzen erneut für Deutsche aus Sowjetrussland zu sperren: Rund 400 Deutsche von der Wolga waren dort an diesem Tag eingetroffen. In das städtische Krankenhaus wurden sofort »85 schwer erkrankte Männer, Frauen und Kinder eingeliefert und zwar in völlig verlaustem und verwahrlostem Zustand«. Sie litten zum größten Teil unter hochinfektiösem Flecktyphus. Innerhalb weniger Tage erhöhte sich die Zahl der Kranken, die in speziellen Gebäuden unter Quarantäne gestellt werden mussten, auf 150, bis Ende Dezember dann auf 241. Für den Magistrat der Stadt Frankfurt/Oder war es gegenüber dem Reichsinnenministerium »überhaupt unverständlich, daß ohne jede Vorsichtsmaßregeln ein so verseuchter Transport hierher geleitet werden konnte und wir erst davon in Kenntnis gesetzt wurden, als uns überhaupt keine andere Möglichkeit blieb, als die Kranken aufzunehmen«.38 Das Reichsinnenministerium verwies nach den Ereignissen in Frankfurt/Oder und angesichts der – durch das Anwachsen der Zahl der registrierten Flüchtlinge auf insgesamt 500 bis 600 vorgeblich geschaffenen – »Notlage im Reich« darauf, dass »eine übertriebene Rücksicht auf die Wolgadeutschen, die vor langen Zeiten aus Deutschland ausgewandert sind, und sich nun wieder auf ihr Deutschtum berufen […], nicht am Platze« sei. Auch das preußische Innenministerium vertrat einen ablehnenden Standpunkt: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung in

|| 37 Reichsamt für deutsche Einwanderung, Rückwanderung und Auswanderung in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 19.8.1921, BArch B, R1501, Nr. 18389. 38 Magistrat Frankfurt/Oder an Reichsministerium des Innern in Berlin, 10.12.1921, BArch B, R1501, Nr. 18404; L.V. Malinowski, Rußlanddeutsche in Frankfurt (Oder) 1923–1927, in: Frankfurter Jahrbuch des Vereins der Freunde und Förderer des Museums Viadrina, 1999, S. 65–78.

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Deutschland müsse im Vordergrund stehen, nicht aber die Situation der Flüchtlinge. Außenminister Rathenau betonte im März 1922 vor allem die Notwendigkeit einer Hungerhilfe im Herkunftsland der Zuwanderer. Sie sei eine »Präventivmaßnahme auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung und Flüchtlingsfürsorge«. Eine solche ›Bekämpfung von Fluchtursachen‹ biete zugleich wirtschaftliche Vorteile für das Reich: »Als Absatzgebiete für unsere landwirtschaftliche Industrie und für die Zukunft als Quelle reicher exportfähiger Bodenerzeugnisse können wir uns Südrußland nur sichern durch sofortige Linderung seiner Notlage, indem wir die Bevölkerung instand setzen, am Platze zu bleiben und das Land zu bearbeiten.«39

3 Rückkehrbewegungen in die UdSSR und internationaler migrationspolitischer Protektionismus Das Abklingen der Hungersnot 1922 bedeutete zugleich das Ende von Abwanderungen größeren Maßstabs aus Sowjetrussland. Seit dem Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg und der Festigung der sowjetischen Herrschaft war die Abwanderung erheblich zurückgegangen. Bereits unmittelbar nach der Oktoberrevolution waren erste Maßnahmen zur Kontrolle der Migration in den von den Sowjets beherrschten Gebieten ergriffen worden; seit 1919 bedurfte ein Grenzübertritt der Genehmigung durch das sowjetische Innen- und das Kriegsministerium, seit 1922 waren Wanderungen über die Grenzen des sowjetischen Territoriums faktisch nicht mehr möglich und auf wenige Ausnahmefälle beschränkt.40 Die Sowjetunion wurde damit zum weltweit ersten Staat, der grenzüberschreitende Migration (aber auch Binnenwanderungen) systematisch und mit hoher Effizienz kontrollierte und regulierte.41 Die sehr restriktive Auswanderungspolitik der UdSSR stand in unmittelbarer Verbindung mit dem großangelegten sowjetischen Industrialisierungsprogramm, das mit Hilfe einer weitreichenden Bindung und Lenkung aller Arbeitskräfte realisiert werden sollte. Nach dem Abklingen der Hungersnot der Jahre 1921–1923 gewannen Rückkehrbewegungen aus Deutschland in die UdSSR erheblich an Bedeutung. Formal ermöglicht wurde die Remigration der ›Rückwanderer‹ durch eine Amnestie der Regierung

|| 39 Zitiert nach Christoph Mick, Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche Rußlandpolitik 1928–1932, Stuttgart 1995, S. 350f. 40 Yuri Felshtinsky, The Legal Foundations of the Immigration and Emigration Policy of the USSR, 1917–27, in: Soviet Studies, 34. 1982, H. 3, S. 327–348, hier S. 336–343. 41 Alan Dowty, Closed Borders. The Contemporary Assault on Freedom of Movement, New Haven/ London 1987, S. 63–76.

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der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen vom 5. April 1924.42 Sie wurde später auch auf solche Abwanderer ausgedehnt, die das Wolgagebiet vor 1918 verlassen hatten. Dem ›Zentral-Komitee der Deutschen aus Russland‹ und dem ›Verein für Wolgadeutsche‹ zufolge, die die Anträge auf Rückkehr in das Wolgagebiet sammelten und an die Botschaft der UdSSR in Berlin weiterleiteten, setzte 1926 ein »Rückwanderungsfieber« ein, dem die Interessenverbände mit Verständnis begegneten; »denn es wäre diesen unglücklichen Heimatlosen nach all den Jahren des Herumwanderns von Herzen zu gönnen, daß sie wieder in ihre Heimat an ihre altgewohnte Arbeit kämen«.43 Die Organisationen sahen in der hohen Rückwanderungsbereitschaft vor allem ein Ergebnis der von Beginn der 1920er Jahre an kritisierten Mängel in der Aufnahmepolitik der Weimarer Republik. Ein wesentliches Konfliktfeld war hierbei die Frage der landwirtschaftlichen Ansiedlungsmöglichkeiten in Deutschland.44 In den Publikationen der Interessenverbände der ›Deutschstämmigen‹ aus Russland dominierte das Bild von der »Enttäuschung«45: Die Angehörigen ihrer Klientel seien immer nur »als lästige Ausländer, als Russen behandelt«46 und als »lästige Konkurrenten« im Verteilungskampf am Arbeitsmarkt gesehen worden.47 Das sowjetische Ziel einer Verhinderung von Abwanderungen stimmte mit dem Interesse der deutschen Politik an einer Zuwanderungsbegrenzung als Instrument im Kampf gegen die Krise überein. Das zeigte sich zuletzt Ende 1929, als im Zuge der sowjetischen Zwangskollektivierung Bauern nach Moskau zogen in der Hoffnung, von der deutschen Botschaft Hilfe zur Auswanderung zu erhalten: Die deutsche Regierung erklärte sich im Kontext der beginnenden Weltwirtschaftskrise erst nach sehr zögerlichen Verhandlungen bereit, sie vorläufig aufzunehmen. Mitte November 1929 warteten in Moskau rund 13.000 bis 14.000 ›deutschstämmige‹ Auswanderungswillige auf ihre Ausreisegenehmigung. Die Bemühungen der Kolonisten, bei

|| 42 Amnestie und Rückkehrerlaubnis für wolgadeutsche Flüchtlinge, in: Nachrichtenblatt der Reichsstelle für das Auswanderungswesen, 8. 1926, Nr. 1, S. 4. 43 Rückkehrerlaubnis für Wolgadeutsche, in: Deutsches Leben in Rußland. Zeitschrift für Kultur und Wirtschaft der Deutschen in Rußland. 4. 1926, Nr. 5/6, S. 132. 44 Rußlanddeutsche Bauern in Deutschland – ohne Land! Wertvolles Siedlermaterial für die Grenzsiedlung im Osten, hg.v.d. Arbeitsgemeinschaft von Vereinen deutscher Kolonisten aus der Ukraine in Deutschland, Berlin 1925. 45 Der Abbau der Flüchtlingsfürsorge, in: Deutsche Post aus dem Osten, 2. 1921, Nr. 18, S. 5f.; Ferdinand Niedermeyer, Ostprobleme. Beobachtungen und Gedanken eines Auslanddeutschen. Vorträge gehalten im Auftrage der Wirtschaftsstelle für die deutschen Ostkolonisten (Verband der Kolonisten und anderen Deutschen Nordrußlands e.V.), Bd. 1: Die rußlanddeutschen Bauern im Kampf um ihr Volkstum und ihr Heimatrecht, Berlin 1929, S. 11f. 46 Das Zentral-Komitee der Deutschen aus Rußland und seine Arbeit, in: Deutsches Leben in Rußland. Zeitschrift für Kultur und Wirtschaft der Deutschen in Rußland, 5. 1927, Nr. 7/8, S. 2. 47 Die Lage der deutschen Flüchtlinge aus Wolhynien in Ostpreußen, in: Wolgadeutsche Monatshefte, 2. 1923, H. 7/8, S. 103.

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den zuständigen sowjetischen Behörden die erforderliche Ausreiseerlaubnis zu erhalten, hatten zunächst keinen Erfolg; vielmehr ergriffen die Polizeibehörden Maßnahmen, um einen weiteren Zuzug nach Moskau zu unterbinden und den Druck auf die bereits in der Hauptstadt befindlichen Bauern zu erhöhen, die Rückreise in ihre Siedlungsgebiete anzutreten. Die Fürsprache der deutschen Botschaft zugunsten der deutschsprachigen Bauern gegenüber dem sowjetischen Außenministerium war vornehmlich ein Resultat der innenpolitischen Debatte in Deutschland: Eine Flut von Presseberichten hatte eine erregte öffentliche Diskussion über die Ausrichtung der Politik gegenüber der deutschen Minderheit in Gang gesetzt. Hilfsorganisationen verbuchten hohe Spendeneingänge. Reichsaußenminister Curtius betonte gegenüber dem Reichskanzleramt, »die deutsche öffentliche Meinung« sei »bereits stark interessiert und wird es nicht verstehen, daß deutschstämmige Bauern, die unter dem Zwange unerträglicher physischer und seelischer Not sich zur Auswanderung aus der Sowjetunion entschlossen haben, im Stiche gelassen und dem sicheren Untergang ausgesetzt werden.«48 Dennoch kam für die Reichregierung eine dauerhafte Aufnahme in Deutschland nicht in Frage. Im November 1929 eskalierten die Auseinandersetzungen um die Ausreise der ›deutschstämmigen‹ Bauern. Die sowjetischen Behörden hatten am 19. Oktober die Ausreise der Kolonisten unter der Bedingung eines sofortigen Abtransportes genehmigt.49 Ein Aufnahmeland aber konnte trotz der sowjetischen Drohung, Rücktransporte in die Herkunftsgebiete durchzuführen, nicht benannt werden. Angesichts der Verzögerungen der Ausreise begannen die sowjetischen Polizeibehörden Mitte November damit, erste Rücktransporte einzuleiten, von denen nach Erkenntnissen der deutschen Botschaft zwischen dem 17. und dem 23. November 8.000 Menschen, der größte Teil der nach Moskau gereisten Kolonisten also, betroffen war. Die deutsche Botschaft in Moskau bat die sowjetischen Behörden um einen Aufschub der Deportationen.50 Während das Auswärtige Amt die vorläufige Aufnahme der Flüchtlinge befürwortete, lehnten die beteiligten Innenressorts weiterhin aus Kostengründen und wegen der Befürchtung, Nachahmungseffekte herauszufordern, ab.51 Im Wettlauf mit dem Rücktransport der ›deutschstämmigen‹ Bauern aus Moskau erteilte dann, nach einer Abstimmung mit den Fraktionsführern der größeren im Reichstag vertretenen Parteien52, das Reichskabinett am 18. November 1929 die || 48 Auswärtiges Amt in Berlin an Staatssekretär in der Reichskanzlei in Berlin, 6.11.1929, BArch B R43 I, Nr. 141. 49 Telegramm Deutsche Botschaft in Moskau an Auswärtiges Amt in Berlin, 29.10.1929, ebd. 50 Deutsche Botschaft in Moskau an Auswärtiges Amt in Berlin, 19.11.1929, ebd. 51 Vortragsanzeige des zuständigen Referenten betreffend Rückführung deutschstämmiger Kolonisten aus Rußland gegenüber dem Staatssekretär im Reichskanzleramt, 7.11.1929, ebd. 52 Niederschrift über die Parteiführerbesprechung am 14.11.1929, Reichskanzlei in Berlin, ebd.

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Genehmigung für einen vorläufigen Aufenthalt von bis zu 13.000 Kolonisten in Deutschland.53 Zeitgleich wurde der Beginn massiver Rücktransporte und Deportationen der sowjetischen Behörden bekannt, die die Zahl der rußlanddeutschen Bauern in Moskau rasch verringerte. Die Transporte nach Deutschland über Lettland und Litauen begannen am 30. November 1929.54 Am Ende wurden rund 5.700 Kolonisten deutscher Herkunft nach Deutschland transportiert. Die Reichsregierung war bemüht gewesen, dem innenpolitischen Druck – der auf der politischen Bühne vor allem vom Zentrum und von den rechtsgerichteten Parteien ausgeübt wurde und in der breiten Pressediskussion Unterstützung fand – zur sofortigen Aufnahme aller nach Moskau gezogenen deutschen Bauern in Deutschland standzuhalten. Sie suchte einen Ausweg aus dem Dilemma, protektionistische Wanderungspolitik als ein Mittel zur Lösung der Krise von Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu betreiben und zugleich zunächst Tausende, möglicherweise aber bald Zehntausende weiterer Bauern aufnehmen zu müssen. Vor allem das Reichsfinanzministerium, das Reichsinnenministerium und die preußische Staatsregierung hatten sich gegen die Aufnahme ausgesprochen.55 Nicht zuletzt die Intervention Reichspräsident von Hindenburgs, der der Auffassung war, »daß eine Fürsorge für diese bedauernswerten Bauern deutscher Rasse aus menschlichen wie aus politischen Gründen unbedingt notwendig« sei, trug dazu bei, dass die von Beginn an von der deutschen Botschaft in Moskau und vom Auswärtigen Amt vertretene Aufnahmepolitik sich durchsetzte: »Die öffentliche Meinung in Deutschland würde es nicht verstehen, wenn man diese Leute dem sicheren Hungertode überließe, nachdem man seit Kriegsende wohl mehrere Hunderttausend Fremde, oft sehr unerwünschter Qualität, nach Deutschland hineingelassen hat.«56 Am Ende formulierte die Reichsregierung auf Vorschlag von Reichsaußenminister Curtius restriktive Bedingungen für die vorläufige Aufnahme der deutschen Kolonisten gegenüber deren Interessenverbänden: Für den Transport und die Unterbringung in Deutschland stellte das Reich am 19. November 1929 zwar Mittel in Höhe von sechs Millionen Reichsmark zur Verfügung; das Geld war aber zu wesentlichen Teilen von den Verbänden zurückzuzahlen: Das galt für alle Transportkosten außerhalb Deutschlands und für alle Kosten, die in Deutschland für die Unterbringung aufgewendet werden mussten. Außerdem wurde ihnen die Pflicht auferlegt, für die Weiterwanderung der Kolonisten nach Übersee zu sorgen. Die Ende 1929 in Deutschland eingetroffenen deutschen Bauern aus der UdSSR wurden || 53 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Reichsministerien vom 18.11.1929, Reichskanzlei in Berlin, ebd. 54 Telegramm Deutsche Botschaft in Moskau an Auswärtiges Amt in Berlin, 30.11.1929, ebd. 55 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Reichsministerien vom 9.11.1929, Reichskanzlei in Berlin, ebd. 56 Staatssekretär im Büro des Reichspräsidenten in Berlin an Staatssekretär in der Reichskanzlei in Berlin, 12.11.1929, ebd.

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zunächst in drei Lagern untergebracht (Hammerstein/Posen-Westpreußen: rund 3.200 Personen, Prenzlau/Brandenburg: rund 1.700, Mölln/Schleswig-Holstein: rund 800). Von dort erfolgte ihre Weiterwanderung 1930/31 mit den Zielen Kanada, Brasilien, Paraguay und Argentinien. Am 20. Februar 1930 beschloss das Reichskabinett auf der Basis wirtschaftlicher Erwägungen, aber auch, um die Beziehungen zur UdSSR nicht weiter zu belasten57, keine weiteren Kolonisten deutscher Herkunft mehr aufzunehmen. Der Zuwanderungsstopp der Reichsregierung erfolgte vor dem Hintergrund der Erwartung, die Abwanderung aus der UdSSR werde im Zuge der weiteren Kollektivierung der Landwirtschaft zunehmen.58 Experten gingen von einer möglichen Auswanderung von 700.000 bis 800.000 Deutschen aus der Sowjetunion aus, von denen ein Teil auch Deutschland erreichen werde.59 Der deutsche Zuwanderungsstopp seit Anfang 1930 galt, wie das Auswärtige Amt formulierte, vor diesem Hintergrund als eine Maßnahme, die »für die Kolonisten eine starke Wirkung im Sinne ihres Verbleibens auf ihrer Scholle haben« werde.60 Die deutsche Botschaft in Moskau und einzelne deutsche Konsulate in der UdSSR wurden angewiesen, Bauern deutscher Herkunft vor der Abwanderung zu warnen und darauf hinzuweisen, dass eine Aufnahme in Deutschland nicht möglich sei.61

4 Fazit: die Aushandlung migratorischer Nützlichkeitserwartungen Das Interesse an den ›Deutschstämmigen‹ in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa erwachte im deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts. Wesentlich verantwortlich war dafür der Alldeutsche Verband, der sie für seine ›weltpolitischen‹ Bestrebungen zu instrumentalisieren suchte. In diesem Kontext wurde auch die Frage nach den Möglichkeiten einer Forcierung der ›Rückwanderung‹ vor allem deutscher Kolonisten aus Russland als größter deutscher Minderheitengruppe in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa diskutiert. In zweifacher Hinsicht schien eine ›Rückwanderung‹ im kaiserlichen Deutschland aus bevölkerungs- und nationalitätenpolitischen Gründen nutzbringend zu sein: Zum einen sollten Landarbeitskräfte aus den deut|| 57 Harvey Leonard Dyck, Weimar Germany and Soviet Russia 1926–1933. A Study in Diplomatic Instability, London 1966, S. 162–184. 58 Auswärtiges Amt in Berlin an Staatssekretär in der Reichskanzlei in Berlin, 14.2.1930, BArch B, R 43 I, Nr. 141. 59 Otto Auhagen, Die Schicksalswende des rußlanddeutschen Bauerntums in den Jahren 1927– 1930, Leipzig 1942, S. 57. 60 Zitiert nach Schmidt, Wolgadeutsche Emigranten im Deutschen Reich, S. 41. 61 Ebd., S. 38.

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schen Siedlungsgebieten im Osten dazu beitragen, polnische Arbeitswanderer aus den ostelbischen landwirtschaftlichen Großbetrieben zu verdrängen. Zum andern sollten Bauern, ebenfalls im Sinne der antipolnischen ›Abwehrpolitik‹, als Kolonisten das von Bismarck aufgelegte, großangelegte landwirtschaftliche Ansiedlungsprogramm im preußischen Osten unterstützen, für das einheimische Bewerber nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Bis zum Weltkrieg schlugen diese Strategien weitgehend fehl, weil die Zahl der ›Rückwanderer‹ deutlich unter den Erwartungen blieb. Im Ersten Weltkrieg wuchs die Bedeutung der Siedlungskolonien für das Reich vor allem in bevölkerungspolitischer Hinsicht erheblich: Intensiv diskutiert wurde die Frage der Ansiedlung von deutschen Bauern aus Russland in den neu eroberten Gebieten des Ostens, die in einem breiten ›Grenzstreifen‹ östlich der preußischen Grenzen annektiert werden sollten. Zur Umsetzung der ›Rückwanderung‹ sowie Ansiedlung im ›Grenzstreifen‹ und im Reich wurde Anfang 1918 mit der Reichswanderungsstelle eine besondere Organisation geschaffen. Sie konnte aber angesichts der anders ausgerichteten kriegswirtschaftlichen Prioritäten die ›Rückwanderung‹ nur in Ansätzen forcieren. Als wesentlich wichtiger erwies sich die Rekrutierung von ›deutschstämmigen‹ Arbeitskräften für die unter erheblichem Arbeitskräftemangel leidende deutsche Landwirtschaft. Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg endete das Interesse an der ›Rückwanderung‹ von ›Deutschstämmigen‹ aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. ›Rückwanderer‹ galten nicht mehr als bevölkerungspolitische Entlastung, sondern als Belastung für Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeitsmarkt und auswärtige Beziehungen zu den Herkunftsländern. Eine aktive ›Rückwanderungs‹-Politik wurde nicht mehr betrieben, ›deutschstämmige‹ Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa galten der deutschen Außen- und Minderheitenpolitik nur als nützlich, solange sie ihre Siedlungsgebiete nicht verließen. Ein Mittel zur Verhinderung von Zuwanderung und dauerhafter Ansiedlung von ausländischen Staatsbürgern deutscher Herkunft lag in einer restriktiven Anwendung des ›Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes‹ von 1913, das im Grundsatz gegenüber der Einbürgerung von ›Deutschstämmigen‹ sehr offen war. Eine rechtliche Gleichstellung der »Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit im Reiche«62 mit den Reichsangehörigen wurde in der Weimarer Republik ebenso abgelehnt wie eine rasche Einbürgerung der ›Deutschstämmigen‹. Das war aus Sicht von Vertretern deutscher Minderheiten im Ausland falsch: Die Schwächung der deutschen Position im politischen und wirtschaftlichen Gefüge Europas nach dem Weltkrieg müsse das Interesse des Reiches an der nach dem Versailler Vertrag noch angestie-

|| 62 Broecker, Der Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit; hierzu siehe auch Regine Just, Gescheitertes Miteinander. Einbürgerungspolitik und Einbürgerungspraxis in Deutschland von 1871– 1933, in: AWR-Bulletin. Vierteljahresschrift für Flüchtlingsfragen, 36. 1998, H. 2–3, S. 81–106, hier S. 89–96.

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genen Zahl ehemaliger Reichsangehöriger und ›Deutschstämmiger‹ außerhalb der Reichsgrenzen wesentlich erhöhen. Ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Verbindung zwischen Reich und deutschen Minderheiten im Ausland könne eine offenere Interpretation der Einbürgerungsregelungen sein. Das gelte sowohl für die ehemaligen Reichsangehörigen, die aufgrund des Versailler Vertrags Angehörige eines anderen Staates geworden seien, als auch für ›Deutschstämmige‹, die niemals die deutsche Staatsangehörigkeit besessen hätten. Auch sie dürften bei einem Aufenthalt im Reich nicht per se als Ausländer behandelt werden; ihnen müsse vielmehr eine Sonderstellung zukommen, die unter anderem zur zügigen Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit führen sollte. »Vielleicht läßt sich aber auch noch etwas völlig Neues schaffen«, argumentierte der Völkerrechtler Walter Schätzel, »nämlich eine das gesamte Deutschtum umfassende straff organisierte deutsche Volksgemeinschaft, die loszulösen wäre von jeder Verbindung mit der deutschen Staatsangehörigkeit und dem Deutschen Reich«. Man könne an einen »großen Verein« denken, »in dem alle deutschstämmigen Personen gleichviel welcher Staatsangehörigkeit Aufnahme finden könnten.« Den Vorteil einer »Mitgliedschaft in diesem Verein« sah er darin, »daß er die deutsche Eigenschaft bezeugt und daß dementsprechend in allen deutschsprachigen Staaten die Mitglieder als Volksgenossen besondere Vergünstigungen genießen.«63 In der Begründung für die entgegengesetzte Position, die rechtlich in der Weimarer Republik verankert blieb64, wurde vor allem auf zwei häufig wiederholte Punkte verwiesen: Eine Gleichstellung von ›Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit‹ und Reichsangehörigen führe erstens zu einer ›Entfremdung‹ der ›Volksdeutschen‹ von ihrer Heimat in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa und schwäche damit die Minderheiten deutscher Herkunft im Ausland, zumal sie die Attraktivität des Reiches für diese Zuwanderer erhöhe und die Auflösung der Minderheitengruppen nur weiter verstärke. Zweitens gefährde eine großzügige Vergabe der Reichsangehörigkeit wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Interessen des Reiches. Immerhin verfüge, so führte der Rechtswissenschaftler Rudolf von Broecker aus, der ›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹ über einen »moralischen Anspruch« auf ein »Gastrecht« in Deutschland. Eine Ausweisung solle nämlich nur dann erfolgen, wenn schwere politische Gefährdungen für das Reich durch seinen Aufenthalt zu erwarten seien oder wenn es sich um »asoziale Elemente« handele. Die Grenzen des Interpretationsspielraums waren dabei allerdings schnell erreicht. Zwar solle der ›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹ nicht allein aufgrund einer Er|| 63 Walter Schätzel, Die Rechtsbeziehungen der Auslanddeutschen zum Reich, Berlin 1921, S. 36–40 (Zitat S. 36). Zur Diskussion um die Entwicklung des Begriffs der ›Volkszugehörigkeit‹ siehe Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 353–368. 64 Ernst Isay, Das deutsche Fremdenrecht. Ausländer und Polizei, Berlin 1923, S. 30–32; ders., Kommentar zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz und zu den deutschen Staatsangehörigkeitsverträgen, Berlin 1929.

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werbslosigkeit ausgewiesen werden, aber schon dann, wenn er aufgrund einer solchen Erwerbslosigkeit gezwungen sei, Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen.65 Die Argumentation in der Weimarer Republik fasste 1930 von Broecker unter Hinweis auf eine »gesamtdeutsche Verantwortung« der Einbürgerungspraxis zusammen: »Das Reich als Staatsnation kann kein Interesse daran haben, dass die deutsche Kulturnation durch haufenweise zugelassene Einbürgerung einschrumpft. Ebensowenig kann das Reich als geschlossene Volkswirtschaft ein Interesse daran haben, seinen Volkskörper über dessen natürliches Wachstum hinaus durch haufenweise Einbürgerung zu vergrößern. Es besteht also schlechthin ein positives Interesse an Nichteinbürgerung Volksdeutscher fremder Staatsangehörigkeit«.

Die Maxime der Weimarer Politik gegenüber den ›deutschstämmigen Rückwanderern‹ lautete mithin: Verhinderung von Zuwanderung in das Reich durch Erhaltung der Siedlungsschwerpunkte in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa aus innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Erwägungen, notfalls auch gegen humanitäre Interessen. Seien, so von Broecker, in den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs noch vergleichsweise viele ›Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit‹ auf der Basis der »entschuldbaren Vorstellung einer möglichst weitgehenden Hilfsverpflichtung« ihnen gegenüber eingebürgert worden, werde seitdem das Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz wesentlich restriktiver angewendet.66 Eine klar entgegengesetzte Linie entwickelte die nationalsozialistische Politik, die sich in Teilbereichen an der Siedlungsdiskussion während des Ersten Weltkriegs orientierte. Sie zielte nicht auf die in der Weimarer Republik besonders betonte Erhaltung von Minderheiten deutscher Herkunft in ihren Siedlungsgebieten. Unter der Parole ›Heim ins Reich‹ wurden vielmehr 1939–1944 etwa 1 Million ›Volksdeutsche‹ vor allem in den von Deutschland besetzten und annektierten Gebieten des Ostens umgesiedelt.67

|| 65 Ders., Das deutsche Fremdenrecht, S. 33, 38. 66 Broecker, Der Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit, S. 39. 67 Hierzu siehe den Beitrag von Markus Leniger in diesem Band.

Jochen Oltmer

›Schutz des nationalen Arbeitsmarkts‹: grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik Die Migrationsverhältnisse Europas wurden nach dem Ersten Weltkrieg deutlich stärker als vor 1914 durch staatliche Anstrengungen zur Kontrolle und Beeinflussung grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen bestimmt. Der Erste Weltkrieg mit seinen massiven staatlichen Interventionen in weite Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft bildete für die Entwicklung der Migrationsverhältnisse nicht nur eine wichtige Zäsur, sondern auch einen ganz wesentlichen Katalysator.1 Vor allem der Arbeitsmarkt war in der Kriegswirtschaft ein bevorzugtes Objekt staatlicher Kontrolle und Intervention geworden.2 Er blieb in der Nachkriegszeit auch aufgrund dieser Erfahrungen ein wachsender Bereich staatlicher Beeinflussung und politischer Gestaltung. Die beschleunigte Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen im und nach dem Ersten Weltkrieg ließ die Interventionskapazität des Staates erheblich ansteigen und forderte eine Definition und Eingrenzung des Kreises der Leistungsberechtigten, die nicht zuletzt auch ›Inländer‹ von ›Ausländern‹ trennte. Schließlich hatte der Erste Weltkrieg mit seinem extremen Nationalismus, die Ausgrenzung und zum Teil auch die staatlich betriebene oder zumindest forcierte Austreibung von Minderheiten sowie allgemeinhin Fremdenfeindlichkeit gefördert. Auch diese Tendenz trug in der Nachkriegszeit zu einer Arbeitsmigrationspolitik bei, die protektionistische Züge trug. Die Wanderungspolitik unterlag nicht nur aufgrund des durch den Weltkrieg beschleunigten Wandels zum nationalen Interventionsstaat wesentlichen Veränderungen. Sie wurde in der Weimarer Republik vor allem auch deshalb auf zum Teil andere Weise als im Kaiserreich thematisiert, weil sich die wirtschaftlichen, politischen und geographischen Grundlagen und Entwicklungsbedingungen erheblich verändert hatten. Als bestimmendes Thema der politischen Diskussion um Migration löste mit dem neuen Primat der Arbeitsmarktpolitik der ›Schutz des nationalen

|| 1 Jochen Oltmer, Migration and Public Policy in Germany, 1918–1939, in: Larry E. Jones (Hg.), Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the United States, New York/Oxford 2001, S. 50–69; hierzu siehe auch Leo Lucassen, The Great War and the Origins of Migration Control in Western Europe and the United States (1880–1920), in: Anita Böcker u.a. (Hg.), Regulation of Migration. International Experiences, Amsterdam 1998, S. 45–72; Aristide R. Zolberg, Global Movements, Global Walls: Responses to Migration, 1885–1925, in: Wang Gungwu (Hg.), Global History and Migrations, Boulder, CO/Oxford 1997, S. 279–307. 2 Hierzu siehe den Beitrag von Jens Thiel in diesem Band.

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Arbeitsmarkts‹ in der Folge erheblicher konjunktureller und struktureller Erwerbslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg die vor 1914 hervorgehobene ›Leutenot‹ in Industrie und Landwirtschaft ab.3 Trotz der neuen Bedeutung einer an der Arbeitsmarktentwicklung orientierten Beeinflussung des Wanderungsgeschehens lässt sich die Genese des Wechselverhältnisses von Staat und Migration nicht ausschließlich auf diesen Politikbereich zurückführen: Die Wanderungspolitik und die zeitgenössische Diskussion über ihre Inhalte und Formen waren in der Weimarer Republik vielmehr geprägt durch ein Geflecht von sozial- und arbeitsmarktpolitischen, wirtschafts- und nationalitätenpolitischen, sicherheits- und außenpolitischen Interessen zahlreicher, je unterschiedlich motivierter und je unterschiedlich mächtiger Akteure. Der Blick auf die Entwicklung der staatlichen Beeinflussung des Feldes Arbeitsmigration bietet einen Zugang zu den je unterschiedlichen Konfliktkonstellationen sowie zu den Bedingungen, Zielsetzungen und Ergebnissen der Diskussion um Kontrolle und Regulierung von grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen in der Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Im Folgenden geht es um die Aushandlung der staatlichen Kontrolle und Regulierung des Arbeitsmigrationsgeschehens. Dazu werden in vier Abschnitten zentrale Ziele der Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik in den Blick genommen: 1. die Bindung der Zuwanderung an die Arbeitsmarktentwicklung, 2. die Verringerung der Zahl der in Deutschland beschäftigten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland durch Kontingentierung, 3. die ReSaisonalisierung der polnischen Arbeitswanderung ins Reich und schließlich 4. die Forcierung der vermehrten Beschäftigung von als ›deutschstämmig‹ kategorisierten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten im Sinne einer ethno-national orientierten antipolnischen ›Abwehrpolitik‹.

|| 3 Zum Gesamtkomplex siehe Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, Kap. 6–8; Klaus J. Bade, Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik, in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein i.Ts. 1980, S. 160–187; Knuth Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, Königstein i.Ts. 1981, S. 85–117; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin/Bonn 1986, S. 114–119 (erweiterte Neuausgabe: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 118–123); Horst Kahrs, Die Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration nach Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Eberhard Jungfer u.a., Arbeitsmigration und Flucht. Vertreibung und Arbeitskräfteregulierung im Zwischenkriegseuropa, Berlin/Göttingen 1993, S. 130–194; Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland 1880–1930, München 2010, S. 358–378.

Grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik | 505

1 ›Inländervorrang‹, ›Genehmigungspflicht‹ und ›Legitimationszwang‹: die Steuerung der Zuwanderung entlang der Arbeitsmarktentwicklung Angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage in der Weimarer Republik galt als Vorgabe für die Beeinflussung der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration ein klarer ›Inländervorrang‹ auf dem Arbeitsmarkt. Aus dem Ausland zugewanderte Arbeitskräfte sollten nur mehr eine Ersatz- oder Zusatzfunktion haben. In der Phase der Demobilmachung unmittelbar nach Kriegsende war in Deutschland die Entscheidung gefallen, Zuwanderer weiter in der deutschen Wirtschaft zu beschäftigen. Zur Durchsetzung einer von der Entwicklung des Arbeitsmarkts abhängigen Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland galt seit April 1920 die ›Genehmigungspflicht‹, nach der zugewanderte landwirtschaftliche Arbeitskräfte nur dann beschäftigt werden durften, wenn ein Betrieb erfolgreich bei der Arbeitsverwaltung um eine ›Beschäftigungsgenehmigung‹ nachgesucht hatte. Die Prüfung der Anträge war Aufgabe der landwirtschaftlichen Fachausschüsse bei den Landesarbeitsämtern. Sie setzten sich paritätisch aus Vertretern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen zusammen und standen unter dem Vorsitz des ebenfalls stimmberechtigten Direktors des jeweiligen Landesarbeitsamts. Zugleich mit der Genehmigungspflicht für landwirtschaftliche Arbeitskräfte aus dem Ausland im April 1920 wurde die Zuwanderung von Industriearbeiterinnen und -arbeitern verboten, die nicht über Einreisesichtvermerke verfügten. Die deutschen diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Ausland durften Sichtvermerke nunmehr dann nicht ausstellen, wenn in dem vom Antragsteller angegebenen Zuzugsort einheimische Erwerbslose gleicher Qualifikation gemeldet waren und Wohnungen nicht zur Verfügung standen. Damit wurde faktisch auch die Zuwanderung von Industriearbeiterinnen und -arbeitern von der Arbeitsmarktlage in Deutschland abhängig gemacht.4 Zu einer reichseinheitlichen, die Beschäftigung aller zugewanderten Arbeitskräfte umfassenden Regelung kam es 1922/23. Die am 2. Januar 1923 erschienene ›Verordnung über die Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeiter‹5 führte eine Vielzahl bereits bestehender Bestimmungen zusammen. Dabei blieb es bei einer Fixierung des Verfahrens auf die Arbeitgeber: Sie waren verpflichtet, um eine Genehmigung zur Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten || 4 Verfügung betr. Einwanderung ausländischer Arbeiter, 15.3.1920, in: Der Arbeitsnachweis in Deutschland, 7. 1919/20, S. 213. 5 Stephan, Die Verordnungen der Reichsarbeitsverwaltung zur Regelung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, in: Neue Zeitschrift für Ausländerrecht, 3. 1923, Sp. 345–358.

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nachzusuchen. Diese durften nur in den Betrieben arbeiten, die über eine Beschäftigungsgenehmigung verfügten. Von den Unternehmen wiederum konnten sie legal nur eingestellt werden, wenn sie über eine ordnungsgemäße Legitimationskarte der Deutschen Arbeiterzentrale verfügten6, die als halbstaatliche Organisation auch in der Weimarer Republik für die Rekrutierung und Legitimierung von zugewanderten Arbeitskräften verantwortlich blieb. Der Legitimationszwang galt nicht für Arbeitskräfte aus dem Ausland, die sich bereits seit mehreren Jahren ununterbrochen in Deutschland aufgehalten hatten (Stichtag: 1. Januar 1913 für landwirtschaftliche, 1. Januar 1919 für industrielle Arbeitskräfte). Sie konnten einen ›Befreiungsschein‹ erhalten, der sie zugleich von der ausschließlichen Beschäftigung in Betrieben mit Beschäftigungsgenehmigung löste. Für zugewanderte Arbeitskräfte hingegen, die der Legitimationspflicht unterlagen, galt diese Freizügigkeit nicht. Abgesehen davon, dass sie nur zwischen Betrieben wechseln durften, die über eine Beschäftigungsgenehmigung verfügten, durften sie regulär eine Arbeitsstelle nur dann verlassen, wenn der Arbeitgeber sein Einverständnis mit der Auflösung des Vertragsverhältnisses schriftlich bestätigt hatte. In Streitfällen konnte ein paritätischer Ausschuss bei dem lokal zuständigen Arbeitsnachweis angerufen werden. Dabei musste der Wechsel einer für einen landwirtschaftlichen Arbeitsplatz verpflichteten Arbeitskraft aus dem Ausland in nichtlandwirtschaftliche Beschäftigungsbereiche durch das zuständige Landesarbeitsamt genehmigt werden. Damit war das an der Arbeitsmarktentwicklung orientierte System von Zulassung und Beschäftigung aus dem Ausland zugewanderter Arbeitskräfte geschlossen. Dieses System blieb ohne gravierende Änderungen ein Jahrzehnt lang gültig. Auch das für den Ausbau von Arbeitsverwaltung und Erwerbslosenversicherung zentrale ›Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‹ (AVAVG) von 1927 brachte für die rechtlichen Grundlagen der Zuwanderung und Beschäftigung von Arbeitskräften aus dem Ausland keine wesentlichen Veränderungen mit sich.7 Zu einem grundlegenden Wandel der Regelungsstruktur führte erst die wenige Tage vor dem Ende der Weimarer Republik veröffentlichte ›Verordnung über ausländische Arbeitnehmer‹ vom 23. Januar 1933. Erstmals wurden in das Genehmigungsverfahren auch Angestellte einbezogen. Die Beschäftigungsgenehmigungen blieben erhalten. An die Stelle der Legitimationskarte der Deutschen Arbeiterzentrale trat die Arbeitserlaubniskarte der Arbeitsverwaltung. Die Arbeitserlaubnis selbst wurde bei den Polizeibehörden beantragt, die zugleich über die allgemeine Aufenthaltserlaubnis entschieden. Das hatte aus der Sicht von Arbeitsmarkt- und Sicher-

|| 6 Abgedruckt in: Walter Kaskel/Friedrich Syrup, Arbeitsnachweisgesetz. Kommentar, Berlin 1923, S. 22–30. 7 Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat, S. 105.

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heitspolitik den Vorteil, einerseits »etwaige polizeiliche Bedenken gegen die Person des Ausländers vor Erteilung der Arbeitserlaubnis wirksam zu machen und andererseits die Geltung der polizeilichen Aufenthaltserlaubnis nach Dauer und örtlichem Bereich auf die Geltung der ›Arbeitserlaubnis‹ abzustellen.«8 Die Möglichkeiten der Kontrolle über Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland im Reich wurden auch dadurch erhöht, dass die Beschäftigungsgenehmigungen der Betriebe nur mehr auf einen namentlich benannten Arbeitnehmer lauteten. Bei einem Stellenwechsel musste die Beschäftigungsgenehmigung durch den Betrieb wieder neu beantragt werden. Das galt auch für die Arbeitserlaubnis: Sie war ebenfalls an die Beschäftigung in einem namentlich genannten Betrieb gebunden und erlosch mit dem Verlassen dieser Arbeitsstelle.9 Die Bedingungen für die Erteilung von Befreiungsscheinen wurden ebenfalls geändert. Die Stichtagsregelung entfiel. Befreiungsscheine konnten von nun an Arbeitnehmer aus dem Ausland dann erhalten, wenn sie sich zehn Jahre lang ununterbrochen in Deutschland aufgehalten hatten; Härtefallregelungen kamen hinzu. Die Genehmigung der Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in den Betrieben lag damit nunmehr ebenso in der Hand der Arbeitsverwaltung wie die Anwerbung und Genehmigung der Einreise der Arbeitskräfte. Die Verstaatlichung und Konzentration aller Entscheidungskompetenzen über die Zulassung, Anwerbung und Vermittlung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland bei der Arbeitsverwaltung ging mit einer Zentralisation innerhalb des Behördenapparates einher. In der Arbeitsverwaltung selbst verloren zudem die paritätischen Prüfungsausschüsse ihre Funktion. Als die ›Verordnung über ausländische Arbeitnehmer‹ am 1. Mai 1933 in Kraft trat, war die Weimarer Republik schon Geschichte. Mit Hilfe der Bindung der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte an die allgemeine Arbeitsmarktpolitik über die Genehmigungspflicht von Aufenthalt und Arbeitnahme war in der Weimarer Republik eine weitreichende Kontrolle und Steuerung möglich geworden. Sie erlaubte es auch, die Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland auf einem im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich geringeren Niveau zu halten, wie die Tabelle 1 dokumentiert.

|| 8 Carl Petersen, Die ›Verordnung über ausländische Arbeitnehmer‹, in: Reichsarbeitsblatt, N.F., 13. 1933, Nr. 4, S. 49f., hier S. 50. 9 Max Schiederer, Die Verordnung über ausländische Arbeitnehmer, in: Arbeit und Beruf. Ausgabe A, 12. 1933, H. 17, S. 257–262, hier S. 257f.

508 | Jochen Oltmer

Tabelle 1: Von der Deutschen Arbeiterzentrale legitimierte Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland 1918–1933 Jahr

Gesamt

Landwirtschaft

Nicht-Landwirtschaft

1918

715.770

372.274

343.496

1919

278.896

145.194

133.702

1920

274.552

136.274

138.278

1921

293.903

147.413

146.490

1922

287.584

148.086

139.498

1923

225.217

118.526

106.691

1924

210.677

110.892

99.781

1925

263.417

142.694

120.723

1926

218.636

134.869

83.767

1927

227.090

137.411

89.679

1928

236.870

145.871

90.999

1929

232.030

140.857

91.173

1930

219.992

132.810

87.182

1931

155.689

79.777

75.912

1932

108.662

43.391

65.271

1933

148.455

44.806

103.649

Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 39. 1919 bis 53. 1934. Für 1924 und 1925 wurden die Daten korrigiert nach: Deutsche Arbeiterzentrale, Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Aufsichtsrat und Vorstand, Berlin, 25.9.1925, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 87 B, Nr. 122; Wolfram Hennies, Die Ausländerpolitik in der Weimarer Republik, Diss. Rostock 1988, Anhang S. 37.

Insgesamt lassen sich bei der Beschäftigung von Zuwanderern in der Weimarer Republik laut den Legitimationszahlen der Deutschen Arbeiterzentrale mehrere Phasen ausmachen. Die Inflationsphase bis 1922/23 war durch eine im Vergleich hohe Zahl von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland gekennzeichnet. Sie fand mit der Hyperinflation 1923 und dem Stabilisierungsjahr 1924 ihr Ende. Eine kurze Zwischenphase 1925 ließ dann die Zahlen wieder deutlich steigen, bevor das Krisenjahr 1926 erneut einen Einschnitt markierte. Die Jahre 1927 bis 1930 bildeten nach den Inflationsjahren einen weiteren Höhepunkt der Beschäftigung nicht-deutscher Staatsangehöriger in der Weimarer Republik, die folgenden Jahre der Weltwirtschaftskrise den absoluten Tiefpunkt. Der Anstieg der Ziffern für das Jahr 1933 bedeutet dabei keine reale Steigerung der Beschäftigung von Zuwanderern, sondern dokumentiert ausschließlich eine Veränderung der Erhebungsbedingungen, die durch die Einführung von ›Arbeitskarten‹ durch die Reichsarbeitsverwaltung charakterisiert war.

Grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik | 509

Tabelle 2: Staatsangehörigkeit und Beschäftigungsbereiche der von der Deutschen Arbeiterzentrale legitimierten Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland im Deutschen Reich 1924–1932 1924

1925

1926

1927

1928

1929

1930

107.623

134.309

128.707

129.323

138.193

127.087

Landwirtschaft

97.328

126.350

117.764

118.451

127.190

Industrie

10.295

7.959

10.943

10.872

11.003

ČSR

28.741

14.534

33.500

35.894

2.564

3.807

4.910

5.423

Industrie

26.177

10.727

28.590

30.471

29.755

29.138

27.148

22.768

19.489

Niederlande

11.169

6.385

19.428

21.061

21.236

21.768

20.558

20.147

17.238

1.342

1.170

2.286

2.662

2.693

3.054

2.962

2.883

2.738

Polen

Landwirtschaft

Landwirtschaft

1931

1932

116.264

66.530

32.098

115.946

105.474

57.505

23.935

11.141

10.790

9.025

8.163

36.374

37.053

36.307

28.192

22.725

6.619

7.915

9.159

5.424

3.236

Industrie

9.827

5.215

17.142

18.399

18.543

18.714

17.596

17.264

14.500

Jugoslawien

4.735

1.446

6.536

6.488

6.934

7.474

8.963

6.130

4.108

81

76

137

143

465

1.155

2.811

1.347

682

Industrie

4.654

1.370

6399

6.345

6.469

6.319

6.152

4.783

3.426

›Oststaaten‹*

9.063

7.651

8.507

7.989

7.250

7.130

6.291

4.628

3.730

Landwirtschaft

6.934

6.086

6.371

5.771

4.776

4.798

4.227

2.992

2.414

Industrie

2.129

1.564

2.136

2.218

2.474

2.332

2.064

1.636

1.316

Österreich

4.812

2.805

7.297

8.370

8.717

11.291

9.907

7.952

6.462

187

227

371

472

490

3.021

1.821

1.242

798

Industrie

4.625

2.578

6.926

7.898

8.227

8.270

8.086

6.710

5.664

Italien

2.110

1.519

3.699

3.965

4.102

4.217

4.005

3.245

2.587

33

26

73

55

51

66

91

85

98

Industrie

2.077

1.293

3.626

3.910

4.051

4.151

3.914

3.160

2.489

Schweiz

1.732

1.438

2.952

3.353

3.490

3.806

4.038

4.324

4.615

Landwirtschaft

873

856

1.527

1.732

1.680

1.788

1.963

2.410

2.740

Industrie

859

582

1.425

1.621

1.810

2.018

2.075

1.914

1.875

1.564

719

1.841

1.772

1.900

1.665

1.503

1.388

976

Landwirtschaft

Landwirtschaft

Landwirtschaft

Ungarn

76

67

72

55

206

48

52

214

44

Industrie

Landwirtschaft

1.488

652

1.769

1.717

1.694

1.617

1.451

1.174

932

Sonstige

2.821

2.347

6.169

8.875

8.674

10.539

12.156

13.153

14.123

274

433

1.358

2.647

1.701

3.066

4.250

5.675

6.706

Landwirtschaft Industrie

2.547

1.914

4.811

6.228

6.973

7.473

7.906

7.478

7.417

174.370

173.153

218.636

227.090

236.870

232.030

219.992

155.689

108.662

Landwirtschaft 109.692

139.098

134.869

137.411

145.871

140.857

132.810

79.777

43.391

34.055

83.767

89.679

90.999

91.173

87.182

75.912

65.271

Gesamt

Industrie

64.678

* Russland, Ukraine, Lettland, Estland, Finnland, Litauen. Quelle: Berechnet nach: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 44. 1924/25 bis 52. 1933.

510 | Jochen Oltmer

Tabelle 2 weist aus, dass Arbeitskräfte aus Polen 1924–1932 die Beschäftigung von Zuwanderern im Reich dominierten. Dabei ergaben sich allerdings einige charakteristische Verschiebungen, die aber zum Teil deshalb nicht korrekt nachvollzogen werden können, weil die Tabelle für die Jahre 1924 und 1925 zu niedrige Angaben dokumentiert: Hier sind bei Weitem nicht alle Befreiungsscheininhaber mit aufgeführt. Es ist zu vermuten, dass der in der Tabelle 2 ersichtliche Anstieg des Anteils polnischer Arbeitskräfte an der Gesamtbeschäftigung nicht-deutscher Staatsangehöriger von 1924 auf 1925 zu einem wesentlichen Teil aus dieser Mindererfassung der Zahl der Inhaber von Befreiungsscheinen resultierte, die bei polnischen Staatsangehörigen verhältnismäßig gering war: 1924 lag der Anteil der polnischen Arbeitskräfte an der Gesamtbeschäftigung bei 62 Prozent und stieg im Jahr mit der niedrigsten Beschäftigung von Zuwanderern vor der Weltwirtschaftskrise 1925 auf 77 Prozent. In den Folgejahren 1926–1928 erreichte der Anteil in etwa wieder die Werte von 1924 (ca. 60 Prozent). Nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise ging der polnische Anteil zurück: 1929 und 1930 auf rund 53 Prozent, 1931 auf 42, 1932 auf 30 Prozent und damit auf die Hälfte des Anteil im zweiten Jahrfünft der 1920er Jahre. Als stabiler erwiesen sich demgegenüber die Anteile der im Reich beschäftigten Arbeitskräfte tschechoslowakischer und niederländischer Staatsangehörigkeit. In den Jahren 1926–1930 lag der tschechoslowakische Anteil bei rund 16 Prozent und stieg dann in der Weltwirtschaftskrise weiter leicht an – bei einem Rückgang der absoluten Zahl – über 18 Prozent 1931 auf 21 Prozent 1932. Bei den Niederländern zeigte sich eine ähnliche Entwicklung. 1926–1930 lag der Anteil bei rund 9 Prozent und stieg dann über 13 Prozent 1931 auf 16 Prozent 1932. Insgesamt lässt sich bei dem Blick auf die Staatsangehörigkeit der in Deutschland beschäftigten zugewanderten Arbeitskräfte eine Diversifizierung ausmachen, die dazu beitrug, dass der Anteil jener Herkunftsländer wuchs, aus denen eine geringere Zahl von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten stammte. Sowohl der Anteil der Schweiz als auch der Jugoslawiens und Italiens stieg überproportional in den 1920er Jahren an, vor allem wuchs auch die Zahl der Angehörigen ›sonstiger‹ Staaten von rund 2.800 im Jahre 1924 (1,6 Prozent aller zugewanderten Arbeitskräfte) auf ca. 14.100 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 (13 Prozent). Die unterschiedliche Entwicklung der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte in Deutschland, bezogen auf deren Staatsangehörigkeit, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Gewicht der Beschäftigungsbereiche ›Landwirtschaft‹ und ›Nicht-Landwirtschaft‹. Das überproportional starke Absinken der Anzahl polnischer Arbeitskräfte, vor allem in der Weltwirtschaftskrise, resultierte aus dem oben bereits aufgezeigten Rückgang der Gesamtzahl zugewanderter Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Deutschland. Denn der weitaus überwiegende Teil der Arbeitskräfte aus dieser Gruppe waren Polen. In den Jahren 1924–1928 lag der Anteil der Polen an der Gesamtzahl der zugewanderten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Deutschland bei durchschnittlich 88 Prozent.

Grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik | 511

2 Begrenzung der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte in der Landwirtschaft durch Kontingentierung Seit 1924 wurde die Zahl der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland in der deutschen Landwirtschaft kontingentiert, vor allem um den Umfang der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte durch die jährliche Reduzierung der Kontingente insgesamt weiter zu vermindern. Landwirtschaftliche Unternehmer sollten dadurch gezwungen werden, mittelfristig zugewanderte durch einheimische Arbeitskräfte zu ersetzen oder den geltend gemachten Bedarf an Landarbeiterinnen und Landarbeitern mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit durch den vermehrten Einsatz von Maschinen sowie Betriebsumstellungen zu verringern. Die Kontingentierung zugewanderter Arbeitskräfte in der Landwirtschaft geriet Anfang der 1920er Jahre in die Diskussion arbeitsmarktpolitischer Akteure. Im Hintergrund stand eine für das zuständige Reichsamt für Arbeitsvermittlung auffällige Diskrepanz zwischen der Zahl der erteilten Beschäftigungsgenehmigungen und der nach den Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale sowie den Nachprüfungen der preußischen Polizei an den Arbeitsstellen weitaus geringeren Zahl tatsächlich beschäftigter Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland. 1921 und 1922 hatte diese Differenz bei rund 25 bis 30 Prozent gelegen.10 Diese Differenz ließ das Reichsamt vermuten, dass eine weitere Beschränkung der Zahl der für landwirtschaftliche Betriebe ausgegebenen Beschäftigungsgenehmigungen ohne wirtschaftliche Nachteile möglich war. Um die Zahl der aus dem Ausland zugewanderten Arbeitskräfte weiter zu beschränken und zu verhindern, dass wesentlich mehr Beschäftigungsgenehmigungen erteilt als Beschäftigungsverhältnisse eingegangen wurden, hatte das Brandenburgische Landesarbeitsamt Ende 1922 ein Kontingentierungssystem für das Genehmigungsverfahren im Jahre 1923 eingeführt. Danach durfte in jedem einzelnen Landkreis nur noch eine vom Landesarbeitsamt festgelegte Höchstzahl an Beschäftigungsgenehmigungen erteilen werden. Diese Höchstzahl ergab sich aus der durchschnittlichen Beschäftigtenzahl der vorangegangenen Jahre. Zugebilligt wurde darüber hinaus eine Reserve von weiteren 15 Prozent für die einzelnen Landkrei-

|| 10 1921 war die Beschäftigung von 180.951 zugewanderten Arbeitskräften in der Landwirtschaft beantragt worden, genehmigt wurde eine Gesamtzahl von 160.808. Nach den Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale lag die Zahl der tatsächlich beschäftigten bei 147.384. Im Folgejahr lagen die Werte noch weiter auseinander: 216.917 beantragten Arbeitskräften aus dem Ausland standen 184.103 Genehmigungen gegenüber, tatsächlich beschäftigt wurden 141.151; Aufstellung Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin, 31.7.1923, Bundesarchiv Berlin (BArch B), R3901, Nr. 778; Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Landesarbeitsämter, 14.9.1922, ebd.

512 | Jochen Oltmer

se und 5 Prozent für das Landesarbeitsamt, um eventuell auftretende Härtefälle steuern zu können. Das aus der Sicht der Reichsarbeitsverwaltung erfolgreich erprobte brandenburgische Modell wurde für das Genehmigungsverfahren 1924 auf alle Landesarbeitsämter im Reich übertragen. Damit konnte im Jahr nach der Überwindung der Nachkriegsinflation erstmals eine reichsweite Kontingentierung durchgeführt werden.11 Die für 1924 festgesetzte Quote lautete auf 120.380 landwirtschaftliche Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland. Sie lag damit um rund 10 Prozent höher als die vom Reichsamt für Arbeitsvermittlung errechnete Höchstzahl zugewanderter Beschäftigter des Vorjahres. Über diesen Wert hinaus legte die Reichsarbeitsverwaltung bei der jährlichen Berechnung der Kontingentziffern weitere Kriterien zugrunde: Berücksichtigt wurde die »voraussichtliche Entwicklung der Lage des einheimischen Arbeitsmarktes« und »noch ein Zuschlag«, um »etwaige Fehlerquellen« ausgleichen zu können »in Berücksichtigung der Tatsache, daß erfahrungsgemäß ein Teil der ausländischen Landarbeiter sich der Legitimierung entzieht«. Kontingenterhöhungen im jeweils laufenden Wirtschaftsjahr waren möglich, um Einschätzungsfehler hinsichtlich der Entwicklung des Arbeitsmarkts und der landwirtschaftlichen Anbauverhältnisse auszugleichen.12 Bei der Festsetzung des Kontingents für 1926 sollten erneut neue Maßstäbe angelegt werden: Gegen den Widerstand von Reichsernährungsministerium, preußischem Landwirtschaftsministerium und landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbänden, die vor allem den Primat der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung vertraten, beabsichtigten Reichsarbeitsministerium, Reichsinnenministerium und preußisches Innenministerium eine Kontingentkürzung. Im Vergleich zu 1925 sollte das Kontingent um mindestens 20 Prozent reduziert werden. Zwar liege in einer Kontingentkürzung dieser Größenordnung ein »gewisses wirtschaftliches Risiko«, argumentierte das Reichsarbeitsministerium, aber »dieses Risiko müßten die Arbeitgeber mit Rücksicht auf die nationale Bedeutung der Frage bewußt auf sich nehmen«.13 Vor allem der preußische Innenminister Carl Severing (SPD) setzte sich nachdrücklich für die Kontingentkürzungen ein. In den Medien und Parlamenten werde die Reduzierung der Beschäftigung von Zuwanderern gefordert, deshalb sei aus innenpolitischen Gründen ein klares Zeichen der Reichsregierung nötig, urteilte er. Auch aus außenpolitischen Gründen ergab sich aus Severings Sicht die Notwendig|| 11 Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 2.7.1923, ebd.; Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Landesarbeitsämter, 3.10.1923, ebd. 12 Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Berlin an Landesarbeitsämter, 9.10.1923; Niederschrift über die zweite Sitzung des Fachausschusses der landwirtschaftlichen Fachabteilung beim Reichsamt für Arbeitsvermittlung, 11.11.1923, beide ebd. 13 Aktenvermerk betreffend Ersatz der polnischen Saisonarbeiter durch deutsche Arbeitnehmer, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 25.8.1925, BArch B, R3901, Nr. 776.

Grenzüberschreitende Arbeitsmigration und Protektionismus in der Weimarer Republik | 513

keit einer Kontingentkürzung: Polen müsse deutlich gemacht werden, dass Deutschland gewillt sei, die Beschäftigung von Zuwanderern zu drosseln und auf polnische Arbeitskräfte weitgehend zu verzichten.14 Der Deutsche Landwirtschaftsrat, der Reichs-Landbund und der Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände traten gegen die vorgeschlagene Kontingentkürzung um 20 Prozent auf. Zwar seien sie der Auffassung, dass die Beschäftigung polnischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter »sich bei der fanatisch deutsch-feindlichen Einstellung Polens mit unserer Würde kaum noch länger vereinbaren« lasse, aber aus wirtschaftlichen Gründen könne der Abbau der Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte nur langfristig realisiert werden.15 Letztlich setzte sich die Auffassung der Arbeitgeberverbände durch. Damit blieb das Kontingent aus dem Jahr 1925 von 130.000 auch für 1926 bestehen. Dennoch lag es erheblich niedriger als die Zahl der beantragten (180.129) und von den örtlichen Vorprüfungsausschüssen für erforderlich gehaltenen (167.216) Arbeitskräfte aus dem Ausland für die deutsche Landwirtschaft.16 Um die Kontingentziffer zu erreichen, mussten mithin in großem Umfang Anträge auf Beschäftigungsgenehmigungen abgelehnt werden. Am Ende des Krisenjahres 1926 lag die Zahl der legitimierten zugewanderten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft etwas oberhalb der Kontingentziffer. Nach den Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale wurden 1926 knapp 135.000 Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus dem Ausland beschäftigt (siehe Tabelle 1). Vor allem der kurze, aber heftige Kriseneinbruch 1926 verschärfte erneut die Debatte um die Verminderung der Zahl von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland.17 Der gravierende Anstieg der Erwerbslosigkeit in Deutschland 1926 machte diese Frage zum Thema der parlamentarischen Diskussion. Auf Antrag der DNVP wurde im Volkswirtschaftlichen Ausschuss des Reichstags in seiner Sitzung am 22./23. Juni 1926 mit nur einer Gegenstimme von Seiten des KPD-Vertreters eine Entschließung angenommen, die eine Beschränkung der Be|| 14 Preußischer Minister des Innern in Berlin an preußischen Ministerpräsidenten in Berlin, 3.10.1925, ebd. 15 Deutscher Landwirtschaftsrat, Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitervereinigungen und Reichs-Landbund in Berlin an Reichsministerium des Innern in Berlin, 23.9.1925; Reichsministerium des Innern in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 29.9.1925, beide ebd.; siehe auch Fritz Faaß, Die ausländischen Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, in: Berichte über Landwirtschaft, N.F., 6. 1927, S. 115–158, hier S. 115f. 16 Vermerk über die Besprechung im Reichsministerium des Innern mit Vertretern der landwirtschaftlichen Verbände betreffend Kontingentierungsverfahren für ausländische Landarbeiter, 7.10.1925, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 9.10.1925, BArch B, R 3901, Nr. 776; Zur Frage der Kontingentierung der ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter im Jahre 1926, in: Arbeit und Beruf, 4. 1925, S. 627f.; Höchstzahl der im Jahre 1926 in der Landwirtschaft zulässigen ausländischen Arbeitskräfte, in: ebd., S. 654f. 17 Faaß, Die ausländischen Wanderarbeiter, S. 116f.

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schäftigung von Zuwanderern verlangte: »Im Hinblick auf die gegenwärtige Arbeitslosigkeit im Inland wird erwartet, daß die Arbeitsgelegenheit auch in der Landwirtschaft fortschreitend deutschen erfahrenen Arbeitern zugewendet wird«.18 Wenige Tage später wurden mit breiten Mehrheiten auch vom Reichstag und vom preußischen Landtag Entschließungen angenommen, die Zahl der zugewanderten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu reduzieren. Das Reichsarbeitsministerium verstand die Beschlüsse in den Parlamenten als Chance, nunmehr die schon im Vorjahr erstrebte Regelung durchzusetzen. Zur Abstimmung im Reichskabinett formulierte es den Vorschlag, das Kontingent für landwirtschaftliche Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland für das Jahr 1927 um fast ein Drittel gegenüber 1926 – von 130.000 auf 90.000 sowie eine Notreserve von 10.000 – zu kürzen. Die beträchtliche Erwerbslosigkeit in der Industrie und die aus diesem Grund verringerte Abwanderung aus der Landwirtschaft lasse keinen erheblichen Arbeitskräftemangel befürchten, lautete die Einschätzung des Reichsarbeitsministeriums.19 Die rasche Überwindung der kurzen, wenngleich heftigen Wirtschaftskrise 1926 vereitelte diese Bestrebungen. Im Sommer 1927 wuchs der Druck auf das Reichsarbeitsministerium, das Kontingent nachträglich zu erhöhen. Angesichts des starken Rückgangs der Erwerbslosenziffern in der Industrie hatte sich nach Ansicht des preußischen Landwirtschaftsministeriums und des Reichsernährungsministeriums die Arbeitskräftesituation der Landwirtschaft so negativ entwickelt, dass es bereits zu massiven Produktionsausfällen gekommen sei. Ungünstiges Wetter und schwere Überschwemmungen in weiten Teilen des preußischen Ostens, die eine Verzögerung der Erntearbeiten zur Folge hatten und damit deren Dringlichkeit bei größerem Arbeitskräftebedarf erhöhten, verschärften die Lage noch.20 Im Sommer und Herbst kam es aus dem gesamten Reichsgebiet zu einer Fülle von Nachforderungen auf Beschäftigungsgenehmigungen. Sie wurden vom Reichsarbeitsministerium zunächst zögerlich, dann angesichts der immer heftiger werdenden Proteste bis zum Herbst 1927 zunehmend bereitwilliger genehmigt. Insgesamt wurden 1927 nach den Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale über 137.000 Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus dem Ausland in Deutschland beschäftigt. Das Kontingent von 100.000 für dieses Jahr wurde damit zu mehr als einem Drittel überschritten, die Zahl der zugewanderten Arbeitskräfte war am Ende || 18 Vermerk über die Sitzung des volkswirtschaftlichen Ausschusses des Deutschen Reichstages am 22./23.6.1926 betreffend Beschäftigung ausländischer Arbeiter, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 24.6.1926, BArch B, R3901, Nr. 773. 19 Reichsarbeitsministerium in Berlin an Staatssekretär in der Reichskanzlei in Berlin, 10.8.1926, ebd. 20 Vermerk über ausländische landwirtschaftliche Arbeiter für Notstandsbezirke, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 2.8.1927; Reichsernährungsministerium in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 29.7.1927, beide in: BArch B, R3901, Nr. 774.

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leicht höher als in dem durch eine Wirtschaftskrise gekennzeichneten Vorjahr (rund 135.000 bei einer Quote von 130.000). Die erstmals für das Jahr 1926 angewendete Strategie der Kontingentkürzungen zur Verminderung der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte war damit 1927 fehlgeschlagen. Die geplante deutliche Reduzierung des Kontingents konnte bei Weitem nicht durchgesetzt werden, am Ende wurden mehr Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in der Landwirtschaft als im Vorjahr beschäftigt. Scharfe Konflikte hatten die Debatte um die Kontingentkürzungen gekennzeichnet. Auf der einen Seite standen das Reichsarbeitsministerium und die preußische Landesregierung, die für eine beschleunigte Reduzierung der Beschäftigung von Zuwanderern eintraten. Das Reichsernährungsministerium, das preußische Landwirtschaftsministerium und viele Länderregierungen hingegen betonten die wirtschaftliche Bedeutung der Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland in der Landwirtschaft und wandten sich gegen scharfe Kontingentkürzungen. Auch in den Folgejahren 1928 bis 1930 blieb die Zahl der nach den Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale in der deutschen Landwirtschaft beschäftigten Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus dem Ausland insgesamt jeweils deutlich über den anfänglich festgesetzten Kontingenten. Vor allem der volle Durchbruch der Weltwirtschaftskrise ließ die Kontingentierungspraxis des Reichsarbeitsministeriums dann noch restriktiver werden: Für 1931 gab es eine deutliche Kontingentkürzung. 70.000–75.000 sollte das Kontingent betragen – ein Kompromiss zwischen den Forderungen der Arbeitgeber (98.000) und der Arbeitnehmer (48.000).21 Am Ende lag die Zahl der nach den Daten der Deutschen Arbeiterzentrale beschäftigten zugewanderten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft nur knapp über der Kontingentziffer: Rund 80.000 wurden gezählt (siehe Tabelle 1). Die deutliche Kontingentkürzung für 1931 galt vor allem der SPD und den Gewerkschaften als großer Erfolg ihrer Bemühungen um eine Verminderung der Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland. Der ›Landarbeiter‹, das Organ des Deutschen Landarbeiterverbandes, sah »in dem Beschluß eine Etappe auf dem Wege der Beseitigung der Ausländerbeschäftigung in der deutschen Landwirtschaft«. Zugleich verwies der Artikel auf die besondere Bedeutung einer Flut von Presseartikeln in den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Zeitungen 1930/31 für die Beschränkung der Beschäftigung von Zuwanderern: »Ob es ohne unsere Bemühungen und die Bemühungen der sozialdemokratischen Presse zu dem Beschluß gekommen wäre, ist fraglich.« Diese Position nahm auch der sozialdemokratische ›Vorwärts‹ ein; nur der preußischen SPD und

|| 21 Zu den Gewerkschaftsforderungen siehe auch: Die Ausländerbeschäftigung in der deutschen Landwirtschaft, in: Gewerkschafts-Zeitung. Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 1930, S. 712–714.

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den Gewerkschaften sei es zu verdanken, dass es seit den späten 1920er Jahren zu einer Verringerung der Zahl der zugewanderten Arbeitskräfte gekommen sei.22 Der Tenor der Argumentation von SPD und Gewerkschaften spricht aus einer ganzen Reihe von Zeitungsartikeln: Der ›Landarbeiter‹ titelte mit »Ausländische Wanderarbeiter als Ursache der Arbeitslosigkeit deutscher Landarbeiter«, fragte: »Ist die Beschäftigung von Ausländern nötig?« und verwies auf »Unhaltbare Zustände. Die arbeitslosen deutschen Landarbeiter. 55.000 von uns müssen feiern, während ausländische Landarbeiter unsere Arbeit verrichten.« Nur eine Konsequenz sei möglich: »Unterbindet die Beschäftigung ausländischer Landarbeiter«.23 Wie Bernd Kölling für Pommern nachgewiesen hat, war diese gegen die Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland gerichtete Flut von Veröffentlichungen in der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Presse begleitet von einer Vielzahl von Protesten in Gestalt von Eingaben, Versammlungen, Kundgebungen von Landarbeiterinnen und Landarbeitern, Gewerkschaftsund Parteigruppen sowie Kommunen. Sie wurden Anfang der 1930er Jahre immer heftiger – trotz des Rückgangs der Zahl von Arbeitskräften aus dem Ausland parallel zur Verschärfung der Weltwirtschaftskrise.24 Am Ende des Jahres 1931 wurden noch weiter gehende Restriktionen beschlossen: Eine Neuzulassung von zugewanderten Arbeitskräften sollte es 1932 nicht mehr geben. Das Reichsarbeitsministerium ging davon aus, dass selbst bei einem Einreiseverbot weiterhin 37.000–40.000 Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus dem Ausland aufgrund von Befreiungsschein- und Härtefallregelungen im Reich beschäftigt sein würden. Nur in wirtschaftlichen Notlagen sollte eine eng begrenzte Aufhebung des Einreiseverbots zugelassen werden. Tatsächlich sank die Beschäftigung von Zuwanderern in der Landwirtschaft 1932 aufgrund der Weltwirtschaftskrise weiter auf rund 43.000 und damit auf den niedrigsten Wert für die Weimarer Republik (siehe Tabelle 1). Wiederum sahen vor allem SPD und Gewerkschaften ihre Ziele umgesetzt; die sozialdemokratische Zeitung ›Der Vorpommer‹ titelte am 12. Februar 1932: »Keine Pollacken mehr in der Landwirtschaft«.25 Ob dazu die Kontingentierungspolitik entscheidend beigetragen hatte, ist zweifelhaft; denn die Wirkung der Kontingentierung lässt sich kaum bemessen. Es kann festgestellt werden, dass die Kontingente in den 1920er Jahren seit ihrer Einführung 1924 immer dann – zum Teil massiv – über|| 22 Zitiert nach Volker Steinbeck, Die Haltung der deutschen Arbeiterbewegung zur deutschen Ausländerbeschäftigung in den Jahren der Weimarer Republik (1919–1932), Diss. Rostock 1985, S. 82. 23 Zitiert nach ebd., S. 81. 24 Bernd Kölling, Familienarbeit, Wohnungsnot, Ausländerbeschäftigung. Zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit pommerscher Landarbeiter 1924–1932, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1995, S. 109–130, hier S. 109–116. 25 Zitiert nach Steinbeck, Haltung der deutschen Arbeiterbewegung, S. 82.

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schritten wurden, wenn sich die Konjunkturlage positiv entwickelte. Faktisch sank die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Zuwanderer erst in der Weltwirtschaftskrise unter die Kontingentziffern ab. Die Kontingentierungspolitik wirkte mithin im Blick auf die zentrale Zielstellung des ›Abbaus der Ausländerbeschäftigung‹ offensichtlich nur flankierend.

3 Die Wiedereinführung des ›Rückkehrzwangs‹ und der deutsch-polnische Wanderungsvertrag 1927 In den Jahren 1925/26 konnte mit der faktischen Durchsetzung des seit Kriegsbeginn 1914 ausgesetzten ›Rückkehrzwangs‹ für landwirtschaftliche Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland der Schlussstein des Weimarer Systems der Anwerbung, Vermittlung und Kontrolle von zugewanderten Arbeitskräften im Genehmigungsverfahren gesetzt werden. Die Wiedereinführung des Rückkehrzwangs unterlag dabei nicht primär einer arbeitsmarktpolitischen Intention. Hintergrund war vielmehr eine antipolnische Politik, die die Verfestigung von Aufenthalten polnischer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten durch eine Re-Saisonalisierung ihrer Beschäftigung verhindern wollte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs war der Rückkehrzwang für auslandspolnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte aufgehoben und stattdessen ein Rückkehrverbot erlassen worden, das in den folgenden vier Kriegsjahren in Kraft blieb.26 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Rückkehrpflicht auch weiterhin nicht abgeschafft, zunächst aber immer wieder ausgesetzt. Die Begründungen für die vorgebliche Notwendigkeit der Rückkehrpflicht hatten sich im Vergleich zur Vorkriegszeit nicht wesentlich verändert. Sie waren nur erweitert worden um das Argument, das Verbleiben zugewanderter landwirtschaftlicher Arbeiterinnen und Arbeiter im Winter behindere die Bestrebungen zum ›Schutz des nationalen Arbeitsmarkts‹ aufgrund verminderter Kontrollmöglichkeiten und geringer Flexibilität in der Anwerbung. Im Vordergrund aber stand weiterhin die ethno-nationale Begründung dieser Maßnahme, das galt auch für die Positionierung des erst nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Reichsarbeitsministeriums, das anders als etwa das preußische Innenministerium nicht auf eine lange Tradition dieser Politik blicken konnte: Polnische Arbeitswanderer entwickelten sich, so argumentierte das Reichsarbeitsministerium, »wenn sie über Winter in Deutschland verbleiben, allmählich anstelle von Saisonarbeitern zu dauerhaften Arbeitskräften und damit zu einer Gefahr für die bodenständige deutsche Landarbeiterschaft und den deutschen Charak-

|| 26 Hierzu siehe den Beitrag von Jens Thiel in diesem Band.

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ter der Landbevölkerung großer Bezirke«.27 Neben arbeitsmarktpolitisch und ethnonational motivierte Stellungnahmen traten auch sicherheitspolitische Begründungen für die strikte Durchsetzung des Rückkehrzwangs. Nur der Rückkehrzwang werde »die allgemeine Sicherheit während der Wintermonate« verbessern; denn »ein großer Teil der Kapitalverbrechen auf dem Lande«, so ließ etwa neben anderen der Regierungspräsident in Stralsund 1922 verlauten, müsse »den vagabondierenden Schnittern zur Last geschrieben werden«.28 Nicht zuletzt wurde das Verbleiben der zugewanderten Arbeitskräfte als ein sozialpolitisches Problem wahrgenommen. Im Winter steige die Zahl der Obdachlosen und der Insassen städtischer Asyle immens an, weil viele Arbeitskräfte aus dem Ausland keine Beschäftigung über den Winter erhalten könnten.29 Die Durchsetzung des Rückkehrzwangs erwies sich unmittelbar nach Kriegsende als nicht realisierbar. In erster Linie stand die Befürchtung im Hintergrund, dass es bei einer konsequenten Durchsetzung des Rückkehrzwangs nicht möglich sein würde, in der nachfolgenden Saison eine ausreichende Zahl polnischer landwirtschaftlicher Arbeitskräfte aufgrund von Maßnahmen Polens zur Behinderung des Grenzübertritts nach Deutschland rekrutieren zu können.30 Aber auch außenpolitische Rücksichtnahmen spielten eine Rolle. Das Auswärtige Amt befürchtete Anfang der 1920er Jahre vor allem, die Durchsetzung des Rückkehrzwangs könne von polnischer Seite als Repressionsmaßnahme interpretiert werden und zur Ausweisung ehemaliger Reichsdeutscher aus den an Polen abgetretenen Gebieten führen.31 Erst 1924/25 schien für die zuständigen Reichs- und preußischen Ressorts die Durchsetzung des Rückkehrzwangs realistischer zu werden: Außenpolitische Rücksichtnahmen auf den polnischen Staat wurden als immer weniger vordringlich eingeschätzt. Wesentlich war in diesem Zusammenhang die sich zunehmend weiter verbessernde außenpolitische Stellung Deutschlands, die vor allem im Oktober 1925 mit dem Abschluss der Verträge von Locarno ihren Ausdruck fand. Sie stärkten die

|| 27 Vermerk Reichsarbeitsministerium in Berlin, 22.10.1922, BArch B, R3901, Nr. 782. 28 Regierungspräsident in Stralsund an preußisches Ministerium des Innern in Berlin, 2.5.1922, ebd. 29 Arthur B. Krause, Landwirtschaftliche Wanderarbeiter im Asyl für Obdachlose, in: Arbeit und Beruf, 4. 1925, S. 154–157, 178–194. 30 Hierzu siehe z.B. Vermerk Reichsarbeitsministerium in Berlin, 21.9.1921; Vermerk über das Ergebnis der Besprechung betreffend die Wiedereinführung des Rückkehrzwanges für ausländische Landarbeiter im preußischen Ministerium des Innern, 7.12.1922, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 16.12.1922, beide BArch B, R3901, Nr. 782. 31 Vermerk Reichsarbeitsministerium in Berlin, 22.10.1921; Niederschrift über die Besprechung am 10.12.1924 im preußischen Ministerium des Innern über die Wiedereinführung des Rückkehrzwanges für ausländische Landarbeiter, beide ebd.

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deutsche Position in Europa deutlich, während sie gleichzeitig die polnische erheblich schwächte.32 Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes hatte zudem die »systematische Entdeutschung der ehemals preußischen, an Polen abgetretenen Provinzen [...] derartige Fortschritte gemacht, daß im nächsten Jahre [1925; J.O.] die Wiedereinführung des Rückkehrzwanges für ausländische Landarbeiter angeordnet werden könne, ohne durchgreifende Repressalien von polnischer Seite befürchten zu brauchen.«33

Bereits Ende 1924 hatten die Planungen der zuständigen preußischen und Reichsbehörden zur Durchsetzung des Rückkehrzwangs begonnen. Deshalb konnte die Arbeiterzentrale schon im März 1925 berichten, sie habe »praktische Vorkehrungen getroffen [...], um den rückwandernden Saisonarbeitern trotz der ihnen von den [polnischen; J.O.] Konsulaten gemachten Schwierigkeiten die Heimreise zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Die Deutsche Arbeiterzentrale hat zu diesem Zwecke bei ihren Grenzorganen Einrichtungen geschaffen, die die Möglichkeit bieten, auch diejenigen polnischen Arbeitspersonen ihrer Heimat wieder zuzuführen, die den Grenzpassierschein nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht erlangt haben.«

Die Polizeibehörden seien informiert worden über die Möglichkeiten des Grenzübertritts nach Polen »im Interesse einer reibungslosen Abwickelung der Rückwanderung«.34 Polnische Arbeitswanderer sollten also auch dann über die deutsch-polnische Grenze zurückgeschickt werden, wenn sie keinen polnischen Grenzpassierschein besaßen, was sehr häufig der Fall war. Ihre winterliche Rückkehr nach Polen konnte daher 1925/26 nur unter Missachtung der polnischen gesetzlichen Bestimmungen erfolgen.35 Nachdem Ende September 1925 die Deutsche Arbeiterzentrale bestätigt hatte, rund 50.000 im Laufe des Jahres angeworbene polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte auf illegalem Wege über die deutsch-polnische Grenze zurücktransportieren zu können, wurde am 7. Oktober 1925 beschlossen, möglichst viele Polen zur Rückwanderung zu veranlassen.36 Zugleich regelte in Preußen ein vertraulicher Erlass an die Ober- und Regierungspräsidenten die Maßnahmen zur Forcierung der winterlichen Abwanderung polnischer Arbeitskräfte. Ziel sei es, ihre »freiwillige

|| 32 Helmut Lippelt, »Politische Sanierung«. Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19. 1971, S. 323–373, hier S. 334–336. 33 Niederschrift über die Besprechung am 10.12.1924 im preußischen Ministerium des Innern über die Wiedereinführung des Rückkehrzwanges für ausländische Landarbeiter, BArch B, R3901, Nr. 782. 34 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, 31.3.1925, ebd. 35 Kahrs, Die Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration, S. 152. 36 Vermerk über Ressortbesprechung am 24.9.1925, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 30.9.1925, BArch B, R901, Nr. 35226.

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Abwanderung« möglichst frühzeitig »mit allen Kräften zu fördern«. Die konkrete Umsetzung und der Grad der Freiwilligkeit blieben allerdings unklar. »Aber auch auf solche Arbeitnehmer, die nicht willens sind, heimzukehren, kann von ihren Arbeitgebern in geeigneter Weise eingewirkt werden, das Land zu verlassen«. Ein Arbeitgeber, der für die Rückwanderung nicht Sorge trage, »würde vaterländische Interessen aufs Spiel setzen«.37 Die Durchführung regelte ein Erlass an die Regierungspräsidenten der grenznahen Provinzen vom 28. Oktober 1925. Sie wurden angewiesen, die von der Arbeiterzentrale getroffenen Maßnahmen zum illegalen Transport der polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter über die Grenze zu unterstützen. Den Grenzbeamten sollte es ausschließlich mündlich und streng vertraulich zur Aufgabe gemacht werden, die Bewegung der polnischen Arbeitswanderer in Richtung Grenze nicht zu unterbinden, keine Kontrollen durchzuführen und auch die ›Vertrauensleute‹ der Arbeiterzentrale, die von der polnischen Seite die Grenze überschreiten würden, nicht am – wiederum illegalen – Grenzübertritt zu hindern.38 Bereits am 6. November 1925, und damit unmittelbar nach Beginn der Rückwanderung, konnten die Grenzämter der Arbeiterzentrale über den Erfolg der getroffenen Maßnahmen berichten. »Obwohl von den Arbeitern keiner im Besitze eines Grenzpassierscheines war«, äußerte zum Beispiel das oberschlesische Grenzamt in Zawisna unverblümt, »gelang es uns mit Hilfe unserer Vertrauensleute, alle Arbeiter ohne Schwierigkeiten illegal über die Grenze nach Polen hinüberzuleiten«.39 Das Grenzamt im pommerschen Lauenburg wusste ebenfalls von einer erfolgreichen Tätigkeit zu berichten, die durch die geringe Aktivität der polnischen Grenzpolizei erleichtert worden sei: »Der Übertritt ging bei offenem Wetter ohne jeden Zwischenfall gut vonstatten. Schwieriger gestaltete sich die Rückkehr in den letzten Tagen, da die Fußspuren im Neuschnee auf den Schmugglerpfaden leicht zu verfolgen waren. Unliebsame Zwischenfälle sind trotzdem in diesem Jahre noch nicht vorgekommen«.40 Große Gepäckmengen der polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter hätten zwar die illegalen Transporte über die Grenze erschwert, »wir haben aber dafür gesorgt, daß sowohl auf hiesiger Seite ebenso wie auf der polnischen Seite genügend Wagen – die Bauern nehmen in dieser stillen Zeit den Verdienst

|| 37 Preußisches Ministerium des Innern an Ober- und Regierungspräsidenten, 3.11.1925, BArch B, R901, Nr. 35228. 38 Preußisches Ministerium des Innern an Ober- und Regierungspräsidenten in den Grenzbezirken im Osten, 28.10.1925; Hauptverwaltung der Reichsbahn-Gesellschaft in Berlin an Reichsbahndirektionen in den grenznahen Bezirken, 31.10.1925, beide ebd.; Kahrs, Die Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration, S. 153f. 39 Grenzamt der Deutschen Arbeiterzentrale in Zawisna (Oberschlesien) an Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin, 6.11.1925, BArch B, R3901, Nr. 782. 40 Grenzamt der Deutschen Arbeiterzentrale in Lauenburg (Pommern) an Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin, 30.11.1925, ebd.

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gern mit – zur Verfügung stehen, so daß auch die Überführung des Gepäcks bisher gelungen ist«.41 Bereits im Laufe der Monate Oktober und November 1925 »paßten sich«, wie die Arbeiterzentrale formulierte, angesichts der großen Zahl illegaler Grenzgänger von Deutschland nach Polen »die polnischen Grenzbehörden der Sachlage an und fragen überhaupt nicht mehr nach irgendwelchen Papieren«.42 Während anfangs fast alle von der Deutschen Arbeiterzentrale registrierten Rückwanderer illegal die Grenze überschritten, ging der Anteil bis zum Dezember erheblich zurück. Vor allem die Einrichtung einer polnischen Passstelle auf dem für die Rückreise der polnischen Arbeitswanderer zentralen Durchgangsbahnhof in Breslau trug dazu entscheidend bei.43 Am 8. Dezember 1925 zeigte sich die polnische Regierung dann bereit, für die zu Beginn des Folgejahres anzuwerbenden polnischen Arbeitskräfte kostenlos Pässe auszustellen und ihre Ausreise nach Deutschland zu gestatten. Damit war es der deutschen Seite gelungen, die Anwerbung auch für das folgende Jahr zu sichern. Nennenswerte Gegenleistungen Deutschlands wurden nicht festgeschrieben.44 In einem regelrechten Kampf mit Polen um die Rückwanderung hatte sich damit die deutsche Politik auf ganzer Linie durchgesetzt. Für die konfliktbereite deutsche Seite bedeutete die faktische Wiedereinführung des Rückkehrzwangs einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu der als zentrales Element der Migrationspolitik verstandenen Re-Saisonalisierung polnischer Arbeitswanderer. Eine entscheidende Etappe aber fehlte noch, solange vor allem bereits über mehrere Jahre in Deutschland sesshafte polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte noch nicht in die Re-Saisonalisierung eingeschlossen waren. Einer Regelung stand der Widerstand der polnischen Regierung entgegen. Sie war nicht bereit, im Falle von bereits lange Jahre in Deutschland ansässigen Polen, bei denen zudem in vielen Fällen die Staatsangehörigkeitsverhältnisse nicht geklärt waren, eine Rückwanderung zu dulden. Eine Lösung schien erst ein deutsch-polnischer Wanderungsvertrag zu bieten.45

|| 41 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 20.11.1925, ebd. 42 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 16.12.1925, ebd. 43 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 2.12.1925; Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft an Reichsarbeitsministerium, 15.12.1925, beide BArch B, R901, Nr. 35228. 44 Rundschreiben Reichsarbeitsministerium in Berlin, 11.12.1925; Protokoll über die deutschpolnischen Verhandlungen über einen Wanderungsvertrag, 12.1.1926, beide ebd. 45 Zum deutsch-polnische Wanderungsvertrag siehe Jochen Oltmer, Migration und deutsche Außenpolitik. Der deutsch-polnischen Wanderungsvertrag von 1927 und die mitteleuropäischen Migrationsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 54. 2005, H. 3, S. 399–424; zum Wanderungsvertragssystem in Europa siehe darüber hinaus Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt: Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010.

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Erste Verhandlungen zum Abschluss eines deutsch-polnischen Wanderungsvertrages hatte es bereits im März 1925 gegeben. Sie verliefen sehr zögerlich und waren angesichts der schwierigen deutsch-polnischen Beziehungen sowie der zeitgleich laufenden Auseinandersetzungen um den Abschluss eines Handelsvertrags46 spannungsgeladen. Hauptverhandlungspunkte waren zum einen Fragen der Feststellung der Staatsangehörigkeit der in Deutschland befindlichen und von deutscher Seite als Polen bezeichneten Arbeitswanderer. Zum andern ging es um Fragen der Anwerbung und Arbeitsvermittlung. Grundlage der Verhandlungen im Zusammenhang der Feststellung der Staatsangehörigkeit war die deutsche Forderung nach einer Wiedereinführung des Rückkehrzwangs im Winter. Sie sollte sich auch auf jene Arbeitswanderer erstrecken, die bereits seit Jahren in Deutschland beschäftigt und aufgrund der Nicht-Durchführung der Rückkehrpflicht ansässig geworden waren. Aus polnischer Sicht erforderte der Grenzübertritt dieser Arbeitswanderer eine Prüfung der Staatsangehörigkeit, da ein erheblicher Teil sich bereits vor der Wiedereinrichtung des polnischen Staates in Deutschland befunden hatte und von daher nicht über einen regulären Nachweis seiner Staatsangehörigkeit verfügte. Dabei betonte die polnische Delegation von vornherein, die Zuwanderung der bereits seit Jahren in Deutschland ansässigen Polen nur dann genehmigen zu wollen, wenn beide Vertragspartner dafür jährliche feste Kontingente festlegten und mithin erst im Zuge einer mehrjährigen Übergangsfrist der Rückkehrzwang auf alle polnischen Arbeitswanderer in der Landwirtschaft ausgedehnt wurde.47 Bei der Frage von Anwerbung und Arbeitsvermittlung forderte die polnische Seite den vollständigen Verzicht der Deutschen Arbeiterzentrale auf die ihres Erachtens illegale Anwerbepraxis auf polnischem Territorium oder an der deutschpolnischen Grenze. Anwerbungen selbst sollte nur die polnische Arbeitsverwaltung durchführen dürfen, die deutschen Behörden müssten zudem die polnischen Arbeitswanderer hinsichtlich Lohn- und Arbeitsbedingungen, arbeitsrechtlicher Stellung, den Möglichkeiten der Wahrnehmung der Vereinigungsfreiheit sowie auf dem Gebiet der Sozialversicherung den deutschen Arbeitern gleichstellen.48 Die deutsche Delegation betonte demgegenüber, dass zwar gegen eine Einbeziehung polnischer Arbeitsnachweise bei der Anwerbung polnischer Arbeitswanderer nichts einzuwenden sei, die Anwerbung und Vermittlung aber von deutschen Stellen vorgenommen

|| 46 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 2. Aufl. Darmstadt 1993, S. 280f., 290f., 304f. 47 Vermerk über die Besprechung mit Präsident Gawronski am 9.4.1925, Reichsarbeitsministerium in Berlin, BArch B, R901, Nr. 35226. 48 Allgemeine Grundsätze des deutschen-polnischen Emigrations- und Immigrationsabkommens betreffend polnische Saisonarbeiter der polnischen Delegation, 11.3.1925, ebd.

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werden müsse. Eine Gleichstellung in allen Bereichen der Sozialversicherung sei nicht erwünscht.49 Nach langwierigen Verhandlungen, bei der die deutsche Seite aufgrund ihrer konfliktbereiten und erfolgreichen Re-Saisonalisierungspolitik erheblichen Druck auf die polnische Seite ausüben konnte, wurde am 24. November 1927 der deutschpolnische Vertrag über polnische landwirtschaftliche Arbeiter in Warschau unterzeichnet.50 Zugleich verabredeten beide Seiten zwei Durchführungsvereinbarungen. Im Vertrag wurde festgelegt, dass diejenigen polnischen landwirtschaftlichen Arbeiterinnen und Arbeiter, die bereits vor dem 1. Januar 1919 nach Deutschland gekommen waren, dort auch weiterhin verbleiben durften. Ihnen sollten Befreiungsscheine gewährt werden. Für alle anderen polnischen Arbeitswanderer galt wieder der Rückkehrzwang im Winter. Dabei sollten sich polnische Landarbeitskräfte, die zwischen dem 1. Januar 1919 und dem 31. Dezember 1925 zugewandert und im Reich geblieben waren – von Härtefällen abgesehen, die ebenfalls Befreiungsscheine erhalten konnten –, »wieder in die Wanderbewegung einreihen«.51 Der deutsch-polnische Wanderungsvertrag regelte zudem das Verfahren der Anwerbung, Vermittlung und Verpflichtung polnischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter. Auf polnischer Seite durften in diesem Feld nur die staatlichen Arbeitsvermittlungsstellen tätig werden, auf deutscher Seite ausschließlich von der Reichsregierung beauftragte Organisationen (die Arbeiterzentrale und ihre Landesstellen). Die Anwerbung durch privatwirtschaftlich operierende Agenten, Vorarbeiter und andere Privatpersonen wurde grundsätzlich ausgeschlossen. Durch die Zusammenarbeit der polnischen und deutschen Anwerbeinstanzen wurde der Schwerpunkt der Anwerbung, Vermittlung und Verpflichtung polnischer landwirtschaftlicher Arbeitskräfte von der Grenze in das polnische Binnenland verschoben: Die polnischen Arbeitsvermittlungsstellen übernahmen die Aufgabe, geeignete Landarbeiterinnen und Landarbeiter anzuwerben, unter denen Mitarbeiter der Deutschen Arbeiterzentrale ihre Auswahl trafen. In Gegenwart der Beamten der polnischen Arbeitsverwaltung wurden Arbeitsverträge unterzeichnet, die auf einem von deutscher und polnischer Seite abgestimmten Mustervertrag beruhten.52 Nach dem Abkommen lag die Anwerbung und Verpflichtung polnischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter zwar formal vorrangig bei der polnischen Arbeitsverwaltung.

|| 49 Referentenentwurf für die Gegenäußerung der deutschen Delegation auf die der polnischen Delegation überreichten allgemeinen Grundsätze des deutsch-polnischen Emigrations- und Immigrationsabkommens betreffend polnische Saisonarbeiter, Auswärtiges Amt in Berlin, 23.3.1925, ebd. 50 Germano-Polish Agreement Concerning Agricultural Migrants, in: The Monthly Record of Migration, 2. 1927, S. 453f. 51 Zehrfeld, Die Abänderung der Verordnung über die Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeiter, in: Arbeit und Beruf, 4. 1925, S. 194f. 52 Im Überblick: Philipp Beisiegel, Der deutsch-polnische Vertrag über polnische landwirtschaftliche Arbeiter, in: Reichsarbeitsblatt, N.F., 8. 1928, S. 1–4.

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Die Deutsche Arbeiterzentrale berichtete aber, dass die polnischen Behörden nach einer kurzen Übergangsfrist dazu übergegangen seien, ihr die »Auswahl und Anwerbung der Arbeiter [zu] überlassen«.53

4 Ethno-national motivierte Anwerbeabkommen in der späten Weimarer Republik Die aus dem Kaiserreich überkommene und in der Weimarer Republik weiterhin gültige migrationspolitische Maxime einer antipolnischen ›Abwehrpolitik‹ zielte nicht nur darauf, die dauerhafte Ansiedlung von polnischen Arbeitskräften im Reich zu unterbinden. Sie zeigte sich in den späten 1920er Jahren zugleich in Gestalt der Förderung der Zuwanderung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus den deutschen Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Mit der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ungarn wurden Anwerbeverträge abgeschlossen, die in erster Linie dazu dienten, die verdeckte Rekrutierung als ›deutschstämmig‹ geltender Arbeitswanderer abzusichern. Hinzu kam als eine weitere Perspektive die Förderung der Zuwanderung aus Österreich als wichtigem Herkunftsland landwirtschaftlicher und industrieller Arbeitskräfte. Dem Auswärtigen Amt erschien die Förderung der Saisonwanderung ›deutschstämmiger‹ Landarbeiterinnen und Landarbeiter als die einzige wesentliche Möglichkeit zur Erhaltung beziehungsweise Förderung der deutschen Minderheiten. In allen preußischen und Reichsressorts herrschte in den späten 1920er Jahren »nach wie vor Übereinstimmung darüber, daß jede Dauerauswanderung Deutschstämmiger aus allen deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas – auch eine solche nach Deutschland – unerwünscht und in keinem Fall zu fördern sei«. Eine verstärkte Rekrutierung ›deutschstämmiger‹ Saisonarbeitskräfte für die deutsche Landwirtschaft aber trage nicht nur dazu bei, »das polnische Element durch ein wirtschaftlich gleichwertiges und national sehr viel willkommeneres Element« zu ersetzen. Neben einer ökonomischen Funktion, wonach die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung der Siedlungsgebiete fördern könnten, stand nach Ansicht des Auswärtigen Amts zudem eine gleichwertige minderheitenpolitische Funktion der Arbeitswanderung nach Deutschland: Den deutschen Minderheiten in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa, »an deren Erhaltung wir aufs

|| 53 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an preußisches Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten in Berlin, 8.3.1927; Protokoll der Aufsichtsratssitzung der Deutschen Arbeiterzentrale, 24.4.1926, beide Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, Rep. 87 B, Nr. 122.

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Stärkste interessiert sind«, müsse Gelegenheit geboten werden, »in kultureller Fühlung mit dem Mutterland zu bleiben«.54 Im Dezember 1925 entsandte die Deutsche Arbeiterzentrale, durch das Auswärtige Amt diplomatisch abgestützt, Beauftragte nach Belgrad zur Prüfung der Anwerbemöglichkeiten im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.55 Die Ergebnisse allerdings waren zunächst negativ. Die jugoslawische Regierung stellte nach Auffassung der Arbeiterzentrale unannehmbare Anwerbebedingungen. Das galt vor allem für das Verbot einer Anwerbung von Frauen, auf die die Arbeiterzentrale als kostengünstige Arbeitskräfte besonderen Wert legte. Das galt aber auch für die jugoslawische Ablehnung einer Beteiligung der Arbeiterzentrale an der Auswahl der Arbeitskräfte.56 Trotz der aus Sicht der Arbeiterzentrale anfangs unannehmbaren Forderungen der jugoslawischen Regierung wurden die langwierigen Verhandlungen zwei Jahre später unter dem Druck des deutschen Interesses an der Anwerbung ›deutschstämmiger‹ jugoslawischer Staatsangehöriger zur »Stärkung des dortigen Deutschtums« und zur Verdrängung polnischer Arbeitswanderer aus Deutschland zum Abschluss gebracht.57 Am 22. Februar 1928 konnte ein Anwerbeabkommen zwischen der Arbeiterzentrale und dem dem jugoslawischen Sozialministerium zugeordneten Belgrader Zentralausschuss für Arbeitsvermittlung geschlossen werden. Der Arbeiterzentrale war es gelungen, jene jugoslawischen Forderungen auszuräumen, die gegen einen Vertragsabschluss gesprochen hatten. Sie wurde an der Auswahl der Arbeitskräfte beteiligt. Die Beschäftigung der jugoslawischen Arbeitswanderer in Deutschland erfolgte auf der Basis der für alle zugewanderten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte gültigen Normalarbeitsverträge. Auch die Anwerbung weiblicher Arbeitskräfte war durchgesetzt worden.58 Die aus Sicht der Arbeiterzentrale und des Auswärtigen Amts wesentlichen Bedingungen des Vertrags wurden allerdings nur mündlich festgelegt: Erstens verein|| 54 Auswärtiges Amt in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 22.7.1929, BArch B, R901, Nr. 35198. Zum Gesamtkomplex der Politik der Weimarer Republik gegenüber der ›deutschstämmigen‹ Bevölkerung in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa siehe auch den Beitrag von Jochen Oltmer in diesem Band. 55 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 11.10.1925, BArch B, R901, Nr. 35259; dito, 28.1.1926. 56 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Preußische Hauptlandwirtschaftskammer in Berlin, 27.7.1926; Deutsche Gesandtschaft in Belgrad an Auswärtiges Amt in Berlin, 21.9.1926, beide BArch B, R901, Nr. 35198. 57 Deutsche Stiftung in Berlin an Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin, 17.11.1927, ebd. 58 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 2.3.1928, Anlage: Vereinbarung über die Anwerbung und Verpflichtung von landwirtschaftlichen Wanderarbeitern für das Deutsche Reich aus den Gebieten des Königreiches der Serben, Kroaten und Slovenen, ebd.; An Agreement Concerning the Recruiting of Yugoslav Agricultural Labour for Germany, in: The Monthly Record of Migration, 3. 1928, S. 223.

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barten beide Seiten vertraulich, 1928 zunächst 800 landwirtschaftliche Arbeitskräfte für Deutschland anzuwerben bei einem hohen Frauenanteil von 70 Prozent. Anders als der Vertrag es in der Schriftform suggeriert, war zweitens nicht das gesamte jugoslawische Territorium Anwerbegebiet der Arbeiterzentrale, sondern nur zwei Regionen – die Vojvodina und das nordostslowenische Murgebiet. Die von der Arbeiterzentrale vorgeschlagene Festlegung dieser beiden Gebiete entsprach den deutschen Intentionen für den Abschluss eines Vertrages mit Jugoslawien; »denn mit der erwähnten Umschreibung des Werbegebietes ist gewährleistet, daß fast ausschließlich entweder Deutschstämmige und – vom Murgebiet her – wenigstens deutschsprechende Arbeiter und Arbeiterinnen nach Deutschland gelangen, wodurch die kulturelle und wirtschaftliche Verbindung des hiesigen Deutschtums mit dem deutschen Mutterboden wesentlich gefördert wird«, wie die deutsche Botschaft in Belgrad formulierte.59 Als ein rein formaler Schritt wurde am 15. Dezember 1928 das im Februar des Jahres zwischen der Arbeiterzentrale und der jugoslawischen Arbeitsverwaltung geschlossene Abkommen auf jugoslawischen Wunsch nach kurzen Verhandlungen durch einen Anwerbevertrag auf Regierungsebene ersetzt, der auf dem Wortlaut des deutsch-polnischen Wanderungsvertrags beruhte.60 Die Intention der Arbeiterzentrale, die Zahl der angeworbenen jugoslawischen Arbeitswanderer immer weiter zu erhöhen, hatte zunächst Erfolg. Insgesamt gelang es ihr 1929, die Anwerbezahlen im Vergleich zum Vorjahr zu verdoppeln, ohne allerdings zugleich den Anteil ›deutschstämmiger‹ Arbeitswanderer darunter steigern zu können, der ihren Angaben zufolge auch weiterhin bei etwa der Hälfte aller Angeworbenen lag. Trotz des Anstiegs der Anwerbezahlen in Jugoslawien blieb – auf die Gesamtzahl zugewanderter Landarbeiterinnen und Landarbeiter im Reich bezogen – der Anteil hier angeworbener Arbeitskräfte gering: Im Jahr nach dem Anwerbevertrag, 1929, vermittelte die Arbeiterzentrale 948 jugoslawische landwirtschaftliche Arbeiterinnen und Arbeiter neu in die deutsche Landwirtschaft.61 Davon galten 468 als ›deutschstämmig‹. Damit stieg die Zahl der jugoslawischen Landarbeitskräfte in Deutschland auf insgesamt 1.155 an. 1930 konnte sich die Zahl der jugoslawischen Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Deutschland mehr als verdoppeln (auf 2.811), darunter 724 neu angeworbene aus der Vojvodina, von denen 501 ›deutsch-

|| 59 Deutsche Gesandtschaft in Belgrad an Auswärtiges Amt in Berlin, 3.3.1928, BArch B, R901, Nr. 35198. 60 Vereinbarung zwischen der Deutschen Regierung und der Regierung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen über die serbisch-kroatisch-slovenischen landwirtschaftlichen Wanderarbeiter, 15.12.1928, ebd. 61 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Berlin, 22.7.1929, BArch B, R901, Nr. 35255.

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stämmig‹ waren.62 Mit der starken Verminderung der Beschäftigung von Zuwanderern in der Weltwirtschaftskrise sank auch die Zahl der jugoslawischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft deutlich ab. 1931 wurde mit 1.347 noch die Hälfte des Vorjahreswertes erzielt, 1932 erreichte sie mit 682 wiederum nur die Hälfte des Vorjahreswertes und lag nur noch knapp über der Zahl von 465 im Jahr des Anwerbevertrags 1928 (siehe Tabelle 2). Hinderungsgründe für die Erhöhung des Anteils ›Deutschstämmiger‹ unter den jugoslawischen Arbeitswanderern lagen nach den Angaben der Arbeiterzentrale auf beiden Seiten, in Deutschland wie in Jugoslawien. Es habe zunächst große Schwierigkeiten bereitet, die deutschen landwirtschaftlichen Arbeitgeber »dafür zu gewinnen, auf die polnischen Arbeiter zu verzichten und jugoslawische Arbeiter einzustellen«.63 Eine Reaktion auf eine solche, auch in anderen Zusammenhängen beklagte Fixierung der deutschen landwirtschaftlichen Arbeitgeber folgte bald: Um eine verstärkte Anwerbung ›deutschstämmiger‹ landwirtschaftlicher Arbeitskräfte zu ermöglichen, wies die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für das Jahr 1930 die Landesarbeitsämter an, bestimmte Kontingente nicht durch die Beschäftigung polnischer Arbeitswanderer zu füllen, sondern sie für die Gruppe der ›deutschstämmigen‹ Landarbeiterinnen und Landarbeiter freizuhalten.64 In den vorangegangenen Jahren hatte Preußen bereits wiederholt im Reichsrat bei der Festlegung der jährlichen Höchstzahl nach Deutschland zugewanderter Landarbeiterinnen und Landarbeiter gedrängt, vor allem in den deutsch-polnischen Grenzgebieten ›Deutschstämmige‹ zu beschäftigen.65 Die Arbeiterzentrale sah einen weiteren Hinderungsgrund für verstärkte Anwerbungen ›Deutschstämmiger‹ darin, dass deren Anwerbung nicht offen betrieben werden konnte. Angesichts der restriktiven Minderheitenpolitik Jugoslawiens seien die Möglichkeiten ihrer Anwerbung vorerst beschränkt, berichtete sie im Mai 1929.66 Die jugoslawische Arbeitsverwaltung habe zum Beispiel anlässlich von Besprechungen über die Durchführung der Anwerbungen erklärt, der Anteil der ›Deutschstämmigen‹ unter den Angeworbenen dürfe nicht mehr als 10 Prozent betragen. Die Arbeiterzentrale müsse deshalb immer wieder nach außen betonen, dass »uns die Nationalität der anzuwerbenden Arbeiter gleichgültig sei, für die Auswahl sei ledig-

|| 62 Reichsarbeitsministerium in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 16.8.1930, BArch B, R901, Nr. 35199. 63 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 23.5.1929, BArch B, R901, Nr. 35198; dito, 10.10.1929. 64 Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 15.11.1929, ebd. 65 Reichsarbeitsministerium in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 14.8.1929, BArch B, R901, Nr. 35255. 66 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 23.5.1929, BArch B, R901, Nr. 35198; dito, 10.10.1929.

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lich die Eignung und der Arbeitswille bestimmend«.67 Angesichts dieser Widerstände wertete die Deutsche Arbeiterzentrale einen Anteil ›Deutschstämmiger‹ unter den jugoslawischen Arbeitswanderern von rund 50 Prozent als Erfolg ihrer Anwerbepolitik.68 Am Ende wesentlich erfolgreicher als die Anwerbeversuche in Jugoslawien – und in Ungarn, mit dessen Regierung zwar ebenfalls der Abschluss eines Vertrages im Februar 1928 gelang, die Rekrutierung allerdings scheiterte – waren die Bemühungen der Deutschen Arbeiterzentrale und des Reichsarbeitsministeriums in der Tschechoslowakei. Seit 1924 regelten jährlich neu abgeschlossene Verträge zwischen der Arbeiterzentrale und den für ihre Hauptanwerbegebiete zuständigen tschechoslowakischen Landesarbeitsämtern in Bratislava/Preßburg, Brno/Brünn und Opava/Troppau die Praxis der Anwerbung.69 Deutsch-tschechoslowakische Verhandlungen führten Ende Januar/Anfang Februar 1928 auf der Basis des Wortlautes des deutsch-polnischen Wanderungsabkommens zum Abschluss eines Staatsvertrages.70 Die kurzen Konsultationen waren vor allem deshalb spannungsarm, weil das bei den deutsch-polnischen Gesprächen wesentliche Konfliktfeld, die Re-Saisonalisierung von bereits seit Jahren in Deutschland lebenden zugewanderten Landarbeiterinnen und Landarbeitern, in diesem Fall keine Rolle spielte.71 Weitere wesentliche Faktoren trugen zum raschen Abschluss der Vertragsverhandlungen bei: Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung berichtete im Monat vor Beginn der Verhandlungen, dass bei einem auf der Basis des deutsch-polnischen Vertrags abgeschlossenen Abkommen mit der Tschechoslowakei »eine Belastung des deutschen Arbeitsmarktes nicht zu befürchten« sei. In der deutschen Landwirtschaft waren nach der Statistik der Deutschen Arbeiterzentrale 1927 insgesamt 5.423 tschechoslowakische Staatsangehörige beschäftigt gewesen, von denen 2.342 einen Befreiungsschein besaßen und rund 90 Prozent als ›deutsch|| 67 Beauftragter der Deutschen Arbeiterzentrale in Novi Sad an Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin, 18.3.1930, ebd. 68 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Berlin, 19.7.1930, BArch B, R901, Nr. 35199. 69 Beispiel: Übereinkommen zwischen der Deutschen Arbeiterzentrale in Berlin und den tschechoslowakischen Landesarbeitsämtern in Bratislava, Brünn und Troppau betreffend die Bereitstellung von tschechoslowakischen Wanderarbeitern für die deutsche Landwirtschaft im Jahre 1927, 6.5.1927, BArch B, R3901, Nr. 820. 70 Verhandlungsprotokoll, Reichsarbeitsministerium in Berlin, 2.2.1928; Vereinbarung über tschechoslowakische Wanderarbeiter, 2.2.1928, beide BArch B, R901, Nr. 35255; Agreement between Germany and Czechoslovakia Concerning Seasonal Migration, in: The Monthly Record of Migration, 3. 1928, S. 341f. 71 Vortragsanmeldung beim Staatssekretär des Reichsarbeitsministeriums betreffend Verhandlungen mit tschechoslowakischen Vertretern über landwirtschaftliche Wanderarbeiter, Berlin, 31.1.1928, BArch B, R3901, Nr. 820.

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stämmig‹ galten. Im Sinne der Strategien zur Verdrängung polnischer durch ›deutschstämmige‹ Arbeitswanderer müsse es Aufgabe der Deutschen Arbeiterzentrale sein, »nach Abschluß des deutsch-tschechischen Vertrags dahin zu wirken, daß die Arbeiter möglichst in deutschstämmigen Gegenden angeworben werden können und in Deutschland solchen Provinzen zugeführt werden, in denen ein Ersatz der fremdstämmigen Ausländer besonders erwünscht ist«.72 Vor allem die Maßgabe, die Anwerbung ›deutschstämmiger‹ Arbeitskräfte aus der ČSR zu forcieren, ließ die Arbeiterzentrale auf einen schnellen Abschluss des Vertrags noch vor Beginn der Frühjahrsanwerbungen 1928 drängen.73 Im Sinne der Forderungen der Reichsarbeitsverwaltung signalisierte die Arbeiterzentrale, dass »wir erheblich mehr Arbeiter von dort beziehen möchten, um sie den Arbeitgebern unseres national gefährdeten Ostens zuzuführen, um sie immer mehr von der Notwendigkeit, polnische Arbeiter einzustellen, frei zu machen. Es ist uns gelungen, namentlich bei den schlesischen Arbeitgebern, Verständnis für die Bedeutung dieser Sache zu gewinnen, und wir dürfen mit Bestimmtheit auf eine Auftragserteilung auf tschechoslowakische Arbeiter an Stelle von Polen rechnen«.74

Rund 2.500 der etwa 3.700 im Jahre 1928 aus der Tschechoslowakei durch die Arbeiterzentrale neu rekrutierten Landarbeiterinnen und Landarbeiter galten als ›deutschstämmig‹. Diese Anwerbeziffer im Jahr des Abschlusses des Wanderungsvertrags bedeutete eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren. 1926 waren etwa 1.600 Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus der Tschechoslowakei angeworben worden, darunter rund 750 ›deutschstämmige‹. 1927 zählte die Arbeiterzentrale dann 1.050 Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus der deutschen Minderheit unter insgesamt 1.850 Angeworbenen. Die erhebliche Steigerung der Anwerbung 1928 konnte auch 1929 beobachtet werden: 4.574 Landarbeiterinnen und Landarbeiter warb die Arbeiterzentrale in der Tschechoslowakei an, von denen 3.024 ›deutschstämmig‹ waren. Selbst nach Beginn der Weltwirtschaftskrise setzte sich der Trend fort mit einem Anstieg der Gesamtzahl der Anwerbungen 1930 auf 5.857 (darunter 4.848 Frauen) bei einem Anteil von 60 Prozent ›Deutschstämmigen‹ (3.571).75

|| 72 Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 18.1.1928, ebd. 73 Vermerk Reichsarbeitsministerium in Berlin, 10.12.1927, ebd. 74 Preußisches Ministerium des Innern in Berlin an Reichsarbeitsministerium in Berlin, 12.12.1927, ebd. 75 Deutsche Arbeiterzentrale an Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, 23.7.1929; Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Berlin, 28.1.1930; Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 28.6.1930, alle BArch B, R901, Nr. 35255.

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Die Anwerbeerfolge der Arbeiterzentrale in der Tschechoslowakei lassen sich auch an den Legitimationsziffern ablesen: Von 1924 bis 1930 stieg die Zahl der Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus der Tschechoslowakei permanent an. Die Ausgangszahl von 2.564 im Jahr 1924 verdoppelte sich bis 1926 fast auf 4.910, erklomm im Jahr des Abschlusses des deutsch-tschechoslowakischen Wanderungsvertrages die Höhe von 6.619 und erreichte 1930 den Spitzenwert von 9.159. In der Weltwirtschaftskrise sanken dann die Ziffern, wie für die Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte insgesamt, deutlich ab und erreichten nur mehr 5.424 (1931) beziehungsweise 3.236 im Jahr 1932 (siehe Tabelle 2). Widerstände der tschechoslowakischen Arbeitsverwaltung gegen die ethnonational orientierte Anwerbepolitik der Deutschen Arbeiterzentrale lassen sich nicht feststellen. Sie hätten sich auch angesichts der verdeckten Anwerbungen gar nicht formieren können, betonte die Arbeiterzentrale: »Die Geschicklichkeit hat es erfordert, den Arbeitsämtern nicht einmal Gelegenheit zu solchen Beschneidungen zu geben, um bei der Durchführung von Wünschen deutscher Arbeitgeber auf Gestellung deutschstämmiger Leute jeden Anschein nationaler Betätigung zu vermeiden«.76

Ebenfalls in die Reihe der Anwerbeverträge als Mittel zur forcierten Rekrutierung landwirtschaftlicher Arbeiterinnen und Arbeiter mit ethno-nationaler Motivation gehört das nach kurzen Verhandlungen am 13. Dezember 1928 abgeschlossene deutsch-österreichische Wanderungsabkommen. Es hielt sich im Wesentlichen ebenfalls an den Wortlaut des deutsch-polnischen Wanderungsvertrags.77 Die Durchführungsbestimmungen und die nicht veröffentlichte Niederschrift setzten aber Sonderbedingungen in Kraft: Für die österreichischen Landarbeiterinnen und Landarbeiter herrschte weitgehend Freizügigkeit. Aufgabe der Arbeiterzentrale war es, darauf zu achten, dass sie nicht in Betriebe vermittelt wurden, in denen polnische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren – »keinesfalls aber werden Österreicher mit Polen in gemeinsamen Unterkünften wohnen oder unter polnischen Vorarbeitern arbeiten«. In der deutschen Landwirtschaft beschäftigte österreichische Staatsangehörige wurden zudem außerhalb des jährlich festgelegten Kontingents für die Zulassung der Beschäftigung von Zuwanderern legitimiert. Die Deutsche Arbeiterzentrale sicherte darüber hinaus zu, jeden einzelnen für österrei-

|| 76 Deutsche Arbeiterzentrale in Berlin an Auswärtiges Amt in Berlin, 1.7.1928, BArch B, R901, Nr. 35255. 77 Deutsch-österreichische Vereinbarung vom 13.12.1928 über die Anwerbung, Vermittlung und Verpflichtung österreichischer Arbeiter zur landwirtschaftlichen Saisonarbeit im Deutschen Reich, BArch B, R901, Nr. 35221.

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chische Landarbeiterinnen oder Landarbeiter vorgesehenen Arbeitsplatz auf Eignung überprüfen zu wollen.78 Insgesamt führte der Anwerbevertrag mit Österreich zumindest zu einem kurzzeitigen Erfolg: Nachdem die Zahl österreichischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Deutschland zwischen 1924 und 1928 nur von 187 auf 490 angestiegen war, ließ der Anwerbevertrag ihre Zahl in die Höhe schnellen – 1929 wurden 3.021 landwirtschaftliche Arbeitskräfte aus Österreich gezählt. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise aber sanken die Ziffern bereits wieder deutlich ab, blieben aber dennoch auf einem wesentlich höheren Niveau als vor dem Anwerbevertrag: 1930 wurden 1.821 Österreicherinnen und Österreicher gezählt, 1931 waren es dann 1.242, 1932 insgesamt 798 (siehe Tabelle 2).

5 Schluss: Grundlinien der Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik Im Vergleich zum späten Kaiserreich hatte die Beschäftigung von zugewanderten Arbeitskräften in der Weimarer Republik ein weitaus geringeres Gewicht. Die wesentlich veränderte wirtschaftliche Situation nach dem Ende des Krieges ließ sie insgesamt stark absinken. Durch die Einführung des ›Inländervorrangs‹ als Innovation der Weimarer Migrationspolitik und die Bindung der Zulassung von Zuwanderern an die Arbeitsmarktpolitik wurde zugleich verhindert, dass die Zahl der Arbeitskräfte aus dem Ausland im Verlaufe der Weimarer Republik stark anwuchs. Angesichts der erheblichen strukturellen Erwerbslosigkeit bildete der Abbau des Umfangs der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte das Ziel der vor allem vom Reichsarbeitsministerium betriebenen Arbeitsmigrationspolitik in der Weimarer Republik. Dabei richtete sich der Blick kaum jemals auf die Beschäftigung von Zuwanderern aus dem Ausland in der Industrie, deren Verminderung vor allem deshalb nicht als vordringlich galt, weil die zugewanderten Industriearbeiterinnen und -arbeiter zumeist als qualifizierte Arbeitskräfte in Beschäftigungsbereichen tätig waren, die nicht über ein ausreichendes Potenzial an einheimischen Facharbeitskräften verfügten. Die zugewanderten Industriearbeiterinnen und -arbeiter waren zudem in der Regel seit langen Jahren in Deutschland beschäftigt, verfügten deshalb mit dem Befreiungsschein über einen besseren Aufenthaltsstatus und galten auch in nationalitätenpolitischer Hinsicht als unproblematisch: Ein Großteil stammte aus den

|| 78 Durchführungsbestimmungen zur deutsch-österreichischen Vereinbarung vom 13.12.1929, Wien, 13.12.1929; Vereinbarung über die technische Durchführung österreichischer landwirtschaftlicher Saisonarbeiter in die deutsche Landwirtschaft im Jahre 1930, Wien, 10.1.1930, beide ebd.

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Niederlanden und Österreich, diejenigen, die aus Ostmittel- und Südosteuropa kamen, waren in der Regel ›deutschstämmig‹. Ein Abbau der Beschäftigung aus dem Ausland kommender Arbeitskräfte war deshalb vor allem ein Thema des landwirtschaftlichen Arbeitsmarktes, auf dem in der Weimarer Republik, sieht man von der Weltwirtschaftskrise ab, auch der überwiegende Teil der zugewanderten Arbeitskräfte beschäftigt wurde. Protagonisten der Kontingentierungspolitik waren die Kräfte, die in der Weimarer Republik von Beginn an den ›Inländervorrang‹ und die Bindung der Zulassung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten an die Arbeitsmarktpolitik vertreten hatten. Traditionen in der Formulierung dieser Politik reichten dabei zum Teil bis in das Kaiserreich zurück: Zum einen handelte es sich um das Reichsarbeitsministerium, das mit dem Beginn der Weimarer Republik zur federführenden Behörde im Bereich der Migrationspolitik wurde und mit dem Arbeitsnachweisgesetz von 1922 sowie dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 an Regelungskompetenz in diesem Feld gewann. Zum andern zählten die SPD im Reich, die SPD-geführte preußische Staatsregierung und die Gewerkschaften zu den entschiedenen Befürwortern des ›Abbaus der Ausländerbeschäftigung‹. Aus vier wesentlichen Elementen bestand die vorrangig von ihnen vertretene restriktive Migrationspolitik, die auf die protektionistische Kontrolle und Steuerung grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen zielte: 1. Ein klarer ›Inländervorrang‹ auf dem Arbeitsmarkt galt angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage in Deutschland als Vorgabe für die Migrationspolitik. Zugewanderte Arbeitskräfte hatten nur mehr eine Ersatz- oder Zusatzfunktion. Dies entsprach Forderungen der deutschen Arbeiterbewegung, die bereits in der Vorkriegszeit entwickelt worden waren und angesichts der neuen politischen Macht von Gewerkschaften und Parteien der Arbeiterbewegung in der Anfangsphase der Weimarer Republik durchgesetzt werden konnten: Das galt neben dem eindeutigen ›Inländervorrang‹ zum einen für die Beschäftigung von Zuwanderern ausschließlich unter den Bedingungen der für die einheimischen Arbeitskräfte gültigen Tarifverträge (mit dem Ziel, ›Lohndruck‹ zu verhindern) sowie zum andern für die Zulassung der Beschäftigung von Zuwanderern über paritätisch von Unternehmern und Arbeitervertretern besetzte Ausschüsse. 2. Mit Bezug auf die erhebliche konjunkturelle und strukturelle Erwerbslosigkeit verband sich die Politik des ›Inländervorrangs‹ mit einer Politik des Abbaus der Beschäftigung von Arbeitskräften aus dem Ausland. Dazu sollte seit Mitte der 1920er Jahre vor allem die ›Kontingentierung‹ beitragen: Jährliche planmäßige Verminderungen der vereinbarten Quoten sollten die landwirtschaftlichen Unternehmer durch die absehbare Verringerung der Zahl ihrer Arbeitskräfte aus dem Ausland dazu zwingen, Alternativen zur Beschäftigung von Zuwanderern zu entwickeln. In der Weltwirtschaftskrise wurde die Kontingentierungspolitik gleichbedeutend mit

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einer Zuwanderungssperre. 1932, auf dem Höhepunkt der Erwerbslosigkeit im Reich, wurde das Kontingent faktisch auf Null abgesenkt. 3. Obwohl in der Weimarer Republik die Regelung der Beschäftigung von Arbeitskräften aus dem Ausland ein Feld der Arbeitsmarktpolitik wurde, verloren antipolnische ›Abwehrpolitik‹ sowie ethno-nationale Vorstellungen und politische Semantiken keineswegs völlig an Bedeutung. Trotz des erheblichen Rückgangs der polnischen Minderheit im Reich nach dem Ersten Weltkrieg bildete weiterhin das ethno-nationale Schreckbild einer polnischen Infiltration mit der Folge einer ›Polonisierung‹ des preußischen Ostens die Basis der antipolnischen ›Abwehrpolitik‹. Sie verstand Zuwanderung von Polen ins Reich als Gefahr für die innere Sicherheit, für Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Gesellschaft und Kultur Deutschlands. Mitte der 1920er Jahre gelang es der deutschen Migrationspolitik, den seit der unmittelbaren Nachkriegszeit geforderten und mit Kriegsbeginn 1914 ausgesetzten Rückkehrzwang für polnische Landarbeiterinnen und Landarbeiter wieder durchzusetzen. Mit der Wiedereinführung des Rückkehrzwangs wurden den deutschen Behörden Instrumentarien in die Hand gegeben, um die dauerhafte Ansiedlung polnischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter durch eine Re-Saisonalisierung der Arbeitsmigration zu verhindern. 4. Das bruchlos aus der antipolnischen ›Abwehrpolitik‹ des Kaiserreichs überkommene Ziel der Re-Saisonalisierung der polnischen Zuwanderung verband sich in den späten 1920er Jahren mit einer ethno-nationalen Komponente, die vor allem auf die Förderung der Anwerbung ›deutschstämmiger‹ Arbeitswanderer zielte. Mit der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Österreich Ende der 1920er Jahre abgeschlossene Anwerbeabkommen waren nicht vorrangig dem Impetus der Sicherung eines ausreichenden Potenzials zugewanderter Landarbeitskräfte entsprungen. Hintergründe waren vielmehr zum einen außenpolitische Erwägungen, die über vertragliche Vereinbarungen auch in Wanderungsfragen auf das Aufbrechen der immer noch weithin bestehenden außenpolitischen Isolation Deutschlands zielten. Zum andern – und vor allem – ging es um den Versuch, die Zahl polnischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter in der deutschen Landwirtschaft zu reduzieren durch die verstärkte Rekrutierung von Saisonarbeitskräften aus den deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa beziehungsweise Österreich.

| Teil V: Interventionistischer Führerstaat und Imperium im Vernichtungskrieg: Rassismus und Migration im nationalsozialistischen Deutschland

Christoph Rass

Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939 Die nationalsozialistische Herrschaft brachte politische Zielsetzungen und Handlungsspielräume mit sich, die zwischen der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 zu grundsätzlichen Veränderungen der Rahmenbedingungen und Strukturen des Migrationsgeschehens innerhalb Deutschlands sowie der grenzüberschreitenden Ab- und Zuwanderung führen sollten. Mit der Zerstörung der Demokratie korrespondierte die Einschränkung, vielfach sogar das Ende der Freizügigkeit in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die ökonomische Basis des totalitären Führerstaates sollte eine zentral gelenkte Verwaltungswirtschaft gewährleisten. Diese Herrschafts- und Lenkungsansprüche der Nationalsozialisten erstreckten sich auch auf den Produktionsfaktor Arbeit und tangierten damit eines der wichtigsten Motive sowohl für die intra- und interregionalen Wanderungen als auch für die grenzüberschreitende Migration: die Suche des Menschen nach einem Ort, an dem er seine Arbeitskraft zur Verbesserung seiner Lebenssituation einsetzen kann. Individuelle, selbstbestimmte Nutzenmaximierung konnte jedoch in einem Staat, der sich vollkommen auf die Umsetzung totalitärer Utopien konzentrierte, nur bedingt ihren Platz finden.1 Ein Faktor, der zwischen 1933 und 1939 katalytisch auf diesen Prozess einwirkte, war die Aufrüstung Deutschlands. Sie zielte schon seit 1933 auf die Vorbereitung eines Krieges, verband sich allerdings bis 1935/36 noch mit konjunkturpolitischen Motiven. Antizyklische Investitionen der öffentlichen Hand – vor allem in Rüstungsprojekte – erschienen als geeignetes Mittel, die Folgen der Weltwirtschaftskrise und damit die Massenerwerbslosigkeit zu überwinden. Ab 1935 traten dann jedoch mit dem Aufbau der Wehrmacht und dem Beginn des Vierjahresplanes Rüstung und Kriegsvorbereitung entgegen jeder ökonomischen und politischen Rationalität in den Vordergrund. Schnell erwies sich jetzt die Ressource Mensch als

|| 1 Vgl. Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987, S. 94; Christoph Buchheim/Jonas Scherner, Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des ›Dritten Reichs‹, in: Werner Abelshauser u.a. (Hg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–98, hier S. 84f. Im Licht der Thesen von Buchheim scheint der Arbeitsmarkt sogar einer der Bereiche der Wirtschaft gewesen zu sein, in dem staatliche Eingriffe die Freizügigkeit einer Marktwirtschaft am stärksten beschnitten.

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knappes Gut, und mit der zunehmenden Reglementierung des Arbeitsmarkts gewann auch die staatliche Wanderungslenkung erheblich an Bedeutung.2 Neben ökonomischen Motiven entfalteten im ›Dritten Reich‹ freilich auch ideologische Einflüsse ihre Wirkung auf das Migrationsgeschehen der Vorkriegszeit. Die Herstellung der sogenannten ›Volksgemeinschaft‹ erforderte einerseits, ungewollte Bevölkerungsgruppen zu vertreiben, andererseits, ihr die sogenannten ›Volksdeutschen‹ einzuverleiben.3 Die grenzüberschreitende Abwanderung und Flucht jüdischer Deutscher, die Emigration von Teilen der politischen Opposition, von Künstlern und Intellektuellen und nicht zuletzt auch der Exodus zahlreicher hochqualifizierter Wissenschaftler und Ingenieure, der faktisch den ökonomischen Interessen der Nationalsozialisten zuwiderlief, sind ebenso in diesem Kontext zu verorten wie erste Pläne zur Umsiedlung deutscher Minderheiten aus dem Ausland ins Reich. Daneben begannen sich nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch konnotierte Vorstellungen auf die Raumordnung innerhalb Deutschlands auszuwirken, zu deren Handlungsfeldern unter anderem die Relokation von Bevölkerungsteilen oder das Abblocken autonomer Wanderungsbewegungen zählten, also die Steuerung von intra- und interregionaler Migration. Vor dem Hintergrund der in ihrer Wirkungsmacht und Durchdringung aller Lebensbereiche kontinuierlich gesteigerten Kriegsvorbereitung muss die Frage nach der staatlichen Wanderungslenkung in Deutschland zwischen 1933 und 1939 also auf unterschiedliche Formen der Migration zielen.4 Die grenzüberschreitenden Wanderungen speisten sich nicht nur aus der temporären Arbeitsmigration von Ausländern, sondern auch aus ökonomisch motivierten Zu- und Abwanderungsbewegungen deutscher Staatsbürger und aus Migrationsströmen, die das Regime aus ideologischen beziehungsweise politischen Gründen forcierte. Die Binnenwanderung zwischen ländlichen und städtischen Regionen oder zwischen urbanen Ballungsräumen indes prägte vor allem die wechselvolle Entwicklung des Arbeitsmark-

|| 2 Vgl. Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 63f., 230f.; Werner Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 47. 1999, S. 503–538, hier S. 505f. 3 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Bd.: 1914–1949, München 2003, S. 767f. 4 Vgl. Hans-Erich Volkmann, Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Wilhelm Deist u.a., Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 1, hg.v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1979, S. 177–370, hier S. 216f., 232f.; vgl. mit Bezug zum Arbeitsmarkt auch Michael von Prollius, Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933–1939. Steuerung durch emergente Organisation und politische Prozesse, Paderborn 2003, S. 251f.

Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939 | 539

tes.5 Hier löste wachsender Arbeitskräftemangel schon nach wenigen Jahren die Massenerwerbslosigkeit der Weltwirtschaftskrise ab. Dabei müssen neben den Wanderungsbewegungen, die zumindest für einen längeren Zeitraum die Verlegung des Lebensmittelpunktes über Grenzen des bisherigen Wohnortes hinweg erforderten, auch andere Formen der Massenmobilität berücksichtigt werden: Pendelwanderungen zu weit entfernten Arbeitsorten, Großbauprojekte, die Arbeitswanderungen auslösten, die räumliche Bewegung von Arbeitsdienst- und Wehrpflichtigen und schließlich durch Stadtgründungen bedingte Wanderungsbewegungen sind in diesem Zusammenhang wichtige Phänomene. Als ebenso vielfältig wie das Wanderungsgeschehen der Vorkriegszeit erwiesen sich die Ausprägungen staatlicher Wanderungslenkung. In allen oben genannten Fällen konnte sie direkt durch Institutionen erfolgen, also mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen sowie Organisationen, die deren Ausgestaltung und Umsetzung dienten. Aber auch die indirekte Einflussnahme des Staates muss bei einer Analyse der Wanderungslenkung Berücksichtigung finden. Zu denken ist dabei an die Modifikation der Lebensverhältnisse bestimmter sozial oder funktional definierter Bevölkerungsgruppen zum Besseren oder Schlechteren durch Normen oder Praktiken, die sich nicht unmittelbar als Aspekte von Wanderungslenkung erkennen lassen. Eine so erzielte Veränderung von Lebensbedingungen konnte sich ihrerseits – staatlicherseits gewollt oder ungewollt – auf die individuellen Migrationsentscheidungen auswirken. Beispielhaft stehen lohn- und sozialpolitische Maßnahmen als positive Anreize den rassistischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen gegenüber. Schließlich umfasst Wanderungslenkung nicht nur den Versuch, Migrationsbewegungen hervorzurufen und quantitativ wie strukturell zu beeinflussen. Vielmehr kann Wanderungslenkung das Verhindern von Mobilität ebenso betreffen wie deren Stimulation und Steuerung. Die Frage, welche Migrationsbewegungen der nationalsozialistische Staat zugelassen, gefördert oder initiiert hat, ist demnach komplementär zu der Frage, welche Wanderungsbewegungen er verhinderte oder in welchen Kontexten zumindest entsprechende Versuche einer staatlichen Einflussnahme deutlich werden. Obwohl es angesichts der Vielzahl von Entwicklungslinien, die direkt oder indirekt auf das Wanderungsgeschehen im ›Dritten Reich‹ zwischen 1933 und 1939 einwirkten, schwierig ist, zu einer klaren Periodisierung dieses Zeitabschnitts zu gelangen, empfiehlt der Zusammenhang zwischen Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung eine Betonung der ökonomischen Seite des Prozesses. Auf dieser Ebene gilt der Mensch als Ressource, als Träger des Produktionsfaktors Arbeit, und aus dieser Perspektive änderte sich im Verlauf der 1930er Jahre seine Marktposition

|| 5 Dazu bietet nun neue Perspektiven Jan Kaufhold, Migration und Weltwirtschaftskrise. Ausgewählte Binnenwanderungen im Deutschen Reich in der Endphase der Weimarer Republik und den ersten Jahren der NS-Herrschaft, Diss. Osnabrück 2014.

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grundlegend: In einer ersten Phase, die – betrachtet man nur die nationalsozialistische Ära – von 1933 bis etwa 1935/36 andauerte, herrschte hohe Erwerbslosigkeit. Eine zweite Phase von 1936 bis 1939 dominierte der sich ständig verschärfende Mangel an Arbeitskraft. Die völlige Umkehr der Arbeitsmarktsituation, die sich als einer der wichtigsten Parameter für individuelle Migrationsentscheidungen und staatliche Wanderungspolitik erweisen sollte, bestimmte die Entwicklung in den 1930er Jahren entscheidend und besitzt in ihrer Dynamik und Dimension weder in der neueren deutschen Geschichte noch zeitgleich in anderen Staaten Westeuropas eine Parallele.6

1 Rahmendaten des Migrationsgeschehens zwischen 1933 und 1939 Die sechs Jahre nationalsozialistischer Herrschaft vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs markieren mit Blick auf die Summe der Migrationsbewegungen in der deutschen Geschichte auf den ersten Blick rein quantitativ betrachtet keinen Abschnitt außergewöhnlicher Wanderungsdynamik. Allerdings hat die Forschung die Grundlinien der deutschen Migrationsgeschichte dieses Zeitabschnitts, der sich unspektakulär zwischen den Umwälzungen der Hochindustrialisierung und dem Mahlstrom des Zweiten Weltkriegs zu erstrecken scheint, jenseits der jüdischen Emigration und des politischen Exils noch nicht ausreichend bearbeitet.7 Eine Analyse der staatlichen Wanderungslenkung in diesem Zeitraum erfordert daher zunächst die Betrachtung von Dimension und Struktur der Migrationen, um die Bereiche zu identifizieren, in denen die Entwicklung eher säkularen Entwicklungslinien folgte, und solche, in denen sie von diesem Pfad abwich. Zugleich erlaubt der differenzierende Blick auf das Wanderungsgeschehen, Versuche der direkten und indirekten staatlichen Wanderungslenkung vor dem Hintergrund ihrer tatsächlichen Relevanz und Wirkung zu verorten.8

|| 6 Vgl. Dietmar Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 117; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 642f. 7 Vgl. Steve Hochstadt, Mobility and Modernity. Migration in Germany, 1820–1989, Ann Arbor 1999, S. 217f.; dazu überblickend auch Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013, S. 40–52. 8 Wolfgang Benz, Jüdische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010, S. 715–722.

Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939 | 541

Tabelle 1: Überseeische Abwanderung 1933–1939 Jahr

Auswanderer

Jüdische Auswanderer

1933

12.866

37.000

1934

14.232

23.000

1935

12.226

21.000

1936

15.190

25.000

1937

14.203

23.000

1938

22.968

40.000

1939

25.311

78.000

Quelle: ›Auswanderer‹: Dietmar Petzina u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978, S. 35; ›jüdische Auswanderer‹: Ino Arndt/Heinz Boberach, Deutsches Reich, in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 23–66, hier S. 34; ebenso Werner Röder, Die Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 345–353, hier S. 348; Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1984, S. 83, spricht hingegen von nur etwa 50.000 Emigranten jüdischer Herkunft zwischen 1936 und 1939. Die Werte in beiden Spalten der Tabelle überschneiden sich, da ein Teil der jüdischen Emigranten nach Übersee abwanderte.

Eine Quantifizierung unterschiedlicher Elemente von Binnenwanderung sowie der grenzüberschreitenden Migration zwischen 1933 und 1939 stößt schnell auf das Problem einer unzureichenden statistischen Grundlage. So existieren über die Ausund Einwanderung in diesem Zeitraum keine zuverlässigen Daten.9 Die in der Literatur kursierenden Zahlen, die Spalte 1 von Tabelle 1 wiedergibt, beziehen sich nur auf die in der Reichsstatistik dokumentierte Auswanderung über die deutschen Seehäfen. Dieser Teil der Emigration, der auch in die langen Reihen deutscher Auswanderungsstatistik Eingang gefunden hat, suggeriert, dass die Auswanderung in den 1930er Jahren mit einem Jahresdurchschnitt von rund 16.700 Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern ihren niedrigsten Stand in einem Friedensjahrzehnt seit 1840 erreichte.10 Die Zahlen vernachlässigen jedoch die Auswanderung weitgehend, die sich auf europäische Zielländer richtete. Gerade sie gewann aber aus zwei Gründen in der Zwischenkriegszeit stark an Bedeutung. Erstens verfolgten die klassischen transatlantischen Ziele, wie etwa die USA, eine restriktive Einwanderungspolitik. Zweitens lag für viele der jüdischen und politischen Emigranten aus organisatorischen, öko|| 9 Vgl. Hochstadt, Mobility, S. 238, Anm. 42, 43, 44. 10 Berechnet auf der Grundlage der Daten zur Auswanderung aus Deutschland von 1829–1984 bei Jürgen Sensch, Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815, http://www.histat.gesis.org.

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nomischen und sozialen Gründen die Flucht ins europäische Ausland oft näher als die sofortige Emigration nach Übersee.11 Auch für politisch motivierte Auswanderer liegen keine exakten Zahlen vor. Ihre Gesamtzahl zwischen 1933 und 1939 bewegte sich nach Schätzungen um 30.000 Menschen oder durchschnittlich rund 5.000 Flüchtlinge pro Jahr.12 Unter Berücksichtigung dieser Näherungswerte lässt sich die Gesamtabwanderung aus Deutschland im Betrachtungszeitraum auf zwischen 50.000 und 60.000 Personen jährlich schätzen. Sie erreichte damit ein Niveau, das ebenso hoch lag wie in den 1920er oder in den 1870er Jahren; nun jedoch herrschte nicht mehr die ökonomisch motivierte Abwanderung, sondern die Flucht vor Verfolgung als Wanderungsmotiv vor.13 Ebenso wenig Klarheit wie über die Abwanderung besteht über die Rückkehr deutscher Emigranten nach Deutschland. Die preußische Wanderungsstatistik der Jahre 1933 bis 1936 deutete jedoch an, dass das Wanderungssaldo des ›Dritten Reiches‹ in Bezug auf Migranten deutscher Staatsangehörigkeit sogar leicht positiv war. In den ersten vier Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft verließen zwar 83.911 Reichsbürgerinnen und Reichsbürger Preußen, das rund zwei Drittel der Fläche und etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung umfasste14, und gingen ins Ausland, insgesamt 104.776 überquerten seine Außengrenzen jedoch in entgegengesetzter Richtung, was zu einer Nettozuwanderung von 20.785 Menschen führte.15 Dieser Befund machte die Zuwanderung eigener Staatsangehöriger zu einem ebenso wichtigen Handlungsfeld staatlicher Wanderungslenkung wie deren Abwanderung. Der bei weitem bestdokumentierte Teil der internationalen Migration ist die Zuund Abwanderung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das bereits aus dem Kaiserreich stammende Legitimierungsverfahren genau statistisch erfasste.16 Obwohl die Reichsregierung die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte

|| 11 Vgl. Werner Röder, Die politische Emigration, in: Claus-Dieter Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, S. 16–30, hier S. 22. Schon die für Preußen nachweisbaren Zahlen zur grenzüberschreitenden Migration liegen zwischen 1933 und 1936 in jedem Jahr höher als die in der allgemeinen Auswandererstatistik vermerkten Werte. Es ist also für das Deutsche Reich von einer erheblichen, jedoch nicht genau quantifizierbaren innereuropäischen Abwanderung auszugehen; vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1938, Berlin 1938, S. 72. Zur jüdischen Emigration siehe den Beitrag von Detlef Schmiechen-Ackermann in diesem Band. 12 Vgl. Werner Röder, Emigration nach 1933, in: Martin Broszat/Horst Möller (Hg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 231–247, hier S. 236. 13 Vgl. Michel Hubert, Deutschland im Wandel. Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815, Stuttgart 1998, S. 348. Der Autor geht von einer durch politische Verfolgung oder Antisemitismus ausgelösten Gesamtabwanderung von etwa 350.000 Menschen zwischen 1933 und 1939 aus, vgl. ebd., S. 253. 14 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1938, Berlin 1938, S. 7, Fläche in den Grenzen von 1937, ohne Österreich; Bevölkerung nach dem Stand von 1933. 15 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1938, Berlin 1938, S. 72. 16 Hierzu siehe den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band.

Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung 1933–1939 | 543

Tabelle 2: Ausländerbeschäftigung 1929/30 bis 1937/38 (ohne Angestellte) Jahr

Ausl. Arbeitskräfte

Mit Legitimierungskarte

1929/30

187.552

109.421

78.131

1.899.000

1930/31

155.689

50.141

105.548

3.076.000

1931/32

108.662

9.800

98.862

4.520.000

1932/33

147.289

12.992

134.287

5.603.000

Mit Befreiungsschein

Erwerbslose in Deutschland

1933/34

176.115

13.624

162.491

4.804.000

1934/35

208.777

19.095

189.682

2.718.000

1935/36

227.384

29.310

198.074

2.151.000

1936/37

274.599

48.215

226.384

1.590.300

1937/38

381.355

150.570

230.785

912.000

Quelle: Fünfter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung, Berlin 1933, bis Zehnter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung, Berlin 1939; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1933, Berlin 1933, bis Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1938, Berlin 1938; Zahl der Erwerbslosen nach Petzina, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 119, die Werte beziehen sich immer auf das erstgenannte Jahr.

1932 praktisch ausgesetzt hatte, kehrte sich schon 1933 der seit 1928 rückläufige Trend der Arbeitsmigration um. In jedem Jahr des Betrachtungszeitraumes registrierten die Statistiken ein Wachstum der Ausländerbeschäftigung: 1933 besaßen 155.154 Ausländer eine Arbeitserlaubnis, 1938 waren es bereits 381.355.17 Dieser Befund muss jedoch ebenfalls differenziert werden, denn es handelte sich bei diesem Anstieg zum Teil um einen statistischen Effekt. In der ersten Hälfte der 1930er Jahre führten die deutschen Behörden eine genaue Erfassung der im Inland beschäftigten Ausländer durch und stießen dabei auf eine Vielzahl von Personen, die bereits seit Langem in Deutschland lebten und arbeiteten, ohne die entsprechenden Legitimationspapiere zu besitzen. Erst ab 1937, als die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wieder aktiv betrieben wurde, kam es zu einer signifikanten Ausdehnung der Ausländerbeschäftigung durch Neuzuwanderung. Bei etwas mehr als 50 Prozent der Arbeitskräfte ohne deutsche Staatsbürgerschaft handelte es sich bis 1936 um sogenannte ›Volksdeutsche‹, die rechtlich als Ausländer galten; danach verschob sich der Schwerpunkt wieder in Richtung ausländischer Arbeitskräfte nichtdeutscher

|| 17 Siehe Tabelle 2; vgl. dazu auch Friedrich Syrup, Etappen im Arbeitseinsatz, in: Der Vierjahresplan, 2. 1938, S. 17–19, der für 1938 von 500.000 ausländischen Arbeitnehmern und Angestellten in Deutschland spricht.

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Herkunft.18 Die Zulassung beziehungsweise Registrierung von rund 310.000 ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zwischen 1933 und 1938 machte die grenzüberschreitende Arbeitsmigration zu dem Bereich des Wanderungsgeschehens, in dem direkte staatliche Eingriffe ihre größte Wirkung erzielten. Kaum quantifizieren lässt sich dagegen die intra- und interregionale Wanderung im Reich. Bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre umfasste die offizielle Statistik keine Erhebungen, die systematische Rückschlüsse auf die Binnenwanderung zulassen, und anders als für das 19. Jahrhundert haben wissenschaftliche Untersuchungen nur ansatzweise entsprechende Daten aus anderen Quellen rekonstruiert.19 Die 1938 ins Auge gefasste Herstellung einer allgemeinen Mobilitätsstatistik, die auf einer Auswertung der Melderegister beruhen sollte, kam bis zum Kriegsbeginn kaum über ihre Anfänge hinaus und blieb bis auf Ausnahmen unvollständig und unpubliziert.20 Als generellen Trend der Binnenmigration zeigen die vorliegenden Ergebnisse sowohl in Bezug auf die Land-Stadt- beziehungsweise die Stadt-StadtWanderung als auch für Wanderungsbewegungen außerhalb urbaner Agglomerationen in der ersten Hälfte der 1930er Jahre eine Umkehr des seit dem Ersten Weltkrieg vorherrschenden Trends zu einer Beruhigung des während der Hochindustrialisierung sehr dynamischen Wanderungsgeschehens. Dabei verliefen die Bewegungen, soweit sich das sagen lässt, tendenziell aus den Grenzgebieten Deutschlands in die industriellen Ballungszentren des Landesinneren sowie vorwiegend aus ländlichen in urbane Zonen. Die Wanderung zwischen städtischen Räumen unterschiedli-

|| 18 Vgl. Zehnter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin, 1939, S. 31. Ein Indiz hierfür ist auch das Stagnieren der Zahl der Befreiungsscheininhaber 1937/38 und der Anstieg der Neulegitimierungen; siehe dazu auch Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Deutschland, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 141– 170, hier S. 153. 19 Vgl. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 22. Eine wichtige Quelle hierzu bilden die Statistischen Jahrbücher Deutscher Gemeinden bzw. Deutscher Städte aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, die regelmäßig vom Deutschen Gemeindetag herausgegeben wurden. Der heutige Forschungsstand geht allerdings kaum über den bereits von Friedrich Lenger/Dieter Langewiesche, Räumliche Mobilität in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Massenwohnung und Eigenheim. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1988, S. 103–126, erreichten Stand hinaus, der sich eng an Forschungen aus den 1930er Jahren anlehnt. 20 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1938, S. 72; Hochstadt, Mobility, S. 237f. Zu den zeitgenössischen Ansätzen vgl. Rudolf Heberle/Fritz Meyer, Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung. Wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Untersuchung über Wanderung und Mobilität in deutschen Städten, Leipzig 1937, S. 80f.; Fritz Meyer, Probleme und Methoden der Binnenwanderungsforschung, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik, 6. 1936, S. 212–231, hier S. 212f.; Wilhelm Brepohl, Volkswissenschaft und deutsche Industriebevölkerung: Bericht über die Arbeit der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet, in: ebd., 8. 1938, S. 345–361, hier S. 348f.

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cher Größe erfolgte entlang den skizzierten Vektoren vor allem von den kleinen und mittleren Städten in Richtung der Großstädte.21 Die intra- und interregionale Wanderung hatte in den Jahrzehnten vor 1914 durch die Kombination eines schnellen Bevölkerungswachstums mit einer rapiden Urbanisierung im Zeichen der Hochindustrialisierung ihren historischen Höhepunkt überschritten und sich langsam abzuschwächen begonnen. Als sich die Binnenwanderung zwischen 1935 und dem Kriegsausbruch erneut intensivierte, traten andere Ursachen in den Vordergrund: nun entfalteten vor allem konjunkturelle Schwankungen und politisch motivierte Eingriffe ins Marktgeschehen ihre Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit breiter Segmente der Bevölkerung als Push- und Pull-Faktoren im Wanderungsgeschehen.22 Insofern repräsentiert die Binnenmigration – wenn auch verzerrt durch die außergewöhnlichen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie die Steuerungsversuche des Regimes – in gewisser Hinsicht den Typus der modernen konjunkturell bedingten Arbeitsmigration.23 Absolut lassen sich diese Wanderungstrends für die Zeit zwischen 1933 und 1939 kaum beziffern. Punktuelle Näherungswerte können allerdings einen Eindruck von ihrer Dimension vermitteln.24 So wird bisweilen aus dem Sinken der Anzahl der deutschen landwirtschaftlichen Arbeitskräfte um rund 1,4 Millionen zwischen 1933 und 1939 ein entsprechender Umfang der Abwanderung vom Land abgeleitet.25 Obwohl genauere empirische Befunde zu dieser Art der Binnenwanderung erst vereinzelt vorliegen, wird deutlich, dass die Wanderungsverhältnisse zwischen Stadt und Land differenzierter Betrachtungen bedürfen. So vermuteten einerseits zeitgenössische Analysen, dass viele Wanderungen vom Land in die Stadt als Pendelbewegungen begannen, sich dann aber ein Familiennachzug anschloss und die Über-

|| 21 Vgl. Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 178, sowie zeitgenössisch: Verstärkte Binnenwanderung und ihre Bedeutung, in: Die deutsche Volkswirtschaft, 31. 1937, S. 1043f., hier S. 1044. 22 Vgl. Hochstadt, Mobility, S. 219–240. 23 Vgl. ebd., S. 276f. 24 Vgl. Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 27; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 336. 25 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin 1994, S. 492; zeitgenössische Publikationen sprechen von einem Rückgang der direkt oder indirekt von der Arbeit in der Landwirtschaft abhängigen Personen zwischen 1933 und 1938 von 25 auf 20 Prozent; vgl. Gustav Adolf Apitz, Die Landflucht, ein politisches Problem. Beitrag zur Erkenntnis der Landfluchterscheinungen, Neudamm 1939, S. 2; Carsten Klingemann, Agrarsoziologie und Agrarpolitik im Dritten Reich, in: Josef Ehmer u.a. (Hg.), Herausforderung Bevölkerung. Zur Entwicklung des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem ›Dritten Reich‹, Wiesbaden 2007, S. 183–199, hier S. 184, spricht dagegen gestützt auf andere Quellen von einer Abwanderung zwischen 400.000 und einer Million Menschen zwischen 1933 und 1939.

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siedlung in die Stadt folgte.26 Zugleich aber kann Ernst Langthaler für die ›Ostmark‹ nachweisen, dass sich Wanderungen in agrarisch geprägte Gebiete und Wanderungen in industriell-gewerbliche Zentren in den 1930er Jahren ausgleichen konnten.27 Dies bestätigt auch die Wanderungsbilanz Berlins. Die Reichshauptstadt verzeichnete nach hohen Gewinnen in den 1920er Jahren während der Weltwirtschaftskrise Verluste. Von 1931 bis 1934 erfasste die Nettoabwanderung rund 107.000 Personen. Ab 1935 dagegen setzte dagegen eine exponentiell wachsende Zuwanderung ein, die bis 1938 wieder zu einem Wanderungsgewinn von 67.000 Einwohnerinnen und Einwohnern führte.28 Andere Quellen sprechen für die Jahre 1933 bis 1936 von einer Nettoabwanderung aus den deutschen Großstädten von rund 187.000 Personen. In der Wirtschaftskrise galt vor allem das Ausweichen neu zugezogener Stadtbewohner vor Erwerbslosigkeit und Elend zurück in ihre meist dörfliche Heimat als wichtigste Triebkraft dieser Bewegung. Mitte der 1930er Jahre löste dann jedoch der Wettbewerb um Arbeitskräfte, die von ihren meist bereits urbanen Wohnorten in Richtung der Großbauprojekte sowie aufstrebender oder neuer Industriestandorte strebten, den zuvor vorherrschenden Abwanderungsdruck ab.29 Bis zu 1,5 Millionen Arbeitsplatzwechsel pro Monat während des von der Kriegsvorbereitung ausgelösten Wirtschaftsbooms im letzten Drittel des Jahrzehnts, verbunden mit dem Aufbau einer zwischenbezirklichen Arbeitskräftevermittlung zur Deckung von Engpässen, deuten auf eine Steigerung der überregionalen Mobilität von Arbeitskräften hin, die sich auch im Fall der Stadt-Stadt-Migration zumindest teilweise nicht nur als Pendel-, sondern als längerfristige Binnenmigration vollzog.30 Daneben bildeten sich Formen der Mobilität heraus, die zum Teil in einer vom Nationalsozialismus überformten Art breiteren internationalen Trends der Zeit

|| 26 Vgl. Konrad Meyer/Udo Froese, Entwicklung und Lage der Rückstandsgebiete des alten Reichsgebietes. Zwischenbericht des Arbeitskreises ›Behebung der Notstandsgebiete‹ in der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, Leipzig 1940, S. 28. 27 Vgl. Ernst Langthaler, ›Landflucht‹, Agrarsystem und Moderne: Deutschland 1933–1939, in: Jochen Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, Paderborn 2012, S. 97–122, hier S. 112f. 28 Vgl. Erich Scharmacher, Die Leistungskraft der Bevölkerung der Reichshauptstadt, WürzburgAumühle 1939, S. 37. Hier finden sich auch wichtige Anhaltspunkte für eine intensive Stadt-StadtMigration. Für Einblicke in zeitgenössische methodische Überlegungen, jedoch ohne empirische Befunde für die 1930er Jahre, vgl. Heberle/Meyer, Großstädte, passim. Berlin ist jedoch insofern ein Sonderfall, als die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1935 zeitweise einen generellen Zuzugsstopp für Arbeitsuchende verfügte. 29 Vgl. Robert von Keller, Die Verlagerung der großstädtischen Industrie. Eine wirtschaftspolitische Studie, Leipzig 1938, S. 105f. Das Statistische Jahrbuch Deutscher Gemeinden weist 1934–1936 für 53 deutsche Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern bei Betrachtung der Einzelsalden rund 400.000 Ab- und Zuzüge auf, eine Auflösung der Bilanzen auf kommunaler Ebene würde zeigen, dass die Zahl der intra- und interregionalen Wanderungen noch weitaus höher war. 30 Vgl. Schneider, Unterm Hakenkreuz, S. 338f.

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folgten, teils spezifisch deutsche Entwicklungen darstellten. Einige dieser Phänomene lassen sich dem Bereich der Wanderung im weiteren Sinne zuordnen, da sie mit einer zumindest mehrmonatigen Verlagerung des Aufenthalts- beziehungsweise Wohnortes verbunden waren und insofern bezüglich ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension Kriterien erfüllen, wie sie beispielsweise auch auf saisonale Migration zutreffen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich ebenfalls nur grob quantifizieren lassen und Befunde über die genauen Vektoren und Strukturen dieser Wanderungsformen bislang fehlen. So umfasste der Reichsarbeitsdienst (RAD) ab 1935 jährlich eine Personalstärke von etwa 200.000 Mann. Diese wurden durch eine Dienstpflicht mobilisiert, paramilitärisch organisiert und strategisch bei Bauprojekten eingesetzt. Ihr Dienst führte die Angehörigen des RAD in der Regel über ihre gesamte sechsmonatige Dienstzeit weit von ihren Heimatorten fort. Bis 1940 durchliefen insgesamt rund 2,75 Millionen junger Männer den RAD, der in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre somit bedeutende temporäre und in hohem Maß staatlich gesteuerte Bevölkerungsverschiebungen innerhalb des Reiches induzierte.31 Ähnlich verhielt es sich mit der Wehrmacht, die von 1935 bis 1939 etwa 2,5 Millionen Wehrpflichtige erfasste und im September 1939 insgesamt rund 4,5 Millionen Soldaten mobilisierte.32 Wenn auch in weit weniger hohem Maße als der RAD, zu dessen Programm das Herauslösen der Dienstpflichtigen aus ihrem sozialen Umfeld gehörte, während die Wehrmacht in der Vorkriegszeit dem Prinzip der landsmannschaftlichen Rekrutierung und der regionalen Stationierung folgte, führte die personelle Aufrüstung zu einer enormen Steigerung der überregionalen Mobilität junger Männer im ›Dritten Reich‹.33 Dies gilt umso mehr, als durchaus auf die temporäre Übersiedlung eines Wehrpflichtigen an den Ort seiner Stationierung eine regionale oder gar überregionale Migration folgen konnte: Vielfach kehrten die entlassenen Soldaten nicht mehr an ihren ursprünglichen Wohnort zurück.34 Eine dritte Entwicklungslinie spezifischer Mobilität betraf den Arbeitsmarkt. Zum einen machten im fließenden Übergang von der krisenbedingten || 31 Vgl. Kiran Klaus Patel, ›Soldaten der Arbeit‹. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933– 1945, Göttingen 2003, S. 122. 32 Vgl. Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942, in: ders./Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereiches. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/1, hg.v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1988, S. 693– 1002, hier S. 726f., 745. 33 Empirische Untersuchungen zu diesem Komplex können im Bundesarchiv auf eine biographische Datenbank zurückgreifen, die detaillierte Informationen über rund 18.000 Angehörige von Heer, Luftwaffe und Waffen-SS umfasst, zu denen auch Mobilitätsdaten gehören; vgl. dazu Christoph Rass/René Rohrkamp (Hg.), Deutsche Soldaten 1939–1945. Handbuch einer biographischen Datenbank zu Mannschaften und Unteroffizieren von Heer, Luftwaffe und Waffen-SS, Aachen 2007. 34 Vgl. Wehrpflicht und Arbeitseinsatz, in: Der Vierjahresplan, 2. 1938, S. 409f. Der Autor beruft sich auf Angaben von Friedrich Syrup.

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Arbeitsbeschaffung zur kriegsvorbereitenden Aufrüstung Großbauprojekte Zehntausende Arbeiter über längere Zeiträume hinweg zu Arbeitswanderern, die in großer Distanz zu ihren ursprünglichen Wohnorten lebten und arbeiteten oder sogar in ihre neuen Arbeitsorte übersiedelten. Großbauten wie das KdF-Seebad Prora oder die sogenannten Ordensburgen mobilisierten für einen begrenzten Zeitraum jeweils einige Tausend Arbeitskräfte.35 Auch der Bau der Reichsautobahn, der 1936 einen Höchststand von rund 125.000 Beschäftigten aufwies, führte von 1933 bis 1939 aufgrund der hohen Fluktuation der Arbeitnehmer, der Vielzahl an Baustellen und ihrer Konzentration jenseits urbaner Ballungsräume mit ihren großen Arbeitskräftepotenzialen vermutlich ein Mehrfaches dieser Zahl an Arbeitskräften in die temporäre Arbeitsmigration.36 Zum anderen reagierte das Regime auf den Arbeitskräftemangel der späten 1930er Jahre mit der Institutionalisierung einer neuen Form der Binnenmobilität im Rahmen des Vierjahresplans: der sogenannten Dienstverpflichtung. Mit ihrer Hilfe konnten Arbeitskräfte auch gegen ihren Willen zur temporären Migration gezwungen werden, wenn man ihre Arbeitskraft an anderer Stelle brauchte. Bis zum Kriegsbeginn erfasste diese Art der Mobilisierung, die sich vielfach im lokalen Raum abspielte, durchaus aber auch den mehrmonatigen Einsatz in großer Distanz mit sich bringen konnte, Hunderttausende Arbeitnehmer. Allein für den Bau des Westwalls wurden ab 1938 bis zu einer halben Million Arbeitskräfte herangezogen. Bis zu 20 Prozent der sogenannten ›Westwall-Arbeiter‹ wechselten 1938/39 aufgrund einer Dienstverpflichtung ihre Arbeitsstelle. Viele von ihnen stammten nicht aus dem direkten Umkreis ihres neuen Arbeitsortes, an dem sie dann über Monate hinweg in Lagern und Privatunterkünften lebten.37 Punktuell veränderten || 35 Im Fall des Seebades Prora brachten die 48 beteiligten Baufirmen den größten Teil des Personals mit, vor Ort wurden dann nur noch Hilfsarbeiter eingestellt, insgesamt fanden auf der Baustelle rund 2.000 Personen Arbeit, vgl. Das ›Paradies‹ der ›Volksgemeinschaft‹. Das KdF-Seebad in Prora und die deutsche ›Volksgemeinschaft‹, Prora 2005, S. 56; zur Ordensburg Vogelsang vgl. Franz Albert Heinen, Vogelsang. Von der NS-Ordensburg zum Truppenübungsplatz: Eine Dokumentation, Aachen 2002, S. 14. 36 Vgl. Erhard Schütz, Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der ›Straßen des Führers‹ 1933–1941, Berlin 1996, S. 56; Claudia Windisch-Hojnacki, Die Reichsautobahn. Konzeption und Bau der RAB, ihre ästhetischen Aspekte sowie ihre Illustration in Malerei, Literatur, Fotographie und Plastik, Bonn 1989, S. 115; Volkmann, NS-Wirtschaft, S. 240. Daten hierzu finden sich in den Statistischen Beilagen zum Reichsarbeitsblatt, Teil II, siehe exemplarisch Statistische Beilage, Nr. 16, in: Reichsarbeitsblatt 1939, Teil II, nach S. 227, S. 20. Bezeichnend ist, dass auch für jedes dieser Beispiele wissenschaftliche Untersuchungen zu ihren Mobilitätseffekten noch ausstehen. 37 Vgl. John D. Heyl, The Construction of the Westwall, 1938. An Exemplar for National Socialist Policymaking, in: Central European History, 14. 1981, S. 63–78, hier S. 72; Manfred Gross, Der Westwall zwischen Niederrhein und Schnee-Eifel, Köln 1982, S. 236f.; Friedrich Syrup, Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung, in: Der Vierjahresplan, 3. 1939, S. 512–517, hier S. 512; Rudolf T. Kühne, Der Westwall. Unbezwingbare Abwehrzone von Stahl und Beton an Deutschlands Westgrenze, München 1939, S. 22; Petzina, Autarkiepolitik, S. 160, spricht von 400.000 Dienstverpflichtungen für den Westwallbau.

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diese Wanderungsbewegungen das demographische Profil ganzer Landstriche: So verdoppelte sich beispielsweise die Einwohnerzahl der Stadt Jülich bei Aachen im Jahr 1938 schlagartig durch den Zuzug von 20.000 ›Westwall-Arbeitern‹.38 Berücksichtigt man diese Formen der Mobilität im Deutschen Reich, so ist davon auszugehen, dass temporäre intra- und interregionale Wanderungsbewegungen zwischen 1933 und 1939 zwischen fünf und sechs Millionen fast ausschließlich männliche Deutsche erfassten. Als direkte Konsequenz des Krisenmanagements und der Kriegsvorbereitung des ›Dritten Reiches‹ trugen sie zu einer Binnenmigration bei, die weit dynamischer verlief und in höherem Maß von staatlichen Eingriffen abhing, als dies eine oberflächliche Betrachtung der Statistiken suggeriert.

2 Ansätze staatlicher Wanderungslenkung Es lassen sich somit vier Bereiche identifizieren, die im Betrachtungszeitraum nicht nur quantitativ, ökonomisch oder aus politisch-ideologischen Gründen besondere Bedeutung erlangten, sondern sich auch dynamisch entwickelten und den größten Teil des nationalen und internationalen Wanderungsgeschehens abdeckten. Erstens die grenzüberschreitende Migration deutscher Staatsangehöriger als politisch motivierte Emigration sowie die Flucht Deutscher, die den Nationalsozialisten als Juden galten. Gegenläufig verlief eine Einwanderungs- beziehungsweise Rückwanderungsbewegung, die sich aus der Übersiedlung von Auslandsdeutschen ins Reichsgebiet und der Remigration von Personen speiste, die das Land gleich nach der sogenannten Machtergreifung verlassen hatten. Zweitens blieb auch das ›Dritte Reich‹ in das säkulare Migrationsmuster der Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer und einer daraus resultierenden temporären Niederlassung eines Teils dieser Migranten in Deutschland eingebunden. Drittens muss im Bereich der Binnenwanderung ein latenter Migrationsstrom in Richtung der Städte als wichtiges Phänomen gewertet werden, auch wenn Urbanisierung und Abwanderung vom Land weit weniger dramatisch verliefen als im Kaiserreich. Dazu zählte als viertes Phänomen und zweiter vorrangiger Aspekt der Binnenmigration die zunehmende Mobilität von Beschäftigten im sekundären und tertiären Sektor, die angefacht durch den Rüstungsboom der Vorkriegsjahre mehr und mehr auch den Charakter einer überregionalen Binnenmigration zwischen Wirtschaftszentren gewann. Staat-

|| 38 Vgl. Heyl, Westwall, S. 75. In kleineren Gemeinden konnte sich die Bevölkerungsstruktur durch den temporären Zuzug von Arbeitskräften sehr viel drastischer verschieben. So kamen in einzelnen Eifeldörfern auf einen Einwohner mehr als drei Zivilarbeiter oder RAD-Angehörige. Allein in Schleiden waren zeitweise 4.000 Arbeitsmänner und 10.000 Zivilarbeitskräfte untergebracht; vgl. Walter Hauf, Westwallbau und Dorfalltag, in: Geschichte im Kreis Euskirchen, 21. 2007, S. 801–845, hier S. 810, 815, 834.

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liche Eingriffe prägten jede dieser Wanderungsbewegungen in den sechs Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie konnten motivierend oder präventiv auf das Auslösen oder Unterbinden von Migration gerichtet sein oder auf eine Mengenbeziehungsweise Struktursteuerung solcher Prozesse. Zugleich finden sich ebenso direkte Lenkungsversuche wie Formen der indirekten Einflussnahme, und schließlich lassen sich neben Bereichen, deren Ausprägung spezifisch nationalsozialistische Politikansätze bestimmten, auch solche identifizieren, in denen das Regime tendenziell den Entwicklungspfaden internationaler Trends folgte.

2.1 Emigration, Remigration und Einwanderung Die erste Welle der grenzüberschreitenden Abwanderung nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten lösten diese durch die unmittelbar gegen politische Gegner und die jüdische Bevölkerung entfesselte Terror- und Verfolgungsmaßnahmen aus.39 In den Jahren bis 1939 verschlechterten normative und informelle Eingriffe die Lebensbedingungen all jener, die sich nicht mit dem Regime arrangieren wollten oder aufgrund ihrer Prominenz als Oppositionelle keinen Zugang zur ›Volksgemeinschaft‹ finden sollten, wodurch der Abwanderungsdruck auf sie ständig stieg. Die so induzierte Wanderungsbewegung aus Deutschland heraus suchte die Regierung dann in unterschiedlicher Weise zu beeinflussen.40 Die Rückwanderung politischer Flüchtlinge nach Deutschland unterwarf das NS-Regime durch eine Reihe von Eingriffen einer rigiden Kontrolle, die das Ziel hatte, politische Gegner generell an einer Remigration zu hindern, zumindest aber durch Abschreckung die Hürden, die einem solchen Schritt entgegenstanden, hoch zu legen.41 Schon am 14. Juli 1933 trat ein Gesetz in Kraft, das es ermöglichte, Emigranten die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihr Vermögen einzuziehen.42 Dieses Gesetz, mit dem das ›Dritte Reich‹ im Widerspruch zu den Gepflogenheiten des Völkerrechts die Bewegungsfreiheit deutscher Auswanderer dadurch einschränkte, dass es ihnen das allgemeine Recht zur Rückkehr in ihr Heimatland verwehrte, und sie dem Risiko der Staatenlosigkeit aussetzte, musste zudem ab-

|| 39 Vgl. Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Bd. 1: Diktatur, München 2006, S. 84f., 101f. Da der jüdischen Emigration ein eigener Beitrag gewidmet ist, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die politische Emigration. 40 Peter Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 854–860. 41 Vgl. Gerhard Paul, Nationalsozialismus und Emigration, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 46–61, hier S. 50. 42 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14.7.1933, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.), Teil I, 1933, S. 480.

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schreckend auf all jene wirken, die ein Übersiedeln ins Ausland erwogen.43 Im Jahr darauf griff Hermann Göring in seiner Funktion als Ministerpräsident Preußens durch einen Erlass in die Migrationspolitik ein. Ende Februar 1934 legte er bedrohlich scharfe Kriterien für die Rückkehr Deutscher ins Reich fest, die ebenso wie das vorausgegangene Gesetz auf das Fernhalten Unerwünschter von der ›Volksgemeinschaft‹ sowie auf die Abschreckung vor dem Verlassen des ›Tausendjährigen Reiches‹ zielte. Wer versuchte, sich dem Nationalsozialismus durch Abwanderung zu entziehen, musste wissen, dass er eine endgültige und mit harten Sanktionen bedrohte Entscheidung traf.44 Die Abwanderung der politischen Opposition ins Ausland, wo sie frei agieren konnte, lag nämlich tatsächlich nicht im Interesse der Regierung.45 So betrieben die Sicherheitsorgane des ›Dritten Reiches‹ nicht nur einen erheblichen Aufwand zur Überwachung und Verfolgung des Exils, um dessen antinationalsozialistische Aktivitäten zu behindern, sondern erschwerte zunehmend bereits die Abwanderung bestimmter Personengruppen aus Deutschland.46 In diesen Kontext gehörten ebenso Verwaltungsmaßnahmen, eine Verschärfung der Grenzkontrollen und die zeitweilige Einführung des Sichtvermerkzwangs für Auslandsreisen wie der Aufbau einer Namenskartei, die alle Auswanderer erfasste.47 Darüber hinaus nutzten die Nationalsozialisten ein aus dem Jahr 1931 stammendes Gesetz gegen ›Kapitalflucht‹ dazu, die Auswanderung mit hohen ökonomischen Kosten zu belasten. Ein Absenken der Freibeträge für den Vermögenstransfer ins Ausland und besondere Vorschriften für die Devisenverrechnung bedeutete für Auswanderer aus Deutschland vielfach den wirtschaftlichen Ruin.48 || 43 Vgl. dazu auch Verordnung des Reichsministers des Innern zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 25.7.1933, in: RGBl., Teil I, 1933, S. 538f., sowie zu den Auswirkungen Michael Hepp (Hg.), Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933–45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, München 1985, und zur generellen Einordnung Herbert E. Tutas, Nationalsozialismus und Exil. Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der deutschen politischen Emigration 1933–1939, München 1975, S. 108f. 44 Erlass des Preußischen Ministerpräsidenten zur Rückwanderung deutscher Emigranten aus dem Ausland, in: Herbert Michaelis/Ernst Schräpler (Bearb.), Ursachen und Folgen, Bd. 9, S. 249– 251; vgl. dazu Tutas, Nationalsozialismus, S. 106f. 45 Dies bezog sich ausdrücklich nicht auf die jüdische Bevölkerung, deren Verdrängung aus Deutschland erklärtes Ziel der Nationalsozialisten war. 46 Vgl. Herbert E. Tutas, NS-Propaganda und deutsches Exil 1933–39, Meisenheim/Glan 1973, S. 10f. 47 Vgl. Werner Röder, Die politische Emigration, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 16–30, hier S. 18; Tutas, Nationalsozialismus, S. 66f. 48 Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8.12.1931, Kapitel III: Reichsfluchtsteuer und sonstige Maßnahmen gegen die Kapitel- und Steuerflucht, in: RGBl., Teil I, 1931, S. 731–737; Gesetz über die Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer vom 18.5.1934, in: RGBl., Teil I, 1934, S. 392f.; Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 668. Konventio-

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Politische und ideologische Beweggründe motivierten in diesem Fall eine staatliche Wanderungslenkung, die nach 1933 massiv in die Bewegungsfreiheit deutscher Staatsangehöriger über die Reichsgrenzen hinweg eingriff. Dabei kamen mitunter Mechanismen zur Anwendung, zu denen deutsche Regierungen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegriffen hatten. Eine spezifisch ideologische Komponente erhielt das Geschehen dadurch, dass solche Aktivitäten explizit der Herstellung einer ›Volksgemeinschaft‹ dienten, die den Nationalsozialisten auch als Grundlage für die Verwirklichung ihrer Expansionspläne und damit für den kommenden Krieg galt.49 Dabei richtete sich die Wanderungslenkung durch direkte und indirekte Instrumente auf das Verhindern beziehungsweise die selektive Zulassung von Remigration und auf die Abschreckung von der Auswanderung.50 Zwischen 1933 und 1939 existierten jedoch durchaus gewollte Formen der Einwanderung, die das Regime entsprechend aktiv förderte. Auch sie entwickelten sich vor allem unter ideologischen Prämissen und richteten sich auf die Zuwanderung von Auslands- beziehungsweise ›Volksdeutschen‹. Um die Mitte der 1930er Jahre rückten die deutschen Minderheiten im Ausland nicht nur als Plattform für nationalsozialistische Propaganda, sondern auch als Quelle für Arbeitskraft und rasseideologisch erwünschten Bevölkerungszuwachs erneut ins staatliche Interesse.51 Um eine Wanderung dieser Bevölkerungsgruppen nach Deutschland zu fördern, wandelte Heinrich Himmler die von Rudolf Heß unter dem Dach der NSDAP 1935 gegründete ›Volksdeutsche Parteidienststelle‹ in die ›Volksdeutsche Mittelstelle‹ um.52 Ihre Aufgaben lagen bis 1939 in der Unterstützung politischer Aktivitäten im Aus|| nelle grenzüberschreitende Abwanderung aus ökonomischen Gründen spielte in den 1930er Jahren zunächst aufgrund der migrationsfeindlichen Politik traditioneller Zielländer während der Weltwirtschaftskrise, dann wegen der Rüstungskonjunktur in Deutschland quantitativ kaum eine Rolle; vgl. Sechster Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin 1934, S. 22. 49 Siehe hierzu die Beiträge in Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹; das Verhältnis ausländischer Arbeitswanderer zur ›Volksgemeinschaft‹ erörtern Lars Amenda/Christoph Rass, ›Fremdarbeiter‹, ›Ostarbeiter‹, ›Gastarbeiter‹. Semantiken der Ungleichheit und ihre Praxis im ›Ausländereinsatz‹, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 28. 2012, S. 90–116. 50 Kurz vor Kriegsbeginn wurden die ›Rückwanderer‹ dann für die Arbeitsverwaltung als Arbeitskräfte interessant; vgl. B. Bathke, Deutsche Rückwanderer, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6. 1939, S. 231–233, hier S. 231f. 51 Insbesondere Himmler scheint bereits 1935 Interesse an ›volksdeutschen‹ Einwanderern als potenziellen Rekruten für die Waffen-SS gehabt zu haben; vgl. Valdis O. Lumans, Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe, 1933–1945, Chapel Hill 1993, S. 39; siehe hierzu und zum Folgenden auch den Beitrag von Markus Leniger in diesem Band. 52 Vgl. Benz (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 785; siehe für die Kriegszeit Andreas Strippel, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945, Paderborn 2011.

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land und der Organisation von Umsiedlungsaktionen ins Reich. Auch als Zielgruppe der Anwerbung von Saisonarbeitskräften im Ausland wurden die ›Volksdeutschen‹ zunehmend wichtig, als in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die Arbeitskräftewanderung wieder an Bedeutung gewann. Während die Expansion des deutschen Machtbereiches ab 1939 – im Jahr 1941 gliederte Himmler die ›Volksdeutsche Mittelstelle‹ als Hauptamt V in den SS-Apparat ein – die Handlungsmöglichkeiten der Dienststelle für gigantische Umsiedlungsprojekte ausweitete, blieb ihr Einfluss auf das Wanderungsgeschehen der Vorkriegszeit eher gering.53 Bis zum Überfall auf Polen betreute sie in einer Reihe von Lagern rund 20.000 ›volksdeutsche‹ Einwanderer, die meist aus politischen Gründen ihre Herkunftsländer verlassen mussten.54 Einzig mit Italien begannen noch 1939 Verhandlungen über die Relokation der Südtiroler ins Reichsgebiet. Sie mündeten zwar noch im Oktober 1939 in einen ersten Staatsvertrag über deren Umsiedlung55, die aus ihm resultierende Wanderungsbewegung setzte jedoch erst 1940 ein und erfasste bis Ende 1943 knapp 78.000 Personen.56 Die andere Seite dieses Prozesses, dessen Anfänge die Vorkriegszeit jedoch nur am Rande und auf der Planungsebene tangierten, bestand in der Idee einer Ansiedlung von bis zu 400.000 Familien aus Deutschland in dem in Osteuropa okkupierten ›Lebensraum‹.57 Dieser Bereich des Wanderungsgeschehens hätte sich ohne staatliches Zutun ebenso wenig entwickelt wie das politische Exil. Dabei handelte es sich jedoch um das Stimulieren und Steuern erwünschter Zuwanderung aus dem Ausland, in die das Regime auf zwei Ebenen eingriff. Unorganisierte Einwanderung fand Unterstützung durch ein eigens geschaffenes institutionelles Netzwerk, das sowohl die Wanderungsbereitschaft der ›Volksdeutschen‹ förderte als auch deren Übersiedlung

|| 53 Vgl. beispielsweise Ernst Christian, Volksdeutsche und der Zweite Weltkrieg, Nürnberg 1992; dazu exemplarisch für die zeitgenössischen Ansätze der Standortplanung Georg Görz, Standort und Umsiedlung, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik, 10. 1934, S. 170–175. 54 Vgl. Lumans, Auxiliaries, S. 70f. Hierzu gründete Himmler 1938 die ›Beratungsstelle für Einwanderer‹ als Abteilung der ›Volksdeutschen Mittelstelle‹. 55 Den zweiten derartigen Vertrag schloss Deutschland am 5.9.1940 mit der Sowjetunion ab; vgl. Vereinbarung zwischen der Deutschen Reichsregierung und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von Bessarabien und der Nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich vom 5.9.1940, als Kopie in der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte, München. 56 Vgl. Karl Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol: 1939–1940, Wien 1985, S. 542; Lumans, Auxiliaries, S. 154f. 57 Vgl. Uwe Mai, Ländlicher Wiederaufbau in der ›Westmark‹ im Zweiten Weltkrieg, Kaiserslautern 1993, S. 37f. In diesem Zusammenhang entwickelte sich an der Westgrenze Deutschlands eine neue Form der indirekten Wanderungslenkung. Durch den Abriss von Wohnhäusern in grenznahen Dörfern verknappte sich 1940 den Wohnraum derart, dass die Bereitschaft zur Teilnahme an Umsiedlungsprogrammen stieg; vgl. ebd. S. 64f.

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unterstützte. Organisierte Einwanderung konnte ebenfalls auf dieser Infrastruktur aufsetzen, benötigte aber zugleich eine völkerrechtliche Grundlage, die zwischenstaatliche Rahmenverträge herstellten.

2.2 Temporäre Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer Handelte es sich beim politischen Exil um ein Phänomen, das in einem direkten Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft stand, und verband sich das Aufleben der Einwanderung ›Volksdeutscher‹ letztlich mit den demographischen Zielen des Regimes, so bildete das ›Dritte Reich‹ in Bezug auf die internationale Arbeitsmigration nach Deutschland bis 1939 einen Zeitabschnitt eines säkularen Prozesses in der deutschen Geschichte, der sich – mit Ausnahme der Sondersituation des Zweiten Weltkriegs – in ähnlicher Form in der Mehrzahl der westeuropäischen Industriestaaten vollzog. Den Ausgangspunkt der staatlichen Einflussnahme auf diesen Bereich des Wanderungsgeschehens bildeten die noch vor dem Ende der Weimarer Republik unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise beschlossenen Maßnahmen zur Drosselung der Ausländerbeschäftigung. Sie bestanden einerseits in den 1933 stark erweiterten Regulierungsbefugnissen des Staates bezüglich des Arbeitsmarktzuganges von Ausländern.58 Andererseits erfolgte bereits 1932 eine Unterbrechung der aktiven Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer.59 Im weiteren Verlauf der 1930er Jahre können zwei Entwicklungslinien der staatlichen Steuerung internationaler Arbeitsmigration unterschieden werden: erstens die auf die Zuwanderung an sich gerichteten, zweitens die auf die Präsenz ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland zielenden Aktivitäten. Zugleich veränderten sich die Ziele der staatlichen Wanderungslenkung in Abhängigkeit von der Arbeitsmarktlage. Bis 1935/36 ging die Verwaltung gegen Arbeitsimmigration vor, unter dem Druck der Vollbeschäftigung setzte ihre Förderung ein. Staatliche Interventionen hinsichtlich der Arbeitsmarktpräsenz von Ausländerinnen und Ausländern, die im weiteren Sinne zur Wanderungslenkung gerechnet werden können, standen folglich bis 1935 unter protektionistischen Vorzeichen. Die Neuzulassung von Arbeitsmigranten erfolgte nur ausnahmsweise, und eine Überprüfung der ausländischen Arbeitnehmer im Inland sollte die Ausweisung all jener vorbereiten, die keine der Rechtslage entsprechenden Aufenthaltstitel besaßen oder einen entsprechenden Anspruch begründen konnten.60 Als Teil dieser Verdrän|| 58 Vgl. Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 359f. 59 Vgl. L’interdiction de l’immigration saisonnière en Allemagne, in: Informations Sociales, 42. 1932, S. 50f. 60 Vgl. Sechster Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, S. 21; Siebenter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin 1935, S. 24.

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gungspolitik sollte der Einsatz von Jugendlichen oder Erwerbslosen als Landhelfer in Gebieten, in denen trotz hoher Erwerbslosigkeit ein aus schlechten Arbeitsbedingungen resultierender Mangel an Landarbeitskräften bestand, die Anwerbung im Ausland überflüssig machen.61 Internationale Aktivitäten schienen in diesen Jahren kaum geboten: Die mit Litauen (1923), Polen (1927), der Tschechoslowakei sowie Jugoslawien (beide 1928) abgeschlossenen Wanderungsverträge ruhten.62 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre beeinflussten allerdings nicht nur ideologische und sicherheitspolitische Komponenten die Behandlung von Ausländerinnen und Ausländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt.63 Parallel zur Wiederaufnahme der internationalen Arbeitsmarktbeziehungen erfolgte auch die Eingliederung ausländischer Arbeitskräfte in den sogenannten ›Arbeitseinsatz‹. Diesen Prozess erleichterte nicht zuletzt die Ausländerpolizeiverordnung von 1938, die den staatlichen Handlungsspielraum gegenüber Ausländern und damit auch für Eingriffe in das Wanderungsgeschehen ein weiteres Mal ausweitete.64 Dabei gelang es der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1935, die Zuständigkeit für die Ausländerbeschäftigung und damit für einen wichtigen Teil des Wanderungsgeschehens von der Anwerbung bis zur Wiederausreise zu monopolisieren.65 Gleichzeitig mit der Einschränkung der Freizügigkeit und der Zunahme der Kontrolle im Inland gewannen die außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands, die sich auf die Gestaltung seiner Migrationsbeziehungen auswirken sollten, wieder be-

|| 61 Vgl. Sechster Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, S. 21; Friedrich Syrup, Maßnahmen zur Versorgung der Landwirtschaft mit Arbeitskräften, in: Der Vierjahresplan, 1. 1936, S. 208–210. 62 Gesetz über den am 1.6.1923 unterzeichneten Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen, in: RGBl., Teil II, 1924, S. 205–223; Gesetz über den Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und der Polnischen Republik über polnische landwirtschaftliche Arbeiter, in: RGBl., Teil II, 1928, S. 167– 173; Vereinbarung über tschechoslowakische landwirtschaftliche Wanderarbeiter, in: RGBl., Teil II, 1928, S. 491–495; Bekanntmachung, betreffend die am 15.12.1928 zwischen der Deutschen Regierung und der Regierung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen abgeschlossene Vereinbarung über die serbisch-kroatisch-slowenischen landwirtschaftlichen Wanderarbeiter, in: RGBl., Teil II, 1929, S. 642–645. 63 Als Hitler 1936 der Anwerbung von 120.000 Ausländern zustimmte, trat Himmler vehement dafür ein, ausschließlich ›Volksdeutsche‹ anzuwerben. Er argumentierte: »wenn östliche Elemente ungehindert auf die Deutschen losgelassen werden, können sie irreparablen Schaden anrichten«; zitiert nach Lumans, Auxiliaries, S. 70; vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 124f. 64 Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8.1938, in: RGBl., Teil I, 1938, S. 1053–1056. 65 Zum Begriff ›Arbeitseinsatz‹ vgl. Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg 2003, S. 222f.; vgl. exemplarisch zur Übernahme der Anwerbung niederländischer Landarbeiter durch die Reichsanstalt: A. Tischer, Der Einsatz niederländischer Landarbeiter in Deutschland, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6. 1939, S. 131f.

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trächtlich an Bedeutung. Im Jahr 1936 begannen Verhandlungen mit Polen über die Wiederbelebung des alten Wanderungsvertrages. Ähnlich verfuhr Deutschland gegenüber Jugoslawien, mit dem es 1939 ein neues Anwerbeabkommen abschloss. Im gleichen Jahr kamen auch Wanderungsverträge mit der Slowakei und Bulgarien zustande, die eine Anwerbung beziehungsweise Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland auf temporärer Basis ermöglichten.66 Zum wichtigsten Migrationspartner entwickelte sich in der Vorkriegszeit jedoch Italien, mit dem das Reich ab 1937 eine Reihe von Abkommen über die Entsendung von Arbeitskräften für Industrie und Landwirtschaft schloss.67 In dieser Phase prägten also vor allem zwei Entwicklungen die staatliche Wanderungslenkung: erstens eine zunehmend restriktive Behandlung ausländischer Arbeitsmigranten in Deutschland, zweitens außenpolitische Aktivitäten, die gleichzeitig den selektiv und temporär regulierten Zustrom der benötigten Arbeitskräfte nach Deutschland sichern sollten.68 Weder im ersten noch im zweiten Zeitraum unterschied sich die deutsche Migrationspolitik jedoch dramatisch von den Handlungsmustern anderer europäischer Zuwanderungsländer. Frankreich oder Belgien etwa, die sich bereits auf dem internationalen Arbeitsmarkt als Nachfrager etabliert hatten, griffen in der Weltwirtschaftskrise ebenfalls zu teilweise drastischen Maßnahmen, um die Zuwanderung auf ihre Arbeitsmärkte einzuschränken und den Abwanderungsdruck auf die im Land befindlichen Ausländer zu steigern. Auch die diskriminierende Behandlung bestimmter Migrantengruppen war dem internationalen Arbeitsmarkt in der Zwischenkriegszeit nicht fremd, wie die Gestaltung der Zuwanderung nach Frankreich aus seinen nordafrikanischen Kolonien oder die Verdrängungspolitik gegenüber polnischen Migrantinnen und Migranten zeigen. Als sich die konjunkturelle Lage der europäischen Volkswirtschaften in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre langsam zu bessern begann, zwang dann nicht zuletzt die wieder einsetzende Konkurrenz der Industriestaaten um Arbeitskräfte auch das ›Dritte Reich‹ dazu, sich bei der Gestaltung seiner Migrationsbeziehungen an den internationalen Gepflogenheiten und Standards zu orientieren. Die in zwischenstaatlichen Vereinbarungen gebotenen Migrationsbedingungen, die einen zentralen Hebel staatlicher Wanderungslenkung im internationalen Kontext darstellten, mussten 1937/38 bereits wieder mit den Konkurrenzangeboten aus Belgien, Frankreich oder den Niederlanden mithal-

|| 66 Vgl. Herbert, Geschichte, S. 125; Horst Kahrs, Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration nach Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: ders. u.a. (Hg.), Arbeitsmigration und Flucht. Vertreibung und Arbeitskräfteregulierung im Zwischenkriegseuropa, Berlin 1993, S. 130–194, hier S. 137f., 171f. 67 Alle Vertragstexte abgedruckt bei Antonio Dazzi, Vereinbarungen zwischen Deutschland und Italien auf dem Gebiet der Arbeit und der Sozialversicherung, 1942; vgl. dazu auch W. Bethge, Der Einsatz der italienischen Landarbeiter, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5. 1938, S. 364f. 68 Vgl. Christoph Rass, Staatsverträge und ›Gastarbeiter‹ im Migrationsregime des ›Dritten Reiches‹, in: Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, S. 159–184.

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ten.69 Abgesehen von den Einsprengseln des spezifisch nationalsozialistischen Rassismus bewegte sich die internationale Arbeitsmigrationspolitik des ›Dritten Reiches‹ damit bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges durchaus mit dem europäischen Trend. Die auf den Umgang mit Arbeitsmigranten im Inland gerichteten Eingriffe standen indes bereits weit stärker unter dem Einfluss der Kriegsvorbereitung und der daraus resultierenden Beseitigung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte durch die Mechanismen des ›Arbeitseinsatzes‹.70 Insofern entstanden Vorformen zentraler Institutionen des späteren Zwangsarbeitssystems bereits in der Vorkriegszeit.

2.3 Abwanderung vom Land und Raumplanung Unter denjenigen Wanderungsbewegungen, die sich in den 1930er Jahren innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches vollzogen, gehörte die Abwanderung vom Land zu den quantitativ bedeutendsten Phänomenen.71 Zugleich provozierte sie eine so differenzierte und umfassende staatliche Reaktion wie nur wenige andere Migrationsphänomene der Vorkriegszeit. Lebens- und Arbeitsbedingungen kombiniert mit begrenzten Zukunftsperspektiven, die kaum mit den Verheißungen des Lebens und Arbeitens in den industriellen Zentren Deutschlands mithalten konnten, lassen sich als Hauptursachen der Abwanderung vor allem junger Arbeitskräfte und Familien aus den ländlichen Gebieten werten. Versuche, diesen Prozess zu beeinflussen, müssen unter drei Aspekten diskutiert werden. Erstens verschärfte während der Weltwirtschaftskrise die Abwanderung vom Lande als Ausweichen vor Armut und Elend das Erwerbslosenproblem in den Städten. Zweitens geriet das Regime ab 1935 in das Dilemma der allseitigen Arbeitskräfteknappheit: Die Industrieregionen benötigten Arbeitskräfte, die nicht zuletzt aus ländlichen Gebieten zuwanderten, wodurch sich der Landarbeitskräftemangel weiter steigerte. Dabei lagen nun allerdings die beiden konkurrierenden Wirtschaftssphären gleichzeitig im Zentrum des politischen Interesses des Regimes. Drittens konnte staatliche Politik dem Wanderungsdruck auf dem Land nur sehr begrenzt normative Verbote entgegensetzen und deren Einhaltung auch erzwingen. Dies zeigen etwa die geringen Erfolge des Reichserbhofgesetzes und die vielfach kritischen Reaktionen auf die mit seiner Hilfe eingeführten Einschränkungen der unternehmerischen Freiheiten des Landwirts.72 Stärker als in den anderen Bereichen der Wanderungslenkung kamen daher Anreiz-

|| 69 Vgl. Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010, Kapitel 3.4.2. 70 Hierzu siehe unten; zur Entwicklung der Ausländerbeschäftigung im Zweiten Weltkrieg zum Sklaven- und Zwangsarbeitersystem siehe den Beitrag von Mark Spoerer in diesem Band. 71 Vgl. Adolf Weber, Deutsches Wirtschaftsleben, Berlin 1941, S. 21f. 72 Vgl. Daniela Münkel, Bäuerliche Interessen versus NS-Ideologie. Das Reichserbhofgesetz in der Praxis, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 44. 1996, S. 549–580, hier S. 571f., 577f.

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systeme verbunden mit langfristigen Strukturplanungen zum Einsatz, um die Bevölkerungsverteilung zwischen Stadt und Land zu beeinflussen. In den Jahren der Massenerwerbslosigkeit sollten zunächst grobe und wenig effiziente Eingriffe in die aus den ökonomischen Disparitäten resultierende Binnenmigration für eine Demobilisierung des ländlichen Wanderungspotenzials sorgen. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nutzte hierzu beispielsweise ihr Recht, Zuzugsbeschränkungen für Gebiete mit hoher Erwerbslosigkeit zu verhängen, um die Zuwanderung in den Raum Berlin, nach Hamburg und zeitweise auch an die Saar zu stoppen.73 Später griff eine individualisierte Migrationskontrolle durch die Verknüpfung der Einstellung einer Arbeitskraft aus der Landwirtschaft in bestimmten Branchen des sekundären Sektors mit einer Genehmigung durch das zuständige Arbeitsamt.74 Teils aus der ›Blut und Boden‹-Ideologie des Nationalsozialismus abgeleitet, teils schlicht der Erkenntnis geschuldet, dass dem Sog des Rüstungsbooms durch eine emotional positiv besetzte und ökonomisch attraktive Alternative begegnet werden musste, entstanden Ansätze strukturpolitischer Wanderungslenkung, die den Migrationstrend in Richtung besserer Lebensbedingungen brechen sollten. Wie bereits während der Weimarer Republik und früher schien das probate Mittel eine Förderung des ländlichen Siedlungswesens, deren Schwerpunkt auf der subventionierten Errichtung sogenannter Landarbeiterwohnungen lag.75 Moderner Wohnraum, eine reformierte Arbeitsverfassung und eine realistische Perspektive auf landwirtschaftlichen Kleinbesitz galten als Königsweg, um die Abwanderung vom Land zu stoppen und sogar eine Gegenbewegung zurück von der Industrie in die Agrarwirtschaft zu induzieren.76 Mit weitreichenden Planungen und zahlreichen

|| 73 Vgl. Alfred Schach, Der Arbeitseinsatz im Arbeitsamtsbezirk Karlsruhe mit bes. Berücksichtigung der autoritären Arbeitseinsatzmaßnahmen, Speyer 1938, S. 38f.; Friedrich Syrup, Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes, in: Der Vierjahresplan, 2. 1938, S. 389–394, hier S. 390; Grundlage hierfür war das Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 15.5.1934, in: RGBl., Teil I, S. 125f.; vgl. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 241. Die Maßnahme bezog sich allerdings generell auf jede Zuwanderung. 74 Vgl. Hans Merkel, Allgemeine Volkswirtschaftspolitik, Leipzig 1937, S. 36. 75 Vgl. zu den Anfängen der Siedlungsbewegung vor 1933 Uwe Mai, ›Rasse und Raum‹. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002, S. 16–76, sowie Matthias Weipert, ›Mehrung der Volkskraft‹. Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890–1933, Paderborn 2006, S. 84–99; vgl. dazu auch die zeitgenössische Aufsatzsammlung Die Umsiedlung der städtischen Bevölkerung auf das Land, Hamburg 1928, sowie Werner Mansfeld, Der Wohnungsbau für Landarbeiter, in: Der Vierjahresplan, 1. 1937, S. 210f. 76 Vgl. exemplarisch Apitz, Landflucht, S. 6; Luise Boehme, Die Auflockerung der industriellen Konzentration durch differenzierende Lohnpolitik, Bleicherode 1939, S. 41f.; Ernst Paul Boruttau, Landarbeiterwohnungsbau im Vierjahresplan. Planung und Gestaltung der Bauten, Berlin 1939, S. 11f.; Adolf Schröder, Wie können die Arbeitsämter ihre Mitwirkung beim Arbeitseinsatz erhöhen?, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5. 1938, S. 365f.

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Einzelprojekten, die jedoch kaum Breitenwirkung entfalten konnten, strebte das ›Dritte Reich‹ eine indirekte Wanderungslenkung durch Anreize zum Verzicht auf Abwanderung beziehungsweise die Entscheidung für eine Ansiedlung auf dem Land an. Eine Nebenlinie der ungleichen Verteilung von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen bildeten wiederum parallele Wanderungsbewegungen, die zugelassen oder sogar in Gang gesetzt wurden. Dienstverpflichtungen machten zunächst junge Erwerbslose, dann Angehörige von HJ und BDM und schließlich sogar von RAD und Wehrmacht zu mehr oder weniger freiwilligen Arbeitswanderern und schickten sie als Saisonkräfte in die Landwirtschaft.77 Dann öffnete die Verwaltung den ländlichen Arbeitsmarkt wieder für ausländische Arbeitskräfte, die ab 1936/37 erneut ihre traditionelle Funktion in der deutschen Agrarproduktion übernahmen.78 In diesem Kontext trat Mitte der 1930er Jahre eine neue Institution auf den Plan, deren Ziel in einer Umgestaltung der demographischen und wirtschaftlichen Strukturen Deutschlands im Sinne des Nationalsozialismus und seiner politischen Ziele bestand. Aus Anfängen, die bis in die Weimarer Republik zurückreichten, entwickelten sich 1935 die Reichsstelle für Raumordnung und ihr wissenschaftlicher Arm, die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung.79 Unter diesem Dach entstand ein bis auf die kommunale Ebene reichendes, dezentral organisiertes, jedoch zentral || 77 Langfristig sollten entlassene Berufssoldaten auf dem Land angesiedelt werden, um der ›Landflucht‹ entgegenzuwirken, wodurch eine weitere Wanderungsbewegung induziert worden wäre; vgl. Krug, Der Einsatz von Unteroffizieren als Siedler und Neubauern, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6. 1939, S. 153f. 78 Vgl. Friedrich Syrup, Maßnahmen zur Versorgung der Landwirtschaft mit Arbeitskräften, in: Der Vierjahresplan, 1. 1937, S. 208f.; Felix Sommer, Der landwirtschaftliche Arbeitseinsatz 1937, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 4. 1937, S. 57–61, hier S. 59; Walter Lutz, Der Landdienst der Hitler-Jugend im Dienste des landwirtschaftlichen Arbeitseinsatzes, in: ebd., 5. 1938, S. 268f.; exemplarisch auch Artur Schürmann, Niedersachsen, in: Konrad Meyer/Klaus Thiede/Udo Froese (Hg.), Die ländliche Arbeitsverfassung im Westen und Süden des Reiches. Beiträge zur Landfluchtfrage, Heidelberg 1941, S. 19–56, hier S. 44f.; siehe dazu auch die Bemerkungen unten. 79 Vgl. Martin Gerhard Bongards, Raumplanung als wissenschaftliche Disziplin im Nationalsozialismus, Marburg 2004, S. 58f.; Mechthild Rössler, Die Institutionalisierung einer neuen ›Wissenschaft‹ im Nationalsozialismus: Raumforschung und Raumordnung 1935–1945, in: Geographische Zeitschrift, 75. 1987, S. 177–193, hier S. 177f.; Marc Engels, Die ›Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes‹. Bruno Kuske und die wirtschaftswissenschaftliche Westforschung zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Diss. Aachen 2006, S. 93f. S. zeitgenössisch und programmatisch Konrad Meyer, Raumordnung als nationalsozialistische Aufgabe, in: Otto Mönckmeier (Hg.), Jahrbuch der nationalsozialistischen Wirtschaft, München 1937, S. 95–111, hier S. 95f.; Joachim H. Schulze, Deutsche Siedlung, Stuttgart 1937, S. 36f. Zu den normativen Grundlagen siehe: Gesetz über die Regelung des Landbedarfs der öffentlichen Hand vom 29.3.1935, in: RGBl., Teil I, 1935, S. 468f.; Erlass über die Reichsstelle für Raumordnung vom 26.6.1935, in: RGBl., Teil I, 1935, S. 793; Zweiter Erlass über die Reichsstelle für Raumverordnung vom 18.12.1935, in: RGBl., Teil I, 1935, S. 1515; Verordnung über die Regelung der Bebauung vom 15.2.1936, in: RGBl., Teil I, 1936, S. 104; dazu auch Friedrich Bülow, Raumordnung, Raumforschung und Wirtschaftswissenschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 47. 1938, S. 300–321, hier S. 301f.

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gelenktes Institutionengeflecht. Beflügelt durch die ideologischen Zielvorstellungen, die Rüstungsanstrengungen des ›Dritten Reiches‹, den Vierjahresplan und die dadurch möglichen Eingriffe in alle Lebensbereiche, entwarfen die Raumplaner und -forscher vielfach utopische Neuordnungsvisionen, die fast immer auch steuernde Eingriffe in die Mobilisierung oder Demobilisierung von Bevölkerungsteilen im Sinne einer Binnenwanderung beinhalteten.80 Der Steuerungshorizont der Raumplaner umfasste jedoch nicht nur die Migration zwischen Stadt und Land, sondern auch die Neugestaltung urbaner oder ländlicher Industriezentren unter Inkaufnahme umfangreicher Binnenwanderungsbewegungen. Schlagworte wie Auflockerung und Dezentralisierung meinten die Verlegung ganzer Industriebetriebe unter Umsiedlung ihrer Belegschaften teils über große Entfernungen. Solche Maßnahmen dienten strategischen und wirtschaftspolitischen Zwecken. Zum einen sollte die Verwundbarkeit der deutschen Industriekapazitäten im Kriegsfall verringert und dabei ebenso eine Effizienzsteigerung wie eine Absicherung gegen Krisen – durch die Verbindung von Industriearbeit mit landwirtschaftlicher Teilsubsistenz – erreicht werden. Zum anderen zielte die Neuordnung des Raumes auf die Realisierung ordnungs- und strukturpolitischer Zielvorstellungen des Nationalsozialismus.81 Die Mehrzahl dieser Planungen wurde von den Realitäten der Kriegsvorbereitung begraben, die sich in Bezug auf Arbeitskräfte und Wanderungslenkung mehr und mehr zu einer Mangelverwaltung entwickelte. Realisiert wurden letztlich zwei Großprojekte, die auf die Ansätze der nationalsozialistischen Raumplanung zurück|| 80 Vgl. Mai, Raum, S. 48f., 93f.; vgl. dazu zeitgenössisch auch Friedrich Bülow, Raumforschung vor neuen Aufgaben, in: Der Vierjahresplan, 2. 1938, S. 688f.; ders., Großraumwirtschaft, Weltwirtschaft und Raumordnung, Leipzig 1941, S. 27, sowie auf regionaler Ebene exemplarisch Hans Weigmann, Politische Raumordnung. Gedanken zur Neugestaltung des deutschen Lebensraumes, Hamburg 1935; und Gobbin, Landesplanung und Raumordnung im Rheinland, in: Beiträge zur rheinischen Landesplanung, 5. 1939, S. 26–33. Aufschlussreich für das Engagement der Raumforschung in Wanderungsfragen ist eine Aufstellung über erteilte Forschungsaufträge der Reichsarbeitsgemeinschaft aus dem Jahr 1944: Forschungsaufträge der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (Systematische Gliederung 1936–1943), 21.11.1944, Bundesarchiv R164/353, S. 3f. Für seinen Hinweis auf dieses Aktenstück dankt der Autor Dr. Marc Engels. 81 Vgl. Horst Matzerath, Siedlungs- und Raumplanung für das ›Großdeutsche Reich‹, in: Klaus Schmals (Hg.), Vor 50 Jahren…: Auch die Raumplanung hat eine Geschichte!, Dortmund 1997, S. 55–72, hier S. 58f. Sehr anschaulich auch: Industrieverlagerung, in: Amt des Siedlungsbeauftragten der NSDAP (Hg.), Arbeitshefte zur Reichsplanung, Band 3, München 1935, bes. S. 7, 49, 54, 56f.; ebenso W.H. Clauder, Die Pendelwanderung. Grundsätzliches zu ihrer Problematik und der Methode ihrer Untersuchung, in: Konrad Meyer (Hg.), Volk und Lebensraum. Forschungen im Dienste von Raumordnung und Landesplanung, Heidelberg 1938, S. 204–216, hier S. 204f.; Martin Wisch, Arbeiterwohnstättenbau und Industrieausbau, in: Der Vierjahresplan, 2. 1938, S. 469–472, spricht davon, dass einzelne kleine Gemeinden, in denen Siedlungsprojekte durchgeführt wurden, ihre Einwohnerzahl durch Zuwanderung verdoppeln konnten. Gleiches galt z.B. auch für einige mitteldeutsche Chemiestandorte; vgl. dazu Klingemann, Agrarsoziologie, S. 185.

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gingen und beträchtliche Bevölkerungsbewegungen mit sich brachten: die Gründung der Industriestandorte Wolfsburg und Salzgitter.82 In Wolfsburg, das gänzlich neu aus dem Boden gestampft wurde, sollten sich zwischen 1937 und 1942 rund 25.000 Einwohner niederlassen. Für das Industriegebiet von Salzgitter sahen die Planungen 130.000 Einwohner vor, während insgesamt etwa 300.000 Menschen in der weiteren Region an- oder umgesiedelt werden sollten.83 Diese Dimensionen unterstreichen den radikalen Lenkungsanspruch des ›Dritten Reiches‹ auch in Bezug auf die ihm zu Gebote stehende Ressource Mensch. Die beiden Stadtgründungen hätten schließlich bei vollständiger Realisierung zwei der größten gelenkten Binnenwanderungen in Friedenszeiten der jüngeren deutschen Geschichte erfordert. Die reale Entwicklung verlief freilich vollkommen anders. Zwar gelang es durchaus, in den letzten Friedensjahren durch großzügige Angebote Siedler für die Stadt Wolfsburg in ausreichender Zahl anzulocken. Die allgemein günstige Lohnentwicklung in der Industrie und die steigende Zahl freier Arbeitsstellen im Rüstungsboom sorgte allerdings nicht nur für eine Konkurrenz potenzieller Wanderungsziele, sondern verringerte auch die Wanderungsneigung potentieller Binnenmigranten. Bereits 1939 lag die Einwohnerzahl Wolfsburgs um 20 Prozent unter dem Plansoll. Ab 1940 musste schließlich die Mehrzahl neuer Arbeitskräfte für die Volkswagenwerke auf dem Wege der Dienstverpflichtung rekrutiert und nach Wolfsburg gebracht werden, während sich der Zuwachs an Bewohnerinnen und Bewohnern in den späteren Kriegsjahren hauptsächlich aus ausländischen Zivilbeziehungsweise Zwangsarbeitskräften speiste.84 Die Steuerung der intra- und interregionalen Wanderung, insbesondere der quantitativ bedeutenden Migration zwischen Stadt und Land, prägten zwischen 1933 und 1939 demnach vier Charakteristika. Erstens zeichneten sich die Bemühungen zur Beeinflussung der Abwanderung vom Land im Gegensatz zum Umgang mit der grenzüberschreitenden Abwanderung oder der Ausländerbeschäftigung durch ein höheres Maß an positiven und indirekten Steuerungsmaßnahmen aus, während Sanktionen in den Hintergrund traten. Zweitens fand in diesem Bereich der Wanderungslenkung konsequent eine neue Form der Makro-Planung Anwendung, die sich

|| 82 Vgl. Christian Schneider, Stadtgründung im Dritten Reich, Wolfsburg und Salzgitter. Ideologie, Ressortpolitik, Repräsentation, München 1979, S. 36; Erhard Forndran, Die Stadt- und Industriegründungen Wolfsburg und Salzgitter. Entscheidungsprozesse im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Frankfurt a.M. 1984, S. 135f.; zu den Querverbindungen mit der Reagrarisierung vgl. Manfred Walz, Wohnungsbau- und Industrieansiedlungspolitik in Deutschland 1933–1939. Dargestellt am Aufbau des Industriekomplexes Wolfsburg-Braunschweig-Salzgitter, Diss. Aachen 1979, S. 86f. 83 Vgl. Dieter Münk, Die Organisation des Raumes im Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung ideologisch fundierter Leitbilder in Architektur, Städtebau und Raumplanung des Dritten Reiches, Bonn 1993, S. 341, 364. 84 Vgl. Münk, Organisation, S. 341f.

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durch den Neuaufbau oder die Umgestaltung bestehender Institutionen mit entsprechender Forschungs-, Planungs- und Handlungskompetenz auszeichnete. Drittens entwickelte sich in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Zielkonflikt zwischen dem Arbeitskräftebedarf von urbanem Industrie- und Dienstleistungssektor und ländlicher Wirtschaft, auf den die Raumordnung mit ihren Konzepten reagierte, die sich wiederum auf Ziele und Formen der Wanderungslenkung auswirkten. Viertens muss konstatiert werden, dass Realität und Planung weit auseinanderklafften. Zwar waren vor Kriegsausbruch weitreichende Binnenwanderungsprojekte konzipiert worden, umgesetzt wurden sie indes nur vereinzelt und ansatzweise. Schließlich korrespondierte diese Form der Gesamtplanung von Wanderung und Siedlung, die alle Bereiche des Arbeitsmarktes berührte, mit der Umgestaltung des Arbeitsmarktes zum ›Arbeitseinsatz‹, die ihrerseits neue Spielarten der Wanderungslenkung mit sich brachte.

2.4 Arbeitsmigration in Deutschland und ›Arbeitseinsatz‹ Die Suche nach Arbeit oder besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zählt zu den wichtigsten Motiven nicht nur für die grenzüberschreitende Abwanderung, sondern auch für die intra- und interregionale Migration. Dabei können durch regionale Disparitäten oder konjunkturelle Extremsituationen Bedingungen entstehen, die auf die Migrationsneigung der Individuen einwirken: Zwischen 1933 und 1935 lassen sich zwei gegenläufige Wanderungsströme feststellen. Elend und Erwerbslosigkeit trieben nicht nur Menschen aus den Ballungsräumen zurück aufs Land, zugleich strömten Tausende in die Städte, in denen sie Rettung aus der Krise erhofften. Die Bilanz dieser krisenbedingten Migrationen scheint jedoch bis Mitte der 1930er Jahre für eine Nettoabwanderung aus den Städten zu sprechen. Zwischen 1936 und 1939 sogen die industriellen Zentren bedingt durch die Rüstungskonjunktur Arbeitskräfte an, die sich von einem Arbeitsplatzwechsel, der durchaus mit einer intra- und interregionalen Migration einhergehen konnte, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen versprachen. Mit den Folgen musste das nationalsozialistische Regime unzufrieden sein, denn erst erschwerten die Wanderungsbewegungen das Krisenmanagement, dann verschärfte die Arbeitskräftefluktuation den Arbeitskräftemangel in strategisch wichtigen Bereichen der Wirtschaft. Die Reaktion des ›Dritten Reiches‹, der ›Arbeitseinsatz‹, musste also auch die Steuerung von Wanderungsprozessen umfassen.85 Zur zentralen Institution der Arbeitsmarkt- und Arbeitsmigrationskontrolle entwickelte sich die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche-

|| 85 Vgl. Fischer, Lenkung des Arbeitseinsatzes und Raumordnung, in: Der Vierjahresplan, 1. 1937, S. 156f.

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rung. Gleichgeschaltet und ihrer Selbstverwaltung beraubt, ersetzte sie sukzessive die Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch die Lenkung des verfügbaren Arbeitskräftepotenzials. Sie richtete ihre Aktivitäten bis etwa 1935 vorrangig auf den Abbau der Erwerbslosigkeit, anschließend auf die Arbeitskräftebeschaffung, wobei sie sich über ihre Einbindung in die Vierjahresplanbehörde zu einem zentralen Akteur nationalsozialistischer Migrationspolitik entwickelte, sondern auch immer weiter reichende Regulierungskompetenzen erhielt.86 Wanderungslenkung hieß in der ersten Entwicklungsphase zunächst die Unterdrückung unerwünschter Erwerbslosenmigration. Bedingt durch Aufrüstung und die in ihrem Gefolge eintretende Vollbeschäftigung, begann dann das Prinzip der selektiven Mobilisierung zu dominieren. Ab 1935 versuchte die Arbeitsverwaltung zum einen, die Fluktuation und damit gegebenenfalls die Wanderung der heiß umworbenen Facharbeiter zu dämpfen beziehungsweise in die gewünschten Bahnen zu lenken. Die Abwanderung von Metallfacharbeitern etwa unterband eine Verordnung, die jede Einstellung eines Facharbeiters außerhalb des für ihn zuständigen Arbeitsamtsbezirks genehmigungspflichtig machte.87 Zum anderen erforderte der Arbeitskräftemangel eine effiziente Verteilung der vorhandenen Arbeitskräfte, womit sich in einer Reihe von Berufen der sogenannte zwischenbezirkliche Ausgleich verband, also die Vermittlung von Arbeitsuchenden über die Grenzen des Arbeitsamtsbezirks hinweg, in dem sie wohnten.88 Hatte dieser zuvor – in sehr begrenztem Maß – als Ventil zur Senkung der lokalen Erwerbslosigkeit gedient, so begannen nun Arbeitsämter, fehlende Arbeitskräfte

|| 86 Vgl. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, Abschnitt II.B; Karl Härter, Arbeitspolitik im Nationalsozialismus: Steuerung durch Recht in der polykratischen Wirtschaftsdiktatur?, in: Johannes Bähr/Ralf Banken (Hg.), Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 309–341, hier S. 326f.; Dietmar Petzina, Vierjahresplan und Rüstungspolitik, in: Friedrich Forstmeier/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975, S. 65–80, hier S. 75; ders., Autarkiepolitik, S. 158; einen zeitgenössischen, aber ausführlichen Überblick über die zugrundeliegenden Rechtsnormen bietet Viktor Grohmann, Der Arbeitseinsatz nach den arbeitseinsatzpolitischen Maßnahmen des Beauftragten für den Vierjahresplan. Die Mittel und Formen der staatlichen Einflussnahmen auf das deutsche Arbeitsleben beim Arbeitseinsatz, Dresden 1939. 87 Vgl. Hans Boening, Die Verteilung von Arbeitskräften. Nach den Anordnungen vom 28.8.1934 über die Verteilung von Arbeitskräften, vom 20.12.1934 über die Anwerbung, Vermittlung und Verpflichtung landwirtschaftlicher Wanderarbeiter, vom 29.12.1934 über den Arbeitseinsatz von gelernten Metallarbeitern, Berlin 1935, S. 61; Hans Volmer, Zwei Jahre Metallarbeiteranordnung, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6. 1939, S. 57–59, hier S. 57f. Eine umfassende Quellensammlung zur Überformung des Arbeitsmarktes zwischen 1933 und 1939 bietet Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936– 1939, Opladen 1975. 88 Vgl. Die Versorgung der Landwirtschaft mit Arbeitskräften, in: Der Vierjahresplan, 1. 1937, S. 94f.

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in anderen Arbeitsamtsbezirken nachzufragen.89 Auf den Vierjahresplan reagierte die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sogar mit der Einrichtung einer ihrer Hauptstelle angegliederten Reichsausgleichsstelle. Diese hatte dafür zu sorgen, dass bei Betriebsverlagerungen, dem Neuaufbau von Industriestandorten oder für Großprojekte schnell ausreichend Arbeitskräfte vom überregionalen Arbeitsmarkt zur Verfügung standen. Diese wurden auf dem Weg des zwischenbezirklichen Ausgleichs temporär zugewiesen oder dauerhaft angesiedelt.90 Als erste wurden Facharbeiter aus Metallberufen gezielt über den Arbeitsamtsbezirk hinaus, in dem sie ansässig waren, auf freie Stellen vermittelt und durchaus mit den der Arbeitsverwaltung zu Gebote stehenden Mitteln zur Annahme des Arbeitsplatzes gedrängt. Zwischenbezirkliche Vermittlung erforderte jedoch in den meisten Fällen auch eine Übersiedlung an den neuen Arbeitsort und war damit eine Form der gelenkten Binnenmigration. Sie erfasste zu diesem Zeitpunkt auch die wenigen verbliebenen Erwerbslosen, die vielfach zur Arbeitsmigration quer durch das Reichsgebiet verpflichtet wurden.91 Gleichzeitig richtete sich die staatliche Wanderungslenkung mit Arbeitsmarktbezug auch auf die Auswanderung aus Deutschland. Ab 1935 legte die Arbeitsverwaltung die Hürden für die Arbeitsmigration ins Ausland immer höher und machte einen Arbeitsplatzwechsel über die Reichsgrenze hinweg schließlich genehmigungspflichtig, um die Abwanderung von Facharbeitskräften zu unterbinden.92

|| 89 Vgl. Willy Grübnau, Aus der Vermittlungspraxis: Buchung von Vermittlungen gemäß Ziffer 331 der Vermittlungsrichtlinien (Zwischenbezirklicher Ausgleich), in: Die Arbeitslosenhilfe, 3. 1936, S. 369f. 90 Vgl. Siemer, Der Reichsausgleich für Arbeitsvermittlung, in: Die Arbeitslosenhilfe, 3. 1936, S. 403–407. Der Reichsausgleich war die Vermittlung von Arbeitskräften über die Grenzen eines Landesarbeitsamtes hinweg, er brachte also immer die temporäre oder dauerhafte Migration über weitere Entfernungen mit sich. Ab November 1935 galt das Verfahren für alle Berufsgruppen. Die zentrale Steuerung löste das herkömmliche Verfahren ab, bei dem es sich um ein freiwilliges Ausschreibungsverfahren über sogenannte Ausgleichslisten handelte. Von Juli bis September 1936 wurden von der Reichsausgleichsstelle beispielsweise rund 9.000 Stellen veröffentlicht. Im gleichen Zeitraum vermittelte allein das Arbeitsamt Köln 8.000 Erwerbslose überregional; vgl. Hans Volmer, Der zwischenbezirkliche Ausgleich vom Standpunkte eines Abgabebeamtes aus gesehen, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 4. 1937, S. 337–341. 91 Vgl. Volker Herrmann, Vom Arbeitsmarkt zum Arbeitseinsatz. Zur Geschichte der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1929 bis 1939, Frankfurt a.M. 1993, S. 179f.; im März 1939 ging die Arbeitsverwaltung beispielsweise davon aus, dass von den insgesamt 324.551 gemeldeten Erwerbslosen rund 53.000 für den Reichsausgleich geeignet seien, gegebenenfalls also zur Übersiedlung an einen anderen Arbeits- und Wohnort gezwungen werden konnten, vgl. Statistische Beilage zum Reichsarbeitsblatt, 1939, Nr. 16, S. 6. 92 Verordnung über Vermittlung, Anwerbung und Verpflichtung von Arbeitnehmern nach dem Auslande vom 28.6.1935, Reichsarbeitsblatt, Teil I, 1935, S. 241f.; Anordnung zur Durchführung der Verordnung über Vermittlung, Anwerbung und Verpflichtung von Arbeitnehmern nach dem Auslande vom 28.6.1935 vom 8.1.1936, Reichsarbeitsblatt, Teil I, 1936, S. 15f.

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Hatte die Reichsfluchtsteuer die grenzüberschreitende Abwanderung vermögender Bürger ökonomisch sinnlos gemacht, so schränkten die Gesetze und Erlasse der Jahre 1935/36 die Reisefreiheit einfacher Arbeiter derart ein, dass die Auswanderung sich ganz im Sinne des Regimes steuern ließ. Mit dem Schwinden der Arbeitskräftereserven und dem Eintreten der Kriegsvorbereitungen in ihre entscheidende Phase verdichtete sich das Netz der Steuerungsinstrumente auf dem Arbeitsmarkt und damit auch die Intensität der Wanderungslenkung. Mit der Einführung des Arbeitsbuches und dem Aufbau entsprechender Karteien bei lokalen Arbeitsämtern sowie der zentralen Arbeitsbuchkartei entstand mit großem Aufwand in sehr kurzer Zeit ein Informationssystem, mit dem sich alle Bewegungen am Arbeitsmarkt beobachten ließen.93 Dieses vollständige aktenmäßige Abbild des Arbeitskräftepotenzials ermöglichte jederzeit einen individualisierten Zugriff auf jeden Arbeitnehmer. Durch die Genehmigungspflicht für einen Arbeitsplatzwechsel, die auf immer mehr Berufszweige ausgeweitet und durch eine Meldepflicht für nichtgenehmigungspflichtige Arbeitsplatzwechsel ergänzt wurde, konnte die Arbeitsverwaltung ebenso den Verbleib an einem Arbeitsplatz wie den Wechsel des Arbeitgebers erzwingen.94 Diese Steuerung der Arbeitskräftefluktuation durch den ›Arbeitseinsatz‹ war ein entscheidender Schritt auf dem Weg vom freien Arbeitsmarkt zur zielkonformen Allokation einer knappen Ressource, die letztlich nicht nur eine Mobilitätskontrolle in Bezug auf den Ort der Arbeit, sondern auch auf den Wohnort werden sollte.95

|| 93 Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches vom 26.2.1935, in: RGBl., Teil I, 1935, S. 311; vgl. dazu auch Achter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin 1936, S. 21; Wende, Die Erweiterung der Arbeitsbuchpflicht, in: Reichsarbeitsblatt, Teil II, 1939, S. 169–171. 94 Vgl. Max Timm, Neue Maßnahmen zur Lenkung des Arbeitseinsatzes, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6. 1939, S. 103–112, hier S. 107; Letsch, Die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels im Kriege, in: Reichsarbeitsblatt, Teil II, 1939, S. 345–347. 95 Die Reichsanstalt beschränkte sich dabei nicht nur auf die Befriedigung der Arbeitskräftenachfrage, sondern dachte auch strukturelle Maßnahmen an. So sollten etwa ostpreußische Landarbeitskräfte, die in den Ruhrbergbau gewechselt waren, planmäßig – unter Gewährung von Umzugsbeihilfen – in ihre alte Heimat umgesiedelt und ihre Arbeitsstellen mit erwerbslosen alteingesessenen Bergleuten besetzt werden; vgl. dazu Felix Sommer, Ist die Rücküberführung von Bergarbeitern in die ostdeutsche Landwirtschaft ein nicht lösbares Finanzproblem der Reichsanstalt?, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 4. 1937, S. 103. Zu den Querverbindungen zur Raumforschung, die zunehmend Datensammlungen und Feldforschungen in Vorbereitung solcher Eingriffe übernahm, vgl. Schmid-Burgk, Raumforschung und Arbeitseinsatz, in: ebd., S. 159–162. Auf wissenschaftlicher Ebene begleitete ein Diskurs über eine Abkehr vom Lohn als entscheidendem Faktor für die Arbeitswanderung diesen Politikwechsel, der diese Eingriffe in Freizügigkeit und Selbstbestimmung legitimierte; vgl. dazu exemplarisch Eduard Willeke, Von der raumgebundenen menschlichen Arbeitskraft. Eine qualitative Theorie des Arbeitsmarktes, Jena 1937, S. 274f., 382; Boehme, Auflockerung, S. 45f.

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Eine neue Qualität erreichte die Arbeitskräftelenkung 1938 durch zwei Veränderungen. Erstens entwickelte sich der überbezirkliche Ausgleich von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft als letzte Stufe der Mobilisierung der verfügbaren Arbeitskräfte zum eigentlichen Tätigkeitsschwerpunkt der Arbeitsverwaltung im Bereich der Arbeitsvermittlung. In den letzten Vorkriegsjahren steigerten solche Maßnahmen die Intensität sowohl der temporären als auch der permanenten arbeitsmarktbedingten Binnenmigration. Gleichzeitig schrumpften die individuellen Gestaltungsspielräume der Arbeitsmigranten, die sich mehr und mehr zu Objekten einer von Mangel gezeichneten Wirtschaftsplanung degradiert sahen. Zweitens erweiterte die Einführung der Dienstverpflichtung den Kreis derjenigen, die dem Zwang zur Übersiedlung an einen neuen Arbeitsort unterlagen, von den Erwerbslosen beziehungsweise Stellenwechslern auf alle Beschäftigten.96 Die Dienstverpflichtung unter Auflösung des bestehenden Arbeitsverhältnisses, die erstmals im großen Stil beim Bau des Westwalls angewendet wurde, erfasste bis 1940 insgesamt etwa 1,4 Millionen Personen.97 Dabei handelte es sich oft nicht um die Umsetzung von Arbeitnehmern im Umkreis ihres Wohnortes. Die Dienstverpflichtung erforderte in der Regel zumindest periodisches Pendeln oder gar die zeitweise Übersiedlung an den Einsatzort gegebenenfalls unter Zurücklassung der Familie.98 Die freizügige Fluktuation von Arbeitskräften – die auch eine Migration umfassen konnte – hatte in Deutschland schon vor dem Kriegsbeginn weitgehend ein Ende gefunden. Stattdessen wirkten auf der einen Seite die Beschränkungen des Arbeitsplatzwechsels demobilisierend. Auf der anderen Seite trafen nun die Wirtschaftsplanungsinstanzen des ›Dritten Reiches‹ im Sinne einer selektiven Mobilisierung arbeitsmarktbedingte Wanderungsentscheidungen. Das in liberalen Wirtschaftssystemen selbstbestimmt agierende Individuum war insofern in Bezug auf seine Wanderungsentscheidungen weitgehend entmündigt.99 Über die Genehmigung von Arbeitsplatzwechseln, Reichsausgleich und Dienstverpflichtung steuerte || 96 Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 22.6.1938, in: RGBl., Teil I, 1938, S. 652; Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13.2.1939, in: RGBl., Teil I, 1939, S. 206f.; vgl. auch Timm, Arbeitseinsatz, S. 104; ders., Die Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung, in: Reichsarbeitsblatt, Teil II, 1939, S. 109– 115. 97 Vgl. Petzina, Autarkiepolitik, S. 160, geht insgesamt bis Ende 1940 von bis zu 3 Millionen Dienstverpflichteten aus. 98 Vgl. Friedrich Syrup, Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes. Zu der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung, in: Der Vierjahresplan, 3. 1938, S. 389–394, hier S. 389; ders., Dienstverpflichtung als wirtschaftlicher Gestellungsbefehl, in: ebd., 4. 1940, S. 3f. 99 Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches vom 26.2.1935, in: RGBl., Teil I, 1935, S. 311; Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1.9.1939, in: RGBl., Teil I, 1939, S. 1685f.

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die Bürokratie des NS-Staates nahezu die gesamte intra- und interregionale Migration, die unter dem Druck des Arbeitskräftemangels mit dem Näherrücken des Krieges an Intensität zunahm. Wie weit sich der Zusammenhang von ›Arbeitseinsatz‹ und Wanderungslenkung bereits entwickelt hatte, zeigt die Integration Österreichs in den ›Arbeitseinsatz‹ nach der Annexion des Landes im März 1938. Die in Deutschland gegebenen Möglichkeiten zur Mobilisierung von Arbeitskräften existierten dort zunächst nicht. Die Arbeitsverwaltung formte den österreichischen Arbeitsmarkt jedoch durch die Übertragung der entsprechenden Normen und Strukturen schnell zu einem Ort des ›Arbeitseinsatzes‹ um. Dann begannen Massentransporte österreichischer Arbeitskräfte ins ›Altreich‹, die in der unmittelbaren Vorkriegszeit eine neue Welle der Binnenmigration auslösten.100 Dabei griffen Raumplanung und ›Arbeitseinsatz‹ ineinander und beeinflussten das Wanderungsgeschehen massiv: Raumplaner wählten neue Industriestandorte aus, die das Regime mit Hilfe der Arbeitsverwaltung besiedelte. Deren Vermittlungsund Steuerungsmaßnahmen richteten sich zunehmend nicht auf einen Arbeitsmarkt, sondern nach den Anforderungen der Kriegsvorbereitung. Auch das Engagement der Reichsanstalt im Wohnungsbau erfuhr eine strategische Ausrichtung nach Maßgabe der Raumordnung.101 Zugleich hatte damit die Reichsanstalt als zentrale Instanz der Arbeitskräftebeschaffung und -allokation zu ihrer Rolle im ›Dritten Reich‹ gefunden. Sie war für das Regime unentbehrlich geworden und hatte sich zu einer für das Wanderungsgeschehen innerhalb Deutschlands zentralen Institution gewandelt. Die auf den Arbeitsmarkt zielenden staatlichen Steuerungsmechanismen, zu deren Auswirkungen die beschriebenen strukturellen Veränderungen der Binnenmigration zählten, waren bei Kriegsbeginn implementiert und erprobt. Das ›Dritte Reich‹ hatte sich damit alle notwendigen Mittel verschafft, die eigenen Bürger in Bezug auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft zu kontrollieren.102 Und so sorgte die reichsweite, sich partiell sogar auf den gesamten deutschen Machtbereich ausweitende, administrative Verteilung beziehungsweise Zuweisung von Arbeitskräften durch Dienstverpflichtung, überregionalen Ausgleich und Kontrolle des Arbeitsplatzwechsels auch während des Krieges für eine beträchtliche Arbeitsmigration von Reichsbürgern. Aufgrund der seit der Einführung des Arbeitsbuches möglichen und für die Wirtschaftsplanung grundlegenden ständigen statistischen Auswertungen des Geschehens auf dem Arbeitsmarkt lässt sich die Arbeitsmigration in diesem || 100 Vgl. Sager, Die Vermittlung österreichischer Arbeitskräfte ins Altreich, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5. 1938, S. 337f.; Syrup, Entwicklung des Arbeitseinsatzes, S. 394. 101 Vgl. Walter Salzmann, Der überbezirkliche Arbeitseinsatz, Teil 1, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5. 1938, S. 5–9, hier S. 6f.; ders., Der überbezirkliche Arbeitseinsatz, Teil 3, in: ebd., S. 51–56, hier S. 54f. 102 Vgl. Friedrich Syrup, Sicherung des Arbeitseinsatzes für Deutschlands wirtschaftliche Wehrkraft, in: Der Arbeitseinsatz, 3. 1939, S. 1062–1064.

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Zeitraum wesentlich genauer erfassen als zwischen 1933 und 1939.103 Sicher scheint, dass der Arbeitskräftebedarf der deutschen Kriegswirtschaft nicht nur eine Mobilisierung ausländischer Arbeitskräfte als Zwangs- und Zivilarbeiter in ungekannter Intensität bedingte, sondern auch die Wanderungsdynamik deutscher Arbeitskräfte innerhalb des deutschen Machtbereiches enorm steigerte. So verzeichneten die Statistiken der Arbeitsverwaltung etwa für den September 1941 bei rund 530.000 Stellenvermittlungen 43.279 Fälle, in denen Arbeitskräfte neue Arbeitsplätze antraten, die jenseits der Grenzen ihres Arbeitsamtsbezirks lagen. Etwa 15.000 dieser Stellenwechsler wanderten sogar über die Grenzen ihres Landesarbeitsamtsbezirks ab, was temporäre oder permanente Übersiedlung wahrscheinlicher macht als tägliches oder wöchentliches Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Im November 1942 lagen die entsprechenden Werte sogar bei 62.219 überregionalen Stellenwechseln, von denen 23.605 über den jeweiligen Landesarbeitsamtsbezirk hinaus griffen, in dem der Betroffene ursprünglich ansässig war.104 Diese von der Arbeitsverwaltung direkt beeinflusste intra- und interregionale Arbeitswanderung war eine Komponente der sich dramatisch beschleunigenden räumlichen Arbeitskräftemobilität. Insgesamt bewegten sich im Zuge eines Arbeitsplatzwechsels zwischen Oktober und Dezember 1942 rund 585.000 Personen von einem in einen anderen Landesarbeitsamtsbezirk oder kamen als Zivil- beziehungsweise Zwangsarbeiter aus dem Ausland nach Deutschland. Etwa 340.000 dieser Migrationsbewegungen bezogen sich auf Bewegungen innerhalb Deutschlands und erfolgten entweder freiwillig oder durch die Arbeitsverwaltung angeordnet. Die restlichen 245.000 Wanderungsvorgänge betrafen die grenzüberschreitende Arbeitsmigration.105 In der ersten Hälfte des Jahres 1943 dagegen wanderten 392.501 Deutsche im Zuge eines Arbeitsplatzwechsels in einen anderen Landesarbeitsamtsbezirk ab. Hinzu kamen rund 555.000 Wanderungsbewegungen ausländischer Arbeitskräfte. Etwa 100.000 von ihnen hatten sich bereits vorher in Deutschland befunden.106 In diesem Zeitraum kehrten zudem || 103 Eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Aspektes steht noch aus. Erste Hinweise können von den sehr ausführlichen Arbeitseinsatzstatistiken abgeleitet werden. Die folgenden Angaben verstehen sich als Schlaglichter, die einen Vergleich zu den Befunden aus der Vorkriegszeit andeuten sollen. Im Gegensatz zu den Statistiken der Arbeitsverwaltung aus der Vorkriegszeit enthalten die Auswertungen für die Kriegszeit Angaben, die Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen ›Arbeitseinsatz‹ sowie inter- und intraregionaler Migration zulassen. 104 Vgl. Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, Nr. 21, 1941, S. 5; Nr. 1/2, 1943, S. 11f. 105 Vgl. Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, Nr. 1/2, 1943, S. 21f. Bis 1943 unterschied die Migrationsstatistik nur nach Zuwanderung aus anderen Landesarbeitsamtsbezirken oder aus dem Ausland, nicht nach der Staatsangehörigkeit der Betroffenen. Ab 1943 wurde nach Deutschen und Ausländern differenziert erfasst. 106 Durchschnittlich wären das zwischen Oktober 1942 und Juni 1943 etwa 175.000 Wanderungsvorgänge monatlich, die zu rund 40 Prozent Deutsche und zu rund 60 Prozent Ausländer betrafen. Dabei verhielt sich die Mobilität der Inländer und Ausländer in der ersten Jahreshälfte 1943 umgekehrt proportional zueinander. Vom ersten zum zweiten Quartal sank die Neuzuwanderung auslän-

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knapp 10.000 deutsche Arbeitskräfte aus dem Ausland zurück, etwa 6.000 begaben sich ins Ausland. Dieser Befund gibt einen Hinweis auf die ebenfalls nicht unbeträchtliche Wanderungsbewegung deutscher Arbeitnehmer in die vom ›Dritten Reich‹ besetzten Teile Europas.107 Eine wichtige Komponente sowohl der internen als auch der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer während des Krieges bildeten die nach wie vor zahlreichen Dienstverpflichtungen, die allein im ersten Quartal des Jahres 1943 rund 126.000 Personen erfassten und damit bei Weitem das Niveau der Vorkriegszeit überstiegen.108 Diese Formen der kriegswirtschaftlich bedingten Binnen- beziehungsweise Außenwanderungen von deutschen Arbeitskräften war allerdings nur eine Spielart der durch den Krieg hervorgerufenen oder gesteigerten Mobilität beziehungsweise Wanderungsintensität innerhalb des deutschen Machtbereiches. Neben der Zwangsmigration ausländischer Arbeitskräfte oder Kriegsgefangener sah sich auch die deutsche Gesellschaft von neuen oder überformten Ausprägungen der Migration und ihrer Steuerung betroffen. Hierzu zählten zum einen die Mobilisierung von mehr als 18 Millionen Männern (und Frauen) in den bewaffneten Formationen des ›Dritten Reiches‹ und ihren Auxiliarorganisationen, die Entsendung von Personal für den weite Teile Europas umspannenden Besatzungsapparat, die Tausende deutscher Funktionäre und ihre Familien oft für mehrere Jahre ins besetzte Ausland führte, oder die Versorgung von Rüstungsbetrieben, die im (besetzten) Ausland lagen, mit deutschen Fach- und Führungskräften. Zum anderen gehörten dazu Wanderungsphänomene wie die Evakuierungen im Vorfeld des Krieges, die von der Raumplanung als Gelegenheit für die strukturelle Umgestaltung der dünn besiedelten Grenzgebiete im Westen des Reiches genutzt wurden, für die Raumplaner nun umfassende Abriss- und Umsiedlungspläne erstellten.109 Die Evakuierungen in der Endphase des Krieges mündeten dann, vor allem im Osten, in die Flüchtlingsbewegungen der Kriegsendphase und Nachkriegszeit. Schließlich lassen sich auch Phänomene wie die ›Kinderlandverschickung‹ und die Verlagerung der Bevölkerung von Städten, die in den Brennpunkten des Bombenkrieges lagen, zumindest partiell als kriegsbedingte und hochgradig gelenkte Wanderungsphänomene einstufen.110

|| discher Arbeitskräfte, die überregionale Mobilität der deutschen Arbeitskräfte dagegen verdoppelte sich nahezu. 107 Vgl. Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, Nr. 7, 1943, S. 19. 108 Vgl. ebd., Nr. 3/4, 1943, S. 47, 53; Nr. 5, 1943, S. 13. 109 Vgl. Mai, Wiederaufbau, S. 63f. 110 Vgl. Arnim Nolzen, Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft, in: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, hg.v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 2004, S. 95–194, hier S. 153f.; Ralf Blank, Kriegsalltag und Luftkrieg an der ›Heimatfront‹, in: ebd., S. 357–464, hier S. 439f. Allerdings hebt Katja Klee die mit den Evakuierungen einher gehenden ›wilden Wanderungen‹ hervor und betont damit die

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Addiert man diese vielfach noch unzureichend erforschten Formen von Mobilität und Migration, so wird deutlich, dass die deutsche Kriegsgesellschaft unter dem Druck der eigenen Kriegsanstrengungen und der unausweichlichen Niederlage ein hohes Mobilitätsniveau entwickelte, das auf der Grundlage der bereits vor der deutschen Aggression geschaffenen Lenkungsmechanismen in hohem Maß staatlich kontrolliert und gesteuert verlief.

3 Zusammenfassung Prägendes Leitmotiv der Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von staatlicher Wanderungslenkung und Kriegsvorbereitung in den sechs Friedensjahren des ›Dritten Reiches‹ ist die Einschränkung der individuellen Freizügigkeit. Sie zog sich durch alle Teilprozesse des Wanderungsgeschehens und kennzeichnete die grenzüberschreitende Emigration, die Remigration beziehungsweise Zuwanderung und die internationalen Arbeitsmarktbeziehungen ebenso wie die unterschiedlichen Formen der Binnenwanderung. Dabei verschoben sich die Schwerpunkte der staatlichen Wanderungslenkung vom politischen in den ökonomischen Bereich und gewannen zusehends an Intensität. Sie nahm ihren Anfang in der Phase der Machtsicherung sowie der Krisenbewältigung zum einen in der Beeinflussung der politischen und der jüdischen Emigration, zum anderen in der Außenabschottung des deutschen Arbeitsmarktes und der Bekämpfung der krisenbedingten Binnenmobilität. In den Jahren der forcierten Aufrüstung und Kriegsvorbereitung entwickelten sich die Beschaffung von Arbeitskräften und ihr zielkonformer Einsatz zum Schwerpunkt einer Migrationssteuerung, die in sinkendem Maß den Marktgesetzen folgte. Zum Grundgedanken der Wanderungslenkung geriet eine gezielte Mobilisierung von Arbeitskräften, die vielfach Formen temporärer oder permanenter Migration mit sich brachte. Zur Leitlinie erklärte das Regime den ›Arbeitseinsatz‹, zu dessen Realisierung die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als zentrale Institution immer weitreichendere Regelungskompetenzen erhielt. So ausgestattet steuerte und strukturierte sie sowohl grenzüberschreitende Arbeitsmigration als auch vergleichbare Formen der Binnenwanderung. Dabei ergänzten sich kurzfristige Ansätze – vor allem im Zuge der Arbeitsbeschaffung durch temporäre Migration – und langfristige Planungen, die sich im Bereich der Industrieverlagerung sowie der Siedlungspolitik konzentrierten. Hilfestellungen und Vorlagen für die mittel- und langfristige Wanderungsplanung des ›Dritten Reiches‹ lieferte vor

|| Agency der Migranten gegenüber dem Steuerungsanspruch der Verwaltung, vgl. Katja Klee, Im ›Luftschutzkeller des Reiches‹. Evakuierte in Bayern 1939–1953: Politik, soziale Lage, Erfahrungen, München 1999, S. 34.

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allem die ab 1935 ebenfalls institutionalisierte Raumplanung beziehungsweise -forschung. Bis Kriegsbeginn kaum realisiert, hätten die Raumordnungsvisionen dieser Provenienz im Falle ihrer Umsetzung staatlich gelenkte Bevölkerungsverschiebungen ungekannten Ausmaßes mit sich gebracht. Angefacht zunächst durch die Aufrüstung, dann durch die Kriegswirtschaft steigerte sich das Migrations- und Mobilitätsniveau der Deutschen jedoch auch ohne die volle Wirkung dieses Aspekts staatlicher Strukturplanung fortwährend. Die Mechanismen der Wanderungslenkung in den verschiedenen Bereichen des Migrationsgeschehens prägten sich zwischen 1933 und 1939 durchaus unterschiedlich aus. Deutschland orientierte seine internationalen Arbeitsmarktbeziehungen vor Kriegsbeginn an den international üblichen Standards, um sich auf einem internationalen Arbeitsmarkt zu behaupten. In diesem Handlungsfeld war das Reich bis 1939 nur ein Nachfrager beziehungsweise nur ein Wanderungsziel unter vielen. Die Entwicklung innerhalb des Reiches wies dagegen eine Reihe spezifischer Merkmale auf, die sie vom Migrationsgeschehen in anderen westeuropäischen Staaten unterschied. Neben normativen beziehungsweise verwaltungstechnischen Maßnahmen zur Steuerung der Binnenmobilität von Arbeitskräften schuf die Arbeitsverwaltung mit dem Arbeitsbuch und den entsprechenden Karteien ein flächendeckendes und individualisiertes Instrument zur Allokation der den Nationalsozialisten zur Verfügung stehenden menschlichen Arbeitskraft und damit nicht nur zur Kontrolle der Art, sondern auch des Ortes ihres Einsatzes. Im Krieg erwiesen sich die Möglichkeiten zur Wanderungslenkung, die sich der Staat verschafft hatte, zur Steuerung der Mobilität der eigenen Bevölkerung als ausreichend. Im Kontext des Einsatzes ausländischer Zivil- beziehungsweise Zwangsarbeiter pervertierte das ›Dritte Reich‹ die Verknüpfung von Arbeit und Migration jedoch zu einem menschenverachtenden Ausbeutungssystem. In diesem Licht kommt dem Ausbau der staatlichen Wanderungslenkung im Zeitraum zwischen 1933 und 1939 nicht nur große Bedeutung im direkten Zusammenhang mit den ökonomischen, politischen und ideologischen Zielen des ›Dritten Reiches‹ zu. Sie übernahm vielmehr auch eine wichtige Brückenfunktion zwischen der Wanderungspolitik der Weimarer Republik, die selbst bei der Ausländerbeschäftigung als dem bestkontrollierten Aspekt des Wanderungsgeschehens weit von einer lückenlosen Überwachung entfernt war, und dem durchorganisierten Steuerungsapparat, mit dem das ›Dritte Reich‹ die gewaltigen Wanderungsbewegungen, die sich während des Krieges im deutschen Machtbereich vollzogen, zu kontrollieren suchte. Die Fundamente dieses ebenso wahnwitzigen wie menschenverachtenden Kraftaktes bildete die Verdichtung staatlicher Wanderungslenkung in Deutschland vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Detlef Schmiechen-Ackermann

Rassismus, politische Verfolgung und Migration: Ausgrenzung und Austreibung ›unerwünschter‹ Gruppen aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1 Eine antagonistische Denkfigur als Grundlage: ›Volksgenossen‹ versus ›Gemeinschaftsfremde‹ Die Politik der Nationalsozialisten basierte auf der ideologisch geprägten Vorstellung einer abstammungsmäßig möglichst homogenen, leistungsfähigen und den politischen Prämissen des Regimes folgenden ›arischen‹ deutschen ›Volksgemeinschaft‹.1 Zu den Konsequenzen dieser aus dem konstruierten Kriterium der ›Rasse‹ abgeleiteten Politik gehörte die massenhafte Ausgrenzung und Austreibung all jener Menschen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen konnten oder nicht erfüllen wollten. Aus der zum handlungsleitenden Prinzip erhobenen Exklusionspraxis heraus entfaltete sich eine Dynamik, die durch immer neue kumulative Radikalisierungsschübe2 einerseits in umfangreiche politische Verfolgungen und andererseits in immer weiter ausgreifende rassistisch und sozial-biologisch motivierte ›Säuberungen‹ und schließlich in den Völkermord mündete. Die von der Vision einer kampf- und willensstarken, nach rassischen Kriterien möglichst homogenen ›Volksgemeinschaft‹ ausgehende Exklusionspraxis stellte die Basis dar, von der aus sich der Griff der Nationalsozialisten nach (nahezu) grenzenloser Macht in Europa und in der Welt3 entfaltete. || 1 Breite Überblicke zur Debatte um die Relevanz der Idee der ›Volksgemeinschaft‹ für Herrschaft und Alltag unter dem Nationalsozialismus geben: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neuere Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009; Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), ›Volksgemeinschaft‹: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ›Dritten Reich‹? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012. 2 Dieser Interpretationsansatz geht zurück auf Hans Mommsen. Exemplarisch entfaltet hat er diese Deutung z.B. in: Hans Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 67–101, hier S. 84–97; ders., Der Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: ebd., S. 405–427, hier S. 408–425. 3 Vgl. hierzu als eine die beiden Faktoren Rassismus und Krieg gleichermaßen betonende Gesamtinterpretation des ›Dritten Reiches‹: Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933– 1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt a.M. 1996.

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Da Ausgrenzung, Austreibung und ›Ausmerze‹ unerwünschter Gruppen der Bevölkerung das grundlegendste Instrument nationalsozialistischer Herrschaftspraxis darstellten, erscheint es durchaus berechtigt, zur Schärfung dieser zentralen Perspektive – und damit unter Inkaufnahme einer Vernachlässigung vieler anderer für die nationalsozialistische Herrschaft ebenfalls relevanter Faktoren4 – die Geschichte des NS-Staates als eine Geschichte von Inklusion und Exklusion zu schreiben. Als erster hat dies in pointierter Form Detlev Peukert getan, der 1982 als Titel für seine alltagsgeschichtliche Darstellung des ›Dritten Reiches‹5 konsequenter Weise das antagonistisch konstruierte Begriffspaar ›Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde‹ wählte. In einem 1987 gehaltenen Vortrag6 hat Peukert die Prämissen seiner Deutung der nationalsozialistischen Herrschaft weiter entfaltet und seine Folgerungen zugespitzt: Die durchgängige und für das NS-Regime charakteristische Praxis der Exklusion, und zwar bis hin zum Völkermord an den Juden, sei aus der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der Wissenschaft abgeleitet. Als wirkungsmächtige ideengeschichtliche Anknüpfungspunkte identifizierte Peukert erstens den anthropologischen Rassismus, zweitens die Eugenik (auch als ›eugenischer oder sozial-hygienischer Rassismus‹ bezeichnet) sowie drittens die in weiten Teilen der Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik immer stärker als handlungsleitendes Paradigma etablierte Theorie und Praxis des Kategorisierens der Bevölkerung nach einerseits »auszulesenden und zu fördernden ›wertvollen‹ Menschen« und andererseits »auszugrenzenden und auszumerzenden ›unwerten‹« Existenzen.7 Im Zusammenspiel mit den charakteristischen Merkmalen nationalsozialistischer Herrschaft – Eskalation des Terrors, Zerstörung von Rechtssicherheit und geregelter Bürokratie sowie einer sowohl aus den Mobilisierungserfolgen als auch aus dem Chaos rivalisierender Herrschaftsträger resultierenden und sich stetig verstärkenden ›Radikalisierungsdynamik‹ – sei aus der zunächst im Rahmen der politischen Propaganda formulierten Rassenideologie schließlich die Vernichtungspraxis des Holocaust erwachsen. Ein gemeinsamer Nenner aller rassistischen Konzepte in den Humanwissenschaften bestehe darin, »dass die Beurteilung und Behandlung von Menschen nach

|| 4 Als breit angelegte aktuelle Gesamtdarstellungen, die auf zahlreiche andere Faktoren und Dimensionen detaillierter eingehen: Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt a.M. 2000; Hans-Ulrich Thamer, Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002; Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, 4. Aufl. München 2007; Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 2007; Kurt Bauer, Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, Wien 2008. 5 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982. 6 Ders., Die Genesis der ›Endlösung‹ aus dem Geist der Wissenschaft, in: ders., Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 102–121. 7 Ebd., S. 103.

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deren ›Wert‹ differenziert« werde.8 Aufgrund der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erzielten massiven Erfolge in der naturwissenschaftlichen Medizin und der Sozialhygiene prägte sich ein immer stärker rationales und naturwissenschaftlich geprägtes Verhältnis zum Körper aus9 – der junge oder jung gebliebene Körper wurde damit zur Norm, Krankheit oder Behinderung hingegen zu einem immer weniger tolerierbaren Phänomen. Angesichts dieses ›Fortschritts‹ schien nicht nur eine Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit, sondern auch die Optimierung des ›Volkskörpers‹ machbar zu werden – mit fatalen Konsequenzen nicht nur in der rassistischen NS-Diktatur10, sondern auch in demokratischen Staaten. Auch in den Vereinigten Staaten, in den skandinavischen Ländern und in der Schweiz mündeten beispielsweise intensiv geführte Debatten über die Verbesserung des ›Volkskörpers‹ durch eugenische Maßnahmen in eine massenhafte Sterilisierungspraxis. In Schweden wurden zwischen 1935 und 1975 über 60.000 Personen sterilisiert, davon etwa 20.000 gegen ihren Willen.11 Zwar muss deutlich unterschieden werden zwischen einer als repressiv zu bewertenden Biopolitik im demokratischen Schweden und einem vollzogenen Massenmord in der NS-Diktatur. In beiden Fällen allerdings bildete der Glaube an die Machbarkeit eines optimierten ›Volkskörpers‹ eine Triebfeder für konkrete Politik – die im schwedischen Fall zu einem »totalen, aber nicht totalitären« (so Etzemüller) Zugriff auf die Gesellschaft, im deutschen Fall in den Behindertenmord mündete. Der Ermöglichungsrahmen einer sich immer weiter radikalisierenden Diktatur, die modernste technische Mittel und wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Ziele einzusetzen wusste, stellte eine notwendige Vorbedingung für den schrittweisen Übergang von der fortschrittsgläubigen ›Massenbeglückung‹ zur menschenverachtenden ›Massenvernichtung‹12 dar. »Angetreten, dem ›Volkskörper‹ das ewige Leben in rassischer Reinheit zu sichern«, vollendete sich der nationalsozialistische Rassismus schließlich »in der seriellen und immer weiter ausgreifenden Tötung alles dessen, was er als ›lebensunwert‹ definierte.«13 Von diesem Grundgedanken Peukerts geht der vorliegende Beitrag aus und bündelt unter dieser Prämisse die empirischen Befunde zu den verschiedenen Aspekten der Ausgrenzungs-, Austreibungs- und Vernichtungspraxis in Deutschland zwischen 1933 und 1945.

|| 8 Ebd., S. 105. 9 Ebd., S. 107–109. 10 Zur Überschneidung zwischen Eugenik-Diskurs und Rassismus: Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, Bonn 2007, S. 92–101. 11 Thomas Etzemüller, Total, aber nicht totalitär. Die schwedische ›Volksgemeinschaft‹, in: Bajohr/ Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft, S. 41–59, hier S. 55. Vgl. auch Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001, S. 482 und S. 523 (mit ähnlichen Zahlen). 12 Peukert, Genesis, S. 112–119. 13 Ebd., S. 116f.

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Zum Abschluss dieser einleitenden Bemerkungen ist ein klärendes Wort zur Verwendung der Begriffe ›Migration‹ und ›Zwangsmigration‹ von Nöten. Um einen breit angelegten Überblick entwickeln zu können, wird in diesem Beitrag von einem sehr weiten Arbeitsbegriff von ›Migration‹ ausgegangen, der eben nicht nur freiwillige Formen der Mobilität, sondern ebenso auch durch politischen Druck, systematische Ausgrenzungen, Vertreibungen und Gewaltmaßnahmen hervorgerufene Zwangsmigrationen sowie Deportationen in Ghettos und Lager umfasst. Das facettenreiche Phänomen dieser Zwangsmigrationen14 – definiert als Ortswechsel, die »durch eine Nötigung zur Abwanderung verursacht« waren und bei denen keine »realistischen Handlungsalternativen« zur Verfügung standen15 – steht im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung, wobei aber zur Einordnung in den umfassenderen Kontext der NS-Diktatur stets andere Dimensionen der Exklusionspolitik (wie Inhaftierung, Ermordung und Selbstmord) mitbedacht werden müssen. Da das Phänomen der Zwangsarbeit in Deutschland und die Arbeitsmigration in das Deutsche Reich in gesonderten Beiträgen behandelt werden, bleiben diese beiden Aspekte im Folgenden ausgeklammert.

2 Die nationalsozialistische Praxis der Exklusion aus der ›Volksgemeinschaft‹ Während die Ausschaltung und Verfolgung der politischen Gegner ein konstitutives Element der Formierungsphase16 der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte, stand die bis 1938 anzusetzende Konsolidierungsphase des Regimes vor allem im Zeichen einer immer virulenter und aggressiver werdenden Ausgrenzungspolitik gegen Juden sowie Sinti und Roma. Das Jahr 1938 stellte nicht nur auf dem Feld der Außenpolitik17, sondern auch im Hinblick auf die Exklusions- und Verfolgungsmaßnahmen eine markante Zäsur dar, nämlich den Übergang zur Radikalisierungsphase des ›Dritten Reiches‹. Schließlich mündete die Verfolgung der Juden und ›Zigeuner‹

|| 14 Als ganz knapp zusammenfassender Überblick zum Phänomen: Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013, S. 42–45. 15 Vgl. zur Definition des Begriffes ›Zwangsmigration‹: ders., Hintergründe und Erscheinungsformen von Migration: Der Raum Niedersachsen und das europäische Wanderungsgeschehen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 81. 2009, S. 1–30, Zitat S. 17; vgl. auch ders., Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 31. 16 Die hier zu Grunde gelegte grobe Einteilung in Phasen (und Zäsuren) des ›Dritten Reiches‹ folgt im Wesentlichen Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987. Danach lassen sich abgrenzen: die Formierungsphase (1933/34), die Konsolidierungsphase (1935–1938) und die Radikalisierungsphase (1938–1945). 17 Vgl. Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 218–235.

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im Laufe der Kriegsjahre in einen systematischen Völkermord. Zugleich gewannen seit 1938 die sozialbiologisch motivierten ›Säuberungs‹-Maßnahmen innerhalb der als arisch definierten ›Volksgemeinschaft‹ nun ebenfalls terroristische Qualität. Sie richteten sich gegen Behinderte ebenso wie gegen unangepasste Menschen (sogenannte ›Asoziale‹, ›Arbeitsscheue‹ und ›Gewohnheitsverbrecher‹), gegen homosexuelle Männer und lesbische Frauen sowie gegen die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, deren Mitglieder sich aus religiösen Gründen nonkonform verhielten. Das NS-Regime brachte in den Kriegsjahren die zentrale Handlungsleitlinie seiner Politik auf allen Gebieten zur vollen Geltung: die Ausgrenzung, Austreibung und schließlich auch ›Ausmerzung‹ aller derjenigen, die nicht in die nationalsozialistische Idealvorstellung einer nach rassistischen (aber keineswegs nach sozialen) Kriterien möglichst homogenen ›arischen‹, in hohem Maße leistungsbereiten und schließlich auch für die politischen Ziele des Regimes aufopferungswilligen ›Volksgemeinschaft‹ passen wollten. Dieser über die zwölfjährige Herrschaft der Nationalsozialisten sich stetig radikalisierende Ausgrenzungs- und Ausschließungsprozess begann bereits seit 1933 mit kleinen Schritten im Alltag und wurde nach und nach in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen intensiviert, auch wenn das erklärte Ziel, eine vollständige ›Gleichschaltung‹ aller Institutionen und Individuen zu erreichen und damit eine umfassende totalitäre Durchdringung der Gesellschaft18 zu realisieren, letztlich nicht erreicht wurde. Ein markantes Element der öffentlichkeitswirksamen ›Gleichschaltung‹ des öffentlichen Lebens unter der NS-Diktatur und gleichzeitig ein Konditionierungsvorgang, dem sich das einzelne Individuum nur unter großen Problemen entziehen konnte, war der Hitlergruß. Der US-amerikanische Kulturhistoriker Andrew S. Bergerson hat in seiner Untersuchung zur ›Machtergreifung‹ in Hildesheim herausgearbeitet, dass der Gebrauch des Hitlergrußes keineswegs als belanglose Alltagshandlung banalisiert werden darf, sondern dass diese Geste und dieser Sprechakt – gewollt oder ungewollt – de facto eine Anpassungshandlung war, durch den sich »gewöhnliche Durchschnittsmenschen in außergewöhnlichen Zeiten«19 politisch verorteten. Stellte der Hitlergruß in den Jahren der Weimarer Republik ein nur von den Anhängern der NS-Bewegung benutztes Signal dar, um innerhalb dieser Subkultur die ostentative Ablehnung der Republik zu demonstrieren, so

|| 18 Zur Intention, eine ›totale‹ oder ›totalitäre‹ Durchdringung aller Lebensbereiche anzustreben, zu den dabei angewandten Instrumenten und Mechanismen, aber letztlich auch zum Scheitern dieser umfassenden totalitären Herrschaftspraxis vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 14. Aufl. München 2011 (Orig.: The Origins of Totalitarianism, New York 1951). 19 Andrew S. Bergerson, Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi Revolution in Hildesheim, Bloomington, IN 2004.

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entwickelte er sich nach 1933 ganz allgemein zur »herrschende[n] Norm, die das Dritte Reich unterstützte«.20 Bergerson verweist exemplarisch auf den Bericht einer Zeitzeugin, die ihm schilderte, wie ihr den Nationalsozialisten keineswegs nahe stehender Vater ihr die 1933 aus seiner Sicht notwendige politische Umorientierung erklärt habe: »Er sagte, dass sie genau zuhören sollte, dass sich die Zeiten geändert hätten. Wenn ihr Heil Hitler gesagt würde, dann sollte sie kein dummes Gesicht machen, sondern es auch sagen.«21 Bergerson bringt die Konsequenzen dieser durchaus nachvollziehbaren alltägliche Handlungspraxis mit einer prägnanten Formel zusammen: »Weg mit den weichen Sitten der bürgerlichen Gesellschaft; her mit den starken Darstellungen der Volksgemeinschaft.«22 Besonders folgenschwer war, dass diese sich im nachbarschaftlichen Umgang entfaltende neue soziale Praxis23 nicht nur dazu diente, die ideologisch propagierte Gemeinschaft aller deutschen ›Volksgenossen‹ symbolisch zu betonen, sondern auch die als ›gemeinschaftsfremd‹ Diskriminierten und politisch Distanzierten aktiv auszugrenzen. Heide Gerstenberger hat mit Blick auf die zahlreichen ›bystander‹, die vor der Machtübertragung an Hitler weder Aktivisten noch dezidierte Gegner der NS-Bewegung gewesen waren, konstatiert, dass durch den Hitlergruß in gewisser Weise eine »Einheit von Opfer und Täter« geschaffen wurde, und zwar »in jenem Moment […], in welchem sie zum ersten Mal diese komische Geste mit ihrem Arm vollführten und dazu Heil Hitler sagten.«24 Ganz ähnlich argumentiert auch der US-amerikanische Kulturhistoriker Peter Fritzsche. Zwar mögen distanziert zum Regime stehende Menschen den ›deutschen Gruß‹ eher widerwillig erbracht oder gar nicht erwidert haben, dennoch sei es den Nationalsozialisten durch das Instrument dieser plakativen Zustimmungsbekundung gelungen, neue soziale und politische Räume wirkungsvoll zu besetzen. Immer mehr Deutsche hätten sich auf diese Weise sukzessive und mehr oder weniger freiwillig in das Ge-

|| 20 Ders., Die ›Machtergreifung‹ in Hildesheim 1933, in: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim, 77. 2005, S. 187–202, hier S. 191. 21 Ebd., S. 191. 22 Ebd., S. 190. 23 Mit Alf Lüdtke wird hier diktatorische Herrschaft als eine »soziale Praxis« verstanden, bei der die Machthaber und die Bevölkerung miteinander interagieren. Dieses komplexes Zusammenspiel von »Maßnahmen« des Regimes und »Mitmachen der Vielen« kann durch ein simples Top-DownModell totalitärer Herrschaft nicht abgebildet werden; siehe Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991; ders., Die Praxis von Herrschaft. Zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Brigitte Berlekamp/Werner Röhr (Hg.), Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, Münster 1995, S. 226–245. 24 Heide Gerstenberger, Alltagsforschung und Faschismustheorie, in: dies./Dorothea Schmidt (Hg.), Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, Münster 1987, S. 35–49, hier S. 41.

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meinschaftsideal der ›Volksgemeinschaft‹ eingeschrieben.25 Dieses – hier beispielhaft an der sozialen Praxis des Hitlergrußes betrachtete – alltägliche Mitwirken bei der Konstruktion der vom NS-Staat forcierten und instrumentalisierten spezifischen Gemeinschaftsvorstellung wirkte deshalb so fatal, weil die ubiquitär propagierte Idee der ›Volksgemeinschaft‹ eben nicht nur Zugehörigkeit definierte und Integration signalisieren konnte, sondern als andere Seite derselben Medaille den Ausschluss all jener manifestierte, die aufgrund rassistischer Kriterien, körperlicher Handicaps, sexueller Präferenzen, religiöser oder politischer Überzeugungen den Verhaltensanforderungen und Wertvorstellungen der Nationalsozialisten nicht entsprechen konnten oder wollten.

2.1 Politisches Exil und Vertreibung von unerwünschten Personen aus Wissenschaft, Kunst und Kultur als erste Welle von Zwangsmigrationen 2.1.1 Die Ausschaltung der politischen Opposition und das politische Exil im engeren Sinne Die Zwangsmigration von politischen Gegnern und Verfolgten des Nationalsozialismus setzte sofort nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Machtübertragung an Hitler ein. Die genaue Zahl der deutschsprachigen Emigranten, die zwischen 1933 und 1945 aus dem sogenannten Altreich, aus Österreich und den sukzessive unter nationalsozialistische Kontrolle geratenen europäischen Ländern flohen, ist nicht bekannt. Schätzungen schwanken zwischen knapp einer halben Million26 und über 600.00027 Personen. Einigkeit besteht darüber, dass der allergrößte Teil, möglicherweise über 90 Prozent der Emigranten Juden waren.28 Ein Teil der aus politischen Gründen Verfolgten musste befürchten, aufgrund der rassistischen Kriterien des NSStaates quasi einer doppelten – und häufig dann auch besonders terroristischen – || 25 Peter Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, Cambridge, MA/London 2009, S. 21–24, die zitierte Bewertung auf S. 23 (»how Germans more or less willingly adjusted themselves to the unitary ideal of the people´s community«). 26 Maria-Luise Kreuter, Emigration, in: Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 296–308, hier S. 296. Von »rund einer halben Million Vertriebener und Flüchtlinge« aus den deutschsprachigen Ländern geht auch Hartmut Mehringer, Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, 2. Aufl. München 1998, S. 123f., aus; Peter Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 854–860, spricht von »rund 500.000« Flüchtlingen (S. 854). 27 Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, S. 42f. 28 Vgl. zusammenfassend zur jüdischen Emigration und Verfolgung der Juden der nächste Abschnitt.

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Verfolgung anheim zu fallen. Die Gesamtzahl der deutschsprachigen Männer und Frauen, die zwischen 1933 und 1939 aufgrund ihrer aktiven politischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus emigriert sind, wird auf 25.000 bis 40.000 Personen geschätzt.29 Einen differenzierten Überblick mit umfangreichen Detailinformationen zu einzelnen Gruppen und Richtungen vermittelt das ›Handbuch der deutschsprachigen Emigration‹.30 Eine annähernde Vorstellung über die Zusammensetzung des politischen Exils bieten aber auch die Ende 1935 vom Hohen Flüchtlingskommissar des Völkerbundes verbreiteten Angaben: Demnach waren innerhalb von knapp drei Jahren 6.000–8.000 Kommunisten, 5.000–6.000 Sozialdemokraten sowie etwa 5.000 Oppositionelle anderer Richtungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtet.31 Die Massenflucht von ehemals für die Arbeiterparteien aktiven Funktionären sowie von Künstlern und Intellektuellen, die sich während der Weimarer Jahre in der Öffentlichkeit als politische Gegner des Nationalsozialismus exponiert hatten, bildete im ersten Halbjahr 1933 eine erste Welle der Emigration. Sie ist als Reaktion auf die diktatorische (Selbst-)Ermächtigung Hitlers und die Selbstentmachtung des Parlaments sowie das Einsetzen des nun aus einer politischen Machtposition heraus entfalteten nationalsozialistischen Terrors im Februar und März 1933 zu verstehen. Als am Abend des 27. Februar 1933 das Gebäude des Reichstags in Berlin durch ein Feuer schwer beschädigt wurde, erkannte Hitler sofort die sich ihm bietende politische Chance, unter Nutzung dieses Anlasses weitreichende Maßnahmen zur diktatorischen Herrschaftssicherung durchsetzen zu können. Nach der umgehend verbreiteten nationalsozialistischen Sprachregelung hatte es sich beim Reichstagsbrand um einen ›bolschewistischen Terrorakt‹ gehandelt, der als kommunistischer Aufstandsversuch zu interpretieren sei.32 Durch die am 28. Februar 1933 erlassene

|| 29 Mehringer, Widerstand, S. 124 (»rund 30.000«); Oltmer, Migration, S. 43 (25.000–30.000); Kreuter, Emigration, S. 296 (30.000–40.000); Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge, S. 856, spricht davon, dass »schätzungsweise 30.000 Menschen« aus politischen Gründen aus dem Deutschen Reich geflohen seien. 30 Claus-Dieter Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998. 31 Hier zitiert nach Werner Röder, Die politische Emigration, in: ebd., Sp. 16–30, hier Sp. 21; vgl. auch zum kommunistischen Widerstand: Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten, in: ebd., Sp. 493–506; zum sozialdemokratischen Spektrum: Hartmut Mehringer, Sozialdemokraten, in: ebd., Sp. 475–493; Jan Foitzik, Linke Kleingruppen, in: ebd., Sp. 506–519; Michael Schneider, Gewerkschafter, in: ebd., Sp. 543–551; Überblicke zu anderen Gruppen des Exils bieten: Heinz Hürten, Christen und Konservative, in: ebd., Sp. 551–561; Gerlinde Runge, Liberale, in: ebd., Sp. 561–570; Karl Holl, Pazifisten, in: ebd., Sp. 570–584. 32 Die Ursache des Brandes ist bis heute nicht endgültig geklärt; sie ist Gegenstand einer über Jahrzehnte anhaltenden Forschungskontroverse; vgl. hierzu Michael Kißener, Das Dritte Reich, Darmstadt 2005, S. 45–49. Instruktive knappe Zusammenfassungen zu den Ereignissen bei Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 76f.; Bauer, Nationalsozialismus, S. 199–201.

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›Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‹ wurden »wesentliche Grundrechte der Verfassung wie Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Postund Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht sowie die Gewährleistung des Eigentums außer Kraft gesetzt.«33 Mit einem Schlage hatte Hitler durch diese auch als ›Reichstagsbrand-Verordnung‹ bezeichnete Sondervollmacht formal betrachtet auf legalem Wege die Machtmittel in die Hand bekommen34, um alle politischen Gegner beliebig zu kontrollieren und auszuschalten und damit sehr effektiv seinen diktatorischen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Aufgrund dieser Verordnung konnten nun Hochverrat, Brandstiftung und Anschläge mit dem Tode bestraft werden. Besonders schwer wog zudem, dass die Polizeibehörden politische Gegner ohne Anklage und Beweise in eine juristisch nicht überprüfbare ›Schutzhaft‹ nehmen konnten. Da sie die Polizei bereits kontrollierten, nutzten die nationalsozialistischen Machthaber sofort ihre neuen Handlungsspielräume. Nach bereits vorbereiteten Listen wurden in der Nacht vom 27. zum 28. Februar die ersten Verhaftungen vorgenommen. Bis Mitte März 1933 wurden allein in Preußen rund 10.000 Personen, vor allem Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten und andere politische Gegner, in ›Schutzhaft‹ genommen. Der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel charakterisierte diesen Vorgang sehr treffend: »Die Verfassung des Dritten Reiches ist der Belagerungszustand. Seine Verfassungsurkunde ist die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933.«35 Mit der Verabschiedung des ›Ermächtigungsgesetzes‹ (eigentlich: ›Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich‹) machte sich der nun in der Berliner Krolloper tagende Reichstag selbst überflüssig.36 Von jeglichen demokratischen und verfassungsmäßigen Kontrollmechanismen befreit konnte die NS-Führung nun daran gehen, ihre ›maßnahmenstaatliche‹37 Herrschaftspraxis voll zu entfalten. Diese formalen Schritte zu einer umfassenden Eroberung der politischen Gestaltungsmacht wurden wirkungsvoll erweitert durch unmittelbare Gewaltanwendung gegen politische Gegner. Dabei ergänzten sich die an die Schaltstellen der Macht – dies hieß vor allem: auf leitende Posten im Bereich der Polizei – gelangten NSDAP-

|| 33 Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 76. 34 Vgl. Thomas Raithel/Irene Strenge, Die Reichstagsbrandverordnung. Grundlegung der Diktatur mit den Instrumenten des Weimarer Ausnahmezustandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 48. 2000, S. 413–460. 35 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, Frankfurt a.M. 1974, S. 26. 36 Zu diesem Gesetz, seiner Vorgeschichte und seinen Folgen (Verhandlungen mit den ›bürgerlichen‹ Parteien, ›Tag von Potsdam‹, ›Gleichschaltung‹) vgl. Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 77–79 und 83f.; Bauer, Nationalsozialismus, S. 204–209. 37 Zum Konzept des nationalsozialistischen »Doppelstaates«, bei dem »maßnahmenstaatliches« Handeln alle tradierten »normenstaatlichen« Regelungen immer weiter aushöhlt und überformt vgl. Fraenkel, Der Doppelstaat.

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Politiker sehr funktional mit den SA- und SS-Aktivisten an der Basis, die nun in die Lage versetzt wurden, Furcht und Schrecken quasi als offizielle Ordnungsmacht zu verbreiten. Exponierte politische Gegner wurden eingeschüchtert, an den Pranger gestellt und gequält. Das Begleichen ›offener Rechnungen‹ mündete in einer Vielzahl von Fällen in der Ermordung von politisch Andersdenkenden.38 Während der vor Ort ausgeübte ›wilde Terror‹ der SA vielfach auf lokaler Selbstermächtigung und nicht zwingend auf Befehlen übergeordneter Dienststellen beruhte, wurde mit der in Preußen am 22. Februar 1933 hauptsächlich aus SS-, SA- und StahlhelmAngehörigen gebildeten ›Hilfspolizei‹ sehr schnell auch ein flexibel einsetzbares und gezielt steuerbares Verfolgungsinstrument geschaffen. Massenrazzien auf den Straßen, in den Mietshäusern der Arbeiterviertel und in Kleingartenkolonien dienten nicht nur dem Aufspüren von gesuchten Regimegegnern, sondern sollten zugleich auch die symbolische Besetzung des sozialen Geländes und die Kontrolle des öffentlichen Raumes durch die Nationalsozialisten unterstreichen.39 Vor allem in den Großstädten verbreiteten diese ›Durchkämmaktionen‹ und der hasserfüllte ›wilde Terror‹ der SA in den Wochen und Monaten nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Angst und Schrecken, bis etwa ab Sommer 1933 zunehmend die bürokratisch geregelte und organisierte Verfolgung politischer Gegner auf der Basis systematischer Polizeiarbeit in den Mittelpunkt der Verfolgungspraxis rückte. Etliche sozialdemokratische Mandatsträger waren bereits im Zuge der lokalen ›Machtergreifung‹ nicht nur gewaltsam aus den ihnen rechtmäßig übertragenen Ämtern gedrängt, sondern in der Öffentlichkeit gedemütigt worden, indem sie zum Beispiel durch die Straßen der Stadt getrieben und verprügelt worden waren.40 Die bevorzugten Zielgebiete der ersten großen Welle des politischen Exils befanden sich zunächst in unmittelbarer Nachbarschaft des Deutschen Reiches. Es handelte sich vor allem um das Saargebiet, Frankreich, die Niederlande und Belgien, Dänemark, die Tschechoslowakei sowie Österreich und die Schweiz. Durch die Ausdehnung des nationalsozialistischen Machtbereiches verschoben sich in den folgenden Jahren immer wieder die Zentren der Emigration: Hatte sie sich Mitte der 1930er Jahre vor allem sehr stark auf Prag und Paris sowie den noch republikanisch

|| 38 Als prägnantes regionales Beispiel für exzessiven SA-Terror und ›wilde Konzentrationslager‹: KZ Kemna 1933–1934. Eine Quellendokumentation, hg.v. Stadtarchiv Wuppertal, Wuppertal 1984. Als zeitnahes Dokument: Karl Ibach, Kemna. Wuppertaler Konzentrationslager 1933–1934, Wuppertal 1984 (Erstausgabe 1948). 39 Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998, S. 403–421. 40 Gut dokumentiert ist als Fallbeispiel das Schicksal des Bürgermeisters von Berlin-Kreuzberg, Carl Herz. Vgl. Christine Roik-Bogner, Sozialdemokrat und Jude – Carl Herz, Bürgermeister von Kreuzberg 1926–1933, in: Fundstücke… Fragmente… Erinnerungen… Juden in Kreuzberg, hg.v.d. Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1991, S. 371–380.

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kontrollierten Teil des im Bürgerkrieg befindlichen Spanien konzentriert, so verlagerten sich die Schwerpunkte während des Krieges vor allem nach Großbritannien, in die USA und nach Schweden sowie, für einen erheblichen Teil des kommunistischen Exils, in die Sowjetunion.41 In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft führte die Enttarnung und Zerschlagung zahlreicher illegaler Widerstandsgruppen entweder zur Verhaftung ihrer Mitglieder oder zur gerade noch rechtzeitigen Flucht ins Ausland. Auf diese Weise erhielt das politische Exil vor allem bis Mitte der 1930er Jahre und etwas abgeschwächter noch bis 1937 stetigen Zuwachs. Quantitativ betrachtet erfolgte die erzwungene Austreibung politischer Gegner ins Exil in mehreren größeren Schüben, die jeweils als Reaktionen auf neu eingetretene Entwicklungen zu verstehen sind: Der zweite Schub der deutschsprachigen Emigration setzte nach den ›Februarkämpfen‹ 1934 in Österreich ein, die ausgelöst wurden, als sich der Republikanische Schutzbund als paramilitärische Organisation der Sozialdemokratie gegen seine Entwaffnung durch das autoritäre Dollfuß-Regime wehrte. Als Ergebnis des Februaraufstandes wurden neun prominente Schutzbündler nach Standgerichtsverfahren hingerichtet, über 200 sozialdemokratische Aktivisten in den Kämpfen getötet und mehrere Hundert in den bereits für politische Gegner eingerichteten ›Anhaltelagern‹ festgesetzt. Die Sozialdemokratie wurde in Österreich verboten, der austrofaschistische Ständestaat konnte sich nach der Zerschlagung der Arbeiteropposition für die Dauer von vier weiteren Jahren etablieren. Die sozialdemokratische Parteileitung um Otto Bauer und Julius Deutsch flüchtete nach Prag, wo die Organisation ›Revolutionäre Sozialisten Österreichs‹ (RSÖ) als Widerstandsorganisation im Exil gegründet wurde. Mehrere tausend Aktivisten der Arbeiterparteien, der Gewerkschaften und der proletarischen Vorfeldorganisationen in Österreich gingen ebenfalls ins Exil, und zwar vornehmlich in die Tschechoslowakei.42 Den dritten Schwung der politischen Emigration bildeten rund 4.000 ›Saarflüchtlinge‹ nach der vom Völkerbund am 13. Januar 1935 im Saargebiet durchgeführten Volksabstimmung, bei der über 90 Prozent der gültigen Stimmen für eine Rückgliederung an das Deutsche Reich abgegeben wurden. In vielen Fällen handelte es sich um Aktivisten der Arbeiterbewegung, die 1933 zunächst aus Deutschland in das damals unter der Verwaltung des Völkerbundes stehende Saargebiet geflohen waren und nun ein zweites Mal ins Exil getrieben wurden. Die große Mehrheit dieser politischen Flüchtlinge wandte sich in das benachbarte Frankreich. Die nächsten größeren Wellen der politischen Emigration erfolgten als Reaktion auf den || 41 Vgl. Roeder, Die politische Emigration, Sp. 23, der von folgender Verteilung der politischen Emigration auf europäische Aufenthaltsländer ausgeht: Frankreich (1936) 9.000 Personen, Bürgerkriegs-Spanien (1937) 7.000, Großbritannien (1940) 5.000, Sowjetunion (1941) 3.000, Tschechoslowakei (1936) 1.500, das Saargebiet (1934) 1.500, Schweden (1943) 1.500, die Schweiz (1937) 300 Personen. Alle Zahlen ohne Transitaufenthalte. 42 Mehringer, Widerstand, S. 125.

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im März 1938 erfolgten ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich und die Besetzung des Sudetengebietes im Oktober desselben Jahres. Aus Österreich mussten nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nun auch Exponenten des österreichischen Ständestaates fliehen. Die politische Emigration aus dem Sudetenland setzte sich mehrheitlich aus Sozialdemokraten (ca. 4.000–5.000) sowie aus rund 1.500 Kommunisten zusammen. Die beiden letzten Schübe der politischen Emigration43 wurden als Reaktion auf die Besetzung der beiden bis dahin wichtigsten Aufnahmeländer des politischen Exils ausgelöst: Als im März 1939 die Besetzung der ›Rest-Tschechei‹ erfolgte, bildete für noch etwa ein Jahr Frankreich (und speziell Paris) das wichtigste Refugium der deutschsprachigen politischen Emigration in Europa. Nach der Kapitulation und der Besetzung Frankreichs flüchteten die meisten Angehörigen des politischen Exils weiter nach Großbritannien, in die USA und nach Schweden, zahlreiche Kommunisten auch in die Sowjetunion.44 Insgesamt stellte die Arbeiterbewegung (SPD, KPD, Splitterparteien, Gewerkschaften und proletarische Vorfeldorganisationen) zweifellos den Löwenanteil der politischen Emigration, zu der allerdings auch Angehörige ganz unterschiedlicher politischer Richtungen und Gruppen gehörten: So flohen – in jeweils weitaus kleinerer Zahl – auch Liberale45, Monarchisten, Nationalkonservative, ChristlichSoziale, Bündische, Nationalrevolutionäre bis hin zu einigen von Hitlers politischem Kurs abgewichenen vormaligen Mitglieder der NSDAP (prominenteste Fälle waren Otto Strasser und Ernst Hanfstaengl) aus dem ›Dritten Reich‹. Mit Heinrich Brüning, Joseph Wirth, Gottfried Reinhold Treviranus, Erich Koch-Weser und Hermann Rauschning zogen es auch einige prominente Vertreter ›bürgerlicher Politik‹ vor, außer Landes zu gehen.46

2.1.2 Der Exodus aus Kunst und Kultur Ähnlich wie für das politische Exil im engeren Sinne, das Funktionäre und Aktivisten politischer Gruppen umfasste, ist auch für den Exodus aus Kunst und Kultur47 festzuhalten, dass in zahlreichen Fällen eine Überschneidung der intellektuellen Gegnerschaft zum Regime mit der realistischen Erwartung, auch aus rassischen

|| 43 Zur chronologischen Aufgliederung in mehrere ›Fluchtwellen‹ vgl. auch Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge, S. 855f. 44 Zur Entwicklung der Emigration in mehreren Schüben vgl. Röder, Die politische Emigration, Sp. 16–24; Mehringer, Widerstand, S. 123–128. 45 Hierzu als Überblick: Horst R. Sassin, Widerstand, Verfolgung und Emigration Liberaler 1933– 1945, Bonn 1983. 46 Als knapper Überblick über diese Gruppen: Mehringer, Widerstand, S. 107–128 und 140–166. 47 Als Überblick: Horst Möller, Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler der Emigration nach 1933, München 1984.

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Gründen verfolgt zu werden, vorlag. Das Spektrum des literarischen und künstlerischen Exils ist sehr vielfältig und umfasste insgesamt über 8.000 Personen.48 Seine Spannbreite kann an dieser Stelle nur schlaglichtartig durch das Herausgreifen einiger ausgewählter Tätigkeitsbereiche und prominenter Persönlichkeiten angedeutet werden. Besonders groß war die Zahl der mit dem Medium Film arbeitenden Künstlerinnen und Künstler, die in die Emigration gingen. Namhafte Regisseure (wie Fritz Lang, Otto Preminger, Robert Siodmak oder Billy Wilder), wichtige Produzenten (wie Erich Pommer, der ehemalige Produktionschef der UFA), bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler (wie Lilian Harvey, Fritz Kortner, Peter Lorre und Lilli Palmer) verließen – und zwar in den meisten Fällen bereits 1933 – das nationalsozialistische Deutschland. Aber auch zahlreiche Drehbuchautoren, Komponisten, Kameraleute, Cutter, Tontechniker, Filmarchitekten, Regie- und Produktionsassistenten, Agenten, Filmkaufleute, Verleiher und Kinobesitzer kehrten dem ›Dritten Reich‹ den Rücken. Allein diese vielfältige ›Filmemigration‹ soll insgesamt rund 2.000 Personen umfasst haben.49 Zunächst gingen die hochqualifizierten Spezialisten überall dorthin, wo sie sich Hoffnungen machen konnten, ihre beruflichen Karrieren erfolgreich weiter zu verfolgen. Insbesondere Paris, Budapest, London, Amsterdam, Moskau und Rom boten sich unter diesem Blickwinkel als Exilorte an. Aufgrund der fortschreitenden Ausdehnung des nationalsozialistischen Macht- und Einflussbereiches und der sich gleichzeitig in den USA bietenden beruflichen Chancen entwickelte sich im Laufe der Jahre dann allerdings immer stärker Hollywood zum »zentrale[n] Fluchtpunkt der Filmemigration«.50 Ein besonderes Merkmal dieser speziellen Gruppe des künstlerischen Exils ist, dass sie geradezu als Teil der jüdischen Emigration angesehen werden kann, denn in deutlichem Kontrast zu einigen anderen Bereichen von Kunst und Kultur emigrierten nur sehr wenige nicht-

|| 48 Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge, S. 858, spricht von »über 10.000« Flüchtlingen aus den Bereichen Literatur, Presse, Kunst und Wissenschaft. Den Umfang der wissenschaftlichen Emigration beziffert er dabei auf rund 2.000 Personen (S. 859), woraus sich ergibt, dass die Gesamtzahl der Emigranten aus den Bereichen Kunst, Kultur und Presse bei über 8.000 gelegen haben müsste. Zur Aufgliederung des beruflichen Spektrums vgl. die zahlreichen Beiträge zu einzelnen Berufsgruppen in Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration. Als Überblick: Mitchell G. Ash/Alfons Söllner (Hg.), Forced Migration and Scientific Change. Emigré GermanSpeaking Scientists and Scholars after 1933, Cambridge 1996. Im größeren Epochenkontext: Wolfgang Benz, Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert, München 2001. 49 Helmut G. Asper, Film, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 957–970. Bei dieser und den im Folgenden genannten Zahlen für einzelne Berufssparten ist in Rechnung zu stellen, dass etliche Personen in mehreren Metiers tätig waren, es also zwangsläufig zu Doppelnennungen kommt. 50 Asper, Film, Sp. 959.

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jüdische Filmkünstler aus dem nationalsozialistischen Deutschland.51 Im Ergebnis aber gilt: Von dem nachhaltigen, durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ausgelösten »Exodus der Filmkünstlerelite hat sich der deutsche Film nie wieder erholt«.52 Ähnlich gravierend stellte sich der künstlerische Aderlass für den Bereich des Theaters, der Literatur und der Publizistik dar. Bekannte Regisseure wie Erwin Piscator und Max Reinhardt verließen den Machtbereich der Nationalsozialisten ebenso wie zahlreiche auf den Theaterbühnen tätige Schauspielerinnen und Schauspieler (etwa Ernst Busch, Ernst Deutsch, Tilla Durieux, Therese Giehse, Fritz Kortner, Wolfgang Langhoff, Lotte Lenya oder Helene Weigel). Die einschlägige Spezialforschung schätzt die Zahl der von den Nationalsozialisten »ins Exil getriebenen« deutschsprachigen »Theaterpraktiker« auf rund 4.000.53 Enorm war der kulturelle Aderlass auch auf dem Gebiet der Literatur und Publizistik sowie des Journalismus (mit insgesamt rund 2.500 Personen).54 Besonders gravierend wirkte sich dieser Exodus auch deshalb aus, da er die meisten führenden Vertreter der schreibenden Zunft umfasste. Beispielhaft seien hier nur die Schriftsteller Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Klaus und Erika Mann, Anna Seghers, Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig genannt. Zu besonderen Symbolfiguren der literarischen Emigration avancierten Heinrich und Thomas Mann – der erste mit bewusst sozialistischem, der letztere mit betont bildungsbürgerlichem Akzent. Beide entfalteten auf ihre jeweils spezifische Weise eine besondere Wirksamkeit als herausragende Köpfe des intellektuellen Exils: Heinrich Mann im französischen Exil (1933– 1940) mit seiner Werbung für die Volksfrontpolitik, Thomas Mann insbesondere mit seinen während der Kriegsjahre in den USA aufgenommenen und von der BBC auch nach Deutschland ausgestrahlten Rundfunksendungen unter dem Titel ›Deutsche Hörer!‹. Die Emigrationsbewegung aus anderen Bereichen des Kulturlebens fiel gegenüber den großen Bereichen Film, Theater, Literatur und Publizistik zwar zahlenmäßig geringer aus, markierte aber gleichwohl auf allen Feldern empfindliche Verluste an künstlerischer Schaffenskraft und Intellektualität. So ist auch das Spektrum der || 51 Zur vorherrschenden Anpassungstendenz unter den nichtjüdischen Filmschaffenden vgl. auch Felix Moeller, »Ich bin Künstler und sonst nichts«. Filmstars im Propagandaeinsatz, in: Hans Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M./Leipzig 2004, S. 135–175. 52 Ebd. 53 Siehe Uwe Naumann, Theater, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 1112–1122, hier Sp. 1112. Er beruft sich dabei auf eine Einschätzung von Jan Hans, Exiltheater, in: Manfred Brauneck/Gérard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon. Begriffe und Epochen., Bühnen und Ensembles, Reinbek 1986, S. 316. 54 Ein knapper Überblick und diese Zahlenangabe bei: Alexander Stephan, Die intellektuelle, literarische und künstlerische Emigration, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 30–46.

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ins Exil getriebenen bildenden Künstler breit und vielgestaltig.55 Die Bandbreite reicht von explizit politisch engagierten Künstlern (wie John Heartfield und George Grosz) über Vertreter der Moderne, die aus Lehrämtern ebenso wie aus den Museen verdrängt und als ›entartet‹ diffamiert wurden56 (besonders prominente Beispiele sind Max Beckmann, Lyonel Feininger, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka) bis zu den wegen ihrer jüdischen Abstammung Verfolgten. Als prominentes Beispiel für diese letzte Gruppe kann Felix Nussbaum stehen, der zunächst erfolgreich nach Italien und Belgien emigriert war, bevor er nach der deutschen Besetzung durch belgische Behörden in Brüssel verhaftet und interniert wurde. Nachdem es ihm gelungen war, aus dem Internierungslager zu fliehen und zu seiner Frau nach Brüssel zurückzukehren, wurde das Ehepaar dort denunziert und von der SS nach Auschwitz deportiert, wo es im Sommer 1944 ermordet wurde.57 Auch auf den Gebieten der Musik58 (unter anderem Ernst Busch, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Otto Klemperer, Arnold Schönberg, Robert Stolz und Kurt Weill), des Tanzes (man schätzt auch für diesen relativ überschaubaren Bereich immerhin eine Zahl von etwa 120 Exilierten59), der Fotografie60 und der Architektur61 (etwa Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Bruno Taut) verlor Deutschland viele seiner kreativsten Köpfe. Für den sich erst seit den 1920er-Jahren etablierenden und seit Sommer 1932 de facto verstaatlichten Rundfunk ist zu konstatieren, dass sowohl die Zahl

|| 55 Als Überblick: Jutta Held, Bildende Kunst, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 931–941; vgl. auch Werner Haftmann, Verfemte Kunst. Bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 1986. 56 Vgl. Klaus-Peter Schuster, Nationalsozialismus und ›Entartete Kunst‹. Die ›Kunststadt‹ München 1937, 5. Aufl. Darmstadt 1998; ›Entartete Kunst‹. Das Schicksal der Avantgarde in Nazi-Deutschland, München 1992. 57 Eva Berger u.a., Felix Nussbaum. Verfemte Kunst, Exilkunst, Widerstandskunst. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Kulturgeschichtlichen Museum in Osnabrück, 4. Aufl. Bramsche 2007; Peter Junk/Wendelin Zimmer, Felix Nussbaum. Die Biografie. Ortswechsel, Fluchtpunkte, Bramsche 2009. 58 Hanns-Werner Heister, Musik, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 1032–1049, beziffert in seiner offensichtlich sehr groben Schätzung die Zahl der ins Exil gegangenen Komponisten, Interpreten, Dirigenten, Musikpädagogen usw. auf »wohl 4.000« (Sp. 1033) und liegt damit sehr hoch – im Biographischen Handbuch der deutschen Emigration, hg.v. Institut für Zeitgeschichte, München 1999 sind jedenfalls nur knapp 500 Musikerinnen und Musiker verzeichnet. 59 Stephan, Emigration, Sp. 31. Die Zahl der aufgrund des Berufsbeamten-Gesetzes entlassenen Tänzer soll 132 betragen haben. In den offiziellen Statistiken waren seinerzeit 5.122 Tänzer registriert, was bedeutet, dass weniger als 3% von den Ausgrenzungsmaßnahmen betroffen waren; siehe Laure Guilbert-Deguine, Tanz, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 1103–1112, die Zahlenangaben in Sp. 1104. 60 Den auf diesem Gebiet noch recht defizitären Forschungsstand fasst zusammen: Irme Schaber, Fotografie, in: ebd., Sp. 970–983. 61 Vgl. Bernd Nicolai, Architektur, in: ebd., Sp. 691–704.

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der aus diesem staatsnahen Tätigkeitsbereich Vertriebenen als auch der Personenkreis, der sich vom Exil aus an Rundfunkprogrammen beteiligte, die sich als Teil der psychologischen Kriegsführung direkt an deutsche Hörer wandten, jeweils auf etwa 600 zu beziffern ist.62 Zugleich stellte der Rundfunk-Sektor im nationalsozialistischen Deutschland nach den zügig durchgeführten Säuberungsmaßnahmen63 den vermutlich am stärksten ›gleichgeschalteten‹ Bereich der deutschen (Unterhaltungs-)Kultur dar. Die bevorzugten Zielländer der Kulturemigration waren dieselben wie die des (partei-)politischen Exils im engeren Sinne. In der Vorkriegszeit boten vor allem die Tschechoslowakei und Frankreich relativ gute Arbeits- und Lebensbedingungen sowie politische Handlungsspielräume. Prag stellte für einige Jahre das wichtigste Zentrum der deutschsprachigen Exilpresse dar.64 Im Zeichen der Volksfront-Politik begegnete man den zahlreichen deutschen Emigranten im Paris65 der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und den von ihnen entfalteten antifaschistischen Aktivitäten ebenfalls sehr wohlgesinnt. Als weitere west-, mittel und nordeuropäische Zielländer erlangten Großbritannien, die Schweiz, die Niederlande und Dänemark eine nachgeordnete Bedeutung. Auch in den USA, speziell in New York und in Los Angeles, entstanden Zentren der deutschsprachigen Emigration.66 Die Sowjetunion stellte für kommunistisch eingestellte Künstler und Kulturschaffende eine Option dar. Tatsächlich haben dort zahlreiche Exilanten Asyl und anfangs auch gute Arbeitsbedingungen gefunden, in vielen Fällen aber später auch einen hohen Preis gezahlt: Im Zeichen des Hitler-Stalin-Paktes wurde die antifaschistische Arbeit der deutschsprachigen Emigranten ab 1941 »stillgelegt«; die künstlerischen Freiräume waren durch die offizielle Doktrin des ›Sozialistischen Realismus‹ ohnehin begrenzt.67 Überdies fielen nicht wenige Vertreter des künstlerischen (ebenso wie des politischen) Exils im Zuge der stalinistischen Verfolgung nun einer zweiten Verfolgung unter anderen politischen Vorzeichen anheim. Abschließend sei noch auf ein in diversen Bereichen zu beobachtendes, aber durchaus auch kontrovers diskutiertes Phänomen verwiesen: Eine ganze Reihe von nichtjüdischen Künstlern und Schriftstellern, die das ›Dritte Reich‹ nicht verlassen hatten, zog sich während der Jahre der national-

|| 62 Stephan, Emigration, Sp. 31; Conrad Pütter, Rundfunk, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 1087–1103. 63 Zum ›Rundfunkprozess‹ vgl. Joseph Wulf, Kultur im Dritten Reich, Bd. 1: Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M./Berlin 1989. 64 Vgl. hierzu Peter Becher/Peter Heumos (Hg.), Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei, München 1992. 65 Vgl. Anne Saint Sauveur-Henn (Hg.), Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933– 1940, Berlin 2002. 66 Stephan, Emigration, Sp. 34f. In geringerem Maße entwickelten sich auch einige lateinamerikanische Länder (wie Mexiko, Brasilien, Argentinien und Chile) zu überseeischen Aufnahmeländern. 67 Stephan, Emigration, Sp. 34.

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sozialistischen Herrschaft weitgehend aus dem öffentlichen Leben in politisch unverdächtige Sujets zurück und nahm – insbesondere nach 1945 – für sich in Anspruch, gleichsam in eine ›innere Emigration‹ gegangen zu sein.68

2.1.3 Die Emigrationsbewegung im Bereich der Wissenschaften Ähnlich wie in Kunst und Kultur stellte sich die Situation auch in den Wissenschaften dar. Der intellektuelle Aderlass war spürbar bis katastrophal, wobei allerdings die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich stark vom Exodus betroffen waren.69 Die Schätzungen zum Gesamtumfang des Phänomens variieren zwischen 2.00070 und »nahezu 3.000 Gelehrten«71, die das ›Dritte Reich‹ verlassen haben sollen. Anders ausgedrückt: Die Wissenschaften im deutschsprachigen Raum dürften 1933 und in den Folgejahren demnach durchschnittlich bis zu einem Drittel ihres Personals verloren haben. Bei der knappen Hälfte dieser Personengruppe (1.100–1.500 Personen) handelte es sich um Professoren, sodass etwa 15 Prozent aller Hochschullehrer vertrieben wurden oder aus eigenem Entschluss den Machtbereich Hitlers verlassen haben.72 Mindestens 24 Nobelpreisträger emigrierten.73 Wichtigstes Instrument des NS-Regimes, um den gesamten öffentlichen Dienst in seinem Sinne zu ›säubern‹ und gesellschaftspolitisch ›gleichzuschalten‹, war das ›Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ vom 7. April 1933. Dabei ging es nicht nur, wie die Bezeichnung suggeriert, um Entlassungen von missliebigen Beamten. Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst waren ebenfalls betroffen. Zudem galt das Gesetz auch für Körperschaften des öffentlichen Rechts und strahlte schließlich auch auf alle Berufsfelder mit öffentlichem Wirkungskreis (Juristen, Notare, Ärzte usw.) sowie auf Wirtschaftsverbände und zahlreiche private Unternehmen aus. Durch das ›Berufsbeamtengesetz‹ konnten alle Personen aus ihren Stellungen im öffentlichen Dienst verdrängt werden, die entweder ›nicht arischer

|| 68 Vgl. Beate Marks-Hanßen, Innere Emigration? ›Verfemte‹ Künstlerinnen und Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2006. 69 Als Überblick: Herbert A. Strauss (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien, München 1991. 70 So die vergleichsweise geringe Schätzung von Peter Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge, S. 859. 71 Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Emigration, Sp. 681–690 (Kapitel Wissenschaftsemigration. Einleitung), hier Sp. 681. 72 Strauss, Emigration, S. 10. Von einer deutlich höheren Quote geht Möller, Exodus, S. 40, aus, der annimmt, dass rund ein Drittel der hauptamtlichen deutschen Hochschullehrer ihres Amtes enthoben wurden. 73 Eine Aufstellung bei Möller, Exodus, S. 70.

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Abstammung‹ waren74 oder als politisch unzuverlässig eingestuft wurden. Insgesamt sollen etwa 2 Prozent aller deutschen Beamten75 (für die Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes ist die Quote nicht bekannt) von dieser politischen beziehungsweise rasseideologisch motivierten ›Säuberung‹ betroffen gewesen sein. Die Entlassungen von Juden erfolgten aufgrund von § 3 des Gesetzes, der besagte, dass Beamte die nicht ›arischer‹ Abstammung seien, in den Ruhestand zu versetzen seien. Die ihnen zustehende Pension sollten sie nur erhalten, sofern sie länger als zehn Jahre im öffentlichen Dienst tätig gewesen waren. Auf Drängen des Reichspräsidenten wurden allerdings zwei Ausnahmen vorgesehen: Wer bereits vor dem 1. August 1914 (also nicht erst während des Weltkriegs oder in den Jahren der Republik) in den öffentlichen Dienst getreten war und wer »im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft« hatte, konnte im Dienst verbleiben. Auch Beamte, deren Väter oder Söhne im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gefallen waren, blieben von der Entlassung zunächst verschont.76 In Ermangelung einer eindeutigen Definition77 wurde der Begriff ›nichtarisch‹ zunächst so ausgelegt, »dass er nicht nur Volljuden – d.h. Personen mit vier jüdischen Großelternteilen –, sondern auch Dreiviertel-, Halb- und Vierteljuden umfasste.«78 Für die Entlassung von vermuteten politischen Gegnern, die in § 4 des Gesetzes geregelt wurde, suchte man gar nicht erst nach einer ausdifferenzierten Definition, sondern fand eine völlig beliebig anzuwendende Generalklausel. Sie lautete: »Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.«79

|| 74 Laut einer Statistik für die preußischen Universitäten waren 1924 4% der planmäßigen Professorenstellen mit jüdischen Religionsangehörigen besetzt. Unter den nichtbeamteten außerordentlichen Professoren stellten Juden fast 19% und unter den Privatdozenten knapp 8% nach einer Berechnung von Michael Grüttner auf der Basis von Daten aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz; siehe Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: John Conelly/Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 67–100, hier S. 69. 75 Angelika Königseder, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, in: Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie, S. 488f. Eine ähnliche Schätzung auch bei Bauer, Nationalsozialismus, S. 211, der davon ausgeht, dass »nur 1 bis 2% der Beamtenschaft« betroffen gewesen sei. Als grundlegende Untersuchung noch immer gültig: Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966. 76 Zum ›Berufsbeamtengesetz‹ als Teil der Judenverfolgung vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1990, Bd. 1, S. 87–97. 77 Ein umfassenderer und eindeutigerer Definitionsversuch wurde erst 1935 mit dem ›Reichsbürgergesetz‹ und den ihm folgenden Verordnungen gemacht; vgl. den folgenden Abschnitt. 78 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 73. 79 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 7. April 1933, Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1933 I, S. 175–177.

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Im Bereich der Wissenschaft waren nicht nur die Universitäten und Hochschulen von diesem ›Berufsbeamtengesetz‹ betroffen, sondern auch andere Forschungseinrichtungen sowie nichtbeamtete Angehörige aller wissenschaftlichen Institutionen. Insgesamt lag hier der Anteil der Betroffenen deutlich höher als in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Eine zeitgenössische Zusammenstellung über die von 1933 bis 1936 vorgenommenen Entlassungen an 23 deutschen Universitäten80 kommt auf eine Zahl von 939 betroffenen Personen, wobei die einzelnen Einrichtungen sehr unterschiedlich tangiert wurden: Die Universitäten Berlin und Frankfurt am Main verloren über 30 Prozent, Heidelberg knapp ein Viertel ihres Lehrkörpers, dagegen Bonn, Münster, Marburg, München, Erlangen, Tübingen und einige weitere Standorte weniger als 10 Prozent ihrer Dozenten.81 Auch über die Entfernung unerwünschter Wissenschaftler hinaus entfaltete die Ausgrenzungspolitik ihre Wirkung: »Wer blieb, ohne Nationalsozialist zu sein, suchte nicht unliebsam aufzufallen«82 – was im Ergebnis bedeutete, dass der Konformitätsdruck an den Universitäten sich enorm verstärkte, zumal ja nun viele der kritischeren Stimmen fehlten. Bei der Wahl der bevorzugten Zielgebiete weist das wissenschaftliche Exil deutlich andere Schwerpunkte auf als die im engeren Sinne politische und künstlerische Emigration: So spielte Frankreich nur eine untergeordnete Rolle, während Großbritannien von Beginn an ein wichtiges Aufnahmeland darstellte. Vor allem aber war die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika im wissenschaftlichen Bereich dominant. Etwa zwei Drittel der geflohenen Wissenschaftler fanden in den USA ein Asylland mit vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen vor, das für die meisten exilierten Gelehrten bald auch zur neuen Heimat wurde. Nur etwa 10 Prozent kehrten nach 1945 nach Deutschland zurück. Großen Anteil daran, dass sich viele aus dem ›Dritten Reich‹ geflohene Wissenschaftler in den USA eine neue berufliche Zukunft aufbauen konnten, hatten die Rockefeller Foundation sowie weitere kleinere Stiftungen, die Emigranten dabei halfen, sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen.83 Eine bemerkenswerte Rolle unter den Zielländern des wissenschaftlichen Exils spielte zudem die Türkei, die – obwohl vom ›Dritten Reich‹ als potentieller Bündnispartner angesehen und mit diesem seit 1941 durch einen Freundschaftsund Nichtangriffspakt verbunden – für mehr als 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und Österreich zum Aufnahmeland wurde.84 Der || 80 Die Technischen Hochschulen blieben dabei unberücksichtigt. 81 Edward Yarnall Hartshore, The German Universities and National Socialism, Cambridge 1937, S. 94 und Korrekturzettel, hier zitiert nach Grüttner, Die deutschen Universitäten, S. 83. 82 Ulrich von Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft, 2. Aufl. München 2001, S. 32f. 83 Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Emigration, Sp. 681–690 (Kapitel Wissenschaftsemigration. Einleitung), hier Sp. 683–685. 84 Zur Türkei als Emigrationsziel: Regine Erichsen, Die Emigration deutschsprachiger Naturwissenschaftler von 1933 bis 1945 in die Türkei in ihrem sozial- und wissenschaftshistorischen Wir-

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Hintergrund für diesen von der türkischen Regierung geförderten brain drain war, dass der bis 1938 von Kemal Atatürk geführte Staat das auf diese Weise in das Land geholte know how gezielt einsetzte, um umfassende Modernisierungsmaßnahmen in den öffentlichen Verwaltungen und an den Hochschulen voranzutreiben. Um die angestrebte Ausrichtung der kemalistischen Türkei an westlichen Standards und speziell an der besonders wertgeschätzten deutschen Verwaltungspraxis voranzutreiben, war die Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland somit in hohem Maße erwünscht. Allerdings achtete die Regierung darauf, dass sich die Emigranten nicht politisch betätigten. Der wohl prominenteste Kopf des türkischen Exils war der im März 1933 gewaltsam aus dem Amt gedrängte Magdeburger Oberbürgermeister Ernst Reuter, der zunächst als Verwaltungsfachmann in verschiedenen Ministerien tätig war und schließlich als Professor für Kommunalwissenschaft an der Verwaltungshochschule in Ankara lehrte.85 Auch der Architekt Bruno Taut, als führender Vertreter des ›Neuen Bauens‹ von den Nationalsozialisten als ›Kulturbolschewist‹ verunglimpft und 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste entfernt, fand in der Türkei eine neue Wirkungsstätte. Er war bis zu seinem Tod 1938 als Architekturprofessor an der Akademie der Künste in Istanbul tätig.86 Besonders betroffen durch die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik waren die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Psychologie sowie einige seinerzeit noch im Aufbau befindliche Naturwissenschaften wie Atomphysik und Biochemie. In anderen, traditionell stark konservativ und ›national‹ gefärbten Disziplinen, wie vor allem der Germanistik und Geschichtswissenschaft, hielt sich die Zahl der Ausgetriebenen dagegen in deutlich engeren Grenzen.87 Nach den überlieferten Unterlagen sind von den rund 250 (fast nur männlichen) Historikern, die Anfang der 1930er Jahre an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie in den staatlichen und kommunalen Archiven tätig waren, nachweisbar 41 (darunter nur drei Frauen; die bekannteste ist Hedwig Hintze) entlassen beziehungsweise verdrängt worden, was einem Prozentsatz von etwa 16 Prozent entspricht.88 Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass mit Hans

|| kungszusammenhang, in: Strauss (Hg.), Emigration, S. 73–104. Erichsen geht allerdings von nur »rund 200« deutschsprachigen Emigranten in der Türkei aus, was zu niedrig gegriffen sein dürfte. 85 Vgl. Thomas Herr, Ein deutscher Sozialdemokrat an der Peripherie – Ernst Reuter im türkischen Exil 1935–1946, in: Strauss u.a. (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften, S. 193–218. 86 Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Emigration, Sp. 681–690 (Kapitel Wissenschaftsemigration. Einleitung), hier Sp. 685; vgl. auch Özden Uzonoglu, Türkei, in: Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie, S. 768f.; Nicolai, Architektur, Sp. 697f. 87 Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Emigration, Sp. 681f. 88 Diese Zahlenangaben und die folgenden Überlegungen nach: Claus-Dieter Krohn, Geschichtswissenschaften, in: ebd., Sp. 747–761.

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Rothfels (als ordentlichem Professor der Universität Königsberg) nur ein prominenter Neuzeithistoriker betroffen war. Bei den weiterhin bekannten 13 Fällen von entlassenen Neuzeit-Historikern handelte es sich um einen außerordentlichen Professor, sechs Privatdozenten und sechs Assistenten. Tatsächlich waren die Eingriffe des Regimes auf dem Feld der Geschichtswissenschaften vergleichsweise eng begrenzt. Eine breiter ansetzende ›Säuberungspolitik‹ erschien entbehrlich, da sich Gelehrte jüdischer Abstammung im Fach Geschichte generell erst nach 1918 und auch in den Weimarer Jahren nur sehr zögerlich hatten etablieren können. Dasselbe galt für exponierte Verfechter der Demokratie und Anhänger der Weimarer Republik, die in einer historischen Zunft, die sich weit überwiegend ›national‹ und konservativ ausrichtete, nur selten Karriere machen konnten. Bemerkenswert ist, dass mehr Mediävisten (19) als Neuzeithistoriker (14) von den Entlassungen betroffen waren89, obwohl jede Diktatur dazu neigt, insbesondere die historischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit besonders stark ideologisch zu überformen. Exakte Zahlen, wie viele Historikerinnen und Historiker aus dem ›Dritten Reich‹ emigriert sind, liegen nicht vor und sind, aufgrund von Abgrenzungsschwierigkeiten zu anderen Fächern und Spezialdisziplinen (wie zum Beispiel Medizin- oder Rechtsgeschichte) auch nicht einfach zu ermitteln. Schätzungsweise ist von etwa 100 Fällen auszugehen, wobei als Emigrationsziel mit Abstand die Vereinigten Staaten die wichtigste Rolle spielten, gefolgt von Großbritannien und dem damaligen Palästina.90 Zu den prominenteren und bereits älteren Vertretern des Faches, die ins Exil gingen, zählten Arthur Rosenberg und Gustav Mayer sowie Veit Valentin, der im Reichsarchiv tätig gewesen war. Aus dem Kreis der Jüngeren sind beispielhaft George W.F. Hallgarten und Alfred Vagts zu nennen sowie mehrere Schüler (unter ihnen Hajo Holborn und Eckhart Kehr) des sehr einflussreichen, bereits 1932 emeritierten Berliner Ordinarius Friedrich Meinecke.91 Bemerkenswert ist die große Zahl von Emigranten der »zweiten Generation« (Krohn), die mit ihren Eltern aus dem nationalsozialistischen Deutschland flüchteten, häufig während der Kriegsjahre im Exil studierten beziehungsweise die ersten Etappen ihres Arbeitslebens absolvierten und nach 1945 dann internationale Karrieren in der Historiker-Zunft machten. Zu diesem Kreis zählen beispielsweise Francis L. Carsten, Peter Gay, George G. Iggers, Walter Laqueur, George L. Mosse, Sidney Pollard und Fritz Stern.92 Das benachbarte Fach Kunstgeschichte war weitaus stärker von den nationalsozialistischen Ausgrenzungsmaßnahmen betroffen als die Geschichtswissenschaft selbst. Insgesamt konnten 252 Personen – das entspricht rund einem Viertel aller Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker – nachgewiesen werden, die aus ihren

|| 89 Ebd., Sp. 747f. 90 Ebd. 91 Ebd., Sp.749–751. 92 Ebd., Sp. 751f.

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Dienststellungen vertrieben worden sind. Bemerkenswert ist dabei der hohe Anteil der Frauen, die 28 Prozent der Entlassenen stellten.93 Erwin Panofsky94 ist der prominenteste emigrierte Vertreter der Kunstgeschichte. Die Zahl der aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertriebenen Germanistinnen und Germanisten war dagegen recht überschaubar. Man geht von gut 50 emigrierten Hochschullehrern aus.95 Jost Hermand erklärt diesen Befund, indem er darauf verweist, dass viele Fachvertreter »schon in den zwanziger Jahren eine national-konservative, ja chauvinistisch-reaktionäre Gesinnung an den Tag gelegt hätten«96, die ihnen einen weitgehend bruchlosen Übergang in das ›Dritte Reich‹ ermöglicht habe. Zu den nicht in besonders hohem Maße betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen zählen auch einige kleinere Fächer wie zum Beispiel die Romanistik. Für diese sind lediglich neun ordentliche und außerordentliche Professoren nachweisbar, die aus ›rassischen Gründen‹ entlassen worden sind sowie zwei weitere, die aus politischen Gründen vertrieben wurden.97 Prominentestes Beispiel ist der 1935 von der Technischen Hochschule Dresden entlassene Victor Klemperer. Ein erheblich größeres Ausmaß hatte die Ausgrenzungspolitik des NS-Regimes auf dem Feld der Wirtschaftswissenschaften, für das 232 im Jahr 1933 und in der Folgezeit entlassene Fachvertreter nachgewiesen worden sind. Von diesen Entlassenen emigrierten 200, und zwar vor allem in den angelsächsischen Bereich: 60 Prozent gingen in die Vereinigten Staaten98 und weitere 15 Prozent nach Großbritannien.99 Wie in etlichen anderen Fächern auch, bildeten die Universitäten Frankfurt am Main, Heidelberg und Kiel sowie Wien »emigrationssignifikante Hochschulzentren in den Gesellschaftswissenschaften.«100 Auch die Rechtswissenschaften waren in starkem Maße betroffen: 132 (oder 26,6 Prozent) der insgesamt 496 im Wintersemester 1932/33 an deutschen Hochschulen lehrenden Juristen wurden aufgrund des Berufsbeamtengesetzes aus dem Dienst entlassen (88 wegen ihrer jüdi-

|| 93 Karen Michels/Ulrike Wendland, Kunstgeschichte, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 761–769. 94 Vgl. Möller, Exodus, S. 87f. 95 Ebd., S. 91. 96 Jost Hermand, Germanistik, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 736–746, das Zitat in Sp. 736; vgl. auch ders., Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 83; Regina Weber, Zur Remigration des Germanisten Richard Alweyn, in: Strauss u.a. (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien, München 1991, S. 235–256, hier S. 235f. 97 Frank-Rutger Hausmann, Romanistik, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 884–893, hier Sp. 884. 98 Vgl. hierzu Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a.M./New York 1987. 99 Ders., Wirtschaftswissenschaften, in: ders. u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 904–922. 100 Ebd., Sp. 908.

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schen Herkunft, 44 aus politischen Gründen).101 Insgesamt dürften rund 150 Juristen ins Exil gegangen sein102, unter ihnen zum Beispiel der international sehr renommierte Wiener Staats- und Völkerrechtler Hans Kelsen. Rund zwei Drittel der 1933 an den deutschen Universitäten das noch junge Fach der Soziologie lehrenden Hochschullehrer sind von den Nationalsozialisten entlassen und außer Landes getrieben worden.103 Unter ihnen befanden sich viele (zum Teil erst später) prominente Namen wie Reinhard Bendix, Norbert Elias, Theodor Geiger, Rudolf Heberle, Emil Lederer, Karl Mannheim und Hans Speier.104 »Von der Säuberung blieben nur jene unbehelligt, die in den Jahren der Nazi-Herrschaft eine ›völkische Soziologie‹ propagierten oder sich dem gewandelten Verständnis des Faches unterordneten.«105 Ähnlich stellte sich die Lage für die Politikwissenschaftler dar, die ebenfalls einen maßgeblichen Teil der Wissenschaftsemigration stellten. Allerdings ist eine exakte Bestimmung der Zahl der Betroffenen aufgrund der fließenden Abgrenzung zu anderen Fächern besonders schwierig, da die Politikwissenschaft – wie sie heute im Zeichen der angelsächsischen Tradition der political science selbstverständlicher Teil der akademischen Fächergliederung ist – an den deutschen Universitäten der Weimarer Jahre noch nicht als eigenständige Disziplin bestanden hatte. Die ›frühen‹ deutschen Politikwissenschaftler der Zwischenkriegszeit waren vornehmlich an juristischen und staatswissenschaftlichen Fakultäten ausgebildet worden und hatten häufig auch in diesem Rahmen ihre wissenschaftlichen Arbeitsfelder gefunden.106 Je nach Tätigkeitsfeld, Institution und gesellschaftspolitischer Ausrichtung waren sie von den Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme sehr unterschiedlich betroffen: Während die methodisch wie inhaltlich modern ausgerichtete und international agierende, erst in den Weimarer Jahren in Berlin gegründete ›Deutsche Hochschule für Politik‹ rund die Hälfte ihrer Dozenten durch deren Emigration verlor, gingen aus den Reihen der traditionellen und etablierten ›Vereinigung deutscher Staatsrechtler‹ weniger als 7 Prozent der Mitglieder ins Exil.107 Zu den zahlreichen prominenten Emigranten zählten unter anderem Arnold Bergsträsser, Franz

|| 101 Leonie Breunung, Rechtswissenschaften, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 869–884, hier Sp. 870. 102 Möller, Exodus, S. 73f. 103 Christian Fleck, Soziologie, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 893–904, hier Sp. 894. 104 Möller, Exodus, S. 78. 105 Fleck, Soziologie, Sp. 894. 106 Alfons Söllner, Politikwissenschaften, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 836–845, hier Sp. 836–839; vgl. auch ders., Vom Staatsrecht zur ›political science‹? – Die Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933, ihr Einfluß auf die Transformation einer Disziplin, in: Strauss u.a. (Hg.), Emigration, S. 139–164. 107 Ebd., Sp. 838.

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Borkenau, Karl W. Deutsch, Ernst Fraenkel, Hermann Heller, Franz L. Neumann, Sigmund Neumann und Eric Voegelin.108 Für die traditionellen ›Geisteswissenschaften‹ gilt insgesamt, dass je nach Denkansatz und politischer Ausrichtung insbesondere bestimmte ›Schulen‹ der Verfolgung anheimfielen, während in anderen, als weniger ›politisch‹ angesehenen Teilgebieten eher die Chance bestand, im nationalsozialistischen Deutschland in ›innerer Emigration‹ zu überwintern. Generell gilt aber ohnehin, dass auch in der intellektuellen Elite der Nation eine starke Neigung zur opportunistischen Anpassung oder sogar zu einem begeisterten ›Mitmachen‹ im ›Dritten Reich‹ zu beobachten ist, das nicht selten auch aus der Motivation gespeist wurde, sich zur Verfolgung der eigenen Interessen erfolgreich in den Geist der propagierten neuen ›Volksgemeinschaft‹ einzuschreiben.109 Im Fach Philosophie boten sich solche Chancen der Anpassung vor allem jenen nicht, die zum ›Wiener Kreis‹110, einer Schule des Logischen Positivismus, zählten oder sich als Anhänger der ›Kritischen Theorie‹111 profiliert hatten. Da auch in der Philosophie in der Zwischenkriegszeit keine trennscharfe Abgrenzung zu benachbarten Fächern wie der Psychologie und den Erziehungswissenschaften bestand, ist eine exakte Bestimmung der Zahl der vertriebenen und emigrierten Fachvertreter schwierig. Einen sinnvollen Annäherungswert bietet eine Untersuchung, nach der über ein Drittel (nämlich 60 von 173) Hochschullehrer, die 1933 an den deutschen Universitäten Philosophie lehrten, entlassen, entpflichtet oder vorzeitig in den Ruhestand geschickt worden sein sollen. Unter Einbeziehung der nicht an Hochschulen tätigen Philosophen sind insgesamt 112 emigrierte Fachvertreter nachgewiesen worden.112 Zu den prominentesten zählen Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Martin Buber, Ernst Cassirer, Max Horkheimer, Theodor Lessing, Georg Lukács, Herbert Marcuse, Ludwig Marcuse, Helmuth Plessner und Karl Popper. Auch in der Psychologie und Psychiatrie war der intellektuelle Aderlass ausgesprochen hoch. Das ›Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration‹ verzeichnet 290 namentlich bekannte Psychologen und Psychiater.113 Nach einer anderen Untersuchung sollen ungefähr 600 in Deutschland tätige Psychiater emi-

|| 108 In diese Reihe gehören auch Hannah Arendt und Herbert Marcuse, die freilich mit gleichem Recht auch der Philosophie zugeordnet werden können, wie in diesem Aufriss gehandhabt. 109 Ilse Erika Korotin (Hg.), »Die besten Geister der Nation«. Philosophie und Nationalsozialismus, Wien 1994. Zur generellen Tendenz der Integration in die ›Volksgemeinschaft‹ vgl. SchmiechenAckermann (Hg.), Volksgemeinschaft. 110 Hierzu im Detail: Friedrich Stadler, Der ›Wiener Kreis‹, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 813–824. 111 Vgl. hierzu Gunzelin Schmidt Noerr, Die ›Kritische Theorie‹, in: ebd., Sp. 805–813. 112 Nikolaus Erichsen, Philosophie, in: ebd., Sp. 791–804; vgl. auch Thomas Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus, Hamburg 1990. 113 Möller, Exodus, S. 83.

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griert sein.114 Von den Entlassungen 1933 waren 45 von 308 an den Hochschulen beschäftigten Psychologen betroffen115 – damit lag der Prozentsatz der durch das Berufsbeamtengesetz Betroffenen zwar nicht ganz so hoch wie in der Philosophie, die Auswirkungen waren aber gleichwohl gravierend: Da alle seinerzeit modernen Denkansätze der Psychologie und Psychiatrie von den Nationalsozialisten abgelehnt, deren Vertreter verdrängt wurden oder sich zur Emigration entschlossen, ist für beide Disziplinen – wie für einige andere Fächer auch – ein sehr nachhaltiger und langfristig wirksamer Wissenstransfer aus der deutschsprachigen Wissenschaftskultur ins Ausland (vor allem in die Vereinigten Staaten) zu verzeichnen. Eine Untersuchung der für das Fach Erziehungswissenschaft relevanten Emigranten kommt auf die hohe Zahl von 352 Personen116, wobei allerdings auch viele überwiegend anderen Fächern zuzurechnende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgezählt sind, die sich an Debatten in erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften beteiligt hatten. Durch diese sehr zahlreichen Doppelnennungen ist eine Quantifizierung in diesem Falle besonders problematisch. Fest steht aber, dass die Zahl der emigrierten universitären Fachvertreter und in der Praxis tätigen Schulund Sozialpädagogen beträchtlich war.117 Für die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer sowie die Medizin ist angesichts der moralischen Herausforderung durch die NS-Diktatur in besonderem Maße eine weitgehende Orientierungslosigkeit »im Dschungel der Macht«118 zu konstatieren. Wie in der deutschen Gesellschaft überhaupt, reichte das zu beobachtende Verhaltensspektrum von begeistertem Mitmachen über opportunistische oder den eigenen Vorteil suchende Anpassung bis zu vorsichtiger Distanzierung oder gar entschlossenen Gegnerschaft beziehungsweise der Entscheidung, ins Exil zu gehen.119 Wie hoch der Anteil der Personen war, die die letzte Option wählten, hing stark davon ab, in welchem Maße ihre jeweilige Teildisziplin vom NS-Regime anerkannt oder misstrauisch beäugt wurde. Von den 337 Biologen, die an den Instituten deutschsprachiger Universitäten und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft tätig waren, wurden zwischen 1933 und 1939 insgesamt 44 (das entspricht 13 Prozent) entlassen.

|| 114 Uwe Hendrik Peters, Psychiatrie, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 846–856. 115 Mitchell G. Ash, Psychologie, in: ebd., Sp. 857–869. 116 Klaus-Peter Horn, Erziehungswissenschaft, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 721–736. 117 Vgl. auch Möller, Exodus, S. 85, der auf die »mehr als 100« Pädagogen verweist, die namentlich im ›Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration‹ nachgewiesen sind. 118 Vgl. Dietrich Beyrau (Hg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Hitler und Stalin, Göttingen 2000. 119 Als breiter Überblick: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994.

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Mindestens 32 Personen aus dieser Gruppe emigrierten.120 In der Chemie lagen diese Quoten deutlich höher: 127 Personen (oder 23 Prozent der 544 an den oben genannten Instituten tätigen Chemiker) wurden aus ihren beruflichen Stellungen verdrängt, über 100 gingen in die Emigration.121 Unter den 1933 an deutschen Universitäten und Hochschulen lehrbefugten Physikern belief sich der Anteil der Emigranten auf etwa 15 Prozent (55 aus einer Gesamtgruppe von 373 Personen).122 Aus dem Kreis der 1933 rund 100 auf deutschen und österreichischen mathematischen Lehrstühlen tätigen Ordinarien wurden 45 Personen entlassen123, was die Mathematik als einen weit überdurchschnittlich von der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik betroffenen Bereich ausweist. Insgesamt emigrierten mindestens 130 Mathematiker, und zwar vor allem in die Vereinigten Staaten, deren mathematische Fachkultur durch die Verfolgungsmaßnahmen verursachten brain drain erheblich bereichert wurde.124 Innerhalb der Fächer waren die Arbeitsgebiete sehr unterschiedlich von Entlassungen und Abwanderung betroffen. Dabei kann der für die Physik als »intellektuelle Leitdisziplin« im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts herausgearbeitete Befund wohl auch auf die anderen Naturwissenschaften übertragen werden: »Der Emigrantenanteil ist am höchsten in den modernen, am niedrigsten in den älteren Teilgebieten der Physik.«125 Unter den Emigranten aus den naturwissenschaftlichen Fächern befanden sich zahlreiche Koryphäen, die in Deutschland exzellente Spitzenforschung betrieben hatten.126 Der Anteil der anhand der rassistischen Kriterien der Nazis als ›nichtarisch‹ eingestuften fast 9.000 im Deutschen Reich praktizierenden Ärzte dürfte in Relation zu der im Rahmen der Volkszählung 1933 ermittelten Gesamtärzteschaft von 51.527 Personen rund 17 Prozent betragen haben.127 Die beruflichen Betätigungsmöglich-

|| 120 Ute Deichmann, Biologie und Chemie, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 704–720, hier Sp.707f. 121 Ebd., Sp. 712f.; vgl. auch dies., Biologen unter Hitler. Porträt einer Wissenschaft im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1995. 122 Klaus Fischer, Physik, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 824–836; vgl. auch ders., Die Emigration deutschsprachiger Physiker nach 1933: Strukturen und Wirkungen, in: Strauss u.a. (Hg.), Emigration, S. 25–72. 123 Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematik, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 769–782. 124 Ders., Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft, Braunschweig/Wiesbaden 1998. 125 Fischer, Physik, Sp. 824f.; vgl. für die Biologie: ders., Wissenschaftsemigration und Molekulargenetik: Soziale und kognitive Interferenzen im Entstehungsprozeß einer neuen Disziplin, in: Strauss u.a. (Hg.), Emigration, S. 105–135. 126 Möller, Exodus, S. 70. 127 Hans-Peter Kröner, Medizin, in: Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 782–791, hier Sp. 783f. Als Gesamtüberblick vgl. auch Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Berlin 1998.

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keiten dieser Gruppe wurden sukzessive immer weiter eingeschränkt. Die Zahl der aus dem deutschsprachigen Bereich emigrierten Ärzte wird auf 9.000–10.000 geschätzt. Demgegenüber nimmt sich die Zahl der an den Universitäten entlassenen und emigrierten Mediziner (vom Ordinarius bis zum Assistenten), oberflächlich betrachtet, mit rund 500 in quantitativer Hinsicht zunächst vergleichsweise nachrangig aus.128 An dieser Stelle kann hier nur stichwortartig auf die große Ambivalenz hingewiesen werden, der sich die Medizin unter dem Hakenkreuz ausgesetzt sah: Während einerseits unter den aus Universitäten und Forschungseinrichtungen vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die medizinische Profession mit ihren rund 500 nachgewiesenen Personen den stärksten Zweig der Wissenschaftsmigration gestellt hat, wurde andererseits ein erheblicher Teil der in Deutschland verbliebenen Mediziner – zum Beispiel im Rahmen des Behindertenmordes und der Verfolgung von Sinti und Roma – zu willig dem Regime dienenden Fachleuten und damit zu »Hitlers Helfern«.129

2.1.4 Die Ausbürgerungspraxis des ›Dritten Reiches‹ Die Hitler-Regierung begnügte sich nicht damit, politische Gegner durch brachiale Gewalt beziehungsweise die Androhung von Terror außer Landes zu treiben und berufliche Existenzen zu vernichten; die ›Reinigung‹ des ›deutschen Volkskörpers‹ von Andersdenkenden und ›Fremdrassigen‹ sollte grundlegend und irreversibel erfolgen. Wer das nationalsozialistische Deutschland verließ – unabhängig davon, ob es sich um einen freiwilligen Gang ins politische Exil oder ein der Not gehorchendes Ausweichen vor Verfolgung und Terror handelte –, dem wurde in einem letzten und symbolpolitisch stark aufgeladenen Schritt der Ausgrenzung die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Eine solche Austreibungspolitik gegenüber den Juden war im Parteiprogramm der NSDAP bereits von Beginn an angelegt. Nach der ›Machtergreifung‹ wurde sie sehr rasch in eine gesetzliche Form gebracht, die zugleich auch die Ächtung der ins Exil ausgewichenen politischen Opposition ermöglichte: Aufgrund des am 14. Juli 1933 erlassenen ›Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft‹ wurde zwischen dem 25. August 1933 und dem 7. April 1945 insgesamt 39.006 Deutschen individuell130 die Staatsbürgerschaft entzogen und damit häufig auch ihr im Deut|| 128 Kröner, Medizin, Sp. 786. 129 Michael H. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, Hamburg 2000. 130 In dieser Zahl sind nicht die als ›jüdisch‹ definierten »schätzungsweise 250- bis 280.000« deutschen Staatsbürger enthalten, die im Zuge von »kollektiv-automatischen Massenausbürgerungen« nach der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 erfolgten. Diese Verordnung galt sowohl für Juden, die »der NS-Verfolgung lebend entronnen waren« als auch »für alle Juden, die in Konzentrationslager außerhalb der Reichsgrenzen […] deportiert und dort ermor-

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schen Reich verbliebenes Vermögen beschlagnahmt. Zum einen schuf sich der NSStaat damit ein Instrument, während der Weimarer Jahre erfolgte und nun unerwünschte Verleihungen des Staatsbürgerrechts an Juden rückgängig zu machen; zum anderen sollten, wie in § 2 des Gesetzes ausdrücklich formuliert wurde, Reichsangehörige, die »durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt« und die somit »die deutschen Belange geschädigt haben«131, derer man freilich im Ausland nicht habhaft werden konnte, durch den formellen Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit mit einer entehrenden Strafe belegt werden. Im Sinne der vom NS-Regime praktizierten ›Sippenhaftung‹ konnte auch Ehepartnern und Kindern der Betroffenen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt werden. Unmittelbare finanzielle Nachteile resultierten aus dem Verlust von Versorgungsbezügen und durch Beschränkungen im Erbrecht. Schließlich ermöglichte das Gesetz auch die Entziehung von in Deutschland erworbenen Diplomen und akademischen Graden. Erfolgte Entziehungen der Staatsbürgerschaft wurden im ›Reichsanzeiger‹ listenweise dokumentiert.132 Die zwischen 1933 und 1936 publizierten Ausbürgerungslisten133 lesen sich, so Peter Widman, »wie ein Personenverzeichnis des öffentlichen Lebens in Deutschland vor der nationalsozialistischen Machtübernahme«.134 Aus juristischer Sicht stellt sich dieses Ausbürgerungsgesetz (wie die anderen bereits erwähnten NS-Gesetze auch) schlicht als »staatlich-legalisiertes Unrecht«135 dar. Die publizierten Ausbürgerungslisten seien, so Hans Georg Lehmann, »in Wirklichkeit Proskriptionslisten. Nachdem sie ins Ausland hatten flüchten können, versuchte das NS-Regime die ausgebürgerten Emigranten nachträglich soweit wie möglich zu vernichten: physisch, geistig und moralisch.«136 Mögen einige bekannte

|| det worden waren oder noch wurden.« Vgl. hierzu Hans Georg Lehmann, Acht und Ächtung politischer Gegner im Dritten Reich. Die Ausbürgerung deutscher Emigranten 1933–45, in: Michael Hepp (Hg.), Die Ausbürgerung deutscher Staatsbürger 1933–45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, 3 Bde., München 1985, S. IX–XXIII, hier S. XIV. 131 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, 14. Juli 1933, RGBl. 1933 I, S. 480. 132 Als umfassende Dokumentation der im ›Reichsanzeiger‹ und an anderen Stellen publizierten Ausbürgerungslisten: Hepp, Die Ausbürgerung deutscher Staatsbürger. 133 Von 1933 bis 1935 beliefen sich die Fallzahlen auf 33 bzw. 65 und 38 pro Jahr, um danach auf 115 (1936) und 1937 auf über 1.000 anzusteigen. Die höchsten Fallzahlen wurden 1940 (10.105), 1939 (9.389), 1938 (4.242) und 1944 (3.014) erreicht; vgl. Michael Hepp, Wer Deutscher ist, bestimmen wir, in: ders. (Hg.), Ausbürgerung, S. XXV–XL, hier S. XXV. 134 Dieses Zitat sowie eine knappe Zusammenfassung zum ›Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft‹ und seinen Folgen bei Widmann, Politische und intellektuelle Flüchtlinge, S. 856; vgl. auch Lehmann, Acht und Ächtung, S. XI–XII. 135 Lehmann, Acht und Ächtung, S. XII. 136 Ebd., S. XVII.

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Regimegegner ihr Auftauchen in diesen Listen mit Stolz auf die erfolgte Distanzierung von der NS-Diktatur registriert und gelegentlich auch als »Pour le Mérite der Emigration« apostrophiert haben, so verursachte der mit der Ausbürgerung in der Regel zwangsläufig einhergehende Status der Staatenlosigkeit vielen weniger prominenten Emigranten, die in ihren Exilländern häufig hart um eine neue berufliche Existenz kämpfen mussten, ganz erhebliche Probleme. Da viele Flüchtlinge die von ihrem Gastland geforderten Bedingungen für den Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit nicht erfüllen konnten, befanden sie sich ohne die hierdurch garantierten Schutzrechte in einem »permanenten Ausnahmezustand.«137 »Ohne Pass kann der Mensch nicht leben«138, so charakterisierte Klaus Mann zugespitzt diese bedrückende Lebenserfahrung vieler staatenloser Emigranten im Exil.

2.2 Von der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Juden zum Holocaust Wie bereits der exemplarisch entfaltete Überblick zu jenen Personengruppen aus Wissenschaft, Kunst und Kultur, die ab 1933 aus Deutschland vertrieben wurden oder aus eigenem Antrieb den Weg ins Exil gingen, immer wieder implizit belegt hat, waren es neben politischen Gründen vor allem die auf den rassistischen Auslesekriterien der Nationalsozialisten beruhenden Verfolgungs- und Ausgrenzungsmaßnahmen gegen Juden, die in den Vorkriegsjahren des ›Dritten Reiches‹ die Dynamik der vom NS-Regime verursachten Zwangsmigrationen ausmachten. Diese Ausgrenzungspolitik entfaltete sich nach und nach auf allen Ebenen der Gesellschaft und kulminierte schließlich im systematischen Massenmord. Daher können klassifizierende Überlegungen zum Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft nicht angestellt werden ohne den ›Holocaust‹ als ein zentrales Element der NSDiktatur zu verstehen und die ihm innewohnende Dynamik der Radikalisierung zu reflektieren: »Der anthropologische Rassismus mit seinem Kernstück, dem Antisemitismus, radikalisierte sich über die Etappen Auswanderungsstopp, Deportationen in den Osten, unsystematische massenhafte Tötung bis zur systematischen massenhaften Tötung.«139 Diese Etappen und das ihnen zu Grunde liegende staatliche und gesellschaftliche Handeln werden im Folgenden skizziert.140

|| 137 Ebd., S. XV. 138 Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt a.M. 1952, S. 321, hier zitiert nach Lehmann, Acht und Ächtung, S. XV. 139 Peukert, Genesis, S. 103. 140 Als Überblick: Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.

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2.2.1 Politische Verfolgung, Entrechtung, Ausplünderung, Vertreibung und erzwungene Konzentration der deutschen Juden in den Vorkriegsjahren Nach der ›Machtübernahme‹ transformierte sich die in der Kaderpartei NSDAP über Jahre eingeübte und agitatorisch zugespitzte antisemitische Propaganda, die in den nationalistisch oder gar ›völkisch‹ ausgerichteten Teilen der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit ohnehin bereits virulent war beziehungsweise als zeitgeistige Strömung zunehmend aufgenommen wurde, sehr schnell in ganz reale Exklusionspolitik. In den Vorkriegsjahren der NS-Herrschaft wurden diejenigen deutschen Staatsbürger, die nach nationalsozialistischen Kriterien nunmehr als ›Juden‹ definiert und markiert wurden und aus der ›arischen Volksgemeinschaft‹ konsequent ausgeschieden werden sollten, gesellschaftlich und juristisch diskriminiert sowie in ihrer beruflichen Entfaltung immer stärker behindert. Detaillierte Schätzungen gehen davon aus, dass 1933 etwa 38.000 Juden das Deutsche Reich verließen. Ihnen sollen 1934 knapp 23.000, 1935 etwa 20.000, im Olympiajahr 1936, das durch eine vorübergehende Abschwächung antisemitischer Propaganda gekennzeichnet war, rund 25.000 und 1937 23.000 als ›jüdisch‹ definierte Personen gefolgt sein. Einen neuen Höhepunkt erreichte die jüdische Emigration im Pogromjahr 1938 mit geschätzten 33.000–40.000 und im Folgejahr mit 75.000–80.000 Auswanderern. Damit summiert sich der jüdische Exodus aus dem ›Altreich‹ in den Vorkriegsjahren auf fast 250.000 Personen. Zudem sind in der kurzen Zeitspanne zwischen dem ›Anschluss‹ Österreichs und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs rund 130.000 nach rasseideologischen Kriterien als ›jüdisch‹ definierte Personen aus Österreich geflohen.141 ›Gehen oder bleiben?‹ – diese Abwägung entwickelte sich in den Vorkriegsjahren mit stetig wachsender Dringlichkeit zu einer »Kernfrage deutschjüdischer Existenz im ›Dritten Reich‹«.142 Die erste »antisemitische Welle«143 umfasste die schon bald nach der ›Machtergreifung‹ erlassenen diskriminierenden Gesetze, den ›wilden Terror‹ der SA sowie den organisierten Boykott jüdischer Geschäfte Anfang April 1933 – und sie stimu|| 141 Alle Zahlenangaben nach Wolfgang Benz, Jüdische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration, S. 715–722, hier S. 715. 142 Konrad Kwiet, Gehen oder bleiben? Die deutschen Juden am Wendepunkt, in: Walter Pehle (Hg.), Der Judenpogrom 1938. Von der ›Reichskristallnacht‹ zum Völkermord, Frankfurt a.M. 1988, S. 132–145; vgl. auch Jürgen Matthäus, Abwehr, Ausharren, Flucht. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und die Emigration bis zur ›Reichskristallnacht‹, in: Claus-Dieter Krohn u.a. (Hg.), Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, 19. 2001: Jüdische Emigration zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität, S. 18–40, hier S. 18. Als intensive biografiegeschichtliche Analyse zu vier ausgewählten Fallbeispielen: Sylke Bartmann, Flüchten oder bleiben? Rekonstruktion biographischer Verläufe und Ressourcen von Emigranten im Nationalsozialismus, Wiesbaden 2006. 143 So die Charakterisierung bei Longerich, Politik der Vernichtung, S. 25–45.

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lierte auch die erste große Emigrationswelle. Eine zweite markante Etappe bildete die Reaktion auf die im September 1935 auf dem Nürnberger NSDAP-Parteitag verkündeten ›Nürnberger Gesetze‹, eine dritte schließlich die Pogromnacht vom 9./10. November 1938. Betrachtet man die jährlichen Zahlenwerte und setzt sie in Beziehung zur Intensivierung beziehungsweise zur vorübergehenden Abschwächung antisemitischer Propaganda und der gegen Juden gerichteten Verfolgung, so kann man eine Art Reiz-Reaktions-Schema aus der Kurve der Auswandererstatistik ablesen: Immer dann, wenn neue Maßnahmen zur Ausgrenzung und Verfolgung ersonnen wurden, intensivierte sich entweder noch im gleichen Kalenderjahr (so 1933 und 1938) oder aber im Folgejahr (so 1936 und 1939) die jüdische Zwangsmigration ganz beträchtlich. Welche Instrumente setzte der NS-Staat ein, um die Juden außer Landes zu treiben und wie funktionierten sie konkret? Unmittelbare Gewaltanwendung, staatliche und justizielle Maßnahmen144 wurden durch wirtschaftliche Sanktionen und gezielte Angriffe auf berufliche Existenzgrundlagen sehr wirksam ergänzt: Vielerorts hatten sich Anfang April 1933 SAPosten vor Einzelhandelsgeschäften, Arztpraxen und Anwaltskanzleien aufgestellt und durch ihre drohende Haltung Kunden abzuschrecken versucht.145 Bereits Ende Mai 1933 inszenierten die Nationalsozialisten zum Beispiel in Hannover weitere antijüdische Krawalle in der Innenstadt, warfen Stinkbomben und zerstörten Schaufenster von jüdischen Geschäften. Die Karstadt AG hatte in der niedersächsischen Gauhauptstadt in vorauseilendem Gehorsam bereits vor dem Boykott allen jüdischen Angestellten gekündigt. Im Juli 1934 wurden die Schaufenster jüdischer Geschäfte in Hannover erneut beschmiert sowie deren verbliebene Kunden durch die Boykottposten fotografiert. In der Vorweihnachtszeit 1934 wurden sie sogar mit Tränengas attackiert. Auch in den folgenden Jahren setzten sich die Übergriffe kontinuierlich fort. Ein besonders aktiver Kreis der ›Stürmer-Freunde‹ veröffentlichte 1935 eine Art Proskriptionsliste mit den Namen von 552 hannoverschen Geschäftsleuten, Rechtsanwälten und Ärzten, die als ›jüdisch‹ im Sinne der rasseideologischen Kriterien des Nationalsozialismus markiert wurden. Fast alle der so an den Pranger Gestellten verloren bis 1938 ihre berufliche Existenz.146 In die politisch gewünschten Bahnen sollte nicht nur die Einkaufspraxis der Konsumenten gelenkt werden. Das Regime bemühte sich intensiv, auch die Gestal-

|| 144 Insgesamt konnten allein schon für die Vorkriegsjahre (1933–1939) auf Reichs-, Länder- und kommunaler Ebene zusammengenommen über 1.400 antisemitische Maßnahmen, Regelungen, Verordnungen und Gesetze nachgewiesen werden. Vgl. Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981. 145 Einen kompakten Überblick zum Judenboykott und den Aprilgesetzen 1933 liefert: Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 73–79; vgl. auch Longerich, Politik der Vernichtung, S. 30–41. 146 Peter Schulze, Hannover, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 726–796.

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tung privater Kontakte nach seinen rasseideologischen Vorgaben zu kanalisieren. Dies galt in ganz besonderem Maße für das Ausleben sexueller Beziehungen, bei denen eine Vermischung der ›Rassen‹ durch rigide Kontroll- und Gegenmaßnahmen ausgeschlossen werden sollte. Das am Rande des Nürnberger Parteitages der NSDAP am 15. September 1935 beschlossene und tags darauf verkündete ›Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‹147 verbot nicht nur Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen »deutschen oder artverwandten Blutes«, sondern stellte auch den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen diesen nun definitorisch scharf voneinander abgegrenzten Gruppen als neu geschaffenes Delikt der ›Rassenschande‹ unter schwere Haftstrafen. Dieses Gesetz war insofern ein Novum, als erstmals »privates, ja intimes Verhalten unter Strafe (gestellt wurde), dessen Beobachtung sich der üblichen staatlichen oder polizeilichen Kontrolle entzog. Ein Verbot ›außerehelichen Verkehrs‹ konnte nur durch Denunziation durchgesetzt werden und wurde, wie die nach oben schnellenden Zahl der Denunziationen nach dem Herbst 1935 zeigt, auch als Aufforderung zur volksgemeinschaftlichen Schnüffelei verstanden.«148 Das ebenfalls am 15. September 1933 erlassene ›Reichsbürgergesetz‹ regelte in § 2, wer in Zukunft als ›Reichsbürger‹ anzusehen sei – nämlich »nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.« Damit war klargestellt, dass Juden aufgrund der rassistischen Kategorisierung keine privilegierten ›Reichsbürger‹ und somit nur noch »Bürger zweiter Klasse mit verminderten Rechten«149 sein konnten, und zugleich deutlich hervorgehoben, dass allein die ›arische‹ Abstammung ebenfalls noch kein Recht begründete, vollgültige Rechte als Staatsbürger in Anspruch nehmen zu können. Diese Berechtigung war ausdrücklich an die Bereitschaft und die Fähigkeit gebunden, dem ›deutschen Volke zu dienen‹, was immer wieder neu unter Beweis zu stellen war.150 Damit waren später wirksam werdende Ausschlusskriterien aus der ›Volksgemeinschaft‹ wie Krankheit und Behinderung, ›Gemeinschaftsfremdheit‹ und ›Asozialität‹ bereits zu diesem Zeitpunkt im Exklusionsdenken des NS-Regimes angelegt. Da diese beiden ›Nürnberger Gesetze‹ von Ministerialbeamten und Verwaltungsfachleuten in großer Eile am Rande des Parteitages ausgearbeitet worden wa-

|| 147 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, RGBl. 1935 I, S. 1146–1147. Beschlossen wurde das Gesetz am 15.9.1933 durch den eigens hierfür telegrafisch nach Nürnberg einberufenen Reichstag, verkündet am nächsten Tag im Rahmen einer Veranstaltung des Parteitages. 148 Wildt, Nationalsozialismus, S. 117; vgl. auch Longerich, Politik der Vernichtung, S. 102–111. 149 Zum Zustandekommen und den Konsequenzen der ›Nürnberger Gesetze‹ knapp und pointiert: Bauer, Nationalsozialismus, S. 295–299, das Zitat auf S. 297; vgl. auch Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 69–84. 150 Reichsbürgergesetz, 15.9.1935, RGBl. 1935 I, S. 1146.

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ren, wiesen sie in vielen Punkten Unklarheiten auf. Erst mit der ›Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz‹ vom 14. November 1935 definierten die Nationalsozialisten schließlich eindeutiger ihre Abgrenzungskriterien und Sprachregelungen: § 2, Absatz 2 besagte, dass ›jüdischer Mischling‹ sei, »wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammt, sofern er nicht nach § 5 Abs. 2 als Jude gilt. Als volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat.« § 5 legte fest, ›Jude‹ sei, »wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt« und definierte weiterhin, als ›Jude‹ gelte auch, »der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling, a) der beim Erlass des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird, b) der beim Erlass des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet, c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre […] geschlossen ist, d) der aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden […] stammt und nach dem 31. Juli 1936 außerehelich geboren wird.«151 Solche bürokratischen Detailregelungen dürfen nicht als ideologisch geprägte Spitzfindigkeiten missdeutet werden – diese akribischen nationalsozialistischen Versuche, zu möglichst trennscharfen und in der Verwaltungspraxis anwendbaren Definitionen zu kommen, stellten – hierin ist Raul Hilberg zu folgen152 – eine notwendige erste Stufe der später entfalteten Vernichtungsdynamik des Holocaust dar. Für ›Nicht-Arier‹ erwiesen sich die praktischen Folgen der in aller Eile ausformulierten ›Reichsbürgergesetzes‹ als sehr gravierend: Wer als ›Jude‹ oder als ›Mischling‹eingestuft wurde, verlor sofort das Wahlrecht und konnte keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, da er den hierfür schon bald erforderlichen Nachweis der ›arischen‹ Abstammung nicht beibringen konnte. Aufgrund zahlreicher Verordnungen, mit denen die vielen Unklarheiten des ursprünglich ganz knapp gehaltenen Gesetzestextes nach und nach geregelt und Anwendungsbereiche ergänzt wurden, erweiterten sich die negativen Konsequenzen immer mehr: Letztlich führte das ›Reichsbürgergesetz‹ zur Verdrängung der bis dahin noch verbliebenen ›nichtarischen‹ Beamten, Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Notare aus ihrer Berufstätigkeit. Alle verbliebenen jüdischen Gewerbebetriebe unterlagen nun einer Meldepflicht und wurden gesondert registriert. Die selbstverwalteten jüdischen Organisationen wurden aufgelöst; stattdessen wurden alle Juden zwangsweise Mitglieder der ›Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‹. Vom Besuch staatlicher Schulen waren sie fortan ausgeschlossen und ebenso von Unterstützungsleistungen der öffentlichen Wohlfahrtspflege. Im Falle strafbarer Handlungen || 151 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 14.11.1935, RGBl. 1935 I, S. 1333f. 152 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 69–84.

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war die Geheime Staatspolizei zuständig und nicht mehr die ordentlichen Gerichte. Im Zuge eines freiwilligen oder auch erzwungenen Verlassens des Staatsgebietes (also auch bei den später durchgeführten Deportationen) verloren die so definierten ›Nicht-Arier‹ ihre Staatsbürgerschaft und ihr Vermögen wurde vom Staat eingezogen. Im Falle des Todes erfolgte ebenfalls der Vermögenseinzug.153 Bereits vor Verkündung der bald auch als ›Nürnberger Gesetze‹ bezeichneten Regelungen hatte es durch Selbstmobilisierung ausgelöste Terroraktionen von lokalen nationalsozialistischen Aktivisten gegen Personen gegeben, die sich in ihren Augen einer Verfehlung der ›Rassenschande‹ schuldig gemacht hatten. Die gegen die Juden gerichtete Politik der NS-Regimes umfasste immer sowohl unmittelbare auf Leib und Leben gerichtete terroristische Gewaltanwendung als auch eine strukturelle, in bürokratisch organisierten Bahnen ablaufende Gewaltpraxis – insofern bestätigt sich Hannah Arendts grundlegende These vom »Bündnis zwischen Mob und Elite«.154 Während der ›Mob‹ radikalisierter und sich zu Gewalthandlungen selbst ermächtigender SA-Leute und NSDAP-Aktivisten Gewalt auf der Straße ausübte, arbeiteten viele kleine und große Schreibtischtäter – manche begeistert, andere auch eher widerwillig – an der Ausgrenzung und Ausplünderung jüdischer Geschäftsleute und wohlhabender jüdischer Familien. Vor den Mordaktionen als Kulminationspunkt der Judenverfolgung stand der ›Finanztod‹155 der als ›Juden‹ markierten, ausgegrenzten und verfolgten deutschen Bürger. Zu einem wichtigen Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik entwickelte sich dabei das zur wirtschaftspolitischen Steuerung bereits in der Ära Brüning benutzte Verfahren der Devisenbewirtschaftung. Es erwies sich als sehr geeigneter und wirksamer Hebel zur »fiskalische[n] Ausplünderung, wirtschaftliche[n] Verdrängung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung des Deutschen Reiches«.156 Im Ergebnis entwickelten sich die »mit der Umsetzung der komplexen Devisengesetzgebung

|| 153 Zur Einordnung der ›Nürnberger Gesetze‹ in die sich radikalisierende Verfolgungspraxis: Thamer, Der Nationalsozialismus, S. 215–218. Als umfassende Betrachtung: Cornelia Essner, Die ›Nürnberger Gesetze‹ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002. 154 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 702–725. 155 Der Begriff ›Finanztod‹ geht zurück auf Hans Günther Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974, z.B. auf S. 166, 183. Empirische Befunde bei: Claus Füllberg-Stolberg, Sozialer Tod – Bürgerlicher Tod – Finanztod. Finanzverwaltung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Katharina Stengel (Hg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 31–58; Hans-Dieter Schmid, ›Finanztod‹. Die Zusammenarbeit von Gestapo und Finanzverwaltung bei der Ausplünderung der Juden in Deutschland, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ›Heimatfront‹ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 141–154. 156 Der Vorgang der systematischen Ausplünderung der Juden ist anhand der Devisenstelle Hannover exemplarisch untersucht und detailliert dargestellt worden: Christoph Franke, Legalisiertes Unrecht. Devisenbewirtschaftung und Judenverfolgung am Beispiel des Oberfinanzpräsidiums Hannover 1931–1945, Hannover 2011. Das Zitat auf S. 315.

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betrauten Behörden, vor allem die Devisenstellen und die Zollfahndung, […] zu einer zentralen Instanz bei der Enteignung der deutschen und später der europäischen Juden.«157 In diesem Prozess der kontinuierlich intensivierten Ausplünderung erfüllten die Devisenstellen vor allem drei Funktionen: Seit Herbst 1935 waren sie damit beauftragt, jüdische Bürger und Unternehmen zu überwachen, da man davon ausging, dass wohlhabende jüdische Bürger eine Auswanderung in Betracht ziehen und verständlicherweise auch versuchen würden, einen möglichst großen Teil ihres Vermögens ins Ausland mitzunehmen. Genau dieser als ›Kapitalflucht‹ bezeichnete Transfer von Vermögenswerten sollte durch ausgesprochen restriktive Steuer-, Devisen- und Außenhandelsgesetze verhindert oder möglichst stark eingedämmt werden, um der notorischen Devisenknappheit des ›Dritten Reiches‹ entgegenzuwirken. Indem sie akribisch auf die Einhaltung der sehr restriktiven Limitierung für in das Ausland transferierbaren Besitz achteten und die zusätzlich noch eingeführten Sondersteuern und Transferabgaben für Auswanderungswillige eintrieben, sorgten die Devisenstellen dafür, »dass die Vertreibung der deutschen Juden mit ihrer weitgehenden Enteignung zugunsten des Staates einherging«.158 Ein wichtiges Element war die sogenannte ›Reichsfluchtsteuer‹, die bereits seit Dezember 1931 mit dem Ziel erhoben worden war, reichen Emigranten einen Teil ihres in das Ausland transferierten Vermögens abzuschöpfen.159 Sie hatten bei der Auswanderung ein Viertel ihres gesamten Besitzes als anlassbezogene Vermögenssteuer zu entrichten. Diese Maßnahme diente also in der Endphase der Weimarer Republik dazu, die Auswanderung von wohlhabenden Reichsangehörigen zu behindern beziehungsweise sie mit einer Sondersteuer zu belegen. Nach der Machtübergabe an Hitler veränderte sich die Intention dieses Instrumentes in entscheidender Weise: Das am 18. Mai 1934 erlassene ›Gesetz über Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer‹160 sowie die später erlassenen Ergänzungsregelungen »zielten darauf ab, sich die Emigration zunutze zu machen – diesmal vor allem die Emigration von Juden, die das Land verließen, um im Ausland ein neues Leben zu beginnen.«161 Die aus dieser Sondersteuer erzielten Einnahmen stiegen von 1932/33 bis 1935/36 von 1 Million auf 45 Millionen Reichsmark und bis 1938/39 auf 342 Millionen Reichsmark. Der von 1933 bis 1940 erzielte Gesamtertrag der ›Reichsfluchtsteuer‹ wird auf rund 900 Millionen Reichsmark geschätzt.162

|| 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Als monographischer Überblick: Dorothea Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer 1931–1953, Berlin 1993. 160 RGBl. 1934 I, S. 392f. 161 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 141 (Hervorhebung im Original). 162 Nach den Angaben in einem Bericht der Deutschen Bank, hier zitiert nach Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 141f. Das Steuerjahr begann jeweils am 1. April eines Jahres.

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Eine zweite Stufe der wirtschaftlichen Ausbeutung wurde mit den nochmals verschärften Sicherungsanordnungen vom Dezember 1936 erreicht: »Die Einleitung von Ermittlungen beziehungsweise Devisenstrafverfahren entpuppte sich in der Folge als ein willkommenes Instrument, um die laufende Arisierung von Betrieben zu beschleunigen oder überhaupt erst möglich zu machen.«163 Dabei griffen die Devisenstellen in laufende Verfahren auch ganz unmittelbar ein, etwa indem sie Treuhänder einsetzten oder Einfluss auf die Verhandlungen beziehungsweise die Auswahl der Käufer nahmen. Aus der Perspektive der Betroffenen verblieb nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis: Betriebe im Besitz von als ›Juden‹ markierten und ausgegrenzten Bürgern wurden entweder ›liquidiert‹, das heißt geschlossen und aufgelöst, oder aber ›arisiert‹, das heißt von einer deutschen Firma aufgekauft.164 Der mit bürgerlicher Entrechtung und sozialer Ausgrenzung einhergehende ›Finanztod‹ jüdischer Unternehmer, Gewerbetreibender und Selbständiger war beschlossene Sache. Die am 12. November 1938 erlassene ›Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben‹165 stellte eine weitere Handhabe zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der noch im Deutschen Reich lebenden Juden dar. Die am 3. Dezember 1938 erlassene ›Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens‹166 elaborierte die wirtschaftliche Dimension der Existenzvernichtung noch weiter, indem auf dieser Basis Juden nun auch nicht mehr über ihre Ersparnisse verfügen konnten und gezwungen wurden, ihre Immobilien zu verkaufen. Die Ermordung des deutschen Gesandtschaftsrates Ernst vom Rath in Paris, die dem Regime einen Anlass für die im November 1938 inszenierten Pogrome bot, wurde auch für die Zuspitzung der finanziellen Ausplünderung der Juden instrumentalisiert: Die Regimeführung legte fest, dass aus jüdischem Vermögen in Deutschland eine kollektive ›Sühneleistung‹ zu erbringen sei, die willkürlich auf 1 Milliarde Reichsmark fixiert wurde. Die Steuerbehörden bekamen den Auftrag, diesen politischen Beschluss umzusetzen. Eine Einkommenssteuer erwies sich als nicht praktikabel, da der größte Teil der Juden bereits aus ihren angestammten Berufen verdrängt worden war und daher kaum noch über laufendes Einkommen verfügte. Insofern konnte nur eine zusätzliche Vermögenssteuer in Betracht kommen. Aufgrund der am 26. April 1938 erlassenen ›Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden‹167 waren alle jüdischen Bürger bereits verpflichtet worden, ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen zu deklarieren, sofern es den Wert von 5.000 Reichsmark überschritt. Auf der hierdurch generierten breiten und zudem

|| 163 Franke, Legalisiertes Unrecht, S. 316. 164 Detaillierter hierzu: Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 97–140. 165 Vgl. RGBl. 1938 I, S. 1580. 166 RGBl. 1938 I, S. 1709. 167 RGBl. 1938 I, S. 414.

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sehr aktuellen Datenbasis wurde die Höhe der nach der am 12. November 1938 erlassenen ›Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit‹168 zu erbringenden zusätzlichen Steuer zunächst auf 20 Prozent des Vermögens festgesetzt, was ein Jahr später auf 25 Prozent korrigiert wurde. Insgesamt nahm das Deutsche Reich durch diese willkürlich erzwungene Sondersteuer über 1,1 Milliarden Reichsmark ein. Der von den deutschen Juden erpresste Ertrag von ›Reichsfluchtsteuer‹ und ›Sühneleistung‹ summierte sich über die Jahre somit auf mehr als 2 Milliarden Reichsmark. Allein im Steuerjahr 1938/39169 betrug er rund 841 Millionen Reichsmark, was einem Anteil von fast 5 Prozent an den gesamten Steuereinnahmen dieses Jahres entsprach. Zutreffend hat Raul Hilberg formuliert, dass die 1938/39 intensivierten Mobilmachungsanstrengungen und die forcierte Ankurbelung der Rüstungswirtschaft zu einem gewissen Teil auch mit den von den Juden erpressten finanziellen Mitteln betrieben wurde: »das jüdische Geld verschwand sofort wieder in den Kanälen der Rüstungsbeschaffung.«170 In einer dritten, kurz vor Kriegsbeginn erreichten Stufe erlangten die Devisenstellen nochmals erweiterte Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten. Angesichts der erwarteten neuen (und letzten) jüdischen Fluchtwelle sorgten sie für eine systematische Sicherstellung der in Deutschland verbleibenden Vermögenswerte der außer Landes getriebenen Emigranten auf sogenannten »beschränkt verfügbaren Sicherungskonten«.171 Damit erfuhren die Devisenstellen einen gravierenden Bedeutungswandel: Waren sie bis 1938 als Spezialbehörde zur fiskalischen Regelung von Auswanderungen (stets im Sinne des NS-Staates und damit zuungunsten der zwangsweise Emigrierenden) tätig gewesen werden, so wurden sie nun zu einem Instrument der umfassenden wirtschaftlichen Ausbeutung und Entrechtung im Zeichen der radikalisierten NS-Rassenpolitik. Aufgrund der im August 1939 nochmals verschärften Bestimmungen wurde »die gesamte verbliebene jüdische Wohnbevölkerung ihrer letzten finanziellen Autonomie beraubt und unter Kuratel der Behörden gestellt, indem sie nur noch mit Genehmigung über ihr Guthaben verfügen konnte.«172 Die letzte Etappe der umfassenden wirtschaftlichen Beraubung wurde erst im November 1941 mit der ›Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz‹ erreicht: Das aufgrund der Überwachungstätigkeit der Devisenstellen im Deutschen Reich verbliebene Inlandsvermögen von emigrierten und deportierten Juden wurde nun konfisziert und von der Reichsfinanzverwaltung zu Gunsten des Staates ›verwertet‹. Bei diesem endgültigen Vollzug des Raubes von jüdischen Vermögenswerten leistete die Geheime Staatspolizei tätige Mithilfe; viele kleine und große Profi|| 168 RGBl. 1938 I, S. 1579. 169 Also vom 1. April 1938 bis 31. März 1939. 170 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 140–145 (mit den im Text genannten Zahlen), der Zitatbezug auf S. 145. 171 Franke, Legalisiertes Unrecht, S. 316. 172 Ebd.

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teure der Arisierungen konnten sich im Zuge dieser ›Verwertung‹ erheblich bereichern.173 Die sich auf allen Ebenen ergänzenden Maßnahmen zur Entrechtung, Ausgrenzung und Ausplünderung der jüdischen Bürger zeigten Wirkung: In Göttingen – um ein anschauliches lokales Fallbeispiel herauszugreifen – sank der jüdische Bevölkerungsanteil zwischen 1933 und 1939 von 475 auf 173 Personen, also um fast zwei Drittel; drei Viertel der dortigen jüdischen Betriebe waren bereits vor dem Novemberpogrom des Jahres 1938 liquidiert beziehungsweise ›arisiert‹ worden.174 Reichsweit hatte es 1933 rund 100.000 Betriebe in der Hand jüdischer Besitzer gegeben; bereits im Frühjahr 1938 existierten 60 Prozent davon nicht mehr.175 Nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik beruhte aber nicht allein auf der Durchsetzung von konkreten Maßnahmen gegen die Juden, sondern zugleich auch auf propagandistischer ›Erziehung zur Volksgemeinschaft‹, das heißt auf der Beeinflussung der breiten Bevölkerung im Sinne der ideologischen Ziele des Regimes. Mit der Pogromnacht vom 9. November 1938 kehrte das NS-Regime nach einer mehrjährigen Phase der kontinuierlich vorangetriebenen, bei oberflächlicher Betrachtung dem Anschein nach vermeintlich ›ordnungsgemäßen‹ Form der Entrechtung und Ausplünderung durch Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften wieder zu einem Fanal des offenen Terrors zurück, wie er für die Machtergreifungsphase konstitutiv gewesen war. »Der Pogrom wurden von oben inszeniert«176 – Goebbels zog, mit Rückendeckung von Hitler, die Fäden und setzte dabei zur ideologischen Vorbereitung der Bevölkerung die ihm zur Verfügung stehende Propagandamaschinerie und zur konkreten Durchführung die nach der tiefen Zäsur der politisch vor allem gegen ihre Führungsspitze um Ernst Röhm gerichteten Mordaktion im Frühsommer 1934 weitgehend kaltgestellte Sturmabteilung (SA) ein. Bei den abendlichen Feierlichkeiten zum Gedenken an den gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 hielt Goebbels eine wüste antisemitische Hetzrede und lobte den ›Volkszorn‹, der sich angeblich in ›spontanen‹ Gewaltaktionen gegen Juden Luft machen würde. Als Anlass diente die Nachricht vom Tod des deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath, der einem am 7. November 1938 in Paris vom 17-jährigen Herschel Grynszpan verübten Attentat zum Opfer gefallen war. »Grynszpan nannte Rache und ›Protest gegen die Barbarei Hitlers‹ als Motive seiner Tat.«177 Offensichtlich handelte er aus Verbitterung über das Schicksal seiner Familie, die wenige Tage zuvor von der Abschiebung polnischer Juden aus dem Deut-

|| 173 Ebd. 174 Sybille Obenaus, Göttingen, in: Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden, Bd. 1, S. 626–663, hier S. 656. 175 Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 201. 176 So die pointierte Charakterisierung bei Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 206. 177 Bauer, Nationalsozialismus, S. 333.

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schen Reich betroffen gewesen war.178 Diese als ›Judenevakuierung‹ oder ›Polenaktion‹ bezeichnete Polizeiaktion gegen rund 17.000 der im Reichsgebiet insgesamt 72.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit stellte Ende Oktober 1938 eine Art Vorstufe oder Probelauf für die drei Jahre später einsetzenden Deportationen der deutschen Juden dar. Nachdem die polnische Regierung angekündigt hatte, »den im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen, in erster Linie den polnischen Juden, die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und durch entsprechende Passvermerke die Wiedereinreise nach Polen zu verwehren, erließ Himmler am 26. Oktober ein Aufenthaltsverbot für polnische Juden und ordnete an, dass sie innerhalb von drei Tagen das Deutsche Reich zu verlassen hätten.« Die Gestapo nahm in einer Großaktion etwa 17.000 Personen fest und transportierte sie an die polnische Grenze. »Da Polen die Einreise dieser Menschen verweigerte, irrten sie im Niemandsland und in den Grenzorten herum, ohne jede Hilfe, Lebensmittel und sanitäre Möglichkeiten. Erst nachdem sich Polen und Deutschland nach einigen Tagen auf eine Verlängerung der Abschiebefrist verständigt hatten, brach Himmler die Aktion ab.«179

Herschel Grynszpans Eltern und seine Schwester hatten zu diesen Ausgewiesenen gehört, die durch die plötzliche Polizeiaktion völlig unvorbereitet getroffen worden waren. Als Fazit ist festzuhalten, dass es für die Opfer der »gewaltsamen Massenabschiebung« am Ende »kaum möglich war, dem Holocaust zu entrinnen.«180 Einmal mehr nutzte die NS-Führung ein Ereignis, um es propagandistisch für eine scheinbare Legitimation von Terrormaßnahmen zu instrumentalisieren. Die von Goebbels in München verkündete offizielle Sprachregelung war so zu verstehen, dass der Führer entschieden habe, »dass die Partei nach außen nicht als Urheber [dieser terroristischen Gewalt] in Erscheinung treten, sie aber in Wirklichkeit organisieren und durchführen sollte«.181 Die im Saal anwesenden Funktionäre nahmen diese indirekte Aufforderung zum Handeln unverzüglich auf und gaben durch Telefonate mit den NS-Organisationen in den verschiedenen Regionen des Reiches das auslösende Signal zu den Gewaltaktionen der Pogromnacht des 9./10. November 1938.

|| 178 Vgl. hierzu den nächsten Abschnitt. 179 Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 125f. Das vorangegangene Zitat auf S. 125; vgl. auch Bauer, Nationalsozialismus, S. 333. 180 Schmid, Abschiebung der Juden, S. 195. Der Verfasser plädiert dafür, nicht den Begriff ›Deportation‹ zu benutzen, sondern ›Ausweisung‹, ›Vertreibung‹ (S. 197) oder am besten ›gewaltsame Massenabschiebung‹ (S. 198), da die betroffenen Personen am Ende nicht im Machtbereich des ›deportierenden‹ Staates verblieben. 181 So ein interner Untersuchungsbericht des Obersten Parteigerichtes der NSDAP, hier zitiert nach Bauer, Nationalsozialismus, S. 334.

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»Was sich in den kommenden Stunden überall in Deutschland ereignete, übertraf an Brutalität, Vandalismus und Mordbereitschaft die bisherigen Pogrome bei weitem. Vor aller Augen schlugen die Trupps Fensterscheiben ein, plünderten Geschäfte, schlugen deren jüdische Besitzer zusammen, drangen in Wohnungen von Juden ein, verwüsteten die Einrichtung, misshandelten die Bewohner und schreckten selbst vor Mord nicht zurück.«182

Bis heute gibt es keine genauen Opferzahlen; fest steht aber, dass mindestens 100 Personen im Zuge der Aktion ermordet und vermutlich 20.000 bis 30.000 jüdische Bürger in Konzentrationslager verbracht wurden.183 Als besonderes Charakteristikum dieses verharmlosend auch als ›Reichskristallnacht‹ bezeichneten Pogroms ist festzuhalten, dass diese Gewaltaktionen »nicht mehr allein auf Diskriminierung und Isolierung der jüdischen Nachbarn« zielten, »sondern auf deren Vertreibung und auf die Auslöschung der jüdischen Kultur in Deutschland.«184 Im Gefolge dieses neuen terroristischen Höhepunktes der Judenverfolgung kam es zu zahlreichen Selbstmorden und die Zahl der Auswanderer erreichte 1939 einen letzten Höhepunkt. Trotz der bereits fünf Jahre währenden Einstimmung der deutschen Gesellschaft auf die sich immer weiter zuspitzende Ausgrenzungspolitik und der Konditionierung auf immer radikalere ›Maßnahmen‹ im NS-Alltag, rief das überaus brachiale Vorgehen der SA in der Bevölkerung durchaus geteilte Reaktionen hervor – die vom Regime mit großem Einsatz betriebene »Ausrichtung der Öffentlichkeit« stieß – zumindest bisweilen – auch ganz »offensichtlich an ihre Grenzen«185: Im ostfriesischen Leer wurden von der SA misshandelte Juden auch noch von Schaulustigen beleidigt, bespuckt, angepöbelt und zusätzlichen körperlichen Übergriffen ausgesetzt. Zugleich haben andersgesinnte Bürger das Anzünden der Synagoge aber auch als Skandal empfunden. Ein Augenzeuge berichtet: »Ich kann also nicht sagen, dass die Masse geklatscht hat. Die meisten waren erschrocken.«186

2.2.2 Zwangsmigration in den Tod: die Deportationen und die Vernichtungslager Das zentrale Merkmal, durch das sich die NS-Herrschaft von anderen modernen Diktaturen mit absolutem weltanschaulichen Deutungsanspruch signifikant unterscheidet, ist der Holocaust. Durch ständige Wiederholung antisemitischer Propaganda sukzessive vorbereitet, führten die Nationalsozialisten nach dem Scheitern || 182 Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 127; vgl. auch Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 207–209; Longerich, Politik der Vernichtung, S. 190–207. 183 Wildt, Nationalsozialismus, S. 127f. 184 Ebd., S. 126. 185 Zur Ambivalenz der Stimmungen und des Verhaltens der Bevölkerung: Peter Longerich, »Davon haben wir nichts gewusst!«. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, Bonn 2006, S. 320. 186 Menna Hensmann (Bearb.), Dokumentation ›Leer 1933–1945‹, Leer 2001, S. 187, 427, 522.

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der zeitweise intensiv diskutierten, letztlich aber von Anfang an illusionären Umsiedlungspläne187 den Mord an den europäischen Juden schließlich nicht nur mit brutaler Gefühllosigkeit, sondern auch mit Akribie sowie einem überaus hohen logistischen und organisatorischen Aufwand durch. Dass ein solcher Genozid in einer hochmodernen Industriegesellschaft verübt werden konnte, macht den Holocaust singulär und so schwer verständlich – auch wenn durch die jahrzehntelange intensive Forschung zu Nationalsozialismus und Judenmord mittlerweile weitgehend aufgeklärt ist, welche Akteure und Faktoren in diesem Prozess eine Rolle spielten und in welchen Schritten die Entschlussbildung zum Judenmord sowie am Ende seine konkrete Durchführung ablief.188 Raul Hilberg hat die aufeinander folgenden Stufen des Vernichtungsprozesses generalisierend aufgezeigt: Der bis hierhin skizzierte Prozess der fortschreitenden Ausgrenzung lässt sich mit den Begriffen ›Definition‹ (man könnte auch formulieren: ›Markierung‹ als nicht zur NS-›Volksgemeinschaft‹ Gehörende) und ›Enteignungen‹ fassen, das Ende bildeten die Deportationen als gewaltsam erzwungene, überwachte und durchgeführte ›Abschiebungen in den Osten‹ und schließlich die Ermordung in den Vernichtungslagern. Das Bindeglied zwischen den Ausgrenzungsmaßnahmen der Vorkriegsjahre und den letzten Schritten des Judenmordes bildete der Prozess der ›Konzentration‹. Dabei überlagerten sich zwei Entwicklungen: Aufgrund der sich intensivierenden Verfolgungsmaßnahmen zogen die immer stärker isolierten jüdischen Familien aus ländlichen Regionen in die Städte und häufig in einem zweiten Schritt aus kleineren Städten in die Großstädte. Nach dem Zensus vom 17. Mai 1939 lebten insgesamt noch 330.892 im durch den ›Anschluss‹ Österreichs vergrößerten Deutschen Reich, und zwar mehr als zwei Drittel von ihnen in zehn Großstädten. Wien nahm mit 91.480 statistisch erfassten Juden die Spitzenstellung ein, knapp gefolgt von Berlin mit 82.788. In den beiden Metropolen lebte ein gutes Vierteljahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen über die Hälfte der noch im Deutschen Reich verbliebenen Juden. Frankfurt am Main, Breslau und Hamburg wiesen zwischen 10.000 und 15.000 registrierte Juden auf, Köln, München, Leipzig, Mannheim und Nürnberg folgten auf den nächsten Rangplätzen

|| 187 Ausführlich und einschlägig zu den Überlegungen für die Einrichtung eines ›Reichsghettos‹ bei Krakau oder Lublin und zum sog. ›Madagaskar-Plan‹ sowie dem Verwerfen dieser Gedankenspiele: Christopher Browning, Die Entfesselung der ›Endlösung‹. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939– 1942, München 2003, S. 65–172; Longerich, Politik der Vernichtung, S. 251–292 sowie Magnus Brechtken, »Madagaskar für die Juden«. Antisemitische Idee und politische Praxis, 2. Aufl. München 1998; vgl. auch die knappen Darstellungen bei: Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 370–385; Bauer, Nationalsozialismus, S. 438–442; Pavel Polian, Hätte der Holocaust beinahe nicht stattgefunden? Überlegungen zu einem Schriftwechsel im Wert von zwei Millionen Menschenleben, in: Johannes Hürter/Jürgen Zarusky (Hg.), Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zu Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 1–19. 188 Als Überblick: Longerich, Politik der Vernichtung, S. 293–532.

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mit jeweils mehreren Tausend als ›jüdisch‹ registrierten Personen. Das zweite Strukturelement der ›Konzentration› bildete die innerstädtische sozialräumliche und lebensweltliche Separierung der Juden von der ›arischen‹ Bevölkerung, die im Zusammenpferchen der ›definierten‹ Opfer in sogenannten ›Judenhäusern‹ ihren sichtbarsten Ausdruck fand.189 Hilberg nennt fünf Maßnahmen, die diesen Vorgang der ›Konzentration‹ als eine nur etwas moderatere Variation des in Osteuropa forcierten Prozesses der Ghettoisierung erkennbar werden lassen: »1. Die Unterbindung der sozialen Kontakte zwischen Juden und Deutschen; 2. Wohnungsbeschränkungen; 3. Reglementierung der Bewegungsfreiheit; 4. Kennzeichnungsmaßnahmen; 5. Bildung eines jüdischen Verwaltungsapparats.«190 Insgesamt verfolgten die Nationalsozialisten somit nach dem Pogrom vom November 1938 eine sehr wirksame ›Doppelstrategie‹, die einerseits auf nochmals forcierte und durch den Terror erzwungene Auswanderungen setzte und andererseits auf die »Separierung der zurückbleibenden in einer Zwangsgemeinschaft.«191 Die Konzentration der Juden in bestimmten, dafür eigens ausgewählten ›Judenhäusern‹ kam einer »Ghettoisierung ohne Ghetto« gleich.192 Organisatorisch waren für den erzwungenen Umzug in diese Häuser die örtlichen Wohnungsämter zuständig; in größeren Städten wurden zu diesem Zweck besondere ›Judenumsiedlungsabteilungen‹ gegründet.193 Eine rechtliche Handhabe, jüdischen Mietern zu kündigen, bot das ›Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden‹ vom 30. April 1939.194 Die von Hilberg angeführte »Unterbindung der sozialen Kontakte zwischen Juden und Deutschen« hatte, wie oben skizziert, bereits frühzeitig mit dem Herausdrängen aus dem Berufs- und Geschäftsleben, der Reduzierung der staatsbürgerlichen Rechte sowie der Unterbindung von ›gemischtrassigen‹ Ehen und Sexualkontakten begonnen. In den Kriegsjahren setzte sich diese Isolierungspolitik nicht nur auf dem Wohnungssektor, sondern nach und nach in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens fort.195 Um den ›Konzentrations‹-Prozess optimieren zu können, war mit der ›Zweiten || 189 Vgl. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 164–197, hier vor allem S. 164; Browning, Entfesselung der Endlösung, S. 255. Als lokale Pionierstudie zum Phänomen der ›Judenhäuser‹: Marlis Buchholz, Die hannoverschen Judenhäuser. Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfolgung 1941 bis 1945, Hildesheim 1987. 190 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 165. 191 Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen. Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933–1941, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 48. 2000, S. 75– 126, hier S. 121. 192 Buchholz, Die hannoverschen Judenhäuser, S. 1. 193 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 179f. 194 RGBl. 1939 I, S. 864. Eine ausführliche Diskussion der Folgen bei Buchholz, Die hannoverschen Judenhäuser, S. 10–16. 195 Besonders zahlreich wurden lokalgeschichtliche Projekte zum Alltagsleben und zur Ausgrenzung von Juden in der NS-Zeit in Berlin durchgeführt. Als wegweisend sind hervorzuheben: Fundstücke… Fragmente… Erinnerungen… Juden in Kreuzberg; Orte des Erinnerns. Das Denkmal im

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Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen‹ vom 17. August 1938196 festgelegt worden, dass weibliche jüdische Personen vom 1. Januar 1939 an zwangsweise den zusätzlichen Vornamen ›Sara‹ zu führen hatten, männliche den Zusatz ›Israel‹. Die am 1. September 1941 erlassene ›Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden‹197 verpflichtete zudem alle als ›Juden‹ definierten Einwohner des Deutschen Reiches, die das 6. Lebensjahr vollendet hatten, in der Öffentlichkeit einen gelben Stern mit dem schwarzen Schriftzug ›Jude‹ als Erkennungsmerkmal zu tragen. Als die Nationalsozialisten Ende im Herbst 1941 daran gingen, die finalen ›Maßnahmen‹ des Mordes an den Juden einzuleiten, waren diese nicht nur bereits »längst wirtschaftlich ruiniert und gesellschaftlich verfemt«198, sondern auch wirkungsvoll aus der ›Volksgemeinschaft‹ separiert und deutlich als Opfer ›markiert‹. »Dezimiert und überaltert, von Familienangehörigen getrennt und vom Ausland abgeschnitten, entrechtet und verarmt, zur Zwangsarbeit verpflichtet und in ›Judenhäusern‹ zusammengepfercht, unterernährt und erschöpft, in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt und mit einem handtellergroßen gelben Stern markiert, so stelle sich Anfang Oktober 1941 […] eine ›minorité fatale‹ vor, die der Gesellschaft zur Last zu fallen drohte und die im Zuge der ›Endlösung‹ lautlos ausgelöscht werden durfte«

– so umreißt Konrad Kwiet sehr treffend die miserable Situation der in der Deutschland verbliebenen jüdischen ›Zwangsgemeinschaft‹.199 War es bereits seit Kriegsbeginn in der Praxis fast unmöglich geworden, noch zu emigrieren, so wurde dieser letzte Ausweg durch den am 23. Oktober 1941 auch offiziell verhängten Auswanderungsstopp200 endgültig verbaut. Auf der sogenannten ›Wannseekonferenz‹201 wurden am 20. Januar 1942 einige noch offene Streitfragen im Hinblick auf den nun europaweit in Angriff genommenen Judenmord erörtert. Die Deportationen und die Mordaktionen ›im Osten‹ waren zu diesem Zeitpunkt längst im Gange. Im letzten Quartal des Jahres 1940 sowie das ganze Jahr 1941 hindurch wurden insgesamt 100.516 Juden aus dem ›Altreich‹, 47.555 aus Österreich und 69.677 aus dem Protektorat Böhmen und Mähren ›evakuiert‹, das heißt in Ghettos und Lager (zum Beispiel nach Lodz, Minsk, Riga, Kaunas,

|| Bayerischen Viertel. Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel, hg.v. Kunstamt Schöneberg, 2 Bde., Berlin 1994/95. 196 RGBl. 1938 I, S. 1044. 197 RBGl. 1941 I, S. 547. 198 Buchholz, Die hannoverschen Judenhäuser, S. 2. 199 Kwiet, Gehen oder bleiben?, S. 132. 200 Benz, Holocaust, S. 32. 201 Christian Gerlach, Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich/München 2001, S. 70–201.

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Lublin) deportiert.202 Die offizielle Sprachregelung lautete, dass die Deportierten ›zum Arbeitseinsatz‹ in die besetzten Länder gebracht würden. Da diese Sprachregelung im Hinblick auf ältere Menschen in keiner Weise glaubwürdig sein konnte, ersann das Regime als eine Art Vorzeigeobjekt das ›Reichsghetto‹ Theresienstadt (etwa 60 Kilometer nordwestlich von Prag in der kleinen nordböhmischen Festungsstadt Terezin gelegen). Es wurde eingerichtet, um ›privilegierte‹ Juden aus dem Reich aufzunehmen, das heißt solche, die im Ersten Weltkrieg eine militärische Auszeichnung erhalten hatten oder älter als 60 Jahre waren. Tatsächlich stellte es aber im Wesentlichen eine »Transitstation deutscher, österreichischer und böhmischer Juden auf dem Weg in die Vernichtungslager des Ostens«203 dar. Aufgrund der starken Überbelegung und der schlechten Versorgung starben rund 33.000 Menschen im Lager selbst, über 88.000 wurden in die Vernichtungslager weitergeschickt, rund 17.000 sind dort bei Kriegsende befreit worden.204 Insgesamt wurden in der von Frühjahr 1942 bis Herbst 1944 dauernden Phase des industrialisierten Massenmordes (im NS-Jargon: der ›Endlösung der Judenfrage‹) in Auschwitz vermutlich etwa 1,1 Millionen, in Treblinka zwischen 750.000 und 900.000, in Belzec 435.000 bis 600.000, in Sobibor etwa 160.000 bis 250.000 und in Chelmno über 150.000 Menschen ermordet.205 Diese Vernichtungslager bildeten neben den mobilen Tötungseinheiten206, lokalen Pogromen207 und der in anderen Konzentrationslagern und ihren Außenkommandos betriebenen ›Vernichtung durch Arbeit‹ den schaurigen Kulminationspunkt des Völkermordes. Sie wurden auch zur letzten Station der vom NS-Regime durchgeführten ›Zwangsmigration‹ der deutschen Juden. In ihnen wurde der größte Teil der rund 165.000 aus Deutschland und 65.000 || 202 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, S. 491; vgl. auch Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933 bis 1945, Darmstadt 2003, S. 85–87; Browning, Entfesselung der Endlösung, S. 536–555. 203 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 85. 204 Vgl. Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013; ders., Der Holocaust, 4. Aufl. München 1999, S. 81–92, die Zahlenangaben auf S. 91f. 205 Zu den Opferzahlen in Auschwitz: Wolfgang Benz u.a., Auschwitz, in: ders./Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 79–173. Darin vor allem der Abschnitt: Verena Walter, Die Massendeportation europäischer Juden nach Auschwitz, S. 140–147; die genannte Zahl wird detailliert aufgeschlüsselt in Tabelle 3 auf S. 145; vgl. auch Sybille Steinbacher, Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, 2. Aufl. München 2007, S. 69 und 107. Steinbacher liegt mit der Angabe von 1,1 bis 1,5 Millionen Opfern in Auschwitz höher als Benz und Pohl (rund eine Million). Die Angaben differieren für alle Lager in einer gewissen Spannbreite: Die niedrigeren Zahlen meist bei Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 87–96, die höheren eher bei Benz, Der Holocaust, S. 101– 118. Ob Majdanek ebenfalls ein ›Vernichtungslager‹ dieser Art darstellte oder eher ein ›Konzentrationslager‹, in dem es hohe Opferzahlen gab, ist in der Forschung umstritten. 206 Knappe Zusammenfassungen bei: Benz, Der Holocaust, S. 60–80; Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 70–79. 207 Pointiert dazu: Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, S. 191f.

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aus dem damals zum Deutschen Reich gehörenden Österreich deportierten Juden ermordet.208 Fasst man abschließend die Bilanz der nationalsozialistischen Vertreibung und Ermordung der Juden zusammen, so sind als Eckdaten festzuhalten: Im ›Altreich‹ hatte 1933 rund eine halbe Million Menschen gelebt, die nach religiösen Kriterien als ›Juden‹ zu bezeichnen waren. Unter Einschluss des Saarlandes, Österreichs und des ›Reichsgaues Sudetenland‹ belief sich die Zahl dieser ›Glaubensjuden‹ auf rund 721.000. Bis 1939 verringerte sich diese Personengruppe auf rund 297.000. Aufgrund der im NS-Staat erlassenen Gesetze belief sich die Zahl der nach rassistischen Kriterien definierten ›Geltungsjuden‹ auf etwa 33.000 Personen mehr (davon knapp 20.000 im ›Altreich‹). Der Deportation und anschließenden Ermordung fielen mindestens 250.000 Juden aus dem erweiterten Reichsgebiet zum Opfer.209 Der Umfang der durch den NS-Terror erzwungenen oder stimulierten Migrationsbewegung belief sich insgesamt auf rund 250.000 Personen aus dem ›Altreich‹ und etwa 130.000 Personen aus dem ›angeschlossenen‹ Österreich. Wer dem Holocaust entkam, musste im Exil lernen, zu überleben. Die individuelle Verarbeitung der Emigrationserfahrung gestaltete sich höchst unterschiedlich. Auf der Basis einer Analyse von exemplarischen Lebensläufen hat Sylke Bartmann vorgeschlagen, vier grundlegende Verhaltenstypen zu differenzieren: Für den Typus des »Vertriebenen« ergibt sich aus dem erzwungenen »Weggang aus der Heimat […] ein Gefühl des totalen Unverständnisses und des Verlustes aller Sinnzusammenhänge«. Als gut in sein Heimatland integriertes Individuum hat er sich sicher gefühlt und daher auch keine Pläne für eine mögliche Emigration entwickelt. Beim Typus des zuvor ebenfalls gut in der Heimat gesellschaftlich integrierten »Auswanderers« geht die Entscheidung für eine Emigration mit erheblichen Ambivalenzen einher, »die durch die Annahme sich in der Gesellschaft des anderen Landes wieder integrieren zu können, zwar bearbeitet werden können«, aber trotzdem mit einem starken Bewusstsein der alten heimatlichen Wurzeln verbunden bleiben. Für den Typus des »Einwanderers« steht »die Entscheidung zum Weggang« am Ende eines Prozesses vertiefter Wahrnehmung der ihn umgebenden Gesellschaft, die schließlich differenzierte und mehrdimensionale Betrachtungsweisen möglich macht und in eine »aktive Gestaltung der Umsetzung persönlicher Ziele« mündet, die »keinen Blick zurück, sondern ausschließlich in die Zukunft impliziert.« Noch konsequenter aktiv ausgerichtet ist das Handlungsschema beim Typus des »Flüchtenden«: Sobald von ihm »die eigene Sicherheit als bedroht wahrgenommen wird«, fokussiert es sich »ausdrücklich auf ein Weggehen aus diskriminierenden und persönlichkeitseinschränkenden Lebensverhältnissen.« Bartmann kommt zu dem Schluss, dass sich

|| 208 Benz, Der Holocaust, S. 101–118. 209 Vgl. hierzu vor allem Magnus Brechtken, Die nationalsozialistische Herrschaft 1933–1939, Darmstadt 2004, S. 114–116.

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die Ausprägung und Wahrnehmung des Emigrationsprozesses bei den vier von ihr analytisch geschiedenen Typen vor allem »durch den unterschiedlichen Grad an (empfundener) Selbstbestimmung und durch das Ausmaß der für den Prozess mobilisierten Aktivtäten« unterscheide.210 Hannah Arendt hat die existentielle Herausforderung der ›Generation Exodus‹211 sehr eindrücklich beschrieben: »Wir haben unsere Heimat verloren, und damit die Vertrautheit des täglichen Lebens. Wir haben unsere Arbeit verloren, und damit die Überzeugung, in dieser Welt nützlich zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren, und damit die Selbstverständlichkeit der Reaktionen, die Eindeutigkeit der Gesten, den ungekünstelten Ausdruck von Gefühlen. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos gelassen, und unsere besten Freunde sind in Konzentrationslagern ermordet worden, und das bedeutet das Zerbrechen unseres privaten Lebens.«212

2.3 Die Exklusion der Sinti und Roma aus der Gesellschaft Sinti und Roma waren neben den Juden die zweite rassistisch definierte Gruppe, gegen die sich die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik mit aller Schärfe richtete. Dabei konnte das NS-Regime an in der deutschen Gesellschaft seit langem bestehende antiziganistische Vorurteile213 und eine bereits entfaltete Tradition repressiver ›Zigeunerpolitik‹ anknüpfen. Zudem lebten Sinti und Roma in einer vergleichsweise schwierigen sozialen Situation: »Die große Mehrheit war der Unterschicht zuzurechnen und lebte an oder unter der Armutsgrenze. Die Familien waren oft groß und wegen der vielen Kinder oft nur mithilfe der Wohlfahrtsunterstützung über die Runden zu bringen.«214 Der geringe Grad an erreichter sozialer Integration wurde allein schon dadurch deutlich, »dass viele noch in ihren Wohnwagen auf besonderen Stellplätzen lebten. Aber selbst dort, wo sie in feste Wohnungen gezogen waren, lagen diese häufig in sozialen Problemquartieren.«215 Da die polizeiliche ›Zigeunerbekämpfung‹ in föderaler Zuständigkeit lag, hatten sich auf die Kontrolle und Überwachung von Sinti und Roma spezialisierte Behörden zunächst auf Länderebene entwickelt. Eine Art Vorbildfunktion kam dabei der 1899 bei der Polizeidirektion München geschaffenen ›Zigeunerzentrale‹ zu. || 210 Bartmann, Flüchten oder bleiben?, alle Zitate auf S. 213–215. 211 Zu dieser Charakterisierung: Walter Laqueur, Generation Exodus. The Fate of Young Jewish Refugees from Nazi Germany, New York 2004. 212 Hannah Arendt im Jahre 1943, hier zitiert nach Corinna R. Unger, Reise ohne Wiederkehr? Leben im Exil 1933 bis 1945, Darmstadt 2009, S.11f. 213 Karola Fings, Dünnes Eis. Sinti, Rom und Deutschland, in: Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus, hg.v.d. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 2012, S. 24–34. 214 Hans-Dieter Schmid, Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus, in: ebd., S.11–23, hier S. 12. 215 Ebd.

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»Die örtlichen Polizeistationen in ganz Bayern wurden angewiesen, jedes Erscheinen von Sinti, Roma und anderen umherziehenden Gruppen dieser Nachrichtenzentrale zu melden. Die Polizei hatte mitzuteilen, welche Personen durch die Ortschaften kamen, welche Legitimationspapiere, wie viele Tiere, insbesondere Pferde, welche Wertgegenstände sie bei sich führten, woher die Leute kamen, in welche Richtung sie weiterzogen, ob es Beanstandungen gegeben und ob die Polizei irgendwelche Maßnahmen eingeleitet hatte. Wurden die Sinti unbehelligt gelassen, mussten die Ortspolizeibehörden diese Entscheidung begründen.«216

In der Folgezeit wurden ähnliche ›Zigeunernachrichtendienste‹ auch in Karlsruhe, Stuttgart, Dresden und Berlin aufgebaut. In den Weimarer Jahren verstärkte sich das Bedürfnis nach einer reichsweiten Koordinierung dieser verschiedenen Dienststellen217 und mündete 1926 in eine ›Vereinbarung der deutschen Länder über die Bekämpfung der Zigeunerplage‹, die nach Modifikationen erst 1933 im vollen Umfang wirksam wurde.218 Insofern fanden die Nationalsozialisten bereits zum Zeitpunkt der Machtübergabe an Hitler eine praxistaugliche Grundlage für ihre rassistische Verfolgungspolitik vor, die nach einer kontinuierlichen Radikalisierung am Ende in einem zweiten Völkermord kulminierte.219

2.3.1 Ausgrenzung, Konzentration, Verfolgung In den ersten Jahren des ›Dritten Reiches‹ erfolgten Repressionen gegen Sinti und Roma zunächst eher punktuell und lokal. Mit zunehmender Stabilisierung der NSHerrschaft erfuhr die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma (häufig analog zur Verfolgung der Juden) eine kontinuierliche Verschärfung. Die zentralen Impulse kamen dabei aus dem Machtbereich Heinrich Himmlers, der als ›Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei‹ im Zuge der Zentralisierung der Polizei auch die || 216 Ludwig Eiber, »Ich wusste, es wird schlimm.« Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933–1945, München 1993, S. 15. 217 Gilad Margalit, Die deutsche Zigeunerpolitik nach 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 45. 1997, S. 557–588, belegt (auf S. 568), dass die Münchener ›Zigeunerzentrale‹ nicht von Bayern allein, sondern auch durch Zahlungen anderer deutscher Länder finanziert wurde. 218 Vgl. Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 23. 219 Mittlerweile liegen neben der immer noch sehr wertvollen Pionierarbeit von Michael Zimmermann (Verfolgt, vertrieben, vernichtet) mehrere Überblicksdarstellungen vor: Sinti und Roma unter dem Nazi-Regime. I. Von der ›Rassenforschung‹ zu den Lagern, hg.v. Zentrum für Sinti- und Romaforschung, Berlin 1996; Martin Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der ›Zigeuner‹, Lübeck 2000; Guenter Lewy, ›Rückkehr nicht erwünscht‹. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München/Berlin 2001; Donald Kenrick/Grattan Puxon, Gypsies under the Swastika, Hatfield 2009. Hinzu kommen instruktive konzise Überblicke in größeren Darstellungen wie vor allem Christopher Browning, Die Entfesselung der ›Endlösung‹. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003, S. 264–272; Benz, Holocaust, S. 93–100; Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 111–116; Schmid, Verfolgung der Sinti.

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Gestaltungsmacht für diesen Bereich immer stärker an sich zog. Eine wichtige Etappe der institutionellen Konzentration stellte, nach einigen Zwischenschritten, die 1938 vollzogene Bildung der ›Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‹, die dem neu gebildeten Reichskriminalpolizeiamt (und nicht der Geheimen Staatspolizei) angegliedert wurde. Diese per Erlass220 neu geschaffene Zentralstelle in Berlin trat – institutionell wie auch ganz praktisch durch die Übernahme des Aktenbestandes – die Nachfolge der bis dahin für die überregionale Informationssammlung zuständigen ›Zigeunerzentrale‹ der Münchener Polizeidirektion an. Gezielt wurde zudem der organisatorische Unterbau der ›Reichszentrale‹ weiterentwickelt, indem in den regionalen Kriminalpolizei(leit)stellen bis hinunter zu den Ortspolizeibehörden für diesen Bereich zuständige Sachbearbeiter beziehungsweise Vollzugsbeamten benannt wurden. Mit der am 27. September 1939 vollzogenen Bildung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) wurde die ›Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‹ schließlich in das von Arthur Nebe geleitete Amt V des RSHA eingegliedert.221 Bereits der am 6. Juni 1936 von Reichsinnenminister Wilhelm Frick veröffentlichte Runderlass ›Bekämpfung der Zigeunerplage‹ hatte die Stoßrichtung für die weitere Verfolgung von Sinti und Roma angedeutet: »Eine möglichst genaue Feststellung der Identität der sistierten Personen« sei »nicht nur aus kriminalpolizeilichen, sondern auch aus staatspolitischen Gründen erwünscht.« Da in diesem Erlass eingangs bereits konstatiert worden war, dass es schwer fallen dürfte, »das dem deutschen Volkstum fremde Zigeunervolk an ein geordnetes und gesittetes, auf ehrlichen Erwerb beruhendes Leben zu gewöhnen«222, lagen die Schlussfolgerungen auf der Hand: Die polizeiliche Kontrolle und Überwachung von Sinti und Roma hatte selbstverständlich eine genaue Ermittlung und Verfolgung begangener Delikte zu gewährleisten. Darüber hinaus ging es aber auch um ein ›staatspolitisches‹ Anliegen: Eine Teilgruppe der deutschen Gesellschaft sollte im ersten Schritt möglichst komplett ›erfasst‹ und kontrolliert werden, um sie mit darauf folgenden Maßnahmen dann ausgrenzen zu können. Da nach den Kommentaren zu den ›Nürnberger Gesetzen‹ Sinti und Roma als einzige ›artfremde Rasse‹ galten, auf die das ›Blutschutzgesetz‹ und das ›Ehegesundheitsgesetz‹ anzuwenden seien, zeichnete sich eine ähnlich bedrohliche Lage wie für die Juden im ›Dritten Reich‹ ab. Bereits aus diesem Erlass des Reichsinnenministers, der bald darauf den Einfluss auf die ›Be|| 220 Runderlass des Reichsführer SS und Chefs der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 16.5.1938, betr. ›Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‹, im Netz abrufbar unter: http://www.digam.net/tmp/digam_7061_1.jpg.pdf (letzter Abruf: 18.4.2014). 221 Zur institutionellen Entwicklung: Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 23f. 222 Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 6.6.1936, ›Bekämpfung der Zigeunerplage‹, als Faksimile abgedruckt in: Raimond Reiter, Sinti und Roma im ›Dritten Reich‹ und die Geschichte der Sinti in Braunschweig, Marburg 2002, S. 31; im Internet abrufbar unter: http://www.digam.net/tmp/digam_7471_1.jpg.pdf (letzter Abruf am 18.4.2014).

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kämpfung der Zigeunerplage‹ weitgehend an Heinrich Himmler verlieren sollte, resultierte eine deutlich stärkere Systematisierung, Formalisierung und Intensivierung der Verfolgungsmaßnahmen gegen eine auffällige und in den Augen des NSRegimes besonders unerwünschte Randgruppe. Ergänzt wurde diese intensivierte polizeiliche Überwachungstätigkeit durch pseudowissenschaftliche Legitimationsversuche der antiziganistischen NS-Politik, die vor allem durch den Nervenarzt Robert Ritter und seinen Mitarbeiterkreis getragen wurden.223 Im Rahmen des am 14. Dezember 1937 verkündeten ›Grundlegenden Erlasses zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‹224 wurden die polizeilichen Handlungsspielräume für die Verfolgung von Sinti und Roma erneut ganz erheblich erweitert. Nunmehr war festgeschrieben, dass neben Bettlern und Landstreichern auch ›Zigeuner‹ ohne Nachweis einer Straftat in Vorbeugehaft genommen und in ein Konzentrationslager eingewiesen werden konnten. Ein weiterer, am 8. Dezember 1938 veröffentlichter Runderlass des Reichsführers der SS und Chefs der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, stellte fest – wiederum zur ›Bekämpfung der Zigeunerplage‹225 – , die »Regelung der Zigeunerfrage« sei »aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen« und differenzierte anschließend in »rassereine Zigeuner« und »Zigeunermischlinge«, die »den größten Anteil an der Kriminalität der Zigeuner« hätten. Um differenziert vorgehen zu können, müssten daher zunächst alle Sinti und Roma »erfasst« und »rassenbiologisch« untersucht werden. Hinter den gewundenen Überlegungen dieses Erlasses verbirgt sich das Problem, dass die Sinti und Roma, von denen geglaubt wurde, sie stammten ursprünglich aus Indien, nach den eigenen Rassekriterien der Nationalsozialisten im Grunde hätten als ›Arier‹ klassifiziert werden müssen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, »verfiel man darauf, die Kategorie des ›Zigeunermischlings‹ zu konstruieren, der wegen seiner Verbindung mit der übrigen Bevölkerung angeblich als besonders gefährlich einzustufen sei. Man rechnete fast 90% aller Sinti und Roma zu dieser Gruppe.«226 Der am 17. Oktober 1939 per ›Schnellbrief‹ verkündete sogenannte ›Festschreibungserlass‹ oder auch ›Festsetzungserlass‹227 legte schließlich fest, dass ›Zigeuner‹ ihren Wohn|| 223 Zur willigen Mittäterschaft von Wissenschaftlern bei der Verfolgung von Sinti und Roma vgl. vor allem Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 25–39; Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, S. 123–137. 224 Der Erlass ist abgedruckt in: Wolfgang Ayaß (Bearb.), ›Gemeinschaftsfremde‹. Quellen zur Verfolgung von ›Asozialen‹ 1933–1945, Koblenz 1998, als Dokument Nr. 50. Vgl. zu dem breiteren Wirkungsspektrum dieses Erlasses das Kapitel über ›Sozialbiologisch begründete Exklusionen‹. 225 Runderlass des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 8.12.1938, im Internet abrufbar unter: http://www.digam.net/index.php?dok= 6576&h%5B0%5D=runderlass (letzter Abruf am 18.4.2014). 226 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 112; vgl. auch Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, S. 118–122. 227 Vgl. hierzu Benz, Holocaust, S. 97f.; Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 43; Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, S. 139–155.

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ort in Deutschland nicht mehr verlassen durften. Zeitgleich wurde Sinti und Roma das Wahlrecht abgesprochen. Sie galten fortan nicht mehr als Staatsbürger des Deutschen Reiches – und waren damit im Ergebnis den verfolgten Juden weitgehend gleichgestellt.228

2.3.2 Zwangsmigration und Ermordung in Auschwitz Auf Basis dieser formalen Regelungen wurde seit 1938 die Verfolgung der Sinti und Roma in die Praxis umgesetzt. Im Rahmen der ›Aktion Arbeitsscheu Reich‹229 erfolgte 1938 eine erste große Verhaftungswelle.230 In zahlreichen Städten wurden nun auch »besondere Sammellager« eingerichtet, in die Sinti und Roma zwangsweise eingewiesen wurden.231 Der Übergang von der Verfolgung zur systematischen Ermordung von Sinti und Roma erfolgte bald nach Kriegsbeginn. Mitte Mai 1940 erfolgte die Deportation von zunächst 2.500 Sinti und Roma in das Generalgouvernement. Den Betroffenen wurde mit Zwangssterilisierung und Einweisung in ein Konzentrationslager gedroht, falls sie nach Deutschland zurückkehren würden.232 In improvisierten Lagern inhaftiert, mussten die deportierten Sinti und Roma in Polen schwere Zwangsarbeit bis zur Erschöpfung leisten. Der Strategie des Generalgouverneurs Hans Frank entsprach der flexible Arbeitseinsatz, denn er wollte offensichtlich ganz bewusst, »›unhaltbare‹ Zustände herbeiführen, die eine spätere ›Entlastung‹ des Territoriums von Juden und Zigeunern plausibel erscheinen lassen sollten.«233 Wer krank wurde, blieb sich selbst überlassen. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde erschossen. Anhand der zu einer Teilgruppe vorliegenden Daten wird geschätzt, dass 80 Prozent der im Frühjahr 1940 Deportierten ums Leben kamen.234 Wer von diesen ersten Deportationen verschont blieb und zunächst noch im ›Altreich‹ verbleiben durfte, wurde unter der Androhung der Einweisung in ein Konzentrationslager genötigt, sich einer Zwangssterilisation zu unterziehen.235 Diese || 228 Als instruktiver Gesamtüberblick zu den staatlichen Diskriminierungsmaßnahmen vgl. Reiter, Sinti, S. 19–39. Als populärer Überblick auch Till Bastian, Sinti und Roma im Dritten Reich, München 2001. 229 Vgl. hierzu auch das Kapitel ›Sozialbiologisch begründeten Exklusionen‹. 230 Eine instruktive Zusammenfassung bei: Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, S. 104–110; vgl. auch Benz, Holocaust, S. 96. 231 Vgl. hierzu Karola Fings, Nationalsozialistische Zwangslager für Sinti und Roma, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9, München 2009, S. 192–217. 232 Benz, Holocaust, S. 98; Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 45–48. 233 Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 47. 234 Ebd., S. 48. 235 Exemplarische Fälle sind sowohl für Braunschweig als auch für Hannover nachgewiesen: vgl. Reiter, Sinti, S. 116; Fleiter, Stadtverwaltung, S. 280.

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»Logik der Sterilisation war eine Logik des Genozids«.236 Die an vielen Orten zwangsweise eingerichteten ›Zigeunergemeinschaftslager‹ wurde zu einem »mehrjährigen Provisorium«237, in dem die dort Festgesetzten in sozialer Isolierung von der restlichen Bevölkerung konzentriert wurden. Die letzte Etappe des Massenmordes begann im November 1941, als 5.000 Roma – und zwar vor allem Lalleri, also nicht Romani sprechende Roma aus dem österreichischen Burgenland – in das Ghetto von Lodz (im NS-Jargon: Litzmannstadt) deportiert worden. Angesichts der katastrophalen Zustände im Ghetto setzte im separierten ›Zigeunerlager‹ innerhalb des Lodzer Ghettos schnell ein Massensterben ein. Wer dieses »furchtbare Elend«238 bis Jahresende überlebt hatte, wurde im Januar 1942 im Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof) in den dort eingesetzten Gaswagen ermordet. »Kein einziger der nach Lodz Deportierten hat den Krieg überlebt.«239 Im Sommer 1942 wurden Sinti und Roma aus Ostpreußen deportiert. Ende Januar 1943 ordnete Himmler an, »Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft […] in ein Konzentrationslager einzuweisen.«240 Am 26. Februar 1943 kam der erste Transport mit Sinti aus dem Reichsgebiet in dem zu diesem Zeitpunkt noch unfertigen Bereich B IIe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau an, dem ›Zigeunerlager‹. Da immer wieder neue Deportationszüge aus dem ›Altreich‹ und dem ›Protektorat Böhmen und Mähren‹, aber auch aus anderen europäischen Ländern wie Frankreich und die Niederlande ankamen, lebten dort in den kommenden Monaten zeitweise bis zu 23.000 Menschen auf engstem Raum. Im März 1943 wurden 1.700 Sinti eines Transportes aus Białystok, den die Lagerleitung als »fleckfieberverdächtig« eingestuft hatte, sofort nach der Ankunft in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Vor allem Kinder und ältere Menschen, insgesamt wohl etwa 13.600 der mehr als 23.000 nach Auschwitz deportierten Sinti und Roma aus elf Ländern, starben aufgrund der katastrophalen Verhältnisse im Lager. Vermutlich etwa 5.600 Opfer wurden in den Gaskammern ermordet.241 Etliche wurden auch Opfer von qualvollen medizinischen

|| 236 Das Zitat bei Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 60, der ›Genocid‹ statt ›Genozid‹ verwendet. 237 So ebd., S. 51. 238 Ebd., S. 47. 239 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 114; vgl. auch Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 49f. 240 Schnellbrief des RSHA vom 29. Januar 1943, auszugsweise abgedruckt in: Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 115. 241 Diese detaillierten Zahlen nennt Miriam Bistrović im Abschnitt ›Das Zigeunerlager (B IIe) in Birkenau‹, (S. 112–118), in: Wolfgang Benz u.a., Auschwitz, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5, München 2007, S. 19–173. Vgl. zum ›Zigeunerlager‹ in Auschwitz auch Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 114–116. Als Regionalstudie zu Niedersachsen: Reinhold Baaske u.a., Aus Niedersachsen nach

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Experimenten. Ein Teil der Häftlinge wurde in andere Konzentrationslager deportiert; von ihnen überlebten wenige.242 Schließlich entschied sich die Lagerleitung von Auschwitz, das ›Zigeunerfamilienlager‹ komplett zu ›räumen‹ und alle überlebenden Sinti und Roma zu ermorden. Ein erster Versuch scheiterte im Mai 1944 am verzweifelten Widerstand der etwa 2.900 noch lebenden Häftlinge. In der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 erfolgte dann aber eine überfallartig organisierte Mordaktion, der alle noch lebenden Sinti und Roma in Auschwitz zum Opfer fielen.243 Aufgrund der Tatsache, dass der ›Porajmos‹244 erst vergleichsweise spät erforscht wurde und »der Mord an den europäischen Sinti und Roma in Hunderte von Einzelaktionen zerfiel«, herrscht bis heute noch keine Klarheit über die Opferzahlen.245 Man schätzt, dass von den etwa 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma etwa 25.000 ermordet wurden.246

2.4 Die Verfolgung von Schwarzen im NS-Staat Eine sehr kleine, maximal wohl 3.000 Personen umfassende Bevölkerungsgruppe stellten im Deutschland der Zwischenkriegszeit die Menschen schwarzer Hautfarbe dar. Sie war zudem extrem heterogen: Zu ihr zählten unter anderem Einwanderer aus den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, Nachkommen von häufig nur vorübergehend in Deutschland tätigen Diplomaten und Geschäftsleuten, aber auch schwarze Unterhaltungskünstler (wie zum Beispiel Tänzer, Sänger, Jazzmusiker) aus den USA, die Arbeit im deutschen Kulturbetrieb gesucht und gefunden hatten. Hinzu kamen schwarze Besatzungssoldaten aus Frankreich, Großbritannien und den USA, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland geblieben waren. Diese Einwanderer hatten »im Allgemeinen das Ziel in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen und unbehelligt von äußeren Einflüssen ein glückliches Dasein zu finden; sie waren bestrebt, ihr Leben nach den geltenden Normen und Regeln zu

|| Auschwitz. Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit, Bielefeld 2004; Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, S. 272–306. 242 Als exemplarische Lebensgeschichte: Karl Guth, Z 3105. Der Sinto Walter Winter überlebt den Holocaust, Hamburg 2009. 243 Die Darstellung der Mordaktionen folgt im Wesentlichen: Pohl, Verfolgung und Massenmord, S.115f.; vgl. auch Benz, Holocaust, S. 99f.; Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 61–81. 244 Auch ›Porrajmos‹, zu deutsch etwa ›das Verschlingen‹ als bevorzugte Selbstbezeichnung für den Massenmord an Sinti und Roma. 245 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 116. Die Schätzungen liegen zwischen 200.000 und 500.000 ermordeten Sinti und Roma in ganz Europa; vgl. auch Benz, Holocaust, S. 100; Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 83. 246 Bauer, Nationalsozialismus, S. 484; Angelika Königseder, Sinti und Roma, in: Benz (Hg.), Enzyklopädie, S. 730f.

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gestalten und zu meistern.«247 Seit 1940 gerieten zudem auch Tausende schwarze Kriegsteilnehmer aus den alliierten Armeen in deutsche Gefangenschaft, die sie aufgrund einer besonders schlechten Behandlung häufig nicht überlebt haben.248 Etliche Angehörige der ›Tirailleurs Sénégalais‹ wurden nachweislich auch gleich bei der Gefangennahme ermordet.249 Schon in den Weimarer Jahren verfolgte die Reichsregierung eine sehr restriktive Politik und setzte auf aktive Anreize, den schwarzen Einwanderern eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer schmackhaft machen sollten. Die zuständigen Behörden waren entschiedene Gegner »der Einbürgerung von Afrikanern, die entweder den Vermerk ›staatenlos‹ in ihren Pass gestempelt bekamen oder denen eine Bescheinigung als ›ehemaliger deutscher Schutzgebietsangehöriger‹ oder als ›früherer deutscher Schutzbefohlener‹ ausgestellt wurde.«250 Das Auswärtige Amt beauftragte 1926 die ›Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde‹ (DGfE) damit, Menschen aus den früheren deutschen Schutzgebieten durch Gewährung materieller Unterstützung zu motivieren, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Allerdings brachten diese Bemühungen zur Förderung der ›freiwilligen Ausreise‹ kaum Erfolg. Zugleich bestand kaum eine Chance, unterstützungsbedürftigen Schwarzen eine Arbeit zu vermitteln. Zu einer Verschärfung der Politik gegenüber den Deutsch-Afrikanern kam es 1928, als das Auswärtige Amt der DGfE mitteilte, man wolle »versuchen, alle Eingeborenen die unterstützt werden müssen, nach Afrika abzuschieben«.251 Als Reaktion auf den wachsenden Druck konstituierte sich 1929 in Berlin eine deutsche Sektion der ›Liga zur Verteidigung der Negerrasse e.V.‹. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten emigrierten zahlreiche Deutsch-Afrikaner nach Frankreich, unter ihnen auch Mitglieder der ›Liga‹. »Für die Verbliebenen verschlechterten sich die Lebensbedingungen dramatisch, nachdem die NS-Regierung fast alle ›Angehörigen der deutschen Schutzgebiete‹ für staatenlos erklärt hatte und der immer offenere Rassismus in der deutschen Bevölkerung den überwiegend künstlerisch tätigen Afrikanern eine weitere Ausübung ihrer Berufe in der Öffentlichkeit faktisch unmöglich machte.«252 Die DGfE ging 1936 der Gestapo zur Hand, indem sie in Zusammenarbeit mit dem Rassepolitischen Amt der NSDAP im Zuge der ›Deutschen

|| 247 Als derzeit bester Überblick zu diesem Thema: Peter Martin/Christine Alonzo (Hg.), Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus, München 2004, das Zitat auf S. 21. 248 Vgl. hierzu im selben Ausstellungsband den Abschnitt über Kriegsgefangene, ebd., S. 566– 603. 249 Julien Fargettas, Der andere Feldzug von 1940: Das Massaker an den schwarzen Soldaten, in: ebd., S. 567–581. 250 Heiko Möhle, »…wird man bemüht sein, ihnen die Rückkehr zu erleichtern.« Deutsche Afrikaner, Auswärtiges Amt und die ›Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde‹ in der Weimarer Republik, in: ebd., S. 58–66, hier S. 59. 251 Ebd., S. 63. 252 Ebd., S. 64.

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Afrika-Schau‹253 ein Verzeichnis aller noch im Reichsgebiet lebenden ›Kolonialneger‹ lieferte und damit eine präzise Erfassung und Kontrolle dieser Gruppe möglich machte.254 Aus Beziehungen ›farbiger‹ französischer und belgischer Besatzungssoldaten mit deutschen Frauen gingen im Rheinland und im Ruhrgebiet etwa 600–800 Kinder hervor, die während der Weimarer Jahre von nationalistischen Kreisen auch als ›Rheinlandbastarde‹255 diffamiert wurden. Bereits 1923 begann man, sie in Listen zu registrieren. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde die Überwachung intensiviert und im Frühjahr 1937 mit der illegalen Sterilisierung dieser ›Rheinlandkinder‹ begonnen. Koordiniert wurde diese ›Maßnahme‹, die so überraschend durchgeführt wurde, dass die Betroffenen keine Chance hatten, sich der Zwangssterilisierung zu entziehen, durch eine Sonderkommission der Geheimen Staatspolizei. Die erhaltenen Unterlagen zu dieser Aktion umfassen 436 Namen; tatsächlich dürfte aber die Zahl der zwangssterilisierten afro-deutschen und asiatisch-deutschen Kinder deutlich höher gelegen haben.256 Insgesamt ist festzuhalten, dass Afro-Deutsche bereits frühzeitig und auch sehr intensiv »ins Visier der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschine«257 gerieten. »Weil sie besonders leicht als Fremde auszumachen sind, spielen sie, obgleich ihrer Zahl nach nur von geringem Gewicht, eine herausragende symbolisch-propagandistische Rolle. An ihnen lassen sich die unerwünschten Auswirkungen der ›Rassenvermischung‹ scheinbar am besten demonstrieren.«258 Die NS-Propaganda suchte daher gezielt nach »Extremtypen«, um anhand dieser »klar das für uns unangenehme Charakteristische dieser negativen rassistischen Auslese zum Ausdruck [zu] bringen.«259 Wie komplex und widersprüchlich aber die (Verfolgungs-) Realität unter dem Nationalsozialismus tatsächlich sein konnte und dass insofern die Geschichte schwarzer Menschen im ›Dritten Reich‹ nicht ausschließlich nur als

|| 253 Vgl. hierzu Elisa von Joeden-Forgey, Die ›Deutsche Afrika-Schau‹ und der NS-Staat, in: Martin/Alonzo (Hg.), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 451–475. 254 Ebd. 255 Reiner Pommerin, ›Sterilisierung der Rheinlandbastarde‹. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918–1937, Düsseldorf 1979. 256 Nicola Lauré al-Samarai, Schwarze Menschen im Nationalsozialismus. Online-Ressource abrufbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59423/national sozialismus?p=all (Aufruf am 14.4.2014). 257 Christine Alonzo/Peter Martin, Einleitung, in: dies. (Hg.), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 11–19, hier S. 14. 258 Ebd. 259 Karl Zimmermann, Anschauung und Bild im rassenkundlichen Unterricht, in: Nationalsozialistisches Bildungswesen. Einzige erziehungswissenschaftliche Zeitschrift der Bewegung, hg.v.d. Reichsleitung der NSDAP, Hauptamt für Erzieher, 1937, S. 23–28, hier S. 24, zitiert nach Alonzo/ Martin, Einleitung, S. 17.

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eine Geschichte von Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung zu erzählen ist260, belegt exemplarisch die Autobiografie von Hans-Jürgen Massaquoi, die durch ihren publizistischen Erfolg dazu beigetragen hat, dass dieser über Jahrzehnte ausgeblendete Aspekt von Verfolgung im Nationalsozialismus sehr spät noch ›entdeckt‹ worden ist.261 Wie viele schwarze Menschen aus Deutschland geflohen sind und wie viele in den Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern umkamen, ist bislang unklar.

2.5 Sozialbiologisch begründete Exklusionen Der eugenisch-darwinistische Rassismus der Nationalsozialisten beruhte auf der Idee, dass die historische Entwicklung aus einem beständigen Kampf verschiedener Rassen gegeneinander beruhe, wobei sich die jeweils stärkere Rasse durchsetzen und die Kontrahenten unterjochen würde. In dieser Perspektive waren »die angestrebte Neuschaffung des deutschen Volkes und die praktische Vernichtung des jüdischen nur zwei Seiten ein und desselben biopolitischen Projekts.«262 Dieser »staatgewordene Rassismus der Nationalsozialisten«263 wurde aber nicht nur auf Juden und andere ›Fremdrassige‹ (wie zum Beispiel Sinti und Roma, Schwarze) angewandt. Er sah sich nicht nur ›moralisch‹ berechtigt264, den ›Volkskörper‹ der als ›arisch‹ definierten deutschen ›Herrenrasse‹ zu optimieren, sondern hierzu angesichts des auszutragenden ›Rassenkampfes‹ geradezu verpflichtet. Nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft boten sich stetig erweiterte Handlungsspielräume zur praktischen Durchsetzung einer solchen Biopolitik, die die Optimierung einer leistungsstarken und für die Ziele der NS-Ideologie einsatzbereiten ›Volksgemeinschaft‹ ermöglichten. ›Ballastexistenzen‹ und ›gemeinschaftsfremde‹ Störenfriede konnten nun ›ausgemerzt‹ werden. Sozialbiologisch begründete Exklusionsmechanismen wurden gegen Behinderte ebenso eingesetzt wie auch gegen homosexuelle und sozial auffällige oder unangepasste Menschen. Bei allen diesen Gruppen ging es nicht darum, sie – wie die politische Opposition oder die Juden – durch Terrormaßnahmen aus dem Land zu treiben. ›Zwangsmigrationen‹ kommen im Hinblick auf die genannten Gruppen somit nur als Extremformen vor: nämlich als Verschlep-

|| 260 Diese These vertritt vor allem Lauré al-Samarai, Schwarze Menschen im Nationalsozialismus. 261 Hans-Jürgen Massaquoi, »Neger, Neger, Schornsteinfeger!« Meine Kindheit in Deutschland, München 1999. 262 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 98. 263 Peukert, Genesis, S. 111. 264 Gemeint ist hier eine angenommene ›Berechtigung‹ im Sinne der von den Nationalsozialisten vertretenen ›partikularen Moral‹, nicht der in demokratischen Gesellschaften als Wertmaßstab geschätzten ›universellen Moral‹; vgl. Raphael Groß, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010.

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pung in Lager in Vorbereitung der Ermordung. »Angetreten dem ›Volkskörper‹ das ewige Leben in rassischer Reinheit zu sichern, wendete sich der nationalsozialistische Rassismus in der Praxis notwendig in die Negation des Lebens. Er vollendete sich in der seriellen und immer weiter ausgreifenden Tötung alles dessen, was er als ›lebensunwert‹ definierte.«265

2.5.1 Der Behindertenmord: Ausgrenzung, ›Verlegung‹ und ›Ausmerzung‹ von ›Ballastexistenzen‹ Erste Maßnahmen gegen Behinderte wurden bereits in der Formierungsphase des ›Dritten Reiches‹ eingeleitet: Das am 14. Juli 1933 erlassene ›Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses‹ schuf eine formale Grundlage, um Menschen mit erheblichen Behinderungen auch durch einen gegen ihren erklärten Willen angeordneten chirurgischen Eingriff unfruchtbar zu machen und damit aufgrund einer vom Staat getroffenen Entscheidung von der Fortpflanzung auszuschließen. »Wer erbkrank ist« durfte nach den Bestimmungen dieses Gesetzes zwangsweise sterilisiert werden, »wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.«266 Als ›erbkrank‹ im Sinne dieses Gesetzes wurde definiert, wer »1. [an] angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung«267 litt. Zudem stellte auch »schwerer Alkoholismus« eine mögliche Indikation für eine Zwangssterilisierung dar. Anträge auf Unfruchtbarmachung konnten die Patienten selbst sowie die Amtsärzte der Gesundheitsämter und die Leiter von Pflegeeinrichtungen stellen. Die Entscheidung oblag den eigens hierfür in den Amtsgerichtsbezirken eingerichteten Erbgesundheitsgerichten. Gegen die Urteile dieser Instanz konnte Revision eingelegt werden, die vor einem in den Oberlandesgerichtsbezirken gebildeten Erbgesundheitsobergericht verhandelt wurde. Auf Grundlage des ›Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ wurden während der NS-Zeit im Deutschen Reich gesichert mindestens 300.000268, möglicherweise aber auch mehr als eine halbe Million269 Zwangsste|| 265 Peukert, Genesis, S. 116f. 266 RGBl. 1933 I, S. 529. 267 Ebd., § 1. 268 Als relativ vorsichtige, aber aus amtlichen Dokumenten belegbare Schätzung: Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 112. 269 Vgl. Manfred Vasold, Medizin, in: Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie, S. 235–250, hier S. 243. Mit »rund 400.000« Opfern der Zwangssterilisation bewegt sich Bauer, Nationalsozialismus, S. 443, in der Mitte zwischen diesen Schätzungen. Ähnliche Angaben bei Herbst, Das nationalsozialistische

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rilisationen durchgeführt. Man geht davon aus, dass mindestens 5.000270, möglicherweise aber auch über 6.000 Menschen, vor allem Frauen, bei diesen Eingriffen gestorben sind.271 Ergänzt wurden diese frühen Anstrengungen zur Verhütung unerwünschten Nachwuchses durch das am 18. Oktober 1935 erlassene ›Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes‹272, durch das behinderten sowie psychisch und chronisch kranken Menschen die Möglichkeit zur Eheschließung verwehrt wurde. Insgesamt ist festzuhalten, dass diese Maßnahmen des NS-Staates an Debatten und Planungen der Weimarer Zeit anknüpften, ihre Umsetzung unter nationalsozialistischen Vorzeichen nun aber erheblich forciert wurde. Zwangssterilisationen hat es in der Zwischenkriegszeit auch in etlichen demokratischen Staaten gegeben – im nationalsozialistischen Deutschland lag die Zahl der durchführten Eingriffe allerdings um ein Vielfaches höher und zudem bildeten sie die Vorstufe zu weitaus radikaleren ›Maßnahmen‹ im Sinne einer negativen Selektionseugenik.273 Unter dem vernebelnden, aus dem Griechischen entlehnten Schlagwort der ›Euthanasie‹ (im Deutschen meiste übersetzt mit ›Gnadentod‹) begannen bereits im Sommer 1939 konkrete Vorbereitungen zur systematischen Ermordung behinderter Menschen. Am 18. August 1939 wurde durch einen Runderlass des Reichsinnenministers eine Meldepflicht für Missbildungen bei neugeborenen Kindern eingeführt. Ärzte und Hebammen wurden verpflichtet, solche Fälle an die zuständigen Gesundheitsämter zu melden. Auf der Basis der so gewonnenen Daten wurde ab September 1939 als erster Schritt des Behindertenmordes die sogenannte ›Kinder-Euthanasie‹ durchgeführt. Ohne die Patienten gesehen zu haben entschieden drei Gutachten über Leben und Tod. Die zur Ermordung vorgesehenen Kinder wurden ab Frühjahr 1940 in sogenannte ›Kinderfachabteilungen‹ verlegt, die in 30 psychiatrischen Anstalten eingerichtet wurden. Im folgenden Jahr wurde der Opferkreis auf Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren ausgedehnt. Man geht davon aus, dass bis zum Kriegsende mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche im Rahmen der ›KinderEuthanasie‹ ermordet wurden.274

|| Deutschland, S. 272, der von »etwa 360.000« Sterilisationen im ›Altreich‹ ausgeht und von »etwa 40.000« außerhalb des ›Altreiches‹. 270 Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 273. 271 Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ›lebensunwerten Lebens‹ 1890–1945, Göttingen 1987, S. 159, geht davon aus, dass bei den Zwangssterilisierungen »etwa 5–6.000 Frauen« und 600 Männer umkamen; vgl. auch Bauer, Nationalsozialismus, S. 442. 272 RGBl. 1935 I, S. 1246. 273 Zur Komplex der Zwangssterilisationen vgl. insgesamt: Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 110–112; Bauer, Nationalsozialismus, S. 443; vgl. auch als Pionierstudie Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. 274 Schmuhl, Rassenhygiene, S. 182–189; Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 30; Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland, S. 271; Bauer, Nationalsozialismus, S. 444.

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Da Hitler die Ansicht vertrat, offizielle staatliche Behörden seien für die Durchführung des Behindertenmordes nicht geeignet, schuf er zu diesem Zweck eine maßnahmenstaatlich (also ohne rechtliche Grundlage) tätig werdende Sonderagentur. Diese Einrichtung unter Leitung von Viktor Brack bezog ein Quartier in der Tiergartenstraße 4 im Berliner Regierungsviertel und erhielt daher den Kurznamen ›T4‹.275 Man schuf eine Reihe von Tarnorganisationen wie die ›Reicharbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstalten (RAG)‹, die die Aufgabe übernahm, die Auswahl der Opfer zu organisieren, oder die ›Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat)‹, die die Transporte der Opfer in die Tötungsanstalten durchführte. In der im Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb eingerichteten psychiatrischen Anstalt sammelte man im Rahmen der sogenannten ›Aktion T 4‹ ab Januar 1940 erste Erfahrungen mit der Ermordung behinderter Patienten durch Kohlenmonoxid in einer Gaskammer. Nachdem über 10.000 Patienten auf diese Weise ermordet worden waren, stellte man im Dezember 1940 den Betrieb der Tötungsanstalt in Grafeneck276 ein. Der Behindertenmord wurde an anderen Orten fortgesetzt: In einem umfunktionierten Teil des ehemaligen Zuchthauses und frühen Konzentrationslagers in Brandenburg an der Havel, in einem separierten Teil der Landesheilund Pflegeanstalt in Bernburg an der Saale, im Schloss Hartheim bei Linz, im Schloss Sonnenstein beim sächsischen Pirna und in der Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg. In der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden in den sechs Tötungsanstalten über 70.000 Patienten vergast. Die eigens an den Tatorten eingerichteten Standesämter hatten »Todesurkunden mit fingierten Todesursachen« ausgestellt und dabei auch Misstrauen erweckt. »Allein schon deshalb kursierten in der Bevölkerung Gerüchte. Manche Verwandten bemühten sich, genaueres über das Schicksal der Ermordeten zu erfahren. Im Frühjahr 1941 war der Mord an Behinderten in weiten Teilen des Reiches bekannt.«277 Da es auch in kirchlichen Kreisen zu punktuellen Protesten (etwa durch den katholischen Bischof von Münster, Clemens Graf von Galen, und durch den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm) kam, die dem Thema selbst in der deformierten und diktatorische eingeschränkten Öffentlichkeit des ›Dritten Reiches‹ eine gewisse kritische Präsenz verliehen, ordnete Hitler am 24. August 1941 ein verändertes Vorgehen und damit das Ende der ›Aktion T 4‹ im engeren Sinne an. Gemordet wurde weiterhin in zahlreichen psychiatrischen Anstalten, und zwar durch Verabreichung von tödlichen Injektionen oder Schlaftabletten (Luminal) sowie durch unzureichende Ernährung, die zum Verhungern führte. Im Rahmen der ›Aktion

|| 275 Schmuhl, Rassenhygiene, S. 190–214; vgl. auch Götz Aly (Hg.), Aktion T 4 1939–1945. Die ›Euthanasie‹-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987. 276 Vgl. hierzu auch die Homepage der heute dort eingerichteten Gedenkstätte unter www.gedenkstaette-grafeneck.de. 277 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 32.

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14f13‹ fielen in einer ersten Phase (bis März 1943) in den Tötungsanstalten Bernburg, Hartheim und Pirna-Sonnenstein sowie 1944 durch weitere Mordaktionen, die zum Teil in Hartheim, zum Teil auch in den Konzentrationslagern selbst stattfanden, schätzungsweise zwischen 15.000 und 50.000 nicht mehr arbeitsfähige KZHäftlinge zum Opfer.278 Die Gesamtzahl der kranken und behinderten Menschen, die bis zum Kriegsende in Deutschland und in den besetzten Gebieten ermordet worden sind, wird auf etwa 275.000 Personen geschätzt.279 Im ›Altreich‹ dürfte die Opferzahl »mit Sicherheit über 100.000« gelegen haben.280 Die Täter aus den Tötungsanstalten der ›Aktion T 4‹ bildeten kurze Zeit nach deren offizieller Einstellung den personellen Grundstock für die Vernichtungslager in Polen. Henry Friedländer hat eine pointierte Formel für den inneren Zusammenhang zwischen dem Behindertenmord und dem Holocaust, zwischen der Austreibung und Vernichtung der Juden und der ›Ausmerze‹ der als ›lebensunwert‹ eingestuften Kranken und Behindern geprägt: »Die Ideologie, das Entscheidungsprogramm, das Personal und die Tötungstechnik verbinden die Euthanasie mit der ›Endlösung‹.«281

2.5.2 Männliche und weibliche Homosexuelle Das Ausleben gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte wurde im nationalsozialistischen Deutschland unterdrückt.282 Homosexuelle Männer und lesbische Frauen – letztere allerdings in signifikant geringerem Maße – wurden diskriminiert und hatten gegenüber der Weimarer Zeit erheblich verschärfte Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen zu erleiden. Mit dem ›Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches‹ vom 28. Juni 1935 wurde der seit 1871 gültige § 175 StGB (›Unzucht zwischen Männern‹) durch einen Zusatz (§ 175a StGB) erheblich verschärft283: Aus bisher als

|| 278 Ebd., S. 139, geht von insgesamt 15.000–20.000 Opfern in beiden Phasen der Aktion 14f13 aus, Schmuhl, Rassenhygiene, S. 219, dagegen von 20.000 Ermordeten in der ersten Phase und bis zu 30.000 Opfern in der zweiten Phase. 279 Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 133. 280 Schmuhl, Rassenhygiene, S. 236. 281 Henry Friedländer, hier zitiert nach Bauer, Nationalsozialismus, S. 447; vgl. auch Browning, Entfesselung der ›Endlösung‹, S. 272–286, hier vor allem S. 286. 282 Als generelle Überblicke: Burkhard Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990; Claudia Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, 2. Aufl. Pfaffenweiler 1997; Till Bastian, Homosexuelle im Dritten Reich. Geschichte einer Verfolgung, München 2000. Als Zusammenstellung der wichtigen Dokumente: Günter Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2013. Mit systematisch erweiterter Perspektive: Michael Schwartz (Hg.), Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945, München 2013. 283 Ausführlich hierzu Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 93–100.

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›Vergehen‹ eingestuften Handlungen wurden in schweren Fällen nun ›Verbrechen‹, die mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden konnten. Zudem wurde der Straftatbestand erheblich ausgeweitet – »selbst eine ‚wollüstige Erregung reichte zur Bestrafung aus, eine körperliche Berührung brauchte gar nicht stattgefunden zu haben.«284 In deutlichem Kontrast hierzu wurden lesbische Frauen zwar sozial stigmatisiert und bisweilen auch wegen anderer Vorwürfe ausgegrenzt und verfolgt, aber nicht juristisch belangt. Sexuelle Kontakte zwischen Frauen blieben weiterhin straffrei.285 Generell ist festzuhalten, dass mit individuellen Optionen wie einem Umzug in einer andere Stadt oder der Auswanderung »den deutschen homosexuellen Männern, auch den rechtskräftig verurteilten, immer noch Ausweichmöglichkeiten zu Gebote standen, die es für andere verfolgte Minderheiten […] allenfalls noch in seltenen Einzelfällen gab.«286 Eine starke Welle staatlicher Verfolgung der Homosexuellen setzte im ganzen Reich nach der Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm am 1. Juli 1934 ein. Diese Mordaktion war unter anderem dadurch charakterisiert, dass die Beseitigung der inzwischen politisch lästig gewordenen SA-Führung stark homophob konnotiert wurde: Die bereits seit langer Zeit allgemeine bekannte Homosexualität des SAFührers Röhm wurde von Hitler und seinen willigen Exekutoren aus den Reihen der SS neben dem Vorwurf des politischen Umsturzversuches als zusätzliche moralische Legitimation zur Liquidierung der altgedienten SA-Führungsschicht instrumentalisiert.287 Dieses politische Signal schlug sich bald auch in der Verfolgungsbilanz nieder: Die Zahl der Anklagen und Verurteilungen wegen einfacher und schwerer Unzucht zwischen Männern sowie widernatürlicher Unzucht mit Tieren (also nach § 175, 175a und 175b) schnellte in die Höhe: Waren im Dreijahreszeitraum 1933 bis 1935 insgesamt 3.907 Urteile ergangen, so waren es im Zeitabschnitt 1936 bis 1938 bereits 22.153.288 Ab Mitte der 1930er Jahre ist ein deutliches Ansteigen der Verfolgungsintensität zu konstatieren, der nach Kriegsbeginn ein Rückgang auf ein wieder niedrigeres Niveau folgte.

|| 284 Rainer Hoffschildt, Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit. Zahlen und Schicksale aus Norddeutschland, Berlin 1999, S. 11; vgl. auch Bastian, Homosexuelle im Dritten Reich, S. 53– 55; Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 110–115. 285 Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik, S. 168–179 (zu sozialer Ausgrenzung und verbleibenden Handlungsspielräumen) und S. 263 (zur juristischen Situation); vgl. auch dies., Zum aktuellen Forschungsstand über lesbische Frauen im Nationalsozialismus, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 4. 2002, S. 111–116, sowie Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 111–115, u.a. auch mit dem Beispiel einer lesbischen Frau, die wegen ›Wehrkraftzersetzung‹ in ein Konzentrationslager kam. 286 Bastian, Homosexuelle im Dritten Reich, S. 55. 287 Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 95–110. 288 Ebd., S. 122.

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Mit der ›Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‹289 hatte sich die Geheime Staatspolizei ein maßnahmenstaatliches Instrument zur Verfolgung sexuell unerwünschten Verhaltens geschaffen. Der geheime Gründungserlass vom 10. Oktober 1936 bezeichnete Homosexualität als »eine der größten Gefahren für die Jugend« und signalisierte mit der Formulierung, diese »Volksseuche« müsse nun wirksamer bekämpft werden, die Absicht, eine schärfere Gangart bei der Verfolgung schwuler Männer einschlagen zu wollen.290 In der zweiten Hälfte der 1930erJahre kam es häufiger zu Razzien291, zu ›Sittlichkeitsprozessen‹, bei denen vor allem Angehörige des katholischen Klerus sowie Anhänger der bürgerlichen Jugendbewegung in den Fokus gerieten292 und sogar zu Undercoveraktionen, bei denen Polizisten den agents provocateur gaben.293 Mit dem am 14. Dezember 1937 vom Innenministerium veröffentlichten Erlass über ›Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei‹ und den hierzu am 4. April 1938 ergangenen ergänzenden ›Richtlinien‹ wurden die »planmäßige polizeiliche Überwachung« erheblich ausgedehnt und den Polizeibehörden mit der ›polizeilichen Vorbeugungshaft‹ ein sehr wirksames Instrument an die Hand gegeben. Wer dreimal wegen einer Straftat, zum Beispiel bestimmter ›Sittlichkeitsdelikte‹ wie »Unzucht mit Kindern« oder zu pflegenden Personen, zu einer Haftstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden war, konnte nun als ›Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher‹294 in ›polizeiliche Vorbeugehaft‹ genommen werden, die für Männer in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau, für Frauen auf der Lichtenburg bei Prettin an der Elbe vollstreckt wurde. Diese ohne juristische Überprüfung von der Kriminalpolizei verfügte Inhaftierung sollte so lange dauern, »wie ihr Zweck es erfordert«. Eine Überprüfung, ob eine Fortdauer noch angezeigt sei, war »spätestens nach 2jähriger Haft, jedoch nicht vor Ablauf von 12 Monaten« vorzunehmen. Charakteristisch für die maßnahmenstaatliche Ausweitung von Befugnissen war die Formulierung einer Art Generalklausel, die besagte, dass auch in ›Vorbeugehaft‹ genommen werden konnte, »wer, ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet«.295 Damit war klar, dass diese erweiterte polizeiliche Ermächtigung zur Verfolgung unerwünschter Verhal|| 289 Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 139–170; Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 122–134. 290 Der Erlass ist abgedruckt bei Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 122–125. 291 Ein Beispiel aus Hamburg ist dokumentiert bei Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 173. 292 Vgl. ebd., S. 174–177 sowie Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 243–246 und 321–326; Jürgen Müller, Ausgrenzung der Homosexuellen aus der ›Volksgemeinschaft‹. Die Verfolgung der Homosexuellen in Köln 1933–1945, Köln 2003, S. 38–41. 293 Ein Beispiel aus Frankfurt a.M. bei Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 191–194. 294 Vgl. zu diesem Komplex auch den folgenden Abschnitt. 295 Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 181–191, die Zitate aus dem Erlass vom 14. Dezember 1937 auf S. 188 (Dauer) und S. 183 (Generalklausel).

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tensweisen nach Belieben auch gegen homosexuelle Männer296 (oder auch lesbische Frauen) sowie auch gegen die gewerbsmäßige Prostitution (Zuhälter, Prostituierte) Verwendung finden konnte. Zu einer weiteren Verschärfung der Verfahrenspraxis kam es, als Heinrich Himmler am 12. Juli 1940 das ausführende Reichskriminalpolizeiamt anwies, im Rahmen der ›vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‹ »in Zukunft alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in Vorbeugungshaft zu nehmen.«297 Die ›Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‹ wurde im Oktober 1939 organisatorisch wieder aus der überlasteten Gestapo ausgegliedert und dem Reichskriminalpolizeiamt unterstellt. Ihre Aufgabe der zentralisierten Erfassung und Registrierung Homosexueller hatte sie engagiert betrieben: Bis 1940 wuchs die Kartei der als ›Jugendverführer‹ und ›Strichjungen‹ verdächtigten Männer auf über 40.000 Personen an.298 Von der seit Jahresbeginn 1938 bestehenden Möglichkeit, Homosexuelle nach einer Verurteilung sofort und ohne juristische Überprüfungsmöglichkeit in ›Vorbeugehaft‹ beziehungsweise ›Schutzhaft‹ zu nehmen, hatten man rege Gebrauch gemacht. Zunächst schätzte man, dass während der NSZeit zwischen 5.000 und 15.000 homosexuelle Männer Opfer einer solchen Deportation in ein Konzentrationslager geworden sind; Ergebnisse neuerer Forschungen lassen eine Zahl von etwa 5.000 bis 6.000 plausibel erscheinen.299 Im Konzentrationslager erhielten inhaftierte Homosexuelle in der Regel einen rosa Winkel, der sie einer der untersten Stufen der informellen Häftlingshierarchie zuordnete und damit in besonderer Weise den vielfältigen Grausamkeiten des Lageralltags aussetzte. Entsprechend stellten sie eine Teilgruppe mit einer hohen Todesrate dar300 – und gehören somit zu dem Kreis der aus der NS-›Volksgemeinschaft‹ nicht nur zwangsweise Ausgegrenzten, sondern in vielen Fällen auch ›Ausgemerzten‹. Man geht von

|| 296 Wie komplex Einzelfälle sein konnten verdeutlicht recht gut: Andreas Pretzel, Als ›Berufsverbrecher‹ im Konzentrationslager 1943, in: ders./Gabriele Roßbach (Hg.), Wegen der zu erwartenden hohen Strafe… Homosexuellenverfolgung in Berlin 1933–1945, Berlin 2000, S. 290–296. 297 Hier zitiert nach Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 139. 298 Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 139–170, mit der Zahlenangabe von »41.000 als homosexuell bestraften oder verdächtigen Männern« auf S. 140; vgl. auch Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 122–134. Er nennt für 1940 die Zahl von 42.000 registrierten Homosexuellen (S. 132). 299 Die älteren Schätzungen gleichlautend bei Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 328, und Bastian, Homosexuelle im Dritten Reich, S. 73; die konservativere neue Schätzung bei Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 327. 300 Vgl. Thomas Rahe, Bergen-Belsen, in: Wolfgang Benz/Barbara Diestel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 7, München 2008, S. 185–220, hier S. 208; vgl. auch Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 327–358. Detaillierte Fallstudien in: Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, hg.v.d. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 1999.

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bis zu 4.000 Todesopfern aus.301 Zugleich ist damit eine deutliche Differenz zu anderen Verfolgtengruppen – wie vor allem den Juden sowie den Sinti und Roma, die Opfer eines organisierten Völkermordes wurden – zu markieren: Insgesamt zielte die vor allem von Heinrich Himmler bestimmte Politik des NS-Staates zwar »auf die Ausrottung der Homosexualität als Erscheinungsform […] gesellschaftlichen Lebens, aber nicht auf die Ermordung jedes Einzelnen, der homosexuell war bzw. sich homosexuell betätigte.«302 Besonders drakonische Strafen, bis hin zur Todesstrafe, wurden – den deutlich formulierten Wünschen Hitlers und Himmlers gemäß – von Gerichten verhängt, sofern Angehörigen der Wehrmacht, der SS oder der Polizei strafbare homosexuelle Handlungen nachgewiesen wurden oder homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen stattgefunden hatten.303

2.5.3 Die ›maßnahmenstaatliche‹ Verfolgung von ›Asozialen‹, ›Arbeitsscheuen‹ und ›Gewohnheitsverbrechern‹ Ähnlich wie die Behinderten, psychisch Kranken und Homosexuellen standen nach den Bewertungsmaßstäben der Nationalsozialisten auch andere soziale Randgruppen der geforderten Leistungsfähigkeit des ›deutschen Volkskörpers‹ im Wege. Gebrandmarkt als ›Asoziale‹, ›Arbeitsscheue‹ und ›Gewohnheitsverbrecher‹ gerieten sie im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft immer stärker in den Fokus der sozialbiologisch begründeten Verfolgungsmaßnahmen. »Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft vollkommen unerwünscht«304, stellten die per Runderlass des Reichsinnenministeriums am 18. Juli 1940 veröffentlichten ›Richtlinien zur Beurteilung der Erbgesundheit‹ apodiktisch fest. Soziale Desintegration resultierte nach den Erklärungsmustern der nationalsozialistischen Rassenhygiene vornehmlich aus erblichen Belastungsfaktoren. Entsprechend dieser Deutung wurde der Übergang vom abweichenden Verhalten zur Behinderung fließend – und im Grunde nahezu bedeutungslos, da beide Auffälligkeiten gleichermaßen zu Stigmatisierung und Verfolgung führten. Diese pseudomedizinisch verbrämte rassenhygienische

|| 301 Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 327. 302 Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 327; vgl. zu dieser Überlegung auch Günter Grau, Schmerzhafte Erinnerungen, in: Lutz van Dijk, Einsam war ich nie. Schwule unter dem Hakenkreuz 1933–1945, Berlin 2003, S. 142–158. 303 Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit, S. 209–251; Jellonek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 117–119. 304 Richtlinien zur Beurteilung der Erbgesundheit vom 18. Juli 1940, hier zitiert nach Ayaß (Bearb.), ›Gemeinschaftsfremde‹, Nr. 104; vgl. auch ders., »Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft vollkommen unerwünscht«. Die Zwangssterilisationen von sozialen Außenseitern, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisationen und ›Euthanasie‹, Frankfurt a.M. 2005, S. 111–119.

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Verfolgung wurde flankiert durch das bereits angesprochene305, immer stärker ausgeweitete Konzept der ›vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‹. Die umfassendste koordinierte Einzelmaßnahme gegen soziale Außenseiter stellte die 1938 durchgeführte ›Aktion Arbeitsscheu Reich‹ dar, in deren Verlauf über 11.000 Männer in das Konzentrationslager Dachau beziehungsweise die noch im Aufbau befindlichen Lager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt wurden.306 Begründet wurde dieses brachiale Vorgehen gegen die als ›Arbeitsscheue‹ und ›Asoziale‹ gebrandmarkten Personen mit dem im Zuge des Vierjahresplans erheblich erhöhten Bedarf an Arbeitskräften, der es nicht mehr zulasse, »dass asoziale Menschen sich der Arbeit entziehen und somit den Vierjahresplan sabotieren«.307 Wie willkürlich diese ›Maßnahme‹ des NS-Regimes tatsächlich war, zeigte sich ganz deutlich in der Anweisung, dass pro Kriminalpolizeistellenbezirk jeweils mindestens 200 männliche ›Asoziale‹ in Vorbeugehaft zu nehmen seien. Vor allem Landstreicher und Bettler, aber auch Zuhälter und mehrfach wegen kleinerer Delikte Vorbestrafte sowie auch Sinti und Roma waren durch die ›Aktion Arbeitsscheu Reich‹ betroffen, die aufgrund von Abstimmungsschwierigkeiten und polykratischem Machtgerangel der beteiligten Behörden nicht zeitgleich, sondern in zwei Schritten im April 1938 durch die Gestapo und im Juni 1938 durch die Kriminalpolizei erfolgte. Mehrheitlich scheint es sich um Personen ohne festen Wohnsitz und ohne festes Arbeitsverhältnis gehandelt zu haben. Verhaftet wurden sie vor allem bei Razzien in Nachtasylen, Einrichtungen der Wandererfürsorge und auf offener Straße.308 Über diese Gruppe der bis heute weitgehend vergessenen Opfer des NS-Terrors berichtete der Lagerälteste des KZ Sachsenhausen, Harry Naujoks: »Ins Lager kamen Zigeuner, weil sie Zigeuner waren; Bettler, auch wenn sie einen festen Wohnsitz hatten; Landstreicher, weil sie keinen festen Wohnsitz hatten; Zuhälter, wenn sie verdächtigt, aber nicht überführt waren und somit nicht dem Richter vorgeführt werden konnten. Vorwand für eine Einlieferung ins Konzentrationslager konnte auch eine Strafe von einem Monat Gefängnis sein oder eine Geldstrafe, die der Gefängnisstrafe von einem Monat entsprach. Wer wegen Trunkenheit oder als Prügelheld bestraft war, wer Alimente nicht regelmäßig bezahlte, wer sich überhaupt auf irgendeine Weise der Einordnung in die ›Volksgemeinschaft‹ widersetzte, wer diesem oder jenem Nazi nicht gefiel, konnte als ›Asozialer‹ festgenommen werden. Hinzu kamen sozialschwache, zerbrochene, am Leben verzweifelte, kranke und verkrüppelte Menschen, um die sich die soziale Fürsorge hätten kümmern müssen.«309

|| 305 Vgl. hierzu den vorangegangenen Abschnitt. 306 Wolfgang Ayaß, Die Einweisung von ›Asozialen‹ in Konzentrationslager, in: Dietmar Sedlaczek u.a. (Hg.), ›Minderwertig‹ und ›asozial‹. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, Zürich 2005, S. 89–103, hier S. 89f.; vgl. auch Klaus Scherer, ›Asozial‹ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten, Münster 1990. 307 Zitiert nach Ayaß, Die Einweisung von Asozialen, S. 92. 308 Ders., ›Asoziale‹ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 140–165. 309 Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942, Berlin 1987, S. 77f.

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Wäre es nach Heinrich Himmler gegangen, so wäre auch die Verfolgung dieser heterogenen Gruppe unangepasster Menschen noch stärker formalisiert und entgrenzt worden. Eine grundlegende juristische Handhabe bot zwar bereits das am 24. November 1933 erlassene ›Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregelungen der Sicherung und Besserung‹310, mit dem Strafen verschärft und die Möglichkeit der Sicherheitsverwahrung eingeführt worden waren. Das reichte Himmler aber nicht mehr aus – er strebte nach einer noch umfassenderen Handlungsermächtigung. Gestalt gewinnen sollte sie durch ein ›Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder‹, über das seit Jahresbeginn 1939 intensiv zwischen dem Innenministerium, dem Reichssicherheitshauptamt und dem Justizministerium verhandelt wurde. Dass die bis Ende 1944 in etlichen weiteren Entwurfsfassungen mündenden Verhandlungsergebnisse am Ende keine Gesetzesform mehr erreichten, ist vor allem dem polykratischen Kompetenzgerangel zwischen Polizei und Justiz um möglichst weitreichende Kompetenzen zuzuschreiben.311 Tatsächlich hätte die Verwirklichung dieser Gesetzesinitiative die ›maßnahmenstaatliche‹312 Prägung des ›Dritten Reiches‹ universalisiert. Im letzten Entwurf des so lange beratenen Gesetzes wurde in § 1, Absatz 1 als ›gemeinschaftsfremd‹ definiert, »wer sich nach Persönlichkeit und Lebensführung, insbesondere wegen außergewöhnlichen Mangels des Verstandes oder des Charakters außerstande zeigt, aus eigener Kraft den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft zu genügen«.313 In den folgenden Absätzen wurde diese generelle Bestimmung dann heruntergebrochen auf Verhaltensweisen wie ›Arbeitsbummelei‹ und ›Arbeitsscheu‹, ›Liederlichkeit‹ und Ausschreitungen in der Trunkenheit, ›Betrügereien‹ und ›ungeordnetes Leben‹ usw. Auf der Basis dieses Gesetzes sollte auch sanktioniert werden, wer »Unterhaltspflichten verletzt« oder »nach seiner Persönlichkeit und Lebensführung zu erkennen gibt, dass seine Sinnesart auf Begehung von ernsten Straftaten gerichtet ist«.314 Fixiert worden wäre somit »ein völlig neues nationalsozialistisches Strafrecht«, das nicht mehr auf die tradierten Leitgedanken von Schuld und Sühne bezogen gewesen wäre, sondern den Charakter »einer rein präventiven Schutzmaßnahme für die ›Volksgemeinschaft‹« gehabt hätte.315 Die Transformation des früher vorhandenen Rechts|| 310 RGBl. 1933 I, S. 995–999. 311 Ayaß, ›Asoziale‹ im Nationalsozialismus, S. 202–209; vgl. auch Patrick Wagner, Das Gesetz über die Behandlung von Gemeinschaftsfremden. Die Kriminalpolizei und die ›Vernichtung des Verbrechertums‹, in: Wolfgang Ayaß u.a. (Hg.), Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, Berlin 1988, S. 75–100 sowie Gerhard Werle, JustizStrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989. 312 Im Sinne des von Ernst Fraenkel eingeführten Deutungsmusters; vgl. Fraenkel, Der Doppelstaat. 313 Entwurf des ›Gesetzes zur Behandlung Gemeinschaftsfremder‹ (1944), hier zitiert nach Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 262. 314 Ebd. 315 Müller, Ausgrenzung der Homosexuellen, S. 75.

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staates in einen absoluten Polizeistaat wäre vollendet worden. »Praktisch konnten die Kriterien der ›Gemeinschaftsfremdheit‹ jeden treffen, der die Normen alltäglichen Sozialverhaltens verletzte.«316 Die um Begriffe wie den ›Gemeinschaftsfremden‹ oder den ›Volksschädling‹ kreisenden Überlegungen gewannen vor allem noch für das Strafrecht (aber nicht mehr in systematischer Weise für die ›vorbeugende Verbrechensbekämpfung‹) konkrete Gestalt, und zwar in Form der unmittelbar nach Kriegsbeginn, nämlich am 5. September 1939, erlassenen ›Verordnung gegen Volksschädlinge‹.317 Mit ihr wurden die Strafen für zahlreiche Delikte (wie zum Beispiel Plündern, Brandstiftung sowie alle »Verbrechen oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum«, die »unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen« begangen wurden) ganz erheblich verschärft. Auf der Basis der bereits am 17. August 1938 erlassenen, aber erst am 26. August 1939 veröffentlichten ›Kriegssonderstrafrechtsverordnung‹318 und häufig auch explizit unter Bezug auf die ›VolksschädlingsVerordnung‹ verhängten die in den Oberlandesgerichtsbezirken gebildeten Sondergerichte, der Volksgerichtshof und weitere zivile Gerichte in den Kriegsjahren rund 16.650 Todesurteile, von denen etwa 80 Prozent auch vollstreckt wurden.319

2.6 Die Zeugen Jehovas als ›Wegbereiter des jüdischen Bolschewismus‹ und ›Wehrkraftzersetzer‹ Zu den Bevölkerungsgruppen, die sich grundlegenden Verhaltensanforderungen der Nationalsozialisten mit besonderer Konsequenz und in erheblicher Zahl verweigerten und die daher in den Fokus der Verfolgungsbehörden gelangten, gehörten auch die Mitglieder der ›Internationalen Bibelforscher-Vereinigung‹ (IBV), die sich seit 1931 selbst als ›Zeugen Jehovas‹ bezeichneten. Diese christlich-chiliastische Religionsgemeinschaft war um 1880 von Charles Taze Russell in den USA gegründet worden. Der in Deutschland aktive Zweig der IBV umfasste 1933 wohl 25.000, höchstens 30.000 Personen.320 Zahlenmäßig von weitaus geringerer Bedeutung waren die || 316 Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 263. 317 RGBl. 1939 I, S. 1679. 318 RGBl. 1939 I, S. 1455–1457. 319 Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 119f. 320 Diese Schätzung bei Merit Petersen, Der schmale Grat zwischen Duldung und Verfolgung. Zeugen Jehovas und Mormonen im ›Dritten Reich‹, in: Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene ›Volksgemeinschaft‹. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 122–150. Die etwas geringere Schätzung von ca. 25.000 Mitgliedern bei M. James Penton, Jehova´s Witnesses and the Third Reich. Sectarian Politics under Persecution, Toronto 2004, S. 4., sowie bei Detlef Garbe, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland – Ein Überblick, in: Widerstand aus christlicher Überzeugung – Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus. Dokumentation einer Tagung, hg.v. Kreismuseum Wewelsburg, Essen 1998, S. 16–27, hier S. 23.

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noch strenger an die Lehren des Gründers angelehnten ›Ernsten Bibelforscher‹, die sich 1917 vom Mainstream des IBV getrennt hatten, aber in der eher undifferenzierten Wahrnehmung des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates nicht immer präzise von der Hauptgruppe geschieden werden konnten. Häufig wurden daher im NS-Verfolgungsapparat die Begriffe ›Bibelforscher‹ (auch: ›Ernst Bibelforscher‹) und ›Zeugen Jehovas‹ weitgehend synonym gebraucht, obwohl dies der Selbstwahrnehmung dieser kleinen Glaubensgemeinschaften nicht entsprach. Den Hass nationaler und völkischer Kreise hatten sich die ›Bibelforscher‹ bereits während des Ersten Weltkriegs auf sich gezogen, da sie den nahenden Weltuntergang prophezeiten und ihre Anhänger konsequent den Kriegsdienst verweigerten. Hitler hasste die ›Bibelforscher‹ in besonderem Maße, dem Nationalsozialismus galten sie insgesamt als ›Wegbereiter des jüdischen Bolschewismus‹.321 Obwohl die Glaubensgemeinschaften der ›Zeugen Jehovas‹ und der ›Ernsten Bibelforscher‹ bereits im Frühjahr 1933 in allen deutschen Ländern verboten worden waren, versuchten sie ihre Missionstätigkeit aufrechtzuerhalten.322 Zudem gab es sehr viele Konfliktfelder mit dem Regime, die aus der konsequenten Einhaltung der rigiden Glaubensgrundsätzen der Gemeinschaft resultierten: »Die Zeugen Jehovas verweigerten den ›Hitler-Gruß‹, da es ihnen unmöglich war, einem Menschen das nach biblischem Verständnis allein Gott vorbehaltene ›Heil‹ auszusprechen. Die Nichtteilnahme an den von den Nationalsozialisten als öffentliche Bekundungsakte zum ›Führerstaat‹ veranstalteten ›Wahlen‹ und ›Volksabstimmungen‹ und die Verweigerung der Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften führten zu einer weiteren Verschärfung des Konfliktes. Die Ablehnung des Beitritts zur ›Deutschen Arbeitsfront‹ hatte für zahlreiche Zeugen Jehovas den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge. Die in Staatsdiensten, bei Post-, Bahn- und anderen Reichsbetrieben beschäftigten Zeugen Jehovas wurden unter Berufung auf das ›Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ vom 7. April 1933 aus ihren Stellungen entlassen. In späteren Jahren führte die Weigerung, die Kinder in die ›Hitlerjugend‹ zu geben, in Hunderten von Fällen zu Sorgerechtsentziehungen, d.h. zur Wegnahme der Kinder von ihren Eltern.«323 Zur tödlichen Bedrohung wurde für viele männliche Mitglieder der Zeugen Jehovas ihre durch die Glaubensgrundsätze der Gemeinschaft motivierte Verweigerung, Kriegsdienst zu leisten. Die Wehrmachtsjustiz akzeptierte diese religiös motivierte Verweigerung nicht, sondern interpretierte sie als ›Wehrkraftzersetzung‹ und verhängte deshalb in großer Zahl Todesurteile. Insgesamt ist davon auszugehen, || 321 So die Wahrnehmung der ›Zeugen Jehovas‹ durch die Nationalsozialisten; vgl. Garbe, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 17. 322 Als einschlägiger monographischer Überblick: Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im ›Dritten Reich‹, München 1993. Als kompakte Information auch ders., ›Ernste Bibelforscher‹, in: Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie, S. 449f. 323 Garbe, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 19.

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dass »ungefähr 10.000« Mitglieder der Zeugen Jehovas »für eine unterschiedlich lange Dauer« in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert worden ist. Das wären etwa zwei Fünftel aller Mitglieder. Die Zahl der in Konzentrationslagern Ermordeten und durch die Wehrmachtsjustiz abgeurteilten und Hingerichteten wird zusammen auf etwa 1.200 geschätzt – das entspricht ungefähr 5 Prozent dieser widerspenstigen Religionsgemeinschaft.324 Damit hat diese kleine Bevölkerungsgruppe einen sehr hohen Blutzoll erbracht und aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen eine starke Verfolgung zu erleiden gehabt. Zugleich gilt aber auch, dass ihre Ausgrenzung aus der ›Volksgemeinschaft‹ bis hin zur Zwangsmigration in Lager und Gefängnisse oder der physischen Vernichtung nicht aufgrund einer rassistischen Kategorisierung geschah, sondern aufgrund konkreter Verhaltensweisen, die im ›Dritten Reich‹ als schwer zu bestrafende Delikte galten. Das NS-Regime wollte nicht alle Zeugen Jehovas als Personengruppe ›ausmerzen‹, wohl aber ihren Widerstand gegen die nationalsozialistischen Verhaltensanforderungen mit aller Gewalt brechen.325

3 Fazit: Staatliches Handeln, Selbstmobilisierung der Aktivisten und das Mitmachen der Durchschnittsbevölkerung Betrachtet man die nationalsozialistische Gewaltpraxis, die erlassenen Gesetze und die durchgeführten ›Aktionen‹ und ›Maßnahmen‹ so rücken als Auslöser für die während der NS-Herrschaft im ›Altreich‹ zu beobachtenden Zwangsmigrationen vor allem drei Akteursgruppen in den Blick: erstens lokale gewaltbereite Akteure vor Ort, die Angst und Schrecken verbreiteten und die Adressaten dieses ›wilden Terrors‹ in die Emigration trieben oder als Opfer weiterer Verfolgung präparierten; zweitens die Schreibtischtäter in den Ministerien, Justizbehörden, Gesundheitsverwaltungen und anderen Ämtern, die Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen ersannen und abstimmten, auf deren Basis die Entrechtung, Ausplünderung und Aussonderung, kurzum: die Austreibung unerwünschter Bevölkerungsgruppen vollzogen wurde; drittens die unmittelbaren Täter des Holocaust, die in den Lagern des ›Dritten Reiches‹ Juden, Sinti und Roma, aber auch politische Gegner und gesellschaftlich unangepasste Menschen quälten, ausbeuteten und ermordeten. || 324 Zu den Opferzahlen: Garbe, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 23; ders., Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 483. Vgl. auch Petersen, Zeugen Jehovas, S. 141f.; Hans Hesse (Hg.), Persecution and Resistance of Jehovah´s Witnesses During the Nazi Regime 1933–1945, Bremen 2001. 325 Penton, Jehova´s Witnesses, S. 237: »The Nazis did not want to kill all Jehova´s Witnesses; they simply wanted to break their resistance to National Socialism«.

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Häufig sind die konkreten Verursacher von erzwungenen oder durch Drohung stimulierten Migrationsbewegungen nicht trennscharf zu differenzieren, denn durchstrukturiertes und von der zentralen Ebene gesteuertes staatliches Handeln (wie Gesetzgebung, Verordnungen etc.) und die von untergeordneten Institutionen und Akteuren in ihrer alltäglichen Praxis entfaltete Gewaltausübung gingen meist Hand in Hand, ergänzten, überlagerten und verstärkten sich damit gegenseitig. Vielfach ist es im polykratischen Zusammenspiel der sich häufig komplex überlappenden Zuständigkeiten und Kompetenzen zu folgenreichen Selbstmobilisierungen von untergeordneten Amtsträgern und Verwaltungsbeamten gekommen, die mit überbordendem vorauseilenden Gehorsam »Dem-Führer-Entgegen-Arbeiten«326 wollten. Der antisemitisch geprägte Radikalismus und Rassismus des harten Kerns der nationalsozialistischen Überzeugungstäter bildete gleichsam als Resonanzboden eine wesentliche Grundlage für von der Regimeführung geplante und systematisch angelegte terroristische Einsätze, wie sie im ›Altreich‹ bis 1933 und noch einmal im November 1938, im besetzten Europa dagegen in der Kriegsjahren kontinuierlich erfolgten. Diese sich im Laufe der Jahre kumulativ radikalisierende Handlungspraxis327 korrespondierte zugleich mit einer wachsenden Bereitschaft in der breiten Bevölkerung, den Verhaltensanforderungen der Regimeführung wenn schon nicht mit Begeisterung und Überzeugung, dann aber zumindest mit williger (und gelegentlich auch widerwilliger) Loyalität zu begegnen. Für die Zeitspanne zwischen der ›Machtergreifung‹ und der Desillusionierung weiter Bevölkerungskreise im Gefolge der Niederlage von Stalingrad ist dieses Verhalten je nach Standpunkt als wachsende Zustimmungsbereitschaft (Frank Bajohr328) oder auch als Eingehen auf ein korrumpierendes Angebot zur Komplizenschaft (Götz Aly329) interpretiert worden. Nüchterner könnte man auch formulieren: Wer als Deutscher nicht den beschwerlichen und mutigen Weg ins Exil oder in den Widerstand ging, konnte sich dem von der Regimeführung und ihren Handlangern aufgebauten und in der Alltagspraxis mit Nachdruck durchgesetzten Handlungsrahmen im Zwangssystem ›Volksgemeinschaft‹ kaum entziehen. Peter Brückner kommt in seinen Kindheitsund Jugenderinnerungen zu dem plausiblen Schluss, während der NS-Diktatur sei selbst ein Dissident »bei aller Frechheit und Intelligenz über weite Strecken hilflos«

|| 326 Zu dieser Denkfigur besonders prägnant: Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, München 1998, S. 663–744. 327 Vgl. zu diesem Interpretationsansatz: Mommsen, Hitlers Stellung, vor allem S. 84–97. 328 Frank Bajohr, Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, in: Hamburg im ›Dritten Reich‹, hg.v.d. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, S. 69–121. 329 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005. Als Pionierstudie zum gesamten ›Euthanasie‹-Komplex noch immer lesenswert: Ernst Klee, ›Euthanasie‹ im NS-Staat. Die ›Vernichtung lebensunwerten Lebens‹, Frankfurt a.M. 1983.

642 | Detlef Schmiechen-Ackermann

gewesen; »über die Technik der ›kleinsten Schritte‹« sei er zwangsläufig »Mitglied in einer kriminellen Vereinigung« geworden. »Viele dieser Schritte sind alltäglich, ja für jedes Bürgerleben in den modernen Staaten konstitutiv. Ich brauchte, wie jedermann, einen Personalausweis, eine carte d´identité – wer gab sie mir? Begann mit diesem Identitätspapier nicht schon die Fälschung von Person und Identität? Oder: ich unterschrieb einen Standardarbeitsvertrag, wenn ich Geld verdienen wollte (oder musste, wie meist) – was unterschrieb man damit noch?«330

Diese Interpretation wird man vermutlich auch im Hinblick auf das weitgehende Ausblenden der maßnahmenstaatlich erzwungenen Migrationsbewegungen im ›Dritten Reich‹ in Rechnung stellen müssen. Die Entscheidungsträger an der Spitze von Staat und Partei gestalteten nicht nur im Hinblick auf das Phänomen der Zwangsarbeit und die repressive Bevölkerungspolitik im besetzten Europa (beides Aspekte, die in diesem Beitrag ausgeklammert wurden, da sie an anderer Stelle behandelt werden), sondern auch auf die deutsche Bevölkerung im ›Altreich‹ die wesentlichen Grundzüge und verbindlichen Eckpunkte der ausgelösten Zwangsmigrationen. Sie bedienten sich dabei eines durch lokale Akteure praktizierten Spektrums an Formen unmittelbarer Gewaltanwendung, aber auch formalisierter struktureller Gewalt in Gestalt von Gesetzen, Verordnungen und wirtschaftlichen Bestimmungen. Ziel dieser höchst effektiven Ausgrenzungspolitik war die Verfolgung und Vertreibung, bisweilen auch die Ermordung von politischen Gegnern und – als positiv formuliertes Ziel – die pseudowissenschaftlich verbrämte Optimierung der ›arischen Volksgemeinschaft‹. Diese vom rassistischen Wahn getriebene ›Ausmerze‹ von Behinderten, Unangepassten, sozial Auffälligen und ›Fremdvölkischen‹ mündete in die extremste Form der Zwangsmigration, nämlich die Deportation in die Lager und den Völkermord an Juden sowie Sinti und Roma.

|| 330 Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980, S. 110.

Mark Spoerer

Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft Im Zweiten Weltkrieg setzte das nationalsozialistische Deutschland mit dem ›Reichseinsatz‹ im besetzten und teils auch im neutralen Europa eine riesige, überwiegend erzwungene Migrationsbewegung von Arbeitskräften in Gang.1 Doch nicht nur in den Grenzen des sich ständig erweiternden Deutschen Reichs benötigte das nationalsozialistische Regime Arbeitskräfte. Auch in großen Teilen der besetzten Gebiete übertraf die Nachfrage der deutschen Besatzer das lokale Arbeitsangebot, sodass Arbeitskräfte aus anderen Teilen des deutschen Einflussgebiets angelockt oder zwangsrekrutiert wurden. Für Millionen von Menschen bedeutete dies Arbeit fern der Heimat – das heißt, sie konnten nicht nach der täglichen Arbeit oder wenigstens am Wochenende nach Hause zurückkehren und lebten somit monateoder sogar jahrelang in einer ungewohnten, oft feindlichen Umgebung, in der Akte der Solidarität oder Empathie weitaus seltener waren als im vertrauten sozialen Umfeld. Für den deutschen Einflussbereich gibt es in seiner Gesamtheit keine zuverlässige Schätzung über die Anzahl der Menschen, die wegen einer freiwilligen oder erzwungenen Arbeitsaufnahme für die Zwecke des Deutschen Reiches ihre Heimat längerfristig (das heißt mindestens für mehrere Monate) verließen beziehungsweise verlassen mussten. Alleine in den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion arbeiteten auf dem Höhepunkt der deutschen Machtausdehnung grob geschätzt ca. 24 Millionen Menschen für die Zwecke der Deutschen, unter denen sich der Anteil der dislozierten Arbeitskräfte auf mehrere Millionen Menschen belaufen haben muss.2 Nur für Deutschland liegen Zahlenangaben vor, die die tatsächliche Größenordnung akzeptabel abschätzen. Demnach gingen im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs etwa zwei Millionen Menschen freiwillig zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland (und zurück), während weitere elf bis zwölf Millionen Männer und Frauen Opfer von Zwangsmaßnahmen und dauerhaft an der (legalen) Rückkehr nach Hause gehindert wurden. Von diesen insgesamt etwa 13,5 Millionen im Deutschen Reich tätigen Menschen überlebten ungefähr 2,7 Millionen (20 Prozent) den || 1 Grundlegende Monographien zum Thema Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ›Ausländer-Einsatzes‹ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999 (1. Ausgabe 1985); ferner Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Dritten Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart/München 2001. 2 Vgl. Mark Spoerer, Der Faktor Arbeit in den besetzten Ostgebieten im Widerstreit ökonomischer und ideologischer Interessen, in: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, 2. 2006, S. 68–93, hier S. 88.

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›Arbeitseinsatz‹ und seine Begleitumstände nicht, insbesondere sowjetische Kriegsgefangene und Konzentrationslagerhäftlinge.3 In diesem Kapitel wird drei Aspekten nachgegangen. Erstens ist nach den Ursachen zu fragen, weshalb das riesige nationalsozialistische Arbeitskräfteprogramm entstand und wie es sich entwickelte. Zweitens werden Richtung und Umfang der Migrationsströme zu beschreiben sein, die es auslöste. Drittens schließlich ist zu untersuchen, in welcher Weise der ›Reichseinsatz‹ auf die Gesellschaft und auf die Politik im Reich zurückwirkte – schließlich war 1933 und selbst noch Mitte 1941 die Hereinnahme von Millionen von Sowjetbürgern sowie Zehntausender von Juden ins Reich undenkbar gewesen. In Übereinstimmung mit dem geographischen Fokus dieses Handbuchs muss dabei diejenige Arbeitskräftemigration außen vor bleiben, die für die Zwecke des Deutschen Reichs, aber nicht auf seinem Territorium stattfand. Um die Dimension dieses noch wenig erforschten Phänomens deutlich zu machen, sei lediglich beispielhaft darauf verwiesen, dass Deutschland etwa in Norwegen über hunderttausend Sowjetbürger (zumeist Kriegsgefangene) und Polen sowie einige Tausend gefangen genommene Partisanen aus Jugoslawien einsetzte, dass die Organisation Todt auf ihren Baustellen in West-, aber auch in Osteuropa Zehntausende westeuropäischer Zivilarbeiter beschäftigte, dass deutsche Besatzungsbehörden auf den britischen Kanalinseln neben sowjetischen ›Ostarbeitern‹ und ›Rotspaniern‹ unter anderem auch Häftlinge aus dem KZ Neuengamme arbeiten ließen und dass Tausende ungarische Juden zur Arbeit in serbische Kupferbergwerke geschickt wurden.4

|| 3 Vgl. zur Definition von Zwangsarbeit und den Zahlenangaben Mark Spoerer/Jochen Fleischhacker, Forced Laborers in Nazi Germany. Categories, Numbers, and Survivors, in: Journal of Interdisciplinary History, 33. 2002, S. 169–204; dies., The Compensation of Nazi Germany’s Forced Labourers. Demographic Findings and Political Implications, in: Population Studies, 56. 2002, S. 5– 21. 4 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit, S. 57, 63, 68; Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SSBaubrigaden, Paderborn 2005, S. 197–214; Zvi Erez, Jews for Copper: Jewish-Hungarian Labor Service Companies in Bor, in: Yad Vashem Studies, 28. 2000, S. 243–286; Sabine Rutar, Arbeit und Überleben in Serbien. Das Kupfererzbergwerk Bor im Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft, 31. 2005, S. 101–134, hier S. 124f.; Marianne Neerland Soleim, Sovjetiske krigsfanger i Norge, 1941–1945: antall, organisering og repatriering, Tromsø 2004; dies. (Hg.), Prisoners of War and Forced Labour: Histories of War and Occupation, Newcastle 2010; Fabian Lemmes, Arbeiten für den Besatzer: Lockung und Zwang bei der Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940–1945, in: Dieter Pohl/Tanja Sebta (Hg.), Zwangsarbeit in Hitlers Europa. Besatzung, Arbeit, Folgen, Berlin 2013, S. 83–103.

Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft | 645

1 Hintergründe des ›Reichseinsatzes‹ Die massenhafte freiwillige und unfreiwillige Arbeitskräftemigration ins ›Dritte Reich‹ ist auf die verstärkten Rüstungsanstrengungen Deutschlands zurückzuführen. Schon lange vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, spätestens zum Zeitpunkt der Verkündung des Vierjahresplans im September 1936, litt das ›Dritte Reich‹ unter gravierendem Arbeitskräftemangel. Da zu diesem Zeitpunkt in den europäischen Nachbarländern immer noch hohe Erwerbslosigkeit als Folge der Weltwirtschaftskrise herrschte, war eine wesentliche Voraussetzung für eine grenzüberschreitende Arbeitskräftemigration durchaus gegeben. Doch in Deutschland herrschte spätestens seit der Bankenkrise vom Juli 1931 chronischer Devisenmangel, der durch die Aufrüstung noch verstärkt wurde. In dieser Lage ausländische Arbeitskräfte ins Reich zu holen, hätte wegen der zu erwartenden Geldüberweisungen in die Heimatländer die zeitweise verzweifelte Devisenlage des Reichs weiter erschwert.5 Ab dem Kriegsbeginn, und insbesondere nachdem im Spätherbst 1941 offensichtlich wurde, dass sich Deutschland auf einen längeren Krieg würde einstellen müssen, weitete sich der Arbeitskräftemangel aus. Die Wehrmacht benötigte immer mehr Material, was die Anforderungen an die Rüstungsindustrie erhöhte, aber auch immer mehr Soldaten, was ihr zugleich die Beschäftigten entzog. In dieser Situation gab es mehrere Optionen, das Arbeitsvolumen auszuweiten: eine Erhöhung der Arbeitszeit je Beschäftigtem, die Erhöhung der Beschäftigtenzahl durch verstärkte Heranziehung von deutschen Frauen oder durch die Hereinnahme weiterer Ausländer. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde im gewerblichen Bereich bis mindestens März 1944 nur wenig ausgeweitet. Betrug die Wochenarbeitszeit etwa im Montanbereich 1936 48,2 Stunden, so erhöhte sie sich bis März 1944 lediglich auf 52,3 Stunden. Im Baugewerbe ging die Wochenarbeitszeit zwischen 1939 und 1944 sogar wieder zurück, sodass sie im März 1944 mit 46,5 Stunden lediglich eine halbe Stunde länger währte als 1936.6 Für die Beschäftigung in der Landwirtschaft gibt es keine verlässlichen Zahlen, doch weisen viele Quellen darauf hin, dass die Arbeitsbelas-

|| 5 Vgl. zu den Devisenproblemen bei der Ausländerbeschäftigung Lothar Elsner/Joachim Lehmann, Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus 1900 bis 1985, Berlin 1988, S. 157f. Die zentrale Bedeutung der Devisenlage für die NS-Wirtschaft betont auch Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006. 6 Berechnet nach Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944, München 1949, S. 470f. Für den Montanbereich wurden die Branchen Bergbau, eisenschaffende Industrie, NichteisenMetallindustrie, Gießerei-Industrie und metallverarbeitende Industrie mit ihren jeweiligen Beschäftigungsgewichten (ebd., S. 238) gemittelt. Vgl. auch Rüdiger Hachtmann, Arbeitsmarkt und Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1929 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte, 27. 1987, S. 177–227, hier S. 208f.

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tung dort erheblich anstieg, insbesondere für mithelfende Familienangehörige.7 Selbst wenn man für die gesamte deutsche Wirtschaft für das erste Quartal 1944 eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 50 Stunden unterstellt, hätte die Jahresarbeitszeit nicht annähernd den Wert von 1913 (2.723 Stunden) erreicht.8 Wenn sich das Regime mit Rücksichtnahme auf die Stimmung in der Bevölkerung nicht in der Lage sah, die Arbeitszeit je Beschäftigtem substanziell zu erhöhen, so musste ihm umso mehr daran gelegen sein, die Anzahl der Beschäftigten insgesamt zu erhöhen. Nachdem das Regime 1933/34 zur Bekämpfung (männlicher) Erwerbslosigkeit viele Frauen mit Anreizen oder direkten Interventionen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt hatte, förderte es nun die Arbeitsaufnahme vor allem kinderloser Frauen, allerdings eher halbherzig. Die Erwerbsquote deutscher Frauen stieg zwischen 1933 und Sommer 1939 nur sehr geringfügig von 49,3 auf 50,9 Prozent (51,7 Prozent in den Grenzen von 1939). Im Verlauf des Krieges erhöhte sie sich dann noch auf etwa 53 Prozent.9 Doch eine weitere Ausweitung der Erwerbstätigkeit deutscher Frauen hätte stärkere Zwangsmaßnahmen erforderlich gemacht, gegen die sich selbst unter den allgemein verschärften Verhältnissen des Krieges Gruppen innerhalb des Regimes aussprachen, die dies aus machttaktischen und ideologischen Gründen ablehnten.10

|| 7 Vgl. Clifford R. Lovin, Farm Women in the Third Reich, in: Agricultural History, 60. 1986, H. 3, S. 105–123, hier S. 115–117. 8 Vgl. Michael Huberman, Working Hours of the World Unite? New International Evidence of Worktime, 1870–1913, in: Journal of Economic History, 64. 2004, S. 964–1001, hier S. 982. 9 Die Frauenerwerbsquote wird hier aus der Anzahl der arbeitenden bzw. arbeitsuchenden Frauen durch die Gesamtzahl aller Frauen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren errechnet nach Angaben in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1935, S. 13, 17; ebd., 1941/42, S. 25, 39; Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944, München 1949, S. 32. Die Anzahl der erwerbstätigen deutschen Frauen 1944 (in den Grenzen von 1939) ergibt sich aus der Angabe für die inländischen arbeitsbuchpflichtigen Arbeiterinnen und Angestellten in: Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich 1944, H. 11/12, S. 4 (11,3 Millionen), abzüglich der Angaben für die zwischenzeitlich annektierten Gebiete und zuzüglich den darin nicht enthaltenen Angaben für weibliche Selbstständige und mithelfende Familienangehörige, für die die Werte aus dem Jahre 1939 eingesetzt werden, da spätere Angaben nicht verfügbar sind. Etwas geringfügigere Ziffern (da für das Reich in den Grenzen von 1939) bei Nicholas Kaldor, The German War Economy, in: Review of Economic Studies, 13. 1945/46, S. 33–52, hier S. 37. Zum internationalen Vergleich ebd. und Clarence D. Long, The Labor Force in War and Transition. Four Countries, New York 1952, S. 1–4, 21, 33, 37–45; Dörte Winkler, Frauenarbeit im ›Dritten Reich‹, Hamburg 1977, S. 176–186. 10 Vgl. Pia Gerber, Erwerbsbeteiligung von deutschen und ausländischen Frauen 1933–1945 in Deutschland. Entwicklungslinien und Aspekte politischer Steuerung der Frauenerwerbstätigkeit im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1996; Annette Strauß, Die Frauenarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie des Ersten und Zweiten Weltkrieges, in: Günther Schulz (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning, Paderborn 1996, S. 163–184, hier S. 176–179.

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Die inländischen Arbeitsmarktressourcen waren somit schon bei Kriegsbeginn weitgehend erschöpft. Als letzter Ausweg blieb daher nur der verstärkte Einsatz ausländischer Arbeitskräfte. Wie Ulrich Herbert in seiner grundlegenden Untersuchung über den ›Arbeitseinsatz‹ herausarbeitete, hat es ein nationalsozialistisches Arbeitskräfte-Programm im Sinne einer ausgearbeiteten und langfristigen Planung vor dem und im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.11 Gleichwohl war dem komplexen Ineinandergreifen verschiedener Interessen und Maßnahmen der Anwerbung und Deportation ausländischer Arbeitskräfte durchaus Erfolg beschieden. Nimmt man den Höhepunkt des ›Reichseinsatzes‹, als im vierten Quartal 1944 etwa 7,4 Millionen ausländische Zivilarbeiter12, knapp zwei Millionen Kriegsgefangene und etwa 700.000 KZ-Häftlinge für die Kriegswirtschaft im Deutschen Reich arbeiteten, als Fluchtpunkt, so lassen sich drei weitgehend voneinander isolierte Kontinuitätslinien ausmachen, die erst ab 1940, verstärkt seit 1942 konvergierten: erstens die traditionelle Beschäftigung (ziviler) ausländischer Arbeitskräfte, zweitens der Einsatz von Kriegsgefangenen vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und drittens die Heranziehung von KZ-Häftlingen und Juden zu Zwangsarbeit, die zunächst in erster Linie disziplinierende und demütigende, weniger produktive Funktion gehabt hatte. Die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte war in der Weimarer Republik deutlich niedriger gewesen als im Kaiserreich und sank in der Weltwirtschaftskrise noch weiter. Ausgerechnet nach der Machtübernahme der dezidiert ausländerfeindlichen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei nahm die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte ab 1936 stark zu, ohne jedoch bis Kriegsbeginn wieder an den Stand des späten Kaiserreichs heranzureichen. Die Anzahl der ausländischen Arbeitskräfte im Reich stieg von 109.000 im Jahre 1932 auf 227.000 1935/36 und erreichte somit wieder den Stand der Jahre 1926 bis 1930. Ab dem Jahr 1936/37 stieg die Zahl der beschäftigten Ausländer stark an. Doch selbst mit 436.000 im Jahre 1938/39 stellten sie lediglich 2 Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland. Die wichtigsten Herkunftsländer waren die Tschechoslowakei, Polen, Österreich und die Niederlande.13

|| 11 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 44, 401f. 12 Basierend auf der offiziellen Statistik (Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, 1944, H. 11/12, 30.12.1944, S. 24) wird in der Literatur für den Stichtag 30.9.1944 stets die Zahl von 6,0 Millionen ausländischen Zivilarbeitern angegeben. Wie ebd. jedoch in Anm. 10 ausgeführt wird, wurden die 1,4 Millionen im Wartheland arbeitenden ›Schutzangehörigen des Deutschen Reichs‹, ganz überwiegend ethnische Polen, nicht miteingerechnet; vgl. Mark Spoerer, NS-Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Eine Statistik vom 30. September 1944 nach Arbeitsamtsbezirken, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49. 2001, S. 665–684, hier S. 670, Mark Spoerer/Jochen Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2013, S. 195–197. 13 Zahlenangaben aus Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1934, Berlin 1934, und dass., 1941/42, Berichtszeitraum jeweils 1. April bis 31. März.

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Mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei und Polens bot sich ab 1939 im Prinzip auch die Möglichkeit, Ausländer mit Gewaltandrohung und -anwendung zur Arbeit zu zwingen. Innerhalb Deutschlands hatten die Behörden bereits seit Mai 1934 und spätestens Anfang 1935 die arbeitsrechtliche Vertragsfreiheit schwerwiegend eingeschränkt, in dem sie den Arbeitsplatzwechsel erschwerten. Mit der Dienstverpflichtung hatten sie zudem seit 1938 die Möglichkeit, Deutsche in Beschäftigungsverhältnisse zu zwingen, was sie vor allem beim Bau des Westwalls ab Juni 1938 nutzten. Dennoch machte das Regime aus politischen Rücksichtnahmen zunächst nur wenig Gebrauch von Zwangsmaßnahmen, die in aller Regel nur unverheiratete junge Männer betrafen. Mit der Anwendung von Gewalt gegenüber Ausländern hatte Deutschland im Ersten Weltkrieg gemischte Erfahrungen gemacht. Nach Kriegsausbruch im August 1914 untersagten die deutschen Behörden im Reich befindlichen polnischen Zivilarbeitern, soweit sie nicht aus dem verbündeten Österreich-Ungarn kamen, nach Ablauf ihres Vertrages die Rückkehr in ihre Heimat. Darüber hinaus begannen die Deutschen im Generalgouvernement Warschau, insbesondere aber im Militärverwaltungsgebiet ›Ober-Ost‹ , die lokale Bevölkerung gegen ihren Willen zur Zwangsarbeit heranzuziehen.14 Diese Maßnahmen stießen auf starken Widerstand der Bevölkerung, sodass das Reich ab Ende 1916 wieder verstärkt auf Freiwilligkeit setzte. 1917/18 kamen daher immerhin ca. 410.000 Polen nach Deutschland.15 Großen außenpolitischen Schaden richtete der Zwangseinsatz von Belgiern in der deutschen Industrie an. Die deutschen Besatzer deportierten 1916/17 rund 61.000 von ihnen nach Deutschland. Aufgrund des starken internationalen Drucks, aber auch des Widerstands der belgischen Bevölkerung, ließen die deutschen Behörden 1917 von direkten Zwangsmaßnahmen ab und setzten auf eine Kombination aus Verschlechterung der Lebensbedingungen in Belgien und materiellen Anreizen für die Arbeit in Deutschland, was durchaus einen gewissen Erfolg hatte. 1917/18 befanden sich rund 110.000 Belgier in Deutschland.16 Insgesamt spielte jedoch der Einsatz ausländischer Zivilarbeitskräfte im Deutschen Reich im Ersten Weltkrieg eine quantitativ geringe Rolle. Auf dem Höhepunkt im Sommer 1918 waren es gerade einmal 900.000.17

|| 14 Vgl. Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn 2011. 15 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1919, S. 313; Herbert, Fremdarbeiter, S. 32– 37. Hierzu und zum Folgenden siehe auch den Beitrag von Jens Thiel in diesem Band. 16 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1919, S. 313; Fernand Passelecq, Déportation et travail forcé des ouvriers et de la population civile de la Belgique occupée (1916–1918), Paris/New Haven 1927, S. 395–399; Luc Vandeweyer, De verplichte tewerkstelling tijdens de eerste wereldoorlog, in: Le travail obligatoire en Allemagne 1942–1945, Brüssel 1993, S. 39–48, hier S. 43. 17 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986, S. 114.

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Viel wichtiger für die Wirtschaft des Ersten Weltkriegs war dagegen der ›Arbeitseinsatz‹ von insgesamt etwa 2,5 Millionen kriegsgefangenen Soldaten und Unteroffizieren. Die unerwartet vielen Kriegsgefangenen, die Deutschland machte – schon im November 1914 belief sich ihre Zahl auf eine halbe Million18 –, wurden zunächst nur zu wenig produktiven Arbeiten eingesetzt, etwa in der Bodenmelioration. Erst als die durch den Kriegsausbruch hervorgerufene Erwerbslosigkeit durch immer höhere Materialforderungen in Arbeitskräftemangel umschlug und Abhilfe immer dringlicher wurde, kamen ab Frühjahr 1915 verstärkt Kriegsgefangene in Landwirtschaft und Industrie zum ›Arbeitseinsatz‹.19 Zunächst hatte der Einsatz in der Landwirtschaft Priorität. Dabei erwiesen sich jedoch die strengen Bewachungsvorschriften als kontraproduktiv, sodass sie bis Herbst 1915 mehrfach gelockert wurden. Ab 1915/16 kam es jeweils im Winter zur ›Rotation‹ der Kriegsgefangenen, die aus der Landwirtschaft an industrielle Arbeitsplätze versetzt wurden. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1916 standen mindestens 90 Prozent der kriegsgefangenen Mannschaften und Unteroffiziere im ›Arbeitseinsatz‹.20 Dies war völkerrechtskonform, insoweit die Tätigkeiten »in keinerlei Beziehung zu den Kriegsunternehmungen« standen, eine Bestimmung der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907, die von deutscher Seite im Kriegsverlauf mit immer großzügigerer Rücksichtnahme auf die Erfordernisse des ›Arbeitseinsatzes‹ ausgelegt wurde. Das von der HLKO ausgesprochene Verbot des Einsatzes von Offizieren wurde dagegen vom Reich respektiert.21 Der Anteil aller Ausländer – freiwillige Zivilarbeitskräfte, polnische und belgische zivile Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene – betrug im Ersten Weltkrieg sehr wahrscheinlich zu keinem Zeitpunkt mehr als 10 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland.22 Die dritte Kontinuitätslinie, die den nationalsozialistischen ›Arbeitseinsatz‹ vor allem in der Phase seit 1942 immer mehr mitbestimmen sollte, war der Einsatz von KZ-Häftlingen und Juden. Für diese beiden Gruppen war Zwangsarbeit zunächst ein || 18 Margarethe Klante, Die Kriegsgefangenen in Deutschland, in: Hans Weiland/Leopold Kern (Hg.), In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkrieg in Einzeldarstellungen, Bd. 2, Wien 1931, S. 171–192, hier S. 174. 19 Vgl. Hans Fuhrmann, Die Versorgung der deutschen Landwirtschaft mit Arbeitskräften im Weltkriege, Diss. Berlin, Würzburg 1937, S. 63; Jochen Oltmer, Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg. Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914–1918, Sögel 1995, S. 308f., 337. 20 Johannes Bell (Hg.), Völkerrecht im Weltkrieg, Bd. III/1, Berlin 1927, S. 331, 333. 21 Vgl. Reichsgesetzblatt 1910, S. 107–151, Zitat S. 134. Vgl. zur Auslegung der HLKO Kai Rawe, »…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!« Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005, S. 70f.; ferner Jochen Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914–1918, in: ders. (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 67–96. 22 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit, S. 24.

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Mittel, sie zu erniedrigen und zu schikanieren. In den frühen Konzentrationslagern nötigte die Lagerleitung den Häftlingen oft sinnlose Tätigkeiten auf, etwa schwere Sandsäcke auf einen Hügel und dann wieder hinunterzuschleppen. Besonders hart war auch Arbeit in Steinbrüchen, Torfgruben und Mooren. Einen ganz ähnlichen Charakter hatte Zwangsarbeit, die österreichischen und deutschen Juden seit Herbst 1938 auferlegt wurde. Den Anfang machten die Behörden in der gerade angeschlossenen ›Ostmark‹, die im September 1938 in Wien die ersten österreichischen Juden zur Zwangsarbeit heranzogen. Im Anschluss an die ›Reichskristallnacht‹ vom November 1938 wurden einige Wochen später auch im ›Altreich‹ jüdische Erwerbslose über die Arbeitsämter zur Zwangsarbeit, meistens in Form von Ernte- sowie Straßenbau- und -unterhaltungsarbeiten verpflichtet, ab Oktober 1940 auch in der Industrie. Im Sommer 1941 erreichte der Zwangsarbeitseinsatz deutscher Juden mit 51.000 bis 53.000 Männern und Frauen seinen Höchststand, ehe sie ab Mitte Oktober desselben Jahres in die Vernichtungslager deportiert wurden. Den Schlusspunkt bildete die ›Fabrikaktion‹, als die Sicherheitsbehörden Ende Februar/Anfang März 1943 die letzten als Rüstungsarbeitskräfte eingesetzten Juden nach Osten verschickten.23 Dass das Zusammenspiel dieser drei Kontinuitätslinien bis 1944 zu einer zeitweilig fast zehn Millionen Menschen umfassenden Zwangsarbeitskräftepopulation führte, die sich im Wesentlichen aus ausländischen Zivilarbeitskräften, Kriegsgefangenen und Häftlingen zusammensetzte, ergibt sich erst aus der Rückschau. Zwangsläufig war dies nicht. Wie Ulrich Herbert in seiner Studie nachgewiesen hat, gab es vor allem von ideologischer Seite erhebliche Widerstände gegen eine Ausweitung der Ausländerbeschäftigung im Reich. Die kritischen Wendepunkte lassen sich nach Herbert auf den November 1939 und den Oktober 1941 datieren24; ein dritter dürfte um den Frühherbst 1942 anzusetzen sein. Schon im Herbst 1939 musste nach dem erfolgreichen Polenfeldzug in den inneren Zirkeln des Regimes die Frage entschieden werden, ob die Hereinnahme polnischer Zivilarbeitskräfte in großem Umfang erwünscht war. Angesichts des dringenden Arbeitskräftebedarfs konnte das Regime es sich nicht leisten, auf das polnische Potenzial zu verzichten, zumal es andernfalls die Arbeitsanforderungen gegenüber der eigenen Bevölkerung hätte ausweiten müssen. Doch es musste auch darauf achten, nicht seine eigenen rassepolitischen Vorstellungen zu kompromittieren. So entstand zwischen Pragmatikern und Ideologen ein »Herrschaftskompromiss« (Herbert): Die Polen wurden einerseits nach Deutschland gelassen beziehungsweise dorthin deportiert, um zu arbeiten, jedoch andererseits einem diskriminierenden Sonder(un)recht unterworfen, das dafür sorgte, dass der vermeintliche Abstand in

|| 23 Vgl. Wolf Gruner, Jewish Forced Labor Under the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938– 1944, Cambridge 2006, S. 4, 57–80. 24 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 77–85, 158–166.

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der ›rassischen‹ Wertigkeit zwischen Deutschen und Polen seine Entsprechung im Alltag fand. Polnische Zivilarbeitskräfte, unabhängig davon, ob sie freiwillig nach Deutschland gekommen oder dorthin verschickt worden waren, unterlagen fortan – seit März 1940 gebündelt in den ›Polenerlassen‹ – in Hinblick auf ihre Arbeit und ihren Alltag schlechteren Bedingungen als Deutsche und Ausländer aus verbündeten, neutralen oder westeuropäischen Staaten.25 Knapp zwei Jahre später stand eine ähnliche Entscheidung zur Diskussion: Sollte das ›Dritte Reich‹ sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion ins Reich bringen, um sie dort zur Arbeit heranzuziehen? Die Bewohner der Sowjetunion standen als ›slawische Untermenschen‹ in der Rassenskala des Nationalsozialismus noch unter den Polen. Insofern waren die Vorbehalte, sie in Deutschland einzusetzen, noch größer. Als jedoch ab Ende September 1941 abzusehen war, dass die Operationen im Osten zumindest nicht vor Winterbeginn abzuschließen waren und zudem der Arbeitskräftebedarf immer dringlicher wurde, ordnete Hitler am 31. Oktober den Großeinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen an. Eine Woche später erließ Hermann Göring detaillierte Richtlinien für den Einsatz von zivilen Arbeitskräften aus der Sowjetunion. Da diese beiden Regelungen den Bestrebungen der Pragmatiker entgegenkamen, überließ man es den Ideologen im Reichssicherheitshauptamt, die sich lange gegen den ›Russeneinsatz‹ gesträubt hatten, den Rahmen für dessen konkrete Ausgestaltung festzulegen. Die im Februar 1942 erlassenen Bestimmungen über den ›Arbeitseinsatz‹ der nunmehr ›Ostarbeiter‹ genannten sowjetischen zivilen Arbeitskräfte waren noch schärfer als die für die Polen zwei Jahre zuvor. Die Lebensbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen und der ›Ostarbeiter‹ verschlechterten sich zwei Monate später nochmals drastisch, als ihre Lebensmittelrationen herabgesetzt wurden.26 Noch ein drittes Mal sollten die Dämme gegen die Zwangsmigration vermeintlich minderwertiger ›Rassen‹ nach Deutschland brechen. Diesmal waren es jedoch die Bannerträger der nationalsozialistischen Ideologie selbst, die im Abwägen pragmatischer und ideologischer Ziele Ersteren den Vorzug gaben. Nachdem die Sicherheitsorgane jahrelang alles daran gesetzt hatten, das ›Dritte Reich‹ ›judenfrei‹ zu machen, erkannte Himmler, dass das ihm unterstehende Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) mit den KZ-Häftlingen über die letzte große Arbeitskräftereserve verfügte, unter denen sich auch viele Juden befanden. Nachdem Versuche, ein eigenes SS-Wirtschaftsimperium aufzubauen, gescheitert waren, beschränkte sich das WVHA ab September 1942 im Wesentlichen auf das Ausleihen von KZHäftlingen an interessierte Rüstungsbetriebe.27 || 25 Vgl. ebd., S. 85–95. 26 Vgl. ebd., S. 178–182, 187–190. 27 Vgl. Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, München 1999, S. 171–175; Marc Buggeln, Slave Labor in Nazi Concentration Camps, Oxford 2014, Kap. 1.

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Der Verleih von KZ-Häftlingen führte zu einer partiellen Umlenkung der Zwangsmigrationsströme, die Bestandteil des Holocaust waren. Die Juden, die in Transporten aus dem ganzen deutsch besetzten Europa in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Ostmitteleuropas eintrafen, wurden nach Arbeitsfähigkeit selektiert. Insbesondere von den ungarischen Juden, die im Frühjahr 1944 als letzte in die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie kamen, wurden viele an der berüchtigten Rampe von Auschwitz als arbeitsfähig klassifiziert. Sie wurden meist an andere Konzentrationslager im Reich überstellt und von dort in Arbeitskommandos eingeteilt.28

2 Die Arbeitskräftemigration Nach diesem Überblick über Ursachen und Entwicklung des ›Arbeitseinsatzes‹ im Reich sind nun die wesentlichen migrationspolitischen Maßnahmen, die mit ihm verbunden waren, zu beschreiben. Auf dem Höhepunkt der deutschen Machtausdehnung waren die mit dem ›Arbeitseinsatz‹ betrauten Besatzungsbehörden des Reiches fast überall auf dem europäischen Kontinent mit der Rekrutierung von Arbeitskräften beschäftigt. In den verbündeten, formell autonomen Staaten Süd- und Südosteuropas konnten die deutschen Werber zunächst keinen direkten Druck auf die Bevölkerung ausüben. Bei diesen Staaten handelte es sich um Italien, Kroatien, die Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Um in diesen Ländern dennoch Anwerbungen durchführen zu können, musste das Deutsche Reich bilaterale Abkommen schließen, die vor allem die Regelung devisen- und sozialversicherungsrechtlicher Fragen zum Gegenstand hatten. Sowohl in diesen Staaten als auch in den besetzten Gebieten galt als Grundsatz, dass die Anwerbung ausschließlich den inländischen, gegebenenfalls von Deutschen beratenen oder geleiteten Arbeitseinsatzbehörden vorbehalten bleiben sollte.29 Doch in West- und Mittelosteuropa, wo viele gut ausgebildete Facharbeiter lebten, führten deutsche Großunternehmen eigene Anwerbemaßnahmen durch. Da die Arbeitseinsatzbehörden in dieser Sache ein Monopol für sich beanspruchten, untersagten sie seit 1940 der Industrie, eigenmächtig vorzugehen, doch die setzte sich kontinuierlich darüber hinweg. Das Problem erledigte sich erst im Laufe des Jahres 1943, als sich kaum noch Freiwillige für den Einsatz im luftkriegsgefährdeten Deutschland gewinnen ließen.30

|| 28 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit, S. 52, 107–114. 29 Vgl. Bruno Heinze, Die Beschäftigung gewerblicher ausländischer Arbeiter, in: Deutsches Arbeitsrecht, 10. 1942, S. 84–87, hier S. 84; [Max] Timm/Heimbürge, Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland, Berlin 1942, S. 44–101. 30 Vgl. Reichsarbeitsblatt 1940/I, S. 383f.; Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänderund Gewerbeaufsichtsverwaltung, Berlin 1943, S. 258; Handbuch für die Dienststellen des General-

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Ende 1941 wurde zudem offensichtlich, dass die Sowjetunion nicht durch einen Blitzkrieg niedergeworfen werden konnte. Ein Abnutzungskrieg und eine entsprechende Umstellung der Kriegswirtschaft waren unvermeidlich. Die Wehrmacht zog immer mehr Männer ein, sodass sich der Arbeitskräftemangel im Reich empfindlich verstärkte. Um die Anwerbung in den besetzten Gebieten zu intensivieren und den ›Arbeitseinsatz‹ im Reich besser zu koordinieren, ernannte Hitler im März 1942 Fritz Sauckel zum ›Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz‹ (GBA). Sauckel installierte eigene Beauftragte in den besetzten Gebieten oder bevollmächtigte andere militärische beziehungsweise zivile Arbeitseinsatzdienststellen, die einerseits die Anwerbung für den ›Reichseinsatz‹ koordinieren und andererseits auch darauf schauen sollten, dass die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen der deutschen Besatzungsbehörden ein günstiges Klima für die Anwerbung schufen, etwa dadurch, dass ein deutliches Lohngefälle im Vergleich zum Reich geschaffen oder aufrechterhalten wurde. Außerhalb der Reichsgrenzen beschäftigte die deutsche Arbeitseinsatzverwaltung auf dem Höhepunkt der Expansion 1942/43 etwa 4.000 Angestellte, davon mindestens 1.500 im Generalgouvernement und den besetzten Gebieten der Sowjetunion, weitere 1.000 in Frankreich und über 400 in Belgien und den Niederlanden. Die amtliche Anwerbung für den ›Arbeitseinsatz‹ im Reich fand in allen besetzten Gebieten und verbündeten Staaten einschließlich der nicht besetzten Länder Bulgarien und Spanien, nicht jedoch in Finnland, Portugal, Rumänien, Schweden und der Schweiz statt.31 Die Anwerbung von Industriearbeitern verlief in Städten dergestalt, dass die Werber Anzeigen in Zeitungen schalteten und Plakataktionen durchführten. Davon angezogene Interessenten stellten sich bei einem deutschen Werbebüro vor, das eine medizinische und fachliche Untersuchung veranlasste. Waren beide Seiten handelseinig, unterschrieben die Interessenten einen Einheitsvertrag, erhielten von ihrem Staat die erforderlichen Ausreisepapiere und fuhren zu einem festgesetzten Termin mit Hunderten anderer Freiwilliger in einem Sonderzug nach Deutschland. Die Gewinnung von Landarbeiterinnen und Landarbeitern erwies sich als wesentlich mühseliger. Da die potenziellen Interessenten auf dem Land verstreut wohnten und nur zum Kirchgang in größeren Massen zusammenströmten, fand die Werbung auf den Dörfern häufig sonntags statt. Wie im Mittelalter ließen die Werber dafür Trommler aufmarschieren. Wer sich von den (oft überzogenen) Versprechungen

|| bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und die interessierten Reichsstellen im Großdeutschen Reich und in den besetzten Gebieten, Berlin 1944, S. 79f. 31 Vgl. Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung 1941, S. 536f.; Dieter G. Maier, Arbeitseinsatzverwaltung und NS-Zwangsarbeit, in: Ulrike Winkler (Hg.), Stiften gehen: NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000, S. 67–84, hier S. 73; Manfred Weißbecker, »So einen Arbeitseinsatz wie in Deutschland gibt es nicht noch einmal auf der Welt!« Fritz Sauckel – Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, in: ebd., S. 41–66, hier S. 54f.

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überzeugen ließ, unterschrieb den Einheitsvertrag und hatte sich zu einem festgesetzten Termin an einer Sammelstation, in der Regel einem Bahnhof oder einem Donauhafen, einzufinden.32

2.1 Arbeitskräfte aus dem besetzten Europa Für die Rekrutierung ausländischer Zivilarbeitskräfte lassen sich im ganzen besetzten Europa vier Grundformen unterscheiden: 1) die reine Werbung, 2) Werbung mit maßgeblicher Beeinflussung der Existenzbedingungen, 3) Konskription, also die Aushebung ganzer Jahrgänge unter Rückgriff auf die einheimische Verwaltung, und 4) Deportation durch willkürliche Gewaltanwendung deutscher oder deutschverbündeter Sicherheitsorgane. Diese vier Idealtypen, die natürlich in der Praxis ineinander übergingen oder auch eine Zeitlang nebeneinander existierten, lassen sich je nach Härte des Besatzungsregimes in fast allen Territorien des ›Großwirtschaftsraums Europa‹ finden.33 Die deutschen Besatzungsbehörden hatten kein originäres Interesse an einer gewaltsamen Rekrutierung von Arbeitskräften für das Reich. Abgesehen davon, dass dies erheblich mehr personelle Ressourcen band als die Anwerbung von Freiwilligen, bedeutete der Einsatz von Gewalt notwendigerweise ein schlechteres Verhältnis zur Bevölkerung, was die anderen Besatzungsaufgaben erschwerte. Mit Ausnahme der besetzten Gebiete Polens und der Sowjetunion begannen die deutschen Besatzer daher zunächst mit der Anwerbung von Freiwilligen. Da ihnen – mit Ausnahme der Osteuropäer – gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen wie ihren deutschen Kollegen zugesichert wurden und die Erwerbslosigkeit in den meisten besetzten Ländern nach der Unterwerfung regelmäßig anstieg, waren die deutschen Arbeitseinsatzbehörden zuversichtlich, viele Ausländer anwerben zu können. Darin allerdings täuschten sie sich. Schon nur für die lokalen Bauvorhaben und großindustriellen Projekte Arbeitskräfte zu finden, war trotz der hohen Erwerbslosigkeit in den meisten besetzten Gebieten sehr schwierig. Es fehlten nicht nur qualifizierte Fachkräfte, gravierender noch war die sinkende Kaufkraft der Löhne infolge der Inflation, die die deutsche Besatzung aus verschiedenen Gründen nach sich zog. Die Menschen suchten sich daher lieber Arbeit auf dem Land, wo es einfacher war, an Nahrungsmittel zu gelangen.

|| 32 Vgl. Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung 1941, S. 391; Timm/Heimbürge, Einsatz, S. 57–76; John H.E. Fried, The Exploitation of Foreign Labor by Germany, Montreal 1945, S. 256–263. 33 Vgl. als Überblick mit mehreren Beiträgen zur Arbeitskräfterekrutierung: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der ›Reichseinsatz‹. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991; ferner Richard J. Overy/Gerhard Otto/Johannes Houwink ten Cate (Hg.), Die ›Neuordnung‹ Europas. NS-Wirtschaftspolitik in den besetzten Gebieten, Berlin 1997.

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Daher verschärften die deutschen Besatzer den Druck auf die Bevölkerung. In Polen, wie auch später in den besetzten Gebieten Westeuropas und der Sowjetunion, trugen Nichtzuteilung essentieller Vorprodukte oder direkte Schließungsverfügungen durch die Besatzungsbehörden dazu bei, Betriebe lahmzulegen und die Erwerbslosigkeit zu erhöhen. Wer sich nicht beim Arbeitsamt meldete (und damit eventuell riskierte, nach Deutschland dienstverpflichtet zu werden), dessen Familie konnten Lebensmittelmarken oder Sozialleistungen gekürzt oder ganz vorenthalten werden. Diese Kombination aus Verringerung der Zahl der Arbeitsplätze vor Ort, breitflächiger verwaltungsmäßiger Erfassung und materiellem Druck auf die Familie veranlasste viele jüngere, meist ledige Haushaltsmitglieder, sich für den ›Arbeitseinsatz‹ zu melden, zur Not auch nach Deutschland. Dies veranschaulicht einmal mehr, wie problematisch der Begriff der Freiwilligkeit ist. Da auch diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg brachten, gingen die deutschen Besatzer letztlich in allen besetzten Gebieten mit Ausnahme Dänemarks zu einer sukzessive verschärften Anwerbungs- und Rekrutierungspolitik über, mit der sie vor allem die Männer in die Arme der Partisanen trieben, die ihrerseits die Arbeitseinsatzpolitik scharf bekämpften.34 Auch wenn sich das Grundmuster der Rekrutierung in die genannten vier Idealtypen einteilen lässt, so gab es doch keine einheitliche Rekrutierungspolitik in den besetzten Gebieten – ebenso wenig wie es dort eine einheitliche Besatzungspolitik gab. Wenn sich dennoch eine gemeinsame Linie feststellen lässt, dann die, dass in Staaten, denen der NS-Imperialismus auch nach dem Krieg eine Existenzberechtigung zuzubilligen gedachte, die Bevölkerung zunächst weniger harten Repressionen ausgesetzt war als in Regionen, die dem ›Großdeutschen Reich‹ angegliedert oder als Protektorat beziehungsweise Kommissariat verwaltet wurden.

2.1.1 Tschechoslowakei Im Gefolge des Münchner Abkommens vom September 1938 verlor die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich und weitere Gebiete an Ungarn und Polen. Im März 1939 erklärte sich die Slowakei für unabhängig, war faktisch jedoch ein deutscher Vasallenstaat. Unmittelbar darauf besetzten deutsche Truppen die ›Rest-Tschechei‹, die fortan als ›Reichsprotektorat Böhmen und Mähren‹ von Deutschland verwaltet wurde. Dort lebende ethnische Deutsche erklärte das Reich zu Staatsbürgern, die übrigen Bewohner waren als ›Protektoratsangehörige‹ Inländer zweiter Klasse, wurden aber häufig auch zu den Ausländern gezählt, so etwa im ›Arbeitseinsatz für das Großdeutsche Reich‹, der zentralen Statistik der Arbeitsein-

|| 34 Vgl. Maier, Arbeitseinsatzverwaltung, S. 74.

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satzbehörden. Zudem besetzte Ungarn ebenfalls noch im März die Karpatho-Ukraine im Osten der Slowakei.35 Anfang 1939 war die Erwerbslosigkeit in der Tschechoslowakei immer noch hoch. Allein im Protektorat gab es 93.000 registrierte und noch viel mehr von der offiziellen Statistik nicht erfasste Erwerbslose. Es gelang den rasch etablierten Werbekommissionen des Reichsarbeitsministeriums daher, bis Ende Juni 52.500 Tschechen für die Arbeit in Deutschland zu gewinnen. Bereits in den Jahren zuvor hatten Tschechoslowaken die größte im Reich registrierte Gruppe ausländischer Arbeitskräfte gestellt. Nun entfielen jedoch aus deutscher Sicht lästige Restriktionen. Für das Reich war von großer Bedeutung, dass jetzt die Lohntransfers der tschechischen Arbeitskräfte die Devisenlage nicht mehr belasteten. Als die Freiwilligenzahlen fielen, gingen die deutschen Besatzer schon im Sommer 1939 zu Zwangsmaßnahmen über. Anfang August wurde die Rückkehr von im Reich arbeitenden tschechischen Arbeitskräften zustimmungspflichtig. Bis Anfang 1941 waren Zwangsrekrutierungen jedoch eher die Ausnahme. Eine wesentliche Verschärfung der Zwangsmaßnahmen erfolgte mit der Bestellung von Reinhard Heydrich zum Stellvertreter des erkrankten Reichsprotektors Konstantin von Neurath. Der ehrgeizige Heydrich versuchte zunächst, mehr Rüstungsaufträge in das Protektorat verlagern zu lassen, wodurch er mit Sauckel um die tschechischen Arbeitskräfte konkurrierte. Nach Heydrichs gewaltsamem Tod im Juni 1942 setzten sich vorerst die Interessen Sauckels durch. Da Razzien in Kinos, Cafés und anderen öffentlichen Orten nicht die gewünschten Ergebnisse lieferten, griffen die Arbeitseinsatzbehörden von September 1942 an auf eine Methode zurück, die schon in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion einigen Erfolg gehabt hatte: die Konskription der Jahrgänge 1918 bis 1922 und 1924 zur Zwangsarbeit in Deutschland. Die Konskription des Jahrgangs 1924 betraf im Gegensatz zu den anderen auch Frauen. Der passive Widerstand der Bevölkerung – sogar Heiraten und Schwangerschaften nahmen sofort zu –, vor allem aber die wachsende strategische Bedeutung des Protektorats als relativ wenig luftkriegsgefährdetes Gebiet und der daraus resultierende eigene Arbeitskräftebedarf führten dazu, dass die Anforderungen Sauckels nur zu einem Bruchteil erfüllt werden konnten. Insgesamt dürften etwa 400.000 bis 450.000 Tschechen im Deutschen Reich gearbeitet haben.36 || 35 Vgl. Klaus Oldenhage, Die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: Kurt G.A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph v. Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 1131–1168, hier S. 1132f. 36 Vgl. Stephan Posta, Tschechische ›Fremdarbeiter‹ in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Dresden 2002; Steffen Becker, Der Weg zum ›Totaleinsatz‹. Arbeitseinsatzbehörden und Arbeitskräfterekrutierungen im ›Protektorat Böhmen und Mähren‹, in: Karsten Linne/Florian Dierl (Hg.), Arbeitskräfte als Kriegsbeute: der Fall Ost- und Südosteuropa 1939–1945, Berlin 2011, S. 46– 71; Wilhelm Dennler, Die böhmische Passion, Freiburg i.Br./Frankfurt a.M. 1953, S. 93, und zu den

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In der mit dem Deutschen Reich verbündeten Slowakei sahen die Verhältnisse anders aus. Wegen einer fehlenden industriellen Basis und dem entsprechend niedrigen Ausbildungsniveau der Arbeiterschaft war sie aus Sicht der Deutschen nicht besonders attraktiv. Es war opportuner, die Slowaken nicht durch Besetzung und Deportationen gegen sich aufzubringen und sie stattdessen in der heimischen Landwirtschaft zu belassen. Diejenigen Slowaken, die freiwillig nach Deutschland gingen, verdingten sich vorwiegend als landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte und kehrten im Winter in ihre Heimat zurück. Die im ›Arbeitseinsatz für das Großdeutsche Reich‹ veröffentlichten Zahlenangaben schwanken daher sehr stark. Die höchste Stichtagsmeldung ist für Ende September 1941 mit 80.037 überliefert. In den folgenden Jahren gingen immer weniger Slowaken ins Reich, das zunehmend von Bomben- und Tieffliegerangriffen heimgesucht wurde. Die Gesamtzahl lag daher unter Berücksichtigung der Fluktuation schätzungsweise um 100.000.37

2.1.2 Polen Der jahrhundertelange politische Niedergang der einstmaligen Großmacht Polen schien 1916/18 ein Ende gefunden zu haben, als wieder ein unabhängiger Staat ausgerufen wurde. Dieser polnische Staat war ethnisch keineswegs homogen. Die größten Minderheiten waren nach der Volkszählung von 1931 4,4 Millionen Ukrainer und Ruthenen, die vorwiegend in Galizien lebten (14 Prozent der Bevölkerung Polens), die zweitgrößte ca. 2,7 Millionen Juden (9 Prozent) und die drittgrößte 1,7 Millionen Weißrussen (5 Prozent). Als Agrarstaat litt Polen stark unter der Mitte der 1920er Jahre beginnenden Agrarkrise; seit 1926 wurde es autoritär regiert. Die Erwerbslosigkeit war auch Ende der 1930er Jahre immer noch sehr hoch. Da das Verhältnis zum Reich wegen des deutschen Revisionismus sehr gespannt war, untersagte Polen 1939 seinen Bürgern, im Nachbarstaat zu arbeiten. Die deutschen Behörden unterstützten jedoch den illegalen Grenzübertritt und versorgten die Polen mit Arbeitspapieren. Dennoch erreichte die Beschäftigung polnischer Saisonarbeitskräfte nicht annähernd den Umfang wie zu Zeiten der Weimarer Republik oder gar des Kaiserreichs.38

|| Zahlenangaben Alfons Adam, Im Wettstreit um die letzten Arbeitskräfte. Die Zwangsarbeit auf dem Gebiet der Tschechischen Republik 1938–1945, in: Pohl/Sebta (Hg.), Zwangsarbeit, S. 105–128, hier S. 115. 37 Vgl. Arbeitseinsatz 1939–1944; Timm/Heimbürge, Einsatz ausländischer Arbeitskräfte, S. 57–60; Helma Kaden, Die faschistische Okkupationspolitik in Österreich und der Tschechoslowakei (1938– 1945), Köln 1988, S. 275; Becker, Werbung, S. 399–416. 38 Vgl. W. Parker Mauldin/Donald S. Akers, The Population of Poland, Washington D.C. 1954, S. 148; Bogdan Koszel, Nationale Minderheiten in Polen nach 1945, in: Valeria Heuberger (Hg.), Nationen, Nationalitäten, Minderheiten. Probleme des Nationalismus in Jugoslawien, Ungarn,

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Am Morgen des 1. September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen. Drei Wochen später verleibte sich die Sowjetunion den ihr im Hitler-Stalin-Pakt zugesicherten Ostteil des Landes ein. Bis Ende des Monats war der polnische Widerstand im Wesentlichen gebrochen. Das Deutsche Reich erklärte die Existenz eines eigenständigen polnischen Staates kurzerhand für beendet und annektierte große Teile des westlichen und nördlichen Polens (Südostpreußen, Sudauen, Westpreußen und Wartheland) sowie Ostoberschlesien im Südwesten. Die Freie Stadt Danzig, ein Konstrukt des Völkerbundes aus dem Jahre 1920, kam ebenfalls ›heim ins Reich‹. Die Sowjetunion schlug Ost- und Südostpolen (Polesien, Wolhynien und Ostgalizien) der Weißrussischen beziehungsweise Ukrainischen SSR zu; Litauen erhielt einen schmalen Streifen um Wilna. Das dazwischen liegende zentral- und südpolnische Gebiet wurde als ›Generalgouvernement‹ einem deutschen Gouverneur mit Sitz in Krakau unterstellt, Hans Frank. Polen hatte damit nach Ansicht des NS-Regimes aufgehört, als völkerrechtliches Subjekt zu existieren, weswegen das Generalgouvernement als innere Angelegenheit des Reiches anzusehen sei. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 kam der Bezirk Białystok (ehemaliges Nordostpolen) an das Reich, wohingegen das Generalgouvernement im Südosten um Ostgalizien erweitert wurde. Das Wilna-Gebiet, Polesien und Wolhynien wurden den ›Reichskommissariaten Ostland‹ beziehungsweise ›Ukraine‹ zugeschlagen.39 Bis zum Ende der Kriegshandlungen nahm die Wehrmacht etwa 420.000 polnische Soldaten gefangen. Etwa 300.000 wurden über Durchgangslager noch im Herbst 1939 ins Reichsgebiet geschickt und dort zur Arbeit eingesetzt, 90 Prozent in der Landwirtschaft. Aus wirtschaftlicher Sicht war der Einsatz der Kriegsgefangenen ineffektiv. Die Bewachungsvorschriften erwiesen sich als umständlich und banden deutsches Militärpersonal. Die Gefangenen waren wegen des geringen Lohns unmotiviert, konnten aber nicht ohne Weiteres zur Arbeit angetrieben werden, weil sie dem Schutz der Genfer Konvention unterlagen. Da Polen in deutscher Sicht als eigenständiger Staat nicht mehr existierte, sah das Regime in der Überführung nichtjüdischer polnischer Kriegsgefangener in den Zivilstatus eine bequeme Lösung, völkerrechtliche Schutzvorschriften zu umgehen. Einen Teil von ihnen, darunter vor allem 85.000 Ukrainer, hatte die Wehrmacht bereits Anfang 1940 in den Zivilstatus entlassen, da die Deutschen hofften, diese Bevölkerungsgruppe gegen die ethnischen Polen ausspielen zu können. Bis auf ca. 37.000 wurden dann 1940/41 alle polnischen Kriegsgefangenen zu Zivilarbeitern ›umgewandelt‹, wie es im Jargon der NS-Bürokratie hieß. Sie sahen sich fortan, wie ihre freiwillig nach Deutschland ge-

|| Rumänien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Polen, der Ukraine, Italien und Österreich 1945–1990, Wien 1994, S. 210–231, hier S. 210f., und Herbert, Fremdarbeiter, S. 71. 39 Vgl. sehr anschaulich: Der Arbeitseinsatz der Ostvölker in Deutschland, hg.v.d. Deutschen Arbeitsfront, Berlin 1943, S. 3–6. Der Hitler-Stalin-Pakt wird dort natürlich verschwiegen.

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kommenen oder dorthin deportierten Landsleute, einem in starkem Maße diskriminierenden Sonderrecht unterworfen.40 Die gut 60.000 als jüdisch klassifizierten polnischen Kriegsgefangenen wurden nach der Gefangennahme an die Gestapo überstellt und besonders unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Von ihnen starben 25.000 bis Frühjahr 1940 an Hunger, Kälte und Misshandlungen. Auch die verbleibenden 35.000 wurden bis auf wenige Hundert in den folgenden Jahren zugrunde gerichtet oder ermordet.41 Den starken Arbeitskräftebedarf im Reich, zu diesem Zeitpunkt besonders in der Landwirtschaft, konnten die polnischen Kriegsgefangenen allein nicht abdecken. Die deutschen Besatzer versuchten daher, einen möglichst großen Teil der polnischen arbeitsfähigen Bevölkerung zu mobilisieren. Die deutsche Arbeitseinsatzverwaltung etablierte sich sehr schnell in den besetzten und später annektierten polnischen Gebieten. Ohne auch nur den Schein ordnungsgemäßer Verwaltungsakte erwecken zu wollen, gingen die deutschen Arbeitseinsatzbehörden in Polen schon nach wenigen Tagen dazu über, Zivilpersonen in Razzien aufzugreifen und zu deportieren. Bereits im ersten Kriegsmonat kamen auf diese Weise etwa 10.000 Polen als Zwangsarbeitskräfte nach Deutschland. Der Normalfall in den annektierten polnischen Gebieten war die Konskription, also die über die lokale Verwaltung vorgenommene namentliche Aufforderung zum ›Arbeitseinsatz‹.42 Eine weitere Variante bestand darin, regionalen oder kommunalen Gebietskörperschaften bestimmte Quoren an ›Freiwilligen‹ aufzulegen und somit die sichtbare Verantwortung auf die lokale polnische Verwaltung, insbesondere die Bürgermeister, zu delegieren. Konnten die Sollziffern nicht durch Freiwillige erfüllt werden, || 40 Vgl. Arbeitseinsatz, hg.v.d. Deutschen Arbeitsfront, S. 7; Eva Seeber, Zwangsarbeiter in der faschistischen Kriegswirtschaft. Die Deportation und Ausbeutung polnischer Bürger unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Arbeiter aus dem sogenannten Generalgouvernement, Berlin 1964, S. 147; Documenta Occupationis, Bd. 10, Posen 1976, S. 80–82; Klaus Drobisch/Dietrich Eichholtz, Die Zwangsarbeit ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland während des zweiten Weltkrieges, in: Bulletin des Arbeitskreises ›zweiter Weltkrieg‹, 3. 1970, S. 1–24, hier S. 5; Jochen August, Die Entwicklung des Arbeitsmarkts in Deutschland in den 30er Jahren und der Masseneinsatz ausländischer Arbeitskräfte während des Zweiten Weltkrieges. Das Fallbeispiel der polnischen zivilen Arbeitskräfte und Kriegsgefangenen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 305–353, hier S. 331f.; Miroslav Yurkevich, Galician Ukrainians in German Military Formations and in the German Administration, in: Yury Boshyk (Hg.), Ukraine during World War II. History and its Aftermath. A Symposium, Edmonton 1986, S. 67–87, hier S. 74; Czeslaw Luczak, Polnische Arbeiter während des Zweiten Weltkrieges. Entwicklungen und Aufgaben der polnischen Forschung, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 90–105, hier S. 98. 41 Vgl. Czeslaw Madajczyk, I prigioneri di guerra polacchi nei campi tedeschi, in: Nicola Labanca (Hg.), Fra sterminio e sfruttamento: militari internati e prigionieri di guerra nella Germania nazista (1939–1945), Florenz 1992, S. 79–91; Enzyklopädie des Holocaust, hg.v. Israel Gutman u.a., 2. Aufl. München/Zürich 1998, S. 814f. 42 Vgl. Luczak, Polnische Arbeiter, S. 94–99.

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griffen deutsche Sicherheitskräfte einfach die fehlenden Menschen in den betreffenden Dörfern oder auf Gütern auf. Auch in den Städten fanden Razzien statt, etwa in Wohnvierteln, Cafés oder Kinos. Wer nicht durch entsprechende Papiere nachweisen konnte, dass er beschäftigt war, wurde einfach mitgenommen und zur nächsten Sammelstelle gebracht.43 Mit der Etablierung der zivilen Besatzungsverwaltung im Generalgouvernement Ende Oktober 1939 änderten sich dort die Rekrutierungsmethoden für einige Zeit. Während man in den annektierten Gebieten weiterhin auf Zwang setzte, ging die Verwaltung des Generalgouvernements für ein paar Monate zurückhaltender vor und setzte auf Freiwilligkeit, der sie allerdings mit Betriebsstilllegungen nachhalf. Außerdem erließ Generalgouverneur Frank bereits Ende Oktober 1939 in den Städten Arbeitspflicht für 18- bis 60-jährige Männer, die kurz darauf auf 14- bis 17-Jährige sowie die Landbevölkerung ausgeweitet wurde. Wer also Erwerbslosenunterstützung erhalten wollte, musste damit rechnen, vor Ort zu öffentlichen Arbeiten herangezogen zu werden. Der dafür ausgezahlte Zloty-Betrag genügte angesichts der starken Inflation nicht zum Überleben und sollte es auch nicht. Die Deutschen hofften, mit diesen Maßnahmen die Tradition der Saisonarbeit ins Reich wiederzubeleben, mussten aber schnell feststellen, dass ihre Werbeaktionen nicht annähernd den erhofften Erfolg brachten. Es hatte sich unter der polnischen Bevölkerung schnell herumgesprochen, welchen harschen Arbeits- und Lebensbedingungen Polen im Reich ausgesetzt waren. Bereits im Januar 1940 erließ Frank daher eine Anordnung, dass alle Empfänger von Erwerbslosenhilfe von 16 bis 50 Jahren auch im Reich eingesetzt werden konnten. Zudem begann die Verwaltung des Generalgouvernements, wie in den annektierten polnischen Gebieten, den Distrikten und Kreisen Kontingente aufzuerlegen. Ende April 1940 ging sie noch einen Schritt weiter und verfügte für die Jahrgänge 1915 bis 1925 – also selbst für 14-Jährige! – Arbeitspflicht in Deutschland. Wer im Generalgouvernement eine im Sinne der deutschen Besatzer wünschenswerte Beschäftigung nachweisen konnte, fiel nicht unter die Dienstpflicht; wer nicht, hatte sich zu melden oder fiel bei den zunehmenden, zum Teil sehr brutalen Razzien den deutschen Sicherheitsorganen in die Hand. Der Überfall des Reichs auf die westeuropäischen Länder im Mai 1940 verringerte den Druck, der auf dem Generalgouvernement als Arbeitskräftereservoir lastete. Wegen der verheerenden Wirkung der deutschen Arbeitseinsatzpolitik auf Stimmung und Sicherheitslage war es Frank nicht unlieb, den Verfolgungsdruck etwas zurückzunehmen. Er stand überhaupt vor dem Dilemma, dass er durch hohe Anwerbungsziffern seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen wollte, angesichts der widerstrebenden Bevölkerung aber zu Zwangsmaßnahmen greifen musste, was sein Regime im Generalgouvernement erschwerte. Er setzte sich daher mehrfach für || 43 Ebd.

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eine bessere Behandlung und Bezahlung der Polen im Reich ein – die ihn nichts gekostet hätte –, jedoch ohne Erfolg. Durchaus in seinem Sinne war es daher, dass wegen der Vorbereitung des Feldzugs gegen die Sowjetunion schon im Sommer 1940 die lokale Nachfrage nach polnischen Arbeitskräften für Wehrmacht, Rüstungsbetriebe und andere Einsatzträger stark anstieg. Die Menschen vor Ort zu verpflichten, war mit wesentlich weniger Friktionen verbunden, als sie ins Reich zu verschicken. Tatsächlich sollten die Anwerbungsziffern für das Reich nie mehr die hohen Werte des ersten Halbjahres 1940 erreichen. Mit dem Amtsantritt des energischen Sauckel stiegen jedoch die Anforderungen Berlins an die Regierung des Generalgouvernements wieder. Die daraufhin Mitte Mai 1942 erlassene ›Dienstpflichtungsverordnung‹ ermächtigte die unteren Behörden, jeden Polen zum Arbeitsplatzwechsel zu zwingen. Als Druckmittel standen Inhaftierung von Familienangehörigen, Vermögensentzug und Einweisung ins KZ zur Verfügung. Dennoch blieben die Anwerbungszahlen verhältnismäßig niedrig. Die größte Einzelaktion fand nach dem Warschauer Aufstand im September 1944 statt. 67.000 Männer, Frauen und Kinder wurden in deutsche Konzentrationslager, weitere 100.000 in Zivilarbeiterlager verschleppt.44 Der Transport von polnischen und später sowjetischen Zwangsarbeitern erfolgte zunächst von den Sammelstellen zum Bahnhof. Bis zum Abtransport hatten die Familienangehörigen dann gegebenenfalls noch Gelegenheit, ihren Kindern oder Geschwistern etwas Reiseproviant, Kleidung und Hygieneartikel zuzustecken. Der Transport ging normalerweise in geschlossenen Güterwagen vor sich; ein Kübel in der Ecke diente zur Verrichtung der Notdurft. In bestimmten Durchgangslagern, so vor allem in Krakau, Lublin, Tschenstochau und Warschau, wurden die Deportierten unter ähnlich entwürdigenden Bedingungen entlaust und medizinisch auf Tauglichkeit untersucht. Bei der Ankunft in Durchgangslagern auf deutschem Boden mussten sie diese Prozedur in aller Regel noch einmal über sich ergehen lassen, danach folgte der Abmarsch oder Transport zu den jeweiligen deutschen Einsatzträgern.45 Die deutschen Besatzungsbehörden verzeichneten bis Mitte 1944 1,25 Millionen ›Anwerbungen‹ aus dem Generalgouvernement; dazuzuzählen sind die 100.000 Deportierten nach dem Warschauer Aufstand. Polnische Historiker schätzen den Anteil der echten Freiwilligen auf etwa 5 Prozent.46 Dazu kamen noch etwa 600.000 || 44 Vgl. Seeber, Zwangsarbeiter, S. 114–143; Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement 1939–1945, Diss. Frankfurt a.M. 1969, Tab. 3; Luczak, Polnische Arbeiter, S. 94–99; Enzyklopädie des Holocaust, S. 1552; Herbert, Fremdarbeiter, S. 95– 101. 45 Vgl. zu den Durchgangslagern Timm/Heimbürge, Einsatz, S. 49. 46 Vgl. Czeslaw Luczak, Der ›Reichsarbeitseinsatz‹ der Polen im Zweiten Weltkrieg, in: Rimco Spanjer/Diete Oudesluijs/Johan Meijer (Hg.), Zur Arbeit gezwungen. Zwangsarbeit in Deutschland 1940–1945, Bremen 1999, S. 107–114, hier S. 109.

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Zwangsverpflichtete aus den annektierten polnischen Gebieten, sodass die Gesamtanwerbungsziffer einschließlich der ca. 200.000 in den Zivilstatus überführten Kriegsgefangenen knapp 2,2 Millionen betrug. Von diesen waren gut 300.000 Ukrainer ehemals polnischer Staatsangehörigkeit, die nach dem Krieg in der westverschobenen Sowjetunion wohnten oder dorthin zwangsumgesiedelt wurden. Für die polnischen Zivilarbeitskräfte, die während des Zweiten Weltkriegs im Reich eingesetzt wurden, ergibt sich unter Berücksichtigung aller Mehrfachzählungen eine Gesamtzahl von ca. 1,6 Millionen.47 Nicht darin enthalten sind Polen, die in den annektierten deutschen Gebieten wohnten und nicht vertrieben wurden. Sie lebten also in ihrer Heimat, mussten aber die kolonialistischen Attitüden der deutschen Besatzer ertragen, die sie von jeder höheren Tätigkeit ausschlossen. Dies betraf vor allem Polen im bezeichnenderweise so genannten ›Straflager Warthegau‹, der Region um Posen (Poznań) und Łódź, wo Ende September 1944 750.000 Männer und 666.000 Frauen im ›Arbeitseinsatz‹ standen.48 Zählt man diese Menschen, die wegen Umsiedlungsaktionen nur zum Teil in ihren angestammten Häusern und Wohnungen gelebt haben dürften, mit den aus dem restlichen Polen Deportierten zusammen, so arbeiteten mindestens 3 Millionen ethnische Polen als Zivilarbeitskräfte im ›Großdeutschen Reich‹. In der Zeit der deutschen Besatzung fanden im annektierten und besetzten Polen über die Arbeitskräftedeportationen hinaus Bevölkerungsverschiebungen in einem Ausmaß statt, das kein anderes von den Deutschen besetzte Territorium im Zweiten Weltkrieg erdulden musste. In den Lebensraumplänen der Nationalsozialisten wurden im Rahmen des Anfang 1941 erarbeiteten ›Generalplans Ost‹ die verschiedensten Umsiedlungsaktionen geplant, die die Ernährungs- und Transportressourcen regelmäßig überforderten. Nach einer These von Götz Aly ist sogar der zunächst nicht geplante Massenmord an den europäischen Juden, die auf der untersten Skala der nationalsozialistischen Rassenhierarchie standen und ursprünglich ›ausgewandert‹ werden sollten, Ergebnis der organisatorischen Überforderung lokaler Dienststellen. Aus den annektierten Gebieten wurden polnische Familien nach Osten in das Generalgouvernement vertrieben – bis Mitte 1941 eine halbe Million –, anschließend zogen ›volksdeutsche‹ Familien in ihre Häuser und Höfe ein. Die erzwungene Migration entwurzelte viele Menschen im Generalgouvernement. Inwieweit man dort aufgenommene Arbeit als Zwangsarbeit interpretieren kann, ist außerordentlich schwierig zu beurteilen. Zahlreiche polnische Umsiedlerfamilien waren in Lagern untergebracht und mussten für die Zwecke der deutschen Kriegs-

|| 47 Nur ethnische Polen ohne Ukrainer, Weißrussen und Juden. Vgl. für Details der Schätzung Spoerer, Wie viele, S. 306–313. 48 Vgl. Arbeitseinsatz 1944, H. 11/12, S. 24, Anm. 10; Enzyklopädie des Holocaust, S. 1559f.; Spoerer/Streb, Wirtschaftsgeschichte, S. 195–197.

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wirtschaft arbeiten. Viele Polen wurden in Baudienstbataillone gesteckt und bei lokalen Bauarbeiten oder in Rüstungsbetrieben eingesetzt.49

2.1.3 Dänemark und Norwegen Dänemark und Norwegen wurden Anfang April 1940 von deutschen Truppen besetzt, wobei Dänemark vor allem aus militärstrategischen Gründen von Bedeutung war, um die Verbindung mit Norwegen zu erleichtern. Formal blieb es ein selbstständiger Staat, mit dem das Reich über einen deutschen Gesandten verhandelte. Als einziges Land im deutsch besetzten Europa blieb Dänemark von Konskription und Deportation verschont, sieht man von der Einweisung von rund 6.000 Dänen in deutsche Konzentrationslager ab, die aus politischen Gründen erfolgte. Die Anwerbung dänischer Arbeitskräfte für den ›Reichseinsatz‹ fand ebenfalls auf freiwilliger Basis statt, was wegen der sehr hohen Erwerbslosigkeit von bis zu 35 Prozent der Erwerbslosenversicherten im Winter 1939/40 und der blumigen Versprechungen der Werber nicht ohne Erfolg blieb. Darüber hinaus versuchten die dänischen Sozialbehörden, Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger mit Druck davon zu überzeugen, dass sie notfalls eine Arbeit in Deutschland annehmen sollten. Die Methoden waren aber nicht annähernd so rigide wie in West- oder gar in Osteuropa. Insgesamt wird die Zahl aller im Deutschen Reich beschäftigten Dänen nicht mehr als 80.000 betragen haben.50 Wie Dänemark war auch Norwegen von April 1940 bis Mai 1945 von deutschen Truppen besetzt, leistete allerdings zwei Monate erbitterten Widerstand gegen die deutsche Übermacht. Nach der Niederwerfung übte ein Reichskommissar die oberste Regierungsgewalt im zivilen Bereich aus und ordnete sich die norwegischen Behörden unter. Aus Norwegen gelangten nur ein paar Tausend Angestellte und Arbeiter freiwillig nach Deutschland. Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass Norwegen wegen der großen deutschen militärischen und energiewirtschaftlichen Ausbauvorhaben als Importeur ausländischer Arbeitskräfte viel größere Bedeutung hatte – ein Unikum im deutsch besetzten Europa.51

|| 49 Vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1972, S. 286–288; Czeslaw Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1995; Götz Aly, ›Endlösung‹. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1999, S. 13–21; siehe hierzu auch den Beitrag von Markus Leniger in diesem Band. 50 Vgl. zu den Zahlen Spoerer, Zwangsarbeit, S. 273, Anm. 65. 51 Vgl. Fritz Petrick, Der ›Leichtmetallausbau Norwegen‹ 1940–1945. Eine Studie zur deutschen Expansions- und Okkupationspolitik in Nordeuropa, Frankfurt a.M. 1992, S. 136–146; Robert Bohn, Reichskommissariat Norwegen. ›Nationalsozialistische Neuordnung‹ und Kriegswirtschaft, München 2000, S. 374–380; Spoerer, Zwangsarbeit, S. 57; Soleim, Sovjetiske krigsfanger; Hans O. Frø-

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2.1.4 Niederlande Am 10. Mai 1940 überfiel das Reich die Benelux-Staaten und Frankreich. Die neutralen Niederlande mussten sich den übermächtigen deutschen Truppen bereits nach fünf Tagen ergeben und wurden fortan als Reichskommissariat verwaltet. Auch die Niederländer litten noch unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise, die ähnlich wie 1931/32 in Deutschland durch eine Deflationspolitik verschärft worden war. 1938 betrug die Erwerbslosigkeit mindestens 10 Prozent, nach der Niederlage gegen die Deutschen und der Entlassung aller Kriegsgefangenen (bis auf 70 ranghohe Offiziere) lag sie im Sommer 1940 absolut bei 400.000 Personen.52 Der deutsche Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart hatte die niederländische Arbeitsverwaltung unter sich, die im Mai 1941 einem von den Deutschen gegründeten zentralen ›Rijksarbeidsbureau‹ zugeordnet wurde. Die Arbeitskräfteanforderungen aus Deutschland waren zunächst recht bescheiden, da die deutsche Wirtschaft durch die französischen und belgischen Kriegsgefangenen entlastet und angesichts der Blitzkriegseuphorie der künftige Bedarf unterschätzt wurde. Außerdem drängten sich die niederländischen Arbeitskräfte nicht übermäßig danach, sich in Deutschland zu verdingen. Ende Februar 1941 wurde die Meldepflicht für niederländische Erwerbslose eingeführt; ab März konnte das Arbeitsamt sie innerhalb der Niederlande dienstverpflichten. Die im August verfügte Zustimmungspflicht des Arbeitsamts für jeden Arbeitsplatzwechsel stellte eine weitere Verschärfung des ›Arbeitseinsatzes‹ dar. Ab Herbst 1941 und im weiteren Verlauf des Jahres 1942 erhöhten die Arbeitseinsatzbehörden den Druck auf den Arbeitsmarkt. Im September 1941 richtete die Sicherheitspolizei in Amersfoort ein Arbeitserziehungslager für ›Arbeitsvertragsbrüchige‹ und ›Dienstpflichtverweigerer‹ ein. Dort wurden zwar vergleichsweise wenige Niederländer eingewiesen, doch stand die Einweisung als Drohung deutlich sichtbar im Raum. Seit März 1942 war die Dienstpflicht nicht mehr auf den Einsatz in den Niederlanden beschränkt, vielmehr mussten ab April niederländische Unternehmen einen bestimmten Prozentsatz ihrer Beschäftigten für den ›Reichseinsatz‹ abgeben. Naheliegenderweise wurden daher junge, unverheiratete Männer nach Deutschland geschickt. Der erste Transport von, wie man in den Niederlanden sagte, ›gesauckelten‹ niederländischen Zwangsarbeitskräften ging Mitte Juni 1942 in Richtung Deutschland. Anfang 1943 erfolgte eine weitere Verschärfung, indem ganze Betriebe geschlossen und die Beschäftigten aufgefordert wurden, nach Deutschland zu ge-

|| land/Anders Lervold, Forced Labour in Norway during the German Occupation: French and Soviet Workers in the Light Metals Program, in: Revue d'histoire Nordique, 17. 2014. 52 Deutlich niedrigere Zahlen für 1940 nennen mit 213.000 Timm/Heimbürge, Einsatz, S. 78, etwas höhere Ludwig Nestler u.a., Die faschistische Okkupationspolitik in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (1940–1945), Berlin 1990, S. 53, mit 500.000 Mitte 1940.

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hen. Darauf folgten im Februar erste vereinzelte Razzien mit anschließenden Deportationen. Im April 1943 sollten sich die im Mai und Juni 1940 freigelassenen 300.000 niederländischen Soldaten für den ›Reichseinsatz‹ melden. Massive Streiks und brutale Repressionsmaßnahmen waren die Folge; ganze 11.000 kamen nach Deutschland, wo sie die Wehrmacht als Kriegsgefangene behandelte.53 Im Anschluss an diesen Fehlschlag erfolgte im Mai 1943 die Konskription der Jahrgänge 1922 bis 1924. Als nach der Befreiung der südlichen Niederlande die Zentrale der Arbeitsverwaltung im September 1944 nach Groningen verlegt und Joseph Goebbels, dem neuen Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz, unterstellt wurde, entfielen auch die letzten Rücksichtnahmen. Von Herbst 1944 an deportierten die Besatzer vermutlich noch einmal 140.000 Niederländer ins Reich, darunter alleine 50.000 Männer aus Rotterdam innerhalb von zwei Tagen. Zu dieser Zeit zogen die Deutschen mindestens 120.000 Menschen im Nordosten des Landes zu Schanz- und Befestigungsarbeiten gegen die heranrückenden alliierten Armeen heran. Erst am 5. Mai waren die Niederlande ganz befreit. Insgesamt arbeiteten während des Krieges etwa 450.000 bis 500.000 Niederländer im Deutschen Reich.54 Ganz grob geschätzt mag man vielleicht die ersten (1940 ins Reich gekommenen) 100.000 niederländischen Zivilarbeitskräfte als Freiwillige – mit den erwähnten Einschränkungen – bezeichnen. Selbst wenn diese Zahl etwas zu gering sein sollte, lässt sich der generelle Kollaborationsverdacht, der nach dem Krieg in den Niederlanden gegen die Heimkehrer aus Deutschland geäußert wurde und bis in die 1990er Jahre anhielt, im Blick auf den ›Reichseinsatz‹ schon wegen der immer rücksichtsloseren Rekrutierungsmethoden seit 1942 nicht belegen.55

2.1.5 Belgien Das aus topographischen Gründen schwieriger zu besetzende Belgien kapitulierte Ende Mai 1940. Die Deutschen richteten eine Militärverwaltung ein, der die angrenzenden französischen Départements Nord und Pas-de-Calais angegliedert wurden. Die deutschen Militärbehörden hatten ihre Lektion aus dem Ersten Weltkrieg gelernt, als die Deportation Zehntausender Belgier nach Deutschland große internationale Empörung nach sich gezogen hatte. Sie setzten daher zunächst noch stärker || 53 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, Stuttgart 1984, S. 140; Niederländer und Flamen in Berlin, 1940–1945. KZHäftlinge, Inhaftierte, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, hg.v.d. Stichting Holländerei u.a., Berlin 1996, S. 113–130. 54 Vgl. zu den Zahlen Spoerer, Zwangsarbeit, S. 274, Anm. 69. 55 Vgl. Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, Cambridge 2000, S. 135–137, 140–143.

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als in den Niederlanden auf Freiwilligkeit, zumal die Erwerbslosigkeit nach Ende der Kampfhandlungen bei einer halben Million lag.56 Dazu hatte auch die Entlassung vieler belgischer Kriegsgefangener kurz nach der Kapitulation beigetragen, wobei es sich um die als deutschfreundlich eingeschätzten Flamen handelte, während die 65.000 wallonischen Kriegsgefangenen bis zum Kriegsende in deutschem Gewahrsam blieben und im Reich arbeiten mussten.57 Mit den zunächst kooperativen belgischen Behörden wurde im Juni 1940 vereinbart, dass Belgier nicht gezwungen würden, ins Reich zu gehen und die Ablehnung auch keine Kürzung der Sozialleistungen nach sich zöge. Diejenigen Belgier aber, die ins Reich gingen, sollten gleiche Löhne und Sozialleistungen wie die Deutschen erhalten und nicht in Rüstungs- oder Munitionsfabriken arbeiten müssen. Tatsächlich fanden sich bis zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 189.000 Belgier, die im Großen und Ganzen freiwillig nach Deutschland gingen. Anfang 1942 waren zudem weitere 190.000 Belgier in ihrem Heimatland oder in den beiden mitverwalteten französischen Départements bei der Wehrmacht oder bei militärischen Bauvorhaben eingesetzt. Danach sah sich die deutsche Militärverwaltung jedoch veranlasst, den Druck auf die belgischen Arbeitskräfte und insbesondere die Erwerbslosen zu erhöhen, indem sie entgegen dem Abkommen von 1940 doch Sozialleistungen streichen ließ. Im März 1942 folgte, ein Jahr nach den Niederlanden, auch für Belgien die allgemeine Arbeitspflicht. Erwerbslosen wurde zwar formal freigestellt, ob sie in Belgien oder Deutschland arbeiten wollten. Doch wer sich weigerte, nach Deutschland zu gehen, den stuften die deutschen Werbestellen als ›asozial‹ ein und schickten ihn in eines der belgischen Arbeitslager, in denen ein rauer Umgang herrschte. Schließlich wurde im Oktober 1942 auch in Belgien die Melde- und Arbeitspflicht eingeführt, die gegebenenfalls in Deutschland abzuleisten war. Jeder Mann zwischen 18 und 50 Jahren sowie jede unverheiratete Frau zwischen 21 (später 18) und 35 Jahren konnte verpflichtet werden, in Deutschland zu arbeiten. Wer erwerbslos war und sich nicht meldete, wurde von der Feldgendarmerie gesucht. Zudem hatte die Familie Repressalien zu befürchten: Vermögensentzug, andere Familienmitglieder mussten für den Entflohenen nach Deutschland gehen oder kamen in Haft. Ab März 1943 erhielten ›Dienstverpflichtverweigerer‹, ›Arbeitsvertragsbrüchige‹ und ›Arbeitsunwillige‹ keine Lebensmittelmarken mehr. Im September 1943 erfolgte die Konskription der männlichen Jahrgänge 1920 und 1921, im März 1944 die der Jahrgänge 1922 bis 1924. Anfang September 1944 befreiten alliierte Truppen das Land schließlich von den deutschen Besatzern. Aus Sicht der deutschen Arbeitseinsatzbehörden waren die Rekrutierungsmaßnahmen in Belgien weniger erfolgreich als in den Niederlanden. Dies lag zum einen

|| 56 Vgl. Nestler u.a., Faschistische Okkupationspolitik, S. 53. 57 Vgl. Arbeitseinsatz 1940–1944; Hans Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2, Stuttgart 1999, S. 1–272, hier S. 212.

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an der zunächst relativ vorsichtigen deutschen Militärverwaltung und zum anderen an dem zunehmenden Widerstand der belgischen Behörden. Zudem nützte dem ausgeprägt industriellen Belgien ab Herbst 1943, dass Rüstungsminister Albert Speer rüstungswichtige Betriebe gegen den Arbeitskräfteabzug sperren ließ: Nicht belgische Arbeiter sollten nach Deutschland kommen, sondern deutsche Aufträge an belgische Unternehmen. Insgesamt steht zu vermuten, dass nicht mehr als 350.000 bis 400.000 Belgier als Zivilarbeitskräfte in Deutschland waren, davon etwa die Hälfte freiwillig.58

2.1.6 Frankreich Nach dem Waffenstillstand Ende Juni 1940 wurde Frankreich verwaltungsmäßig in mehrere Gebiete aufgeteilt. Der Norden und der Westen unterstanden fortan einem deutschen Militärbefehlshaber, wogegen die nach außen souverän bleibende französische Regierung mit Sitz in Vichy nur die Mitte und den Süden behielt. Das Elsass kam faktisch zu Baden und Lothringen zur Saarpfalz. Zwei montanwirtschaftlich bedeutende Départements im Norden wurden in den Zuständigkeitsbereich des Militärbefehlshabers in Brüssel abgegeben. Italienische Truppen besetzten ein kleines Gebiet im Südosten. Doch selbst nach der militärischen Besetzung VichyFrankreichs durch deutsche Truppen im November 1942 blieb die französische Hoheit formal erhalten. Auch in Frankreich, das während der 1930er Jahre wirtschaftlich wie politisch turbulente Zeiten durchleben musste, war die Erwerbslosigkeit sehr hoch. Nachdem die Deutschen einen kleinen Teil der 1,85 Millionen Kriegsgefangenen freigelassen hatten, belief sie sich im Oktober 1940 auf knapp eine Million Menschen. Der Umfang der Anforderungen aus dem Reich war zunächst gering; die Deutschen setzten auf freiwillige Werbung. Eigentlich sollte sie zentral koordiniert über staatliche Stellen laufen, doch sehr zum Ärger der deutschen Arbeitseinsatzverwaltung waren auch viele größere deutsche Unternehmen in ›wilden‹ Anwerbemaßnahmen aktiv, um französische Facharbeiter nach Deutschland zu holen. Der Anteil der freiwillig von Frankreich nach Deutschland gehenden Arbeitskräfte lag mit 185.000, relativ zur Erwerbsbevölkerung gesehen, weitaus niedriger als in Belgien und den Niederlanden. Neben dem vielzitierten französischen Nationalstolz wird dabei vor allem eine Rolle gespielt haben, dass die Sprachprobleme größer waren als für Flamen und Niederländer.59

|| 58 Vgl. zu den Zahlen Spoerer, Zwangsarbeit, S. 275, Anm. 73. 59 Zahlenangabe nach Jean-Pierre Azéma, De Munich à la libération, 1938–1944, Paris 1979, S. 210, darunter sehr wahrscheinlich viele Doppelzählungen.

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Wie in den Beneluxländern lässt sich auch hier der Umschlag zu einer Radikalisierung des Rekrutierungsprogramms auf das Frühjahr 1942 datieren. Durch mehrere Maßnahmen erhöhte sich im April und Mai 1942 der Druck auf die französischen Unternehmen und Arbeitskräfte. Viele Unternehmen mussten die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden anheben, einige wurden geschlossen. Die Erwerbslosen, deren Zahl sich wie beabsichtigt erhöhte, wurden zum ›Arbeitseinsatz‹ nach Deutschland aufgerufen. Wer sich nicht bei den deutschen Werbestellen meldete, musste mit Entzug der Lebensmittelkarten und Repressalien gegen seine Familie rechnen. Ein Politikum, das in den Beziehungen zwischen dem Vichy-Regime und den deutschen Besatzern eine wichtige Rolle spielte, waren die 1,85 Millionen französischen Kriegsgefangenen. Aus ›rassepolitischen‹ Gründen überführte die Wehrmacht die 90.000 französischen Kriegsgefangenen mit dunkler Hautfarbe nicht ins Reich; sie verblieben in Front-Stalags (Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager nahe der Front oder auf besetztem Gebiet). Offenbar wurden sie trotz der hohen Fluchtgefahr zur Arbeit eingesetzt, so beispielsweise im Mai 1943 im Peugeot-Werk Montbéliard/Sochaux.60 Unter den ins Reich transportierten 1,58 Millionen Gefangenen befanden sich eine halbe Million Bauern und Landarbeiter, die dann auf dem Lande fehlten. Viele der Kriegsgefangenen waren Familienväter, sodass sich das Vichy-Regime einem besonders hohen Erwartungsdruck der Bevölkerung gegenübersah, die deren Entlassung aus deutschem Gewahrsam verlangte. Umgekehrt war Sauckel sehr an den gut ausgebildeten französischen Facharbeitern interessiert. Es kam daher zu zwei Abkommen zwischen der Vichy-Regierung und dem Reich – der ›relève‹ und der ›transformation‹ –, in deren Rahmen Zivilarbeiter gegen Kriegsgefangene ›getauscht‹ wurden. Sauckel vereinbarte mit der Vichy-Regierung Pierre Laval im Juni 1942 den Austausch von zunächst 150.000 zivilen französischen Fachkräften, die zum ›Arbeitseinsatz‹ nach Deutschland kamen, gegen 50.000 französische Kriegsgefangene, die ›beurlaubt‹ wurden und nach Frankreich zurückkehren durften. Insgesamt kamen 1942/43 im Zuge der ›relève‹ für etwa 240.000 französische Zivilarbeiter ungefähr 90.000 französische Kriegsgefangene in ihre Heimat zurück. Schon in den ersten Wochen der anlaufenden ›relève‹ zeigte sich, dass das Reich damit keinen umfassenden Zugriff auf die wertvollen Arbeitsmarktreserven Frankreichs bekommen konnte. Sauckel verstärkte daher den Druck auf das VichyRegime, das im September 1942 die allgemeine Dienstpflicht für Männer zwischen

|| 60 Vgl. Peter Leßmann, Industriebeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich während der deutschen Besatzung 1940–1944. Das Beispiel Peugeot – Volkswagenwerk, in: Francia, 17. 1990, S. 120–153, hier S. 144, 148; Ulrich Herbert, Französische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Arbeitseinsatz 1940–1942, in: Claude Carlier/Stefan Martens (Hg.), La France et l’Allemagne en guerre. Septembre 1939–novembre 1942, Paris 1990, S. 509–531, hier S. 512.

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18 und 50 und für Frauen zwischen 21 und 35 Jahren einführen musste. Einige Monate später, im Februar 1943, wurde sie im ›Service du travail obligatoire‹ (STO) institutionalisiert. Der STO schrieb für die männlichen Jahrgänge 1920 bis 1922 eine zweijährige Dienstpflicht vor und erweiterte sie später noch auf den Jahrgang 1919. Zwischen März und Juni 1943 erreichten die Arbeitskräfteaushebungen für Deutschland ihren Höhepunkt.61 Um die Arbeitsleistung französischer Kriegsgefangener zu steigern, handelte Sauckel mit der Vichy-Regierung im April 1943 die ›transformation‹ aus, ein für die deutsche Seite sehr günstiges Abkommen, nach dem für jeden Franzosen, den Frankreich im Rahmen des STO nach Deutschland schickte, ein französischer Kriegsgefangener ›beurlaubt‹ wurde. Er durfte allerdings nicht wie noch bei der ›relève‹ nach Frankreich zurückkehren, sondern blieb in Deutschland und nahm den Status eines Zivilarbeiters an. Er war dann im Prinzip den anderen französischen zivilen Zwangsarbeitern gleichgestellt und erhielt für vergleichbare Arbeit den gleichen Lohn wie ein Deutscher. Diese Regelung brachte dem einzelnen Kriegsgefangenen also individuelle Vorteile, wenn er für den Kriegsgegner als ›Freiwilliger‹ arbeitete. Allerdings lief er dann Gefahr, von seinen Landsleuten als Kollaborateur angesehen zu werden. Außerdem verlor er dadurch endgültig den Schutz der Genfer Konvention und des Internationalen Roten Kreuzes, das die Kriegsgefangenen betreute. Bis Mitte 1944 machten daher von den knapp 800.000 verbliebenen französischen Kriegsgefangenen nur 222.000 von dem Angebot Gebrauch. Für einen Teil von ihnen geschah dies unter Zwang, weil Arbeitskommandos geschlossen in den Zivilstatus überführt wurden, wenn sich die Mehrheit dafür aussprach.62

|| 61 Vgl. Patrice Arnaud, Les STO: histoire des francais requis en Allemagne nazie 1942–1945, Paris 2010. 62 Vgl. Reichsministerialblatt der Landwirtschaftlichen Verwaltung, 8. 1943, S. 641f.; Joseph Billig, Le rôle des prisonniers de guerre dans l’économie du IIIe Reich, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, 10. 1960, Nr. 37, S. 53–76, hier S. 71; Roswitha Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark während des Zweiten Weltkrieges, Diss. Salzburg 1975, S. 116f.; Yves Durand, La captivité. Histoire des prisonniers de guerre français 1939–1945, 3. Aufl. Paris 1982, S. 21, 215, 332; ders., La vie quotidienne des prisonniers de guerre dans les stalags, les oflags et les kommandos 1939–1945, Paris 1987, S. 197–202; ders., Vichy und der ›Reichseinsatz‹, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 184–199; Roger Frankenstein, Die deutschen Arbeitskräfteaushebungen in Frankreich und die Zusammenarbeit der französischen Unternehmen mit der Besatzungsmacht, 1940–1944, in: Waclaw Dlugoborski (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, Göttingen 1981, S. 211–223; Bernd Zielinski, Die deutsche Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich 1940–1944, in: Overy/Otto/Houwink ten Cate (Hg.), Die ›Neuordnung‹ Europas, S. 109–131; Georges Scapini, Mission sans gloire, Paris 1960, S. 97f. Viele Arbeitskommandos wurden nicht auf eigenen Wunsch, sondern auf Befehl des zuständigen Gefangenenkommandeurs umgewandelt, vgl. Barbara Hopmann u.a., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 294. Die unterschiedlichen Zahlenangaben sind sorgfältig zusammengetragen von

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Wie in Belgien ließ der Druck auf den französischen Arbeitsmarkt jedoch im Herbst 1943 nach, als der deutsche Rüstungsminister Speer mit dem französischen Wirtschaftsminister Jean Bichelonne ein Abkommen aushandelte, nach dem französische Unternehmen im Rahmen der Auftragsverlagerung für die deutsche Wirtschaft produzierten. Die betreffenden Betriebe wurden zu ›Sperrbetrieben‹ erklärt, womit ihre Belegschaften für weitere Auskämmaktionen der deutschen Arbeitseinsatzbehörden tabu waren. Ließen sich die ersten beiden Sauckel-Aktionen vom Juni 1942 und März 1943 noch als große Erfolge bezeichnen, wie Sauckel stolz verkündete, so waren die dritte und vierte im Sommer 1943 und 1944 völlige Fehlschläge. Empört bezeichneten die deutschen Arbeitseinsatzbehörden die ›Sperrbetriebe‹ in Anspielung auf den französischen Widerstand als ›maquis légal‹.63 Der Erfolg der Arbeitskräfterekrutierung in Frankreich war insgesamt ziemlich mäßig, verglichen etwa mit den viel kleineren Niederlanden. Einschließlich ›relève‹ und ›transformation‹ kamen im Zuge der vier Sauckel-Aktionen und im weiteren Verlauf des Jahres 1944 728.000 französische Zivilarbeitskräfte ins Reich. Zählt man die 185.000 davor nach Deutschland gekommenen ›freiwilligen‹ Arbeiter und die 222.000 ›transformierten‹ Kriegsgefangenen hinzu, so kommt man abzüglich Doppelzählungen auf etwa 1,05 Millionen Franzosen als Zivilarbeitskräfte im Reich.64 Die angeworbenen oder zwangsweise verschickten westeuropäischen Zivilarbeitskräfte wurden von Sammelbahnhöfen mit Sonderzügen – in Personenwagen, nicht in Güterwagen wie die Polen und ›Ostarbeiter‹ – nach Deutschland gebracht, wo sie wie die anderen Zivilarbeitskräfte aus dem besetzten Europa bis zur Verteilung auf die Arbeitsamtsbezirke in Durchgangslagern einquartiert wurden.

|| Helga Bories-Sawala, Franzosen im ›Reichseinsatz‹. Deportation, Zwangsarbeit, Alltag. Erfahrungen und Erinnerungen von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1996, S. 220–222. 63 Vgl. Billig, Le rôle, S. 71; Jean-Marie d’Hoop, La main-d’oeuvre française au service de l’Allemagne, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, 21. 1971, S. 73–88; Durand, La captivité, S. 331f.; ders., La vie quotidienne, S. 201f.; Scapini, Mission, S. 97f. 64 Die größte Stichtagszahl ist in der Arbeitseinsatzstatistik mit 666.610 für Ende Dezember 1943 überliefert. Doppelzählungen sind in größerem Umfang nur bei den Freiwilligen anzunehmen. Im Vergleich zu den Schätzungen für die Niederlande und Belgien dürfte die Fehlermarge hier recht gering sein. Vgl. Arbeitseinsatz 1939–1944; d’Hoop, La main-d’œuvre française, S. 80f.; Azéma, De Munich, S. 210; Durand, La captivité, S. 331f.; François Cochet, Les exclus de la victoire. Histoire des prisonniers de guerre, déportés et S.T.O. (1945–1985), Paris 1992, S. 5, und gut zusammenfassend Bories-Sawala, Franzosen, Bd. 1, S. 246–249; Jean Quéllien, Les travailleurs forcés en Allemagne: essai d’approche statistique, in: Bernard Garnier/Jean Quéllien (Hg.), La Main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, Caen 2003, S. 67–84.

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2.1.7 Jugoslawien Das Königreich Jugoslawien litt wie nahezu alle europäischen Staaten Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre unter hoher Erwerbslosigkeit. Daher verdingten sich immer mehr Jugoslawen in Deutschland als Land- oder Bauarbeitskräfte. Im April 1941, als deutsche Truppen das Land überfielen, arbeiteten 47.000 Jugoslawen, hauptsächlich Kroaten und Slowenen, im Reich. Jugoslawien musste schon nach zehn Tagen kapitulieren und wurde faktisch unter seine Nachbarn Deutschland, Italien, Ungarn und Bulgarien aufgeteilt. Oberkrain und die Untersteiermark wurden von den Reichsgauen Kärnten und Steiermark aus verwaltet, de facto also annektiert. Nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten im September 1943 kamen außerdem noch die ehemals italienischen beziehungsweise von Italien verwalteten jugoslawischen Provinzen Friaul, Görz, Triest, Istrien, Laibach und Quarnero – die ›Operationszone Adriatisches Küstenland‹ – in den Machtbereich des Kärntner Reichsstatthalters und Gauleiters. In Kroatien riefen Separatisten einen unabhängigen Staat aus, den jedoch faktisch ein von den Deutschen abhängiges Marionettenregime regierte. Die Wehrmacht begann kurz darauf – aber nur sehr gemächlich – die kroatischen und die meisten anderen nichtserbisch-jugoslawischen Kriegsgefangenen zu entlassen. Bereits Anfang Mai willigte die kroatische Regierung in ein Abkommen mit Deutschland ein, gemäß dem 54.500 kroatische Arbeitskräfte nach Deutschland kommen sollten. Arbeits- und sozialrechtlich waren sie den Deutschen gleichgestellt. Unmittelbar danach begann die Anwerbung auf freiwilliger Basis. Kroatische und deutsche Polizeikräfte verfolgten jedoch ethnische Minderheiten im Land, allen voran die Serben, von denen eine unbekannte Anzahl ins Reich verschickt wurde. Im Januar 1943 ordnete der Befehlshaber der deutschen Truppen in Kroatien an, die Deportationen auch auf Menschen anderer Nationalitäten auszudehnen, falls sie in unruhigen Gebieten gefasst wurden. Vielen der freiwillig ins Reich gegangenen kroatischen Zivilarbeiter wurde die Rückkehr in die Heimat verwehrt, sodass sie sich unversehens in einem Zwangsarbeitsverhältnis befanden. Neueren Schätzungen zufolge sollen mindestens 270.000 Menschen aus Kroatien im Deutschen Reich gearbeitet haben. Mehrere zehntausend mussten in Serbien arbeiten, einige tausend wurden von den Deutschen in Norwegen zur Zwangsarbeit eingesetzt.65

|| 65 Vgl. Holm Sundhaussen, Wirtschaftsgeschichte Kroatiens im nationalsozialistischen Großraum. Das Scheitern einer Ausbeutungsstrategie, Stuttgart 1983, S. 180–183; Martin Seckendorf u.a., Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn (1941–1945), Berlin/Heidelberg 1992, S. 42f.; Christian Schölzel, Verbündete als Zwangsarbeiter. Arbeiter aus dem ›Unabhängigen Staat Kroatien‹ im ›Großdeutschen Reich‹ 1941–1945, in: Linne/Dierl (Hg.), Arbeitskräfte, S. 199–209; zur ›Relève‹ mit Serbien Jozo Tomasevich, War and Revolution in Yugoslavia, 1941–1945. Occupation and Collaboration, Stanford 2001, S. 656.

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Serbien und (nach dem Frontwechsel Italiens) Montenegro wurden von einem Militärbefehlshaber verwaltet, der zusammen mit dem Militärbefehlshaber in Griechenland und dem ›Deutschen Bevollmächtigten General‹ in Kroatien seit August 1943 einem gemeinsamen ›Militärbefehlshaber Südost‹ unterstellt war. Etwa 110.000 serbische und – in geringem Umfang – slowenische Kriegsgefangene wurden zum ›Arbeitseinsatz‹ ins Reich transportiert, wo sie ganz überwiegend in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Nach dem Vorbild der mit Frankreich vereinbarten ›relève‹ schloss das Reich im Mai 1943 mit der Regierung Nedić einen Vertrag, wonach Deutschland für zwei serbische Zivilarbeiter einen Kriegsgefangenen freilassen würde. Faktisch entließ das Reich jedoch nur alte Offiziere und Tuberkulosekranke. Angesichts der Härte des deutschen Besatzungsregimes in den deutsch besetzten Teilen Jugoslawiens erscheint es als verwunderlich, dass die Anwerbung für den ›Arbeitseinsatz‹ im Reich auf Freiwilligkeit setzte. Tatsächlich wurde damit zunächst an die freiwillige Arbeitskräftemigration nach Deutschland angeknüpft, die 1937 begonnen hatte. So ließen sich zwischen Ende 1941 und Mitte 1942 etwa 43.700 Serben für die Arbeit in Deutschland anwerben. Wegen immer stärkeren Arbeitskräftemangels in Serbien wurde die Anwerbung dann für einige Monate eingestellt. Parallel dazu wurden Männer, die der Unterstützung von Partisanen verdächtigt waren, zwangsweise nach Deutschland geschickt. Mitte 1943 hatte der Bedarf an Arbeitskräften im Reich ein solches Ausmaß erreicht, dass gemäß einem entsprechenden Führerbefehl gefangengenommene serbische Partisanen nicht mehr unbedingt hingerichtet werden mussten, sondern stattdessen ins Reich verschickt werden konnten. Insgesamt wurden 70.000 Anwerbungen verzeichnet, von denen der weit überwiegende Teil ›freiwillig‹ gewesen sein dürfte, auch wenn es vielen Serben nur darum ging, lieber für einen hohen Lohn nach Deutschland zu gehen, als sich für einen niedrigen in serbische Bergwerke zwangsverpflichten zu lassen. Insgesamt wird man von etwa 100.000 nicht-kroatischen jugoslawischen – ganz überwiegend serbischen – Zivilarbeitskräften ausgehen können.66 In dieser Zahl enthalten sind auch Arbeitskräfte unter den 37.000 sogenannten slowenischen ›Absiedlern‹ – Familien, die im Zuge der Germanisierung ihrer Heimat ins Reich deportiert wurden, um deutschen ›Umsiedlern‹ Platz zu machen. In Deutschland brachte man sie in besonderen, zeitweise bewachten Lagern unter und zog die arbeitsfähigen Familienmitglieder zur Arbeit heran.67

|| 66 Vgl. Reichsarbeitsblatt 1941/V, S. 256–259; Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung 1942, S. 318; Karl-Heinz Schlarp, Wirtschaft und Besatzung in Serbien 1941–1944, Stuttgart 1986, S. 204–220; Zoran Janjetović, Arbeiterrekrutierung unter deutscher Militärverwaltung in Serbien, in: Linne/Dierl (Hg.), Arbeitskräfte, S. 210–238, hier v.a. S. 216– 221; vgl. zu den Zahlen Spoerer, Zwangsarbeit, S. 277, Anm. 84. 67 Vgl. Tone Ferenc, ›Absiedler‹. Slowenen zwischen ›Eindeutschung‹ und Ausländereinsatz, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 200–209.

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2.1.8 Griechenland Griechenland war bereits im Oktober 1940 von Italien überfallen worden, konnte sich jedoch zunächst erfolgreich wehren und drängte die italienischen Truppen mit Hilfe eines britischen Expeditionskorps nach Albanien zurück. Erst die aus Jugoslawien kommenden deutschen Truppen unterwarfen die griechische Armee. Der größte Teil Griechenlands, das eine Kollaborationsregierung erhielt, wurde Italien als Besatzungszone zugewiesen, den Rest teilten sich Deutschland und Bulgarien. Mit einem Seitenhieb auf Mussolini entließ Hitler die griechischen Kriegsgefangenen in ›Anerkennung ihres tapferen Kampfes‹ nach kurzer Zeit. Das rücksichtslose Verhalten der deutschen Besatzer, die vielerorts die griechische Bevölkerung zu lokaler Zwangsarbeit heranzog, hatte naturgemäß Einfluss auf die Anwerbung griechischer Arbeitskräfte für den ›Reichseinsatz‹, die im Januar 1942 begann. In diesem Jahr fanden sich trotz der Hungersnot, die bis 1943 anhalten sollte und der direkt und indirekt eine Viertelmillion Griechen zum Opfer fielen, nur 12.000 zur Arbeit in Deutschland bereit. Misstrauisch geworden durch den Versuch, die Dienstpflicht durchzusetzen, fanden sich 1943 sogar nur noch 3.400 Freiwillige. Insgesamt erbrachte die freiwillige Anwerbung 23.000 Männer, die aus logistischen und klimatischen Gründen überwiegend im Südosten des Reichs und in geschlossenen Räumen eingesetzt wurden. Ab Herbst 1943 kamen griechische Zivilarbeiter auch zwangsweise nach Deutschland, insgesamt vermutlich 12.000. Zu den insgesamt etwa 35.000 griechischen Zivilarbeitern sind noch mindestens tausend Zwangsarbeiter hinzuzuzählen, die den Status von Kriegsgefangenen erhielten.68

2.1.9 Sowjetunion Die Sowjetunion war in den 1930er Jahren die mit Abstand am schnellsten wachsende Volkswirtschaft Europas. Sie war von der Weltwirtschaftskrise kaum betroffen und legte ein beeindruckendes Tempo bei der Industrialisierung vor. Allerdings betrieb die sowjetische Bürokratie Anfang der 1930er Jahre aus ideologischen Gründen eine stark bauernfeindliche Agrarpolitik, in deren Folge 1932/33 2,6 Millionen

|| 68 Nach den Statistiken im Arbeitseinsatz betrug die Anzahl der griechischen Zivilarbeiter im Reich nie mehr als 15.658 (September 1944). Vgl. Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänderund Gewerbeaufsichtsverwaltung 1942, S. 210; dies. 1943, S. 525; Hagen Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte: Griechenland 1941–1944 (Okkupation, Resistance, Kollaboration), Bd. 1, Frankfurt a.M. 1986, S. 365; Christos Hadziiossif, Griechen in der deutschen Kriegsproduktion, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 210–233, Seckendorf u.a., Okkupationspolitik, S. 65; Mark Mazower, Inside Hitler’s Greece: the Experience of Occupation, 1941–44, New Haven 1993, S. 37–41, 73–78, 239.

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Menschen ausgerechnet in der fruchtbaren Ukraine an Hunger oder an Folgekrankheiten starben.69 Im September 1939 verleibte sich die Sowjetunion entsprechend den Abmachungen des Hitler-Stalin-Pakts Ostpolen ein; 1940 kamen die baltischen Staaten, Bessarabien (Nordostrumänien) und Teile im Osten Finnlands hinzu. In diesen Regionen war das sowjetische Unterdrückungssystem schnell verhasst. Deshalb wurden die rasch vorrückenden deutschen Truppen im Sommer 1941 im Baltikum und in der Ukraine von Teilen der Bevölkerung als vermeintliche Befreier begrüßt – wenn auch nicht ohne Skepsis, denn das Vorgehen der Deutschen in Polen war durch Flüchtlingsberichte zumindest in Umrissen bekannt. Andererseits war die Zeit der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg in nicht allzu schlechter Erinnerung. Insbesondere Teile der Eliten, sofern sie nicht mit den abziehenden Truppen der Roten Armee nach Osten evakuiert worden waren, setzten vorsichtige Hoffnungen auf die Deutschen.70 Doch sie kamen nicht als Befreier, sondern als Kolonialmacht. Die Gebiete im Osten sollten als ›Lebensraum‹ für deutsche Siedler erschlossen und zu diesem Zweck große Teile der einheimischen Bevölkerung ausgehungert oder nach Osten vertrieben werden. Das von den Deutschen besetzte sowjetische Gebiet, das auf dem Höhepunkt der territorialen Ausdehnung mindestens 55 Millionen Menschen umfasste, sollte de-industrialisiert, de-urbanisiert und re-agrarisiert werden – für die Ernährung Deutschlands. Die Planer kalkulierten den Hungertod von bis zu 30 Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten ein.71 Diese Projekte blieben keineswegs nur im Planungsstadium. Die Wehrmacht, die 1940 auf dem westlichen Kriegsschauplatz keine Probleme gehabt hatte, über 1,6 Millionen französische und wallonische Kriegsgefangene zu ernähren und ins Reich zu transportieren, lieferte in den ersten Monaten des Ostfeldzugs Hunderttausende von sowjetischen Kriegsgefangenen in riesigen Einkesselungen durch minimale Essensrationen dem Tod durch Hunger, Seuchen, Hitze und später Kälte aus. Zunächst wurde nur ein Teil der Kriegsgefangenen nach Deutschland gebracht. Gegen November/Dezember 1941 betrug die Anzahl der ins Reich gebrachten sowjetischen Kriegsgefangenen etwa 405.000, von denen jedoch nur noch 350.000 leb-

|| 69 Vgl. Jacques Vallin u.a., A New Estimate of Ukrainian Population Losses during the Crises of the 1930s and 1940s, in: Population Studies, 56. 2002, S. 249–264, hier S. 252. 70 Vgl. Bohdan Krawchenko, Soviet Ukraine under Nazi Occupation, 1941–4, in: Boshyk (Hg.), Ukraine, S. 15–37, hier S. 17. 71 Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Deutsche Herrschaftspolitik im ›Osten‹. Bevölkerungspolitik und Völkermord, in: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hg.), Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945, Berlin 1991, S. 84–105, hier 93f.; Rolf-Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 234–250, hier S. 234.

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ten. Sie wurden unter strenger Bewachung überwiegend in der Landwirtschaft oder für Zwecke der Wehrmacht, jedoch nur selten in der Industrie eingesetzt.72 Erst als der Ostfeldzug von einem Blitzkrieg in einen Abnutzungskrieg überging, sah sich das NS-Regime gezwungen, langfristige ideologische Ziele zugunsten pragmatisch-wirtschaftlicher zurückzustellen. Neben der veränderten Lage an der Front waren es vor allem Forderungen der ›Reichsvereinigung Kohle‹ – dem Zusammenschluss der Kohleproduzenten – nach sowjetischen Arbeitskräften, die im Herbst 1941 zu einem Umdenken führten. Ende Oktober 1941, als der deutsche Vormarsch steckengeblieben war, entschied sich Hitler grundsätzlich für den massiven ›Arbeitseinsatz‹ von sowjetischen Kriegsgefangenen im Reich und zudem für eine geringfügige Erhöhung der Lebensmittelrationen. Doch die sogenannten ›Aufpäppelungsaktionen‹ kamen für viele der ausgezehrten Gefangenen, die von Typhus- und Ruhrepidemien dahingerafft wurden, zu spät. Von den bis Ende 1941 gefangenen genommenen 3,35 Millionen sowjetischen Soldaten starben bis Februar 1942 zwei Millionen. Insgesamt nahm die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg 5,7 Millionen sowjetische Soldaten gefangen. Eine knappe Million wurde entlassen, allerdings nur wenige von ihnen in die Freiheit (vor allem Balten und für kurze Zeit Ukrainer), sondern um als Zivilarbeiter Zwangsarbeit zu verrichten (Ukrainer aus dem Distrikt Lemberg), um in deutschen Militärformationen gegen die Rote Armee zu kämpfen oder um die Wehrmacht als ›Hilfswillige‹ zu unterstützen. Eine halbe Million konnte fliehen oder wurde vor Kriegsende von der Roten Armee befreit. Anfang 1945 befand sich noch eine knappe Million Rotarmisten als Zwangsarbeiter in deutschem Gewahrsam, die verbleibenden 1,3 Millionen starben nach dem Februar 1942, davon sicherlich die meisten im kräftezehrenden ›Arbeitseinsatz‹.73 Das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen spielte sich vor den Augen der entsetzten Bevölkerung der okkupierten Gebiete ab. Die Wehrmacht untersagte ihr vielerorts sogar, die hungernden Kriegsgefangenen mit Lebensmitteln zu unterstützen. Nahrungsmittel waren genug vorhanden, doch sollte die fruchtbare Ukraine zur ›Kornkammer des Reiches‹ werden und musste einen großen Teil ihrer || 72 Vgl. Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42: Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011, S. 82–85. 73 Grundlegend dazu Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, 4. Aufl. Bonn 1997 (1. Ausgabe 1979), S. 191–216, 238–249; ders., Die sowjetischen Kriegsgefangenen in den deutschen Lagern, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 403–414, hier S. 403. Ähnliche Zahlen bei Pavel Poljan, Die Endphase der Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener und die komplizierten Wege ihrer Rehabilitierung, in: Klaus-Dieter Müller/Konstantin Nikischkin/Günther Wagenlehner (Hg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941– 1956, Köln/Weimar 1998, S. 365–394, hier S. 367. Die Anzahl der sowjetischen Kriegsgefangenen im ›Arbeitseinsatz‹ Anfang 1945 ist hier wiedergegeben nach Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 212.

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agrarischen Produktion ans Reich abliefern. In den Städten setzten die deutschen Besatzer Nahrungsmittelrationen fest, die deutlich unter dem Existenzminimum lagen und zur Abwanderung auf das Land führten – und zum Hungertod in mindestens sechsstelliger Größenordnung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Bewohner der besetzten Gebiete zunächst ›freiwillig‹ für den ›Arbeitseinsatz‹ vor Ort oder ins Reich meldeten. Bis Mitte Januar 1942 kamen allerdings lediglich 55.000 Arbeitskräfte nach Deutschland, darunter bereits im Juli und August 1941 12.000 Landarbeitskräfte aus dem Baltikum, und später einige Zehntausend Ukrainer aus Ostgalizien, die im Reich als ›Polen ukrainischen Volkstums‹ bezeichnet wurden, weil ihre Heimat dem Generalgouvernement angegliedert worden war. Im Frühjahr 1942 stiegen die Anwerbe- und Deportationszahlen zunächst stark an. Doch schon die ersten Briefe der Landsleute aus dem Reich ließen keinen Zweifel daran, welche gewaltigen Unterschiede zwischen den Versprechungen der Werber und der Realität bestanden. Zudem kamen – vermutlich Mitte 1942 – die ersten Transporte von insgesamt ca. 150.000 kranken und arbeitsunfähigen ›Ostarbeitern‹ zurück, deren Gesundheitszustand Entsetzen bei der Bevölkerung auslöste. Unmittelbar danach sanken die Freiwilligenmeldungen schlagartig.74 In den folgenden knapp zwei Jahren der deutschen Besatzung erreichten die Massendeportationen ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß. Schon im Dezember 1941 war die allgemeine Arbeitspflicht für Männer zwischen 15 und 65 und für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren angeordnet worden. In den Städten mussten sich die Menschen beim Arbeitsamt melden, das ihnen ein Arbeitsbuch ausstellte, ohne das sie keine Lebensmittelmarken erhielten. Um den Jahreswechsel 1941/42 diskutierten die deutschen Behörden die Frage von Zwangsrekrutierungen im großen Stil, mit denen dann im Frühjahr 1942 begonnen wurde, weil die Ergebnisse der freiwilligen Meldungen enttäuschend ausfielen. Im Herbst 1942 hoben die Deutschen die Altersbeschränkung der Arbeitspflicht auf. Faktisch konnte damit jeder Bewohner der besetzten Sowjetunion auf Anforderung hin zu Fronarbeiten für die deutschen Besatzer herangezogen werden. Zusätzlich führten die Deutschen im Sommer 1942 für alle 18- bis 20-jährigen Jugendlichen in der Ukraine einen zweijährigen Pflichtdienst ein, den sie im Reich ableisten mussten, wenn sie nicht schon anderweitig im Sinne

|| 74 Vgl. Arbeitseinsatz 1942, H. 6, S. 12; Rachner, Die Arbeitseinsatzbedingungen in den neu besetzten Ostgebieten, in: Reichsarbeitsblatt 1942/V, S. 130–133, hier S. 131; Krawchenko, Soviet Ukraine, S. 25–28, Müller, Rekrutierung, S. 240f.; Pavel Poljan, Die Deportation der Ostarbeiter im Zweiten Weltkrieg, in: Andreas Gestrich/Gerhard Hirschfeld/Holger Sonnabend (Hg.), Ausweisung und Deportation. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 115–140, hier S. 133; George G. Werbizky, Ostarbeiter Mail in World War II. Documents and Correspondence, Tenafly 1996, S. 13; Babette Quinkert, Terror und Propaganda. Die ›Ostarbeiteranwerbung‹ im Generalkommissariat Weißruthenien, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 47. 1999, S. 700–721.

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der Besatzer tätig waren. Auf Arbeitsverweigerung stand die Einweisung in Gefängnis, Zuchthaus oder Zwangsarbeiterlager.75 Da die Bevölkerung kein Verständnis für ihre ›Pflicht‹ hatte, griffen die Besatzer zu Maßnahmen, die sie ganz offen als ›Menschenjagden‹ oder ›Sklavenjagden‹ bezeichneten. Sie griffen Menschen willkürlich auf der Straße auf und drohten, das Vieh wegzutreiben oder den Hof anzuzünden, wenn sie sich nicht stellten. Familien wurden auseinandergerissen, bei schwangeren Frauen Zwangsabtreibungen durchgeführt. Bis zur Verladung in geschlossene Güterwaggons auf dem nächsten Bahnhof mussten die Deportierten lange Fußmärsche zurücklegen. Zurückbleibende wurden zuweilen erschlagen oder erschossen. Die Praxis der deutschen Arbeitseinsatzbehörden, die Familien zu trennen, war nicht nur unmenschlich, sondern auch unproduktiv, weil sich Familienmitglieder im Reich von ihrer Arbeitsstelle entfernten, um ihre in einer anderen deutschen Stadt eingesetzten Eltern, Kinder oder Geschwister wiederzusehen (die Adressen vermittelte das Rote Kreuz). Daher wies Sauckel die deutschen Stellen wiederholt an, Familien geschlossen einzusetzen.76 Auch in den baltischen Staaten, die 1941 zusammen mit dem westlichen Teil Weißrusslands dem ›Reichskommissariat Ostland‹ zugeschlagen worden waren, kam es zu Zwangsmaßnahmen, die zunächst vor allem die jüdische Bevölkerung betrafen. Wie in Polen wurde sie entweder direkt ermordet oder in städtischen Ghettos konzentriert, wo sie für den deutschen Bedarf arbeiten musste. Aber auch gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung setzten die Besatzer zunehmend Gewalt ein, wenn auch nicht so brutal wie in den übrigen Gebieten der Sowjetunion, weil Wehrmacht und SS insbesondere in Estland und Lettland versuchten, Freiwillige gegen die Rote Armee zu rekrutieren. Die Erfassung der Jahrgänge 1912 bis 1925 (Männer) beziehungsweise 1914 bis 1922 (Frauen) im Jahre 1943 für den ›Arbeitseinsatz‹ vor Ort erwies sich als fast völliger Fehlschlag.77

|| 75 Vgl. Krawchenko, Soviet Ukraine, S. 28; Josef Werpup, Ziele und Praxis der deutschen Kriegswirtschaft in der Sowjetunion 1941 bis 1944, dargestellt an einzelnen Industriezweigen, Diss. Bremen 1992, S. 111; Markus Eikel, Arbeitseinsatz in der besetzten Sowjetunion 1941–1944. Das Reichskommissariat Ukraine als Fallbeispiel, in Babette Quinkert/Jörg Morré (Hg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944. Vernichtungskrieg, Reaktionen, Erinnerung, Paderborn 2014, S. 175– 195. 76 Vgl. Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung 1942, S. 253, 757; dies. 1944, S. 710; Reichsarbeitsblatt 1943/I, S. 88, 476; Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 119. 77 Vgl. Roswitha Czollek, Zwangsarbeit und Deportationen für die deutsche Kriegsmaschinerie in den baltischen Sowjetrepubliken während des zweiten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1970, Nr. 2, S. 45–67, hier S. 49; Norbert Müller/Uwe Löbel/Ulrich Freye (Bearb.), Die faschistische Okkupationspolitik in den zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion (1941–1944), Berlin 1991, S. 530–534.

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Besonders rücksichtslos war das Verhalten der deutschen Besatzer gegenüber der Zivilbevölkerung im ›Generalkommissariat Weißrussland‹ und im ›Reichskommissariat Ukraine‹, wo mit Erich Koch ein besonders skrupelloser Nationalsozialist herrschte. Die entwürdigenden Umstände der Rekrutierung trieben die Menschen zu den Partisanen, die vor allem in den waldreichen Gebieten Weißrusslands aktiv waren. Die deutschen Sicherheitsorgane gingen mit äußerster Gewalt gegen sie vor. Ab Herbst 1942 wurden jedoch wegen des immer drängenderen Arbeitskräftemangels partisanenverdächtige Zivilisten nicht mehr in jedem Fall erschossen, sondern als Zwangsarbeitskräfte verpflichtet. Im Juli 1943 wurde diese Bestimmung dahingehend ausgeweitet, dass die komplette arbeitsfähige Bevölkerung in Gebieten mit starker Partisanentätigkeit ins Reich zu deportieren war. Dennoch stellten die Partisanen bald auch in der Ukraine eine so große Gefahr dar, dass einige lokale Wehrmachtskommandeure die Deportationen untersagten, um die Bevölkerung nicht noch mehr gegen sich aufzubringen.78 Einen letzten Höhepunkt der rücksichtslosen deutschen Rekrutierungspolitik stellten verschiedene Aktionen gegen Ende der Besatzungszeit in Weißrussland dar, in denen versucht wurde, Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren unter falschen Versprechungen ins Reich zu locken. Zielgruppe waren vor allem jene, die ihre Eltern in Kriegshandlungen oder wegen Deportation ins Reich verloren hatten. Etwa 10.000 Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren wurden auf diese Weise 1943 für den ›Reichseinsatz‹ rekrutiert. Dieselbe Dienststelle führte noch 1944 die ›SS- und Flakhelferaktion‹ sowie die ›Heu-Aktion‹ durch (Heu = heimatlos, elternlos, unterkunftslos). Im Rahmen dieser Programme deportierten die Deutschen zwischen März und Oktober 1944 weitere 28.000 Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren für die Luftwaffe und die Rüstungsindustrie ins Reich, darunter knapp 4.000 Mädchen.79 Mit dem Rückzug der deutschen Truppen wurden große Teile der Bevölkerung verschleppt. Allerdings gab es auch Sowjetbürger, die sich freiwillig den Deutschen anschlossen, darunter vor allem Kollaborateure und Angehörige ethnischer Minderheiten, die bereits die Unterdrückungspraxis der stalinistischen Sowjetunion kennengelernt hatten, also vor allem Balten und Ukrainer. Die Gesamtsumme der nach Deutschland angeworbenen beziehungsweise deportierten Sowjetbürger ist nicht einfach zu bestimmen, zumal die Quellen vielfach belegen, wie schwer es vielen deutschen Behörden und Einsatzträgern fiel, Menschen aus ›dem Osten‹ ethnisch oder politisch zuzuordnen. Weil nach der Grenzzie-

|| 78 Vgl. Timothy P. Mulligan, The Politics of Illusion and Empire. German Occupation Policy in the Soviet Union, 1942–1943, New York 1988, S. 113, Kudryashov, Soviet Ukraine, S. 163; Quinkert, Terror, S. 712. 79 Vgl. Müller/Löbel/Freye, Faschistische Okkupationspolitik, S. 87; Schwarze, Kinder, S. 48; Herbert, Fremdarbeiter, S. 299f.; Quinkert, Terror, S. 715–719.

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hung zwischen Polen und der Sowjetunion die jeweiligen Bevölkerungen 1945 bis 1947 durch Zwangsumsiedlungen ethnisch weitgehend ›homogenisiert‹ wurden, ist es wohl sinnvoll, eine ethnische Unterscheidung zugrundezulegen, also die Balten, Weißrussen, Ukrainer und Russen zusammenzuzählen. Demnach beträgt die Anzahl der als Zivilarbeitskräfte ins ›Großdeutsche Reich‹ verbrachten (späteren) Sowjetbürger etwa 3,1 Millionen. Von diesen waren etwa 55 Prozent Ukrainer, 30 Prozent Russen, 12 Prozent Weißrussen und 3 Prozent Balten.80

2.1.10 Italien Italien durchlief geradezu mustergültig die vier Typen der Arbeitskräfterekrutierung. Als das Deutsche Reich im April 1937 erstmals wegen der Entsendung italienischer Landarbeiter anfragte, stieß es auf lebhaftes Interesse der italienischen Regierung, die der Erwerbslosigkeit im Lande immer noch nicht Herr wurde. 1938 kamen daher etwa 31.000 landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte nach Deutschland, die vorwiegend aus dem italienischen Nordosten stammten. Außerdem gingen 1938/39 rund 10.000 italienische Bauarbeiter nach Niedersachsen, wo sie beim Aufbau der ›Reichswerke Hermann Göring‹ in Salzgitter und des Volkswagenwerks in Fallersleben halfen. Italienische Arbeitskräfte genossen zunächst eine Sonderstellung in Deutschland. Dass sie in Hinsicht auf den Lohn ihren deutschen Arbeitskollegen gleichgestellt waren, unterschied sie nicht von den Arbeitskräften aus Westeuropa. Doch konnten sie als Angehörige eines faschistischen Staates auf besondere Rücksichtnahme der deutschen Behörden rechnen, etwa in der Frage der Verpflegung, die ein Dauerbrenner in Arbeitskonflikten war. Da ihre Arbeitsproduktivität nicht den Erwartungen der Einsatzträger entsprach, sie aber im Vergleich zu anderen Ausländern bevorzugt behandelt werden mussten, galten die italienischen Arbeitskräfte als recht kostspielig. Die Unternehmen durften sie allerdings auf Arbeitsplätzen einsetzen, in denen aus Gründen der Geheimhaltung ansonsten nur Deutsche beschäftigt werden konnten. Daher nahm das Interesse der Rüstungsindustrie an italienischen Fachkräften trotz aller Schwierigkeiten in Detailfragen nicht ab. In der zweiten Jahreshälfte 1940, als die militärische Schwäche Italiens und die Abhängigkeit des Landes von deutschen Energie- und Rohstofflieferungen offenbar wurde, verschlechterte sich die Verhandlungsposition Italiens gegenüber Deutschland. Das Reich drängte auf weitere Arbeiter, insbesondere Fachkräfte. Dies geschah

|| 80 Vgl. die ausführlich dokumentierte Schätzung bei Spoerer, Wie viele, S. 313–321.

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aus einer Position der Stärke heraus, weil es auf dem deutsch-italienischen Clearingkonto zunächst ein immer höheres Guthaben verbuchen konnte.81 Aufgrund dieser außenwirtschaftlichen Schieflage gingen die italienischen Behörden bereits 1941 zu Auskämmaktionen bei Industriefirmen über, denen sie Quoten zur Abgabe von Arbeitskräften nach Deutschland auferlegten. Ein Teil der etwa 250.000 italienischen Industriearbeiter, die zwischen März 1941 und Dezember 1942 ins Reich kamen, war also vom italienischen Staat zur Arbeit nach Deutschland zwangsverpflichtet worden. Allerdings lockte Deutschland auch mit deutlich höheren Löhnen, sodass der Arbeitsmarkt in Norditalien bald ausgeschöpft war. Die Lohnüberweisungen der 200.000 Italiener, die sich 1942 durchschnittlich im Reich befanden, ließen das Clearingkonto nun umgekehrt hoch zugunsten Italiens auflaufen. Im Februar 1943 musste Hitler daher mit Rücksicht auf Mussolini dem Abzug der italienischen Arbeitskräfte zustimmen. Dieser setzte im März 1943 ein, wurde jedoch von den deutschen Behörden verzögert.82 Der Sturz Mussolinis im Juli 1943 und die Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen Italien und den Alliierten im September änderten die Situation schlagartig. Den noch im Reich befindlichen 120.000 italienischen Arbeitskräften wurde die Heimkehr untersagt. Mit der Besetzung Nord- und Mittelitaliens durch deutsche Truppen schien dem ›Reichseinsatz‹ nun ein riesiges Menschenreservoir offenzustehen; Sauckel phantasierte gar von 3,3 Millionen italienischen Arbeitskräften. Im Oktober verfügten die deutschen Besatzer eine Arbeitspflicht für Männer der Geburtenjahrgänge 1910 bis 1925, die in Italien oder Deutschland abzuleisten war. Im März des folgenden Jahres wurden sogar alle Männer der Jahrgänge 1900 bis 1920 für militärisch eingezogen erklärt, um zum ›Reichseinsatz‹ ›beurlaubt‹ zu werden; ab Mai betraf diese Anordnung auch die Jahrgänge 1921 und 1926. Mit Rücksichtnahme auf die italienische Marionettenregierung in Salò legten die Deutschen jedoch die Durchführung dieser Maßnahmen in die Hände der italienischen Bürokratie, die verständlicherweise wenig Eifer zeigte. Die Aktion erwies sich als Fehlschlag, sodass die deutschen Besatzungsbehörden gegen den Protest Sauckels im Juli 1944 zur freiwilligen Anwerbung zurückkehrten. Vereinzelten Versuchen deutscher

|| 81 Deutschland verrechnete seine wirtschaftlichen Transaktionen mit vielen europäischen Staaten über Clearingkonten, vgl. Jonas Scherner, Der deutsche Importboom während des Zweiten Weltkriegs. Neue Ergebnisse zur Struktur der Ausbeutung des besetzten Europas auf der Grundlage einer Neuschätzung der deutschen Handelsbilanz, in: Historische Zeitschrift, 294. 2012, S. 79–113. Da Italien weniger Güter nach Deutschland lieferte, als es von dort bezog, war seine Bilanz im Handel mit Deutschland defizitär. Die Lohnüberweisungen in die Heimat von Italienern, die im Reich arbeiteten, liefen jedoch über dasselbe Konto. Dadurch konnte Italien sein Zahlungsbilanzdefizit abbauen. 82 Vgl. Bruno Mantelli, Von der Wanderarbeit zur Deportation. Die italienischen Arbeiter in Deutschland 1938–1945, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 51–89; außerdem Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichtreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung 1942, S. 418.

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Dienststellen, doch noch zwangsweise italienische Arbeitskräfte zu gewinnen, stellten sich mit Rücksicht auf die Sicherheitslage ausgerechnet lokale SD und SipoStellen entgegen. Sie lenkten die Deportationspläne auf italienische Häftlinge, von denen auf diesem Weg noch einige Tausend ins Reich kamen. In den Gebieten Süd- und Mittelitaliens, die die Wehrmacht wegen des alliierten Vormarsches nach und nach räumen musste, begab sie sich allerdings schon im September 1943 – nach eigener Terminologie – auf ›Sklavenjagd‹. Im Rahmen von Frontdeportationen zog sie alle arbeitsfähigen Männer aus zahlreichen Dörfern zur Zwangsarbeit vor Ort für ihren eigenen Bedarf oder den der Organisation Todt (Schanz- und Befestigungsarbeiten, ca. 50.000 Mann) heran. Andernfalls mussten sie wie ihre Familien den Marsch nach Norden antreten. Nahm die Wehrmacht Partisanen gefangen, die aufgrund der Deportationen enormen Zulauf aus der Bevölkerung bekamen, so wurden sie ebenfalls nach Deutschland geschickt, häufig direkt in KZs. Jedoch erwiesen sich diese Maßnahmen als wenig effektiv, zumal für viele italienische Männer, auch Partisanen, die freiwillige Meldung bei der lokalen Organisation Todt eine ideale Möglichkeit eröffnete, verpflegt und relativ gut entlohnt über den Winter zu kommen und zugleich vor dem Abtransport nach Deutschland geschützt zu sein. Dadurch blieben die Ergebnisse der Anwerbung nach dem Seitenwechsel Italiens weit unter Sauckels Erwartungen. Hatten bis zum Waffenstillstand insgesamt etwa 400.000 Italiener im Reich gearbeitet, so kamen danach nur noch etwa knapp 100.000 als Zivilarbeiter nach Deutschland.83 Viel ergiebiger war für Sauckel die Gefangennahme der sogenannten italienischen Militärinternierten (IMI). Nachdem Italien im September 1943 den Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnete, nahm die Wehrmacht kurzerhand die italienischen Truppen in ihrem Einflussbereich gefangen und transportierte sie zum ›Arbeitseinsatz‹ nach Deutschland und in die besetzten Gebiete. Sie wurden nur kurze Zeit als Kriegsgefangene und dann aus außenpolitischen Gründen als Militärinternierte bezeichnet. Bei den IMI handelte es sich um nicht weniger als 600.000 Mann, von denen die Wehrmacht bis zu 495.000 im Reich und im Generalgouvernement und noch einmal 55.000 in weiteren besetzten Gebieten einsetzte, zunächst auf dem Balkan, gegen Kriegsende in der Slowakei und Ungarn.84

|| 83 Vgl. Seckendorf u.a., Okkupationspolitik, S. 89; Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 178–238, 494–521; Mantelli, Wanderarbeit, S. 54f.; Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945. Die Operationszonen ›Alpenvorland‹ und ›Adriatisches Küstenland‹, München 2003, S. 190–209. 84 Vgl. Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten, verachtet, vergessen, München 1990, S. 305–312; Gabriele Hammermann, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943–1945, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, 21. 1998, S. 184–206.

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Da der Einsatz der IMI wie der der anderen Kriegsgefangenen ausgesprochen ineffektiv war, erreichte Sauckel im Juli 1944 bei Hitler, sie auf freiwilliger Basis in den Zivilstatus wechseln zu lassen. Da dies trotz der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, die den vermeintlichen Verrätern zugemutet wurde, auf wenig Interesse bei den IMI stieß, überführte die Wehrmacht im August und September 1944 fast alle Mannschaftsdienstgrade, insgesamt ca. 450.000, wie vier Jahre zuvor die polnischen Kriegsgefangenen, kurzerhand geschlossen in den Status von Zivilarbeitern und ließ ihre Verpflegungssätze erhöhen. Dadurch erhielten die italienischen Militärinternierten auch freien Ausgang, der für die Betroffenen insbesondere für das Organisieren von Lebensmitteln von großer Bedeutung war. Ende Januar 1945 folgten die etwa 15.000 italienischen Offiziere. Insgesamt arbeiteten also zwischen 1938 und 1945 fast eine Million Italiener im Deutschen Reich.85

2.1.11 Ungarn Das autoritär regierte Ungarn war in den 1930er Jahren zu einem Bündnispartner Deutschlands geworden, was sich schnell auszahlen sollte. Im Gefolge des Münchner Abkommens erhielt es Gebiete der südlichen Slowakei zugesprochen und annektierte 1939 die slowakische Karpatho-Ukraine. 1940/41 kamen Teile Jugoslawiens und das nördliche, bis dahin rumänische Siebenbürgen hinzu. Drei Jahre lang schienen die Träume von einem Groß-Ungarn Realität zu werden. Weil Ungarn zunächst als zuverlässiger Verbündeter galt, erfolgte die Rekrutierung ungarischer Arbeitskräfte für deutsche Zwecke auf strikt freiwilliger Grundlage. Nach Unterzeichnung eines entsprechenden Abkommens, das vor allem devisenrechtliche Fragen zum Inhalt hatte, arbeiteten schon im Sommer 1939 12.000 ungarische Arbeitskräfte im Reich, vor allem in der Landwirtschaft. Eine größere Bedeutung nahmen die ungarischen Zivilarbeitskräfte jedoch nicht ein; ihre Gesamtzahl wird 40.000 bis maximal 50.000 betragen haben.86 Dennoch sollte sich Ungarn gegen Ende des Krieges zu einem bedeutenden Arbeitskräftereservoir für die deutsche Kriegswirtschaft entwickeln. Da Ungarn Bündnispartner war, hatten die Deutschen zunächst keinen Zugriff auf die 825.000 Juden, die dort lebten und von denen viele vor der Annexion slowakische oder || 85 Vgl. Luigi Cajani, Die italienischen Militär-Internierten im nationalsozialistischen Deutschland, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 304–307; Lutz Klinkhammer, Deportation aus Italien nach Deutschland 1943–1945, in: Gestrich/Hirschfeld/Sonnabend (Hg.), Ausweisung, S. 141–166, hier S. 154; Herbert, Fremdarbeiter, S. 301–305, 315, 504, Anm. 133; Schreiber, Italienische Militärinternierte, S. 425–431; Spoerer/Fleischhacker, Compensation, S. 18. 86 Zahlenmäßig war mit 34.990 schon im September 1941 der Höhepunkt erreicht; danach pendelte ihre Anzahl zwischen 25.000 und 30.000. Nur noch ein paar Tausend arbeiteten in der Landwirtschaft, die meisten in der Industrie. Vgl. Arbeitseinsatz 1939–1944; Herbert, Fremdarbeiter, S. 65.

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rumänische Staatsbürger gewesen waren. Allerdings ließ die ungarische Regierung in vorauseilendem Gehorsam keinen Zweifel daran, dass sie ihre jüdischen Bürger selbst hart anpacken wollte. Bereits 1938 hatte sie diskriminierende Gesetze verabschiedet. Im März 1939 schuf sie einen Arbeitsdienst für als unzuverlässig und wehrunwürdig erachtete Männer: Slowaken, Rumänen, Serben, ungarische Oppositionelle, vor allem aber Juden. Prinzipiell konnten die Geburtsjahrgänge 1894 bis 1924 dieser Gruppen vom ungarischen Verteidigungsministerium zum Arbeitsdienst verpflichtet werden. Die Einberufungen erfolgten zunächst jedoch unsystematisch, häufig infolge einer Denunziation. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 verschärfte Ungarn die Einberufungspraxis auf deutschen Druck hin deutlich, sodass Ende 1942 gut 100.000 jüdische Dienstverpflichtete eingesetzt wurden, die eine Hälfte in Ungarn, die andere im Ausland, hauptsächlich in der Ukraine.87 Da sich nach dem Abfall Italiens und dem erfolgreichen Vormarsch der Roten Armee die Anzeichen häuften, dass auch Ungarn als Verbündeter ausfallen könnte, besetzten im März 1944 deutsche Truppen das Land. Unter der Regie von Adolf Eichmann begann bereits im April die Ghettoisierung und im Mai die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz. Im Gegensatz zu den Juden anderer Regionen Europas gerieten die Ungarn zu einem Zeitpunkt in die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie, als der Bedarf an Arbeitskräften noch stärker war als der Wille, die Juden unterschiedslos zu vernichten. So wurden viele von ihnen auf der berüchtigten Rampe in Auschwitz zum ›Arbeitseinsatz‹ eingeteilt. Mehrere Zehntausend ungarische Juden, darunter viele Mädchen und Frauen, entkamen auf diese Weise der unmittelbaren Vernichtung. Sie arbeiteten vor allem in den Werken der Flugzeugindustrie, deren Vertreter im Frühjahr 1944 händeringend auf die ungarischen KZ-Häftlinge warteten.88 Die jüdischen Arbeitsdienstler blieben zunächst von den Deportationen verschont. Der internationale Druck auf Ungarn wuchs, keine Juden mehr an das Reich auszuliefern. Ausgerechnet das ungarische Verteidigungsministerium, das bis dahin maßgeblich zu den unbarmherzigen Existenzbedingungen im Arbeitsdienst beigetragen hatte, beeilte sich nun, die verbliebenen jüdischen Männer der betreffenden Geburtsjahrgänge einzuziehen, um sie so vor den deutschen Deportationen zu retten. Auch jüdische Frauen zwischen 18 und 30 Jahren wurden dienstverpflichtet, wodurch die Anzahl der jüdischen Arbeitsdienstler sehr zum Ärger der Deutschen anstieg. Anfang Juli untersagte der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy alle weiteren Deportationen aus seinem Land. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich || 87 Vgl. Martin Broszat, Die jüdischen Arbeitskompanien in Ungarn, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1958, S. 200–214; Randolph L. Braham, The Hungarian Labor Service System 1939–1945, New York 1977, S. 9–58; ders. (Hg.), The Wartime System of Labor Service in Hungary. Varieties of Experiences, New York 1995, S. v–viii. 88 Vgl. Rainer Fröbe, Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektive der Industrie, 1943–1945, in: Herbert (Hg.), Europa, S. 351–383, hier S. 360f.

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alle 200.000 noch in Ungarn verbliebenen Juden, die nicht in einer der Arbeitskompanien waren, in Budapest. Noch kurz zuvor waren im Juni rund 15.000 ungarische Juden in ein Lager nach Strasshof nordöstlich von Wien gebracht worden, darunter 40 Prozent Frauen. Bei ihnen handelte es sich um ›Austauschjuden‹, die gegen kriegswichtige Materiallieferungen aus dem Ausland vorerst vom Holocaust verschont bleiben sollten. Von Strasshof aus wurden sie auf die Gaue Wien und Niederdonau zur Zwangsarbeit verteilt und im Unterschied zu allen anderen Häftlingsgruppen in großem Umfang in der Landwirtschaft eingesetzt. Im September verkündete die ungarische Regierung die generelle Dienstpflicht für alle Juden zwischen 14 und 70 Jahren. Pläne, sie zu bewaffnen und Ungarn für neutral zu erklären, wurden vereitelt. Die Deutschen zwangen Horthy im Oktober zur Abdankung und installierten eine Marionettenregierung, die unmittelbar danach Massaker an den Budapester Juden verüben ließ und trotz starker internationaler Proteste die Auslieferung der restlichen Juden an Deutschen vorbereitete. In mehreren Trecks trieben ungarische Einheiten die jüdischen Arbeitsdienstler und einen Teil der in Budapest verbliebenen Juden Anfang November – die Rote Armee hatte bereits Vororte von Budapest erreicht – in Gewaltmärschen westwärts Richtung Wien. Von den 70.000 erreichten nur etwa 40.000, darunter knapp 10 Prozent Frauen, die ungarisch-deutsche Grenze und wurden als ›Leihjuden‹ der SS übergeben, die sie unter mörderischen Bedingungen Bau- und Schanzarbeiten für den Ausbau des ›Südostwalls‹ verrichten ließ. Sowohl die ›Austauschjuden‹ als auch die ›Leihjuden‹ arbeiteten zunächst außerhalb des KZ-Systems, obwohl die SS die Bewachung stellte. Im März 1945 trieb die SS die überlebenden ›Leihjuden‹ in Richtung des KZ Mauthausen. Wie viele ungarische Juden insgesamt Zwangsarbeit für Deutschland verrichten mussten, ist unbekannt. Nach Auschwitz deportiert wurden 440.000, als ›Austausch-‹ oder ›Leihjuden‹ erreichten etwa 55.000 die ehemals österreichischungarische Grenze. Von diesen fast 500.000 Deportierten gelangten aus den deutschen KZ oder KZ-ähnlichen Lagern in Österreich bis Ende 1945 nur noch 116.500 nach Ungarn zurück.89

|| 89 In den Grenzen von 1942. Vgl. Braham, Hungarian Labor Service System, S. 120; ders., The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, Bd. II, New York 1981, S. 1143f.; Enzyklopädie des Holocaust 1998, S. 253, 1375, 1389; Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945, Wien 1999, S. 49f., 193–242; Florian Freund/Bertrand Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, in: dies./Mark Spoerer (Hg.), Zwangsarbeiter, S. 7–273, hier S. 176–186.

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2.2 Arbeitskräfte aus anderen Regionen Bei den Arbeitskräften aus dem nicht-besetzten Europa handelte es sich einerseits um bulgarische, rumänische, spanische und schweizerische Zivilarbeitskräfte und andererseits um britische und US-amerikanische Kriegsgefangene, die auf diversen Kriegsschauplätzen der Wehrmacht in die Hände fielen.90 Grundlage der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Königreich Bulgarien war ein Staatsvertrag mit dem Deutschen Reich. Das Reichsarbeitsministerium richtete eine Dienststelle des Werbebeauftragten in Sofia ein, die den Kontakt mit den zuständigen bulgarischen Behörden pflegte. Die Anwerbung erfolgte auf freiwilliger Basis, auch in den 1941 von Bulgarien annektierten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands. Aufgrund der stark kleinbäuerlichen Agrarstruktur fanden sich nur wenige Bulgaren bereit, nach Deutschland zu gehen.91 Insgesamt dürften kaum mehr als 30.000 Bulgaren im Reich gearbeitet haben. Noch weniger Freiwillige meldeten sich in Rumänien. Zwischen 1942 und Kriegsende schwankte die Zahl rumänischer Zivilarbeitskräfte in Deutschland immer um 8.000 bis 10.000.92 Auch in Spanien errichtete das Reichsarbeitsministerium eine Dienststelle, die Mitte September 1941 durch ›fliegende Kolonnen‹ für den ›Arbeitseinsatz‹ im Reich warb, vorzugsweise in den nord- und mittelspanischen Provinzen. Das Interesse blieb jedoch sehr gering; mehr als einige Tausend Spanier ließen sich nicht anwerben. Etwas umfangreicher war die Beschäftigung von Spaniern in Frankreich, wo viele auf den Baustellen der Organisation Todt arbeiteten.93 Über offizielle deutsche Anwerbemaßnahmen in der neutralen Schweiz ist nichts bekannt. Die Arbeitseinsatzstatistik wies jedoch zwischen Anfang 1941 und Herbst 1944 16.000 bis 18.000 Schweizer aus, interessanterweise mit leicht steigender Tendenz. Ein Viertel der schweizerischen Zivilarbeitskräfte arbeitete in Südwestdeutschland, das erst relativ spät massiv unter Luftangriffen zu leiden hatte.94 Eine relativ große Gruppe bildeten die britischen Kriegsgefangenen, unter denen sich auch Inder befanden. Ein Teil war den Deutschen bereits beim Westfeldzug im Mai und Juni 1940 in die Hände gefallen, ein anderer beim Afrika-Feldzug zwischen 1941 und 1943 und nach der alliierten Invasion in Frankreich ab Juni 1944. Die höchste Anzahl britischer Kriegsgefangener im ›Arbeitseinsatz‹ ist mit 101.564 für

|| 90 Weitere in der Arbeitseinsatzstatistik separat ausgewiesene Herkunftsländer sind: Finnland, Großbritannien mit Irland, Portugal und Schweden. Im Januar und April 1941 wurden knapp 4.000 Luxemburger ausgewiesen, danach wurde diese Gruppe nicht mehr aufgeführt. Die Größenordnungen der anderen Nationalitäten liegen um 1.000 oder darunter. 91 Vgl. Timm/Heimbürge, Einsatz, S. 71. 92 Vgl. Arbeitseinsatz, 1942–1944. 93 Vgl. Timm/Heimbürge, Einsatz, S. 99–101, und den Abschnitt über Frankreich. 94 Vgl. Arbeitseinsatz 1942–1944.

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Anfang Januar 1945 überliefert. Die über deutschem oder deutsch kontrolliertem Territorium abgeschossenen Fliegerbesatzungen kamen wie die Amerikaner überwiegend in Offizierslager (Oflags), deren Insassen grundsätzlich nicht zur Arbeit herangezogen wurden. Da sich das Reich hinsichtlich der britischen und US-amerikanischen Kriegsgefangenen im Wesentlichen an die Bestimmungen der Genfer Konvention hielt, setzte es gefangene Mannschaftsgrade dieser Länder nicht direkt in der Rüstungsproduktion ein, sondern in Bauwesen und Baustoffindustrie, Bergbau, Landwirtschaft und Verkehrswesen.95 Obwohl über die Arbeits- und Lebensbedingungen der britischen und US-amerikanischen Gefangenen kaum etwas bekannt ist, steht zu vermuten, dass sie im Kosmos der Zwangsarbeitskräfte mit Ausnahme der eingeschränkten Bewegungsfreiheit die besten Bedingungen vorfanden. Durch Pakete von zu Hause und vom Roten Kreuz waren sie materiell zum Teil sogar besser gestellt als Deutsche, zumal hochwertige Lebensmittel gegen Kriegsende einen enormen Tauschwert besaßen. Außerdem hatten die deutschen Wachmannschaften kaum eine Handhabe gegen langsam arbeitende angloamerikanische Kriegsgefangene, da die Genfer Konvention diesbezügliche Disziplinarmaßnahmen in der Regel nicht zuließ.96

3 Die Rückwirkungen des ›Reichseinsatzes‹ auf die Kriegsgesellschaft Eine systematische Untersuchung der Rückwirkungen des ›Reichseinsatzes‹ auf die Kriegsgesellschaft ist bislang nicht vorgelegt worden, sodass hier nur erste Überlegungen angestellt werden können. Es ist bereits mehrfach in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass die sukzessive Hereinnahme von Millionen Ausländern ins Reich, insbesondere von angeblich rassisch minderwertigen Polen, Sowjetbürgern und schließlich sogar Juden (in KZ-Arbeitskommandos), die nationalsozialistischen Träume einer homogenen deutschen ›Volksgemeinschaft‹ zumindest für die Dauer des Krieges zerstörten.97

|| 95 Vgl. Arbeitseinsatz 1944, Nr. 10, S. 23; Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 212. 96 Vgl. Billig, Le rôle, S. 58; Vasilis Vourkoutiotis, Prisoners of War and the German High Command. The British and American Experience, Houndsmills/New York 2003, S. 109–130; Arieh J. Kochavi, Confronting Captivity. Britain and the United States and their POWs in Nazi Germany, Chapel Hill 2005, S. 32–80, und für weitere Beispiele Hopmann u.a., Zwangsarbeit, S. 288f., 319f., 327, 336f. 97 Vgl. Hans Mommsen, The Impact of Compulsory Labor on German Society at War, in: Roger Chickering/Stig Förster/Bernd Greiner (Hg.), A World at Total War: Global Conflict and the Politics

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Der Mehrheit in der deutschen Bevölkerung wird die Verletzung der Himmlerschen Reinheitsgebote eher gleichgültig gewesen sein. Obwohl das Regime viel daran setzte, die Kommunikation zwischen Deutschen und Ausländern auf das für ein reibungsloses Miteinanderarbeiten Unerlässliche zu beschränken, kam es vielfach zu unerwünschten Kontakten. Diese reichten von ängstlichen und heimlichen Solidaritätsbekundungen über Freundschaften bis hin zu Liebesbeziehungen. Aus Sicht der ideologischen Hardliner gingen daher von den Ausländern neben politischen auch ›blutliche‹ Gefahren aus. Den Sicherheitsbehörden im Reich, deren Fäden zunehmend im 1939 gegründeten und Heinrich Himmler unterstehenden Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammenliefen, war es daher ein besonderes Anliegen, schon geringfügigste Abweichungen der Ausländer drastisch zu ahnden und somit abschreckend zu wirken. Seit der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ war sowohl das Strafrecht als auch die Strafzumessungspraxis generell stark verschärft worden. Den Anfang eines Sonderstrafrechts machten zwei Erlasse des Geheimen Staatspolizeiamtes vom Juni und Juli 1939. Tschechen, die die Arbeit oder Befehle verweigerten, stahlen, sich politisch betätigten oder ein sonstiges Delikt verübten, das auf eine angeblich staatsfeindliche Einstellung deutete, durften ins KZ eingewiesen werden. Im Dezember 1941 folgte die Polenstrafrechtsverordnung für die annektierten ehemals polnischen Gebiete, deren Generalklauseln sich fast beliebig deuten ließen, sodass schon geringfügige Vergehen mit der Todesstrafe geahndet werden konnten. Normalerweise reichten aber die auch für Deutsche bestehenden strafrechtlichen Vorschriften aus, um durch extensive Auslegung bei Ausländern die gewünschte Strafhärte zu erreichen.98 Im September 1942 trat der Reichsjustizminister die Zuständigkeit für die Strafverfolgung von ›Sicherungsverwahrten‹, Juden, Zigeunern, Russen, Ukrainern, Polen, die eine Haftstrafe von über drei Jahren sowie Tschechen oder Deutschen, die eine Strafe von über acht Jahren zu erwarten hatten, an die Zuständigkeit des Reichsführer SS, Himmler, ab. Spätestens seit Ende Juni 1943 konnten Polen und ›Ostarbeiter‹ nicht mehr mit einem gerichtlichen Verfahren rechnen, sondern waren dem Himmler unterstehenden Sicherheitsapparat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.99

|| of Destruction, 1937–1945, Cambridge 2005, S. 177–186, hier S. 179; ferner jetzt Beiträge in Jochen Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, Paderborn 2012. 98 Vgl. Diemut Majer, ›Fremdvölkische‹ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981, S. 600–627; Herbert, Fremdarbeiter, S. 73. 99 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 284–286; Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart 2000, S. 179f. Schwere Delikte von Zwangsarbeitern dieser Gruppen waren schon seit Januar (Polen) bzw. Februar (Ostarbeiter) 1942 im Zuständigkeitsbereich der Gestapo. Weder Justiz noch Polizei hatten 1942/43 einen Überblick über die sich oft widersprechenden

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Die Verfolgung und Unterdrückung der ausländischen Zivilarbeitskräfte wurde zur quantitativ wichtigsten Aufgabe des RSHA, und die zuständigen Abteilungen banden sehr bald die meisten personellen Ressourcen der Gestapo. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 1943 nahm sie 260.000 Verhaftungen von Ausländern wegen ›Arbeitsvertragsbruchs‹ vor – zwei Drittel aller Verhaftungen, die aus politischen Gründen erfolgten.100 Zum wichtigsten Terrorinstrument des RSHA gegen in- und ausländische Arbeitskräfte sollten sich die Arbeitserziehungslager (AEL) entwickeln. Stand noch im 1939 gegründeten SS-Sonderlager Hinzert, dem Vorläufer der AEL, der nationalsozialistische Erziehungsgedanke im Vordergrund, so entwickelten sie sich immer mehr zu »KZ der Gestapo« (Gabriele Lotfi). Den Häftlingen wurde in den drei bis maximal acht Wochen ihres Aufenthalts härteste Arbeit zugemutet, vor allem bei kräftezehrenden Bauvorhaben. Lohn stand ihnen nicht zu, allenfalls die Angehörigen deutscher Häftlinge erhielten für die Zeit der Haft finanzielle Unterstützung. Mit der Einweisung von ›Ostarbeitern‹ ab 1942 verschärften sich die Haftbedingungen derart, dass sich einige AEL zu Todeslagern entwickelten.101 Die Brutalisierung der Strafverfolgungspraxis war für die deutsche Bevölkerung nicht nur sichtbar – Hinrichtungen wurden zunächst selten, gegen Kriegsende jedoch immer häufiger öffentlich vorgenommen –, sondern sie war auch selbst davon betroffen. Auch deutsche Arbeitskräfte konnten in AEL eingewiesen werden. Deutschen Frauen, die sich angeblich oder tatsächlich mit Ausländern ›eingelassen‹ hatten, wurde der Kopf geschoren, und man trieb sie öffentlich durch die Straßen, oft erfolgten auch Einweisungen ins Zuchthaus oder in das Frauen-KZ Ravensbrück. Die ausländischen Männer wurden bis hin zur Hinrichtung noch härter bestraft, während Verhältnisse zwischen deutschen Männern und Ausländerinnen in der Regel als Kavaliersdelikte geahndet wurden.102 Der ›Herrschaftskompromiss‹ als zentrale Prämisse für den Einsatz von Ausländern im Reich – Hereinnahme von Ausländern, doch unter strenger Bewachung der Sicherheitsbehörden – dürfte somit bis zum Überschreiten der Reichsgrenzen durch alliierte Truppen in einem viel stärkeren Maße physische Gewalt in den Kriegsalltag der deutschen Gesellschaft getragen haben als jedes andere Phänomen außer den Luftangriffen. Doch war die Bevölkerung bei Luftangriffen Opfer anonymer gegneri-

|| Kompetenzregelungen bei der Strafverfolgung von Ausländern, vgl. Majer, ›Fremdvölkische‹, S. 674–684. 100 Vgl. Ulrich Herbert, Von der ›Arbeitsbummelei‹ zum ›Bandenkampf‹. Opposition und Widerstand der ausländischen Zwangsarbeiter in Deutschland 1939–1945, in: Klaus-Jürgen Müller/David N. Dilks (Hg.), Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933–1944, Paderborn 1994, S. 245– 260, hier S. 251; ders., Fremdarbeiter, S. 87; Lotfi, KZ der Gestapo, S. 117, 176–190. 101 Vgl. zu Hinzert: Albert Pütz, Das SS-Sonderlager/KZ Hinzert 1940–1945. Das Anklageverfahren gegen Paul Sporrenberg. Eine juristische Dokumentation, Frankfurt a.M. 2000. 102 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit, S. 200–205.

Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft | 689

scher Flieger, so war sie im Umgang speziell mit osteuropäischen Zwangsarbeitskräften und Häftlingen Zuschauer oder gar Täter bei konkreter, an fassbaren Menschen ausgeübter physischer Gewalt. Langfristig könnte der ›Ausländereinsatz‹ auch andere Wirkungen gezeitigt haben. Mit Bezug auf die Brutalisierung des ›Ausländereinsatzes‹ und damit auch Teile des Kriegsalltags hinter der Front hat Hans Mommsen die Vermutung geäußert, dass der ›Ausländereinsatz‹ bei der deutschen Bevölkerung xenophobe Einstellungen bestärkt oder hervorgerufen haben könnte.103 Schließlich brachte der ›Reichseinsatz‹ praktisch jeden Deutschen in Kontakt mit ausländischen Männern und Frauen, ein Kulturschock, der in Zeiten, in denen Auslandsreisen nur einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit (beziehungsweise privilegierten KdF-Touristen) vorbehalten war, erheblich gewesen sein muss.104 Die Begegnung mit fremden Kulturen könnte jedoch umgekehrt auch Vorurteile abgebaut haben. So haben es zum Beispiel die nationalsozialistischen Sicherheitsorgane immer schwer gehabt, in katholisch geprägten Gegenden der deutschen Bevölkerung die vermeintliche Minderwertigkeit der polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen nahezubringen, eben weil man trotz aller Fremdartigkeit doch auch Gemeinsamkeiten mit den oft sehr gläubigen Polen entdeckte.105 Zudem gibt es vielfache Belege, dass sich ausländische Arbeitskräfte, insbesondere solche mit einer gewerblichen Ausbildung, über ihr fachliches Wissen Respekt bei den deutschen Kollegen und Vorgesetzten verschaffen konnten.106 Insofern lässt sich vorstellen, dass der erzwungene Kontakt zwischen Deutschen und zwangsmigrierten Ausländern auch Vorurteile abgebaut haben könnte und somit förderlich für die Integration von ausländischen Arbeitsmigranten seit den späten 1950er Jahren, sei es am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft, gewesen sein könnte. Hier steckt die Forschung jedoch noch ganz in den Anfängen.107

|| 103 Vgl. Mommsen, The Impact of Compulsory Labor, S. 185. 104 Die knapp 3,5 Millionen Ausländer, die im Ersten Weltkrieg in Deutschland arbeiteten, waren entweder Kriegsgefangene oder es handelte sich um Zivilarbeitskräfte, die überwiegend in Gebieten eingesetzt wurden, in denen ausländische Saisonarbeit eine gewisse Tradition hatte. 105 Vgl. z.B. John J. Delaney, Racial Values vs. Religious Values: Clerical Opposition to Nazi AntiPolish Racial Policy, in: Church History, 70. 2001, S 109–131; ders., Rassistische gegen traditionelle Werte. Priester, Bauern und polnische Zwangsarbeiter im ländlichen Bayern, in: Andreas Heusler/Mark Spoerer/Hellmuth Trischler (Hg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit, München 2010, S. 163–178; zum protestantischen Württemberg Jill Stephenson, Triangle: Foreign Workers, German Civilians, and the Nazi Regime. War and Society in Württemberg, in: German Studies Review, 15. 1992, S. 339–359, hier vor allem S. 344f. 106 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 239–248; Spoerer, Zwangsarbeit, S. 192–196. 107 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 188, 339; Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010, S. 72f.

Markus Leniger

›Heim ins Reich‹: Deutsche Minderheiten als Objekte nationalsozialistischer Migrationslenkung 1 Nationalsozialistische Siedlungspolitik Seit den 1980er Jahren hat sich die zeitgeschichtliche Forschung verstärkt mit der nationalsozialistischen Siedlungspolitik beschäftigt.1 Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei die diversen Vorarbeiten zu einem ›Generalplan Ost‹, mit dem das Endziel einer totalen ›Germanisierung‹ der eroberten Gebiete im Osten bis zum Ural erreicht werden sollte.2 Die ›Germanisierung‹ des Ostens gehört mittlerweile zu den gut erforschten Elementen der NS-Geschichte. Über die zentrale Bedeutung der SS im Rahmen dieser auf eine radikale ethnische Neuordnung Europas zielenden Poli-

|| 1 Insgesamt siehe hierzu ausführlich Markus Leniger, Nationalsozialistische ›Volkstumsarbeit‹ und Umsiedlungspolitik 1933–1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese, Berlin 2006. Das Schlagwort ›Heim ins Reich‹ entstand im Zusammenhang der Sudetenfrage und bezog sich dort zunächst auf den territorialen Anschluss der überwiegend deutsch besiedelten Gebiete der Tschechoslowakischen Republik an das Deutsche Reich; vgl. Ralf Gebel, ›Heim ins Reich!‹. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), 2. Aufl. München 2000. Im gleichen Sinn sprach Hitler am 15. März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz von der »Heimkehr meiner österreichischen Heimat in das Deutsche Reich«. Wo sich aus außenpolitischen Gründen eine territoriale Anbindung von Siedlungsgebieten deutscher Minderheiten (noch) nicht realisieren ließ, wurde deren Umsiedlung nach Deutschland unter dem gleichen Schlagwort in der Öffentlichkeit kommuniziert. 2 Vgl. u.a. Robert Lewis Koehl, RKFDV. German Settlement and Population Policy. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge, MA 1957; Hans Buchheim, Rechtsstellung und Organisation des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1, München 1958, S. 239–279; Helmut Heiber, Der Generalplan Ost, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6. 1958, S. 281–325; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 1993 (1991); Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der ›Generalplan Ost‹. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940– 1944, Basel 1993; Czesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994; Götz Aly, ›Endlösung‹. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1998 (1995); Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; Sybille Steinbacher, ›Musterstadt‹ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000.

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tik kann kein Zweifel herrschen.3 Als ›Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums‹ (RKF)4 kam dem Reichsführer SS (RFSS) Heinrich Himmler die Federführung zu bei der von Hitler angestrebten »neuen Ordnung der ethnographischen Verhältnisse« mittels »einer Umsiedlung der Nationalitäten.«5 Doch diese im Oktober 1939 erlangte Bedeutung ergab sich für die SS nicht ausschließlich aus einer generellen Affinität des ehemaligen Artamanen Himmler zur Siedlungsfrage.6 Ohne Zweifel sind diese siedlungsideologischen Grundlagen und ihre institutionelle Formierung im Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) bei einer Analyse späterer SSSiedlungspolitik in Rechnung zu stellen. Das Postulat von Richard Walter Darré, dem bis Mitte der 1930er Jahre führenden NS-Agrar- und Siedlungspolitiker (unter anderem Reichsbauernführer, erster Chef des RuSHA der SS und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft) – »der natürliche Siedlungsraum des Deutschen Volkes ist das Gebiet östlich unserer Reichsgrenze bis zum Ural, im Süden begrenzt durch Kaukasus, Kaspisches Meer und die Wasserscheide, welche das Mittelmeerbecken von der Ostsee und Nordsee trennt«7 – blieb auch für Himmler in seiner Funktion als RKF ein wichtiges Motiv. Aber diese ideologischen Kontinuitäten allein erklären nicht hinreichend, wie es überhaupt zu einer Gestaltungsdominanz der SS in der Zeit nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft im Osten kommen konnte. Hierzu bedarf es einer genaueren Analyse der historischen Rahmenbedingungen vor Beginn der Ostexpansion des Deutschen Reiches. Dabei ist neben dem Entwicklungsstrang der Rasse- und Siedlungspolitik mit der sogenannten ›Volkstumsarbeit‹ ein weiteres Politikfeld in den Blick zu nehmen, das nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zunächst noch außerhalb des SS-Sektors verblieben war und erst mit der Ernennung || 3 Zur Rolle der SS grundlegend Isabel Heinemann, ›Rasse, Siedlung, deutsches Blut‹. Das Rasseund Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, 2. Aufl. Göttingen 2003. 4 Erlass des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums, 7.10.1939, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (IMT), Bd. 26, Nürnberg 1947, S. 255f. Die Datierung auf den 7. Oktober erfolgte auf Himmlers Wunsch – es war sein Geburtstag. Eine Gesamtdarstellung des RKF ist ungeachtet zahlreicher Studien zu Einzelaspekten (vgl. Anm. 2 u. 3) ein dringendes Forschungsdesiderat. 5 »Rede des Führers vor dem Deutschen Reichstag in der Krolloper zu Berlin vom 6. Oktober 1939«, in: Dokumente der Deutschen Politik, hg.v. Franz Alexander Six, Bd. 7/1, Berlin 1940, S. 334–362, hier S. 347. 6 Michael H. Kater, Die Artamanen – völkische Jugend in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 213. 1971, S. 577–638. 7 Rede Darrés auf der landwirtschaftlichen Gau-Fachberater-Tagung, Weimar, 23./24.1.1936, zit. nach Heinemann, Rasse, S. 28. Einführend zu Darré siehe Gustavo Corni, Richard Walther Darré – Der ›Blut-und-Boden‹-Ideologe, in: Ronald Smelser/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Braune Elite I. 22 biographische Skizzen, Darmstadt 1994 (1989), S. 15–27. Darré war wie Himmler ehemaliger Artamane, und ungeachtet seiner Kaltstellung im Zuge der Kriegsvorbereitung blieben die siedlungsideologischen Fundamente dieser Bewegung für Himmlers Politik als RKF relevant.

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Himmlers zum RKF mit einer ›Germanisierungspolitik‹ verschmolz, deren integrale Bestandteile die Aussonderung und Vernichtung ›unerwünschter Bevölkerungen‹ einerseits und die Ansiedlung ›erwünschter‹ Menschen andererseits waren. Der RKF bot die institutionelle Klammer, die ›Volkstumsarbeit‹ mit Siedlungspolitik (als Mittel zur Behebung tatsächlicher oder behaupteter ökonomischer und sozialer Missstände und Fehlentwicklungen der Zwischenkriegszeit) und einer Politik ›rassischer‹ Selektion (zur Verbesserung oder Behebung angeblicher degenerativer Entwicklungen in der ›rassischen‹ Konstitution der Deutschen) verband. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es in erster Linie ein lediglich aus taktischen Gründen betriebenes Engagement in der ›Volkstumsarbeit‹ war – und nicht etwa die Rasse- und Siedlungspolitik – das Himmler und die SS zu wichtigen Akteuren bei der ›Germanisierung‹ des Ostens werden ließ. Außerdem ist der Frage nachzugehen, ob sich die Maßnahmen der SS in diesem Feld mit dem Begriff ›Siedlungspolitik‹ hinreichend beschreiben lassen. Denn sie unterschieden sich in Motivation und Praxis nicht nur deutlich von den Ansätzen einer Siedlungspolitik in der Zwischenkriegszeit. Sie standen auch im Widerspruch zu Grundsätzen einer ReAgrarisierung der deutschen Gesellschaft, wie sie in der Zwischenkriegszeit durch das RuSHA propagiert worden waren. Als Untersuchungsgegenstand bietet sich die vom RKF und den in seinem Auftrag agierenden Institutionen durchgeführte Umsiedlung ›volksdeutscher‹ Minderheiten an – handelte es sich bei diesen doch um das einzige relevante ›Menschenmaterial‹ für die angestrebte ›Germanisierung‹ des Ostens.

2 Von der ›Volkstumsarbeit‹ zur Umsiedlung Etwa zehn Millionen ethnische Deutsche lebten nach 1919 in den an die Stelle der zerbrochenen supranationalen Reiche getretenen neuen Nationalstaaten. Ihre Lebenssituation war zwar von Assimilationsdruck und ökonomischen Krisen bestimmt, doch führten diese nicht zur Auflösung der Minderheiten, sondern zu deren innerer Festigung. Die deutschen Minderheiten entwickelten ein dezidiert ›deutsches‹ Selbstbewusstsein und eine Fixierung auf das Deutsche Reich als Garant der eigenen ethnischen Identität.8 Radikale Lösungen wie die türkisch-griechische Umsiedlung zu Beginn der 1920er Jahre lagen zwar außerhalb des für Mitteleuropa politisch Vorstellbaren, doch gehörte die hinter dieser prototypischen ›Bevölkerungsverschiebung‹ des 20. Jahrhunderts stehende Wunschvorstellung eines ethnisch homogenen Staates zum common sense der Zeit.9 || 8 Vgl. Aly, Endlösung, S. 25. 9 Vgl. hierzu grundlegend Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004; Eugene M. Kulischer, The Displacement of Population in Europe,

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Mit der Ausformung von Vereins- und Genossenschaftsstrukturen auf Seiten der deutschen Minderheiten korrespondierte innerhalb des Reiches eine aus den Wurzeln der Vorkriegszeit gespeiste Verbands-, Vereins- und Institutslandschaft, die sich der materiellen und ideellen Unterstützung sowie der Erforschung der deutschen Minderheiten widmete und für die sich die zeitgenössische Vokabel der ›Volkstumsarbeit‹ einbürgerte. Gemeinsames Ziel war die Verbesserung der Lebenssituation deutscher Minderheiten, um damit deren Bestand in ihrem angestammten Lebensraum zu sichern.10 Die praktische Durchführung der Unterstützungsarbeit erfolgte sowohl direkt durch das Reichsministerium des Innern als auch indirekt über diverse ›Volkstumsverbände‹ – allen voran den ›Verein (später Volksbund) für das Deutschtum im Ausland‹ (VDA), der in der Zwischenkriegszeit zum mitgliederstärksten Verein des Deutschen Reiches wurde.11 Auch kirchliche Verbände wie der ›Reichsverband für die katholischen Auslandsdeutschen‹ engagierten sich und erhielten für ihre Unterstützung deutscher Minderheiten staatliche Gelder.12

|| Montreal 1943; ders., Europe on the Move. War and Population Changes 1917–1947, New York 1948 und Joseph Schechtman, European Population Transfers 1939–1945, New York 1946; vgl. auch die zeitgenössische kritische Haltung zu Schechtmans positiver Bewertung von Bevölkerungstransfers bei Hans Rothfels, Frontiers and Mass Migrations in Eastern Central Europe, in: The Review of Politics, 8. 1946, S. 37–67, besonders S. 66f. Rothfels stellte weitsichtig die rhetorische Frage: »Why should not the same method spread to the Balkans with fantastic result? In the long run it may have repercussions in many parts of the world, once the ›elimination of minorities‹ on the basis of power is an accepted doctrine.« 10 Vgl. Stresemanns Schreiben an den Kronprinzen, 7.9.1925, in: Gustav Stresemann. Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, Bd. II, Berlin 1932, S. 543–555. Zum Einsatz der Weimarer Republik für die deutschen Minderheiten vgl. u.a. Carole Fink, Defender of Minorities: Germany in the League of Nations 1926–1933, in: Central European History, 5. 1972, S. 330–357; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Politik? Die ›Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften‹ von 1931–1945, Baden-Baden 1999; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der ›Volkstumskampf‹ im Osten, Göttingen 2000. 11 Gerhard Weidenfeller, VDA – Verein für das Deutschtum im Ausland 1881–1918, Bern 1976; Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Hans Steinacher: Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente, Boppard a.Rh. 1970. 1932 betrug das Haushaltsvolumen des VDA 1,1 Millionen RM. Nach der ›Machtergreifung‹ stiegen die Einnahmen aus den großen Sammelaktionen, das Haushaltsvolumen erweiterte sich 1934 auf 7 Millionen RM; vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, Frankfurt a.M./Berlin 1968, S. 201. Neben dem VDA sind hier außerdem das Deutsche Auslands-Institut in Stuttgart (DAI) und der Bund Deutscher Osten (BDO) zu nennen; zum DAI vgl. Ernst Ritter, Das Deutsche Auslands-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976. 12 Vgl. Guenter Lewy, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1965, S. 185.

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Die meisten Akteure der ›Volkstumsarbeit‹ der Weimarer Zeit begrüßten die nationalsozialistische Machtübernahme, da sie von der neuen Regierung eine noch stärkere Unterstützung der deutschen Minderheiten erwarteten. Außerdem erhofften sie sich eine Konzentration und Gleichschaltung der zersplitterten Strukturen mit ihren sich zum Teil erbittert bekämpfenden Verbänden der deutschen Minderheiten13 und die Eindämmung des von Ernst Wilhelm Bohle, dem Leiter der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP, artikulierten Führungsanspruchs durch eine pragmatischer und weniger radikal ausgerichtete Lenkungsinstanz im Reich.14 Zentrale Figur der 1933 einsetzenden Gleichschaltung der ›Volkstumsarbeit‹ war der Stellvertreter des Führers (SdF) Rudolf Heß, der in enger Zusammenarbeit mit dem Geopolitiker Karl Haushofer versuchte, eine Koordinierungsstelle zu errichten. Der zu diesem Zweck eingerichtete ›Volksdeutsche Rat‹ (VR) und dessen Nachfolgeorganisation, das ›Büro von Kursell‹ (BK), sahen sich aber sofort in zermürbende Kompetenzstreitigkeiten mit der AO verwickelt. Zu den Hauptstreitpunkten zählte die Frage der Aufteilung des ›Spendenkuchens‹ und die Zuständigkeit für die Deutschen jenseits der Grenzen.15 Paradoxerweise verschaffte die durch Hitler bestimmte zeitweilige Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik den von Heß und Haushofer eingebundenen traditionellen Kräften, insbesondere dem VDA, in diesem Streit zunächst einen Feldvorteil.16 Im Konflikt mit der AO kam es zur Abgrenzung der Zuständigkeiten: Kursell sollte sich um die ›Volksdeutschen‹ kümmern, während Bohle sich auf die Betreuung der zahlenmäßig eher unbedeutende Gruppe der deutschen Reichsbürger im Ausland (›Reichsdeutsche‹) beschränken musste. Diese Aufwertung des BK, das damit auch über die Vergabe aller Mittel im Bereich der Minderheitenbetreuung entschied, trug ihm die inoffizielle Bezeichnung ›Volksdeutsche Mittelstelle‹ ein.17 Damit endete 1936 eine erste Phase nationalsozialistischer ›Volkstumsarbeit‹, die organisatorisch von der Gleichschaltung der heteroge-

|| 13 Vgl. dazu Hans von Rimscha, Zur Gleichschaltung der deutschen Volksgruppen durch das Dritte Reich am Beispiel der deutschbaltischen Volksgruppe in Lettland, in: Historische Zeitschrift, 182. 1956, S. 29–63. 14 Vgl. Donald M. McKale, Ernst Wilhelm Bohle – Chef der Auslandsorganisation (AO), in: Ronald Smelser/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Braune Elite II. 21 weitere biographische Skizzen, Darmstadt 1993, S. 26–38; ders., The Swastika Outside Germany, Kent, OH 1977; Hans-Adolf Jacobsen, Die Gründung der Auslandsabteilung der NSDAP (1931–1933), in: Gedenkschrift Martin Göhring, Wiesbaden 1968, S. 353–368; ders., Außenpolitik, S. 90–160. 15 Vgl. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Karl Haushofer – Leben und Werk, Bd. I, Boppard a.Rh. 1979, S. 279–281; Peter Longerich, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München 1992, S. 24f.; Jacobsen, Steinacher, S. 16, Dok. Nr. 2 »Neue Wege – erste Erfolge des VDA«; ders., Außenpolitik, S. 175f. 16 Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 12. Aufl. München 1989, S. 274–283. 17 Vgl. Valdis O. Lumans, Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1933–1945, Chapel Hill/London 1993, S. 38.

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nen und konkurrierenden volkstumspolitischen Aktivitäten geprägt war, inhaltlich jedoch weitgehend an den Prämissen der Weimarer Zeit festhielt. Die bis zu diesem Zeitpunkt im BK gebündelte Zuständigkeit für die ›Volksdeutschen‹ weckte das Interesse der SS für diesen Politiksektor. An der Jahreswende 1936/37 gelang es Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, den ohne Hausmacht innerhalb der NSDAP agierenden von Kursell auszuschalten.18 Die Führung des jetzt auch offiziell in ›Volksdeutsche Mittelstelle‹ (VoMi) umbenannten BK übernahmen Anfang 1937 enge Vertraute Himmlers und Heydrichs: SS-Obergruppenführer Werner Lorenz19 als Leiter und Standartenführer Dr. jur. Hermann Behrends20 als Stabschef. Während sich Lorenz auf Repräsentation und offizielle Kontakte konzentrierte, waren das operative Tagesgeschäft und die heimlichen Kontakte zu den deutschen Minderheiten die Domäne von Behrends. Er blieb auch nach seinem Wechsel zur VoMi Angehöriger des SD und stellte diesem die Kontakte zu den deutschen Minderheiten für eine geheimdienstliche Nutzung zur Verfügung.21 Die Ernennung von Lorenz war der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Indienstnahme der ›volksdeutschen‹ Minderheiten Europas durch die SS, auch wenn sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen an der Arbeit der VoMi zunächst nur wenig änderte.22 Hinter den Kulissen strebte die neue Führung der VoMi jedoch die Unterwerfung des weiterhin mächtigen VDA an.23 Dessen Leiter Steinacher hielt Lorenz in Fragen der ›Volkstumsarbeit‹ und der deutschen Minderheiten für inkompetent.24 Wichtiger jedoch waren die im Verlauf des Jahres 1937 immer deutlicher werdenden sachlichen Gegensätze.25 Der VDA wollte die Minderheitenverbände von einer offe|| 18 Vgl. Jacobsen, Steinacher, S. 351; Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933–1938, München 1980, S. 163–168; Jacobsen, Haushofer, Bd. II, S. 311, Dok. Nr. 166; ders., Außenpolitik, S. 231. Kursell wurde die Mitgliedschaft in der ›Baltischen Bruderschaft‹, einer erzkonservativen und antibolschewistischen Vereinigung zum Vorwurf gemacht. Himmler vertrat die absurde Auffassung, es handle sich um eine getarnte probolschewistische Organisation. 19 Vgl. Koehl, RKFDV, S. 37–39; ders., Toward an SS Typology: Social Engineers, in: The American Journal of Economics and Sociology, 18. 1959, S. 113–126, hier S. 117f.; Lumans, Auxiliaries, S. 45– 50; Jacobsen, Außenpolitik, S. 237f. 20 Vgl. ebd., S. 237. Koehl stellt Lorenz in eine Reihe mit Ulrich Greifelt, Konrad Meyer, Richard Hildebrandt und Rudolf Creutz. In diesen Männern sieht er Repräsentanten eines für die SS charakteristischen ›Typus‹, des »Social Engineers«; Koehl, Typology, S. 113–126. 21 Vgl. Jacobsen, Steinacher, S. 390, Dok. Nr. 102 »Die Volksdeutsche Mittelstelle«; ders., Außenpolitik, S. 238. 22 Vgl. Lumans, Auxiliaries, S. 60f. Das Engagement der SS wurde allenfalls als eine Wende zu einer verlässlicheren und verantwortungsvolleren Politik begrüßt; vgl. Jacobsen, Haushofer, II, S. 306, Dok. Nr. 163, Haushofer an Heß, 10.12.1936. 23 Vgl. ders., Außenpolitik, S. 235; Smelser, Sudetenproblem, S. 181; McKale, Swastika, S. 108f.; Jacobsen, Steinacher, S. 391, Dok. Nr. 103 »Aus der VDA-Arbeit«. 24 Vgl. ebd., S. 389, Dok. Nr. 102 »Die Volksdeutsche Mittelstelle«. 25 Vgl. ebd., S. 351, Dok. Nr. 90.

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nen Konfrontation mit den jeweiligen Nationalstaaten abhalten, unterstützte sie jedoch uneingeschränkt im Kampf um ihre Minderheitenrechte. Himmler und seinen Vertretern an der Spitze der VoMi ging es hingegen um die bedingungslose Unterstützung der deutschen Außenpolitik. Mit dem Aufbau der Bündnisse mit Italien und der Sowjetunion barg aber bereits das Vorhandensein einer Minderheit ein außenpolitisches Konfliktpotenzial, das notfalls durch Umsiedlung auszuräumen war. Repräsentanten einer traditionellen ›Volkstumsarbeit‹ wie Steinacher wollten diesen Weg nicht mitgehen. Seine Ablösung am 19. Oktober 1937, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausbau der ›Achse Berlin-Rom‹ stand, war daher nur folgerichtig.26 Im Verlauf des Jahres 1938 sollte sich zeigen, dass hinter der Fassade der Kontinuität mit Himmler und der SS Mitakteure auf den Plan getreten waren, die auch in der Praxis eine Abkehr von der ›Volkstumsarbeit‹ der Zwischenkriegszeit vollzogen. Zunächst aber schaffte ein Führererlass vom 2. Juli 1938, der die VoMi zur maßgeblichen Stelle in allen Volkstumsangelegenheiten erklärte und sie »mit der einheitlichen Ausrichtung sämtlicher Staats- und Parteistellen sowie mit dem einheitlichen Einsatz der in sämtlichen Stellen zur Verfügung stehenden Mittel für Volkstumsund Grenzlandfragen« beauftragte, der SS eine gute institutionelle Ausgangsposition für die weitere Entwicklung.27 Von entscheidender Bedeutung für den Übergang von der ›Volkstumsarbeit‹ zu einer umfassenden Umsiedlungspolitik war die seit 1919 virulente Südtirolproblematik.28 Durch den ›Anschluss‹ Österreichs im Jahr 1938 gewannen Umsiedlungs|| 26 Vgl. Günther Pallaver, Englands Angebot der Selbstbestimmung, in: Klaus Eisterer/Rolf Steininger, Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, Innsbruck 1989, S. 151– 177; Jacobsen, Steinacher, S. 412, Dok. Nr. 106 »Das Ende: Meine ›Beurlaubung‹«,; ebd., S. 413, Rudolf Heß an Hans Steinacher, 19.10.1937. 27 Erlass Hitlers über die Volksdeutsche Mittelstelle, 2.7.1938, Akten der Parteikanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes, bearb.v. Helmut Heiber, München 1983, Nr. 207 00451. Weitergehende Bemühungen von Lorenz, die VoMi zu einem ›Reichskommissariat für Volkstumsfragen‹ (mit ihm als Staatssekretär) aufzuwerten, scheiterten jedoch am Einspruch Hitlers und am Widerstand der Ministerialbürokratie; vgl. u.a. VoMi an Reichskanzlei, Entwurf für einen Führererlaß über die Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen, 5.10.1938, Bundesarchiv Berlin (BArch B), R 43 II/124a, Bl. 6f.; Begründung für die Notwendigkeit der Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen, 5.10.1938, BArch B, R 43 II/124a; Vermerk Staatssekretär Kritzinger für Reichsminister Lammers zum Erlaßentwurf der VoMi, 5.10.1938, Bl. 8f., BArch B, R 43 II/124a, Bl. 15–15RS; Reichsminister Lammers, handschriftlicher Vermerk, 8.10.1938 (auf Kritzingers Vermerk, 5.10.1938), BArch B, R 43 II/124a, Bl. 15–15RS; Vermerk Staatssekretär Kritzinger über Treffen mit Behrends in der Reichskanzlei, 17.10.1938, BArch B, R 43 II/124a, Bl. 17– 17RS; VoMi/Stabsführer Dr. Behrends an Kritzinger, 17.10.1938, BArch B, R 43 II/124a, Bl. 18–21; Lammers an SdF und Reichsaußenminister, 7.11.1938, BArch B, R 43 II/124a, Bl. 24; Lammers an Lorenz, 7.11.1938, BArch B, R 43 II/124a, Bl. 23–24RS; Leniger, Volkstumsarbeit, S. 33f.; Longerich, Stellvertreter, S. 109. 28 Jens Petersen, Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933–1936, Tübingen 1973.

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szenarien praktische Bedeutung, wie sie Ettore Tolomei, der geistige Vater einer radikalen Italienisierung Südtirols29 bereits in den 1920er Jahren entworfen hatte.30 Italien sah sich mit dem Scheitern seiner Assimilierungspolitik und einer wachsenden Irredenta konfrontiert.31 Während die italienischen Umsiedlungsüberlegungen jedoch vor allem als Drohkulisse für die deutschsprachigen italienischen Staatsbürger gedacht waren32, führte Hitlers Bekenntnis zur Brennergrenze als dauerhafter Trennungslinie der »Lebensräume beider Nationen«33 auf deutscher Seite zu konkreten Umsiedlungsplanungen. Am 27. Februar 1939 unterrichtete Martin Bormann, der Stabsleiter des SdF, in einem Runderlass die Parteidienststellen, dass die Übersiedlung von »Volksgenossen aus Südtirol mit ihren Familien« ins Deutsche Reich in Zukunft zu begrüßen sei.34 In die gleiche Richtung zielten Überlegungen aus dem Umfeld Himmlers, die ›Volksdeutschen‹ als Arbeitskräftereservoir für die auf Hochtouren laufende deutsche (Rüstungs-)Wirtschaft zu nutzen.35 Zur Verbesserung des getrübten deutsch-italienischen Verhältnisses beauftragte Hitler im Frühjahr 1939 Himmler, »die Ausbürgerung von 30.000 Südtirolern vorzubereiten« und sie »in Deutschland in Arbeit zu vermitteln.«36 Im Sinne der von Ian Kershaw herausgearbeiteten Denkfigur der NS-Nomenklatur, wonach es darum gehe, dem »Willen des Führers entgegenzuarbeiten«, begnügte sich Himmler jedoch nicht mit der Abwicklung der angeordneten Teilumsiedlung. Vielmehr verfasste er

|| 29 Vgl. Gisela Framke, Im Kampf um Südtirol. Ettore Tolomei (1865–1952) und das ›Archivio per l'Alto Adige‹, Tübingen 1987, S. 285. 30 Vgl. Winfried Schmitz-Esser, Hitler-Mussolini. Das Südtiroler Abkommen von 1939, in: Außenpolitik, 13. 1962, S. 397–409, hier S. 398. Zur italienischen Südtirolpolitik zwischen 1918 und 1922 Leopold Steurer, Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919–1939, München 1980, S. 52–63. 31 Vgl. Conrad F. Latour, Südtirol und die Achse Berlin-Rom 1938–1945, Stuttgart 1962, S. 22; Generalkonsul Mailand an das Auswärtige Amt betr. Stimmung in Südtirol, 21.4.1938, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik, Serie D, Band I. September 1937 bis September 1938: Von Neurath zu Ribbentrop, Nr. 748, S. 881. Als »endgültige Lösung des Problems der Deutschen des Oberetsch« schlug Mussolinis Sonderbeauftragter Giovanni Preziosi vor, »die Deutschen Deutschland zurückzugeben.« Preziosi an Mussolini, 18.3.1938, zit. nach Framke, Kampf, S. 201. Italiens Außenminister Gaeleazzo Graf Ciano plädierte dafür »daß man die Menschen versetzt.« Galeazzo Ciano, Tagebücher 1937/38, Hamburg 1949, S. 137f., Eintrag vom 3.4.1938; vgl. Latour, Südtirol, S. 21. 32 Lumans, Auxiliaries, S. 78; McKale, Swastika, S. 137f. 33 Rede Hitlers am 7.5.1938 im Palazzo Venezia, zit. nach Latour, Südtirol, S. 26. 34 Ebd., S. 30. 35 Vgl. Himmler an Greifelt, Denkschrift über die Rückwanderung volks- und reichsdeutscher Arbeitskräfte aus dem Ausland in das Reich, 2.5.1938, BArch B, NS 19/2213, Bl. 4–6; McKale, Swastika, S. 157f.; Vortrag Greifelt (Januar 1939), abgedruckt in: Dietrich A. Loeber, Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939–1941, Neumünster 1972, S. 4–7. Himmler hatte die Disposition zu Greifelts Vortrag am 23.1.1939 mit der Randbemerkung »gut« versehen. 36 Latour, Südtirol, S. 33. Die Entscheidung stand im Zusammenhang mit dem am 22.5.1939 in Berlin unterzeichneten deutsch-italienischen ›Stahlpakt‹.

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ein Memorandum, das die von Hitler geforderte »endgültige« und »radikale« Lösung im Sinne einer zukünftigen Totalaussiedlung aller 250.000 Südtiroler interpretierte und konkrete Umsetzungsschritte skizzierte. Die endgültige Festlegung der Grenze dürfe nicht den Verzicht auf »wertvolles Blut« bedeuten. Stattdessen müsse Deutschland »irgendwo auf seinem Machtgebiet, zum Beispiel im Osten, Raum für 200.000 Menschen in Städten und Dörfern« schaffen. Das Ansiedlungsgebiet sei »möglichst in einem rein fremdstämmigen Gebiet zu wählen und von allen Bewohnern« zu räumen.37 Mit Himmlers Überlegungen zur Lösung des Südtirolproblems waren bereits im Mai 1939 die zentralen Bestandteile der späteren SS-Siedlungspolitik benannt: Vertreibung der autochthonen Bevölkerung und Ansiedlung von »hochwertigem Menschenmaterial« an ihrer Stelle. Die von Himmler zur Lösung des Südtirolproblems skizzierten Methoden besaßen für seine spätere Politik als RKF Modellcharakter. Spätestens mit dem Überfall auf Polen kam es zu einer Siedlungseuphorie und zu einer regelrechten Inflation in der Benennung möglicher Siedlungsräume. Ging es zunächst noch um die »Aufsiedlung der polnischen Westprovinzen« und die Schaffung einer »Wehrgrenze«, führte der Feldzug gegen die Sowjetunion dann zum megalomanen ›Generalplan Ost‹, der die völlige ›Umvolkung‹ des Generalgouvernements und des ›Ostlandes‹ bis zur Krim vorsah – was die Ausweisung von über 30 Millionen ›Fremdvölkischen‹ bedeutet hätte.38 Das unlösbare Problem aller Siedlungs- und ›Germanisierungs‹-planungen, die das angebliche Lebensraumdefizit des deutschen Volkes beseitigen sollten, bestand jedoch ausgerechnet im fehlenden Siedlerpotenzial. Mit den Gebietsgewinnen ab September 1939 wuchs das Angebot von Siedlungsräumen, in denen die »gutrassigen, sehr bewußt deutschen und kämpferischen Volkselemente«39 aus Südtirol dringend benötigt wurden. So erklärt sich, dass diese zwar nacheinander für TirolVorarlberg, Mähren, die Beskiden, Burgund und schließlich die Krim vorgesehen wurden, tatsächlich aber in ihrer großen Mehrheit bis zum Ende des Nationalsozialismus in ihrer alten Heimat verblieben.40

|| 37 Himmler-Memorandum, zit. nach Latour, Südtirol, S. 34f. 38 Vgl. Hans Mommsen, Umvolkungspläne des Nationalsozialismus und der Holocaust, in: Helge Grabitz u.a. (Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektive der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994, S. 68–84, hier S. 70 u. 77; Müller, Ostkrieg, S. 11–23, 83–104; Heiber, Generalplan Ost, S. 281–325; Karl-Heinz Roth, ›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse, in: Rössler/Schleiermacher (Hg.), ›Generalplan Ost‹, S. 25–117. 39 Himmler-Memorandum, zit. nach Latour, Südtirol, 34f. 40 Spätestens seit Herbst 1939 hatte sich ein reger Wettbewerb um die »rassisch hochwertigen« Südtiroler entwickelt. Der Tiroler Gauleiter Franz Hofer forderte eine bestimmte Zahl Bauern für seinen Gau, Himmler sah deren Zukunft als Wehrbauern »im Osten« (vgl. Koehl, RKFDV, S. 4–6), die Gauleitungen von Steiermark und Kärnten interessierten sich für die Südtiroler, weil mit diesen

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3 Von der Umsiedlung zur ›Festigung deutschen Volkstums‹ Alle im engeren Sinne siedlungspolitischen Ansätze der Zwischenkriegszeit waren von einem Bedarf für Siedlungsvorhaben ausgegangen. Dieser ergab sich für die entsprechenden Vorhaben der Weimarer Zeit aus der realen ökonomischen Krise (Erwerbslosigkeit, Krise der ostelbischen Landwirtschaft) oder aus dem behaupteten gesellschaftspolitischen Problem einer ›Entwurzelung‹ weiter Teile der deutschen Stadtbevölkerung. Da bereits die Grundannahmen dieser traditionellen Siedlungspolitik falsch oder lediglich ideologisch fundiert waren, blieben alle Ansätze einer Krisenbewältigung durch Siedlung erfolglos. Das Millionenheer der Erwerbslosen konnte nicht aufs Land gebracht werden. Die ökonomische Krise der ostelbischen Landwirtschaft wurde auch durch die Millionenmittel der ›Osthilfe‹ nicht gelöst, da ihre strukturellen Ursachen (unzeitgemäße Strukturen, fehlende Modernisierung) unangetastet blieben.41 Doch das Scheitern in der Realität tat der Faszination des Themas ›Siedlung‹ keinen Abbruch. Ihr waren nicht allein die Anhänger einer Blutund Bodenideologie verfallen, sie fesselte nicht nur Agrarromantiker und Jünger einer ›Zurück-zur-Natur-Philosophie‹. Auch für die beiden großen Kirchen war ›Siedlung‹ das »Rettungswort«.42 Es bedurfte allerdings erst der von Himmler forcierten Umsiedlung der Südtiroler und der im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes vereinbarten Umsiedlungen von ›Volksdeutschen‹ aus Ostpolen, dem Baltikum und Südosteuropa, um einen realen Siedlungsbedarf zu erzeugen. Am Vorabend des Krieges gegen die Sowjetunion stand durch die außenpolitisch motivierte Abkehr von der traditionellen ›Volkstumsarbeit‹ ein Siedlerreservoir von etwa 500.000 Menschen zur Verfügung, das die siedlungspolitischen Zukunftsvisionen Himmlers beflügelte. Die Notwendigkeit, innerhalb kurzer Zeit neue Siedlungsgebiete für die nun heimatlosen ›Volksdeut-

|| die antislowenische Boden- und Siedlungspolitik in Südkärnten und der Südsteiermark intensiviert werden sollte (vgl. Steurer, Südtirol, S. 375–377). 41 Zu den diversen erfolglosen siedlungspolitischen Aktivitäten vgl. die Beiträge von Harold Poor, Gerald D. Feldman, Dieter Geßner und Tilman P. Koops in Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, 2 Bde., Düsseldorf 1977. 42 Vgl. Tillmann Bendikowski, ›Lebensraum für Volk und Kirche‹. Kirchliche Ostsiedlung in der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹, Stuttgart 2001; ders., ›Siedlung heißt das Rettungswort!‹ – Bischof Maximilian Kaller und sein Engagement für die Ostsiedlung 1928–1941, in: Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde Ermlands, 51. 2005, S. 73–95.

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schen‹ finden zu müssen, korrespondierte in idealer Weise mit dem Traum vom wieder aufgenommenen »Germanenzug [...] nach dem Land im Osten.«43 Allerdings unterschied sich die in der Folgezeit von Himmler in seiner Eigenschaft als RKF unter Einsatz der ›volkdeutschen Umsiedler‹ verantwortete Siedlungspolitik fundamental von den siedlungspolitischen Ansätzen der Zwischenkriegszeit. Das galt nicht so sehr in Bezug auf ihren ideologischen Überbau, der altbekannten antiurbanen Stoßrichtung, die in bäuerlicher Siedlung das Heilmittel für angebliche degenerative Erscheinungen am deutschen ›Volkskörper‹ sah – wohl aber in ihrer Umsetzung. Denn alle siedlungspolitischen Maßnahmen des RKF waren in ihrem Kern Umsiedlungen von ländlichen, bäuerlichen Bevölkerungsgruppen. ›Volksdeutsche‹ Bauern aus Südtirol, Wolhynien, Galizien, der Dobrudscha sollten polnische, später ukrainische und russische Bauern ersetzten. Städtische Bevölkerung, die ja ursprünglich im Fokus der Siedlungsbewegung stand, sollte ausdrücklich nicht ›umgeschult‹, Umsiedler mit städtischer Herkunft wie die Baltendeutschen sollten ausdrücklich wieder in Städten (Danzig, Posen, ›Litzmannstadt‹) angesiedelt werden. Siedlungspolitik des RKF war in der Praxis nicht die in der Zwischenkriegszeit angestrebte Gewinnung von Neubauern, sondern der Austausch landwirtschaftlicher und schließlich auch städtischer Bevölkerungsgruppen nach ethnischen Gesichtspunkten. Jenseits dieser tatsächlichen Politik wurde allerdings an den alten Träumen, die Deutschen wieder zu einem Volk von Bauern zu machen, festgehalten. Nach dem Sieg im Osten sollte aus den Erbteilungsgebieten des Westens, aber vor allem aus dem Millionenheer der Soldaten ein neuer ›Siedlerstand‹ gewonnen werden. Aus ganz Europa sollten siedlungsinteressierte Angehörige ›germanischer Völker‹ als Kolonisatoren in den Osten strömen.44 Man kann diese Visionen getrost in das Reich bloßer Wunschträume verweisen. Mit den auf dem Papier addierten potentiellen Siedlern wurde aber, ähnlich wie mit den realen Umsiedlern, die Dynamik von Vertreibung und Massenmord verstärkt und exterminatorisches Handeln als Vorarbeit zukünftiger Siedlungspolitik begründet. Auf der Ebene praktischer Umsiedlungspolitik stellten die Umsiedlungsvereinbarungen im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes Deutschland im September 1939 zunächst vor die Aufgabe, innerhalb kürzester Zeit weit über 100.000 Menschen ›heim

|| 43 »Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten.« Adolf Hitler, Mein Kampf, 35. Aufl. München 1933, S. 742. 44 Alexander Dolezalek (Siedlungswissenschaftliches Referat beim HSSPF Warthe) an Emil Keuchenius, betr. »holländische und flämische Menschen für den Osten«, 16.1.1941, BArch B, R 49/3066, Bl. 12–14; Dr. Heinz Kloss (Leiter der Publikationsstelle Stuttgart-Hamburg/DAI), Denkschrift über die Zusammenfassung eines Teils der deutschamerikanischen Kriegsgefangenen in einem eigenen Lager, o.D. [1943], Bundesarchiv Koblenz (BArch K), R 57/189, Bl. 1045–1050.

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ins Reich‹ zu holen.45 Deutsche Minderheiten aus dem östlichen Polen, aus dem Baltikum und aus den von Rumänien an die Sowjetunion abgetretenen Gebieten sollten den Grundstock für eine ›Germanisierung‹ der neuen Ostgebiete bilden. Da Himmler ohnehin bereits mit der Abwicklung der Südtirolumsiedlung befasst war, lag es nahe, ihn auch in dieser Lage einzubeziehen. Ein bereits unterschriftsreifer, aber aufgrund des Überfalls auf Polen nicht mehr in Kraft gesetzter ›Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Aufnahme der Reichs- und Volksdeutschen aus Südtirol in das Gebiet des Deutschen Reiches‹46 ermächtigte den RFSS, sich zur Durchführung seiner Aufgabe der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften zu bedienen. Die Mittel zur Durchführung sollte der Reichsfinanzminister zur Verfügung stellen.47 Der Erlass diente als eine der Vorlagen für die Ernennung Himmlers zum RKF. In der Reichskanzlei beließ man es jedoch nicht bei einem bloßen Austausch des Wortes ›Südtirol‹ im Erlassentwurf. In den Schubladen lagen neben dem Südtirolerlass der bereits erwähnte ›Entwurf eines Erlasses über die Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen‹ vom Oktober 193848 und ein ›Erlaß des Führers und Reichskanzlers an die Obersten Reichsbehörden über die Festigung der östlichen Grenzgebiete vom 1. Februar 1939‹.49 Angesichts der anstehenden Umsiedlungen griff die Reichskanzlei auch auf diese beiden Vorlagen zurück und kombinierte sie mit dem Südtirolerlass zum RKF-Erlass vom 7. Oktober 1939. Dieser beauftragte den RFSS mit der Umsiedlung von ›Volksdeutschen‹ in die »neuen deutschen Ostgebiete« und mit der dortigen »Festigung deutschen Volkstums«.50 Hinter dem von der NS-Propaganda sogleich zur »gewaltigste[n] staatsgelenkte[n] Völkerwanderung aller Zeiten« verklärten Projekt verschwanden die überaus unpopulären Umsiedlungen der Südtiroler und Baltendeutschen aus der öffentlichen Wahrnehmung.51

|| 45 Als Folge des Hitler-Stalin-Paktes gerieten u.a. die deutschen Minderheiten im Baltikum und in Ostpolen in den Machtbereich der Sowjetunion. Vereinbarungen zu deren Umsiedlung wurden in einem der geheimen Zusatzprotokolle des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28.09.1939 fixiert. Weitere Umsiedlungsvereinbarungen wurden mit den noch nicht von der Sowjetunion besetzten baltischen Staaten und dem zu Gebietsabtretungen gezwungenen Rumänien getroffen. Leniger, Volkstumsarbeit, S. 52–60. Die deutsch-sowjetischen Vertrags- und Protokolltexte sind gut greifbar in: Erwin Oberländer (Hg.), Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Mitteleuropas?, Frankfurt a.M. 1989, S. 125–137. 46 BArch B, R 43 II/1412, Bl. 19–21. 47 Ebd., Bl. 5. 48 BArch B, R 43 II/124a, Bl. 6f. (vgl. Anm. 27). 49 Ebd., Bl. 198–200. Letzterer stand in der Tradition der erfolglosen ›Osthilfe‹-Bemühungen der Weimarer Zeit. 50 IMT, Bd. 26, S. 255f. (vgl. Anm. 4). 51 Zitat aus einer Rede Greifelts vom 13.12.1939 (Aktennotiz, wahrscheinlich von Dr. Könekamp, DAI, 13.12.1939, BArch K, R 57/748); Vertraulicher Vermerk Dr. Kruse, 15.12.1939, DAI-Aussenstelle

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Der RKF sollte sich bei seiner Arbeit der Hilfe bereits bestehender Einrichtungen bedienen. Seine Zuständigkeit wurde nicht auf die annektierten polnischen Gebiete beschränkt, sondern erstreckte sich auf den gesamten deutschen Machtbereich.52 Obgleich der Erlass die Errichtung eines ›Reichskommissariats‹ beziehungsweise einer eigenständigen Dienststelle gar nicht erwähnte, ging Himmler sofort daran, einen RKF-Apparat aufzubauen. Dabei nutzte er die bereits im Juni 1939 zur Koordinierung der Südtirolumsiedlung eingerichtete ›Leitstelle für Ein- und Rückwanderung‹ als Keimzelle. Ihr Leiter Greifelt wurde von Himmler zum Chef der neuen RKF-Dienststelle berufen. Mitte Oktober 1939 erfolgte die Umbenennung des Führungsstabes in ›Dienststelle des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums‹. Mitte Juni 1941 wurde sie »den Hauptämtern der Reichsführung SS gleichgestellt«. Seitdem hieß Greifelts Dienststelle ›Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums – Stabshauptamt (StHA)‹.53 Die Vollmachten des RKF reichten über die bloße Umsiedlung ›Volksdeutscher‹ weit hinaus. Mit der Ermächtigung zur »Ausschaltung schädlicher Einflüsse« erhielt Himmler einen Blankoscheck für die Vertreibung der autochthonen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Der Erlass stellte dem RFSS insgesamt drei Aufgaben: »1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland, 2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten, 3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichsund Volksdeutschen.«54

Neben den Aufgaben regelte der Erlass auch die Finanzierung des RKF, indem er die zunächst für die Südtirolumsiedlung gedachte Anschubfinanzierung des Reichsfinanzministeriums (RFM) auf das neue, ungleich größere Projekt übertrug.55 Der RKF forderte danach beim RFM je nach Bedarf Mittel an, ohne dass ein ordnungsgemäßer Etat oder Verwendungsnachweise vorgelegt wurden.56 Aus den ursprünglich vorgesehenen zehn Millionen Reichsmark, die der RKF am 24. Oktober 1939 beim

|| Berlin, BArch K, R 57/1081. Die Einschränkung »staatsgelenkt« fiel im allgemeinen Gebrauch der Floskel gelegentlich weg und sie mutierte gar zur »gewaltigsten Völkerwanderung aller Zeiten« und »einer der genialsten Ideen unseres Führers.« SS-OStuF/DRK-Hauptführer Honisch, 15.3.1940, ›Großeinsatz Osten‹, Generalbericht der Sonderbereitschaft Honisch, BArch B, R 49/3055, Bl. 1–21, hier Bl. 21. 52 Vgl. Buchheim, Rechtsstellung, S. 239–279. 53 Zum Wachstum des RKF vgl. Organisations- und Geschäftsverteilungsplan des RKFStabshauptamtes, 1.8.1942, BArch B, R 49/1, Bl. 1–52, hier Bl. 46. 54 IMT, Bd. 26, S. 255 (vgl. Anm. 4). 55 Vgl. BArch B, R 43 II/1412, Bl. 5. 56 Vgl. ebd., Bl. 11–13, 45; RFM, Vermerk, 24.11.1941, BArch B, R 2/537, Bl. 35.

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RFM abgerufen hatte57, wurden im Verlauf des Rechnungsjahres 1939 bereits 50 Millionen Reichsmark.58 In den folgenden Monaten und Jahren erfolgten die Anforderungen oft im Wochenrhythmus. Für das Rechnungsjahr 1940 forderte der RKF 360,2 Millionen RM, für 1941 397,7 Millionen RM und für die drei ersten Quartale des Jahres 1942 115 Millionen RM an. Ein großer Teil der Mittel ging an die VoMi. Bis zum 30. April 1941 wurden ihr allein zur Finanzierung der Umsiedlerlager insgesamt 123.777.000 RM überwiesen.59 Angesichts dieser erheblichen Beträge verwundert es, dass die Frage der Finanzierung des RKF und der in seinem Auftrag agierenden Institutionen zu den bislang von der Forschung vernachlässigten Aspekten nationalsozialistischer ›Umvolkungsplanung‹ und ›Umvolkungspolitik‹ gehört. Der Kern der späteren ›Germanisierungspolitik‹ des RKF bestand in der Vertreibung der autochthonen Bevölkerung und in der Verteilung des dadurch ›freigemachten‹ Besitzes an ›volksdeutsche‹ Umsiedler, autochthone ›Volksdeutsche‹ und Zuwanderer aus dem Altreich. Dieses Verfahren hatte schon bei den damaligen Akteuren zu der irrigen Annahme geführt, die ›Germanisierung‹ der neuen deutschen Ostgebiete sei via Raub und Vertreibung und auf Kosten der Opfer für das Deutsche Reich zum ›Nulltarif‹ zu haben.60 Die Fehleinschätzung der Umsiedlungsplaner spiegelte sich im lässigen Finanzgebaren des RKF und erschwert heute eine exakte Bezifferung der für die Umsetzung der Pläne zur ›Germanisierung‹ eingesetzten Haushaltsmittel.61 Dem Tätigkeitsbericht des RKF-StHA von Ende 1942 über die bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Umsiedlungsmaßnahmen ist zu entnehmen, dass »für die Aufgaben des RKF [...] bisher rund 770 Millionen RM« verbraucht wurden. Weitere 225 Millionen RM seien für die »Herrichtung und Ausstattung der Siedlerhöfe in den eingegliederten Ostgebieten«

|| 57 Vgl. BArch B, R 2/552, Bl. 117: Aufstellung über die dem RKF zur Verfügung gestellten Mittel, o.D. [November 1942]. Für das Kalenderjahr 1939 werden Zahlungen von insgesamt 20 Millionen RM verzeichnet. Weitere, jeweils 10 Millionen RM umfassende Tranchen wurden am 9.1.1940, 26.2.1940 und 20.3.1940 angefordert. 58 Vgl. ›Reichshaushaltsmittel des RKF‹, Vermerk November 1942, BArch B, R 2/552, Bl. 59–61. 59 Vgl. ebd. Aus der Aufstellung geht hervor, dass der RKF bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 922,9 Millionen RM angefordert hatte, von denen allerdings lediglich 838.051.554,16 RM von der Reichshauptkasse verausgabt wurden. Der Vermerk betont, dass die Reichshauptkasse die verausgabten Beträge »nicht spezifizieren« könne. 60 Vgl. u.a. ›Generalplan Ost‹, 28.5.1942, Anlage 2: »Die für den Siedlungsaufbau erforderlichen Mittel sollen weitgehend aus der Wertmasse der Siedlungsgebiete selbst aufgebracht werden.« Müller, Ostkrieg, S. 186. 61 Vertreter der NSDAP, die sich im Frühjahr 1942 einen Überblick über die Finanzierung des RKF verschaffen wollten, erhielten vom RFM lediglich die Auskunft: »Ein Haushaltsplan bezw. Stellenplan besteht nicht. Die Haushaltsmittel werden zugewiesen aus dem außerordentlichen Haushalt Abschnitt XVII Teil V Unterabschnitt Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Es sind seit Mitte Oktober 1939 bis Ende April 1942 rund 800.000.000 RM bereitgestellt worden.« BArch B, R 2/31682, o.Bl.

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aufgebracht worden.62 Darüber hinaus müssen auch noch Personalkosten für RKFMitarbeiter aus dem Etat des Reichsinnenministeriums geflossen sein, da sie in dessen Haushalt beziehungsweise Stellenplan geführt wurden.63 Bis Ende 1942 wurden also etwa eine knappe Milliarde Reichsmark für die Umsiedlungsmaßnahmen des RKF aufgebracht. Auch wenn mit der Wende von Stalingrad das Siedlungswerk einen entscheidenden Rückschlag erfuhr, muss davon ausgegangen werden, dass zur Finanzierung der Lagerunterbringung ›volksdeutscher‹ Umsiedler durch die VoMi bis zum Ende des Krieges weiter in gleicher Weise regelmäßig Mittel abgerufen wurden. Auf der Basis der bis April 1941 recht exakt spezifizierten Zahlen für die Aufgaben der VoMi (123,7 Millionen RM in 19 Monaten64, das heißt im Durchschnitt 6,5 Millionen RM pro Monat) ist davon auszugehen, dass in den verbleibenden 56 Monaten bis April/Mai 1945 allein für die VoMi weitere 364,8 Millionen RM zu veranschlagen sind. Damit dürften bis zum Ende des Regimes geschätzt also mindestens 1,5 Milliarden RM für Aufgaben des RKF ausgegeben worden sein.

4 Elemente einer SS-Siedlungspolitik: Lager – Selektion – ›Arbeitseinsatz‹ Am 12. Juni 1942 kritisierte Himmler in einem Schreiben an den Chef des RKF-StHA Greifelt dessen Planungen zu einem ›Generalplan Ost‹: »In einem Punkt bin ich, glaube ich, falsch verstanden worden. In diesem Zwanzigjahresplan muß die totale Eindeutschung von Estland und Lettland sowie des gesamten Generalgouvernements mit enthalten sein. [...] Ich persönlich habe die Überzeugung, daß es zu schaffen ist. Der jetzige Vorschlag, das Generalgouvernement und das gesamte Ostland nur mit Stützpunkten zu versehen, entspricht meinen Gedanken und Wünschen nicht.«65

Der Graben zwischen den »Gedanken und Wünschen« Himmlers und den von ihm getadelten Planungen ergab sich aus dem limitierten Siedlerpotenzial einerseits und den nahezu unendlichen Räumen, die es zu besiedeln galt, andererseits. Während Himmler diese Diskrepanz nicht etwa durch ein Abrücken von den Endzielen, sondern lediglich durch eine Zwanzigjahresfrist, einen festen persönlichen Willen und Überzeugung zu überbrücken suchte, hatten sich die Siedlungsplaner angesichts || 62 RKF-StHA, Tätigkeitsbericht über die Umsiedlungsmaßnahmen (Ende 1942), in: Müller, Ostkrieg, S. 203f. 63 Vgl. Dr. Brack/Parteikanzlei an Steueramtmann Leschke/RFM, 8.5.1942, BArch B, R 2/31682, o.Bl.; Schreiben Steueramtmann Leschke an Dr. Brack, 13.5.1942, ebd. 64 Vgl. ›Reichshaushaltsmittel des RKF‹, Vermerk November 1942, BArch B, R 2/552, Bl. 59–61. 65 Himmler an Greifelt, 12.6.1942, in: Heiber, Generalplan, S. 325.

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des Menschenmangels auf die Errichtung von »Marken und Stützpunkten« eingestellt.66 Die unterschiedlichen Auffassungen über den richtigen Weg zum allgemein akzeptierten Endziel einer »totalen Eindeutschung« bis zum Ural, die schon zwischen Himmler und seiner Planungsabteilung bestanden, verstärkten sich, wenn es um konkrete Maßnahmen in den eingegliederten Ostgebieten ging. Mit Arthur Greiser, dem Gauleiter des Warthegaus, der ebenso wie Himmler das Endziel einer »totalen Eindeutschung« der neuen Ostgebiete anstrebte67, gab es grundsätzliche Differenzen über die notwendigen und möglichen siedlungspolitischen Maßnahmen in seinem Machtbereich. Ihm lag vor allem an einer möglichst reibungslosen, effizienten landwirtschaftlichen Produktion. Die Ersetzung erfahrener polnischer Landarbeitskräfte durch ›volksdeutsche‹ Umsiedler bedeutete in dieser Perspektive ebenso eine Gefährdung der Effizienz wie die vom RKF angestrebte Agrarstruktur. Ein »total eingedeutschter« Warthegau – für Himmler und den RKF ein möglichst schnell zu erreichendes Ziel – erschien Greiser allenfalls in »dreißig, vierzig Jahren« realisierbar.68 Frei schalten und walten konnte Himmler dagegen in den virtuellen, unendlichen Weiten zukünftig zu erobernden Landes im ›Osten‹ oder in jenem Zwischenreich, das zwar nach dem Überfall auf die Sowjetunion in deutscher Hand war, aus Gründen militärischer Notwendigkeit jedoch zunächst nicht in die eher hemmenden Verwaltungsstrukturen des Reichsgebietes eingebunden werden konnte. Hier kam es, sozusagen unter ›Biotopbedingungen‹, zu den beiden einzigen Fällen einer genuinen SS-Siedlungspolitik. Das ›Zamość-Projekt‹ im Distrikt Lublin und die Siedlungsaktivitäten im Generalbezirk Shitomir (›Hegewald‹) belegen zwar die enge Verzahnung von Vernichtungs- und Siedlungspolitik.69 Sind sie aber auch als Mo-

|| 66 Vgl. Aly, Vordenker, S. 401–404. 67 Vgl. Ian Kershaw, Arthur Greiser – Ein Motor der ›Endlösung‹, in: Smelser/Syring/Zitelmann (Hg.), Braune Elite II, S. 116–127. 68 SS-Ansiedlungsstab Posen, Planungsabteilung (Dolezalek), Vermerk, 12.2.1941, BArch B, R 49/3066, Bl. 43–47. Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Gesprächs, das Dolezalek mit Greiser und dessen persönlichem Referenten Oberregierungsrat Siegmund führte. Für die Planer des RKF gehörte der Warthegau und das gesamte annektierte Westpolen hingegen zu den »Siedlungsgebieten«, die möglichst schnell »germanisiert« werden sollten; vgl. Aly, Vordenker, S. 401. 69 Im Kreis Zamość (Distrikt Lublin/Generalgouvernement) erfolgte, nachdem bereits zuvor alle Juden entfernt und im Zuge der ›Aktion Reinhard‹ ermordet worden waren, von Ende 1942 bis Sommer 1943 die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung und die Ansiedlung von ›Deutschstämmigen‹ und ›Volksdeutschen‹; Heinemann, Rasse, S. 403–414. In ›Hegewald‹ (Reichskommissariat Ukraine) hatte Himmler während der Sommeroffensive 1942 sein Feldhauptquartier. Anfang September 1942 wies er den Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch an, die etwa 43.000 ›Volksdeutschen‹ im Generalkommissariat Shitomir »zur Sicherung der bandengefährdeten und wichtigen Orte Korosten, Hegewald und Eichenhain« in diesen Gebieten »geschlossen« anzusiedeln; Heinemann, Rasse, S. 453–464, hier S. 453.

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dellfälle für die Zukunft zu werten? Allenfalls, wenn man den brutalen Vernichtungswillen der Akteure und ihre skrupellosen Zukunftsvisionen als einzigen Maßstab nimmt und von den vollkommen anderen Rahmenbedingungen in den vor allem in den eingegliederten Ostgebieten liegenden Hauptsiedlungsräumen (Danzig-Westpreußen, Warthegau) absieht. ›Zamość‹ und ›Hegewald‹ sind eher als eine ›Flucht nach vorn‹ zu werten, mit der Himmler der deprimierenden Siedlungsrealität durch das Setzen kurzfristiger ›Erfolge‹ zu entkommen suchte. Gleichzeitig konnte eine Maßnahme zur Partisanenbekämpfung mit einem siedlungsideologischen Überbau versehen werden. In der Realität des siedlungspolitischen Alltagsgeschäfts führte der Weg der etwa 500.000 ›volksdeutschen‹ Umsiedler zunächst aber nicht in die neuen Ostgebiete, sondern in eigens errichtete Umsiedlerlager.70 Die Unterbringung der Umsiedler verursachte zunächst erhebliche Probleme, da der im Aufbau befindliche RKFApparat diese Aufgabe aus eigener Kraft nicht bewältigen konnte.71 Himmler war daher auf die Hilfe anderer Institutionen angewiesen.72 Allein die VoMi verfügte über brauchbare Erfahrungen in diesem Bereich. Die ihr unterstehende ›Beratungsstelle für Einwanderer‹ (BfE) betrieb seit 1934 an den damaligen Grenzen zu Österreich und Polen Lager, in denen ›volksdeutsche‹ Flüchtlinge aus diesen Ländern Unterkunft fanden.73 Am 27. Oktober 1939 wandte sich Himmler an die VoMi und erteilte ihr die Anordnung, neben der Aussiedlung der ›Volksdeutschen‹ die notwendigen Vorbereitungen für eine vorläufige Unterbringung der Umsiedler in Lagern zu treffen.74 Am 4. November 1939 ermächtigte Himmler die VoMi, sich unter Berufung auf den RKF-Erlass »der Mithilfe der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reiches, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften« zu bedienen. Gleichzeitig wurde die VoMi ermächtigt, geeignete Gebäude und Räume zu beschlagnahmen.75

|| 70 Vgl. Markus Leniger, ›Heim im Reich?‹ – Das Amt XI und die Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle 1939–1945, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 17. 2001, S. 81– 109; ders., Volkstumsarbeit, S. 91–147. 71 Vgl. die Zahlen zu den einzelnen Umsiedlungsgebieten im Jahresbericht des RKF 1942, ›Die Ostumsiedlung: Übersicht‹, BArch B, R 49/14, Bl. 9. 72 Vgl. Erlass des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums, 7.10.1939, in: IMT, Bd. 26, S. 256 (s. Anm. 4). 73 Vgl. Lorenz an Lammers, 10.6.1939, BArch B, R 43II/1409, Bl. 7; Behrends an Lammers, 1.8.1939, BArch B R 43II/1409, Bl. 17. Bis zum 26. Juli 1939 hatten 70.000 ›Flüchtlinge‹ die 16 Lager der BfE durchlaufen. Himmler war über diese Aktivitäten informiert. Als die Frage der Baltenumsiedlung auf der Tagesordnung stand, lag es nahe, sich der VoMi zu bedienen. 74 Vgl. die Zusammenfassung der Schreiben und Anordnungen des RKF betr. Beauftragung der VoMi in BArch B, R 57neu/126; RFSS/RKF, Anordnung 2/VI, 30.10.1939, in: Der Menscheneinsatz. Grundsätze, Anordnungen und Richtlinien, hg.v.d. HA I des RKF (Dezember 1940), Berlin 1940, S. 22. 75 BArch B, R 57neu/126.

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Damit erhielt die VoMi einen neuen Arbeitsschwerpunkt, der ihren Charakter in den folgenden Jahren von Grund auf veränderte. Lag die Hauptaufgabe zuvor in der Gleichschaltung, Lenkung und Instrumentalisierung ›volksdeutscher‹ Minderheiten im Ausland, also im Bereich traditioneller ›Volkstumsarbeit‹, so begann jetzt eine Entwicklung, die aus ihr eine Einrichtung für die Unterbringung und Betreuung der ›volksdeutschen‹ Umsiedler und einen der größten Lagerbetreiber des Deutschen Reiches machte.76 Gleichzeitig verlor sie jedoch ständig an politischem Gewicht, da ihre zentrale Stellung bei der Führung und Finanzierung der deutschen Minderheiten mit der fortschreitenden Umsiedlung zunehmend bedeutungslos wurde.77 Dem politischen Bedeutungsverlust stand eine Aufblähung der Institution gegenüber. Die VoMi verfügte schließlich über nicht weniger als elf Ämter, die alle nur denkbaren Aspekte der ›Volkstumsarbeit‹ bearbeiteten. Im Dienst des RKF stand, neben den Ämtern VI und VII, vor allem das Amt XI ›Umsiedlung‹. Ihm waren zum einen der ›Einsatzstab Litzmannstadt‹ unterstellt, zum anderen die Einsatzverwaltungen und Einsatzführungen in allen Gauen, in denen Umsiedlerlager errichtet wurden.78 Ehemalige Mitarbeiter der BfE bildeten den Kern der Führungsmannschaft des Amtes XI, das von den SS-Sturmbannführern Friedrich-Wilhelm Altena und Hans Hagen geleitet wurde.79

|| 76 Auf dem Höhepunkt der Umsiedlungen standen über 1.500 Lager unter dem Kommando der VoMi; vgl. Lumans, Auxiliaries, S. 186; Hellmut Sommer, Umsiedler – kämpfende Helfer bei der Neuordnung Europas, 19.12.1940, BArch K, R 57neu/10, o.Bl., darin wird die Anzahl der VoMi-Lager zu diesem Zeitpunkt mit über 1.375 angegeben, von denen etwa 800 voll belegt waren; vgl. Müller, Ostkrieg, S. 201. 77 Vgl. Organisationsplan des Hauptamtes VoMi (Stand: 15.6.1944), BArch B/Berlin Document Center (BDC) SS-HO 3508; Buchheim, Rechtsstellung, S. 247. Die endgültige Einbindung in den RKFArchipel erfolgte mit dem Erlass des RFSS/RKF, 9.9.1942, der zu einer Kompetenzabgrenzung zwischen RKF-StHA und VoMi führte. Sie war nun zuständig für ›Absiedlung‹, Transport und Versorgung der Umsiedler in den Lagern und die ›Führung‹ der außerhalb der Reichsgrenzen ansässigen deutschen Minderheiten; vgl. Buchheim, Rechtsstellung, S. 261. 78 Vgl. Lumans, Auxiliaries, S. 142–145. 79 Vgl. ebd., S. 60f. Hagen leitete die Abteilung Umsiedlung-Verwaltung (BArch B/BDC, SSO-Akte Hans Hagen u. SL 9, S. 43). Zu seinen Aufgaben gehörte die finanzielle Aufsicht über alle Außenstellen, die Besoldung des Lagerpersonals, die Beschaffung von beweglichem Inventar, Verpflegung und Bekleidung, der Abschluss von Pachtverträgen für Lagerobjekte, der Barackenbau und die Organisation von Instandsetzungsmaßnahmen. RKF/HA VoMi: Organisation und Geschäftsverteilungsplan, 15.6.1944, BArch B/BDC, SS-HO 3508, Bl. 30. Altena war Leiter der Abteilung Umsiedlung-Lagerführung. Zu seinen Aufgaben gehörte die Korrespondenz mit den Lagerführern, die Lagerinspektion, die Auswertung von Berichten, die Schulung und die Umsiedlerbetreuung. Seine Abteilung führte außerdem die zentrale Lagerstatistik und die Zentralkartei der Umsiedler und organisierte den Transport der Umsiedler und ihres Gepäcks innerhalb des Reiches; BArch B/BDC, RuSHA-Sippenakte und SSO-Akte Friedrich-Wilhelm Altena; vgl. auch ebd., SL 9, S. 2; SS-HO 3341, S. 4; SS-HO 4815, S. 28 und SS-HO 7139, S. 99.

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Die VoMi konnte anfangs die ihr gestellte Aufgabe der Schaffung von Lagerkapazitäten durch enge Kooperation mit den Gauleitungen erfüllen. Je länger die Umsiedler jedoch in den Lagern verblieben, desto größer wurden die Probleme mit deren Disziplinierung und Ruhigstellung. Hinzu kam, dass die längerfristige Lagerunterbringung enorme Kosten verursachte. Dieser Kostendruck führte rasch zur Einführung einer Arbeitspflicht. Durch Erwerbstätigkeit sollten die Umsiedler zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen.80 Dabei galt es, einen schwierigen Spagat zu bewältigen. Die bäuerlichen Umsiedler sollten auf keinen Fall ›Geschmack‹ an dem mehr oder weniger geregelten Arbeitsablauf eines Arbeiters bekommen, um nicht für die spätere Siedlungsaufgabe ›verdorben‹ zu werden. Der ›Arbeitseinsatz‹ hatte also bei zukünftigen Ostsiedlern lediglich ›vorläufig‹ zu sein. Derartige Einschränkungen galten für diejenigen Umsiedler, die auf ihre Ansiedlung im ›Altreich‹ warteten zwar nicht, doch standen für sie außerhalb der Lager oft keine Wohnungen zur Verfügung, was ihren Aktionsradius bei der Arbeitsaufnahme erheblich einschränkte. Zur Organisation des ›Arbeitseinsatzes‹ der nicht als zukünftige Ostsiedler Geeigneten errichtete der RKF den Ansiedlungsstab Altreich/Ostmark.81 Aufgrund der inneren Widersprüche der RKF-Umsiedlungspolitik konnte er seine eigentliche Aufgabe, die Reduzierung der Unterbringungskosten durch Entlastung der Lagerkapazitäten bei gleichzeitiger Ausnutzung der Umsiedlerarbeitskraft für die deutsche Wirtschaft, nicht erfüllen. Die Lager der VoMi blieben bis zum Kriegsende Sammelstellen für Menschen, die nicht angesiedelt werden sollten oder konnten. Für diese gab es zwar Arbeit, aber oft keine Unterkünfte außerhalb der Lager; ihr Status unterschied sich in einigen Betrieben nur graduell von jenem ziviler Zwangsarbeiter.82 Wie rücksichtslos der RKF auch gegen wertvolles ›Siedlermaterial‹ vorging und dieses, wenn es kriegswirtschaftlich geboten war, als industrielles Arbeitskräftepotenzial einsetzte, macht das Beispiel von Umsiedlern aus der Bukowina deutlich. Zunächst in VoMi-Umsiedlerlagern in Sachsen/Vogtland untergebracht, wurden alle arbeitsfähigen Männer ohne Ansehen ihrer beruflichen Vorbildung und Herkunft || 80 Vgl. ebd., S. 124–129. Die ›Arbeitspflicht‹ bedeutete, dass Arbeitsverweigerern die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager drohte. Die VoMi betrieb für die Umsiedler ein eigenes entsprechendes Lager in Brandenburg (›Rotes Luch‹). 81 Die Leitung übernahm SS-Obf. Kurt Hintze; vgl. RKF, Anordnung Nr. 26/I, 21.1.1941, BArch B, R 49/89, o.Bl. Zum Problem des ›Arbeitseinsatzes‹ der Umsiedler hatte kurz zuvor eine Besprechung Himmlers mit Greifelt, Lorenz und Oswald Pohl stattgefunden; vgl. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, hg.v. Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 104 (Eintrag 10.1.1941); vgl. auch die Vorgänge in BArch B, R 49/3127. 82 Vgl. VDA Gauverband München/Oberbayern, Bericht über Betreuungsarbeit [Ende 1941], BArch B, R 59/28, Bl. 44; Der Beauftragte für den Vierjahresplan, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz an Reichstreuhänder der Arbeit, 9.9.1942, BArch B, R 49/89, Bl. 55–55RS; VDA an Deutsche Arbeitsfront (DAF), Abt. Eisen und Metall, 5.1.1942, »Eindrücke Volksdeutscher im Arbeitslager für Ausländer der Dornier-Werke (R-Werk) in Oberpfaffenhofen«, BArch B, R 59/28, Bl. 111f.

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zur Arbeit im Wolfram-Erzbergbau verpflichtet. Nach zahlreichen Protesten wurde einigen Großbauern und sonstigen wohlhabenden Umsiedlern die Arbeit im Bergwerk erlassen. Die Mehrzahl blieb aber ungeachtet ihrer bäuerlichen Herkunft im Erzbergbau.83 Die Umsiedler in den Lagern waren aber nicht nur als potenzielle Arbeitskräfte interessant. Der Lageraufenthalt bot gleichzeitig auch die Chance für eine vereinheitlichende Umerziehung der heterogenen Umsiedlergruppen, vor allem aber für eine nach ›rassischen‹ und ›erbbiologischen‹ Kriterien erfolgende Selektion. Letztere teilte die Umsiedler ein in sogenannte ›O-Fälle‹, die für die Ansiedlung im Osten als geeignet erachtet wurden, sogenannte ›A-Fälle‹, die aufgrund mangelnder ›rassischer‹, ›erbbiologischer‹ und politischer ›Qualität‹ lediglich im ›Altreich‹ untergebracht werden sollten, und sogenannte ›S-Fälle‹, für die keine Aufnahme in die ›Volksgemeinschaft‹ vorgesehen war.84 Diese Selektion der Umsiedler lag nicht in den Händen der VoMi, sondern bei der ›Einwandererzentralstelle‹ (EWZ), einer Sonderbehörde, die der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (CdS), Reinhard Heydrich, im Auftrag des RKF errichtete.85 Die Federführung übernahm das Amt III ›Deutsche Lebensgebiete‹ des RSHA, das auch für die personelle Grundausstattung sorgte.86 Zum Leiter der EWZ wurde SS-Sturmbannführer Dr. jur. Martin Sandberger, zu seinem Stellvertreter SS-Sturmbannführer Karl Tschierschky bestimmt.87 || 83 RKF-StHA/Greifelt: Aufruf an alle Umsiedler, die zurzeit im Erzbergbau Sachsens oder des Sudetenlandes eingesetzt sind, 9.12.1941; RKF-StHA/Greifelt an VoMi/Gaueinsatzführung Sachsen, 8.12.1941; RKF-StHA/Greifelt an Gauleiter und Oberpräsidenten Oberschlesien/Beauftragten des RKF, 8.12.1941 (»Auf lange Sicht hat die Besiedlung im Osten mit deutschen Menschen den Vorrang, im Augenblick ist die Sicherstellung des einzigen deutschen Wolfram-Erzbergbetriebes das Vordringlichere.«); Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft an RKF-StHA, 13.3.1942, alle in BArch B, R 35/72, o.Bl. 84 Leniger, Volkstumsarbeit, S. 163–168. 85 »Die Aufnahme und Erfassung [der Umsiedler, M.L.] erfolgt durch die Einwandererzentralen in Gotenhafen und Posen mit den Nebenstellen in Swinemünde und Stettin, die dem Chef der Sicherheitspolizei unterstehen.« RFSS/RKF [Himmler], Anordnung 4/II, 3.11.1939, Menscheneinsatz, S. 14; vgl. auch RFSS/RKF [Himmler], Anordnung 2/VI, 30.10.1939, Menscheneinsatz, S. 22. 86 Vgl. EWZ-Organisationsabteilung Gotenhafen, Vermerk, 21.10.1939, BArch B, R 69/490, Bl. 5.; CdS/EWZ [Sandberger] Gotenhafen, Anordnung Nr. 12, 19.10.1939, BArch B, R 69/426, Bl. 153. 87 Vgl. Aktenvermerk, 11.10.1939, Betr.: Baltenaktion, Besprechung am 10.10.1939, BArch B, R 69/493, Bl. 4f. Sandberger war ein typischer Vertreter der von Ulrich Herbert und Michael Wildt untersuchten jungen RSHA-Experten. Er baute die EWZ von Oktober 1939 bis Anfang Juni 1941 auf. Danach wurde er Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) und Führer des Einsatzkommandos Ia in Estland und war maßgeblich an den dortigen Mordaktionen beteiligt. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1994 (1961), S. 301; Krausnick, Einsatzgruppen, S. 361; Ulrich Herbert, Best – Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, 3. Aufl. Bonn 1996, S. 456f.; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 170–173, 489. Mit Sandberger verließ auch dessen Stellvertreter Tschierschky die EWZ. Er war 1941/42 als Leiter des SD im Gruppenstab der Einsatzgruppe A aktiv an den Mordaktionen im Osten beteiligt,

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Die Kriterien der EWZ-Selektionsarbeit hatte Greifelt im Dezember 1939 im Rahmen eines Vortrags im ›Volksdeutschen Klub‹ vorgestellt. Die Besiedlung der neuen Ostgebiete »mit besten deutschen Menschen« sei »eine Verpflichtung und ein Recht«. Bei der Auswahl der Siedler seien »weltanschauliche, rassische und erbbiologische Gesichtspunkte« zu berücksichtigen.88 Bei den rassischen Kriterien stützte sich die EWZ auf die Methodik des RuSHA, die von vier unterschiedlichen ›Rassegruppen‹ ausging. Für den Osten sollten lediglich Umsiedler zugelassen werden, die von den Rasseprüfern in die Wertungsgruppen I und II eingestuft wurden. Angehörige der Gruppen III und IV kamen nur für eine Ansiedlung im ›Altreich‹ in Frage.89 Das Überprüfungsverfahren war integraler Bestandteil des »großen RKFProjektes«, das im Sinne einer umfassenden Sozialplanung auf die Errichtung einer ›rassisch‹ homogenen, perfekten Gesellschaft zielte.90 Der Öffentlichkeit gegenüber wurde jedoch der Eindruck vermittelt, es gehe um eine »vereinfachte, beschleunigte Einbürgerung« durch die räumliche Bündelung verschiedener Dienststellen und Behörden. Tatsächlich sollte diese Sprachregelung von den eigentlichen Intentionen und Methoden des Einbürgerungsverfahrens ablenken: der umfassenden ›Auslese‹ der Umsiedler nach ›rassischen‹, politischen, medizinischen und beruflichen Kriterien.91 Gleichzeitig bot die umfassende Selektion der Umsiedler eine willkommene Gelegenheit, im großen Maßstab Methoden zu erproben, die späterhin auf die Bevölkerung des ›Altreichs‹ anwendbar waren. Dies galt insbesondere für jene Bevölkerungsgruppen, die für eine Übersiedlung aus den angeblich zu dicht besiedelten Erbteilungsgebieten des Westens in den neuen deutschen Osten vorgesehen waren.92 Damit fügten sich die konkreten Umsiedlungsprojekte in einen größeren Kontext. Der Umsiedlung kam in den Augen der Experten für Siedlung und ›Volkstum‹ für eine Neuordnung der Bevölkerungs- und Agrarstrukturen des Deutschen Reiches die Funktion eines Präzedenzfalles zu. Daraus erklärt sich auch, warum die Zustän|| vgl. Wildt, Generation, S. 594; Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 44. 88 Dr. Eduard Kruse (DAI, Büro Berlin), vertrauliche Aktennotiz über Vortragsabend im Volksdeutschen Klub (13.12.1939), 15.12.1939, BArch K, R 57/1081, o.Bl. 89 Gradmann an DAI, 12.1.1940, BArch K, R 57/1081, o.Bl. Zu den ›rassischen‹ Kategorien und zur Bedeutung der RuSHA-›Rasseexperten‹ vgl. grundlegend Heinemann, Rasse. 90 Vgl. Wildt, Generation, S. 19f. Zum Zusammenspiel von Rassismus und ›Social Engineering‹ vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 81–87. 91 Vgl. Herbert, Best, S. 247f. 92 Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Kap. V. Die Realisierung des Utopischen – Rassenhygiene und Erbpflege im nationalsozialistischen Staat, S. 367–561; zu den Verkartungsplänen im Altreich vgl. Wolfram Pyta, ›Menschenökonomie‹. Das Ineinandergreifen von ländlicher und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: Historische Zeitschrift, 273. 2001, S. 31–94.

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digkeit für die EWZ innerhalb des RSHA nicht bei den dortigen Spezialisten für Sicherheitsfragen lag – was angesichts des ursprünglichen Auftrages einer Sicherheitsüberprüfung ›deutschstämmiger‹ Ausländer sinnvoll gewesen wäre. Doch stattdessen übernahm das für ›Volkstumsfragen‹ zuständige SD-Amt III den Aufbau der EWZ. Auf der Basis der SS-Rasse- und Siedlungsideologie begriff die EWZ-Führung die ihr zugefallene Rolle im Umsiedlungsprozess als Chance zur umfassenden Selektion der zukünftigen Ostsiedler. Das sogenannte ›Schleusungsverfahren‹ umfasste zwar auch eine Überprüfung der beruflichen Eignung und politischen Zuverlässigkeit, in den Vordergrund traten aber ›rassische‹ und erbbiologische Kriterien. Hinter der Fassade der EWZ-Gesundheitsstellen konkurrierten SS-Ärzte und Rasseprüfer des RuSHA um eine möglichst radikale Aussiebung von ›Erbkranken‹, ›Erbunterwertigen‹ und ›rassisch Minderwertigen‹. Während sich die Mediziner auf die Erkenntnisse der Eugenik und Rassenhygiene beriefen, arbeiteten die vom RuSHA delegierten ›Rasseprüfer‹ auf der Grundlage der SS-Rassenkunde. Hinter beiden pseudowissenschaftlichen Begründungsystemen stand jedoch nichts anderes als das Ressentiment gegen Abweichungen von einer willkürlich gesetzten Norm. Aus dem mit immer größerem Perfektionismus betriebenen Wahn, nur die ›rassisch Besten‹ in den Osten gelangen zu lassen, produzierte die EWZ ein Selektionssystem, das zwar an seinen inneren Aporien scheitern musste, das aber dennoch bis zum Untergang des ›Dritten Reiches‹ in autistischer, zunehmend absurder Selbstbezogenheit funktionierte und völlig willkürlich mit den von ihm verwalteten Menschen umging. Die EWZ war signifikant für die Irrationalität des gesamten RKF-Projektes: eine pervertierte, aus dem Ruder laufende Bürokratie, die sich, gestützt auf die rassistischen Zielvorgaben und Wertvorstellungen Himmlers, protegiert vom RSHA und befreit von allen üblichen Kontrollmechanismen staatlicher Finanzaufsicht, immer weiter von ihrem anfänglichen Auftrag entfernte und in immer groteskere Detaildiskussionen verstrickte.93

5 Ansiedlungspolitik des RKF Auf der Ebene realer Ansiedlungspolitik galt für den RKF in den eingegliederten Ostgebieten der Grundsatz, dass bis zu 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche mit bäuerlichen Umsiedlern besiedelt werden sollten, wobei die bereits altansässigen deutschen Bewohner mitzurechnen waren. Die restlichen 60 Prozent soll|| 93 Zu den Konflikten zwischen ›Rasseprüfern‹ und Ärzten vgl. Leniger, Volkstumsarbeit, S. 175– 213; vgl. Heinemann, Rasse, S. 195–201; zum Selektionsverfahren siehe auch Maria Fiebrandt, Auslese für die Siedlergesellschaft. Die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS-Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen 1939–1945, Göttingen 2014.

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ten zur »Herstellung eines gesunden Mischungsverhältnisses nach dem Kriege mit Bauern und Siedlungsbewerbern aus dem übrigen Reichsgebiet aufgefüllt werden.«94 Innerhalb dieser Vorgaben konnte die Vergrößerung der Höfe autochthoner deutscher Bauern, die Zusammenlegung von ›freien‹, ehemals polnischen Höfen und auch die Vergabe größerer Höfe an Umsiedler erfolgen.95 Zur Durchführung bediente sich der RKF auf der Ebene der Gaue und Kreise vorhandener Strukturen und Institutionen. In den Ansiedlungsgauen wurden die Gauleiter zu ›Beauftragten des RKF‹ und die Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) zu ›Stellvertretenden Beauftragten des RKF‹. In Danzig-Westpreußen galt hiervon abweichend – auf Grund der notorischen Konfliktlage zwischen Himmler und Gauleiter Albert Forster96 – die Regelung, dass der HSSPF selbst die Funktion eines ›Beauftragten‹ ausfüllte. Die Vorbereitung der Ansiedlung bestand zunächst in der Vertreibung beziehungsweise Deportation der ursprünglichen Bewohner. Zuständig hierfür war die ›Umwanderer Zentralstelle‹ (UWZ), die das RSHA in Analogie zur EWZ als Exekutive und im Auftrag des RKF errichtete. Deren Räumungskommandos trafen oft aber nur noch verlassenen Höfe an, da die Bewohner durch vorbereitende ›Erfassungsmaßnahmen‹ der Ansiedlungsstellen vorgewarnt waren und es vorzogen, unter Mitnahme der wichtigsten Habseligkeiten zu fliehen. Gelegentlich zündeten die Menschen auch ihren Besitz an, um ihn nicht den Besatzern in die Hände fallen zu lassen.97 Für die Abwicklung der Ansiedlung errichteten die RKF-Beauftragten sogenannte ›SS-(Kreis)Ansiedlungsstäbe‹, die ebenfalls über eigene Planungsabteilungen verfügten. Sie organisierten die Verteilung der Umsiedler auf die zuvor ›freigemachten‹ polnischen Höfe.98

|| 94 Dr. Ernst Fähndrich, Leiter der RKF-Hauptabteilung I ›Menscheneinsatz‹, Einleitung, in: Menscheneinsatz, S. V–VIII, hier VII. 95 Vgl. SS-Ansiedlungsstäbe Litzmannstadt und Posen, Abt. Planung, an die Führer der SSArbeitsstäbe im Warthegau, Grundbefehl Nr. 25, 29.1.1941, BArch B, R 49, 3064, Bl. 20–23; Allgemeine Anordnung 9/IV, 21.12.1940 und die entsprechenden Richtlinie des Gauleiters und Reichsstatthalters, 2.9.1940, BArch B, R 49/3064, Bl. 20. Die ›Notwendigkeit‹ für eine größere Hoffläche ergab sich zum Teil aus der unterschiedlichen Bodenqualität – die Umsiedler stammten aus Gebieten mit hochertragreichen Böden und wurden auf Höfen mit minderer Bodenqualität angesiedelt. 96 Vgl. Herbert S. Levine, Local Authority and the SS-State. The Conflict over Population Policy in Danzig-West Prussia 1939–1945, in: Central European History, 2. 1969, S. 331–355. 97 Vgl. DAI-Kommission, Bericht Dr. Quiring Nr. 9 (Geheim), 6 nummerierte Seiten, 19.4.1940, BArch K, R 57neu/15, o.Bl. Quiring berichtet, dass in einem Fall von den 102 zur Deportation bestimmten Familien lediglich zwei in ihren Häusern angetroffen wurden und dass »Sabotageakte« (Zerstörung von Gebäuden durch die geflohenen Besitzer) an der Tagesordnung seien. 98 Vgl. Verzeichnis der Ansiedlungsstäbe, 9.3.1942, BArch B, R 49/31, Bl. 30. Im März 1942 gab es folgende SS-Ansiedlungsstäbe: Ansiedlungsstab Nord beim HSSPF Südost, Kattowitz; Ansiedlungsstab Süd beim HSSPF Südost, Kattowitz; Ansiedlungsstab Posen beim HSSPF Warthe in Posen;

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Die Umsiedler, denen man zur Schonung ihrer »Psyche« den »Anblick der Evakuierungen [...] ersparte«99, wurden nach ihrer Abberufung aus den VoMi-Lagern und vor ihrer Ansiedlung zunächst in sogenannten Transportlagern gesammelt. Dort hängte man den Familienvätern Pappschilder mit den Nummern ihrer zukünftigen Höfe um den Hals. Studentische Hilfskräfte, die im Rahmen des ›Studentischen Einsatzes der Reichsstudentenführung‹ in die eingegliederten Gebiete kamen100, riefen dann die Hofnummern auf, und die Aufgerufenen begaben sich zu bereitstehenden ›Kraft durch Freude‹-Omnibussen. An Sammelpunkten erfolgte die Verteilung der Omnibusinsassen auf Pferdefuhrwerke, deren Fuhrleute, in der Regel dienstverpflichtete polnische Bauern, ebenfalls Schilder mit den jeweiligen Hofnummern um den Hals trugen. Dann erfolgte die Verteilung auf die zuvor ›freigemachten‹ Häuser beziehungsweise Höfe.101 Zuständig für diese letzte Phase des Ansiedlungsprozesses waren die ›SSArbeitsstäbe‹.102 Ihr Vorgehen regelten sogenannte Merkpunkte, die der HSSPF in enger Abstimmung mit entsprechenden Anordnungen und Erlassen des Gauleiters und Reichsstatthalters herausgab. Die Arbeitsstäbe bestanden aus etwa 25 Personen, die den Landräten als ›Träger‹ der Ansiedlungsaktion vom RKF-Beauftragten zur Verfügung gestellt wurden. Ihre Tätigkeit wurde von der lokalen Polizei und dem ›Volksdeutschen Selbstschutz‹ gesichert.103 Die Arbeitsstäbe regelten auch die erste Nachbetreuung der Ansiedler, auch hier unterstützt durch studentische Hilfskräfte.

|| Ansiedlungsstab Litzmannstadt beim HSSPF Warthe in Litzmannstadt; Ansiedlungsstab Danzig beim HSSPF Weichsel in Gotenhafen; Ansiedlungsstab Zichenau beim HSSPF Nordost in Zichenau. 99 Bericht Quiring, BArch K, R 57neu/15, o.Bl.; HSSPF/Beauftragter des RKF SS-Gruppenführer Koppe, Merkpunkte für die Arbeitsstäbe der Kreise in Bezug auf Vorbereitung und Ablauf der Ansiedlung von Wolhynien- und Galiziendeutschen, 2.3.1940, BArch B, R 138 I/64, Bl. 67. 100 Vgl. Anleitung für die Erstellung der Dorfskizzen während des Studenteneinsatzes, o.D. [1942], BArch B, R 49/3044, Bl. 31–35; Generalbericht vom studentischen Osteinsatz im Warthegau 1940– 1941, o.D., [1941], »Zusammenarbeit des stud. Siedlungs- und Facheinsatzes Ost mit Partei und Staat«, BArch B, R 49/3057, Bl. 273. Sie beteiligten sich im Rahmen des ›medizinischen Facheinsatzes‹, im ›Lehrereinsatz‹ oder im ›Baueinsatz‹. Auch bei der Vorerfassung der freizumachenden Höfe kamen sie zum Einsatz. Studentinnen arbeiteten vor allem in der Siedlerbetreuung und in der Einrichtung von Kindergärten. 101 Vgl. Bericht Quiring, BArch K, R 57neu/15, S. 3–6. 102 Vgl. Abt. I, Planung, SS-Ansiedlungsstab Litzmannstadt, Die Organisation eines SSArbeitsstabes für bäuerlichen Einsatz, 1.2.1942, BArch B, R 49/3067, Bl. 15–21. 103 Vgl. HSSPF/Beauftragter des RKF SS-Gruppenführer Koppe, Merkpunkte, 2.3.1940, BArch B, R 138 I/64, Bl. 63–69; Reichsstatthalter Greiser, Ansiedlung der Wolhynien und Galiziendeutschen, 1.3.1940, BArch B, R 138 I/64, Bl. 70–75. Zum ›Volksdeutschen Selbstschutz‹ siehe Christian Jansen/Arno Weckbecker, Der ›Volksdeutsche Selbstschutz‹ in Polen 1939/40, München 1992.

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6 Zusammenfassung und Schluss Zunächst bleibt festzuhalten, dass den Entscheidungen, deutsche Minderheiten umzusiedeln, ursprünglich keine genuin siedlungspolitischen Überlegungen, sondern außenpolitische Notwendigkeiten im Zuge der Kriegsvorbereitung zu Grunde lagen. Zum einen ist hier der Ausbau der ›Achse Berlin-Rom‹ zu nennen, für den die Festschreibung der Brennergrenze und der Verzicht auf eine weitere Unterstützung der Südtiroler beschlossen wurden. Zum anderen galt dies für die Vorbereitung des Überfalls auf Polen durch den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die deutschen Minderheiten Ostpolens, des Baltikums und ehemals rumänischer Gebiete in die sowjetische Interessensphäre gerieten. Hitler entschied sich ohne jede Rücksicht auf die Interessen der Minderheiten und gegen Traditionen der ›Volkstumsarbeit‹ für die Implementierung des Mittels der ›Bevölkerungsverschiebung‹. Er fand in Himmler und der SS willige Vollstrecker für diese ›Rückführung‹ deutscher Minderheiten. Damit war das Tabu der ›Volkstumspolitik‹ der Weimarer Jahre gebrochen, die im Kontext einer Reziprozität des Lebensrechts der Völker auf die Pflege und den Ausbau der Minderheiten gerichtet war, und das Tor zu einer rassistischen ›Volksbodenpolitik‹ geöffnet.104 Für den Bestand der deutschen Minderheiten Ostmitteleuropas erwies sich dieser Tabubruch als fatal und weit reichend. Denn nachdem die Machbarkeit der Umsiedlung deutscher Minderheiten einmal demonstriert war, stand nach der deutschen Niederlage den Siegern ein Modell zur Verfügung, mit dem sie die ständigen Konflikte zwischen Minderheit und Mehrheit endgültig und vergleichsweise human lösen konnten. Die ›ethnischen Flurbereinigungen‹ nach Kriegsende, die Entfernung der deutschen Bevölkerung aus Polen und der Tschechoslowakei, waren letztlich nur die Fortführung einer von Hitler und Himmler ausgelösten Westwanderung deutscher Minderheiten. Für die Umsiedler setzte sich jedenfalls nach der Ankunft im Reich der mit dem Heimatverlust begonnene Auflösungsprozess fort. Zwar konnte die VoMi zunächst erfolgreich die ihr gestellte Aufgabe der Beschaffung von Lagerkapazitäten für die Umsiedler erfüllen, doch diese für eine provisorische Unterbringung konzipierten Lager entpuppten sich für immer mehr Umsiedler als Dauerquartiere. Die längeren Aufenthaltszeiten führten zu höheren Kosten, vor allem aber zu erheblicher Unzufriedenheit unter den Lagerinsassen. Das ideale Mittel, um beide Probleme gleichzeitig in den Griff zu bekommen, schien die Einführung einer Arbeitspflicht zu sein. Doch da aus siedlungsideologischen Gründen eine Gewöhnung der Umsiedler an industrielle Arbeitsbedingungen verhindert werden sollte, galten für den Arbeits-

|| 104 Vgl. Hans Mommsen, Der faustische Pakt der Ostforschung, in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 265–273, hier S. 271f.

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einsatz kontraproduktiv wirkende Restriktionen wie die Verpflichtung, dass der Umsiedler im Fall seiner bevorstehenden Ansiedlung innerhalb von 24 Stunden freizugeben war.105 Gravierender als die langen Lageraufenthalte und die Probleme beim ›Arbeitseinsatz‹, zu denen auch regelmäßige Diskriminierungen durch die reichsdeutschen Kollegen gehörten, war für viele Umsiedler der umfassende Verfügungsanspruch des nationalsozialistischen Staates. Der Lageraufenthalt wurde seitens der VoMi ganz bewusst zur Bekämpfung religiöser und kultureller Traditionen der ›Volksgruppen‹ genutzt. Nach dem Verlust der geographischen Heimat durch die Umsiedlung ging es jetzt um die Ablösung von der als unzeitgemäß diffamierten geistigen Heimat.106 Hinsichtlich der Aussichten auf einen ›Erfolg‹ der nationalsozialistischen Planungen zur ›Germanisierung‹ ist die These aufgestellt worden, dass im Falle eines deutschen Sieges die »SS Heinrich Himmlers auch den Generalplan Ost – so utopisch er auch heute scheinen mag – in vollem Umfang realisiert hätte.«107 Wenn man sich für einen Moment auf diese Spekulation einlässt, so bleiben schon vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse über den RKF erhebliche Zweifel. Das stärkste Gegenargument liefern Tätigkeitsberichte des Stabshauptamtes, die über den Stand der Umsiedlungen berichten. Danach waren Ende 1942 von 629.000 Umsiedlern 445.000 (70,75 Prozent) angesiedelt und der Rest in Arbeit gebracht worden.108 Bei genauerer Betrachtung verschlechtert sich die Ansiedlungsbilanz von über 70 auf unter 60 Prozent, da auch 70.000 ›A-Fälle‹, das heißt Umsiedler, die auf Grund der EWZ-Auslese »aus volkspolitischen und gesundheitlichen Gründen zum Einsatz im Osten nicht geeignet« schienen und die daher als Arbeitskräfte im ›Altreich‹ Verwendung fanden, in der Statistik als ›Angesiedelte‹ aufgeführt wurden. In die angegliederten Ostgebiete gelangten lediglich 332.000, also etwas über 50 Prozent der Umsiedler.

|| 105 Vgl. Leniger, Volkstumsarbeit, S. 124–136. 106 Vgl. ebd., S. 137–146. Die Lebensbedingungen in den Umsiedlerlagern sind bislang noch kaum untersucht. Insbesondere fehlt es noch an Fallstudien, die sich differenziert mit der Situation in einzelnen Gauen und Lagern befassen. Einen wichtigen Beitrag in diese Richtung bietet Norbert Ellermann, Erfahrungen im Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle in Wewelsburg von 1943–1945, in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 296–313; siehe außerdem Martin Grasmannsdorf, Die Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle im Gau Württemberg-Hohenzollern 1940–1945. Eine Bestandsaufnahme, Bonn 2013. 107 Bruno Wasser, Die ›Germanisierung‹ im Distrikt Lublin als Generalprobe und erste Realisierungsphase des ›Generalplans Ost‹, in: Rössler/Schleiermacher (Hg.), Der ›Generalplan Ost‹, S. 271– 293. In die gleiche Richtung argumentiert Heinemann, Rasse. 108 Vgl. Tätigkeitsbericht RKF-StHA über die Umsiedlungsmaßnahmen (Stand Ende 1942), in: Müller, Ostkrieg, S. 200–204, hier S. 202. Vgl. auch die in die gleiche Richtung weisenden Zahlen im RKF-Jahresbericht 1942, BArch B, R 49/14, Bl. 9.

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Angesichts des immer wieder konstatierten gravierenden Siedlermangels109 wogen diese erheblichen Reduzierungen bei der einzig verfügbaren Siedlergruppe doppelt schwer. Vor dem Hintergrund der permanenten selektionsbedingten Verringerung des Siedlerpotenzials ist es mehr als unwahrscheinlich, dass ein deutscher ›Endsieg‹ auch zu einer ›erfolgreichen‹ ›Germanisierung‹ des Ostens geführt hätte. Denn nicht allein das Fehlen weiterer relevanter Siedlergruppen schmälerte die Aussichten auf einen ›total eingedeutschten‹ Osten. Gegen die Erreichung dieses von allen Seiten immer wieder wie ein Mantra aufgesagten Endziels sprachen auch die handfesten Notwendigkeiten einer Wirtschaftspolitik, die ohne die Beibehaltung bestehender landwirtschaftlicher Produktionsstrukturen mit einer großen Anzahl autochthoner ›fremdvölkischer‹ Landarbeitskräfte nicht realisierbar war. Hingegen scheint eine Realisierung der ›negativen‹, exterminatorischen Komponenten der Neuordnungsplanungen im Falle eines ›Endsieges‹ viel wahrscheinlicher. Angesichts der enormen Destruktivität, die bereits die ersten Planungen für die ›unerwünschten, überflüssigen‹ Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten, wäre mit einer Realisierung der Vernichtungskomponenten ›in vollem Umfang‹ durchaus zu rechnen gewesen. Insofern trifft auch für den Bereich der ›Festigung deutschen Volkstums‹ und der SS-Um-Siedlungspolitik die Feststellung Martin Broszats zu, wonach sich das ›Dritte Reich‹ durch die »Selektion der negativen Weltanschauungselemente« die »allein in die Praxis umgesetzt« wurden, auszeichnete. Dagegen blieben »die anderen Elemente weiter nur Gegenstand der Propaganda und Utopie.«110 Während die Ermordung der Juden jedoch in den Worten Himmlers »ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt«111 der SS-Geschichte bleiben sollte, wurde die deutsche Öffentlichkeit über die Umsiedlung und Betreuung der ›Volksdeutschen‹ in zahlreichen Artikeln, Büchern und Ausstellungen informiert.112 Jedoch hatte das hier gezeichnete Bild einer ›Heimkehr ins Reich‹ mit der

|| 109 Vgl. Heinemann, Rasse, S. 31. 110 Broszat, Staat, S. 436. 111 Himmler am 4.10.1943 in seiner Posener Rede vor den SS-Gruppenführern, in: IMT, Bd. 29, S. 145. 112 Vgl. u.a. Baltendeutsche Heimkehr, Löcknitz o.J.; Heinrich Bosse, Der Führer ruft, Berlin 1941; Otto Engelhardt-Kyffhäuser, Das Buch vom großen Treck, Berlin 1940; Hans Richter, Heimkehrer. Bildberichte von der Umsiedlung der Volksdeutschen aus Bessarabien, Rumänien, aus der SüdBukowina und aus Litauen, Berlin 1941; Alfred Thoss, Heimkehr der Volksdeutschen, Berlin 1942; Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet, Berlin 1941; Der Zug der Volksdeutschen aus Bessarabien und dem Nord-Buchenland, Berlin 1942. Eine Wanderausstellung mit Zeichnungen des Kunstmalers Otto Engelhardt-Kyffhäuser reiste durch Deutschland. Außerdem sollte im Auftrag Himmlers in Berlin die Ausstellung ›Die große Heimkehr‹ alle Aspekte der Umsiedlung darstellen. Das Projekt wurde aber aufgegeben, da man keine für die Öffentlichkeit geeignete Form der von Heydrich gewünschten Behandlung der Evakuierungsmaßnahmen finden

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von Lagerleben, Selektion, ›Arbeitseinsatz‹ und teilweiser Ansiedlung gekennzeichneten Realität nichts zu tun. Die ›SS-Siedlungspolitik‹ jedenfalls endete dort, wo sie begonnen hatte: in den Umsiedlerlagern der VoMi. Hier fanden sich an der Jahreswende 1944/45 viele der Umsiedler wieder, die 1939/40 den Grundstock für die ambitionierten Planungen zur ›Germanisierung‹ der SS gebildet hatten. Das Projekt der ›Festigung deutschen Volkstums‹ konnte seinen eigenen ›konstruktiven‹ Anspruch, die Schaffung eines deutschen Ostens bis zum Ural, schon aufgrund systemimmanenter Widersprüche und inhärenter Destruktivität nicht erreichen. Stattdessen trug es wesentlich zum Ende der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa bei.

|| konnte; RSHA III, Vorlage für Heydrich, 3.3.1941, Betr.: Ausstellung des RKF, BArch B, R 69/554, Bl. 69f.; EWZ an RSHA III (Ohlendorf), 19.3.1941, BArch B, R 69/1168, Bl. 70.

| Teil VI: Doppelte Staatlichkeit im Systemkonflikt des ›Kalten Krieges‹: wirtschaftliche Rekonstruktion, Sozialstaat und Migration 1945–1989

K. Erik Franzen

Migration als Kriegsfolge: Instrumente und Intentionen staatlicher Akteure nach 1945 Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich bedingungslos. Nacheinander wurden im französischen Reims und in Berlin-Karlshorst die entsprechenden Urkunden unterzeichnet. Der Zweite Weltkrieg hatte militärisch ein Ende gefunden1, nachdem Europa zu einem Schlachtfeld mit immensen Opfern geworden war: sechs Millionen ermordete Juden, fast 15 Millionen Tote unter der Zivilbevölkerung und knapp 20 Millionen getötete oder vermisste Soldaten. Doch das Ende der Kampfhandlungen bedeutete kein sofortiges Ende des Sterbens. Auch die massenhaften Zwangswanderungen des Krieges hörten nicht abrupt auf. Im Gegenteil. Die wohl größte ›Bevölkerungsverschiebung‹ der europäischen Geschichte nahm ihren Lauf: Mehr als 20 Millionen Menschen wurden bis Ende der 1940er Jahre in Bewegung gesetzt, hauptsächlich in Mittel- und Ostmitteleuropa.2 Deutschland bildete während des Krieges einen der am stärksten frequentierten europäischen Migrationsräume – und blieb dies auch in der frühen Nachkriegszeit. Mehr als die Hälfte dieser Nachkriegsentwurzelten bildeten deutsche Zwangswanderer, die sogenannten Umsiedler, Flüchtlinge und Vertriebenen. Dazu kamen weitere Kategorisierungen, in die staatliche Behörden Menschen verschiedener Herkunft und Staatsangehörigkeit fügten: ›Displaced Persons‹, ›Evakuierte‹ oder ›Kriegsgefangene‹. Die Besatzungsmächte und schließlich seit 1949 die Bundesrepublik Deutschland sowie die Deutsche Demokratische Republik standen vor einer riesigen Aufgabe. Wie in einem Laborexperiment mussten Lösungen gefunden werden, um die millionenstarken Migrationsströme zu lenken und die anschließenden Integrationsprozesse zu gestalten. || 1 Bernd-A. Rusinek (Hg.), Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004. 2 Eine Übersicht zwangsweiser räumlicher Bevölkerungsbewegungen und Verfolgungen bietet Michael Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013. Zu europäischen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes 1917–1947, New York 1948. Zu Flucht und Vertreibung im Kontext des Zweiten Weltkrieges Ray M. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung«. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl. München 2012; Philipp Ther/Ana Siljak (Hg.), Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe 1944–1948, Lanham 2001. Als einführende Überblicksdarstellungen des Zwangsmigrationsprozesses der Deutschen Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011; K. Erik Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München 2002.

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1 Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler Das mit den Begriffen ›Flucht und Vertreibung‹ umrissene Bedeutungsfeld ist mehrschichtig und komplex.3 Es umfasst geographisch verschiedene Räume und ist zeitlich durch die Überlappung mehrerer Phasen gekennzeichnet. Insgesamt werden unterschiedliche Bevölkerungsbewegungen mit der Chiffre ›Flucht und Vertreibung‹ markiert. An dieser Stelle ist mit der Verwendung des Begriffes zunächst pauschal die Zwangsmigration von mehr als zwölf Millionen deutscher Reichsbürger und Angehöriger deutscher Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa bis 1950 gemeint.4 Dem Beschluss der Potsdamer Konferenz in Artikel XIII folgend erarbeitete der Alliierte Kontrollrat einen im November 1945 veröffentlichten Plan betreffend die Zahl der zu überführenden Personen, den zeitlichen Ablauf und der Ziel- beziehungsweise Aufnahmegebiete.5 2,75 Millionen Deutsche aus Polen und der Tschechoslowakei sollte die Sowjetische Besatzungszone aufnehmen, 2,25 Millionen Deutsche aus Ungarn und der Tschechoslowakei sollten in die US-Zone, 1,5 Millionen Deutsche aus Polen in die Britische und 150.000 Reichsdeutsche aus Österreich in die Französische Besatzungszone überführt werden. Alle Besatzungsmächte verfolgten das Prinzip einer unmissverständlichen Assimilationspolitik. Trotzdem waren Konzepte und Pläne für die Aufnahme der Neuankömmlinge im Nachkriegsdeutschland schließlich vielgestaltig. Obgleich manche Ansätze sich ähnelten, wurde die Frage der Kontrolle und Verwaltung in den verschiedenen Besatzungszonen uneinheitlich beantwortet. Die Entstehung beider deutscher Staaten im Jahr 1949 ebnete und verfestigte schließlich den Weg zweier sehr unterschiedlicher Integrationspfade – mit einer erstaunlichen Parallele, auf die am Ende dieses Abschnitts eingegangen wird. Im Sommer und Herbst 1945, in der Phase der sogenannten ›wilden Vertreibung‹, ließen sich viele der Flüchtlinge und Vertriebenen dort nieder, von wo aus sie möglichst direkt wieder in ihre angestammten Gebiete zurückzukehren gedachten: in den östlichen Regionen Sachsens und Brandenburgs. Sie suchten zumeist ländliche Regionen auf, da die urbanen Räume aufgrund von starken Zerstörungen keine sinnvolle Zukunft versprachen. Dort trafen sie auf unterschiedlichste Reaktionen der lokalen Bevölkerung, nicht selten erwartete sie heftiger Widerstand der Alteingesessenen.6

|| 3 Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen, Kap. 2. 4 Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen, Teil I: Umsiedler, Verschleppte, Aussiedler 1940–1985, Bonn 1986, Tabellen 11 und 12. 5 Ernst Deuerlein (Hg.), Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der ›Großen Drei‹, München 1963. 6 Der Aspekt der ›kalten‹ Aufnahmegesellschaft wird stark betont von Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.

Migration als Kriegsfolge: Instrumente und Intentionen staatlicher Akteure nach 1945 | 723

Die mit der Aufnahme und Unterbringung der Zwangsmigranten beschäftigten Behörden der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und auch die von ihr beauftragten deutschen Stellen standen zunächst vor nahezu unlösbar erscheinenden Problemen. Laut Volkszählung mit 3,25 Millionen Umsiedlern – so die offizielle Benennung der Flüchtlinge und Vertriebenen – Mitte des Jahres 1950, hatten die Sowjetische Besatzungszone respektive die DDR verhältnismäßig mehr Ausgewiesene aufzunehmen als die westlichen Besatzungszonen und die spätere Bundesrepublik, in die bis Ende 1950 etwa 8 Millionen Neuankömmlinge geströmt waren.7 Prozentual gelangten die meisten Umsiedler nach Mecklenburg-Vorpommern (44,3 Prozent Vertriebenenanteil an der Gesamtbevölkerung), die wenigsten nach Sachsen (17,2 Prozent). Die Militäradministration besaß zunächst kein Konzept zur Lösung des Problems der zuwandernden Flüchtlinge und Vertriebenen, die wie im Westen, überwiegend in kleineren Gemeinden untergebracht waren: Fast die Hälfte aller Neuhinzugekommenen lebte 1949 in Gemeinden unter 2.000 Einwohnern.8 Ebenso wie in den westlichen Zonen wurden Sonderbehörden geschaffen, die für Aufnahme, Versorgung, Unterbringung und Ansiedlung der Umsiedler zuständig waren. Als erste Maßnahme wurde der Versuch unternommen, die ›wilden Binnenwanderungen‹ innerhalb SBZ zu unterbinden, was in entsprechende Anweisungen an Landratsämter und Bürgermeister Ausdruck fand. Es galt, die noch weitgehend unkontrollierten Bewegungen der Flüchtlinge zu erfassen und letztlich zu verhindern – womit die als erstes eingerichteten ›Umsiedler‹-Ämter in den Ländern in der desolaten Nachkriegssituation jedoch völlig überfordert waren. Die sowjetische Besatzungsmacht überwachte und lenkte bis 1949 die deutsche Umsiedler-Verwaltung. Die Vertriebenenpolitik der Sowjetischen Militäradministration und der Militäradministrationen in den Ländern zeigte sich aber als durchaus heterogen und auch zufällig. Auf Druck verschiedener Stellen und auf Befehl der SMAD wurde am 15. September 1945 die ›Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler‹ (ZVU) eingerichtet, die zuvor als ›Zentralverwaltung für Flüchtlingswesen und Heimkehrer‹ gegründet worden war. Aus Flüchtlingen und Heimkehrern konstruierten die Machthaber sprachpolitisch ›Umsiedler‹ – eine Bezeichnung, welche die historischen Vorgänge implizit rechtfertigte. Die als temporäre, zentrale Einrichtung installierte Verwaltungseinheit geriet schnell in einen Konflikt mit den Umsiedler-Ämtern in den Ländern.9 Die || 7 Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen, Tabellen 11 und 12. 8 Michael Schwartz, Vertriebene und ›Umsiedlerpolitik‹. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR1945–1961, München 2004. 9 Arnd Bauerkämper, Verwaltung und Gesellschaft. Ambivalenzen des Verhältnisses am Beispiel der ›Umsiedler‹-Behörden in der SBZ/DDR 1945–1952, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 227– 251; Michael Schwartz, Zwischen Zusammenbruch und Stalinisierung. Zur Ortsbestimmung der

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regionalen Verwaltungen widersetzten sich schließlich erfolgreich dem Versuch, von der zentral agierenden ZVU lediglich als Abteilungen der Zentralverwaltung ohne ausreichende Handlungsspielräume degradiert zu werden. Im Februar 1946 erhielten die Länder die Zuständigkeit für die Unterbringung der Neuankömmlinge, während die ZVU als oberstes und zentrales Kontrollorgan des Integrationsprozesses fungierte – ohne eine Zentralisierung von Kompetenzen zu erreichen.10 Letztlich resultierten aus dem Dualismus zwischen der ZVU und den regionalen Ämtern und mit ihren erheblichen Handlungsspielräumen nachhaltige Kompetenzkonflikte. Eine Anordnung des Zentralsekretariats auf Liquidierung der ZVU vom April 1948 wurde noch im selben Monat korrigiert: die ZVU wurde nun als ›Abteilung Bevölkerungspolitik‹ in die Verwaltung des Innern im April 1948 überführt. Die Auflösung der Sonderverwaltung bis 1950 durch die Eingliederung der Umsiedlerabteilungen in den Ländern war auch eine Reaktion auf die Politik der westlichen Besatzungsmächte, die die dort ebenfalls existierenden Sonderbehörden für Flüchtlinge und Vertriebene bis 1948 liquidiert hatten. Allerdings sorgten auch funktionale Defizite für die Abschaffung der Sonderverwaltung: Die Umsiedler-Administration konnte in der frühen Nachkriegszeit die notwendigen Steuerungsleistungen nicht erbringen. Die grundsätzliche Prämisse einer radikalen ›Einschmelzung‹ der Flüchtlinge und Vertriebenen in der SBZ und in der DDR war unzweideutig.11 Vorrang besaß zum einen das außenpolitisch motivierte Primat der Unmöglichkeit der Rückkehr der Flüchtlinge. Im Juni 1950 erkannte die DDR die Oder-Neiße-Linie im Görlitzer Abkommen (›Deklaration über die Markierung der deutsch-polnischen Staatsgrenze‹) als deutsch-polnischen Grenzverlauf an. Nach innen gerichtet war zum anderen das Ziel der Gleichberechtigung der neuen Bürger, denen Eingliederungshilfen das Einleben erleichtern sollten. Unter den Umständen des Prinzips einer egalitären sozialistischen Gesellschaft konnte ein umfassender Ausgleich zwischen ihren neuen und alten Teilen nicht vollzogen werden. So konnten sich beispielsweise in der Praxis die UmsiedlerAusschüsse, die schon im September 1945 auf Anordnung der ZVU gegründet worden waren, oft nicht gegen die Gemeinden und Kreise durchsetzen, die in erster Linie die Alteingesessenen bei der Wohnraumversorgung und bei der Vergabe von

|| Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) im politisch-administrativen System der SBZ, in: Hartmut Mehringer (Hg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995, S. 43–96; Dieter Marc Schneider, Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, in: Martin Broszat/Hermann Weber (Hg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949, 2. Aufl. München 1993, S. 239–243. 10 Schwartz, Vertriebene und ›Umsiedlerpolitik‹. 11 Paul Merker, Die nächsten Schritte bei der Lösung des Umsiedler-Problems, Berlin 1947.

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Boden bevorzugten. Die Wohnraumpolitik konnte jedoch auch Erfolge vorweisen: 80 Prozent der Neusiedler wurden bis 1947 aus den Lagern herausgebracht und in Wohnungen eingewiesen – zumindest als Untermieter. Als wichtigstes Mittel zur Eingliederung der Umsiedler und zugleich als integraler Bestandteil des sozialistischen Vergesellschaftungsprozesses war die Bodenreform gedacht: Aus Umsiedlern sollten sogenannte ›Neubauern‹ werden. So erhielten 91.000 Menschen einen Teil des zuvor enteigneten Großgrundbesitzes zur landwirtschaftlichen Nutzung zugewiesen – ein Projekt, das rückblickend als gescheitert anzusehen ist: Nur 15 Prozent aller Flüchtlingsneubauern hatten bis 1948 eine ökonomisch gefestigte Existenz aufbauen können, die allermeisten Umsiedler verließen die Landwirtschaft wieder.12 Nichtsdestotrotz entwickelte auch die DDR eine als soziale Nothilfe-Politik zu bezeichnende Umsiedlerpolitik. Laut SMAD-Befehl Nr. 304 wurde von 1946 bis zu ihrer Beendigung 1949 eine einmalige finanzielle Unterstützung an alte und nicht erwerbsfähige Vertriebene gezahlt. Fast 2 Millionen Umsiedler erhielten eine Pauschale von 300 Reichsmark pro Erwachsenem beziehungsweise von 100 Reichsmark pro Kind. Ende der 1940er Jahre scheiterte der Versuch, die Förderpolitik zugunsten der ›Neubürger‹ einzustellen, da der Unmut unter den Vertriebenen in der sowjetisch besetzten Zone anhielt. Das Umsiedlergesetz aus dem Jahr 1950 (›Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik‹) entstand auch als Reaktion auf das westdeutsche Soforthilfegesetz. Unterstützung erfuhren vertriebene Landwirte, Handwerker, Schüler und Auszubildende, zudem enthielt das Umsiedlergesetz ein Kreditprogramm für den Erwerb dringend benötigten Hausrats. Bereits Ende der 1940er Jahre hatte die Verteilungspolitik eine Veränderung erfahren. War bis dato im Wesentlichen allein die Wohnraumsituation für die Unterbringung der Flüchtlinge ausschlaggebend, ging es nun im Zuge des Wiederaufbaus der Schwerindustrie darum, Arbeitskräfte in die geplanten Industriezonen zu lenken – eine Wanderung in urbane Ballungsräume setzte ein. Eine neue Möglichkeit der Teilhabe und Eingliederung tat sich in der Folge der staatlich geförderten industriellen Produktion auf. Die Anziehungskraft gerade der Großprojekte, in deren Folge ganze Städte neu entstanden beziehungsweise ihr Antlitz durch eine schiere Bevölkerungsexplosion veränderten wie in Hoyerswerda, wirkte sich auf alle Einwohner der DDR aus: Einheimische wie Umsiedler sahen eine neue Chance gekommen, sich beruflich und sozial im Hier und Jetzt einzurichten. Insofern kann man von einer stillen, lautlosen, auch verschwiegenen Eingliederung durch Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit sprechen.

|| 12 Jens Schöne, Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR, Leipzig 2008.

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Im Laufe der Jahre 1952/53 hatte die SED ihre bis dahin gezielt sozialpolitisch motivierte Umsiedler-Politik eingestellt und die endgültige Lösung des Problems proklamiert. Sie setzte darauf, allen DDR-Bürgern unter den Bedingungen eines sozialistischen Gesellschaftsmodells eine neue Heimat bieten zu können. Herkunft spielte keine Rolle mehr. Das hatte zur Folge, dass Institutionen von ›Neubürgern‹, denen keinerlei Sonderinteressen zugebilligt wurden, verboten waren. Eine großzügige Entschädigungs- respektive Lastenausgleichsregelung wie im Westen Deutschlands der 1950er Jahre fehlte. Letztlich wurde nicht anerkannt, dass die Umsiedler im Vergleich zu den Einheimischen durch den Heimat- und Besitzverlust eine zusätzliche Last zu tragen hatten. Auch Gelegenheiten, zumindest ein heimatorientiertes kulturelles Vereinsleben aufzubauen, wurden ihnen nicht eingeräumt. Ein weiterer Preis, den die Vertriebenen in der DDR zu zahlen hatten, war die mehr oder weniger ausgeprägte Aufgabe ihrer Herkunftsgeschichte, die nur in privaten Zirkeln weitererzählt werden konnte. So ist es wohl zu erklären, dass bis zum Bau der Mauer 1961 rund 900.000 Umsiedler in die Bundesrepublik Deutschland weiterwanderten, womit ihr Anteil an den sogenannten 2,7 Millionen ›Republikflüchtlingen‹ deutlich über dem Anteil an der Gesamtbevölkerung der DDR lag – und als Indiz für eine von vielen empfundene, unzufriedenstellende Integrationspolitik gewertet werden kann.13 Es ist nicht verkehrt, in Bezug auf die frühe Nachkriegszeit in allen Besatzungszonen vom Prinzip einer »verordneten Assimilation«14 zu sprechen. Mit Ge- und Verboten unterfütterten die Besatzungsmächte den gewünschten Prozess der ›Einschmelzung‹. Hier stellt sich die Frage, ob die Steuerungsorganisationen die Aufnahme und Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen auch in der Praxis annähernd gleich handhabten. Zunächst wurden auch in den westlichen Zonen Sonderbehörden geschaffen, die für die Erstaufnahme, Verteilung und Versorgung der Neuankömmlinge zu sorgen hatten – dabei aber Anordnungen der Besatzungsmächte befolgen mussten: »Make the Germans do it«15 lautete der Slogan in der USBesatzungszone.16 Die Vorgaben für die Verwaltung bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterschieden sich in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone

|| 13 Schwartz, Vertriebene und ›Umsiedlerpolitik‹; Volker Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961, Osnabrück 1995. 14 Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen, S. 105. 15 Sylvia Schraut, Make the Germans do it. Die Flüchtlingsaufnahme in der Amerikanischen Besatzungszone, in: dies./Thomas Grosser (Hg.), Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Mannheim 1996, S. 119–140. 16 Zur US-amerikanischen Besatzungspolitik ausführlich Thomas Grosser, Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Württemberg-Baden nach dem Zweiten Weltkrieg. Bd. 1: Besatzungspolitische, administrative und rechtliche Rahmenbedingungen 1945–1949, Mannheim 1998; ders., Das Assimilationskonzept der amerikanischen Flüchtlingspolitik in der US-Zone, in: Christiane Grosser u.a. (Hg.), Flüchtlingsfrage – das Zeitproblem, Mannheim 1993, S. 11–54.

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kaum: An vorderster Stelle stand die wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung der Zwangsmigranten mit der einheimischen Bevölkerung.17 Angestrebt wurde ein lautloses Aufgehen der Hinzugekommenen mit den Alteingesessenen.18 Das Gesetz Nr. 303 über die Aufnahme und Eingliederung deutscher Flüchtlinge (Flüchtlingsgesetz) vom 14. Februar 1947 sorgte in allen westlichen Besatzungszonen für die rechtliche Gleichstellung mit den Einheimischen.19 Die Bildung respektive Etablierung eigener ›Flüchtlingsparteien‹ beziehungsweise politischer Gruppierungen der neuen Mitbürger wurde hingegen verboten, da die Bildung eines Sonderbewusstseins unter den Vertriebenen verhindert werden sollte. Dieses sogenannte Koalitionsverbot wurde jedoch 1948 aufgehoben. Trotz dieser mehr oder weniger einheitlichen Vorgaben hatten sich in den verschiedenen Besatzungszonen unterschiedliche Vorgehensweisen der installierten Flüchtlingsverwaltungen entwickelt.20 Die französische Besatzungsmacht reagierte zunächst am restriktivsten respektive am langsamsten auf das Flüchtlingsproblem in Deutschland – im Vergleich zu Bayern und Hessen wurde zeitverzögert im November 1945 ein Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen eingerichtet, erst im September 1946 wurden ›Richtlinien‹ zur Betreuung der Flüchtlinge erlassen.21 Der || 17 Ulrike Haerendel, Die Politik der ›Eingliederung‹ in den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland. Das Flüchtlingsproblem zwischen Grundsatzentscheidungen und Verwaltungspraxis, in: Dierk Hoffmann/Marita Krauss/Michael Schwartz (Hg.), Vertriebene in Deutschland. Bilanz der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im deutsch-deutschen und interdisziplinären Vergleich, München 2000, S. 109–133. 18 Die Assimilationsvorgabe der westlichen Alliierten diskutieren Grosser, Das Assimilationskonzept; Joseph Foschepoth, Potsdam und danach. Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen – Ereignisse – Folgen, Frankfurt a.M. 1985, S. 70–90; Falk Wiesemann/Uwe Kleinert, Flüchtlinge und wirtschaftlicher Wiederaufbau in der britischen Besatzungszone, in: Dietmar Petzina/Walter Euchner (Hg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet 1945–1949, Düsseldorf 1984, S. 297–326. 19 Beispielsweise in Württemberg-Baden: Regierungsblatt für Württemberg-Baden 1947, S. 15. 20 Zur Flüchtlingsverwaltung Franz Bauer, Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945– 1949, München 1982; Klaus Dieter Wolff, »Zwischen Elend, Politik und allen Stühlen«. Die bayerische Flüchtlingsverwaltung in der Nachkriegszeit (1945–1962), in: Rudolf Endres (Hg.), Bayerns vierter Stamm. Die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945, Köln 1998, S. 5– 20; Schraut, Flüchtlingsaufnahme in Baden-Württemberg 1945–1949; Rolf Messerschmidt, Aufnahme und Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in Hessen 1945–1950. Zur Geschichte der hessischen Flüchtlingsverwaltung, Wiesbaden 1994; Rolf Messerschmidt, Die Flüchtlingsfrage als Verwaltungsproblem im Nachkriegsdeutschland. Das Phänomen der klientenorientierten Flüchtlingssonderverwaltungen in Ost und West, in: Hoffmann/Krauss/Schwartz (Hg.), Vertriebene in Deutschland, S. 167–186. 21 Zur Entwicklung in der französischen Besatzungszone Michael Sommer, Flüchtlinge und Vertriebene in Rheinland-Pfalz. Aufnahme, Unterbringung und Eingliederung, Mainz 1990; Andrea Kühne, Entstehung, Aufbau und Funktion der Flüchtlingsverwaltung in Württemberg-Hohenzollern 1945–1952. Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld deutscher und französischer Interessen, Sigmaringen 1999.

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Dringlichkeit des Zuwanderungsproblems begegnete die US-amerikanische Besatzungsmacht, indem sie bereits kurz nach der Einrichtung deutscher Länderregierungen im Oktober 1945 den Länderrat schuf, der unter Aufsicht der Besatzungsmacht eine einheitliche Gesetzgebung in der US-Zone auf den Weg bringen sollte – was allerdings wie oben ausgeführt seine Zeit brauchen sollte: Im Februar 1947 wurde das für alle Länder gültige Flüchtlingsgesetz verabschiedet. Bayern – und das ist ein Beleg für den auch innerhalb einer Zone durchaus unterschiedlichen Umgang mit dem Flüchtlingsproblem – hatte allerdings schon im Dezember 1945 ein auf schnelle Hilfe abzielendes Flüchtlingsnotgesetz in Kraft gesetzt. Die regionalen Verteilungsmechanismen waren unterschiedlich: die mächtige kommissarische Flüchtlingsverwaltung in Bayern konnte gezielt lenken und den Zustrom der Zuwanderer relativ gleichmäßig auf die bayerischen Regionen verteilen. Lenkung und räumliche Bindung der Flüchtlinge hatte jedoch zur Folge, dass es zu Startnachteilen für viele Flüchtlinge und Vertriebenen kam, während die in der Praxis ausgeübte Freizügigkeit in der britischen Zone die Selbsthilfe der Neuhinzugekommenen förderte. In der britischen Besatzungszone wollte man den deutschen Behörden dabei nicht sofort das Heft des Handelns in der so wichtigen Fragen der Flüchtlinge und Vertriebenen übergeben. Bis 1948 wurde das Flüchtlingswesen als eigene Kernaufgabe angesehen, auch wenn die Länder ab April 1947 Gesetze verabschieden konnten, welche die Flüchtlingsbetreuung betrafen.22 Blickt man auf die vielfältigen Ausprägungen der unterschiedlich angelegten Flüchtlingsverwaltungen in der frühen Nachkriegszeit, wird deutlich, dass von einer einheitlichen geformten Strategie zur Bewältigung der enormen bevölkerungspolitischen Herausforderung nicht die Rede sein konnte, weder in den einzelnen Besatzungszonen, noch auf dem Gebiet der westlichen Besatzungsmächte insgesamt: So existierten beispielsweise ein Staatskommissariat beziehungsweise ein Staatssekretariat beim Innenministerium (in Bayern und Württemberg-Baden), ein Landesamt für Flüchtlingswesen beim Arbeitsministerium in Hessen und beim Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen und ein Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten in Schleswig-Holstein. Nicht vergessen werden darf zudem, dass es – beispielsweise in Bayern – »Gegensätze zwischen der Landesflüchtlingsverwaltung, die die Wahrnehmung von Flüchtlingsinteressen übernommen hatte, und der Bayerischen Staatskanzlei, die als Hüterin des Landesinteresses und Gegnerin einer Überfremdung zu fungieren versuchte« gab.23 Die weitere Entwicklung der Flüchtlingsverwaltung belegt dabei

|| 22 Mathias Beer, Symbolische Politik? Entstehung, Aufgaben und Funktion des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, in: Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten, S. 295–322. 23 Edgar Pscheidt, Als Flüchtling in Bayern. Zwischen Integration, Auswanderung und Rückkehr, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 53. 1990, S. 103–131.

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die These von dem bewussten Versuch, den Flüchtlingen keinerlei grundlegende Bevorzugung gegenüber der eingesessenen Bevölkerung zukommen zu lassen und entsprach damit den integrationspolitischen Parametern der Besatzungsmächte. Die kommissarische Sonderverwaltung für die Flüchtlinge befand sich in einem Dauerkonflikt mit der allgemeinen Regelverwaltung, die stärker die Interessen der Einheimischen vertrat. Der Druck der Staatsregierungen zur Beschneidung von Sonderrechten der Flüchtlingsverwaltung stieg. Insgesamt lässt sich für die kommissarische Flüchtlingsverwaltung festhalten, dass es ihr nicht nur bei der wichtigen Frage der Unterbringung der Flüchtlinge nur selten gelungen ist, hier Chancengleichheit unter den Betroffenen herzustellen und Ungerechtigkeiten zu vermeiden: »Sie hat die wirtschaftliche und soziale Integration verzögert«.24 Die intensiven Auseinandersetzungen führten in der Folge zur Durchsetzung der schrittweisen Assimilierung der Flüchtlingsverwaltung mit der Regelverwaltung auf der eine Seite und der Versuch der Regelung der drängenden Probleme durch die Bildung von überzonalen respektive zentralen Einrichtungen auf der anderen Seite. Staatliche Umsiedlungsprogramme der 1950er Jahre, die auf Freiwilligkeit beruhten, sollten zur Entlastung der sogenannten Hauptflüchtlingsländer (Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen) führen. In der Praxis resultierte daraus die Umlenkung beziehungsweise Abwanderung von ungefähr 2 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in die Städte. Daneben existierten recht früh bereits Überlegungen zum Aufbau geschlossener Flüchtlingssiedlungen in suburbanen Räumen, was in Nordrhein-Westfalen und vor allem in Bayern, auf dem Gelände alter Militäranlagen, erfolgreich praktiziert wurde.25 Damit verbunden war das Konzept der Ansiedlung von Industriebetrieben an den Wohnsitz der Hinzugekommenen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde ›Flucht und Vertreibung‹ zum Inbegriff eines Deutschland widerfahrenden Unrechts, das wiedergutzumachen eine Maxime bundesdeutscher Politik bis zur deutschen Vereinigung 1990 war.26 Sie fand ihren Niederschlag auch in der juristischen Beschreibung der betroffenen Personengruppen in der BRD im sogenannten Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von 1953. Die Betroffenen wurden mit dem Gesetz der eingesessenen deutschen Bevölkerung gleichgestellt, verfügten aber gleichzeitig über einen Sonderstatus – eben als Vertriebene mit speziellen Rechten. Dieser Sonderstatus vereinigte in sich die Eingliederung in die Bundesrepublik und eine Option auf Rückkehr, die eines Tages erfolgen konnte. Zudem sollte der Vertriebenenstatus in Zeiten des Ost-West|| 24 Bernhard Parisius, Flüchtlingsverwaltung in der britischen und amerikanischen Besatzungszone, in: Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten, S. 253–268. 25 So Hannelore Oberpenning, Flüchtlingsverwaltung und -integration im kommunalen Raum – zum Konzept der Vertriebenen- und Flüchtlingssiedlungen in Deutschland, in: ebd., S. 269–293. 26 Den Erinnerungsort ›Flucht und Vertreibung‹ analysieren grundlegend Eva Hahn/Hans Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010.

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Konflikts sicherstellen, dass Flüchtlinge und Vertriebene über Generationen hinweg ein sichtbarer Ausdruck der offenen deutschen Frage blieben. Weiterhin bildete dieser Status die Voraussetzung, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse von Einheimischen und Neuhinzugekommenen anzugleichen. Die bisherigen, unterschiedlichen beziehungsweise parallel existierenden zonalen Ansätze zur Lösung der Flüchtlingsfrage mit verschiedenen Sonderverwaltungen sollten bundeseinheitlich geregelt werden – so der Tenor, der auch in der Ministerpräsidentenkonferenz vom 5. August 1949 hörbar geworden war. Auf Grundlage dreier Artikel des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Ziff. 6; Art. 116 Abs. 1; Art. 119) hatte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der nach langwierigen Beratungen und Veränderungen in verschiedenen Gremien schließlich im März 1953 vom Bundestag angenommen wurde: Am 5. Juni 1953 trat das ›Gesetz über die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen‹ – so der exakte Titel des BVFG – schließlich in Kraft. Dem Gesetz vorausgegangen waren staatliche Bemühungen um einen Lastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland.27 Die materiellen Lasten der Kriegsfolgegeschädigten, also der Opfer des Bombenkrieges, von Flucht und Vertreibung, aber auch die Lasten der Geschädigten der Währungsreform von 1948 sollten durch eine Umverteilung innerhalb der Gesamtgesellschaft ausgeglichen werden. In diesem Zusammenhang hatte bereits der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (der US-amerikanischen und britischen Besatzer) das ›Gesetz zur Milderung sozialer Notstände‹, das sogenannte Soforthilfegesetz (SHG), auf den Weg gebracht, das noch vor Gründung der Bundesrepublik im August 1949 in Kraft getreten war. Wie ähnliche Regelungen in der französischen Besatzungszone richtete sich hier das Interesse des Gesetzgebers auf die soziale Eingliederung beispielsweise durch Hausrats- und Unterhaltshilfen. Dem SHG folgte schließlich mit Wirkung vom 1. September 1952 das Lastenausgleichsgesetz (LAG). Praktisch wirksam wurden insbesondere weitere soziale Hilfen, nun zusätzlich in Form von Eingliederungsrespektive Aufbaukrediten und Entschädigungsrenten. Das Neue am Lastenausgleichsgesetz war der avisierte Ausgleich von Vermögensschäden. Im Verlauf der folgenden Jahre und Jahrzehnte wurden nicht nur ›Vertreibungs-‹, ›Währungs-‹ und ›Kriegssachschäden‹ ausgeglichen, sondern auch ›Zonenschäden‹ (Schäden auf dem Gebiet der DDR) sowie Vermögensschäden der Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler. Finanziert wurden diese Entschädigungen durch steuerliche Abga-

|| 27 Vgl. Paul Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, Aspekte und Probleme des Lastenausgleichs, Heidelberg 2004; Peter Paul Nahm, Lastenausgleich und Integration der Vertriebenen und Geflüchteten, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1975, S. 817–842; Karl Schaefer, Der Lastenausgleich, in: Marion Frantzioch/Odo Ratza/Günter Reichert (Hg.), Vierzig Jahre für Deutschland. Die Vertriebenen und Flüchtlinge. Ausstellungskatalog, Berlin 1989, S. 169–176.

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ben auf nicht-geschädigte Vermögen (verteilt über Jahrzehnte) sowie überwiegend aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Im Zentrum der öffentlichen Debatten stand die sogenannte ›Hauptentschädigung‹, also der Ausgleich für verlorenes Eigentum. Letztlich betrug dieser Anteil am gesamten Entschädigungsvolumen bis in die 1980er Jahre jedoch nicht mehr als 25 Prozent. Betrachtet man die Entschädigungen aufgrund des Lastenausgleichsgesetzes in der Rückschau, zeigt sich die Wirkung des Gesetzes in mehrfacher Hinsicht: Erstens bot es vielen Kriegsgeschädigten die Möglichkeit, ökonomische Starthilfen in Anspruch zu nehmen, auch wenn nicht von einer großen Umverteilung von Vermögenden und Nicht-Vermögenden gesprochen werden kann. Zweitens besaß das LAG eine psychologisch nicht zu unterschätzende Komponente: Gerade die Flüchtlinge und Vertriebenen erfuhren eine Anerkennung ihres Status durch den Staat als besondere deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges. In der Bundesrepublik Deutschland verbesserte die anhaltende Hochkonjunktur des ›Wirtschaftswunders‹ grundsätzlich die wirtschaftliche und soziale Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie der 2,7 Millionen Zuwanderer aus der DDR zwischen 1949 und 1961.28 Umgekehrt bildeten diese Gruppen ein qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, welches das ›Wirtschaftswunder‹ erst ermöglichte. Beobachtet werden konnte allerdings ein ›Unterschichtungsphänomen‹: Flüchtlinge und Vertriebene übernahmen zunächst vorwiegend im Vergleich zu ihrer Qualifikation niedrigere berufliche Positionen und verfügten demnach über geringere Einkünfte. Aufstiegsmöglichkeiten gab es für viele von ihnen vor allem in den 1960er Jahren mit der Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes und der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften, die ihrerseits dann die am wenigsten geschätzten Positionen am Arbeitsmarkt einnahmen.29 Zur Aufnahme und weiteren Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik gab es vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts keine realistische Handlungsalternative: Der Integrationsprozess von Einheimischen und Zugewanderten war zwar differenzierter und für die betroffenen Vertriebenen viel belastender als lange Zeit propagiert. Die letztlich gelungene Eingliederung, wie sie sich zum Beispiel durch häufige Heirat zwischen Einheimischen und Vertriebenen bemerkbar machte, vollzog sich dennoch unaufhaltsam. Im Unterschied zum Lastenausgleichsgesetz, das immer wieder überarbeitet und novelliert wurde, führte der Deutsche Bundestag bereits 1965 das Bundesentschädigungsgesetz aus dem Jahr 1956 (das allerdings rückwirkend ab 1953 in Kraft

|| 28 Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling. 29 Für Bayern siehe Johann Handl/Christa Herrmann, Sozialstrukturelle Aspekte der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in Bayern zwischen 1945 und 1971. Eine Sekundärauswertung der Mikrozensus-Zusatzerhebung von 1971, in: Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge. Forschungsstand 1995, München 1995, S. 35–47.

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war), das die Ansprüche der Verfolgten des nationalsozialistisches Regimes regelte, in ein ›Schlussgesetz‹ über. Rückschauend lasst sich zudem festhalten, dass die zügigen Entschädigungen der deutschen Opfer auf der einen Seite und die wesentlich zäheren Debatten um Entschädigungen der Opfer der Deutschen auf der anderen Seite nach Kriegsende das Bedürfnis innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft widerspiegelten, zunächst die eigenen Kriegsgeschädigten zu befriedigen und zu befrieden.

2 Displaced Persons »Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer«: So treffend bezeichnete Wolfgang Jacobmeyer 1985 die Nachkriegs-Entwicklung der Gruppe der sogenannten Displaced Persons oder kurz DPs.30 Ihre erste positivistische Definition erfolgte im November 1944 durch ein Memorandum der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces (SHAEF), nach der es sich dabei um Zivilpersonen handele, »die sich aus Kriegsfolgen außerhalb ihres Staates befinden; die zwar zurückkehren oder eine neue Heimat finden wollen, dieses aber ohne Hilfestellung nicht zu leisten vermögen«.31 Ausgegangen wurde also von dem Ziel, diesen unverschuldet in Not geratenen Personen eine Rückkehr in ihre alte Heimat zu ermöglichen oder ihnen bei der Suche nach einer neuen Heimat behilflich zu sein. Unterteilt wurden die Displaced Persons in verschiedene Kategorien. Sichtbar wird hier die Komplexität der selbst gestellten Aufgabe der westlichen Alliierten, die DPs nicht nur zu befreien, sondern zu ernähren und sie zurückzuführen. Es wurde unterschieden zwischen ›United Nations Displaced Persons‹, ›enemy DPs‹ (Deutsche, Österreicher und Japaner), ›ex-enemy DPs‹ (unter anderem Italiener, Finnen, Rumänen), sowjetischen DPs, aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen ehemals Verfolgten und zahlreichen weiteren Gruppierungen. Für viele dieser DPs bedeutete das Ende des NS-Regimes nicht automatisch ein Ende aller Schwierigkeiten.32 Die überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager bildeten den Großteil der circa 10–12 Millionen DPs. Sie stammten aus 20 Nationalitäten mit über 35 Sprachen.

|| 30 Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985; grundlegend auch Bernd Bonwetsch, Sowjetische Zwangsarbeiter vor und nach 1945, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 41. 1993, H. 4, S. 532– 546. 31 SHAEF, Administrative Memorandom No. 39, 18.11.1944. 32 Zu jüdischen DPs Susanna Dietrich/Julia Schulze-Wessel, Zwischen Selbstorganisation und Stigmatisierung: die Lebenswirklichkeit jüdischer Displaced Persons und die neue Gestalt des Antisemitismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart 1998.

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Gemäß alliierter Beschlüsse auf der Konferenz in Jalta sollten alle sowjetischen DPs unverzüglich in die UdSSR verbracht werden. Schätzungsweise handelte es sich um knapp acht bis neun Millionen Sowjetbürger, die sich gegen Kriegsende außerhalb ihrer Herkunftsregion befanden. Anfangs geschah die Repatriierung zum Teil auch gegen ihren Willen. Denn es war den Betroffenen bekannt, dass man schnell unter Kollaborationsverdacht geraten konnte und ins Straflager musste. Aber auch die nicht verurteilten Arbeitskräfte aus Deutschland wurden in der Sowjetunion sozial benachteiligt und besaßen geringere Leistungsansprüche als andere Sowjetbürger.33 Viele osteuropäische DPs, die aufgrund der veränderten Machtverhältnisse in Europa nicht zurückkehren wollten, wanderten aus – in der Regel nach Übersee. Nur wenige blieben in der Bundesrepublik. Zuständig für die Umsetzung der politischen Vorgaben war zunächst die ›United Nations Relief and Rehabilitation Administration‹ (UNRRA), schließlich ab 1947 die ›International Refugee Organization‹ (IRO). Die migrationspolitischen Vorgaben in den drei Westzonen blieben zunächst konstant. Dazu gehörte die temporäre Separierung der DPs von der deutschen Bevölkerung in Lagern bei gleichzeitiger materieller Sonderversorgung sowie die Rückführung der Zwangsmigranten in ihre Herkunfts- respektive Ausgangsländer.34 Ende 1945 gab es in den drei Westzonen noch 1,7 Millionen DPs. Als die Westalliierten 1950 die Verantwortung für diese Personengruppe an die Bundesregierung übergaben, dürften sich noch circa 150.000 Displaced Persons im Bundesgebiet aufgehalten haben, etwa ein Drittel von ihnen noch in Lagern lebend. Mit dem ›Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer‹ vom 25. April 1951 wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstatus für die DPs geschaffen, der sie in weiten rechtlichen Bereichen den Bundesbürgern anglich. Entschädigungsansprüche regelte das Gesetz allerdings nicht, sodass viele der ›Heimatlosen Ausländer‹ keine ›Wiedergutmachung‹ für das erhielten, was sie während der nationalsozialistischen Diktatur erlitten hatten. Eine Annäherung an die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen konnte so nicht erreicht werden: Die Regelungen des Lastenausgleichs waren ungleich großzügiger. Das Verhältnis der deutschen Bevölkerung im Integrationsprozess war in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Abwehrhaltungen, Vorurteilen, Verachtung, aber auch Neid geprägt – da sie beispielsweise die Möglichkeit zur Ausreise nach Übersee hatten, die Deutschen besaßen diese Möglichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht. Die diskriminierende nationalsozialistische Rede von den »Untermenschen aus dem

|| 33 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. 34 Ein Beispiel in der britischen Zone schildert Jan-Hinnerk Antons, Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone, Lagerleben zwischen nationaler Fixierung und pragmatischen Zukunftsentwürfen, Essen 2014.

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Osten« wirkte noch weiter. Die DPs wurden in der Öffentlichkeit als Besatzungsproblem angesehen, ihr Schicksal als Opfer der NS-Herrschaft wurde weithin verdrängt und verschwiegen. Die oben beschriebene Kategorisierung der extrem unterschiedlichen Herkunftsländer der DPs macht deutlich, dass ihre Existenz insgesamt quer zu allen Kriegs- und Nachkriegsfronten verlief. Die Displaced Persons waren für die Ordnungsregime der Nachkriegszeit lästige Überbleibsel des Kriegs, die repatriiert respektive wiederangesiedelt werden sollten – und wurden, wenngleich dieser Prozess ungleich langsamer vonstatten ging, als 1945 angestrebt.35

3 Evakuierte und Bombengeschädigte Seit dem Zweiten Weltkrieg wird die in großem Umfang praktizierte Fortschaffung von Mensch und Material aus von Bombardierungen oder Kampfhandlungen bedrohten Städten und Gegenden in sichere Gebiete als Evakuierung bezeichnet.36 Die Nationalsozialisten fügten dem Begriff Evakuierung eine weitere – im Zusammenhang mit der Verfolgung von Minderheiten verwendete – Bedeutungsebene hinzu: Evakuierung als Tarnbezeichnung für Deportation und Tötung. Die Bombardierung europäischer Großstädte während des Zweiten Weltkriegs führte zur erheblichen Einbeziehung der Zivilbevölkerung in das Kriegsgeschehen.37 Den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf Städte beispielsweise in Großbritannien, Polen und den Niederlanden folgten als Antwort der Alliierten groß angelegte Luftangriffe auf deutsche Städte mit Zehntausenden von Toten.38 Das führte schließlich zu einer der Massenwanderungen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Zahllose Menschen flohen aus den Städten, suchten Verwandte in weniger bedrohten Regionen auf, kehrten nach dem Ende der Angriffe wieder zurück – oder blieben in der Aufnahmeregion. Schätzungsweise bis zu 10 Millionen Erwachsene und Kinder

|| 35 Rebecca L. Boehling/Susanne Urban/René Bienert (Hg.), Freilegungen. Displaced Persons. Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang, Göttingen 2014. 36 Michael Krause, Evakuierung im Bombenkrieg. Staatliche Interventionen zur Steuerung der Flucht aus den deutschen Städten 1943–1963, in: Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten, S. 207–226. 37 Dokumente deutscher Kriegsschäden. Evakuierte, Flüchtlinge, Kriegsgeschädigte. Die geschichtliche und rechtliche Entwicklung, hg.v. Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 5 Bde. und 2 Beih., Bonn 1958–1964. 38 Hans Sperling, Deutsche Bevölkerungsbilanz des 2. Weltkriegs, in: Wirtschaft und Statistik, 1956, S. 493–500; Friedrich Kästner, Kriegsschäden, Trümmermengen, Wohnungsverluste, Grundsteuerausfall und Vermögenssteuerausfall, in: Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden, 37. 1949, S. 361–391.

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verließen in den Jahren zwischen 1943 und 1945 vorübergehend oder dauerhaft ihre Wohn- und Lebensorte. Zunächst waren die deutschen Stellen bemüht, durch den Neu- und Ausbau von Wohnungen und die Einrichtung von Massenunterkünften den Folgen der Bomberangriffe in Bezug auf die Unterbringung der Ausgebombten zu begegnen – nicht vergessen werden dürfen auch in diesem Zusammenhang die Deportationen der Juden, deren Wohneigentum nun anderen zugewiesen wurde. Auch Behelfsheime zur Linderung der Wohnungsnot in den Städten waren geplant, wurden jedoch nicht in den geplanten Dimensionen fertig gestellt. Das NS-Regime wollte die Heimat nicht durch Evakuierungen schwächen, so der Gedanke. Das Schicksal des Einzelnen interessierte die Machthaber nicht. Erst Mitte 1943 wurden Evakuierungen nicht mehr in Frage gestellt – unter dem Druck der alliierten ›Combined Bomber Offensive‹ seit dem Frühjahr. Die Evakuierung Erwachsener aus den Großstädten erfolgte nicht aus ideologischer Konsequenz, sondern war Teil des Überlebenskampfes der Nationalsozialisten. Auch ein neuer Name wurde gefunden: Aus Bedrohung ausdrückenden ›Evakuierungen‹ wurden seit Sommer 1943 neutrale ›Umquartierungen‹. Dieser Steuerungsmaßnahme, deren Grundlage ein Erlass des Reichsinnenministers vom 19. April 1943 war, folgte ein chaotisches Hin und Her widersprüchlicher Verwaltungsakte. Die Planer und Entscheider liefen der Kriegsentwicklung hinterher, auch wenn die im Reichsumquartierungsplan vom Frühjahr 1944 abzulesenden Daten von zu erwartenden fast 12 Millionen Evakuierten gegen Kriegsende der Wirklichkeit recht nahe kam. Die ›Umquartierten‹ trafen am Aufnahmeort nicht selten auf zahlreiche Schwierigkeiten: Lebensmittelunterversorgung, unzureichende Unterbringung, Probleme im Umgang mit den Ortsansässigen. Einem Runderlass des Reichsministeriums des Innern vom 1. November 1940 zufolge wurden konkrete Regelungen wirksam, die den Transport der Kinder, ihre propagandistische Schulung, ihre Verpflegung und darüber hinaus auch noch ihre Freizeitaktivitäten bestimmten.39 Dieser Ordnungsplan kann als Vorläufer der späteren Evakuierungen gelesen werden. Den kommenden, extrem dynamischen Kriegsereignissen konnte er nicht gerecht werden. Die ›Landverschickung der Großstadtjugend‹ besaß eine propagandistische Funktion für das nationalsozialistische Regime, da ihr eine erziehungspolitische Mission zugrunde lag: die ideologische Manipulation von Kindern und Jugendlichen. Die sogenannte ›erweiterte Kinderlandverschickung‹40 seit Oktober 1940 betraf Hunderttausende von Kindern – angenommen werden bis zu fünf Millionen von ihren Eltern getrennte, evakuierte Kinder die zum Teil in Kinderlandverschickungs-

|| 39 Krause, Evakuierung im Bombenkrieg, S. 210. 40 Gerhard Dabel (Hg.), KLV. Die erweiterte Kinderlandverschickung. KLV-Lager 1940–1945. Dokumentation im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft KLV e.V., Freiburg i.Br. 1981, S. 7.

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Lager verbracht wurden.41 Sie hatte ihren zahlenmäßigen Höhepunkt im Sommer 1941, nahm in den Folgejahren trotz zunehmender Luftangriffe allerdings ab.42 Die Verwaltung intensivierte ihre Ordnungsanstrengungen mit Erlassen und Verordnungen, doch mit der deutlich sichtbaren Entwicklung des Krieges und der sich abzeichnenden deutschen Niederlage kamen die Evakuierungen 1944 mehr oder weniger zum Stillstand. Die massenhafte Flucht der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten setzte ein, eine Entwicklung, die in der Folge die ca. 9 Millionen ›Umquartierten‹ nicht völlig in Vergessenheit, aber in den Hintergrund des kollektiven Gedächtnisses treten ließ – auch wegen der Evakuiertenpolitik im Nachkriegsdeutschland. Nach dem Ende des Krieges kehrte der Großteil der Evakuierten selbstständig in die jeweiligen Heimatgebiete zurück. Etwa zwei Drittel der Evakuierten war bis 1947 zurückgekehrt – einschließlich der von der Kinderlandverschickung betroffenen Personen. Ein Teil der Rückkehrwilligen wurde der Zuzug in die Städte von den Besatzungsmächten zumindest zeitweise verboten, andere fanden keine Wohnungen in den zerstörten Großregionen, in denen sie vor allem mit dem enormen Zustrom an Flüchtlingen und Vertriebenen konkurrierten. Das Kriegsende im Mai 1945 bedeutete mithin kein abruptes Ende des mehrgestaltigen Migrationsprozesses der Evakuierten. Mehr noch: neue Evakuierungen erfolgten, unter anderem deshalb, weil die Besatzungsmächte Raum für ihre Truppen und ihre Verwaltung benötigten. Weitere Gründe für neue respektive erneute Evakuierungen waren die zum Teil desaströsen Wohnverhältnisse in einsturzgefährdeten Häusern sowie die vielerorts völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen. Bereits zurückgekehrte ehemalige ›Umquartierte‹ scheiterten beispielsweise daran, ihre während ihrer Abwesenheit zerstörten Wohnungen wieder in Stand zu setzen. Wie schon in den Jahren des ›Dritten Reiches‹ wurde daran gedacht, Frauen, Alte und Kinder, also mithin für den Wiederaufbau als ›unbrauchbar‹ eingeschätzte Personen, aus den Städten aufs Land zu verbringen. Doch auch in den ländlichen Regionen war die Situation schwierig. In Bayern beispielsweise konkurrierten Ende 1945, also vor dem Beginn der geregelten Vertreibung der Deutschen, circa 600.000 Evakuierte des ehemaligen ›Luftschutzkeller des Reiches‹43 mit bereits mehr als 700.000 Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Politik der Besatzungsmächte bestand in dem Versuch, die ländlichen Regionen zu entlasten. Ein organisierter Austausch zwischen den westlichen Zonen verlief weitgehend im Sande. Der angeordnete interzonale Austausch von Personen, die nach || 41 Michael Krause, Flucht vor dem Bombenkrieg. ›Umquartierungen‹ im Zweiten Weltkrieg und die Wiedereingliederung der Evakuierten in Deutschland 1943–1963, Düsseldorf 1997. 42 Gerhard Kock, »Der Führer sorgt für unsere Kinder...«. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997. 43 Katja Klee, Im »Luftschutzkeller des Reiches«. Evakuierte in Bayern 1939–1945: Politik, soziale Lage, Erfahrungen, München 1979.

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Kriegsbeginn evakuiert waren, kam zwischen den westlichen Zonen und der sowjetischen Besatzungszone im Laufe des Jahres 1946 zum Erliegen – nachdem im Rahmen dieses zwangsweisen Austauschs jeweils mehr als 1 Million Menschen von Ost nach West und umgekehrt überführt worden waren. Insgesamt betrachtet besaßen die Besatzungsmächte kein einheitliches Gestaltungskonzept zur Aufnahme respektive Verteilung, wohnlichen Unterbringung und Eingliederung sowohl der Evakuierten als auch der Flüchtlinge. Einheitliche Vorgaben der Alliierten zur Gestaltung des nunmehr miteinander korrelierenden Flüchtlings- und Evakuiertenproblems existierten nicht. Falls eine Rückführung nach Kriegsende erfolgte, dann vor allem, um in den ländlichen Regionen Unterbringungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge und Vertriebenen zu nutzen respektive zu schaffen. Zeitgenössischen Angaben zufolge kann man davon ausgehen, dass 1947 zwischen 3,1 und 4 Millionen Evakuierte in den vier Besatzungszonen lebten, die noch nicht in ihre ehemaligen Wohnorte zurückgekehrt waren – neben 10 Millionen Vertriebenen. Das hieß jedoch anders herum: In den ersten zwei Jahren nach Kriegsende war bereits der größte Teil der Evakuierten in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. Mit dem Wiederaufbau der Städte und dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung in den Westzonen wurden hier nach und nach existierende Zuzugsbeschränkungen aufgehoben beziehungsweise von den Rückkehrwilligen verstärkt unterlaufen. Die Forderungen des Zentralverbandes der Fliegergeschädigten, Evakuierten und Währungsgeschädigten nach gesetzlicher Regelung ihrer Probleme auf Bundesebene blieben lange Zeit unberücksichtigt, da die Verantwortlichen sich dort weitgehend einig waren, nur für die Wanderungen von Evakuierten von einem Bundesland zum anderen zuständig zu sein – und nicht für Migrationen innerhalb eines Bundeslandes. Die Rückführung der Evakuierten existierte vorrangig als Problem der Städte und Gemeinden beziehungsweise der Länder. Der Bund wurde erst aktiv mit und nach dem Bundesevakuiertengesetz (BEvG) vom 14. Juli 1953.44 Das Gesetz, das letzte in einer Reihe von Kriegsfolgegesetzen, welche die deutschen Kriegsopfer betrafen, beinhaltete als wesentlichsten Punkt einen Rechtsanspruch auf Rückkehr in die Heimatgemeinden »nach Maßgabe des zur Verfügung stehenden Wohnraumes«.45 Zu diesem Zeitpunkt betrug die Zahl der Rückkehrwilligen nur noch circa 450.000. Nach zwei Novellierungen des Bundesevakuiertengesetzes, die auch eine Erweiterung des Evakuiertenbegriffs enthielten, stieg diese Zahl bis Ende 1963 auf 510.000 an. Ende der 1960er Jahre gab es noch 50.000 Evakuierte, die zurück in ihre Heimatstadt wollten.

|| 44 Bundesevakuiertengesetz vom 14. Juli 1953, in: Bundesgesetzblatt, 1953, Teil 1, S. 586–590. 45 Ebd.

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Die Evakuierten wurden im Westen Deutschlands im Vergleich zu den Flüchtlingen und Vertriebenen nachrangig behandelt. Das war aus Sicht der Zeitgenossen nicht nur der Größe des empfundenen Problems bei der Aufnahme und Integration einer Millionenzahl Entwurzelter geschuldet. Der dagegen als relativ klein erscheinende Kreis von Evakuierten besaß zudem – auch anders als bei den Zwangsmigranten – keine erfolgreich arbeitende Lobby: Insbesondere das Potenzial zur politischen Einfluss- und Indienstnahme über ihre Klientelvertreter machten die organisierten Vertriebenen zu einer, allen Schwierigkeiten des Integrationsprozesses vor Ort zum Trotz, heftig umworbenen politischen Gruppierung in Zeiten des ›Kalten Krieges‹. Entscheidend für die gesetzgeberische Zurückhaltung oder Geringschätzung des Evakuiertenproblems war insgesamt die faktische und diskursive Dominanz des Flüchtlings- beziehungsweise Vertriebenenproblems in der Bundesrepublik Deutschland. Ablesbar ist eine von den Interessenverbänden der Evakuierten stets behauptete Benachteiligung ihrer Klientel gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen bei der Wohnungsvergabe. So erhielten im ersten Halbjahr 1953 letztere fast die Hälfte aller Neubauwohnungen, während Evakuierte nicht einmal 3 Prozent der Wohnungen beziehen konnten. Völlig verschieden reagierten die sowjetische Besatzungsmacht und später die Deutsche Demokratische Republik auf das Evakuiertenproblem. Hier wurde schon sprachlich nicht zwischen den verschiedenen Geschädigtengruppen des Zweiten Weltkriegs unterschieden. Zuständig für die Organisation der Rückführung der Evakuierten war die im September 1945 gegründete Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU). Bei der quantitativen Erfassung der Gruppe der ›Umsiedler‹ 1945 wurde deutlich, wen die Behörde hier subsumierte: Neben den Flüchtlingen und den aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ausgewiesenen Personen zählten sogenannte Rückwanderer ebenso als ›Umsiedler‹ wie die Evakuierten. Für alle Angehörigen dieser Gruppe galt dasselbe Prinzip: Sie sollten schnellstmöglich, ohne Bildung eines Sonderbewusstseins, mit der Gruppe der Alteingesessenen zu einer Gruppe ›sozialistischer Menschen‹ verschmelzen. Wie bereits oben geschildert, erließ die Volkskammer der DDR sehr früh, im September 1950, ein Umsiedlergesetz, das die Lage der Betroffenen verbessern sollte. Es bleiben erhebliche Zweifel an einer bereits kurze Zeit später von der DDRPropaganda verkündeten erfolgreich abgeschlossenen Integration.

4 Zusammenfassung Die demographischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stellten sowohl die Besatzungsmächte, als auch deutsche Behörden und Einrichtungen vor eine Herausforderung gigantischen Ausmaßes. Die Vielfalt verschiede-

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ner Bevölkerungsgruppen, die es entweder aufzunehmen oder innerhalb Deutschlands umzusiedeln galt oder die aus Deutschland in ihre Heimat rückgeführt werden sollten, war immens: Flüchtlinge, Vertriebene, Displaced Persons, Evakuierte, Kriegsheimkehrer und Bombengeschädigte mussten in Zeiten eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs, der dem von Deutschland ausgehenden Vernichtungskrieg folgte, sukzessive nicht nur gelenkt, sondern auch zum Teil auch betreut werden – bis hin zu ökonomischen Ausgleichsregelungen. Die Überforderung, diesen Prozess für die Betroffenen möglichst gleichermaßen gerecht zu gestalten, führte zu vielen Benachteiligungen im Einzelfall. Bei aller gezeigten Uneinheitlichkeit der Entwicklungspfade in Ost- und Westdeutschland lässt sich eine zentrale Gemeinsamkeit festhalten: Letztlich wurde der Zustand eines ethnisch möglichst homogenen Staates angestrebt, der nicht nur das Ziel der Alliierten und ihrer Besatzungspolitik, sondern auch deutscher staatlicher Behörden war – man betrachte die Rückführung der ausländischen Zwangsarbeitskräfte und den Integrationsprozess durch die privilegierte Eingliederung der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen und die erzwungene, tabuisierte Eingliederung im Osten. Spätestens mit der Zuwanderung der ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik Deutschland und der ›Vertragsarbeiter‹ in der Deutschen Demokratischen Republik wurde dieser letztlich völkische Aspekt der Steuerung der Nachkriegsmigration sichtbar – und gleichzeitig herausgefordert. Im Umgang mit den ›neuen Fremden‹ musste sich zeigen, ob man den Integrationsprozess gesamtgesellschaftlich als Erfolg zu bewerten hatte.

Jan Philipp Sternberg

Überseeische Auswanderung als Problem politisch-territorialer Souveränität Die anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs markieren eine besondere Epoche im Umgang der deutschen Politik und Verwaltung mit überseeischer Auswanderung. Zum ersten Mal seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben deutsche Regierungen überhaupt so etwas wie aktive Auswanderungspolitik; doch damit manövrierte sich die Bundesrepublik in eine Zwickmühle. Denn die gerade erst errungene und weiterhin eingeschränkte politisch-territoriale Souveränität konfligierte in zentralen Punkten mit den migrationspolitischen Wünschen der westlichen Verbündeten. Die Haupteinwanderungsländer in Übersee, die USA, Kanada und Australien, waren auf der Suche nach möglichst jungen und qualifizierten Arbeitskräften. Die Bundesrepublik wollte eben diese im Lande halten und hoffte, durch eine (Siedlungs-)Migration ganzer Familien die bevölkerungspolitischen Verschiebungen aufgrund der Kriegs- und Zwangswanderungen ausgleichen zu können. Hierbei wirkten traditionelle, aus Kaiserreich und Weimarer Republik stammende Vorstellungen und Illusionen von einer Steuer- und Reduzierbarkeit der Abwanderung durch administrative Maßnahmen bis Mitte der 1950er Jahre weiter.1 In diesem Beitrag soll die deutsche Nachkriegsauswanderung als Problem politisch-territorialer Souveränität untersucht und die genannten konfligierenden Vorstellungen deutscher Behörden und der Einwanderungsländer herausgearbeitet werden. Einleitend folgt zunächst ein kurzer Überblick über die Auswanderungsbewegungen und migrationspolitischen Rahmenbedingungen im Deutschland und Europa der Nachkriegszeit. Im Anschluss werden die Prioritäten der Einwanderungsländer vorgestellt, das Schlagwort von der ›Internationalisierung des Flüchtlingsproblems‹ beleuchtet und schließlich die bundesdeutsche Auswanderungspolitik der Nachkriegszeit bis zur migrationspolitischen Zeitenwende zwischen Anfang und Mitte der 1950er Jahre untersucht.

1 Wanderungsbewegungen nach 1945 Der Zweite Weltkrieg hatte Millionen Menschen entwurzelt und ihre Lebensgrundlagen zerstört. Displaced Persons, Flüchtlinge und Vertriebene, Ausgebombte und ehemalige Kriegsgefangene suchten nach einer neuen Existenz. Oft sahen sie ihre

|| 1 Zum Kontext insgesamt: Jan Philipp Sternberg, Auswanderungsland Bundesrepublik. Politische und mediale Wahrnehmung in Deutschland 1945–2010, Paderborn 2012.

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einzige Hoffnung in einer Auswanderung aus den Trümmern Europas. Deutschen war es jedoch unmittelbar nach Kriegsende nicht möglich, legal ins Ausland zu gelangen: Das Gesetz Nr. 161 der alliierten Militärregierung vom 7. März 1945 und die Kontrollratsproklamation Nr. 2 vom 20. September 1945 beschränkten die Erteilung eines ›exit permit‹ auf bestimmte Personengruppen wie Ehepartner und Kinder ausländischer Staatsangehöriger oder anerkannte Verfolgte des NS-Regimes, um zu verhindern, dass sich Kriegsverbrecher und nationalsozialistische Funktionäre ins Ausland absetzen konnten. Zunächst nahmen die meisten Einwanderungsländer auch keine Deutschen auf. Bei Kriegsende bedurften zwischen 10,5 und 11,7 Millionen verschleppte ehemalige Zwangsarbeitskräfte und Überlebende der deutschen Konzentrationslager der Fürsorge der Alliierten, um in ihre Heimat zurückkehren oder anderswo eine neue Existenz aufbauen zu können. Rund 4,5 Millionen dieser sogenannten Displaced Persons (DPs) befanden sich in den drei westlichen Besatzungszonen.2 Die internationale Hilfsorganisation ›United Nations Relief and Rehabilitation Administration‹ (UNRRA), die ab dem Sommer 1947 durch die ›International Refugee Organisation‹ (IRO) abgelöst wurde, war ausschließlich für DPs sowie für andere von den Nationalsozialisten verfolgte Flüchtlinge zuständig. Ausgeschlossen waren alle Angehörigen von Feindstaaten, also Deutsche, ›Volksdeutsche‹ (›Deutschstämmige‹ aus den früheren Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa) sowie Österreicher.3 Infolge der ›Resettlement‹-Politik der IRO bereisten ab Sommer 1947 Auswahlkommissionen der Einwanderungsländer die DP-Lager in den deutschen Westzonen. Wegen des Arbeitskräftemangels in Übersee und den meisten westeuropäischen Staaten konnten die noch in Deutschland verbliebenen DPs sehr schnell vermittelt werden.4 Hauptaufnahmeländer waren mit großem Abstand die USA mit 273.501 Zuwanderern von 1947 bis 1951 und Australien (136.249), gefolgt von Kanada (83.431), Palästina/Israel (70.051) und Großbritannien (55.543), das zumeist temporäre Arbeitsverträge mit DPs abschloss.5 Kritik an der Durchführung kam von Seiten der westalliierten Militärverwaltung, die sich über die »Selbstsucht einer Politik des resettlement beschwerte, die DPs als ein Reservoir billiger Arbeitskräfte betrachte-

|| 2 Wolfgang Jacobmeyer, Ortlos am Ende des Grauens: ›Displaced Persons‹ in der Nachkriegszeit, in: Klaus J. Bade (Hg), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. München 1993, S. 367–374, hier S. 368. 3 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 162. 4 Ebd., S. 168: »Die IRO betrachtete sich als Anbieter auf einem kauffreudigen Markt und war zuversichtlich, das DP-Problem auf diesem Wege aus der Welt schaffen zu können.« 5 Diese EVWs (European Volunteer Workers) konnten nach fünfjährigem Aufenthalt in Großbritannien die britische Staatsbürgerschaft beantragen, bis dahin waren sie vielfältigen Restriktionen unterworfen; siehe Diana Kay/Robert Miles, Refugees or Migrant Workers? European Volunteer Workers in Britain, 1946–1951, London/New York 1992.

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te«.6 In der Bundesrepublik verblieben nach Abschluss des ›Resettlement‹ unter dem Rechtsstatus des ›Heimatlosen Ausländers‹ hauptsächlich die alten und kranken DPs, die ein 150.000 Personen umfassendes ›hard core‹ (so die zeitgenössische Bezeichnung) ausmachten. Die auf ökonomischen Kriterien basierende Einwanderungspolitik der Zielländer wurde später auch auf die Flüchtlingsprogramme, an denen Deutsche teilnehmen konnten, angewandt und führte zu ähnlicher Kritik seitens deutscher Stellen. Für die Hauptzielländer Kanada und Australien stand der Bedarf an gelernten wie ungelernten Arbeitskräften im Vordergrund, während die USA mit ihren Flüchtlingswanderungsprogrammen eine außenpolitische Agenda verfolgte (dazu gehörte die Abwehr möglicher politischer Radikalisierung in ›übervölkerten‹ europäischen Staaten durch Auswanderung) und zugleich auf innenpolitischen Druck Rücksicht nahm (indem sie die Flüchtlingspolitik zum Bestandteil des Kampfes gegen den Kommunismus machte).7 Auch bei den Transportwegen setzte das ›Resettlement‹ die Maßstäbe für spätere Migrationsbewegungen. Die IRO führte die Transporte mit eigenen oder gecharterten Schiffen durch. Ihre Flotte umfasste im Juni 1950 36 Schiffe, die Hälfte davon ehemalige US-Truppentransporter, die für zivile Nutzung umgebaut worden waren.8 Die Schiffe fuhren fast alle ab Bremerhaven oder Bremen, wo auch mehrere IRODurchgangslager eingerichtet wurden. Mehr als 500.000 DPs aus Deutschland und Österreich wanderten zwischen 1947 und 1951 allein über Bremerhaven aus.9 Nach dem Ende der DP-Auswanderung 1952 wurden die IRO-Schiffe und Lager der IRONachfolgeorganisation ICEM (›Intergovernmental Committee for European Migration‹) zur Verfügung gestellt. Sie organisierte eine unterstützte Auswanderung aus Europa und zählte nun auch Deutsche zu ihrer Klientel, da die Bundesrepublik inzwischen Mitglied der Organisation geworden war.10 Die bremischen Häfen behielten ihre führende Rolle bei, die sie durch die Abwicklung der DP-Auswanderung erreicht hatten. Noch bevor die DPs in die ›Neue Welt‹ aufbrachen, begann in einigen anderen europäischen Ländern eine Phase extrem hoher Abwanderung. Aus Italien gingen ab 1945 bis 1957 1,7 Millionen Menschen ins Ausland. Die Niederlande erlebten ein regelrechtes ›Auswanderungsfieber‹ mit 565.000 Auswanderern nach Übersee im selben Zeitraum. Die Restriktionen der Alliierten für Bürger des besiegten Feindstaa-

|| 6 Zitiert nach Jacobmeyer, Zwangsarbeiter, S. 169. 7 Vgl. Carl J. Bon Tempo, Americans at the Gate. The United States and Refugees during the Cold War, Princeton/Oxford 2008, S. 37. 8 Vgl. Karin Nerger-Focke, Die deutsche Amerikaauswanderung nach 1945. Rahmenbedingungen und Verlaufsformen, Stuttgart 1995, S. 50. 9 Vgl. Arno Armgort, Bremen, Bremerhaven, New York 1683–1960. Geschichte der europäischen Auswanderung über die bremischen Häfen, Bremen 1991, S. 108. 10 Vgl. Johannes-Dieter Steinert, Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945–1961, Osnabrück 1995, S. 101.

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tes Deutschland galten für den zeitweiligen Kriegsgegner Italien und die befreiten Niederlande nicht, so dass die Nachkriegsauswanderung hier bereits 1945 einsetzen konnte. Besonders die Italiener reaktivierten sehr schnell die traditionellen Wanderungsrouten und -systeme mit vielfältigen Verbindungen nach Nord- und Südamerika, insbesondere in die USA und nach Argentinien. Großbritannien stellte mit 1,8 Millionen Abwanderern das höchste europäische Kontingent, erlebte allerdings auch hohe Rückwanderungen. Ab Mitte der fünfziger Jahre stieg dann die Bedeutung der Mittelmeerländer weiter an: Neben den Italienern wanderten besonders Griechen, aber auch Portugiesen und Spanier stark nach Übersee, bevor diese Länder ab Ende der 1950er Jahre den Hauptteil der ›Gastarbeiter‹-Migration nach Frankreich und in die Bundesrepublik stellten.11 Von den 6,6 Millionen Migranten aus Europa nach Übersee zwischen 1946 und 1957 ging die überwiegende Mehrzahl in folgende Länder: Kanada (1,67 Millionen), USA (1,6 Millionen), Australien (1,27 Millionen), Argentinien (891.300), Venezuela (735.400), Brasilien (569.500) und in das 1948 gegründete Israel (428.200).12 Von den 779.700 deutschen Auswanderern im Zeitraum von 1946 bis 1961 gingen 384.700 in die USA, die traditionell das Hauptzielland für deutsche Überseemigranten darstellten. 234.300 Deutsche gingen nach Kanada, 80.500 nach Australien. Mit großem Abstand folgten Brasilien und Südafrika mit je 20.000 deutschen Einwanderern.13 Aus dem statistisch erfassten Umfang und der Zusammensetzung der Migration können relativ deutlich drei Phasen der Nachkriegswanderung aus Deutschland abgelesen werden. Die erste Phase umfasst die Jahre 1945 bis 1950/51. Ab Ende 1947 kam die geschilderte große Überseemigration der DPs in Gang. Mit der Aufhebung der Restriktionen für deutsche Auswanderer und dem Beginn der US-Flüchtlingsprogramme begann die Hauptphase der deutschen Überseewanderung von 1951/52 bis 1957.14 In diesen Jahren waren die durch internationale Organisationen unterstützen Wanderungen treibende Kraft der Entwicklung. Parallel nahm die Zahl derjenigen Migranten, die ihre Überfahrt aus eigenen Mitteln finanzieren konnten, stetig zu.15 1958 begann die dritte Phase der Nachkriegsmigration aus Deutschland, in der die Wanderung zurückging. 1961 wanderten nur noch 31.000 Deutsche aus.16

|| 11 Vgl. International Migration 1959, S. 74, 165, 189, 191, 193f., 196, 202; G. Beijer, Die europäische Auswanderung nach Übersee seit 1945. Vortrag, gehalten auf der Arbeitstagung der Leiter der Beratungsstellen für Auslandtätige und Auswanderer der Inneren Mission und des Hilfswerks der Evang. Kirche am 29.6.1963 in Hamburg, S. 4f., Kirchenkreis Alt-Hamburg, Archiv, Bestand Auswanderermission. 12 Vgl. International Migration 1959, S. 74, 165, 189, 191, 193f., 196, 202. 13 Vgl. Wirtschaft und Statistik 1963/64, S. 191*. 14 Vgl. ebd., S. 439. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd., S. 441.

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Neben der starken Einschränkung der unterstützten Wanderung und dem Ende der Programme zur Flüchtlingsauswanderung war die sensationelle wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik für diesen Rückgang verantwortlich. Während dort Ende der 1950er Jahre Vollbeschäftigung erreicht wurde, stieg in den Haupteinwanderungsländern die Erwerbslosigkeit im Zuge der ersten Nachkriegsrezession an.17 Auch nach dem Ende der Vertreibungen und der DP-Auswanderung erlebte die Bundesrepublik weitere große Wanderungsbewegungen. Die Zuwanderung aus der DDR blieb während der ganzen 1950er Jahre hoch – zwischen 1949 und dem Bau der Berliner Mauer ab dem 13. August 1961 überschritten 3,6 Millionen Menschen die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten.18 Zuwanderer aus der SBZ/DDR trugen mit vier Prozent der Auswandernden bei sechs Prozent Bevölkerungsanteil zwar unterdurchschnittlich zur Nachkriegsmigration nach Übersee bei, stellten aber zehn Prozent der Auswanderungswilligen.19 In den Jahren des ›Kalten Krieges‹ gab es besonders in den USA vielfache Restriktionen für eine Einwanderung von Personen von jenseits des ›Eisernen Vorhangs‹. Sie mussten eine gewisse Zeit – zuerst einige Monate, dann zwei Jahre – im Westen ansässig gewesen sein und wurden speziellen Befragungen unterzogen, in denen ihre antikommunistische Einstellung abgeprüft wurde.20 Auch die deutsch-deutsche Migration der 1950er Jahre war keine Einbahnstraße. Gut eine halbe Million Menschen verließen bis 1961 die Bundesrepublik Richtung DDR, davon waren über die Hälfte Rückkehrer.21 Die DDR war also in den 1950er Jahren nicht nur das Hauptherkunftsland der Zuwanderer in die Bundesrepublik, sondern auch das Hauptziel der Abwandernden.

|| 17 Anfang 1961 waren in Kanada 10,8 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung erwerbslos, in den USA 6,6 Prozent; vgl. Vierteljahresbericht Öffentliche Beratungsstelle Hamburg Jan-Mär 1961, Staatsarchiv Hamburg (STAHH), 373-7 II, 44. 18 Vgl. Steinert, Migration, S. 128; Siegfried Bethlehem, Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiterzuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982, S. 26. Die Politik westdeutscher Stellen und das Aufnahmeverfahren in der Bundesrepublik beschreibt Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994. 19 Vgl. Alexander Freund, Aufbrüche nach dem Zusammenbruch. Deutsche NordamerikaAuswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004, S. 447. 20 Vgl. Vierteljahresbericht Öffentliche Beratungsstelle Hamburg Apr-Jun 1954, STAHH, 373-7 II, 44; Bon Tempo, Americans, S. 56. 21 Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 26 und Steinert, Migration, S. 128 zählen 487.000, Andrea Schmelz kommt auf 602.695 West-Ost-Wanderungen zwischen 1950 und 1961. Schmelz unterscheidet im Zeitraum 1954–1961 insgesamt 324.994 Rückkehrer und 170.352 Zuziehende; vgl. Andrea Schmelz, West-Ost-Migranten im geteilten Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre, in: Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999, S. 88–108, hier S. 89.

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2 Prioritäten der Einwanderungsländer Die Prioritäten der Einwanderungsländer waren an den Bedürfnissen ihrer Arbeitsmärkte ausgerichtet. Der ›ideale‹ Einwanderer für die deutschen Hauptzielländer USA, Kanada und Australien war – ganz im Gegensatz zu den Prioritäten der westdeutschen Auswanderungspolitik – jung, gut ausgebildet, gesund sowie meistens männlich und brachte keine abhängigen Familienangehörigen ins Land.22 Die Tatsache, dass die neuen Einwanderer Deutsche waren, führte spätestens nach dem ›Koreaboom‹ ab 1950 kaum noch zu Protesten in den Einwanderungsländern. Arbeitskräfte wurden schlicht dringend gesucht. Zwar fragte die Bürokratie der USEinwanderungsbehörden weiterhin detailliert nach den Aktivitäten der Bewerber während des Nationalsozialismus, jedoch war ab Anfang der 1950er Jahre »der Diskurs über Nationalsozialismus und Holocaust bereits von der Rhetorik des Kalten Krieges entmachtet worden«.23 Kritisiert wurde die Einwanderung von Deutschen besonders von jüdischen Organisationen in Australien, die sich mit zahlreichen Demonstrationen, Presseartikeln und Plakaten gegen eine Wiederzulassung deutscher Einwanderer wandten.24 Als nach 1949 die Einwanderung von Deutschen in die USA, nach Kanada und Australien wieder erlaubt wurde, profitierten diese sogleich von den im Kern eurozentrischen und rassistischen Bestimmungen, die seit den 1920er Jahren in diesen Staaten in Kraft waren. Deutsche waren bei diesen Kriterien traditionell bevorzugt gewesen. Durch die Kontinuität dieser Einwanderungspolitik über den Zweiten Weltkrieg hinweg wurden sie schnell wieder von Feinden zu begehrten Einwanderern. Australien zog beispielsweise Nordeuropäer grundsätzlich Südeuropäern vor, und als von den Gewerkschaften und Veteranenverbänden Bedenken gegen eine Einwanderung von Deutschen geäußert wurden, wurden diese mit der Erklärung zur Zustimmung bewegt, dass in Europa nur Deutsche und Italiener größeres Interesse an einer Auswanderung nach Australien zeigten und die Deutschen den Italienern überlegen seien.25 Bereits in den ersten Nachkriegsjahren hatten alle Siegermächte des Zweiten Weltkriegs deutsche Wissenschaftler und Spezialisten angeworben. Die USA zum Beispiel organisierte diese »Jagd nach deutschem Know-How«26 in den geheimen || 22 Vgl. Freund, Aufbrüche, S. 217. 23 Ebd., S. 218. 24 Vgl. Angelika Sauer, Model Workers or Hardened Nazis? The Australian Debate about Admitting German Migrants, 1950–1952, Austin 1996, http://www.utexas.edu/depts/cas/anzsana/papers/ sauer1996.html; Johannes-Dieter Steinert, Drehscheibe Westdeutschland: Wanderungspolitik im Nachkriegsjahrzehnt, in: Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, S. 386–392, hier S. 390. 25 Vgl. Sauer, Workers; Steinert, Migration, S. 114–116. 26 Steinert, Migration, S. 71; siehe auch Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 189–219.

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Operationen ›Overcast‹ und ›Paperclip‹. Auch bei weniger prominenten Migranten wählten die Regierungen der Einwanderungsländer später, etwa bei den US-Flüchtlingsprogrammen oder dem kanadischen ›Assisted Passage Loan Scheme‹ (APL), sorgfältig nach Bedarf aus. Australien warb für verschiedene industrielle Großprojekte wie das ›Snowy Mountains Hydroelectric Project‹ direkt Arbeitskräfte in Europa an. Kanada hatte bereits 1947 begonnen, unter der Schirmherrschaft der Kirchen neben DPs auch Flüchtlinge einwandern zu lassen, die nicht unter das Mandat der IRO fielen. Der ›Canadian Christian Council for the Resettlement of Refugees‹ (CCCRR) wurde gegründet, um ›volksdeutsche‹ Flüchtlinge ins Land zu holen. Von 1948 bis Mitte der 1950er Jahre wanderten über 35.000 Personen über dieses Programm ein.27 Gegenüber der kanadischen Öffentlichkeit wurde die Einwanderung als rein humanitär motiviert und kirchlich organisiert dargestellt, war aber von Seiten der Regierung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen durchaus erwünscht und wurde unterstützt. Sie stellte finanzielle Mittel bereit und charterte das Schiff ›Beaverbrae‹ für den Flüchtlingstransport.28 Der ständig steigende Bedarf an Arbeitskräften in Kanada im Zuge des ›Koreabooms‹ führte dazu, dass am 14. September 1950 das Einwanderungsverbot für Deutsche aufgehoben wurde, das seit 1939 bestanden hatte.29 Sie durften nun auch an der unterstützten Wanderung im Zuge des APL teilnehmen, das die Überfahrt über Darlehen unterstützte und einen Eigenbeitrag von lediglich 30 US-Dollar forderte.30 Die USA öffneten die deutsche Einwandererquote schon 1945, beschränkten sie jedoch bis 1948 auf Personen mit nahen Verwandten im Land und auf Verfolgte des NS-Regimes. Unter dem 1948 verabschiedeten ›Displaced Persons Act‹ sollten 205.000 DPs innerhalb der nationalen Quoten einwandern können – hier wurden aber auch ›Volksdeutsche‹ berücksichtigt, für die 50 Prozent der deutschen und österreichischen Quoten reserviert waren.31 Nach einer Revision des Gesetzes 1950 konnten insgesamt 54.744 ›German expellees‹ einwandern. Dieser Begriff umschloss sowohl die ›volksdeutschen‹ als auch die ›reichsdeutschen‹ Vertriebenen. Die Transportkosten übernahm die USA, die Auswahl der Bewerber erfolgte nach dem Arbeitskräftebedarf in den USA. Bevorzugt wurden Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft, der Textilindustrie, hauswirtschaftlichen Berufen und dem Baugewerbe.32 Eine in den USA ansässige Person oder Organisation musste in einer Bürgschaft Wohnung und Arbeit zusagen. In der

|| 27 Vgl. Steinert, Migration, S. 81. 28 Vgl. ebd., S. 80. 29 Vgl. ebd., S. 108. 30 Vgl. ebd., S. 109. 31 Vgl. Freund, Aufbrüche, S. 233. Die Diskussion in der US-amerikanischen Innenpolitik über die Einwanderung deutscher und ›deutschstämmiger‹Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg wird zusammengefasst in: Herma Karg, Die Einwanderung der Heimatvertriebenen als Problem der amerikanischen Innenpolitik 1945 bis 1952, Diss. Konstanz 1979. 32 Vgl. Steinert, Migration, S. 144–146; Freund, Aufbrüche, S. 235.

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Mehrzahl der Fälle geschah dies durch eine Bürgschaft kirchlicher Hilfsorganisationen.33 Organisiert wurde die Vergabe der Bürgschaften und die Dokumentation der Bewerber durch die Auswanderer-Beratungsstellen der Kirchen in Deutschland. Damit kam auf diese Stellen ein großer Arbeitsaufwand zu, der allerdings von der deutschen Bundesregierung und den USA finanziell unterstützt wurde. Wegen des komplizierten bürokratischen Verfahrens, das umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen vorsah, zog sich die Bearbeitung in die Länge und führte zu Frustrationen bei allen Beteiligten.34 Nach dem ›Internal Security Law‹ von 1950 reichte zunächst die Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer nationalsozialistischen Organisation für eine Verweigerung des Visums aus. Nach der am 28. März 1951 verabschiedeten Neufassung durch ›Public Law 14‹ führte die Mitgliedschaft in einer totalitären Partei nicht mehr automatisch zum Ausschluss, wenn der Eintritt zwangsweise erfolgt war. Nur so konnte das Verfahren überhaupt noch zum Abschluss gebracht werden.35 Ab 1951 wurden aber auch Personen, die in der DDR gewohnt oder sich dort besuchsweise aufgehalten hatten, einer gesonderten Überprüfung unterzogen.36 Die meisten Auswanderer erreichten die USA erst 1951 oder 1952. Im Jahre 1953 legten die USA dann mit dem ›Refugee Relief Act‹ das zweite Einwanderungsprogramm für Flüchtlinge auf. Auch hier waren wieder die Auswanderer-Beratungsstellen mit der Durchführung in der Bundesrepublik beauftragt. Zugelassen waren nur jene, die »sich nach ihrer Flucht noch nicht wieder fest angesiedelt hatten und denen die Mittel fehlten, ihre Überfahrt […] selbst zu finanzieren.«37 Aus der DDR Zugewanderte mussten aber zwei Jahre in Westdeutschland ansässig sein, um angenommen werden zu können. Nach einem ähnlich bürokratischen und schleppenden Beginn wie im ersten Programm wurden dann bis 1956 noch 51.724 Visa erteilt. Das vorgesehene Ziel von 90.000 Einwanderern aus Deutschland und Österreich wurde jedoch nicht erreicht.38

|| 33 Vgl. Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 254f. 34 Nerger-Focke listet die nötigen Behördengänge auf S. 265–267 detailliert auf. Ferdinand Schröder, der damalige Leiter der Abteilung Auswanderung der Inneren Mission und des Hilfswerk der EKD in Stuttgart, schreibt: »Die Prozedur in Deutschland stellt in ihrer Mischung von amerikanischer und deutscher Bürokratie das furchtbarste dar, was ich je erlebt habe.« Ferdinand Schröder, Der Mensch zwischen Heimat und Fremde. Das Verhältnis von Staat und Kirche zum wandernden Menschen in der europäischen Geschichte, Stuttgart 1960, S. 148. 35 Vgl. Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 263. 36 Vgl. Vierteljahresbericht Öffentliche Beratungsstelle Hamburg, Apr-Jun 1951, STAHH, 373-7 II, 44. 37 Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 263. 38 Vgl. Steinert, Migration, S. 255.

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3 Internationalisierung des Flüchtlingsproblems Bei internationalen Beobachtern und deutschen Behördenvertretern der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die überfüllten Flüchtlingsunterkünfte und die überschlägig auf 200 oder gar 220 Einwohner pro Quadratkilometer berechnete Bevölkerungsdichte der vier Besatzungszonen39 Anlass zu handfester Sorge. Es war völlig unklar, ob es gelingen würde, über einen längeren Zeitraum ausreichend Lebensmittel, Wohnraum und Arbeitsplätze für die Millionen Entwurzelten zu schaffen, ob angesichts der angelaufenen Demontagen und des Verlustes der ›Kornkammern‹ Ostelbiens in absehbarer Zeit Industrie und Landwirtschaft wieder die Bevölkerung versorgen könnten. ›Flüchtlinge‹ und ›Übervölkerung‹ wurden so zu Schlagwörtern einer politischen Debatte, in der Befürchtungen des Auslands mit deutschen Forderungen nach Unterstützung korrespondierten. Politiker sprachen von »sozialem Sprengstoff«, gar einer »sozialen Atombombe«40 und befürchtete eine politische (Rechts-)Radikalisierung der Vertriebenen. Die Londoner ›Times‹ bemerkte am 20. Dezember 1950: »To a demagogue, refugees are what blood in water is to a shark, and the [German] refugee problem is large enough to create a revolutionary situation.« Auf der Moskauer Außenministerkonferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs äußerte sich der französische Außenminister Georges Bidault am 15. März 1947 besorgt über die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und bezeichnete sie als eine Gefahr für die Sicherheit Frankreichs. »Überbevölkerung, unzureichende Erwerbsmöglichkeiten und ein niedriger Lebensstandard seien die Wurzeln eines erneuten Militarismus und machten eine Demokratisierung unmöglich.«41 Bidault forderte daher das sofortige Ende aller Aussiedlungen nach dem Potsdamer Abkommen, die Auswanderung oder Repatriierung der verbliebenen DPs sowie eine Förderung der Auswanderung Deutscher.42 Seine Beweggründe für diese Forderung hatte Bidault bereits am 17. Januar 1946 vor der Verfassungsgebenden Versammlung in Paris dargelegt. »Die Abtrennung der deutschen Ostgebiete«, sagte er dort, »ver|| 39 220 Einwohner pro Quadratkilometer schätzte der französische Außenpolitiker Jean Chauvel im November 1945 (vgl. Steinert. Migration, S. 82), von 200 sprach der deutsche Schriftsteller und Publizist Rudolf Alexander Schröder 1947. Nach späteren Berechnungen betrug die Bevölkerungsdichte 1946 in den Westzonen 186, in der sowjetischen Zone 171 Personen pro Quadratkilometer; vgl. Karl Hardach, Deutschland 1914–1970, in: Carlo M. Cipolla/Knut Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 5: Die europäischen Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert, Stuttgart/New York 1980, S. 47–99, hier S. 82, Tab. 1. 40 So der Sudetendeutschen-Funktionär und Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (Deutsche Partei) auf dem Tag der Sudetendeutschen am 8.10.1950 in Berlin-Neukölln; vgl. Heimattage in Köln und Berlin/Tag der Sudetendeutschen, in: Die Welt, 9.10.1950. 41 Steinert, Migration, S. 82. 42 Vgl. ebd., S. 82f.

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schiebt den deutschen Schwerpunkt nach Westen und verstärkt den Druck auf Frankreich.«43 Es ging Bidault also um Sicherheit für Frankreich, das sich traditionell vom bevölkerungsreicheren östlichen Nachbarn bedroht fühlte. In Moskau wies er darauf hin, dass »der Reichtum an Menschen von jeher die Quelle des deutschen Kriegspotenzials gewesen sei«.44 Die von Bidault in Moskau vorgeschlagene internationale Konferenz über eine »organisierte Auswanderung« der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen kam nicht zustande; außer Frankreich selbst zeigte sich zu diesem Zeitpunkt noch kein Land bereit, deutsche Einwanderer in großem Stil aufzunehmen.45 In Deutschland wurde Bidaults Vorschlag vorwiegend abgelehnt. Der Publizist Ernst Friedländer wies in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ darauf hin, dass Bidault mit dem Plan einer deutschen Massenauswanderung »gar nicht Deutschland retten, sondern Frankreich ›sichern‹«46 wolle. Der Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder schrieb in einem ›Offenen Brief‹ an Bidault, das deutsche Volk gleiche einem »Schwerkranken, gegen dessen Krankheit – die Übervölkerung – mit Rücksicht auf ein anderes Krankheitssymptom – Überalterung – nicht radikal vorgegangen werden kann. […] Wir können es nicht verantworten, jüngere Menschen abzugeben. An Alten und Kindern haben aber wiederum die Aufnahmeländer kein Interesse.«47 Der Begriff von der ›Internationalisierung des deutschen Flüchtlingsproblems‹ wurde in den Folgejahren besonders in der Bundesrepublik und den USA zum wichtigen Schlagwort. Doch Politiker auf beiden Seiten des Atlantik verstanden darunter jeweils etwas völlig anderes: Die Deutschen wünschten sich eine Aufstockung der Marshall-Plan-Hilfe und finanzielle Unterstützung bei der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik. In den USA aber wurde das deutsche Vertriebenenproblem, analog und in Konkurrenz zur Hilfe für die DPs, in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Auswanderung diskutiert. Durch spezielle nationale Einwanderungsprogramme außerhalb der üblichen Quote sowie eine internationale Zusammenarbeit der westlichen Staaten über internationale Wanderungsorganisationen könnte, so glaubten

|| 43 Zitiert nach Karl O. Kurth, In der Sicht des Auslandes, in: Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Kiel 1959, Bd. 3, S. 511–577, hier S. 543. 44 Zitiert nach ebd., S. 544. 45 Der in den USA lehrende Demograph Joseph B. Schechtman analysierte im Herbst 1947: »As far as can be judged under present circumstances, possibilities for emigration of the transferred Germans are practically non-existent; ways and means will have to be found to secure their final integration into the German economy.« Joseph B. Schechtman, Resettlement of Transferred Volksdeutsche in Germany, in: Journal of Central European Affairs, 7. 1947, H. 3, S. 262–284, hier S. 281. 46 Ernst Friedländer, Bleibe im Lande!, in: Die Zeit, 21.8.1947. 47 Rudolf Alexander Schröder, Wer soll auswandern? Offener Brief an den französischen Außenminister Georges Bidault, in: Wirtschaftszeitung, 11.7.1947.

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einflussreiche Kreise in Washington, das Vertriebenenproblem »in seinem Gewicht entscheidend vermindert werden«.48 Dass mit dem US-amerikanischen ›DP Act‹ von 1948 auch Immigrationsmöglichkeiten für nach Westdeutschland gelangte ›Volksdeutsche‹ aus Ost- und Südosteuropa geschaffen wurden, obwohl diese keinen DP-Status besaßen, beruht auch auf der genannten Furcht vor möglichen politischen Folgewirkungen der ›Übervölkerung‹ Deutschlands. In der Debatte im Repräsentantenhaus über den ›DP Act‹ warnte beispielsweise der Abgeordnete aus Michigan, Harold F. Youngblood, davor, »eine wichtige Lektion der Geschichte zu mißachten: Übervölkerung führe zu Aggression und Krieg.«49 Und auch im Vorfeld des zweiten Flüchtlingswanderungsprogramms der USA, dem ›Refugee Relief Act‹ von 1953, wurde vor den Folgen einer übervölkerten Bundesrepublik gewarnt. Von einer »potenziell explosiven Situation« der deutschen Flüchtlingsbevölkerung war im Januar 1953 im Bericht einer von USPräsident Truman eingesetzten Prüfungskommission zur Einwanderung die Rede. So lange im Herzen Europas zehn Millionen Vertriebene unter »Substandardbedingungen« lebten, sei die friedliche Entwicklung der Bundesrepublik zur Demokratie gefährdet.50 Doch Deutschland galt – vor allem den heimischen Experten – als nicht einfach ›übervölkert‹, sondern ›abnorm übervölkert‹: Die Relation zwischen jungen und alten Menschen sei durch den Krieg so stark belastet, dass der Versuch einer Reduktion der Bevölkerungszahl durch Auswanderung die Probleme eher verschärfen würde. Eine Erleichterung durch Auswanderung käme nur zustande, wenn eine ausreichende Anzahl älterer Menschen auswandern würde. Dies sei jedoch unwahrscheinlich. Zwangsläufig würden zuerst junge und mobile Menschen die Koffer packen und damit das Problem eher verschärfen als lindern, schrieb die Bevölkerungwissenschaftlerin Hilde Wander 1951.51 Für Westdeutschland hingegen sei die Auswanderung kaum eine Lösung. Zwar habe es 1950 fast zwei Millionen Erwerbslose gegeben, doch zugleich einen Mangel an Fachkräften. Viele der Erwerbslosen hingegen seien durch Krieg und das Leben in Flüchtlingsunterkünften beeinträchtigt und schwer vermittelbar. Sie jedoch würden kaum eine Chance bekommen, im Ausland noch einmal neu anzufangen. Auswandern würden hingegen voraussichtlich diejenigen, die zwar eine Arbeit und einen Platz in die Nachkriegsgesellschaft gefunden hätten, dort aber nicht zufrieden seien.52 Die künftige Auswanderung aus (Nord-)Westeuropa werde – im Gegensatz zum 19. Jahrhundert – vornehmlich ›Qua|| 48 Kurth, Sicht, S. 519. 49 Zitiert nach Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 123. 50 Whom We Shall Welcome, hg.v.d. Presidents Commission on Immigration and Naturalization, Washington 1953; zitiert nach Karg, Einwanderung, S. 216. 51 Hilde Wander, The Importance of Emigration for the Solution of Population Problems in Western Europe, Den Haag 1951, besonders S. 43. 52 Vgl. ebd., S. 30.

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litätsauswanderung‹ sein und schon daher vergleichsweise geringe Zahlen aufweisen.53 Die deutschen Probleme vermindern könne diese ›Qualitätsauswanderung‹ nicht. Zudem werde eine Migrationspolitik, die eine Massenauswanderung propagiere, die demographische, wirtschaftliche und politische Situation Westeuropas weiter verschlechtern.54 Wie weit entfernt voneinander US-amerikanische und bundesdeutsche Migrationspolitik zum Teil agierten, zeigt beispielhaft die deutsche Reaktion auf den ›Walter-Bericht‹. Im Herbst 1949 bereiste eine Sonderkommission des US-Kongresses zur Untersuchung des deutschen Vertriebenenproblems unter Führung des demokratischen Abgeordneten Francis E. Walter die Bundesrepublik. Der Abschlussbericht hielt fest, dass eine Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Herkunftsregionen unmöglich wäre und sie deswegen »an Ort und Stelle von der deutschen Wirtschaft assimiliert werden«55 müssten. Dies sei für sieben Millionen Menschen realistisch; einer Million Menschen hingegen, die hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Berufen kämen, sollte die Möglichkeit zur Auswanderung gegeben werden.56 Diese Konzentration auf Landwirte kam den deutschen Vorstellungen zu einem gewissen Grad entgegen, wurde aber überstrapaziert, als Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU) gegenüber der Presse gleich von Siedlungsideen sprach, bei denen »etwa 250.000 Bauernfamilien […] dorf- und stammesweise unter Führung von Arzt und Lehrer«57 nach Übersee transferiert werden sollten – was der US-Einwanderungspolitik diametral entgegenstand.

4 Traditionen deutscher Auswanderungspolitik Auswanderungspolitik entwickelte sich in Deutschland, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Italien oder den Niederlanden58, nie zu einem zentralen Politikfeld, mit dem in großem Stil sozial- oder arbeitsmarktpolitische Ziele erreicht werden sollten. Nach der Reichsgründung 1871 wurde eine politische Beschäftigung mit Auswanderung verhindert; besonders nach dem Wiederanstieg der überseeischen Auswanderung in den 1880er Jahren befürchteten Reichskanzler Otto von || 53 Vgl. ebd., S. 34. 54 Vgl. ebd., S. 37. 55 Abschrift aus dem Bericht des Sonder-Ausschusses im amerikanischen Repräsentantenhaus über »Vertriebene und Flüchtlinge volksdeutscher Herkunft«, Staatsarchiv Bremen (STAHB), 4,35/4-803/00/01/1, Schriftwechsel Dr. Maas. 56 Vgl. ebd. 57 Lukaschek gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, zitiert nach: Eine deutsche Angelegenheit. US-Bericht hält Rückkehr in Ostgebiete für »unwahrscheinlich«, in: Rheinische Zeitung, 4.5.1950. 58 Die italienische Regierung betrieb nach Kriegsende eine aktive Abwanderungspolitik, um die hohe Erwerbslosigkeit von etwa zwei Millionen zu senken und sozialen Konflikten vorzubeugen.

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Bismarck und agrarisch-konservative Kreise aus dem von ›Leutenot‹ geprägten preußischen Nordosten, durch das Reden über Auswanderung diese erst recht zu befördern und so eine unerwünschte Massenflucht hervorzurufen.59 Solche Befürchtungen ziehen sich – wie viele andere Traditionen der eher unwilligen deutschen amtlichen und publizistischen Beschäftigung mit Auswanderung – bis in die Bundesrepublik hinein. In den 1950er Jahren ging es deutschen Politikern und Ministerialen unter anderem darum, das Thema möglichst aus den Medien herauszuhalten und einmal eingegangene internationale Verpflichtungen in der Migrationspolitik mit möglichst geringer öffentlicher Wirkung zu erfüllen. Denn die Bundesrepublik befand sich, wie oben bereits erwähnt, in einer Zwickmühle: Einerseits musste sie – um politische und finanzielle Unterstützung bei der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen zu erhalten – dem von Einwanderungsländern wie den USA favorisierten Lösungsweg der Auswanderung zumindest zum Teil zustimmen. Andererseits warnten Demographen, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor einem Mangel an Facharbeitskräften, der den deutschen Wiederaufbau gefährden könne. Die Bundesrepublik betrieb also – ein Novum in der deutschen Geschichte nach 1871 – in den Nachkriegsjahren eine aktive Auswanderungspolitik. Zugleich erschien es allerdings auch den bundesrepublikanischen Politikern am sichersten, dieses Politikfeld möglichst klein zu halten, um so wenig Auswanderung wie möglich zu ernten. Migrationspolitik blieb – trotz einer Anzahl von Äußerungen und Planungen auch in der Reihe der Bundesminister der Adenauer-Kabinette – zum großen Teil eine Domäne von Spezialisten in der Ministerialbürokratie, in kirchlichen Hilfsorganisationen sowie in wissenschaftlichen und publizistischen Zirkeln. Fast alle von ihnen hatten in den 1950er Jahren bereits lange Erfahrung auf diesem Gebiet. Einige waren in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus in der ›Reichsstelle für das Auswanderungswesen‹ tätig gewesen, andere in der NSVolkstumsforschung und Bevölkerungspolitik, und auch die kirchlichen Akteure und Auswandererberater kamen 1945 nicht jungfräulich zu diesem Themenfeld. Die bisher erschienenen Studien zur deutschen Nachkriegsauswanderung beziehen || Bereits 1946 wurden Wanderungsabkommen mit Frankreich und Belgien geschlossen, 1947 und 1948 mit Argentinien, 1951 mit Kanada und Australien. Das Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland folgte 1955. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Italien und Deutschland als Abwanderungsländer in Konkurrenz gestanden. Auch die Niederlande betrieben im Nachkriegsjahrzehnt eine aktive Abwanderungspolitik, die von den dortigen Behörden als zentrales Standbein der wirtschaftlichen Entwicklung neben dem Wiederaufbau angesehen wurde. Weit schneller als erwartet wurde indes auch im westlichen Nachbarland der Bundesrepublik Vollbeschäftigung erreicht, die ab 1954/55 sogar zu einem Arbeitskräftemangel führte. Parallel zur Bundesrepublik beschlossen Sozialministerium und Arbeitgeber in den Niederlanden 1954, systematisch die Anwerbemöglichkeiten in Italien zu erkunden. 59 Vgl. Klaus J. Bade, ›Amt der verlorenen Worte‹. Das Reichswanderungsamt 1918–1924, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 39. 1989, H. 3, S. 312–325, hier S. 313.

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aber diese besonders in der ersten Hälfte der 1950er Jahre allerorten greifbare ideellen und personellen Traditionslinien nicht in ihre Analysen ein. Generell stand die politische Beschäftigung mit der Auswanderung in den verschiedenen Staatsformen seit 1848 unter dem Primat der Furcht; der Furcht davor, durch eine offene staatliche Beschäftigung mit der Migrationsthematik eine als zu hoch empfundene, volkswirtschaftlich und bevölkerungspolitisch unerwünschte Auswanderung erst hervorzurufen. Gesetzliche Regelungen wurden oft im Gang durch die Institutionen lange verschoben; in zwei Fällen, 1897 und 1975, wurde ein seit Jahrzehnten geplantes Auswanderungsgesetz erst dann verabschiedet, als die Abwanderung sich wieder auf historischen Tiefständen befand. Eine Analogie in dieser historischen Verspätung liegt im Zeitpunkt der Verabschiedung des ersten Zuwanderungsgesetzes der Bundesrepublik im Jahr 2004 mit Inkrafttreten zum 1. Januar 2005 – exakt zu dem Zeitpunkt, da sich die Einwanderung an einem Tiefpunkt befand und die Statistiker einen negativen Migrationssaldo registrierten.60 Auswanderungspolitik wurde also größtenteils in der Negation betrieben, durch das Unterlassen staatlichen Handelns. Durch die ideelle Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik und eine personelle Kontinuität der Auswanderungsexperten von Weimar, NS-Staat und der frühen Bundesrepublik hielten sich die traditionellen Auswanderungsdiskurse des Kaiserreichs bis in die 1950er Jahre, um erst dann unter den Gegebenheiten neuer Migrationssysteme auszulaufen. Die Debatten um Auswanderung in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs waren stark von diesen Traditionen geprägt und belastet. Der Migrant der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde mit einem Blick betrachtet, der sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte.

5 Erste Schritte der deutschen Auswanderungspolitik nach 1945 Als sich am 1. März 1946 die Ministerpräsidenten der fünf norddeutschen Länder in Bremen trafen, um »im Hinblick auf die Not der Flüchtlinge, sowie auf die Übervölkerung Deutschlands«61 über Auswanderungsfragen zu sprechen, war ihre Stoßrichtung aber keine Freigabe der Auswanderung oder Aufhebung der alliierten Beschränkungen, sondern Restriktion und Kontrolle. Die Konferenzteilnehmer

|| 60 Vgl. Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Deutschland, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 141–170, hier S. 169. 61 Tätigkeitsbericht des Ständigen Sekretariats für das Auswanderungswesen im Vereinigten Wirtschaftsgebiet, Bremen, Januar 1949.

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sprachen fast ausschließlich über Möglichkeiten der Reglementierung und Verhinderung von Abwanderung, auch für die Zeit nach einer möglichen Aufhebung der alliierten Bestimmungen.62 Konkret dürfte sie das zeitgenössisch so bezeichnete ›Auswanderungsfieber‹ motiviert haben, das zu einer steigenden illegalen Auswanderung führte. Eine Reihe von ›Schwindelunternehmen‹ begann bereits, gegen Geld dubiose Tipps und eine Umgehung der alliierten Bestimmungen anzubieten.63 In Anlehnung an die Auswanderungspolitik der Weimarer Jahre64 wollten die Ländervertreter so schnell wie möglich Instrumentarien in die Hand bekommen, um Struktur, Verlauf und Zielrichtung der Auswanderung beeinflussen zu können.65 Denn Auswanderung galt als Verlustgeschäft. Auf der nächsten Tagung des Länderausschusses für das Auswanderungswesen am 4. Dezember 1946 in Hamburg wurde davon gesprochen, dass der »ins Ausland abgegebene Mensch der kostbarste Kapitalexport [sei], dem kaum greifbare Gegenwerte«66 gegenüberstünden. Die Teilnehmer waren sich einig, dass eine internationale Zusammenarbeit »bei Lenkung, Auswahl, Kontrolle und Auswertung« der Wanderungsbewegungen erreicht werden müsse, um »Substanzverlusten« entgegenzusteuern, die »wirtschaftlich und arbeitsmäßig kaum ersetzbar« wären. Ein »generelles Auswanderungsverbot mit jeweiligen Ausnahmebestimmungen« wurde zwar angedacht, dann aber eine »Genehmigungspflicht« favorisiert.67 Steinert erklärt diese »mit einem demokratischen Neuaufbau nur schwer zu vereinbarende Denkweise«68 zum Teil damit, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit mannigfache Beschränkungen und Reglementierungen im privaten Leben üblich waren – Beschränkungen des Zuzugs in ausgebombte Großstädte ebenso wie Einquartierungen von Flüchtlingen und Vertriebenen in unbeschadet gebliebenem Wohnraum. Auf der anderen Seite sah man schon in den ersten Trümmerjahren einen möglichen baldigen Aufschwung durch die Auswanderung von Arbeitskräften gefährdet. Die Diskussionen besonders der ersten Nachkriegsjahre waren also gleichermaßen von Furcht wie der Überzeugung geprägt, dass Regelungen der Migration auch auf längere Sicht dringend nötig seien. Die Grundsätze, die der Länderausschuss daraufhin beschloss, waren entsprechend stark auf Kontrolle (und zwar durch souveräne deutsche Stellen) ausgerichtet:

|| 62 Vgl. ebd., S. 27. 63 Vgl. Freund, Aufbrüche, Kap. 3.3.2: Firmen, Vereine und ihre Opfer, S. 191–201. 64 Vgl. Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005. 65 Vgl. Steinert, Migration, S. 11. 66 Tagung des Länderausschusses für das Auswanderungswesen in der britischen Zone, 4.12.1946 in Hamburg, STAHH, 131-1 II, 533. 67 Ebd. 68 Steinert, Migration, S. 27.

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»1) Auswanderung ist Reichssache, nicht Länder- oder Zonensache. 2) Staatliche Planung, Lenkung und Überwachung der Auswanderung sind erforderlich. 3) Die Aufgaben der Auswanderung sollten durch deutsche Behörden wahrgenommen werden. 4) Jede Auswanderung bedarf einer Genehmigung.«69

Als erster Schritt wurde eine zentrale Dienststelle für Auswanderungsfragen eingerichtet. Das ›Ständige Sekretariat für das Auswanderungswesen‹ nahm 1947 in Bremen seine Geschäfte auf.70 In einem 1954 gehaltenen Vortrag blickte der Bremer Senatskommissar für das Auswanderungswesen, Heinrich Maas, auf die in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschaffenen Prioritäten zurück: »An zwei Bevölkerungsgruppen hat Deutschland Überfluss: Landwirte […] und unverheiratete Frauen. Die Auswanderung dieser beiden Personengruppen unter tragbaren Bedingungen zu fördern, war unser Ziel.«71 Deutsche Auswanderungspolitiker hofften also, mit der Einführung von Kriterien wie ›erwünschter‹ und ›unerwünschter‹ Auswanderung Einfluss auf die künftige Zusammensetzung der westdeutschen Bevölkerung erlangen zu können.

6 Migrationspolitik in den ersten Jahren der Bundesrepublik Nach der Gründung der Bundesrepublik wirkten die Zielvorstellungen der ersten Nachkriegsjahre weiter. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) beantwortete eine Anfrage der südafrikanischen Regierung, die 1949 800 Bergleute für den Goldbergbau suchte, in einer Notiz an Bundesarbeitsminister Storch mit der Maxime: »Wir müssen gerade die jungen arbeitsfähigen Leute im Lande behalten.«72 Eine grundsätzliche Ablehnung der Auswanderung aber konnte sich die Bundesregierung auch diplomatisch nicht leisten. So lavierten sich die Vertreter von insgesamt acht Ministerien, die sich am 14. Januar 1950 zu einer »Besprechung betreffend grundsätzliche Fragen einer Auswanderung« im Bonner Innenministerium trafen, zu einer »mittle-

|| 69 Tagung des Länderausschusses für das Auswanderungswesen in der britischen Zone, 4.12.1946 in Hamburg, STAHH, 131-1 II, 533. 70 1951 wurde diese zentrale politische Stelle in ›Bundesstelle für das Auswanderungswesen‹ umbenannt, von 1952–1959 saß sie als ›Bundesamt für Auswanderung‹ in Koblenz, ab 1960 ist das ›Amt für Auswanderung‹ eine Abteilung des Bundesverwaltungsamtes in Köln; vgl. Vom Reichskommissar für das Auswanderungswesen zum Bundesverwaltungsamt. Staatlicher Schutz für Auswanderer seit 120 Jahren, hg.v. Bundesverwaltungsamt, Köln 1989, S. 115f. 71 Vortrag Dr. Heinrich Maas, Deutsche Auswanderung in der Nachkriegszeit, 18.1.1954 vor dem Rotary-Club Bremen, STAHB, 4,35/4-830/00/01/1, Schriftwechsel Dr. Maas. 72 Adenauer an Storch, 21.12.1949, Bundesarchiv Koblenz (BArch K), B136/8840.

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ren Lösung«73, wie es Innenminister Gustav Heinemann (CDU) ausdrückte. Die Teilnehmer waren sich weitgehend einig. Eine Genehmigungspflicht sei rechtlich nicht möglich, bemerkte der Bremer Senatskommissar Heinrich Maas. Eine Ablehnung der Auswanderung würde im Ausland nicht verstanden, betonte Oberregierungsrat Petz vom Arbeitsministerium, zudem sei mit einer Massenemigration selbst bei starkem »Auswanderungsdrang« ohnehin nicht zu rechnen, da die Aufnahmebereitschaft der Einwanderungsländer gering sei.

7 Verhandlungen mit Einwanderungsländern Mit dem steigenden Arbeitskräftebedarf im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs während des ›Koreabooms‹, änderte sich das. Ab 1950 suchten besonders die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien verstärkt Arbeitskräfte auf dem deutschen Markt. Das deutsche »restriktionistische Denken«74 musste hier zwangsläufig teilweise aufgegeben werden, wollte man die Verbündeten der nur teilsouveränen Bundesrepublik nicht vor den Kopf stoßen. Willkommen waren da Expertenurteile wie der Bericht der sogenannten ›Sonne-Kommission‹ unter Vorsitz des dänischstämmigen Wall-Street-Bankiers Hans Christian Sonne im März 1951. Die Kommission aus 15 US-amerikanischen und bundesdeutschen Sachverständigen hielt fest, dass die Auswanderung von einer Million Menschen innerhalb kurzer Zeit als humanitäres Programm schlicht zu teuer wäre. Sie setzte für Transport und Eingliederungshilfen einen Betrag von 2.500 Dollar pro Kopf an, kam also auf zehn Milliarden Dollar für einen migrationspolitischen Kraftakt, der zudem »durch den anhaltenden Zustrom vom Osten her weitgehend ausgeglichen werden«75 würde. Gänzlich gegen Auswanderungsprogramme konnte und wollte sich die Bundesregierung allerdings auch nicht stellen. Als Adenauer im April 1953 nach Washington reiste, betonten die Experten im Vertriebenenministerium und im Auswärtigen Amt ihm gegenüber zwar ein weiteres Mal, wie heikel das Thema war und dass »in einer ungeregelten Abwanderung eine erhebliche Gefährdung der Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft liegen«76 würde, dass andererseits aber Auswanderungsmöglichkeiten für rund 160.000 meist ›volksdeutsche‹ Bauernfami-

|| 73 Besprechung betreffend grundsätzliche Fragen einer Auswanderung, 14.1.1950, BArch K, B149/1470. 74 Steinert, Migration, S. 134. 75 Die Eingliederung der Flüchtlinge in die deutsche Gemeinschaft. Die Vorschläge der SonneKommission an Adenauer, 21.3.1951, BArch K, B150/1153. 76 Material (›Nur zur persönlichen Information‹) von Abt. II des Auswärtigen Amtes (AA, Dr. von Trütschler), Bonn, 31.3.1953: Aufzeichnung über das Problem der Heimatvertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge, BArch K, B150 591.

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lien gefunden werden müssten. Das Flüchtlingswanderungsprogramm der USA und die Finanzierung des 1953 konstituierten ›Intergovernmental Committee for European Migration‹ (ICEM) durch die Vereinigten Staaten weckten die Hoffnung auf weitere, ähnliche Programme. Schließlich hätten auch die USA Bedarf an landwirtschaftlichen Einwanderern, die »einer gewissen Entvölkerung des Mittleren Westens entgegenwirken«77 könnten. Mehr noch aber hatten die Einwanderungsländer Bedarf an jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften. Dieser Nachfrage war von deutscher Seite praktisch wenig entgegenzusetzen. Auf den Wanderungskonferenzen der 1950er Jahre und im Kontakt mit internationalen Organisationen versuchte die Bundesrepublik zwischen ihren eigenen Prioritäten und den Wünschen des Auslands zu lavieren. Erfolgreich war diese Taktik nur selten; auf die Einwanderungsländer und Organisationen wirkte sie unentschieden und unberechenbar. So beklagte sich der Bonner Vertreter des Internationalen Arbeitsamts (IAA), Dunand, im Juli 1951 beim Auswärtigen Amt, dass die bundesdeutschen Ministerien »eine klare Stellungnahme zum Problem der Auswanderung bisher vermieden hätten«. Seine Gesprächspartner in den Ministerien des Innern, für Arbeit und für Vertriebene hätten den Eindruck erweckt, »an Auswanderung im grossen Stile nicht interessiert« zu sein, »es aber auch vermieden, dieses Desinteressement (sic) klar zum Ausdruck zu bringen«.78 Die Bundesregierung habe jedoch kürzlich angegeben, dass 1,2 Millionen Menschen zu viel in der Bundesrepublik lebten. Er befinde sich somit gegenüber seinen Vorgesetzten beim IAA in Erklärungsnot. Resigniert habe er der Zentrale in Genf mitgeteilt, dass sich seine Tätigkeit in der »theoretischen Betrachtung des nicht vorhandenen Interesses der deutschen Bundesrepublik an der Auswanderung«79 erschöpfe. In der Auswanderungspolitik gab es (neben der Beeinflussung der Auswanderungsinteressenten durch die Beratungsstellen) nur eine Möglichkeit der Steuerung von Wanderungen: die Handhabung der unterstützten Wanderungen. Internationale Organisationen spielten in der Nachkriegszeit eine bis dahin nicht gekannte Rolle. 1952 wurde das ›Provisional Intergovernmental Committee for the Movement of Migrants from Europe‹ (PICMME) als Vorläufer des sich im folgenden Jahr konstituierenden ICEM gegründet.80 Diese Organisation existiert bis heute; 1980 änderte sie ihren Namen in IOM (›International Organization for Migration‹). Die Gründung von ICEM geschah im Geiste des ›Kalten Kriegs‹; Hauptfinanzier waren die USA, die eine von den Vereinten Nationen unabhängige, also von den Staaten des Ostblocks nicht beeinflussbare Organisation wünschten.81 ICEM war angetreten, die »ökonomische || 77 Ebd. 78 Gespräch LR Frau Dr. Lenz (Rechtsabt. AA) mit M. Dunand, Außenstelle IAA Bonn, über Auswanderungspolitik, 16.7.1951, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (PAAA) B 85, Bd. 45. 79 Ebd. 80 Vgl. Steinert, Migration, S. 100. 81 Vgl. ebd., S. 53.

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Last und […] politische Bedrohung«82 des europäischen Bevölkerungsüberschusses, der auf drei bis fünf Millionen Menschen beziffert wurde, abzubauen. Ziel war, innerhalb der westlichen Welt einen Arbeitskräfteausgleich zwischen »über- und untervölkerten« Regionen herzustellen. Die 1950er Jahre werden in der Forschung auch als Epoche des ›rationalen Bevölkerungstransfers« bezeichnet. Eine kontrollierte, an ökonomischen Kriterien orientierte Migration sollte die schädlichen »Bevölkerungsüberschüsse« in ein »wirtschaftliches Plus« verwandeln.83 Diese Problemlage wurde trotz des ›European Recovery Programs‹ (Marshallplan), das zwischen 1948 und 1952 insgesamt 16,3 Milliarden Dollar nach Westeuropa pumpte, ein Viertel davon in die Bundesrepublik, bis weit in die fünfziger Jahre hinein für akut gehalten84, so dass die Koordinationsversuche einer europäischen Migrationspolitik weiterliefen. Mit ICEM schloss die Bundesregierung 1952 einen Vertrag, über den sie die Vergabe finanzieller Unterstützung an bestimmte Auswanderer kontrollieren konnte.85 Über die Festlegung, wer dafür in Frage kam, war eine Beeinflussung im Sinne der deutschen Prioritäten möglich: »Dies war ein nicht unbedeutendes Instrument, konnten sich doch in den 1950er Jahren nur wenige Deutsche eine Passage nach Nordamerika oder Australien leisten.«86 Ledigen Männern, deren Angehörige nicht mitwanderten, wurde der Zuschuss zu den Passagekosten von den üblichen 60 auf 40 US-Dollar gesenkt.87 Ab Anfang 1957 wurde die Unterstützung durch ICEM auf die Gruppe der Empfänger von Kriegsfolgenhilfe beschränkt.88 Durch die restriktive Handhabung der Unterstützung konnten viele Auswanderungsinteressierte ihre Pläne nicht realisieren, da ihnen die Mittel für eine Überfahrt fehlten. Bis 1958 war die D-Mark nur eingeschränkt konvertibel89, Auswanderer konnten also nur einen bestimmten Betrag in Devisen umtauschen. Erst ab Mitte der 1950er Jahre überwog die Anzahl ›freier‹, also selbst bezahlter Auswanderungen, die unterstützten Passagen.

|| 82 The Work of the ICEM, in: Intégration, 1954, H. 1, S. 171–178. 83 Susanne Heim/Ulrike Schaz, Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung – Kritik einer Debatte, Berlin/Göttingen 1996, S. 97. 84 Vgl. ebd., S. 99. 85 Vgl. Steinert, Migration, S. 329. 86 Freund, Aufbrüche, S. 223. 87 Vgl. Nerger-Focke, Amerikaauswanderung, S. 102. 88 Vgl. Freund, Aufbrüche, S. 226. 89 Vgl. Knut Borchardt, Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl. Göttingen 1985, S. 73.

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8 Einziges Wanderungsabkommen mit Australien Das einzige Einwanderungsland, mit dem die Bundesrepublik ein Wanderungsabkommen abschloss, war Australien. Die USA und Kanada hatten kein Interesse, ihre Anwerbungen von bilateralen Vereinbarungen begrenzen zu lassen.90 Australien hingegen musste den Bekanntheitsvorsprung der traditionellen Zielländer deutscher Auswanderer aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert aufholen. Die hohen Reisekosten und der Anfang der 1950er Jahre noch bestehende Mangel an Schiffsraum taten ihr Übriges dazu, dass sich die australische Regierung verhandlungsbereiter zeigte als die klassischen Einwanderungsländer für Deutsche. Hinzu kamen ein besonders umfangreiches Einwanderungsprogramm und ein hoher Arbeitsbedarf in staatlichen Infrastrukturprojekten, zum Beispiel der bereits erwähnten ›Snowy Mountains Hydro Electric Authority‹ (SMA). In den Bergen des Bundesstaates New South Wales wurde 1949 mit dem Bau einer Umleitung mehrerer Flüsse durch 16 große Staudämme sowie Tunnel und Aquädukte begonnen. Australien brauchte also (möglichst qualifizierte) Arbeitskräfte, und es brauchte sie schnell. Wegen der angespannten Wohnungssituation war an die Einwanderung von Familien erst einmal nicht zu denken. Die Arbeiter der SMA waren ohnehin in Baracken – oft auch nur Zelten – im Outback untergebracht.91 In der Bundesrepublik hingegen glaubten die Auswanderungsbürokraten lange, dass Australien an einer »allgemeinen Einwanderung«92 interessiert sei. Besonders Werner Middelmann aus dem Vertriebenenministerium sah hier eine Chance, ›volksdeutsche‹ Landwirte und Landarbeitskräfte auf dem fünften Kontinent unterzubringen.93 Vereinbart wurden 1951 zunächst jedoch Anwerbungen deutscher Arbeitskräfte für die SMA und andere Unternehmen im Rahmen von so genannten ›Special Worker Projects‹. Die Vorauswahl lief über die deutschen Arbeitsämter, die Berufsprüfungen durch australische Beamte in deren Schulungswerkstätten.94 Die Unterzeichnung eines Wanderungsabkommens nach dem Vorbild des im Februar 1951

|| 90 Vgl. Steinert, Migration, S. 144. 91 Vgl. ebd., S.149 und die Beschwerde des SMA-Arbeiters Rudolf Schönwald aus Hamburg an das »Außenministerium der Deutschen Bundesrepublik«, 9.3.1952: Schönwald und sieben andere Arbeiter beklagten die unhygienischen Zustände und die Unterbringung in den Lagern der SMA. Ihnen sei versichert worden, in Baracken unterhalb der Schneegrenzen untergebracht zu werden, stattdessen bestünden die meisten Lager aus unbeheizbaren Zelten bei Wintertemperaturen unter minus 15 Grad Celsius. Schönwald und seine Kollegen verließen ihre Arbeitsplätze und wurden daraufhin von der SMA entlassen. Zwar besaßen sie eine zweijährigen Aufenthaltsgenehmigung, fühlten sich aber durch die strenge Beobachtung des Immigration Department und der Polizei, wegen derer sie von mehreren weiteren Arbeitgebern entlassen worden seien, diskriminiert. BArch K, B150/593. 92 Vgl. Steinert, Migration, S. 148. 93 Vgl. ebd. und PAAA Abt. 2 412-00 Bd. 2, Vermerk Bundesministerium für Vertriebene, 3.8.1950. 94 Vgl. Steinert, Migration, S. 150.

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unterzeichneten australischen Vertrags mit den Niederlanden rückte nun ebenfalls in greifbare Nähe. Einwanderungsminister Harold Holt lud am 3. April 1951 eine deutsche Delegation zu einem Besuch im Mai des Jahres ein.95 Doch wegen einer Wirtschaftskrise in Australien 1951/52, bei der Inflationsrate und Erwerbslosenzahlen in die Höhe schnellten, wurde die Reise um ein Jahr verschoben. Die deutschen Auswanderungs-Ministerialen Franz Wolff (Innen), Bernhard Ehmke (Arbeit), Werner Middelmann (Vertriebene) und Kurt Brunhoff (Wirtschaft) reisten vom 8. April bis 8. Juni 1952 nach Australien.96 Die Verhandlungen der Delegation über die Modalitäten des Wanderungsabkommens hatten den Charakter eines »Schachern[s] um Arbeitskräfte«97, an deren Ende ein »Koppelgeschäft«98 stand. Eine knappe Notiz von Werner Middelmann zeigt, wie weit voneinander entfernt die Verhandlungspositionen waren: »Das Interesse Australiens besteht – überspitzt ausgedrückt – darin, einen 24-jährigen, hochqualifizierten Facharbeiter ohne Familienangehörige als Einwanderer aufzunehmen; das Interesse Deutschlands dagegen empfiehlt die Auswanderung eines 50jährigen Bauern mit zahlreichen Familienangehörigen.«99 Die deutsche Kommission berichtete aus diesem Interesse heraus ausführlich über die guten Ansiedlungsmöglichkeiten für Bauern – die unerschlossenen Weiten böten »nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für die Ansiedlung von deutschen Bauern«, die in der Einsamkeit allerdings mit »ausgesprochene[m] Pioniergeist« gesegnet sein müssten.100 Gemeinschaftssiedlungen würden von den australischen Behörden zwar strikt abgelehnt; wenn sich aber ein »größerer Familienverband« von »an die Weiten ost- und südosteuropäischer Gebiete gewohnten Vertriebenenbauern« zur Siedlung ›down under‹ erschlösse, böten sich ihnen »zweifellos sehr gute Möglichkeiten«.101 In einem Lagebericht an Vertriebenenminister Lukaschek schwärmte auch Werner Middelmann von den »sehr gross[en]« Möglichkeiten für deutsche Bauern, unterschätzte die diplomatischen Schwierigkeiten dabei aber nicht: Die Australier seien eindeutig stärker an der Einwanderung von Industriearbeitern interessiert, so dass die Delegation »sehr stark kämpfen« müsse, »wenn wir eine gerechte Vertei-

|| 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. Bericht über die Reise der deutschen Studienkommission für Auswanderungsfragen nach Australien, Bonn, 17.6.1962, BArch K, B150/593. 97 Steinert, Migration, S. 154. 98 Bettina Biedermann, Eine bezahlte Passage. Die Auswanderung von Deutschen nach Australien in den 1950er Jahren, Marburg 2006, S. 138. 99 Bericht über die Reise der deutschen Studienkommission für Auswanderungsfragen nach Australien, Bonn, 17.6.1962, BArch K, B150/593. 100 Ebd. 101 Ebd.

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lung der beiden, jeweils gewünschten Einwanderer, Bauern und Arbeiter erzielen wollen«.102 Denn die Australier seien, so der Kommissionsbericht, besonders an der Einwanderung »hochqualifizierter Schlüsselkräfte« aus der Eisen- und Stahlindustrie, dem Wohnungs- und Schiffbau sowie dem Transportgewerbe interessiert, um durch Expansion der Grundindustrien mehr Arbeitsplätze für einheimische und eingewanderte gering qualifizierte Menschen zu schaffen.103 Für die vorgesehenen 8.000, von PICMME-Schiffen zu transportierenden Auswanderer für 1952 wurde schließlich eine Relation zwischen Arbeitern und mitwandernden Familienangehörigen von 46 zu 54 gefunden – für die australische Seite ein schlechtes Verhandlungsergebnis, das aber dennoch am 28. Mai 1954 von den beteiligten Bonner Ressorts abgelehnt wurde. Das Abkommen wurde von der Delegation noch nicht paraphiert. Es sollte erst beim Besuch des australischen Einwanderungsministers Harold Holt in Bonn nachverhandelt werden.104 Ein enttäuschter Mitarbeiter der australischen Migrationsverwaltung machte kurz darauf seinem Ärger über die tief sitzende Abwehrhaltung der deutschen Verhandlungspartner Luft: »This is typical of the procrastinating and half hearted attitude that we have encountered from German officials in our negotiations regarding this scheme and is a reflection of the strong element in the Government that is opposed to migration, particularly of skilled men.«105 Die endgültigen Zahlen, die am 20. August 1952 beim Besuch der australischen Delegation im Arbeitsministerium in Bonn vereinbart wurden, sahen für die zweite Jahreshälfte nur noch 4.000 Auswanderer vor; 1.000 davon waren Facharbeiter der Metallund Elektroindustrie, dazu kamen 500 Landarbeiter, 100 Hausgehilfinnen und 2.400 Familienangehörige. Jegliche Siedlungspläne für Flüchtlingsbauern waren nun gescheitert, da die Bundesregierung nicht bereit war, die Ansiedlung der meist mittellosen Familien in Australien zu finanzieren.106 Die Quoten für die Jahre 1953 und 1954 wurden dann relativ einmütig verabschiedet, die realen Auswandererzahlen wichen davon jedoch zum Teil stark nach unten ab. Gerade Facharbeitskräfte, die in Deutschland eine Stelle hatten, scheuten den nötigen Gang zum Arbeitsamt. Viele scheiterten auch an den strengen australischen Auswahlkriterien.107 Die Wanderungsvereinbarung mit Australien bot den deutschen Behörden ein Mitspracherecht, das sie gegenüber den anderen Zielländern der transkontinentalen

|| 102 Middelmann an Lukaschek, Canberra, 19.5.1952, ebd. 103 Bericht über die Reise der deutschen Studienkommission für Auswanderungsfragen nach Australien, Bonn, 17.6.1962, ebd. 104 Vgl. Steinert, Migration, S. 154f. 105 Australian Archives Canberra, Series A 445/1 Item 194/1/3, zitiert nach Biedermann, Passage, S. 149. 106 Vgl. Steinert, Migration, S. 157. 107 1952 wurde von 200 von der Münchner Arbeitsverwaltung vorausgewählten Metallarbeitern nur einer in das Programm aufgenommen; vgl. ebd., S. 159.

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Migration nicht besaß. Die Vereinbarung konnte zudem auch zu diplomatischen Zwecken genutzt werden: Als 1956 eine Verlängerung des Abkommens anstand, setzte sich das Auswärtige Amt gegen die Bedenken anderer Ressorts durch: Australien habe durch seine Einwanderungspolitik wertvolle Hilfe geleistet (hiermit konnte auch die Aufnahme der DPs nach dem Krieg gemeint sein), daher sei es politisch unmöglich, in Zeiten der Hochkonjunktur die Migration auf den fünften Kontinent zu sperren. Darüber hinaus sei eine Abwanderung von 2.000 Arbeitnehmern und 4.000 Angehörigen im Jahr »so gering, dass ihr keine große wirtschaftliche Bedeutung zukäme«.108 Wenn die Diplomatie im Vordergrund stand, konnte bei Bonner Ministerialen durchaus die Angst vor Abwanderung in den Hintergrund treten. Zeitgleich aber setzte die Bürokratie in der Arbeits- und Sozialverwaltung ihren restriktiven Kurs fort. Wer einen Mangelberuf ausübte, wurde nicht für die geförderte Auswanderung zugelassen, beklagte sich im Oktober 1956 der Leiter des australischen Auswanderungsbüros in Köln. Wer die Hürde der Arbeitsämter genommen hatte, dem konnte von den Sozialbehörden noch der Status als Kriegsfolgenhilfeempfänger streitig gemacht werden, ohne den es ab 1956 keine Zuschüsse für die Überfahrt mehr gab.109

9 Die 1950er Jahre als migrationspolitische Zeitenwende Bereits wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik begann die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren formulierte Auswanderungspolitik, so vage sie auch war, erste Risse aufzuweisen. Ein sich ab 1952 abzeichnender Arbeitskräftemangel in bestimmten Bereichen, die hohen Kosten für geförderte Auswanderung sowie ein schwelender Ressortstreit in der Bundesregierung führten zu einer Revision der Auswanderungspolitik.110 Zunehmend brach sich dabei auch die Erkenntnis Bahn, dass es sich auch um ein Definitionsproblem handelte: Die Bundesrepublik hatte es nun immer weniger mit permanenter Auswanderung und immer mehr mit verschiedenen Formen meist temporärer grenzüberschreitender Migration zu tun. Besonders die Bundesministerien für Wirtschaft und für Arbeit artikulierten nun eigene auswanderungspolitische Vorstellungen und kämpften dagegen, dass das Bundesinnenministerium (BMI) die Federführung in der Auswanderungspolitik || 108 Auswärtiges Amt, Abt. 5, an Außenminister Heinrich von Brentano zur Vorbereitung des Staatsbesuchs des australischen Premierministers Robert Gordon Menzies in Bonn, 13.7.1956, zitiert nach Biedermann, Passage, S. 166. 109 Denis Winterbottom vom australischen Auswanderungsbüro in Köln bei einer Besprechung im Bundesamt für Auswanderung, Oktober 1956, vgl. ebd., S. 169. 110 Vgl. Steinert, Migration, S. 240.

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behielt, die ihm 1950 zugefallen war. Das Wirtschaftsministerium wandte sich vor allem gegen die Auswanderung von Facharbeitskräften und wollte daher im September 1951 verhindern, dass die Bundesrepublik Mitglied des PICMME wurde.111 Falls eine Abwanderung nicht zu verhindern sei, solle sie zumindest handelspolitische Vorteile bringen: Wanderungen deutscher Facharbeitskräfte sollten an Exportaufträge gekoppelt werden, wurde 1952 gefordert. Steinert bezeichnet diese Papiere korrekt als Einzelfälle und Wunschvorstellungen112, die keine kontinuierliche Auswanderungspolitik des Wirtschaftsministeriums begründeten. Das Bundesarbeitsministerium (BMA) hingegen versuchte beharrlich und schließlich mit gewissem Erfolg einen stärkeren Einfluss auf Auswanderungsfragen auf Kosten des federführenden Innenministeriums zu bekommen. Das Kernargument, das zudem die Zeitenwende im Migrationsgeschehen verdeutlicht, lautete: Auswanderung sei nicht mehr wie in früheren Zeiten Siedlungs- oder selbstorganisierte, »spontane« Einzel- und Familienauswanderung, die »polizeilich« geregelt werden musste und daher in der Zuständigkeit des Innenministeriums fiel. Die grenzüberschreitende Migration der Nachkriegszeit sei im Gegensatz immer stärker eine »nach arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geplante und durch bilaterale oder multilaterale zwischenstaatliche Vereinbarungen geregelte Anwerbung und Wanderung von Arbeitskräften«.113 So vermerkte es das BMA im August 1952 in einer internen Aufzeichnung, die als Argumentationshilfe bei Zuständigkeitsabgrenzungen in Wanderungsangelegenheiten dienen sollte. Bereits in den Vorjahren hatte Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) bei Bundeskanzler Adenauer in diese Richtung lobbyiert: 1951 wies er darauf hin, dass bei grenzüberschreitender Migration im Unterschied zu früheren Dekaden nicht mehr bevölkerungspolitische Gesichtspunkte im Vordergrund stünden, sondern im Rahmen von internationalen Vereinbarungen bestimmte Arbeitskräfte angeworben wurden.114 Bereits nach der Genfer Wanderungskonferenz des Internationalen Arbeitsamts (IAA) im April 1950 hatte das BMA eine Verlagerung der Zuständigkeiten gefordert, auch da schon mit dem Argument, dass die internationale Auswanderungspolitik fast ausschließlich über die Wanderung von Arbeitskräften diskutiere. Storch meinte, die Arbeitsämter »könnten zur Feststellung der Auswanderer mit herangezogen werden«.115 Mit diesem »Frontalangriff auf das bisherige System der Auswandererberatung«116 konnte sich Storch allerdings nicht durchsetzen – auch, weil befürchtet || 111 Vgl. ebd., S. 242f. 112 Vgl. ebd., S. 243. 113 Aufzeichnung betr. Wanderungsfragen vom Standpunkt der ressortmäßigen Zuständigkeit, 11.8.1952, BArch K, B149/8594. 114 BMA an Bundeskanzler, 8.9.1951, zitiert nach Steinert, Migration, S. 243. 115 Sonderbesprechung über grundsätzliche Fragen der Auswanderung, 10.7.50, Vermerk BMI 15.7.50, BArch K, B106/20580. 116 Steinert, Migration, S. 140.

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wurde, dass eine Registrierung von Auswanderungswilligen auf dem Arbeitsamt der Auswanderungsoption mehr Raum geben würde – bis hin zu einer befürchteten »Auswanderungspsychose«.117 Doch die Arbeitsverwaltung gab nicht auf. Begründet wurde ihre Position auch mit den Erfahrungen, die während der Reise der deutschen Ministerialen nach Australien zu den Verhandlungen für das deutsch-australische Wanderungsabkommen gemacht wurden. Franz Wolff war für das Innenministerium hier federführend gewesen – aus Sicht des BMA war das in Anbetracht des australischen Wunsches, besonders Facharbeitskräfte anwerben zu wollen, die falsche Zuständigkeit. Der zuständige Ministerialrat im Arbeitsministerium, Bernhard Ehmke, der auch Teil der Australien-Reisegruppe gewesen war, fasste die Erfahrungen so zusammen: »Eine Einwanderung von ›Siedlern‹ in Übersee spielt heute nicht mehr die Rolle wie in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg; die wirtschaftliche Entwicklung der Überseeländer mit Hilfe besonders ausgewählter Arbeitskräfte steht im Vordergrund.«118 Das BMA beanspruchte zudem das Zeichnungsrecht bei der Unterschrift unter das Wanderungsabkommen, das schließlich »fast ausnahmslos zu einem solchen über die Anwerbung von Arbeitskräften geworden«119 sei. Ab 1952 begann der Gegenwind gegen die bis dato hauptsächlich vom Innenministerium verantwortete Auswanderungspolitik zuzunehmen. Er wehte von verschiedenen Seiten. Unterschiedliche Arbeitgeberverbände, Betriebe und die Gewerkschaften befürchteten einen negativen Effekt der Auswanderung auf den Arbeitsmarkt und nahmen eine ablehnende Haltung ein.120 Mit der 1951 gegründeten ‹Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‹ (BAVAV) trat zudem ein neuer Akteur auf den Plan, der forderte, dass die Arbeitsämter in die auswanderungspolitischen Entscheidungen und in die Auswahl der Abwandernden einbezogen werden sollten. Diese Möglichkeiten waren jedoch begrenzt, hatte schließlich nur mit Australien ein Wanderungsabkommen geschlossen werden können. Den Einfluss, den sich die deutsche Seite dort gesichert hatte, versuchte sie nun bis ins Detail auszunutzen – während die Australier gehofft hatten, dass die Auswanderungschancen für Deutsche auf »jede mögliche Weise« bekannt gemacht werden sollten, versuchten die deutschen Behörden jede Öffentlichkeit, so gut es ging, zu vermeiden. Eine Pressemitteilung zum Abkommen gab es nicht, eine Mel-

|| 117 Ebd. 118 Ehmke (Unterabteilung IIb) an Abt.leiter II, 14.7.1952, BArch K, B1498594. 119 Aufzeichnung betr. Wanderungsfragen vom Standpunkt der ressortmäßigen Zuständigkeit, 11.8.1952, BArch K, B149/8594. 120 Vgl. Steinert, Migration, S. 244 und Besprechung über Durchführung der Anwerbung und Vermittlung nach dem Ausland, Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Nürnberg, 25.8.1952, BArch K, B149/1511.

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dung des Arbeitsministers im Bulletin der Bundesregierung anlässlich des Besuchs des australischen Einwanderungsministers in Bonn sollte genügen.121 Zeitgleich nutzte die Bundesanstalt ihre Medienkontakte, um vor der Gefahr der Auswanderung für den Arbeitsmarkt zu warnen. Präsident Julius Scheuble prognostizierte in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur im August 1952 eine Erwerbslosenzahl von unter einer Million »in absehbarer Zeit«122 – am 1. Juli 1952 waren noch 1,16 Millionen Menschen erwerbslos gewesen. Es »mache sich bereits ein Facharbeitermangel in der Bundesrepublik bemerkbar«, weswegen die Bundesanstalt »nicht mehr an der Auswanderung von Fachleuten interessiert«123 sei. Neben der Arbeitsverwaltung schaltete sich auch die Legislative in die Auswanderungspolitik ein. Im März 1954 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestags, die Mittel für die Auswanderung von Kriegsfolgenhilfeempfängern für 1955 um eine Million DM, von 7,65 Millionen auf nun 6,65 Millionen, zu senken.124 Im Hintergrund mag bereits die laufende Diskussion um die Anwerbung von Arbeitskräften im Ausland eine Rolle gespielt haben – den Protokollen zu entnehmen ist vor allem der wachsende Unmut über die Auswanderungspolitik des Innenministeriums und insbesondere die gescheiterten, von einer bundeseigenen Gesellschaft verantworteten Siedlungsvorhaben in Chile.125 Diese seien »sehr teuer«126 gewesen, führte der Vertreter des Finanzministeriums aus, worauf die Abgeordneten Vogel (CDU) und Gülich (SPD) unisono »ihre nachhaltige Skepsis«127 gegen die Politik des BMI äußerten. Er habe Bedenken gegen eine »positive Auswanderungspolitik, deren wirkliche Erfolge nicht überzeugend seien«128, sagte Vogel. Die Bundesregierung wurde dazu verpflichtet, einen umfassenden, genauen Überblick über die »Auswanderungsprobleme« zu geben.

|| 121 Vgl. Besprechung über Durchführung der Anwerbung und Vermittlung nach dem Ausland, Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Nürnberg, 25.8.1952, BArch K, B149 1511. 122 Auswanderung interessiert nicht mehr, Deutsche Presse-Agentur, zitiert nach: Volksblatt Berlin-Spandau, 10.8.1952. 123 Ebd. 124 Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 25. Sitzung, 23.3.1954, Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv. 125 Vgl. ebd. und Bericht MDir Hopf (BMI) an Staatssekretär I, 23.3.1954, Sitzung Haushaltsausschuss, BArch K, B106/20580. 126 Vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 25. Sitzung, 23.3.1954, Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv und Bericht MDir Hopf (BMI) an Staatssekretär I, 23.3.1954, Sitzung Haushaltsausschuss, BArch K, B106/20580. 127 Ebd. 128 Ebd.

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Die schließlich von Franz Wolff im Innenministerium verfasste129 Denkschrift130 fasste auf 58 Seiten plus Anlagen den Stand der Auswanderungspolitik seit dem Ersten Weltkrieg zusammen und enthielt letztlich keine Konzeption für den künftigen Umgang mit Migration. Wolff wies aber auf den sich durch die Überalterung der Bevölkerung und die mögliche Wehrpflicht verschärfenden Arbeitskräftemangel hin und bezeichnet die Auswanderung von Fach- und Landarbeitskräften als »unerwünscht«.131 Generell aber könne Auswanderung als »natürlicher Teil der Bevölkerungsbewegung« nicht eingeschränkt werden. Die Bundesregierung sei daher verpflichtet, potenzielle Migranten über die Auswanderer-Beratungsstellen zu informieren. Wolff lobte deren Arbeit in der traditionellen Diktion als »Sieb, in dem völlig aussichtslose oder phantastische Auswanderungsabsichten aufgefangen werden«, verwies auf die alte Verballhornung des Reichswanderungsamts als »Reichswarnungsamt« und nannte auch die Bezeichnung der Beratungsstellen als »Abratungsstellen« als »Bestätigung für die richtige Auffassung ihrer Aufgabe«.132 Im Arbeitsministerium stieß Wolffs Denkschrift auf herbe Kritik. Dabei vermischte sich ein Streit um Zuständigkeiten mit einer, wie oben erwähnt, grundsätzlich anderen Definition von aktueller grenzüberschreitender Migration. »Dass die Auswanderung alten Stils heute kaum noch existiert, dass die Auswanderung heute auf einer Anwerbung bestimmter Arbeitskräfte beruht, kommt nicht genügend zum Ausdruck«133, kritisierte wiederum BMA-Unterabteilungsleiter Bernhard Ehmke. Ein zweijähriger Arbeitsvertrag im Ausland sei eben keine Auswanderung, sondern grenzüberschreitende Arbeitsuche. Hier aber sei das BMA zuständig, das Innenministerium habe sich nur um den »Gesichtspunkt der Bevölkerungspolitik«134 zu kümmern. In einem Schreiben an seinen Vorgesetzten kritisierte Ehmke in scharfen Worten das »niedrige Niveau« der Denkschrift, die hauptsächlich vom Gedanken getragen sei, die Zuständigkeit des BMI für die Auswanderungspolitik zu erhalten. Eine mögliche Einbindung der Arbeitsämter in die Steuerung der Migration werde nicht erwähnt, stattdessen die Notwendigkeit der Auswanderer-Beratungsstellen »in geradezu kindlicher Art begründet«.135 Die Denkschrift solle möglichst in den Akten verschwinden und in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden.136

|| 129 Vgl. Brief Franz Wolff an den ORR a.D. M. Lichter: »Inhalt der Denkschrift, der, wie Du Dir denken kannst, aus meiner Feder stammt«, BArch K, B106/9288. 130 Denkschrift des BMI über die Auswanderungspolitik, Bonn, Endfassung Januar 1955, BArch K, B106/20581. 131 Ebd., S. 57. 132 Ebd., S. 12. 133 Vermerk Ehmke, 12.11.1954, BArch K, B149/1470. 134 Ebd. 135 Ehmke an Petz, Abt.ltr. II, 5.2.1955, BArch K, B149/1470. 136 Ebd.

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Verbunden mit der Sorge um Engpässe auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt und einem wachsenden Unverständnis, dass die vermeintlich überflüssige und wirtschaftsschädliche Auswanderung mit Millionenbeträgen unterstützt wurde, verbunden auch mit einem lange schwelenden Kompetenzstreit in der Bundesregierung, wird in den Auseinandersetzungen 1954/55 eine Zeitenwende in der Wahrnehmung der Migration aus Deutschland überdeutlich: Mit einer als permanent verstandenen »Auswanderung alten Stils« würde man es nach dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem baldigen Auslaufen der Flüchtlingswanderungsprogramme nicht mehr zu tun haben, eher mit dem Beginn eines internationalen Arbeitsmarkts. Zu Zeiten des Arbeitskräftemangels gab es ›erwünschte‹ Migranten nur noch in ethnisch, national oder durch ihr Geschlecht exkludierten Gruppen: Die Auswanderung von jungen Frauen erschien wegen des bestehenden »Frauenüberschusses« noch »vertretbar«137, »erwünscht« und förderungswürdig sei die Ansiedlung von (meist ›volksdeutschen‹) Vertriebenen bäuerlicher Herkunft im Ausland, von noch in Deutschland verbliebenen DPs und »Neuflüchtlingen« aus Osteuropa, den, wie es in damals noch ungewohnter Diktion hieß, »sogenannten Asylsuchenden«.138 Im Haushaltsausschuss argumentierten die Vertreter des Innenministeriums bei der Vorstellung der Denkschrift im Februar 1955, dass Auswanderungsfragen bereits »sehr vorsichtig«139 behandelt würden und die Abwanderung von solchen Personen nicht gefördert werden könne, bei denen es sich »um Kräfte handele, auf die das Inland bei seiner Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage angewiesen«140 sei. Die Auswanderung hilfsbedürftiger Kriegsfolgenhilfeempfänger würden zwar gefördert, allerdings sei das Bundesamt für Auswanderung damit beauftragt worden, dass Facharbeitskräfte oder Menschen, die in Mangelberufen beschäftigt seien, nicht unterstützt würden.141

|| 137 Vgl. ORR Dr. Helmut Zöllner (BAVAV), Gedanken zur Festlegung einer Auswanderungspolitik der Bundesrepublik, Nürnberg, 8.2.1954, BArch K, B149/1470. 138 Wolff (BMI), Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 62. Sitzung, 17.2.1955; Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv. »Gerade sie, die aus Gebieten jenseits des Eisernen Vorhangs kämen, zeigten deutlich das Bestreben, zwischen ihren Aufenthaltsort und den Eisernen Vorhang möglichst ein Weltmeer zu legen. Die USA würden solchen Neuflüchtlingen insofern helfen, als sie durch das US-Escapee-Program Arbeitsstellen oder sonstige Existenzmöglichkeiten in anderen Ländern für diese Personenkreise suchten.« Zur Entwicklung des Grundrechts auf Asyl in der Bundesrepublik siehe den Beitrag von Patrice G. Poutrus über die Entwicklung von Asylrecht und Asylpraxis in diesem Band. 139 MDir Dr. Kitz (BMI), Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 62. Sitzung, 17.2.1955, Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv. 140 Ebd. 141 Wolff (BMI), Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 62. Sitzung, 17.2.1955, Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv.

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Diese restriktive Linie reichte allerdings nicht aus, um die Abgeordneten des Haushaltsausschusses zu beruhigen. Drei Monate später, im Mai 1955, kritisierten die Abgeordneten Gülich und Vogel ein weiteres Mal scharf die weitergehende Auswandererförderung und die Siedlungspolitik des Bundes. Die Bundesrepublik sei »mit den gewaltigen Ausgaben für die Auswanderung auf einem falschen Weg«142, meinte SPD-Mann Gülich. Für 1955 seien 34,6 Millionen DM für die Förderung verplant, das sei eine »ungeheure Summe« und »unerträglich«. Die Bundesrepublik solle nur noch bestehende Verpflichtungen übernehmen. Sein CDU-Kollege Vogel forderte, die Auswanderungsförderung für Landarbeitskräfte zu streichen, schließlich sei hier schon eine Anwerbung im Ausland für deutsche Betriebe erwogen worden. Bei jeder weiteren Förderung könne es sich »wirklich nur noch darum handeln, sich auf diejenigen Personen zu konzentrieren, deren Auswanderung aus irgendwelchen Gründen erwünscht sei«, wie zum Beispiel Asylbewerber. In einem historischen Rückblick sprach Vogel davon, dass sich Auswanderer vor 1914 schließlich auch selbst ihre Passage zusammengespart hätten. Angesichts der Arbeitsmarktlage sei es an der Zeit, den Grundsatz aufzustellen, dass der Bund kein Interesse mehr habe, »die Auswanderung bewusst zu fördern«.143 Der Einfluss des Arbeitsministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit auf die Auswanderungspolitik nahm nach dem Eklat um die Denkschrift zu, da auch im Innenministerium die Auswanderungsbürokraten alter Schule an Rückhalt verloren. In einem Gespräch zwischen Ehmke und dem BMI-Abteilungsleiter Kitz wurde letzterer erstmals darüber informiert, dass es zum Beispiel im Antragsverfahren für das US-Flüchtlingswanderungsprogramm keinen Kontakt zwischen Bundesamt für Auswanderung und den Arbeitsbehörden gebe. Kitz zeigte sich laut Aufzeichnungen des BMA »sehr bestürzt« und stimmte für die Zukunft einer »viel stärkeren Zusammenarbeit« zwischen Bundesamt für Auswanderung und Arbeitsverwaltung zu.144 Anträge auf Wanderungsunterstützung wurden daraufhin zum Beispiel für Australien-Auswanderer ab Oktober 1955 vom Bundesamt für Auswanderung nur noch genehmigt, wenn der Antragsteller keinen Mangelberuf laut einer Liste der Bundesanstalt ausübte.145 Ab Januar 1956 wurden bei Wanderungen über ICEM auch keine unverheirateten Männer unter 25 Jahren unterstützt, ab März 1956 nur noch Empfänger von Kriegsfolgenhilfe oder anderen Sozialleistungen.146 Nach 1956, als das ›Refugee-Programm‹ der USA ausgelaufen war, nahm die Zahl der auswandernden Deutschen stark ab. Auch die geförderten Wanderungen über ICEM wurden rapide weniger (1956 noch 32.672, 1957 dann nur noch 20.389, || 142 Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Haushaltsausschuss, 85. Sitzung, 11.5.1955, Deutscher Bundestag – Parlamentsarchiv. 143 Ebd. 144 Ehmke (BMA) an Abt.leiter II, 14.4.1955, BArch K, B149/1470. 145 Vgl. Steinert, Migration, S. 248. 146 Vgl. ebd.

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1958 7.428, 1959 12.999, 1960 13.828, 1961 7.252 Personen).147 Steinert bezweifelt mit Recht, dass die restriktive Haltung der bundesdeutschen Auswanderungspolitik ursächlich für den Rückgang war – Vollbeschäftigung und steigender Lebensstandard in Westdeutschland spielten sicherlich eine weit größere Rolle.148 Zu einer Zeit, da die Bundesregierung damit begann, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben, stieß es zunehmend auf Unverständnis, gleichzeitig die Auswanderung zu subventionieren. Das bedeutete aber zugleich den fast kompletten Verzicht auf das Feld der Auswanderungspolitik – eine Steuerung der Migration aus Deutschland (außer im sehr begrenzten Rahmen über die Beratungsstellen) war nun erst recht nicht mehr möglich. Da Ministerien und Behörden sich bemühten, auch gegenüber der Presse kaum noch – sei es steuernd oder warnend – das Auswanderungsthema anzuschneiden149, wurde für längere Zeit kaum noch über die Migration aus Deutschland geredet oder publiziert.

10 Fazit Der Bundesregierung standen nur limitierte Mittel zum Versuch einer Kontrolle und Steuerung der Auswanderung zur Verfügung. Mit den Hauptzielländern USA und Kanada konnten keine Wanderungsabkommen geschlossen werden, gesetzliche Restriktionen waren wegen der Auswanderungsfreiheit nicht denkbar. Restriktiv aber handhabte die Bundesregierung die Möglichkeiten finanzieller Unterstützung für Auswanderer; ledige Männer wurden von Anfang an geringer unterstützt als Familien, im Laufe der 1950er Jahre wurde die Gruppe der Auswanderungsinteressierten, die Unterstützung bekommen konnten, kontinuierlich verkleinert. Obwohl keine Zahlen vorliegen, wie viele Wanderungswillige von ihrem Vorhaben Abstand nahmen, weil sie die Reisekosten nicht tragen konnten, geht Freund davon aus, dass die »restriktive Finanzierung […] sicherlich vielen Deutschen eine Auswanderung unmöglich gemacht« hat und sich zudem die traditionelle Hoffnung der Wanderungspolitiker erfüllt habe, dass die Beratungsstellen »nicht wenige in ihrer Entscheidung Schwankende« von einer Abwanderung abgebracht hätten.150 Dennoch erwies sich die tradierte deutsche Vorstellung von Verhinder- und Steuerbarkeit von Migration auch in der Nachkriegsauswanderung als illusionär. Der ›Steuerungsverlust‹ wirkte sich zugunsten der Einwanderungsländer aus, die ihre Anwerbepolitik

|| 147 Vgl. ebd., Tabelle S. 249. 148 Vgl. ebd., S. 250. 149 Vgl. ebd., S. 250f. 150 Alexander Freund, Die letzte Phase des industriellen nordatlantischen Migrationssystems: Das Beispiel der deutsch-kanadischen Arbeitswanderung in den 1950er Jahren, in: German Canadian Yearbook, 17. 2002, S. 1–36, hier S. 9.

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in den späten 1940er beziehungsweise frühen 1950er Jahren auf multilateraler und bilateraler Ebene durchsetzen konnten. In den Folgejahren ließ dann das westdeutsche ›Wirtschaftswunder‹ Befürchtungen vor einer gefährlichen ›Übervölkerung‹ und einer Radikalisierung der Flüchtlinge und Vertriebenen Makulatur werden. Stattdessen intensivierte sich eine Diskussion um die für die Wirtschaft und den Wiederaufbau schädliche Abwanderung von Facharbeitskräften. In Politik und Presse wurde davor gewarnt, dass abgeworbene Fachkräfte die Konkurrenz im Ausland stärkten und die deutsche Exportwirtschaft gefährden würden, und die Warnung vor einem Facharbeitskräftemangel in der Industrie des Wiederaufbaus geronn zum vielfach zitierten Topos, auch als Hunderttausende Fachkräfte aus der DDR in die ›Wirtschaftswunder‹Bundesrepublik strömten. Ab 1952/53 begann die migrationspolitische Umbruchszeit in der Bundesrepublik: Die Wanderung aus Deutschland veränderte sich, so dass sie mit den überkommenen politischen Rezepten und veröffentlichten Vorstellungen immer weniger zu greifen war. Zwar funktionierten bei der überseeischen Abwanderung die Kettenwanderungssysteme noch wie in der Zwischenkriegszeit, zwar wussten die meisten Migranten nach wie vor wenig von ihrem Zielland, doch die überkommene Vorstellung von permanenter Auswanderung war der meist als temporär verstandenen Wanderung gewichen. Zudem begann der innereuropäische Arbeitsmarkt nicht nur für Migranten mit Ziel Deutschland, sondern auch für eine temporäre Qualifikationsmigration aus der Bundesrepublik eine Rolle zu spielen. Die dargestellten, schon in der ersten Hälfte der 1950er Jahre beginnenden Konflikte zwischen Innenund Arbeitsverwaltung über die Migrationspolitik, jenes »ressortübergreifende Objekt par excellence«151, haben hier ihren Hintergrund. Sie können auch als Vorläufer und Begleiterscheinungen der zur gleichen Zeit beginnenden Anwerbepolitik angesehen werden.

|| 151 Paul-André Rosental/Caroline Douki/David Feldman: Gibt es nationale Migrationspolitik? Über einige Lehren aus den zwanziger Jahren, in: Rudolf von Thadden u.a. (Hg.), Europa der Zugehörigkeiten. Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung, Göttingen 2007, S. 69–78, hier S. 74.

Frank Wolff

Deutsch-deutsche Migrationsverhältnisse: Strategien staatlicher Regulierung 1945–1989 Nichts brachte den SED-Staat derart anhaltend in Bedrängnis wie die Abwanderung seiner Staatsbürger. Während die Oppositionsbewegung der 1980er Jahre den weithin sichtbaren Höhepunkt des Dissenses darstellte, bedrohte die wellenförmig verlaufende Unterhöhlung des Staatswesens durch Auswanderung dauerhaft die Existenz der DDR. Über Jahrzehnte konnte die Staatsführung die Abwanderung nur durch eine Kombination aus flexiblen und langfristigen Zwangsmaßnahmen eindämmen. Die Militarisierung der innerdeutschen Grenze, die Aufrüstung der Staatssicherheit, die sich wandelnde Propaganda, die zahlreichen Strafgesetze gegen illegales Verlassen der DDR, unzählige Geheimverordnungen und freilich überhaupt die Errichtung der Mauer bilden davon nur die bekanntesten Elemente. Die Relevanz des Themas für die Geschichte der DDR liegt darin, dass das Scheitern dieser Maßnahmen 1989 direkt den Einsturz des gesamten Gebildes des SED-Staates herbeiführte. Die Bundesrepublik war hierbei jedoch kein passiver Gegenpart. Die in Bonn entworfene und sich stark wandelnde Aufnahmepolitik, das verfassungshoheitlich verankerte Wiedervereinigungsgebot nebst Sorgfaltspflicht für alle Deutschen1, der Aufbau einer nach Osten gerichteten Medien- und Kommunikationsstruktur, der verheimlichte Freikauf von Häftlingen und das Offenhalten der ›BerlinFrage‹ waren Bestandteile einer von der Bundesrepublik gestalteten Migrationspolitik. Obwohl sich die große Mehrzahl der Migranten zwischen der DDR und der Bundesrepublik von Ost nach West bewegte und nur ein Staat dadurch existentiell bedroht war, wirkten beide Seiten auf die Regulation und damit auf die Bewegung ein. Beide Staaten befanden sich, wie Christoph Kleßmann festhält, in einer »asymmetrischen Verflechtung«.2 Während in der Bundesrepublik vor allem die Aufnah-

|| 1 Das verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot und die Sorgfaltspflicht für Deutsche (einschließlich der Bewohner der DDR) beeinflussten die Migrationspolitik dauerhaft, von der Begründung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen bzw. des Bundministeriums für innerdeutsche Beziehungen (BMG/BIB) für seinen Einsatz für Ausreisende und Besucher bis zu Fragen der Staatangehörigkeit und ungeachtet der rechtlichen Änderungen im SED-Staat oder der staatsrechtlichen Anerkennung der DDR durch den Grundlagenvertrag. Siehe z.B. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag, 31. Juli 1973, BVerfGE 36, 1; Dieter Blumenwitz, Die deutsche Staatsangehörigkeit und der deutsche Staat: BVerfG, NJW 1988, 1313, in: Juristische Schulung, 28. 1988, Nr. 8, S. 607–613; Ingo von Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Berlin 2007, S. 104f. 2 Christoph Kleßmann, Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2005, Nr. 18/19, S. 3–11; ders., Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders./Peter Lautzas (Hg.), Teilung und Integration.

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mepolitik variierte und eine erregte Öffentlichkeit Migrationswillige in der DDR als Ausdruck des gesamten Systems deutete, legte der SED-Staat seine Hauptbemühungen auf die Verhinderung von Abwanderung und die straffe Kontrolle der Einwanderung. Gerade weil sich die Politiken deutlich widersprachen, waren sie auch aneinander ausgerichtet und zudem in europäische und globale Prozesse eingebettet. Auf der Basis eines ausgezeichneten Forschungsstands zu zahlreichen Einzelaspekten der jeweiligen Seite entwickeln sich derzeit Perspektiven, die die Interdependenz beider Staaten betrachten.3 Eine derartige Verflechtungsgeschichte schwebt für die Migrationsgeschichte eher noch im Raume. Erst wenige neuere Arbeiten deuten an, inwieweit dadurch die bislang dominante Fokussierung auf zentrale Aspekte der Verfolgung, des Widerstandsgehaltes der Ausreise oder der bundesdeutschen Aufnahmepraxis überwunden werden kann.4 Eine größere Zahl jüngerer Arbeiten zur deutschen Geschichte ist zwar einer solchen Verflechtungsgeschichte verpflichtet, jedoch zumeist ohne spezifischen Migrationsbezug. Am Pointiertesten argumentieren hierbei Studien der Border Studies, für die die deutsch-deutsche Lage einen besonders spannenden Fall darstellt. Sowohl theoretisch als auch empirisch führt er vor Augen, wie sehr selbst in derart streng kontrollierten Grenzregionen nationalpolitische Rahmungen mit grenzüberschreitenden kulturellen Aspekten verschränkt sind.5 Eine solche Perspektive kann auch die deutsch-deutsche Migrationsgeschichte entscheidend erweitern, die sich mit jeweils nationalem Fokus derzeit gesteigerter Aufmerksamkeit erfreut. Dies schließt auf der bundesdeutschen Seite vor allem an eine längere Tradition der Erforschung von Emigrationsmotiven von Ausreisenden und deren Inte-

|| Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Phänomen, Schwalbach i.Ts. 2006, S. 20–37. 3 Siehe v.a. Tobias Hochscherf/Christoph Laucht/Andrew Plowman (Hg.), Divided, But Not Disconnected: German Experiences of the Cold War, London 2010. 4 Siehe v.a. Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005; Manfred Gehrmann, Die Überwindung des ›Eisernen Vorhangs‹: Die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk, Berlin 2009. 5 Siehe v.a. Astrid M. Eckert, »Greetings from the Zonal Border«: Tourism to the Iron Curtain in West Germany, in: Zeithistorische Forschungen, 8. 2011, http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Eckert-1-2011; Sagi Schaeffer, Re-Creation: Iron Curtain Tourism and the Production of ›East‹ and ›West‹ in Cold War Germany, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 40. 2012, S. 116–131; Astrid M. Eckert, Geteilt, aber nicht unverbunden: Grenzgewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 62. 2014, Nr. 1, S. 69–100; Thomas Lindenberger, Diktatur der Grenze(n): Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde, in: Hans-Hermann Hertle/Konrad Jarausch/Christoph Kleßmann (Hg.), Mauerbau und Mauerfall: Ursachen, Verlauf, Auswirkungen, Berlin 2002, S. 203–213; Edith Sheffer, Burned Bridge: How East and West Germans Made the Iron Curtain, Oxford 2011.

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grationserfolge an6, ergänzt um Studien zu Einzelaspekten der bundesdeutschen Rechtslage.7 Von besonderem Interesse ist hierbei schon länger der skandalumwitterte ›Freikauf‹ von politischen Gefangenen durch die Bundesregierung, der lange Zeit primär wegen seines Sensationsgehaltes interessierte.8 Erst jüngst setzte hierzu eine intensive und wissenschaftliche Erforschung ein, die zugleich das Potenzial einer verflochtenen Perspektive verdeutlicht.9 Auf Seiten der Forschung zur DDR dominieren auf die Staatssicherheit (MfS) fokussierte Analysen das Feld, dem derzeit andere repressive Akteure zur Seite gestellt werden. Kaum erweitert wird dies bislang jedoch auf die Ministerien des SEDStaates, allen voran dem MdI.10 Lange Zeit wurden so die Geschichte der Staatssicherheit und die der DDR-Gesellschaft eher nebeneinander als ineinander verwoben geschrieben.11 Als Erklärung der Ausreise diente zudem das irreführende, weil allein auf eine besondere Konstellation der späten 1980er fokussierte, soziologische Modell der US-amerikanischen Exit/Voice-Theorie, die unzufriedenen Bürgern der DDR attestierte, ab einem gewissen Punkt allein vor der Wahl zwischen Ausreise (Exit)

|| 6 Karl Schumann (Hg.), Private Wege der Wiedervereinigung. Die deutsche Ost-West-Migration vor der Wende, Weinheim 1996; Karl-Heinz Baum, Die Integration von Flüchtlingen und Übersiedlern in die Bundesrepublik Deutschland, in: Materialien der Enquete-Kommission ›Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit‹, Bd. VIII/1, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1999, S. 511–706; Frank Hoffmann, Junge Zuwanderer in Westdeutschland. Struktur, Aufnahme und Integration junger Flüchtlinge aus der SBZ und der DDR in Westdeutschland (1945–1961), Frankfurt a.M. 1999. 7 Vor allem: Volker Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961, Osnabrück 1995; Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994; Joon-Young Hur, Die Integration ostdeutscher Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland durch Beruf und Qualifikation, Frankfurt a.M. 2011. 8 Siehe z.B. Thomas von Lindheim, Bezahlte Freiheit: Der Häftlingsfreikauf zwischen beiden deutschen Staaten, Baden-Baden 2011; Wolfgang Brinkschulte/Hans Jörgen Gerlach/Thomas Heise, Freikaufgewinnler: Die Mitverdiener im Westen, Frankfurt a.M./Berlin 1993; Michel Meyer, Freikauf: Menschenhandel in Deutschland, Wien/Hamburg 1978. 9 Jan Philipp Wölbern, Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1961/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitärer Aktion, Göttingen 2014; Bernd Eisenfeld, Der Freikauf politischer Häftlinge, in: Günter Buchstab (Hg.), Repression und Haft in der SED-Diktatur und die ›gekaufte Freiheit‹: Dokumentation des 14. Buchenwald-Gesprächs vom 22. bis 23. November 2004 in Berlin zum Thema ›Häftlingsfreikauf‹, Sankt Augustin 2005, S. 11–35. 10 Siehe die grundlegende Kritik am Forschungsstand in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013; eine wichtige Ausnahme, die jedoch Migrationsthemen nur begrenzt Beachtung schenkt: Thomas Lindenberger, Volkspolizei: Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln 2003. 11 Siehe die zögerlichen Annäherungen in: Jens Gieseke, Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag, in: ders. (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 7–22.

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und Widerstand (Voice) gestanden zu haben.12 In Deutschland resultierte daraus eine langlebige Debatte über den Widerstandsgehalt der Ausreise.13 Wie jüngere Mikrostudien jedoch eindrücklich belegen, argumentiert dieses rein postfaktische Erklärungsmodell am Charakter und den Entscheidungen der Ausreisenden vorbei.14 Derzeit bewegt sich das Interesse damit weg von dieser vereinfachenden Polarität und ergründet den Zusammenhang zwischen Ausreise, Widerstand und Unterdrückung weniger als ein struktur-, sondern vielmehr als ein alltagsgeschichtliches Problem, in dem sich trotz aller Asymmetrie Handlungsräume für alle Beteiligten ergaben.15 Die auf die Enthüllung der Praktiken der Staatssicherheit fokussierende Forschung hat entscheidende Einblicke in die Funktionsweise des Unterdrückungsapparates offenbart. Wie jüngst von Ilko-Sascha Kowalczuk prominent dargelegt, entstand dadurch aber eine Überfokussierung auf das MfS, ohne genauer nach dessen sozialer Prägung beispielsweise durch Generationen und Verflechtungen zu fragen.16 Wie alltäglich waren die Maximalsanktionen und -maßnahmen der Staatssicherheit? Wie aussagekräftig ihre Statistiken über ihr eigenes Handeln? Waren die bekannt gewordenen harten Verfolgungsmaßnahmen einzelner Personen Ausnahmen, Ausdrücke oder Alltäglichkeiten des Systems? Zu leicht werden »Allmachtsphantasien der kommunistischen Funktionäre für bare Münze« genommen, wobei Machbarkeiten ebenso wie komplexere gesellschaftliche Dynamiken zwischen Be-

|| 12 Albert Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte, in: Leviathan, 20. 1992, S. 330–358; Rogers Brubaker, Frontier Theses: Exit, Voice, and Loyalty in East Germany, in: Migration, 18. 1990, S. 12– 17; Christian Joppke, Why Leipzig? ›Exit‹ and ›Voice‹ in the East German Revolution, in: German Politics, 2. 1993, S. 393–414; Steven Pfaff/Hyojoung Kim, Exit-Voice Dynamics in Collective Action: An Analysis of Emigration and Protest in the East German Revolution, in: American Journal of Sociology, 109. 2003, Nr. 2, S. 401–444. 13 Siehe v.a. Bernd Eisenfeld, Die Ausreisebewegung. Eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens, in: Ulrike Poppe/Rainer Eckert/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995, S. 192– 223; Johannes Raschka, Die Ausreisebewegung – Eine Form von Widerstand gegen das SED-Regime, in: Ulrich Baumann/Helmut Kury (Hg.), Politisch motivierte Verfolgung. Opfer von SED-Unrecht, Freiburg i.Br. 1998, S. 257–274; Wolfgang Mayer, Flucht und Ausreise: Botschaftsbesetzungen als wirksame Form des Widerstands und Mittel gegen die politische Verfolgung in der DDR, Berlin 2002; der politisch-ökonomische Ursprung der Theorie geriet dabei geflissentlich in den Hintergrund, siehe Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, MA 1970. 14 Siehe v.a. jüngst Renate Hürtgen, Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz, Göttingen 2014, S. 11–12 , 30, 79. 15 Elke Stadelmann-Wenz, Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR: Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära, Paderborn 2009; Hürtgen, Ausreise per Antrag. 16 Kowalczuk, Stasi konkret, S. 17–19.

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völkerung und Unterdrückungsapparat leicht in den Hintergrund geraten.17 Die Migrationsforschung kann hier aufgrund der intensiv diskutierten Kluft zwischen Normativen und Wanderungsbewegung relativierend wirken.18 Die deutschdeutsche Wanderung wird in der Forschung zunehmend als dynamisch porträtiert, wohingegen staatliche Aktionen und Reaktionen oft als linear verlaufend und als geteilt in zwei Epochen verstanden werden. Die erste ist gekennzeichnet von der massenhaften ›Republikflucht‹ und die zweite von den zahlreichen Versuchen der Rückdrängung der Ausreiseanträge nach dem Mauerbau, jedoch mit einem fast ausschließlichen Fokus auf die Jahre nach 1975.19 Besonders die 1960er Jahre bleiben dabei unterbelichtet.20 Der folgende Beitrag setzt sich darum zum Ziel, die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte zwischen Weltkriegsende und Mauerfall als Gegenstand einer modernen Migrationsgeschichte zu erkunden.21 Wohl wissend, dass dies nur ein Anfang der Analyse eines internationalen Migrationsregimes sein kann, werden ›Republikflucht‹ und Ausreise damit nicht nur aus DDR-historischer Sicht erkundet, sondern als Gegenstand von Zweistaatlichkeit und die multikausalen Wechselbedingungen, um dabei sowohl Langzeiteffekte als auch situative Veränderungen von beiden

|| 17 Dieter Segert, Repression und soziale Klassen: Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der politischen Macht im Staatssozialismus, in: Christiane Brenner/Peter Heumos (Hg.), Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung: Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR, 1948–1968, München 2005, S. 307–317, hier S. 311. 18 Für eine aktuelle Reflexion siehe Antonia Scholz, Migrationspolitik zwischen moralischem Anspruch und strategischem Kalkül. Der Einfluss politischer Ideen in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2012, S. 31–42. 19 Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz (Hg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger: Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992; HansHermann Lochen, Die geheimgehaltenen Bestimmungen über das Ausreiseverfahren als Ausdruck staatlicher Willkür, in: Ausreisen oder dableiben? Regulierungsstrategien der Staatssicherheit, hg.v. Bundesauftragten für die Stasi-Unterlagen (BstU), Berlin 1997, S. 19–28; Henrik Bispinck, ›Republikflucht‹. Flucht und Ausreise als Problem der DDR-Führung, in: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz/ Hermann Wentker (Hg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003, S. 285–309. 20 Einen guten Einblick gibt hier eine Studie, die sich primär mit Jugend- und Widerstandskulturen beschäftigt: Stadelmann-Wenz, Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR, S. 64–74, 212–214. 21 Zu Ansprüchen und Methoden siehe Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, in: Ernst Hinrichs/Henk van Zon (Hg.), Bevölkerungsgeschichte im Vergleich. Studien zu den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Aurich 1988, S. 63–74; Jan Lucassen/Leo Lucassen, Alte Paradigmen und neue Perspektiven in der Migrationsgeschichte, in: Mathias Beer/Dittmar Dahlmann (Hg.), Über die trockene Grenze und Über das offene Meer: Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im Vergleich, Essen 2004, S. 17–44; Christiane Harzig/Dirk Hoerder, What is Migration History?, Cambridge 2009.

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gesellschaftlichen Enden her erfassen zu können.22 Nach einem knappen Überblick über den Umfang der Migrationsbewegungen werden fünf verschiedene Zeitabschnitte deutsch-deutscher Migrationsgeschichte identifiziert und charakterisiert. Durch den Schwerpunkt auf generelle Entwicklungen treten dabei jedoch spezifische Episoden oder umfassende Kontextanalysen aufgrund der gebotenen Kürze zurück.23

1 Die Dynamik der Migrationsbewegungen Aufgrund der Heterogenität von Wanderungsprozessen und der eigenen Dynamiken unterliegenden Registrierung sind Migrationsverhältnisse prinzipiell nur eingeschränkt zuverlässig zu quantifizieren.24 Grob sind für den vorliegenden Fall dabei zwei Phasen (vor und nach dem Bau der Mauer) und drei Territorien zu unterscheiden, das Territorium der DDR und das Bundesgebiet, für das teilweise Zahlen mit und ohne West-Berlin vorliegen. Die zahlreichen Quantifizierungen spiegeln in Ost und West die Migrationsbewegungen durch die Linse ihres institutionellen Auftrages. Dieser definierte die statistischen Kategorien aber im jeweiligen Staatsinteresse. So wurde je nach Zeitschicht beispielsweise unterschiedlich konstruiert, welcher Auswanderer im Westen als legal ausgereist, als ›politisch Verfolgter‹ oder als ›Wirtschaftsflüchtling‹ galt. Dies ging einerseits mit sehr unterschiedlichen politischen Aussagen im Systemkonflikt einher, andererseits suchten Migranten in dem Prozess jeweils in die für sie beste Kategorie zu kommen. Ebenso definierte der SED-Staat am Schreibtisch und postfaktisch, ab wann eine überzogene Besuchsreise oder das Verschwinden im Auslandsurlaub als ›Republikflucht‹ galt. Zudem sorgten engere oder weitere Definitionen von Familie zu Differenzen zwischen SED-Staat, Bundesrepublik und Ausreisewilligen. Zur Debatte stand, bis zu welchem Verwandtschaftsgrad eine sogenannte Familienzusammenführung vorlag. Die Staaten ope-

|| 22 Dahingehend grundlegend: Martin Sabrow, Historisierung der Zweistaatlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, Nr. 3, S. 19–24; weiterführende Ansätze kommen nicht aus der Migrationsgeschichte, thematisieren diese aber durchgängig, siehe Anja Mihr, Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi, Berlin 2002; Anja Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung, München 2012. 23 Siehe hierzu v.a. Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955– 1970, 2. Aufl. Bonn 1997; Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1991, München 2004; HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008; Hermann Weber, Die DDR 1945–1990, 5. Aufl. München 2012; Klaus Schroeder, Der SED-Staat: Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, 3. Ausg. Köln 2013. 24 Richard E. Bilsborrow, International Migration Statistics: Guidelines for Improving Data Collection Systems, Genf 1997, S. 1–8.

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rierten damit mit Kategorisierungen die zu Statistiken führten, die nicht nur lückenhaft waren, weil beide Seiten keine Informationen austauschten. Sie wurden prinzipiell aus übergeordneten politischen Zwecken erhoben, da die Migrationsbewegung als ein entscheidendes Argument im ›Kalten Krieg‹ fungierte.25 Beide Staaten unterschieden sich dabei aber freilich grundlegend, da solche Erhebungen in der Bundesrepublik der Selbstdarstellung und der ›Entlarvung des Gegners‹ dienten, im SED-Staat aber aufgrund des dominanten Sicherheitsdenkens Verfolgung und Ausgrenzung inspirierten und legitimierten. Der SED-Staat hielt ab Mitte 1950 aus politischen Gründen die Abwanderung fest, um per Statistik die Bedrohung durch Abwanderung zu verdeutlichen.26 Hierbei sind Erhebungsmodi und die Verlässlichkeit der Zahlen jedoch großenteils unklar. Der SED-Staat illegalisierte die Abwanderung, weswegen sich die ›Republikflucht‹ gerade dadurch auszeichnete, dass die Auswanderer sich dem Blick des Staates entzogen. ›Republikflucht‹ konnte also immer nur unzuverlässig, meist durch sogenannte ›Fehlanzeigen‹ am Arbeitsplatz, festgehalten werden, wohingegen die Gründe für das Fernbleiben Gegenstand langwieriger Ermittlungen sein konnten. Die Angaben weichen darüber hinaus stark von der Zahl derjenigen ab, die in der Bundesrepublik (ab 1952 inklusive West-Berlin) im Notaufnahmeverfahren registriert wurden. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten greifen auf diese Zahlen zurück, da Jahresangaben lückenlos vorliegen, jedoch spiegeln sie aufgrund der später genauer beschriebenen Funktion und Ausrichtung des Notaufnahmeverfahrens nur einen Teil der Bewegung wider.27 Die bundesdeutsche Statistik kann darum durch die vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellten Meldezahlen ergänzt werden. Diese bieten einen geeigneten Annäherungswert an das faktische Migrationsgeschehen, ohne jedoch mehr als reine Bewegungsdaten abbilden zu können. Sie wurden für das seit 1950 erscheinende Jahrbuch des Amtes auf der Basis von Ab- und Ummeldungen des Wohnsitzes erstellt, wobei zu beachten ist, dass Angaben zu West-Berlin und zum Saargebiet zum Teil fehlten und dass auch hier

|| 25 Eine Behörde kann darum in einem derart aufgeladenen und stets mit Entscheidungen einhergehenden Politikfeld keine »Querschnittsfunktion« für eine wissenschaftliche Analyse erfüllen. So behauptet in: Jenny Pleinen, Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012, S. 16f.; für weiterführende Problematisierungen siehe Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: ders., Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 308– 387; Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen: Ein Bericht, Graz 1986; Ben Kafka, The Demon of Writing: Powers and Failures of Paperwork, New York 2012. 26 Für 1950–1961 siehe Damian Melis, ›Republikflucht‹: Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961, München 2006, S. 255–259. 27 Siehe z.B. Hartmut Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen – Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv, 24. 1991, S. 386–395, hier S. 390; Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling, S. 288–291.

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eine Dunkelziffer an Nichtregistrierten besteht.28 Jeder erfasste Fall beruhte auf einen Meldevorgang, weswegen sich Mehrfachbewegungen einer Person auch in mehrfachen Registrierungen niederschlugen. Gerade in der Zeit der Massenmigration vor dem Bau der Mauer und ganz besonders vor der innerdeutschen Grenzziehung 1952 wechselten Menschen aber häufiger von Ost nach West und zurück. Mehrfachbewegungen waren ein wesentlicher Charakterzug des deutsch-deutschen Migrationsverhältnisses, obwohl sie aufgrund der steten Erhöhung der politischen, ökonomischen und sozialen Kosten des Migrationsvorganges tendenziell abnahmen. Zahlenwerte sind darum immer nur als Annäherungen zu verstehen, wobei Feinheiten der Bewegungsgeschichte ebenso wie die Prozesse, in denen sie registriert wurden, noch weiterer Forschung bedürfen.

350 300 250 200 150 100 50 0 1945* 1946* 1947* 1948* 1949* 1950† 1951† 1952† 1953†* 1954†* 1955†* 1956†* 1957* 1958* 1959* 1960* 1961 Notaufnahme

Aus Bundesgebiet

Nach Bundesgebiet

Aus Bundesgebiet ohne West-Berlin

Nach Bundesgebiet ohne West-Berlin

Schaubild 1: In den Westzonen bzw. im Bundesgebiet registrierte deutsch-deutsche Migration 1945–1961. (*) ohne West-Berlin, (†) ohne das Saargebiet. Zahlen (in Tausend) aus: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1963; außer 1945–1949 nach: Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994, S. 486; Zahlen zur Notaufnahme aus: Bestandsaufnahme der Eingliederungshilfen von Bund und Ländern für Aussiedler und für Zuwanderer aus der DDR und Berlin (Ost). Mit einer Analyse des Bedarfs, hg.v. Bundesminister des Innern, Bonn 1988, S. 3.

|| 28 Diese Inkonsistenz der Zahlen führt oft zu vereinfachenden Auflistungen, siehe z.B. Helge Heidemeyer, Deutsche Flüchtlinge und Zuwanderer aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR in den westlichen Besatzungszonen bzw. in der Bundesrepublik Deutschland, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Paderborn 2008, S. 485–488, hier S. 486.

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Wohlbekannt ist die hohe Zahl der Abwanderer aus der SBZ/DDR vor dem Bau der Mauer, die sich wellenhaft immer wieder zuspitzte. Hier fehlten dem Statistischen Bundesamt für einige Jahre vor allem die West-Berliner Zahlen, wohingegen ab 1952 die Angaben zur Notaufnahme West-Berlin mit beinhalteten. Die entsprechenden Jahreswerte der Gesamtwanderung dürften also teilweise deutlich über den Werten für das Notaufnahmeverfahren gelegen haben, welches aufgrund der damals noch sehr hohen Hürden ohnehin nur eine begrenzte Zahl der Zuwanderer aus der SBZ/DDR erfolgreich durchliefen. Hält man die Zuwanderung gegen die Abwanderung erlebte der SED-Staat vor dem Mauerbau eine jährliche Netto-Abwanderung von zwischen 150.000 und 300.000 Personen, er blutete aus. Mitte 1961 steuerte diese Abwanderung auf einen neuen Höchstwert zu, aber nur wenige Beobachter wie der amerikanische Senator J. William Fulbright fragten sich, »why the East Germans don‘t just close their border«.29 Just zu diesem Zeitpunkt hatte der Vorsitzende des Zentralkomitees der SED Walter Ulbricht dem Vorsitzenden der KPdSU Nikita Chruschtschow die Genehmigung genau dazu abgerungen und ein kleiner Stab um Erich Honecker plante bereits die Umsetzung.30 Im Ringen um nationale Souveranität konnte Ulbricht die Markierung und folgende Befestigung der innerdeutschen Grenze ab 1952 als einen territorialen Erfolg verbuchen, wohingegen der Mauerbau jedoch die Schwäche des SED-Staates bloßstellte. Es wurde international zum einen als Gewaltakt wahrgenommen und zum anderen als Eingeständnis des Scheiterns angesichts der innerdeutschen ›Abstimmung mit den Füßen‹.31 Aus migrationshistorischer Sicht aber vollendete der Mauerbau am 13. August 1961, was die ab 1952 zunehmend befestigte innerdeutsche Grenze nur vorbereitete – den Versuch, jedwede Bewegung zwischen beiden Deutschlands der Kontrolle der SED und ihrer Organe zu unterwerfen. Da das Statistische Jahrbuch nur den Gesamtjahreswert 1961 wiedergibt, verdeutlicht erst die Statistik der Notaufnahme den dramatischen Anstieg der Abwanderung. Bis zum 12. August 1961 näherte sich die Abwanderung gen Westen mit 155.402 Fällen bereits der Gesamtwert des Vorjahres (199.188) an. Der Jahresendmarke lag mit 207.026 zwar über dem Wert von 1960, aber sicherlich weit unter der ohne die Mauer zu erwartenden Zahl. Zudem wurde die Durchlässigkeit der Mauer und aller anderer Grenzen der DDR in den Folgemonaten weiter verringert, sodass diese Gewaltmaßnahme in der Tat vorerst das Überleben des SED-Staats sicherte.32 || 29 Zitiert in Lawrence Freedman, Kennedy’s Wars: Berlin, Cuba, Laos, and Vietnam, Oxford 2000, S. 75. 30 Matthias Uhl/Armin Wagner, Einleitung: Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer, in: dies. (Hg.), Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation, München 2010, S. 9–58. 31 Michael Kubina, Ulbrichts Scheitern: Warum der SED-Chef nicht die Absicht hatte, eine ›Mauer‹ zu errichten, sie aber dennoch bauen ließ, Berlin 2013. 32 Bundesminister des Innern, Bestandsaufnahme der Eingliederungshilfen von Bund und Ländern für Aussiedler und für Zuwanderer aus der DDR und Berlin (Ost). Mit einer Analyse des Bedarfs, Bonn 1988, S. 3.

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Die Mauer reduzierte den Umfang der Zu- und Abwanderung drastisch, allerdings verschwand die Migration keineswegs. Auf niedrigem Niveau stabilisierte sie sich vielmehr bis 1984, als Erich Mielke erstmalig versuchte, den immer weiter steigenden Druck durch die Zunahme der Ausreiseanträge mithilfe einer Entlassungswelle zu senken. Diese Rechnung ging aber nicht auf, danach scheiterten die strikten Rückdrängungsbemühungen der SED-Führung zusehends. Zudem glichen sich auf der bundesdeutschen Seite durch zahlreiche Vereinfachungen des Verfahrens die Werte für Notaufnahme und Wohnanmeldungen an, sodass abgesehen von kleineren zeitlichen Verschiebungen ca. 90 Prozent der Ausreisenden einen Notaufnahmeantrag stellten, von dem ein stets zunehmender Anteil das Verfahren erfolgreich durchlief. Im Vergleich zur Abwanderung entwickelte sich die Zuwanderung in die DDR ab 1970 mit Ausnahme der Ausreißerjahre 1984 (3,7 Prozent der Abwanderung des gleichen Jahres) beziehungsweise 1988 (5,8 Prozent) synchron zur Abwanderung in einem ungefähren Verhältnis von 10:1. Beide Migrationsbewegungen hingen eng zusammen, denn der Großteil der Zuwanderer aus der Bundesrepublik hatte die Grenze zuvor in die andere Richtung überquert.33

50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1963* 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1962* 1964* 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 Notaufnahme

Aus Bundesgebiet

Nach Bundesgebiet

Aus Bundesgebiet ohne West-Berlin

Nach Bundesgebiet ohne West-Berlin

Schaubild 2: Im Bundesgebiet registrierte deutsch-deutsche Migration 1962–1988. (*) ohne West-Berlin. Zahlen aus: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 1964– 1990, Zahlen zur Notaufnahme aus: Bestandsaufnahme der Eingliederungshilfen von Bund und Ländern für Aussiedler und für Zuwanderer aus der DDR und Berlin (Ost). Mit einer Analyse des Bedarfs, hg.v. Bundesministerium des Innern, Bonn 1988, S. 3; für 1988 aus: Hartmut Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen. Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv, 24. 1991, Nr. 4, S. 386–395, hier S. 390. || 33 Tobias Wunschik, Migrationspolitische Hypertrophien: Aufnahme und Überwachung von Zuwanderern aus der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, in: IMIS-Beiträge, 2007, H. 32, S. 33– 60; detailliert betrachtet in der Fallstudie: Gerhard Neumeier, ›Rückkehrer‹ in die DDR. Das Beispiel des Bezirks Suhl 1961–1972, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 58. 2010, H. 1, S. 69–91.

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Neben dem Jahr 1961 nimmt auch das Jahr 1989 eine Sonderrolle ein. Sowohl das für die Notaufnahme zuständige Bundesausgleichsamt als auch das Statistische Bundesamt bieten nur Zahlen für das gesamte Jahr. Die Zahl der Abwanderungen explodierte allerdings erst durch die Öffnung der ungarischen Grenze im Sommer 1989 und dann durch den Fall der Mauer am 9. November. Das Bundesausgleichsamt stellte ein Allzeithoch von 343.854 Antragstellern im Notaufnahmeverfahren (bei ca. 388.400 Migrationsfällen) fest, wovon die Großzahl aber erst ab Spätsommer und Herbst 1989 in der Bundesrepublik eintraf.34 Dies führt den angestauten Abwanderungsdruck aus der zerfallenden DDR deutlich vor Augen. Die Zuwanderung in die DDR nahm mit ungefähr 5.100 Fällen zwar um 100 Prozent in Vergleich zum Vorjahr zu und erreichte damit einen seit 1965 nicht mehr erreichten Wert, allerdings fiel sie deutlich hinter den in den letzten zwei Dekaden üblichen Anteil von ca. 10 Prozent der Abwanderung aus der DDR zurück. All diese Entwicklungen, von der interzonalen Wanderung bis zur die DDR zerstörenden Massenmigration 1989 begleiteten erfolgreiche und weniger erfolgreiche politische Regulierungsstrategien, die im Folgenden zusammenfassend anhand der wichtigsten Entwicklung in fünf Zeitabschnitten systematisiert werden.

2 Von der Zonenverwaltung zur Zweistaatlichkeit 1945–1952 Mit der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen gingen Bewegungskontrollen einher. Ab Mai 1945 erforderte das Verlassen des Wohnortes oder dessen näherer Umgebung einen Passierschein, was jedoch bereits im Sommer durch den Beginn des Busfernverkehrs eine deutliche Abmilderung erfuhr. Dieses Bild störte die sowjetische Besatzungsmacht im Mai 1946, als sie im Alliierten Kontrollrat Interzonenpässe durchsetzte sowie neuerliche und weitreichende Mobilitätseinschränkungen einführte. Die antragspflichtige legale Mobilität zwischen den Zonen wurde nur für eine gewisse Zeitspanne, meist 30 Tage, erlaubt. Die Vertreter der Westzonen milderten diese Bedingungen jedoch recht schnell ab. Zwischen der US-amerikanischen und der britischen Zone konnten man sich bereits wenige Monate später wieder ohne Interzonenpass bewegen. Dem schloss sich die französische Zone 1948 an. Die Beschränkungen für den Verkehr mit der SBZ hingegen blieben bestehen.35 In den Augen der damaligen politischen Entscheidungsträger stellte der innerdeutsche Reiseverkehr aber nur ein Teilproblem einer größeren Bewegung von Ost

|| 34 Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen, S. 390; Heidemeyer, Deutsche Flüchtlinge und Zuwanderer, S. 486. 35 Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Berlin 2011, S. 76f.

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nach West dar, nachrangig zur Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. Die interzonale Wanderung begründete der spätere High Commissioner der US-Besatzungszone General Hays lediglich dadurch, dass die Menschen die Tendenz hätten, dahin zu gehen, wo sie sich die »beste Behandlung« in Form von Lebensmittelzuteilungen erhofften.36 Das US-amerikanische Interesse, die Mobilität zwischen der SBZ und den Westzonen zu regulieren, lag in erster Linie darin, den unkontrollierten Warenverkehr zu unterbinden. Der Hinweis auf die differente Soziallage diente dazu, die Motive der Migranten abzuqualifizieren und wurde erst später zum Hauptargument der ›Abstimmung mit den Füßen‹. Hays sah dahingehend nur zwei Lösungen, entweder die Grenzgänger schwer zu bestrafen, was der Ministerpräsident des von den Wanderungen stark betroffenen Bayerns Hans Ehardt nicht für durchsetzbar hielt, oder »in Übereinstimmung mit der russischen Militärregierung die weitere Ausdehnung des Grenzgängertums zu verhüten.«37 Ehardt hingegen lehnte derart drastische Maßnahmen ab, da sie nur noch mehr Menschen dazu bewegen würden, »endgültig in die westlichen Zonen zu gehen.« Über diese Differenzen hinweg erachteten die politischen Akteure die Migration in erster Linie als ein »Regierungsproblem«, das mit der Einführung eines erhofften einheitlichen Wirtschaftsraums aller Besatzungszonen verschwinden würde. Dieser entstand jedoch nicht, vielmehr führte das Treffen der entsprechenden Entscheidungsträger auf der Londoner Außenministerkonferenz im Spätjahr 1947 zum endgültigen Bruch zwischen USA und Sowjetunion. Damit wurde deutlich, dass die interzonale Wanderung ein dauerhaftes gesellschaftliches Thema bleiben würde.38 Die Trennung zwischen den Westzonen und der SBZ führten zunächst jedoch nur selten zu permanenten Übersiedlungen, vielmehr pendelte ein Großteil der Menschen aufgrund allgemeinen Mangels zwischen Orten, die bessere Lebensbedingungen ermöglichten oder zumindest versprachen.39 Bereits im November 1946 stellte die Deutsche Verwaltung des Inneren (DVdI), dem Vorläufer des Ministerium des Innern der DDR (MdI), auf Weisung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) eine Grenzpolizei auf. Sie bildete zwar den Nukleus für die Nationale Volksarmee (NVA) und die Grenztruppen der DDR, nahm ihre Funktion allerdings aufgrund materieller und personeller Probleme sowie einer hohen Desertionsquote an den Zonengrenzen zunächst nur einge-

|| 36 Interne Besprechung der Ministerpräsidenten des amerikanischen Besatzungsgebietes mit General Hays am 2.12.1947, in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, München 1989, S. 942–947, hier S. 942. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 944. 39 Ab wann solche Pendelei zu Übersiedlung führte, müssten spezifische Mikrostudien klären.

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schränkt wahr.40 Die Priorität lag hierbei in der symbolischen Hoheit über Raum, wohingegen die Wanderungskontrolle nur über eine untergeordnete Relevanz verfügte. Auf westdeutscher Seite entstand erst im Kontext des Koreakriegs mit dem Bundesgrenzschutz ein Pendant.41 Dies betraf direkt vor allem die grenznah lebende Bevölkerung, die ihrerseits jedoch nicht einfach ein Spielball der Mächte war. Neue Mikrostudien verdeutlichen, dass ihre Vertreter teilweise vielmehr aktiv nach Grenzkontrollen riefen, um den als geschäftsschädigend erachteten Schmuggel über die Zonengrenzen zu unterbinden.42 Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre widmete sich die SED-Führung der Machtfestigung und der Durchsetzung der Staatlichkeit von sowjetischen Gnaden. Die Abwanderung größerer Bevölkerungsteile zog dabei kaum Aufmerksamkeit auf sich, ganz im Gegensatz zur Einwanderung der sogenannten ›Umsiedler‹ aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und den Gebieten mit starken deutschen Minderheiten in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa.43 1947 fiel fast jeder vierte Bewohner der SBZ in diese Kategorie, was für die wirtschaftlich schwache Zone eine extreme Zusatzbelastung darstellte. Die SED-Führung betrachtete darum und aus politischen Erwägungen deren Weiterwanderung gen Westen mit einer Mischung aus Desinteresse und Befürwortung. Aus ähnlichen Motiven großenteils unerwünscht waren Zuwanderer und Rückziehende aus dem Westen, die damals ungefähr 20 Prozent der Abwanderung gen Westen ausmachten.44 Erste Überwachungs- und Eindämmungsstrategien befanden sich noch im Erprobungsstadium, und die Kompetenzen und Aufgaben der noch jungen Staatssicherheit wurden nur schrittweise ausgebaut. Im Februar 1950 wurde sie von einer Abteilung im Ministerium des Innern in ein eigenes Ministerium als »Behörde in eigener Verantwortung« umgewandelt und aufgewertet.45 Nicht ohne ihr Zutun etablierte sich in dieser An-

|| 40 Torsten Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR (1946–1961), in: ders./Hans Ehlert/Rüdiger Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 2000, S. 201–223, hier S. 203–206; Winfried Heinemann, Die DDR und ihr Militär, München 2011, S. 23f. 41 Thomas Lindenberger, ›Zonenrand‹, ›Sperrgebiet‹ und ›Westberlin‹ – Deutschland als Grenzregion des Kalten Krieges, in: Kleßmann/Lautzas (Hg.), Teilung und Integration, S. 97–112, hier S. 101. 42 Siehe v.a. Sheffer, Burned Bridge; Sagi Schaefer: States of Division. Border and Boundary in Cold War Rural Germany, Oxford 2014. 43 Hierzu siehe Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998; Manfred Wille (Hg.), Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Wiesbaden 1993; ders. (Hg.), Die Vertriebenen in der SBZ/DDR. Dokumente, Wiesbaden 1996; Andreas Thüsing/Wolfgang Tischner, ›Umsiedler‹ in Sachsen. Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen 1945–52. Eine Quellensammlung, Leipzig 2005. 44 Andrea Schmelz, Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Die West-Ost-Migration in die DDR in den 1950er und 1960er Jahren, Opladen 2002, S. 42. 45 So der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Otto Nuschke (Ost-CDU), auf Anfrage eines westlichen Journalisten, Jens Gieseke, Die Stasi 1945–1991, München 2011, S. 23–27.

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fangsphase der Diskurs über die Zuwanderer aus dem Westen als potentielle Spione und Saboteure.46 Neben diesem machterhaltenden Diskurs der ›Bedrohung von außen‹ standen konkrete Aktionen zur Vertreibung unerwünschter Bevölkerungsteile, wie zum Beispiel von Großgrundbesitzern, diversen religiösen Gruppen und politischen Gegnern.47 Regulierungen von Wanderungsbewegungen dienten damit allein politischen Zwecken und der internen Absicherung des Führungsanspruchs der Partei, wobei vorerst sämtliche Grenzfragen fest in der Hand der Sowjetunion blieben. Die junge Bundesrepublik hingegen sah sich in erster Linie Aufnahmeproblemen gegenüber. Zwar herrschte Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung, allerdings war deren Ausgestaltung hochgradig umstritten. Die SPD hielt die Registrierung der Flüchtlinge für unumgänglich, betrachtete aber Eingriffe in die Freizügigkeit zum Zwecke der Verteilung der Lasten unter den Bundesländern als Eingriff in die Grundrechte. Zudem widersprach die SPD der Praxis im Notaufnahmeverfahren, überdeutlich zwischen antragsberechtigten ›Vertriebenen‹ aus den ehemaligen Ostgebieten und eher abzulehnenden Zuwanderern aus der SBZ zu unterscheiden. Sie erachteten diese Unterscheidung als untragbar, da die DDR prinzipiell als Unrechtsstaat zu sehen sei. Für die Bundesregierung aus CDU/CSU, FDP und DP sprach hingegen der Justizminister Thomas Dehler (FDP), der es »als nationalpolitische Pflicht« definierte, die Wanderung streng und restriktiv zu regulieren.48 Diese Debatte mündete in den entsprechenden Gesetzen. Nachdem die Westalliierten der Bundesregierung bereits im Dezember 1949 die Hoheit über die Flüchtlingsverwaltung übertragen hatte, wurde im August 1950 das sogenannte Bundesnotaufnahmegesetz verabschiedet. Es regelte neben der Einrichtung von festen Notaufnahmelagern in Gießen und Uelzen auch den Aufnahmeprozess und die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer. Zudem definierte das Gesetz Statusunterschiede zwischen verschiedenen Flüchtlingskategorien je nach Ausmaß der politischen Verfolgung, die sich vor allem in der Unterbringung in Lagern, Unterstützung bei Wohnungs- und Arbeitssuche und finanzielle Vergünstigungen äußerten. Diese Leistungen baute das Lastenausgleichsgesetz von 1952 durch Entschädigungszahlungen und andere Unterstützungsgelder aus. Zuwanderer aus der SBZ mussten zudem eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Den Grad der politischen Verfolgung galt es vor einem Aufnahmeausschuss nachzuweisen. Während Vertriebene nahezu prinzipiell in die höchste Flüchtlingskategorie eingestuft wur|| 46 Bernd Stöver, Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München 2009. 47 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene, S. 175, 255; Melis, Republikflucht, S. 19–22, zur Rolle der ›äußeren Feinde‹: Stephan Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur: Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 32–38. 48 Elke Kimmel, Das Notaufnahmeverfahren, in: Deutschland-Archiv, 38. 2005, S. 1023–1032, hier S. 1024.

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den, standen Einwanderer aus der SBZ unter dem Verdacht, keine ›echten Flüchtlinge‹ aufgrund politischer Vertreibung, sondern ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ zu sein.49 Dies äußerte sich in hohen Ablehnungszahlen. Trotz der offenkundigen Missbilligung des SED-Staats sprachen Politiker Wissenschaftler und weitere Debattenteilnehmer SBZ/DDR-Zuwanderern diesen Status als ›echten Flüchtling‹ regelmäßig ab, was ironischerweise die KPD im Bundestag jubilieren ließ.50 Damit sollte die weitere innerdeutsche Migration abgeschreckt werden, weswegen die Debatte um das Gesetz mit zahlreichen offiziellen Aufrufen einherging, die SBZ beziehungsweise die DDR nur in absoluten Notfällen in Richtung Westen zu verlassen.

3 Die Festigung der Teilung 1952–1961 Während die Zeit bis 1952 primär von zwei Staatsgründungen unter den Vorzeichen von Wirtschaftskrise, Flucht und Vertreibung geprägt war, zeichnete sich die anschließende Phase bis zum Bau der Berliner Mauer durch die Konsolidierung der Nationalstaaten und den Aufbau entsprechender Institutionen aus.51 Dabei wurde deutlich, dass die Ost-West-Wanderung ein grundsätzliches Problem in der deutschdeutschen Beziehung darstellte. Der innerdeutschen Migrationsbewegung wurde darum zunehmend Aufmerksamkeit zuteil. Beiderseitig setzte zuerst eine demographische Erkundung der Bewegungen ein, die allerdings zu sehr unterschiedlichen Bewertungen führte. 1951 attestierte das Bundesministerium für Vertriebene (BMVt) der bundesdeutschen Politik noch allgemein das Problem des »nicht koordinierten Vorgehens« in diesen Belangen.52 Daraufhin nahmen sich auf der Basis von oft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wurzelnden demographischen Forschungskonzepten neu geschaffene und häufig politisch beauftragte Institute des Themas an, so das ›Institut für Raumforschung‹ oder auch die vom BMVt initiierte ›Forschungsgruppe Eingliederung‹.53 Zu deren Aufgabenspektrum gehörte neben der Beschreibung des Volumens und der Dynamik der Migrationsbewegung auch die Entwicklung von Lösungsstrategien, die allesamt der Vision der weitreichenden Steuerbarkeit von Migration zum nationalen Wohle anhingen. Die damaligen Stu|| 49 Ausführlich dargestellt in: Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling; Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR. 50 Deutscher Bundestag, Drucksache I/27, Plenarprotokoll 18. Januar 1950, S. 843. 51 Nach wie vor grundlegend: Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. Aufl. Bonn 1991. 52 Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling, S. 21–25. 53 Siegfried Bethlehem, Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiterzuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982, S. 48–70; Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling, S. 21–25.

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dien betrachteten vor allem Zuziehende aus der DDR als problematisch, wenn nicht unerwünscht, da sie hohe Kosten verursachten und durch ihr Weggehen aufgrund des Verlusts von kritischem politischen Potenzial die Macht der SED stärkten. Als besonders schwierig galt die Lage in West-Berlin. Obwohl die Stadt einen eigenen Rechtsstatus besaß, führte die Ausweitung des Geltungsbereiches des Notaufnahmegesetzes im Februar 1952 zum Aufbau des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde. Im gleichen Jahr begann der SED-Staat, die innerdeutsche Grenze erst zu kennzeichnen und dann abzuriegeln. Berlin geriet zum letzten Schlupfloch aus der DDR, und die Aufnahmezahlen in Marienfelde stiegen drastisch an. Für den wirtschaftlich schwer angeschlagenen Westteil der Stadt stellte dies eine immense Belastung dar.54 Sämtliche Notaufnahmelager waren aber nicht nur politische Steuerungsinstrumente, sondern auch von strategischem Interesse. Neben Befragungen der Ankommenden durch die Alliierten waren die Westmächte vor allem in Berlin sehr darauf bedacht, auch aus sicherheitspolitischen Gründen den Überblick über Ankommende zu behalten.55 Dieses geheimdienstliche Interesse an den Aufnahmelagern war gegenseitig, auch die Staatssicherheit überwachte sie. Besondere Aufmerksamkeit erhielt Berlin-Marienfelde. Es wurde als ›Feindobjekt‹ konstant überwacht sowie ›operativ bearbeitet‹.56 Nach wie vor durchlief aber nur ein Teil der Migranten aus der DDR erfolgreich das Notaufnahmeverfahren und erlangte so den begehrten ›Flüchtlingsausweis C‹, der mit eingeschränkter Freizügigkeit, aber grundlegenden ökonomischen und sozialen Vergünstigungen einherging. Diejenigen, die keine Anerkennung als politische Flüchtlinge fanden, wurden als ›Abgewiesene‹ oder ›Illegale‹ zwar nicht über die Grenze abgeschoben, mussten aber auf hilfreiche Sonderkredite oder Ausgleichszahlungen verzichten und selbst für Wohnraum und Arbeit sorgen. Dies stellte in der Phase des Wiederaufbaus eine große Herausforderung dar. In Berlin war die ungenehmigte Wohnsitznahme zeitweise sogar unzulässig, zudem konnte die Stadt von den Abgewiesenen einfache ›Arbeitsdienste‹ verlangen. Die ökonomisch ebenfalls sehr stark belastete einheimische Bevölkerung stigmatisierte die in prekären Umständen lebenden Zuwanderer nicht selten als ›Asoziale‹. Partielle Besserung brachten zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1953 und 1956. Es hielt zwar die Einschränkung der Freizügigkeit für verfassungsgemäß, jedoch nur für Personen, die sich nicht aus eigener Kraft versorgen konnten. Dies ließ sich jedoch weit auslegen und hing von der allgemeinen Wirtschaftsentwick-

|| 54 Hierzu siehe Elke Kimmel, »… war ihm nicht zuzumuten, länger in der SBZ zu bleiben«. DDRFlüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin 2009. 55 Dies., Das Notaufnahmeverfahren, S. 1028–1030. 56 Burghard Ciesla, ›Feindobjekt‹ Marienfelde, in: Bettina Effner/Helge Heidemeyer (Hg.), Flucht im geteilten Deutschland. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin 2005, S. 153– 170.

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lung ab.57 Entspannung trat also, ganz im Gegensatz zum dominanten Glauben an die politische Regulierbarkeit von Migration, nicht durch staatliche Maßnahmen ein, sondern durch das ›Wirtschaftswunder‹, das die alltägliche ökonomische Konkurrenz unter der Bevölkerung reduzierte.58 Die Zahl der Abgelehnten lag Anfang der 1950er Jahre noch bei 62,6 Prozent der Antragsteller, ging bis 1959 aber auf 1,5 Prozent zurück.59 Die Regulierungsstrategien der jungen Bundesrepublik bezogen sich damit in erster Linie auf eine sehr rigide Aufnahmepolitik von normativ unterschiedlich behandelten Zuwanderergruppen. Dabei stand längere Zeit noch das Abschrecken weiterer Abwanderung aus der DDR auf der Agenda, ergänzt durch ein wachsendes außenpolitisches Interesse: Wie Volker Ackermann hervorhebt, bot dabei das Argument des ›echten Flüchtlings‹ eine Möglichkeit, eine vorgebliche Überlastung der jungen Bundesrepublik durch die Zuwanderung gegenüber den Westalliierten geltend zu machen, um im gleichen Atemzug zu versuchen, die Lasten der erwünschten Wiederbewaffnung weitestgehend auf diese zu übertragen.60 Innenpolitisch verkörperten die Zuwanderer aus der DDR jedoch eher ein Verwaltungsproblem denn politisches Kapital. Dies drückt sich auch darin aus, dass primär Bundesjustizministerium und BMVt den Umgang mit ihnen regelten und nicht das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, das sonst sämtliche deutsch-deutschen Themen an sich zu ziehen versuchte. Zwar gehörte die Betreuung und Förderung politischer Flüchtlinge zu dessen Aufgabenbereich, allerdings lagen die Schwerpunkte des sich als ›gesamtdeutsches Gewissen‹ verstehenden Ministeriums im Bereich der Wiedervereinigungspolitik. Das Ministerium erkannte damals noch nicht die Relevanz der Migration für dieses Ziel.61 Die SED-Führung hingegen betrieb das genaue Gegenteil einer Wiedervereinigungspolitik. Neben der aktiven Vertreibung unerwünschter Gruppen agitierte sie bis 1952 im Zuge massiver antiamerikanischer Propaganda mit zahlreichen Veranstaltungen an der Zonengrenze zugunsten eines Zuzugs in die DDR.62 Nun aber läutete sie durch die beginnende Befestigung und die Militarisierung der innerdeutschen Grenze eine neue Zeit ein. Offiziell strebte sie weniger die Kontrolle der Abwanderung an, sondern die der angeblich massenhaften Gegenbewegung von »Spione[n], Diversanten, Terroristen und Schmuggler[n]«.63 Praktisch diente der

|| 57 Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR, S. 164–167. 58 Für eine umfassende Darstellung des Themas siehe ebd., S. 94–192. 59 Kimmel, Das Notaufnahmeverfahren, S. 1031. 60 Ackermann, Der ›echte‹ Flüchtling, S. 47–50. 61 Aktuelle Forschungen hierzu stehen aus, siehe darum: Gisela Rüss, Anatomie einer politischen Verwaltung. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen – Innerdeutsche Beziehungen 1949–1970, München 1973, S. 15, 31–33. 62 Lindenberger, ›Zonenrand‹, ›Sperrgebiet‹ und ›Westberlin‹, S. 101. 63 Melis, Republikflucht, S. 35f., Zitat: Anm. 106.

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Grenzausbau ab 1952 allerdings der Markierung eines souverän beanspruchten Gebietes sowie der Handelskontrolle und der Unterbindung unkontrollierter Ost-West Kontakte. In diesen Kontext gehörte im Juni 1952 auch die Zwangsumsiedlung jener Bewohner des Grenzgebietes, die der SED-Staat als nicht vertrauenswürdig einstufte. Westliche Medien reagierten empört auf die sogenannte ›Aktion Ungeziefer‹ und verurteilten sie als typischen Ausdruck des Unrechtsregimes. Dem politischen Ansehen des SED-Staates schadete es ungemein.64 Mit der auch in der DDR einsetzenden Analyse der deutsch-deutschen Migration, hier auf Initiative des MdI, erkannte die SED-Führung eine für sie inakzeptable Abwanderung von Fachpersonal.65 Die Politik, die sich bislang zwischen Akzeptanz und schlichter Verdrängung bewegte, wandte sich nun aktiven Gegenmaßnahmen zu.66 SED und Sowjetmacht handelten sehr schnell. Erste Schritte auf dem Weg von der Markierung zur Militarisierung der Grenze waren bereits 1952 die weitgehende materielle Befestigung der Grenze (›Aktion Amboß‹), die Definition und Durchsetzung des vorgelagerten Sperrbereichs, die (kurzfristige) Unterstellung der Grenzpolizei unter das MfS nebst Aufrüstung und Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch sowie die Einführung von Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren bei unerlaubtem Grenzübertritt.67 In den Folgejahren wurde dieser Weg weiter beschritten und stellte das Grenzregime vor die Doppelaufgabe, zugleich mögliche militärische Angriffe aus dem Westen abwehren zu können und zivile Grenzübertritte zu unterbinden.68 Ab 1953 reflektierte der neu in Gebrauch kommende Begriff ›Republikflucht‹ eine Wendung nach innen, indem es nun galt, sie im Vorfeld des direkten Grenzübertritts zu bekämpfen.69 Verstärkt durch die Nachbeben des Aufstands am 17. Juni baute die SED-Führung die Sicherheitsorgane um. Das MfS verlor nach dem Juniaufstand und im Lichte der Entstalinisierung zeitweise an Rang und Macht, stieg nach der Machtabsicherung Ulbrichts ab 1957 aber wieder auf. Der neue starke Mann der ›Sicherheit‹, Erich Mielke, richtete das MfS zudem immer stärker auf Fra|| 64 Inge Bennewitz/Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Analysen und Dokumente, Berlin 2012, S. 14–99. 65 Bispinck, ›Republikflucht‹, S. 288f.; Melis, Republikflucht, 38f. 66 Dies schlug sich auch direkt in Sprachpraxis der DDR nieder, siehe Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, S. 338; Alf Lüdtke/Peter Becker (Hg.), Akten, Eingaben, Schaufenster: Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997; allg.: Willibald Steinmetz (Hg.), Political Languages in the Age of Extremes, Oxford 2011. 67 Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 208–212, nach seinem Versagen wurde das MfS 1953 zum Staatssekretariat abgestuft und die Befehlsgewalt über die Grenzpolizei dem Innenministerium übertragen. 68 Dies stellte vor allem für die Bewaffnung der Grenztruppen ein Problem dar, siehe Jochen Maurer/Gerhard Sälter, The Double Task of the East German Border Guards: Policing the Border and Military Functions, in: German Politics & Society 29. 2011, H. 2, S. 23–39. 69 Melis, Republikflucht, S. 40.

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gen der Grenzsicherung und das Problem der ›Republikflucht‹ aus. Der Apparat der SED stigmatisierte ›Republikflüchtige‹, darunter allen voran die dringend benötigten Lehrer und Ärzte, zu ›Feinden‹ der DDR.70 Die Ursache für den Verlust der gebildeten Schicht sah die Staatssicherheit jedoch nicht im System, sondern in ›feindlicher Agententätigkeit‹ sowie im Versagen lokaler und regionaler Staatsorgane. Die äußerst ambivalente Politik der Zeit wechselte zwischen Restriktion und Lockerung. Martialische Rhetorik ging zeitweise mit Einschränkungen der für Fluchtbewegungen als verantwortlich identifizierten Reiseregelungen einher. Der ›Neuen Kurses‹ 1953 hingegen bedeutete Liberalisierungen im Personenverkehr und eine Amnestie für ›Republikflüchtige‹. Auch wenn in der DDR die Entstalinisierung nur sehr zaghaft angegangen wurde, waren um 1956 Erleichterungen spürbar, die aber immer nur Episoden eines durch stetige Verschärfung gekennzeichneten Prozesses waren.71 Solche kurzlebigen Maßnahmen zielten auch darauf ab, die durch die Kollektivierung frustrierten Bauern doch noch im Lande zu halten.72 Abwanderungen beurteilte der SED-Staat immer weniger als Bevölkerungsbewegung, sondern unter dem Dogma des politischen Rechts als ›Diversion‹.73 So stark der SED-Staat auch versuchte, die Abwanderung durch Zuckerbrot und Peitsche einzudämmen, so wenig gelang es ihm. Trotz dieser repressiven Maßnahmen blieb die spontane Flucht selten, eher war die Abwanderung ein Element allgemein erhöhter räumlicher Mobilität. Sicher ist hier neben dem Wirtschaftsaufschwung in der Bundesrepublik auch eine gewisse ›Sogwirkung‹ des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 zu berücksichtigen. Auf dem 23. Plenum des ZK der SED 1955 formulierte die SED-Elite das Ziel einer weiteren Militarisierung der Grenzpolizei, die das MdI trotz materieller und struktureller Probleme umsetzte.74 Mit dieser verschärften Grenzsicherung erfüllte die

|| 70 Siehe z.B. Ministerium für Volksbildung, Stellungnahme zur Republikflucht von Lehrern (24.7.1954), in: Joachim Hohmann (Hg.), Lehrerflucht aus SBZ und DDR 1945–1961. Dokumente zur Geschichte und Soziologie sozialistischer Bildung und Erziehung, Frankfurt a.M. 2000, S. 257–262; Bernhard Meyer, Von Deutschland nach Deutschland. Zur ›Republikflucht‹ der Mediziner von 1949– 1961, in: Berlinische Monatsschrift, 10. 2001, S. 62–68. 71 Patrick Major, Going West. The Open Border and the Problem of Republikflucht, in: ders./Patrick Osmond (Hg.), The Workers’ and the Peasants’ State. Communism and Society in East Germany under Ulbricht 1945–1971, Manchester 2002, S. 190–208, hier S. 203f. 72 Helge Heidemeyer, Vertriebene als Sowjetzonenflüchtlinge, in: Dierk Hoffmann (Hg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000, S. 237–249; Jens Schöne, Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, Berlin 2005. 73 Zur Ausweitung derartiger Legitimationsbegriffe siehe Thomas Lindenberger, ›Asoziale Lebensweise‹. Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines ›negativen Milieus‹ in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Gesellschaft, 31. 2005, S. 227–254. 74 Maurer/Sälter, The Double Task of the East German Border Guards; Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 211.

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Staatsführung auch Anforderungen der Sowjetunion, die im Gegenzug im Staatsvertrag 1955 dem SED-Staat zumindest offiziell die komplette Verantwortung der Grenzsicherung übertrug.75 Abgesehen von 1953 erfuhr die Abwanderung in den Jahren 1955–1957 mit über 380.000 Fällen pro Jahr ihren quantitativen Höhepunkt. Die SED-Führung versuchte mit weiteren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im immer weiter gefassten Grenzgebiet und mit der Verschärfung der Kriminalisierung der Abwanderung zu kontern. Dazu gehörte auch die Neufassung des Passgesetzes 1957, welches das ungenehmigte Überschreiten der Westgrenze und dessen Vorbereitung zu einem selbständigen Straftatbestand erklärte.76 Zwar stand bereits seit der Erstfassung des Passgesetzes 1953 das unerlaubte Verlassen der DDR ins Ausland unter Strafe, erst die Neufassung weitete die Regelung jedoch auch auf West-Berlin und die Bundesrepublik – und damit auf die mit Abstand größte Abwanderungsbewegung – aus.77 Der SED-Führung wusste aber schon länger, dass sie die Abwanderung nicht allein durch Maßnahmen an der innerdeutschen Grenze und durch die Kombination von punktuellen Erleichterungen einerseits und Repressionsmaßnahmen andererseits bändigen konnte. Berlin untergrub als ›Schlupfloch‹ jegliche Eindämmungsversuche. Jedoch öffnete sich erst in der zweiten, seit 1958 schwelenden Berlin-Krise das Opportunitätsfenster, um diese letzte offene Lücke zu schließen.78 Das Problem der ›offenen Grenze‹ bestand aus Sicht der DDR jedoch auch umgekehrt. Jährlich kamen auf 100 Abwanderer nach Westen ungefähr 20–40 Zuwanderer aus Bundesrepublik und West-Berlin in die DDR.79 Auch ihnen gegenüber verhielt sich die Politik der SED in dieser Phase ambivalent. Sie schwankte zwischen einerseits dem Interesse, Arbeitskräfte anzuziehen und sie als Beleg für die Sys-

|| 75 In bedeutenden sicherheitsrelevanten Fragen behielt die Sowjetunion jedoch durchgängig die Hoheit über das Vorfallmanagement an der Grenze (von der Unterbindung von Protestbekundungen bis zum häufiger vorkommenden Einsatz von Abfangjägern im Fall der Störung des Luftraumes), siehe z.B. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), Berlin, MfAA/HG2/L35/C 581/74 (1961–1967) sowie ebd. /C 1780 (1975–1985). 76 Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 212; Zahlen in: Heidemeyer, Deutsche Flüchtlinge und Zuwanderer, S. 486; Melis, Republikflucht, S. 48, 56f.; obwohl ›Republikflucht‹ in der politischen Sprache ab 1957 als ›Verrat‹ gebrandmarkt wurde, stellte sie jedoch keinen solchen Straftatbestand dar, wie von Karl Wilhelm Fricke behauptet, siehe Karl Wilhelm Fricke, Zur strafrechtlichen Ahndung von Flucht- und Fluchthilfedelikten in der DDR, in: Martin Dreher (Hg.), Bürgersinn und staatliche Macht in Antike und Gegenwart. Festschrift für Wolfgang Schuller zum 65. Geburtstag, Konstanz 2000, S. 31–54, hier S. 31–33. 77 Hierzu und zu weiteren Sanktionen siehe Wilke, Der Weg zur Mauer, S. 77–79. 78 Patrick Major, Torschlußpanik und Mauerbau. ›Republikflucht‹ als Symptom der zweiten BerlinKrise, in: Burghard Ciesla (Hg.), Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin 2000, S. 221–243; Uhl/Wagner, Einleitung: Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. 79 Zu Differenzen zwischen in der DDR und in der BRD erhobenen Zahlen siehe oben; vgl. auch die weiter nach oben abweichenden Zahlen der DDR-Behörden in: Melis, Republikflucht, S. 256.

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temüberlegenheit zu deuten sowie andererseits der spätestens seit Juni 1953 tief verankerten Paranoia, in jedem ›Erstzuziehenden‹ oder ›Rückkehrer‹ einen potentiellen Saboteur, Agenten oder ›Diversanten‹ zu vermuten.80 Ab ungefähr 1957 brach sich dies auch normativ Bahn. Zwar war bereits ab 1952 eine Einweisung der Zuwanderer in eines der verschiedenen, auf dem Territorium der DDR verstreuten Aufnahmelager (›Quarantänelager‹) vorgesehen. Die Regelung wurde jedoch nicht konsequent gehandhabt. Mit dem ›Neuen Kurs‹ ging zudem nach 1953 zumindest kurzfristig eine Erleichterung der Rückkehr einher.81 Dies lag jedoch nicht im Interesse der Sicherheitsorgane, allen voran des MfS, das mit dem Ende der Ära Wollweber 1957 schrittweise wieder eine Aufwertung erfuhr. Damit änderte sich auch die Praxis der Aufnahme in die DDR, denn während die Ersuchen vor allem von Rückkehrern bis 1957 nicht zurückgewiesen werden sollten, setzte sich danach eine restriktivere Linie durch.82 Einwanderer in die DDR durchliefen erst ab 1960 obligatorisch ein Aufnahmelager. Der Aufenthalt dauerte zwischen 14 Tagen und drei Monaten und diente nicht der in der Bundesrepublik üblichen Kategorisierung zum Zwecke der regionalen Lastenverteilung, sondern vielmehr der individuellen Sicherheitsüberprüfung.83 Anders als in der Bundesrepublik führten Sicherheitsbedenken zur direkten ›Rückschleusung‹84, und das wohlgemerkt trotz des Beharrens der DDR auf einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit. Die Zahl der registrierten West-Ost-Migranten ging ab ungefähr 1957 deutlich zurück, zugleich aber stieg die Zahl der offiziellen Aufnahmeersuchen an, was für die straffere Kontrolle der Einwanderung und den steigenden Einfluss der Sicherheitsorgane auf diesen Prozess spricht.85 Zusätzlich negativ wirkte sich das Passgesetz von 1957 auf die Rückkehrbewegung aus, da es auch eine Strafandrohung für Rückkehrer enthielt, die zuvor die DDR ungenehmigt verlassen hatten. Zugleich begründete der SED-Staat die steigende Zahl an Ablehnungen und die allgemeine Skepsis gegenüber Einwanderung nicht nur politisch, sondern auch mit der hohen Zahl an Straffälligen unter deutsch-deutschen Migranten. Hier fungierten die Zuziehenden erstens als Sündenbock für die allgemein steigende Kriminalität in der DDR, zweitens kriminalisierte die zunehmend restriktive Gesetzgebung zahlreiche Verhaltensmuster, die die Migration selbst betrafen und drittens suchten in der Tat zahlreiche Erstzuziehende sich der Strafverfolgung in der BRD zu entziehen.86

|| 80 Ausführlich dazu: Schmelz, Migration und Politik im geteilten Deutschland, bes. S. 73–174. 81 Wunschik, Migrationspolitische Hypertrophien, S. 42–44. 82 Ebd., S. 43f. 83 Zwischen 1958 und 1960 stieg der Anteil der in ein Durchgangslager aufgenommenen Zuziehenden von 40 auf 96 Prozent an, siehe Schmelz, Migration und Politik im geteilten Deutschland, S. 225. 84 Ulrich Stoll, Einmal Freiheit und zurück. Die Geschichte der DDR-Rückkehrer, Berlin 2009, S. 12. 85 Vgl. Jens Müller, Übersiedler von West nach Ost in den Aufnahmeheimen der DDR am Beispiel Barbys, Magdeburg 2005, S. 37f., 107; Heidemeyer, Deutsche Flüchtlinge und Zuwanderer, S. 486. 86 Schmelz, Migration und Politik im geteilten Deutschland, S. 140–144.

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Das Kontrollbedürfnis des SED-Staates wirkte sich auch auf den Besuchsverkehr aus. Zwar brachte die Abschaffung des Interzonenpasses 1953 nominell Erleichterungen für Einreisende aus der Bundesrepublik, jedoch führte die SED-Führung sehr schnell zahlreiche Besuchsregelungen ein, die Reisebewegungen (und damit auch Kontakte) immer stärker verkomplizierten.87 Auch die Bundesregierung bewies kein großes Interesse an der West-Ost-Wanderung und schwieg zu ihr oder spielte ihr Ausmaß herunter. Besonders musste sie sich dabei gegen Presseberichte mit deutlich zu hoch angesetzten Zahlen (teilweise lanciert von kommunistischen Splittergruppen) wehren.88 Insgesamt sind die Jahre von 1952 bis 1961 als eine Phase der sozialpolitischen Herausforderung der Bundesrepublik und der Überforderung des SED-Staates durch großenteils unkontrollierbare Migrationsbewegungen zu charakterisieren. Hunderttausende Migranten in beide Richtungen schufen auf beiden Seiten der Grenze unerwünschte Probleme, die sich auf der Bundesseite erst Ende der 1950er durch die zunehmende Wirtschaftskraft reduzierten. Auf der Seite der DDR hingegen rissen die Abwanderer eine klaffende Wunde, die den SED-Staat existenziell gefährdete.

4 Der Mauer-Effekt 1961–1975 In der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 riegelten Truppen des SED-Staats die innerstädtische Grenze zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen Berlins in einer Kommandoaktion ab und unterbrach jegliche Westverbindungen, was allgemein als ›Mauerbau‹ bekannt ist. Weltweit sichtbar verkündete die Staatsmacht ihren Willen, das Staatsvolk zum Verbleib im Staatsterritorium zu zwingen. Trotzdem war die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten niemals absolut dicht.89 Trotz der Heftigkeit des Einschnitts sollte man der SED-Führung nicht zugestehen, dass sie mit dem Bau der Mauer »gewachsene menschliche Beziehungen […] zerstört« habe.90 Vielmehr sollte man von einem Wandel der Beziehungen ausgehen, infolge dessen sich weite Bevölkerungsteile zwar mental voneinander entfernten, in der jedoch bestehend bleibende und neu wachsende menschliche Beziehungen fortwährend den Abgrenzungsversuch untergruben, was besonders durch den erst schleichend und dann intensiv zunehmenden Migrationsdruck verstärkt wurde. Durch diesen gewalthaften Schritt gestand die SED-Führung nicht nur offen das Scheitern im Systemwettkampf ein, sondern auch, dass sie Migrationsbewegungen || 87 Wilke, Der Weg zur Mauer, S. 77. 88 Stöver, Zuflucht DDR, S. 97f. 89 Dies mag ein entscheidender Unterschied zur koreanischen Grenze sein, vgl. Lindenberger, ›Zonenrand‹, ›Sperrgebiet‹ und ›Westberlin‹, S. 109. 90 Melis, Republikflucht, S. 129.

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nicht konventionell eindämmen konnte. Der Westen sah darin eine Bankrotterklärung des ›Ulbricht-Systems‹. Da die Abwanderung den Staat in seinen Grundfesten bedrohte, ordnete die politische Führung den Großteil der Innenpolitik dem Aufrechterhalten des erzwungenen migratorischen Stillstands unter. Paradoxerweise rückte aber gerade der Versuch, das Problem der Emigration ein für allemal zu lösen, es vor die Augen der Weltöffentlichkeit und machte es zu einem omnipräsenten Thema in der DDR. Migration wandelte sich wegen der militärisch versuchten Unterbindung der ›Abstimmung mit den Füßen‹ vom Randprodukt der Systemkonkurrenz zum unhintergehbaren deutsch-deutschen Politikum.91 In der Phase 1961–1975 scheint der SED-Staat die Ansicht entwickelt zu haben, dass er sein Streben nach staatlicher Souveränität gerade durch die Eindämmung der Abwanderung verfolgen könne. Dem entgegen offenbarten die folgenden anderthalb Dekaden gerade auf der Basis der deutsch-deutschen Annäherung das langfristige Scheitern dieses Projekts. Der Bau der Mauer ist als Fortsetzung der Migrationskontrolle mit militärischen Mitteln zu sehen und damit als eine weitere Regulierungsstrategie, die zahlreiche über Berlin hinausgehende Komplexe berührte. Denn um die Mauer in der Art wirken zu lassen, wie von der SED-Führung intendiert, musste sie durch andere Maßnahmen flankiert werden. Dazu zählte – neben der Annulierung der bis dahin ausgestellten Ausreisegenehmigungen und des Umbaus des gesamten Apparats, der bislang die legale Auswanderung handhabte – die Militarisierung der Ostseeküste. In den Folgejahren verwandelte die SED-Führung durch Baumaßnahmen, durch Weiterentwicklung der Überwachungstechniken und -praktiken, durch Restriktionen der Bewegungsfreiheit zu Wasser und durch die Vertreibungen oder Enteignung selbständiger Hotelbesitzer während der sogenannten ›Aktion Rose‹, die schwer einzusehende Seegrenze in einen kontrollierten und militärisch abgesicherten Grenzbereich.92 Den Bau der Mauer konnte die SED-Führung zudem zur Legimitierung weitreichender Zentralisierungen, zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und zur Übertragung der Hoheit über die Grenzüberwachung vom MdI und der Volkspolizei zur NVA und damit zum Ministerium für Nationale Verteidigung nutzen. Damit einher gingen eine weitere Aufrüstung und die Umformung der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, die bis 1989 bestanden. Diese überwachten sowohl restriktiv die Grenzanlagen und Sperrzonen als auch sich gegenseitig, um Desertionen zu verhin-

|| 91 Frank Wolff, Der lange Schatten der Mauer. Neuerscheinungen zur Emigration aus der DDR, in: International Newsletter for Communist Studies Online, 18. 2012, S. 169–178, http://newsletter. icsap.de/home/data/pdf/INCS_25_ONLINE.pdf. 92 Frank Petzold, Die ›Staatsgrenze Nord‹. Zur Entwicklung der Ostseeküste als Teil des DDRGrenzregimes, in: Heiner Timmermann (Hg.) Die DDR. Erinnerungen an einen untergegangenen Staat, Berlin 1999, S. 453–484.

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dern, weswegen das MfS in den Grenztruppen eine besonders hohe Zahl an Spitzeln einsetzte.93 In Berlin verschwand vorerst der letzte, hier innerstädtische ›kleine Grenzverkehr‹ und das Phänomen des Grenzgängers.94 Zuvor ging die illegale Emigration zwar mit Kosten und möglicher Verfolgung einher, war faktisch aber noch recht einfach möglich gewesen. Der Mauerbau machte sie lebensgefährlich und nur wenigen, viel beachteten ›Sperrbrechern‹ gelang es in der Folge, die Grenze zu überwinden. Zudem bestand eine legale Emigrationsbewegung fort, die zwar in keinem Verhältnis zur früheren Massenauswanderung stand, deren Umfang aber bis auf wenige Monate des Mauerausbaus deutlich über der Zahl der ›Sperrbrecher‹ lag. Sie betraf pflegebedürftige und arbeitsunfähige Invaliden und Rentner sowie eine kleine Zahl sogenannter ›Sonderfälle‹, die auf Kulanzbasis das Land verlassen durften. In den ersten Jahren nach dem Mauerbau handelte es sich pro Jahr um wenige tausend Fälle. Das hierbei etablierte Antragsverfahren besaß Vorbildcharakter für dieses Element des Ausreiseregimes der kommenden Jahrzehnte. Bis zum Mauerbau besaßen die Räte der Kreise großen Entscheidungsspielraum, was Ausreisegenehmigungen anging. Mit dem Mauerbau änderte sich das Verfahren. Die Anträge mussten auf Kreisebene gestellt und bearbeitet, bei Befürwortung weiter gesandt und von der Bezirksebene geprüft werden. Die finale Entscheidung aber lag im Ministerium des Innern, welches erneut und restriktiv auf der Basis zahlreicher Geheimregeln jeden Einzelfall prüfte. Dieser stark einschränkende Weg war dafür entworfen, die Großzahl der Fälle früher oder später ohne jede Begründung abzulehnen. Unter den legalen Auswanderern der ersten Jahre befanden sich auch einige hundert arbeitsfähige Menschen. Einige von ihnen wanderten im Staatsinteresse, zum Beispiel als Mitarbeiter der S-Bahn in Westberlin oder aufgrund eines Vorschlags der Partei aus. Eine wachsende Zahl entsandte jedoch direkt das MfS, welches erwartete, dass sie in der BRD oder in West-Berlin im Dienste des SED-Staates tätig wurden.95 Im Falle der Rentner und Invaliden lagen die Staatsinteressen anders. In den ersten Jahren nach dem Mauerbau wurden auch ihre Ausreiseanträge sehr restriktiv gehandhabt. Dann lockerte die SED-Führung deren Besuchs- und Ausreiserechte deutlich, vor allem Anfang der 1970er Jahre im Kontext des Übergangs der Macht von Ulbricht auf Ho|| 93 Roman Grafe, Die Grenztruppen der DDR, in: Hans Ehlert/Matthias Rogg (Hg.), Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven, Berlin 2004, S. 337–352; Stephan Wolf, Hauptabteilung I: NVA und Grenztruppen (MfS-Handbuch), Berlin 2005, http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421300423; Jochen Maurer, Dienst an der Mauer. Der Alltag der Grenztruppen rund um Berlin, Berlin 2011. 94 Erst der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag ermöglichte wieder einen ›kleinen Grenzverkehr‹ an der innerdeutschen Grenze, freilich nur von West nach Ost. 95 Bundesarchiv Berlin (BArch B), DO1/14722; DO1/14723; DO1/17071.

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necker und im Lichte der deutsch-deutschen Annäherung. Es bestanden jedoch niemals ein einklagbarer Rechtsanspruch und auch keine behördliche Rechtfertigungspflicht im Falle von Ablehnungen. Ab 1969 illegalisierte der Sicherheitsapparat und das MdI bereits die Ersuchen anderer Personen. Sondergenehmigungen durfte sowieso nur das MdI aussprechen, wo das zuständige Staatssekretariat alle Vorschläge individuell überprüfte, ob die Auswanderung im Sinne des Staatsinteresses war. Der SED-Staat legte dieses Staatsinteresse aber derart weit aus, dass auch die individuelle Ausbildung und Arbeitskraft darunter fielen. Dieses Verständnis verdeutlicht, dass der Staat und ganz besonders der innenpolitische Apparat sich eine umfassende Verfügungsmacht über seine Untertanen zusprach und persönliche Freizügigkeit nicht als Privatangelegenheit, sondern als dem Staatszweck untergeordnet erachtete.96 Entsprechend wurde die Abwanderung von nicht arbeitsfähigen Personen zwiespältig gesehen: Einerseits erleichterte ihre Abwanderung die klammen Sozialkassen des SED-Staates. Sicherheitsorgane sahen darin andererseits eine unzulässige Lücke im Sicherheitssystem, da ein erfolgreicher Antrag Vorbild für weitere Ausreiseersuchen sein könnte und die Kontakte zu verbliebenen Verwandten und Bekannten weitere Anträge inspirieren könnten.97 Der Bau der Mauer bedeutete für den SED-Staat auch, sich letztendlich aktiv mit der Frage der Staatsbürgerschaft beschäftigen zu müssen. Bis dahin beharrte er offiziell auf einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit, zumal bereits das Passgesetz von 1957 die Bundesrepublik für DDR-Bürger zum Ausland erklärte. Ab spätestens 1961 bürgerte sich zudem der Begriff der Staatsbürger der DDR ein. Ein entsprechendes Gesetz folgte jedoch erst 1967. Ein geheimes Schreiben des MfS legte 1969 außerdem fest, dass Bürger der DDR im Falle eines Vorteiles für den SED-Staat auch aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden konnten.98 Die bundesdeutsche Politik und Öffentlichkeit nahm das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR empört auf und deklarierte es als ungültig. Politik, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft beharrten auf der Existenz ausschließlich einer, von der Bundesrepublik verkörperten deutschen Staatsangehörigkeit. Nur auf der Basis dieses Widerspruchs und der Nichtanerkennung der Gesetze des SED-Staates blieben Staatsangehörige der DDR zugleich voll berechtigte deutsche Staatsbürger.99

|| 96 Grundlegend: Dienstanweisung (DA) 27/62, MdI vom 25.7.1962 und nachfolgende Änderungen und Ergänzungen der DA, BArch B, DO1/62207. 97 Sehr stark betont wird die Relevanz daraus folgender Netzwerke in: Gehrmann, Die Überwindung des ›Eisernen Vorhangs‹; derart weitreichende Argumente bestätigt eine aktuelle Mikrostudie hingegen nicht, siehe Renate Hürtgen, Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz. Die Antragsteller auf Ausreise im Kreis Halberstadt 1974–1989, Göttingen 2013. 98 Wunschik, Migrationspolitische Hypertrophien, S. 46. 99 Siehe z.B. Dieter Schröder, Die völkerrechtliche Wirkung des ›Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der DDR‹, in: Recht in Ost und West, 11. 1967, S. 233–239; das Bundesverfassungsgericht lockerte diese radikal ablehnende Haltung jedoch in den 1980er Jahren auf, siehe Dieter Blumen-

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Das wichtigste Anliegen der SED-Führung bestand in der mit aller Kraft vorangetriebenen Anerkennung der staatlichen Souveränität, was die CDU-geführte Bundesregierungen unter Beibehaltung der sogenannten Hallstein-Doktrin grundsätzlich ablehnten. Auch die nachfolgende sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Brandt versuchte, jeglichen Verdacht der Anerkennung der DDR von sich zu weisen, schlug jedoch den Weg der Annäherung ein.100 Dies beruhte auf der zuvor von Willy Brandt und Egon Bahr bereits in West-Berlin praktizierten Suche nach Erleichterungen im Alltag. Mehrere Passierscheinabkommen ab 1963 zwischen West-Berlin und dem SED-Staat erkannten die DDR zwar als Vertragspartner, nicht aber als Nationalstaat an. Brandt und Bahr ließen keinen Zweifel daran, dass diese Konzession den Wandel der Deutschlandpolitik intendierte und hofften auf lange Sicht, auf eine Wiedervereinigung zuzusteuern. Zugleich führte der SED-Staat im Willen, den Einfluss bundesdeutscher Reisender in der DDR zu minimieren, 1969 die Pass- und Visumspflicht für Besucher aus der Bundesrepublik ein. Zeitweilig verschärfte dies die deutschlandpolitischen Auseinandersetzungen, letztendlich aber vereinfachten zahlreiche Verträge, darunter vor allem das Viermächteabkommen über Berlin 1971 und der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag 1972, den Transit zwischen Bundesrepublik und West-Berlin, Besuche in der DDR, Kompromisse in der Grenzpolitik und eine numerisch vorerst geringe Abwanderung aus der DDR, die unter das Schlagwort der Familienzusammenführung gefasst wurde.101 Auf Seiten der Bundesrepublik änderte sich nach dem Bau der Mauer der Umgang mit Emigranten aus der DDR diametral. Trotz der nach wie vor immensen Anstrengungen überforderte diese Einwanderung die Bundesrepublik aufgrund ihres

|| witz, Die deutsche Staatsangehörigkeit und der deutsche Staat: BVerfG, NJW 1988, 1313, in: Juristische Schulung, 28. 1988, S. 607–613; Eckhart Klein, Die Bedeutung des Staatsbürgerschaftsrechts der DDR für die (gesamt-)deutsche Staatsangehörigkeit: BVerwG, NJW 1986, 1506, in: Juristische Schulung, 27. 1987, S. 279–283; Wilhelm Wengler, Anerkennung und Umdeutung der DDR-Staatsbürgerschaft in die deutsche Staatsangehörigkeit des Rechtes der Bundesrepublik als grundgesetzlich gebotene Folgerung aus dem Wiedervereinigungsgebot?, in: Recht in Ost und West, 32. 1988, S. 145–151. 100 Lisa Mundzeck, Auf Vertrauenssuche. Die Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit 1969–1973, Hamburg 2008. 101 Detlef Nakath, Die Verhandlungen zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag 1972. Zum Zusammenwirken von SED-Politbüro und DDR-Außenministerium bei den Gesprächen mit der BRD, Berlin 1993; Martin Winkels, Die Deutschland- und Ostpolitik der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland (1966–1969), Diss. Bonn 2009, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de: hbz:5-19672; Jörn Petrick, Egon Bahrs Kommunikationsoffensive. Die deutsch-deutschen Verhandlungen zum Transitabkommen, Verkehrsvertrag und Grundlagenvertrag 1970 bis 1973, Erlangen 2011; Joost Kleuters, Reunification in West German Party Politics from Westbindung to Ostpolitik, New York 2012. Im Machtbereich der SED wurden jedoch zahlreiche Ergebnisse des diplomatischen Prozesses durch interne Regelungen wieder entkräftet, Heidrun Budde, ›Vertrauliche Verschlußsachen‹. Quelle des DDR-Unrechts, in: Recht und Politik, 35. 1999, S. 54–59.

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Rückgangs und der Stärke der Volkswirtschaft nicht mehr. Ziel blieb eine möglichst reibungsarme, staatsgesteuerte Integration. Der Verwaltungsaufwand für Behörden und Emigranten blieb damit hoch. Über die zurückgehende numerische Stärke hinaus stand das Thema Bevölkerungsbewegung nun aufgrund seiner starken Politisierung für weit mehr als nur die Bewegung selbst, was auch der SED-Staat für sich zu nutzen wusste. So konnte die SED-Führung die Reisefreiheit zwischen West und Ost als Trumpf aus dem Ärmel ziehen und auch die kleinsten Zugeständnisse im Bereich Familienzusammenführung, Besuchsregelungen oder im Transit von der Bundesrepublik nach West-Berlin als schmerzhafte Zugeständnisse darstellen, die mit ebenso kleinen Schritten der Anerkennung der Souveränität der DDR durch Vertreter der Bundesrepublik vergolten werden sollten. Der Versuch der SED-Führung, die staatliche Souveränität mit der Brechstange gegen die eigene Bevölkerung und gegen den Deutungsanspruch des Grundgesetzes durchzusetzen, mündete im bilateralen Austausch oft darin, dass die SED-Führung alle Versuche der Verhandlungspartner, das Thema Emigration auch nur zaghaft zu erwähnen, mit scharfen Worten der Nichteinmischung in ›innere Angelegenheiten‹ konterte. Und in der Tat erkaufte sich die Bundesregierung Spielraum gegenüber der SED-Führung mit dem allein pragmatisch begründbaren, offiziellen Schweigen zum Emigrationsdruck. Solche Konzessionen ebneten den Weg aus der Sackgasse, in die das vorherige Dogma ›Freiheit vor Verhandlungen‹ geführt hatte, was mit punktuellen Erleichterungen der Bewegungsfreiheit vergolten wurde. Sehr zum Missfallen konservativer Akteure akzeptierte die Regierung Brandt/Scheel damit zumindest für den Augenblick, die von der SED-Führung geschaffenen Fakten der Teilung weitgehend, um im Kleineren zu justieren und einen langfristigen Wandel anzustoßen. Dieser führte in den KSZE-Prozess und damit zur Schlussakte von Helsinki am 2. August 1975, der der SED-Führung die lang ersehnte internationale Anerkennung vergönnte, andererseits aber durch die darin enthaltenen Bekenntnisse zu zahlreichen Menschenrechten auch das Tor für eine neue Auswanderungswelle aufstieß.102 Parallel dazu kamen in der Bundesrepublik zivile Organisationen wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (GfM bzw. IGfM) oder der an das streng konservative ZDF-Magazin angeschlossene Hilferuf von drüben (Hvd) auf, die das Thema der Freizügigkeit ungeachtet diplomatischer Bedenken in die Öffentlichkeit trugen. Sie agierten meist im Geiste früherer Kampfstrategien der ›psychologischen Kriegsführung‹ zum Beispiel des ehemaligen Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen und zielten darauf, sowohl den SED-Staat als auch jegliche Annäherungspo-

|| 102 Ehrhart Neubert, Der KSZE-Prozeß und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, in: KlausDietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln 1999, S. 295–308; Bernd Eisenfeld, Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZEProzesses, in: Deutschland Archiv, 2005, S. 1000–1008; Johannes L. Kuppe, Die KSZE und der Untergang der DDR, in: ebd., S. 487–493; Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess.

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litik zu delegitimieren. Schon die Existenz dieser Organisationen erachtete der SEDStaat als eine reine Provokation.103 Ihre öffentlichkeitswirksamen Aktionen erschwerten auch der Regierung Brandt/Scheel die deutsch-deutschen Verhandlungen, zugleich aber definierten diese Organisationen auch die Grenzen dessen, was in der Bundesrepublik als Ergebnis des Prozesses der Annäherung der beiden deutschen Staaten als akzeptabel galt.104 Daneben verstärkte sich die öffentliche Präsenz der sogenannten Fluchthilfe, die in der DDR explizit zum feindlichen Akt erklärt wurde.105 Sie umfasste Tunnelgrabungen in den ersten Jahren nach dem Mauerbau ebenso wie diverse Wege des ›Schmuggelns‹ von Menschen durch das immer engmaschigere Kontrollnetz der Sicherheitsorgane der DDR. Hier wandelte sich mit dem Bau der Mauer auch das Verständnis der Tat. Das Konzept der ›Republikflucht‹ wurde zu den Akten gelegt zugunsten des nach außen verlagerten Feindbildes der »feindlich-negativen Diversion« und »krimineller Menschenhändlerbanden«.106 Die Ratio der SED-Führung lag darin, im Strafrecht, in der politischen Legitimation und im öffentlichen Sprachgebrauch den die Übersiedlung anstrebenden Menschen abzusprechen, entscheidungsbefähigte Individuen zu sein. Emigration geriet nun vom Verrat oder Diebstahl an ›Investitionen‹ des Staates in seine Bürger (Ausbildung, Studium etc.) zum intentionalen Angriff auf die Souveränität des Staates. Abwanderungswillige erfuhren damit eine Entindividualisierung ihrer Motive und eine Stigmatisierung als Opfer feindlicher Mächte oder als Täter in einem gegen die DDR gerichteten Spiel. Während sich die bundesdeutschen Öffentlichkeit langsam von der Stigmatisierung der Emigration aus der DDR verabschiedete, allen voran in den Organen des Axel Springer-Verlages, dem Berichte über Auswanderung und Fluchthilfe zur steten Delegitimierung der DDR diente, blieb die Haltung des bundesdeutschen Staates zur Fluchthilfe ambivalent. Keine Bundesregierung unterstützte sie offiziell, dennoch blieb die Fluchthilfe trotz anhaltender Proteste des SED-Staates ein in der Bundesrepublik nicht strafrechtlich verfolgbarer Tatbestand. Dies deckte das verfassungsrechtliche Gebot auf Freizügigkeit.107 In den Verhandlungen zur deutsch|| 103 Dies betrifft auch das mit Fluchthelfern in Kontakt stehende Hilfswerk ›Helfende Hände Hamburg e.V.‹, hierzu siehe Detjen, Ein Loch in der Mauer, S. 207f.; Jörn-Michael Goll, Kontrollierte Kontrolleure. Die Bedeutung der Zollverwaltung für die politisch-operative Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Göttingen 2011, S. 225–228; weiterhin grundlegend: Mihr, Amnesty International in der DDR. 104 Als Schreckgespenst beschworen die Gegner stets einen angeblichen ›Anerkennungskurs‹ der sozial-liberalen Regierung, siehe Erste Beratung der Ostverträge im Deutschen Bundestag am 23., 24., und 25. Februar 1972. Mit dem Bericht zur Lage der Nation, Bonn 1972. 105 Grundlegend: Detjen, Ein Loch in der Mauer, S. 7–18. 106 Fricke, Zur strafrechtlichen Ahndung von Flucht- und Fluchthilfedelikten. 107 Gerhard Wettig, Das Freizügigkeitsproblem im geteilten Deutschland 1945–1986, Köln 1986; Michael Kubina, Das Recht auf Freizügigkeit: Die Aufnahmepolitik Westdeutschlands gegenüber den DDR-Zuwanderern, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 28. 2010, S. 75–89.

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deutschen Grenzkommission stimmte Egon Bahr den Beschwerden des ostdeutschen Unterhändlers Michael Kohl zum »Missbrauch der Transitwege« zwar zu, ließ sie aber diplomatisch ins Leere laufen.108 Während der SED-Staat also im Schatten der Mauer durch schärfste Rhetorik und den Ausbau des Überwachungsapparates die Kriminalisierung des Ausreisewunsches immer weiter ausfeilte, vermied die Bundesregierung gerade beim Thema der Fluchthilfe jedwede Regulierung. Eine weitere Kontaktzone zwischen beiden Staaten entstand durch den sogenannte Freikauf von politischen Häftlingen durch die Bundesrepublik. Bereits zu Zeiten der Hallstein-Doktrin eröffneten diese ›besonderen humanitären Bemühungen‹ einen Kanal, auf dem beide Staaten geheim per Untergrund-Diplomatie zu ›Deals‹ fanden. Hierdurch schlüpften erst wenige hundert, letztendlich aber mehrere zehntausend Inhaftierte gegen Devisenzahlungen durch die Bundesrepublik aus der DDR gen Westen und später regelten beide Staaten hierüber umfassende Zahlungen für über 200.000 legal Ausreisende.109 Während dies in den 1960er Jahren zuvorderst aus politischen Gründen und bereits seit langem Inhaftierte betraf, erlangten später darüber auch solche die Freiheit, die bereits wegen ihrer Ausreisebestrebungen in Haft saßen. Der gesamte Vorgang fand unter beiderseitigem Schweigen statt und wurde von Mittelsmännern organisiert.110 In der Bundesrepublik erzeugte dies ein von Gerüchten umwittertes Spannungsfeld, in dem auf der einen Seite Verschwiegenheit und Konspiration zwischen sich anfeindenden Staaten stand und auf der anderen Seite die Berichte der Skandalpresse und Vorwürfe des Menschenhandels.111 Insgesamt flossen geschätzte 3,5 Milliarden DM in Form von Waren an extra geschaffene Außenhandelsposten der DDR zur direkten Kapitalisierung auf dem Weltmarkt, eine Summe, die der SED-Führung dringend benötigte Anschaffungen von Gütern des Weltmarktes erlaubte. Jede Bundesregierung, egal welchen politischen Kurs sie gegenüber der DDR einschlug, hielt zwischen 1962/63 und 1989 an dem Verfahren fest. Der ›Freikauf‹ stand für mehr als eine Migrationsermöglichung, er öffnete vielmehr einen politischen Kommunikationskanal, über den die Staaten auch weitere Angelegenheiten vom Agentenaustausch bis zu ökonomischen Staatsbeziehungen aushandeln konnten.

|| 108 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA), MfAA, G-A/215-218; 296. 109 Bernd Eisenfeld, Der Freikauf politischer Häftlinge, in: Günter Buchstab (Hg.), Repression und Haft in der SED-Diktatur und die ›gekaufte Freiheit‹. Dokumentation des 14. Buchenwald-Gesprächs vom 22. bis 23. November 2004 in Berlin zum Thema ›Häftlingsfreikauf‹, Sankt Augustin 2005, S. 11– 35; die erste umfassende Studie zum Thema: Wölbern, Der Häftlingsfreikauf. 110 Punktuell siehe die Erinnerungen des langjährig zuständigen Staatssekretärs: Ludwig A. Rehlinger, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989, Halle/Saale 2011. 111 Siehe z.B. Meyer, Freikauf; Brinkschulte/Gerlach/Heise, Freikaufgewinnler.

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5 Wandel nach Annäherung 1975–1984 Nach Aufnahme der DDR in die UNO 1973 verstand die SED-Führung die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 als die lang erstrebte Anerkennung der staatlichen Souveränität. Zugleich aber untergrub das Abkommen durch die Betonung individueller Menschenrechte den Bestand der DDR. Die ersten beiden Hauptteile der Akte, Körbe genannt, sicherten unter anderem die staatliche und territoriale Souveränität der unterzeichnenden Staaten und formulierten Grundlagen wirtschaftlicher Kooperation. Diese Zusagen interessierten die SEDFührung. Dass sie damit auch die Menschenrechte und Grundfreiheiten annahm (Korb I/VII), stellte sie in der Folge unter Verweis auf die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (Korb I/VI) noch nicht vor allzu große Probleme. In Korb III hingegen akzeptierte sie weitreichende Maxime, die individuelle Kontakte über Landesgrenzen betrafen. Zwar findet sich nirgends in der Akte explizit ein allgemeines Recht auf Emigration, aber aus der Kombination verschiedener Formulierungen in den Körben I und III ließ sich dies ableiten. Wie die jüngere Forschung eindrücklich heraushebt, unterschätzte die SED-Führung hier die Sprengkraft des Vertrages, den sie zudem stolz in den größten Medien des Landes abdrucken ließ. Sie ging irrigerweise davon aus, die inneren Nachwirkungen auch langfristig unter Kontrolle halten zu können.112 Ein solcher Glaube an die Regulierbarkeit gesellschaftlicher Prozesse fußte sicherlich auf den aus ihrer Sicht positiven Erfahrungen nach dem Mauerbau. Die Ruhe im Land und der für erfolgreich erachtete Umbau der Verwaltung hin zu noch mehr Zentralismus suggerierten der SED-Führung mehr Macht, als sie de facto besaß. Denn mit dem Wissen um die Vertragsbestandteile rechneten sich Emigrationswillige nun unter Berufung auf die Paragraphen zur Familienzusammenführung, Reiseerleichterungen und Eheschließungen (Korb III/1) ein Recht zur Ausreise aus.113 Dem aber stand entgegen, dass seit 1969 das Stellen von Anträgen zur dauerhaften Übersiedlung nur einer eng definierten Menschengruppe (Rentner, arbeitsunfähige Invaliden) erlaubt war. Mit dem Bekanntwerden und der schleichenden Kunde um mögliche Interpretationen des KSZE-Vertrags überfluteten ausreisewillige DDRBürger die zuständigen Kreisbehörden nun mit Tausenden Ausreiseanträgen, die der SED-Staat als ›rechtswidrige Ersuchen auf Übersiedlung‹ verstand. Die Motive lagen vor allem in der wachsenden Aussichtslosigkeit im Blick auf Verbesserungen der politischen, ökonomischen und sozialen Situation, im Schwinden des Glaubens an eine mögliche Wiedervereinigung und im Gefühl, individuell in einer Sackgasse zu stecken. Während der Staatsapparat der DDR Forderungen nach einem Recht auf || 112 Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess. 113 Für einen frühen zeitgenössischen Bericht siehe Horst Gundermann, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Eine Dokumentation, Berlin 1978.

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Übersiedlung von außen durch den Verweis auf die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten abzublocken versuchte, musste er nach innen mit zunehmender Aggressivität aktive Abwehrarbeit leisten.114 Selbst Verweise auf die KSZE-Akte konnten als Hetze gegen die DDR interpretiert werden, da damit die DDR der NichtEinhaltung von Menschenrechten bezichtigt werde.115 Viel wichtiger als derart normative Exzesse jedoch war, dass der SED-Staat sich gezwungen sah, zum Zwecke seiner Existenzsicherung parallel zum Entspannungsprozess einen immer tiefer ins Privatleben vordringenden Überwachungsapparat aufzubauen.116 Neben öffentlichen Versuchen der Verharmlosung reagierten darum die stets an Bedeutung gewinnenden Ministerien MdI und MfS mit einem wachsenden Instrumentarium auf den überraschenden Anstieg der Antragszahlen. Als Handlungsgrundlage erließen diese Ministerien fortwährend geheime oder vertrauliche Verschlusssachen, die den Umgang mit der Antragswelle zentral und fern jeden öffentlichen Wissens regelten. Hierbei handelte es sich also um massive Eingriffe in den normativen Haushalt der DDR, nicht jedoch um legislative Maßnahmen. Im pyramidalen Machtsystem des SED-Staates wurde diese Regeln zudem oft nur fernmündlich oder partiell an die ausführenden Beamten in den Kreisen weitergegeben. Vor allem jene Beamten, die im direkten Kontakt mit den Antragstellern standen, verblieben so in teilweiser Unkenntnis über die Gegenstände und Entscheidungen, über die sie mit den Bürgern kommunizierten. Die Antragsteller besaßen sowieso keine Informationsrechte über Vorgehen, Möglichkeiten und Entscheidungsgründe. Intern entstand ein Dickicht an vertraulichen Dienstanweisungen, ministeriellen Schreiben und Verordnungen, die jeden Rechtsanspruch der Bevölkerung unterhöhlten.117 Die wichtigste Reaktion auf den Anstieg der Antragswelle nach 1975 stellt die Ordnung 0118/77 des Ministers des Innern und Chefs der Volkspolizei vom 8. März 1977 dar, die unter Federführung des MfS entstand und die Machtbereiche von Innenministerium und Staatssicherheit deutlich ausweitete. Die Hauptaufgabe lag nun nicht mehr allein in der Rückweisung unerwünschter Antragstellern, sondern vielmehr in der »koordinierten Rückdrängung« der Anträge und in Versuchen der || 114 Knut Ipsen, Die Selbstdarstellung der DDR vor internationalen Menschenrechtsorganisationen, in: Materialien der Enquete-Kommission ›Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit‹, Bd. IV, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, S. 547–583; Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess. 115 Bernd Eisenfeld, Die Kriminalisierung der Antragsteller auf Ausreise, in: Recht und Rechtsprechung in der DDR? Vorträge in der Gedenkstätte ›Roter Ochse‹ Halle (Saale), hg.v. Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2002, S. 63–76. 116 Ders., Die Zentrale Koordinierungsgruppe: Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung, Berlin 1995, S. 17. 117 BArch B, DO1/17105; einige der darauf folgenden Regelungen abgedruckt in: Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz (Hg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992.

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»Rückgewinnung«.118 Die weiterhin ansteigenden Antragzahlen führten zur verschärfenden Verfügung 143/83 vom 27. September 1983, die unter dem Schlagwort der ›Koordination‹ den Machtanspruch des MdI über Wirtschaft und Massenorganisationen ausweitete.119 Sie nahm nun ›gesellschaftliche Organisationen‹ sowie Betriebe und Kombinate in die Pflicht, die »Rückdrängung« mit zu gestalten. Allerdings zeigten sich diese vor allem in den ersten Jahren nicht nur als unfähig, sondern auch als unwillig, den politischen Auftrag umzusetzen. Die ohnehin problemüberlasteten Betriebe empfanden sich oft als nicht verantwortlich.120 Dem MdI und dem MfS gelang es nur Schritt für Schritt, die Wirtschaftsbetriebe dem Diktat des Politischen und damit ihrer Deutungsmacht unterzuordnen und sie als Akteure in der Migrationspolitik zu verankern. So nahmen ab Ende der 1970er Jahre nicht nur die Antragszahlen und die Kreativität der Antragsteller zu, den Druck zur Genehmigung des Ersuchens zu erhöhen, sondern auch die Verfeinerungen in der geheimen und vertraulichen Verordnungen des Staates. Dies mündete in die gesellschaftliche Stigmatisierung und Kriminalisierung der Personen, die einen Antrag auf Ausreise stellten.121 Die derartig breit angesetzte und zugleich im Geheimen stattfindende Regulierung sollte durch eine operative Instanz des MfS koordiniert werden.122 Im Dezember 1975 schuf das MfS per Befehl 1/75 als direkte Reaktion auf die sich nach Helsinki abzeichnenden Entwicklungen im Antragswesen die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG), der entsprechende Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG) nachgeordnet wurden.123 Die ZKG führte die bislang auf die verschiedenen Abteilungen des MfS verteilten Kompetenzen zur Ausreiseverhinderung zusammen und erhielt (ebenso wie die BKG) weitreichende Befugnisse im Antragsverfahren.124 Sie führte sie in erster Linie Informationen zusammen und koordinierte operative Aktionen. Der Aufgabenbereich der durch ihre Zentralität mit besonderer Macht ausgestatteten ZKG lag ausschließlich im Bereich der Übersiedlung und beinhaltete die Rückdrängung der Anträge, operative Eingriffe ins Privatleben, die Überwachung ›feindlicher Organisationen‹ im In- und Ausland (Hilfsorganisationen, Notaufnahmelager etc.) und

|| 118 BArch B, DO1/61218, Änderungen in Folgeordnern DO1/61218-61232; vom MdI ergänzt durch die noch sehr kurze Verfügung 34/77, die 1983 durch die verfeinerte Verfügung 143/83 ersetzt wurde, vgl. BArch B, DO1/64235. 119 BArch B, DC20/5416, weiter spezifiziert durch folgende Durchführungsverordnungen und Argumentationen, DO1/64238. 120 Dieser Vorwurf war freilich ein übliches Auslagern von Verantwortung auf untere Hierarchieebenen, vgl. BArch B, DO1/16488 (1977–1982) und DO1/13854 (1961). 121 Grundlegend: Eisenfeld, Die Kriminalisierung der Antragsteller auf Ausreise. 122 Das MdI musste seit Mitte der 1960er zunehmend seine Maßnahmen ohnehin mit dem MfS abstimmen und dessen Anordnungen in Erlasse fügen, was umgekehrt nicht der Fall war. 123 Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 17. 124 Ebd., S. 37f.

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die Anleitung und Überwachung von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern.125 Während sich die Forschung bereits der Struktur und den internen Funktionswegen der ZKG widmete, steht weiterhin die Frage im Raume, inwiefern die machtvolle Zentralität der ZKG nicht nur die Sicherheitsarchitektur des SED-Staates änderte, sondern wie wirksam sie als Unterdrückungs- und Kontrollorgan im Staate war, der zunehmend die Kontrolle über die Emigrationswilligen verlor.126 In der Bundesrepublik trat hingegen in dieser Phase ein Akteur immer stärker in der Vordergrund, den es in der DDR gar nicht gab: das Bundesverfassungsgericht als unabhängige Kontrollinstanz politischer Entscheidungen. Im Jahre 1973 bestätigte es die Vereinbarkeit zwischen Grundlagenvertrag und Grundgesetz gegen den Einspruch der bayrischen Staatsregierung, zugleich aber betonte es mahnend, dass davon die verfassungshoheitlich definierte Wiedervereinigungs- und Sorgfaltspflicht für sämtliche Deutschen nicht berührt werde.127 Das Bundesverfassungsgericht bestätigte so explizit die Gültigkeit der innerdeutschen Freizügigkeit und setzte damit enge Grenzen für den weiteren Dialog mit der SED-Führung. In den Folgejahren unter der Regierung Schmidt änderte sich trotz der Verschärfung der Ost-WestSpannungen diesbezüglich wenig, beide Staaten hielten trotz teilweise heftiger Anfeindungen am Annäherungskurs fest. Darunter fällt auch die Arbeit einer paritätischen Grenzkommission, die seit 1972 den Verlauf der Grenze kennzeichnete und den Großteil der strittigen Fragen ihres Verlaufs, die Notfallkommunikation und Verantwortlichkeiten für die Instandhaltung gewisser natürlicher Grenzlinien zwischen den beiden Staaten regelte.128 Für Skandale auf der Bundesseite sorgten dabei regelmäßig der gleichzeitig stattfindende Ausbau der Grenzanlagen durch den SED-Staat, inklusive der berüchtigten Selbstschussanlagen und Minenfelder.129 Der zunehmende Kontakt unterrangiger Behörden konsolidierte damit nicht nur den Grenzverlauf, sondern trug auch die Botschaft in sich, dass beide Staaten sich auf einen Grenzverlauf und damit die Existenz einer geregelten Grenze einigen konnten und wollten. Die Grenzkommission substantierte damit sowohl die Annäherung zwischen beiden Staaten, als auch die territoriale Abgrenzung und damit die Teilung Deutschlands.130 Weitere Folgeabkommen des Grundlagenvertrages betrafen den Post- und Fernmeldeverkehr 1976

|| 125 Ders., Kampf gegen Flucht und Ausreise. Die Rolle der Zentralen Koordinierungsgruppe, in: Hubertus Knabe (Hg.), West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von ›Aufklärung‹ und ›Abwehr‹, Berlin 1999, S. 273–283. 126 Als Anregung siehe v.a. Kowalczuk, Stasi konkret, S. 209–246. 127 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE) 36, 1 (1973). 128 Siehe z.B. PA AA, MfAA, A 1770-1771, jüngst dazu: Schaefer: States of Division, S. 157–177. 129 PA AA, MfAA, C 1247/78 – 1247/78. 130 Zu Kontakten siehe v.a. Astrid M. Eckert, Geteilt, aber nicht unverbunden: Grenzgewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 62. 2014, Nr. 1, S. 69– 100.

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sowie den Ausbau der Verkehrsverbindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin 1980. Solche Übereinkünfte erleichterten auch den Kontakt zwischen den beiden Staatsbevölkerungen, worüber auch Emigrierte Informationen über mögliche Ausreisewege austauschen konnten, weswegen die SED-Führung auch private Kontakte als »aggressive westliche Kontaktpolitik« verdammte.131 In all den Verflechtungen zwischen den Bevölkerungen beider deutscher Staaten erkannte der SED-Staat allein das Interesse des »Gegners«, wie es im ersten Halbjahresbericht 1977 zur Ausreisebewegung hieß, »durch vielfältige Formen und Methoden, inkl. Massenmedien und unter Ausnutzung von Kontakten und Reiseverkehr im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführung nicht gefestigte Bürger zur Übersiedlung zu inspirieren.«132 Die DDR verhandelte an den wenigen Zuwanderern aus der Bundesrepublik demgegenüber vor allem ihre inneren Zustände.133 Während sie im öffentlichen Bewusstsein heute aufgrund der Aufnahme von Deserteuren oder Terroristen der RAF oder der Bewegung 2. Juni als zuwanderungsfreundlich für gewisse Gruppen gilt, kennzeichnete doch vielmehr eine Stimmung von Misstrauen und Paranoia die Politik der SED. Nach wie vor suchten Bürger der Bundesrepublik den Weg in die DDR, wobei die Gründe von Desertion über Eheschließung bis zur Rückkehr nach dem Scheitern in der Bundesrepublik reichten. Die Anzahl sank jedoch zwischen 1970 (2.082 Fälle) und dem Tiefpunkt 1977 (1.142 Fälle) konstant und stabilisierte sich in den Folgejahren zwischen 1.200 und 1.600 jährlichen Fällen.134 Auch in diesem Feld entsprach es den inneren Kontrollbedürfnissen des SEDStaates, die Sicherheitsarchitektur zu zentralisieren. Mit jahrelanger Verspätung nahm 1979 das zentrale Aufnahmeheim Röntgental seinen Betrieb auf und löste die vorher im Land verstreuten Lager ab. Den Betrieb leitete offiziell das MdI (und damit die Volkspolizei), die bestimmende Gestaltungsmacht ging jedoch vom MfS aus.135 Sämtliche Erstzuziehende und Rückkehrer aus der Bundesrepublik mussten es durchlaufen und sich einer zeitraubenden Untersuchung unterziehen. Bis zu 50 Prozent der Aufgenommen wurden in die Bundesrepublik ›rückgeschleust‹.136 Unter den in Röntgental aufgenommenen befanden sich zahlreiche Personen, die zuvor die DDR ungenehmigt verlassen hatten, jedoch kaum solche, deren Ausreiseantrag bewilligt worden war. Begründbar ist dies mit dem längeren Entscheidungs-

|| 131 BArch B, Berlin, DO1/16488f. 132 BArch B, Berlin, DO1/16489. 133 Für eine weiterführende Fallstudie siehe Müller, Übersiedler von West nach Ost in den Aufnahmeheimen der DDR. 134 Von einem »wachsenden Ansturm« sollte also nicht unbedingt ausgegangen werden, vgl. Wunschik, Migrationspolitische Hypertrophien, S. 47. 135 Ebd., S. 46–51, einzig Sonderfälle wie übergelaufene Bundeswehrsoldaten im Offiziersrang wurden in einem Außenobjekt begutachtet. 136 Ebd., S. 51.

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prozess, der erlebten Ausgrenzung der Antragssteller in den Lokalgesellschaften und den zahlreichen offenen Konflikten mit Systemvertretern, die überhaupt erst die Ausreisegenehmigung ermöglichten. Im Vergleich unaufgeregt reagierten die mit der Notaufnahme betreuten Institutionen der Bundesrepublik mit der sich verändernden Zusammensetzung der Ausreisenden, die nun nicht mehr primär nur Rentner und ›Invaliden‹, sondern vermehrt auch Arbeitsfähige und sogenannte ›hartnäckige Antragsteller‹ umfassten. Die Zuwanderung per Ausreiseantrag brachte wenige, aber großenteils gut ausgebildete Arbeitskräfte ins Land, die sich oft bereit fanden, für niedrige Löhne zu arbeiten.137 Auch aus der politischen Sprache verschwand der verdächtige ›Wirtschaftsflüchtling‹ weitgehend. Nun geriet das ökonomische Gefälle zwischen beiden deutschen Staaten zum Ausdruck der Unterdrückungspolitik des SED-Staates, weswegen den neuen Metaphern entsprechend nun selbst jeder legal Ausreisende »aus dem großen Knast« kam.138

6 Die Überforderung 1984–1989 Obwohl die letzte Jahre der deutsch-deutschen Teilung als Fortsetzung der Mitte der 1970er Jahre begonnenen Periode gelten können, gibt es auch gute Gründe, sie als eine eigene Phase wahrzunehmen. Dies gilt ganz besonders für die Migrationsverhältnisse. Auf der Makroebene rangierte die zwischenstaatliche Politik zwischen Entspannung und Bedrohung, in dem sich aggressive neue Kalte-Kriegs-Rhetorik von Ost und West mit weiteren Annäherungsmaßnahmen und bilateralem Austausch abwechselten. Zudem löste sich der SED-Staat weiter von der UdSSR, indem er die Politik der Perestroika und, hier besonders bedeutend, der Glasnost nicht mittrug, vielmehr mehr oder minder offen ablehnte.139 Erst aus der Rückschau wird aber deutlich, wie sehr die Emigrationsbewegung in diesen Jahren die SED-Führung überforderte.140 Die Angst vor einem neuen Volksaufstand, das sogenannte ›JuniSyndrom‹, begleitete die Staatsführung seit 1953 auf Schritt und Tritt. Erst in den || 137 Hur, Die Integration ostdeutscher Flüchtlinge. 138 So auch ein zeitgenössischer Buchtitel: Horst-Günter Kessler/Jürgen Miermeister (Hg.), Vom ›Großen Knast‹ ins ›Paradies‹? DDR-Bürger in der Bundesrepublik, Reinbek 1983. 139 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998, S. 135–141, 315–319; Franca Wolff, Glasnost erst kurz vor Sendeschluß. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985–1989/90), Köln 2002, S. 80–97. 140 Joppke, Why Leipzig?; Werner Hilse, Die Flucht- und Ausreiseproblematik als innenpolitischer Konfliktstoff in der DDR und innerhalb der DDR-Opposition, in: Materialien der Enquete-Kommission ›Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit‹, Bd. VII/1, BadenBaden/Frankfurt a.M. 1995, S. 390–397; Neubert, Der KSZE-Prozeß und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR.

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1980er Jahren erreichte der Dissenz zwischen Staatsvolk und Staatsführung erneut eine tatsächlich staatsgefährdende Substanz. Für den Wandel der Regulierungsstrategien stehen zwei Geschehnisse des Jahres 1984. Zum einen entließ der SED-Staat auf Anweisung Erich Mielkes 1984 in Schüben mehrere zehntausend ›hartnäckige‹ Antragsteller. Der Chef des MfS sah ihre Präsenz im Staate mittlerweile als eine größere Bedrohung an, als die befürchtete Öffentlichkeitswirkung einer solchen Aktion und die an die Emigration anschließende ›Kontaktpolitik‹, also die privaten und Kettenmigration inspirierenden Kontakte zwischen Emigrierten und der DDR-Bevölkerung. Erstmalig schlugen damit die steigenden Antragszahlen seit 1975 auf den Umfang der Übersiedlung durch. So konnte das MfS kurzfristig einen gewissen Druck im Lande abbauen. Langfristig verschärften solche Aktionen ihn aber, da die breite Bevölkerung die Entlassungen als Zeichen sah, dass hartnäckiges Drängen auf die Sondergenehmigung tatsächlich zur Ausreiseerlaubnis führen konnte. Trotz steter gegenteiliger Bekundungen der zuständigen Stellen in den Kreisen und Bezirken lagen die Antragssteller damit auch vollkommen richtig. Aus dieser einseitig initiierten und für die Bundesregierung überraschenden Zuzugswelle erwuchsen nun westlich der Grenze neue Probleme. Aus der Rhetorik wurde nun Realität und diese ging mitten in der Krise der Kohle- und Metallbranche mit altbekannten Sorgen der ökonomischen Überforderung durch Zuwanderung einher. Sowohl der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen, als auch der Staatsminister für Deutschlandpolitik im Kanzleramt, Philipp Jenninger, verkündeten, dass die Bundesregierung nicht intendiere, »die DDR zu entvölkern«. Aus dem Kabinett hieß es, es entspräche »auch nicht unserem Anspruch auf Einheit der Nation, wenn sich am Ende die Nation bei uns versammelt.«141 Dies jedoch waren Wortblasen. Die Bundesregierung stand zwischen Willkür der SED-Führung und verfassungsrechtlichem Rahmen und besaß ohnehin keine Mitsprachemöglichkeit im Blick auf den Umfang der Übersiedlung. Bundeskanzler Helmut Kohl jedoch wusste den qualitativen und quantitativen Wandel der Übersiedlung für sich und seine Profilbildung als wortstarker Deutschlandpolitiker zu nutzen. Er wandelte ein unter Brandt kontrovers etabliertes Medium zu seinen Gunsten, die ›Berichte zur Lage der Nation‹.142 Das nun in ›Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland‹ umbenannte Medium wandelte sich von einer ausführlichen, wissenschaftlich fundierten Aufstellung zahlreicher einzelner || 141 Zitiert in: Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, in: Der Spiegel, 1984, Nr. 14, S. 17. 142 Zur Debatte siehe Gerd Hagen, Materialien zum Bericht zur Lage der Nation, in: Außenpolitik. Zeitschrift für Internationale Fragen, 22. 1971, S. 81–91; Kurt Steinhaus, Bemerkungen zu den ›Materialien zum Bericht der Lage der Nation 1971‹, in: Marxistische Blätter, 9. 1971, S. 59–64; Ulrich Lohmann, Die Berichterstattung der Tagespresse über die ›Materialien zum Bericht der Lage der Nation‹ 1972 und 1974, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 21. 1976, S. 435–444.

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Aspekte zu einem knappen und bebilderten Büchlein. Laut Kohl ging es nach der sozialdemokratischen Ära um die Rückkehr zum »eigentlichen Zweck dieser Berichterstattung. Es geht um Selbstbestimmung, um Menschenrechte, und es geht um die Einheit unserer geteilten Nation.«143 Es beleuchtete anschaulich die Position der Bundesregierung in Bezug auf die DDR und untermauerte vor allem mit zahlreichen Fotos die Problematik der Menschenrechte und damit auch der Ausreiseantragssteller. Offiziell ging die Bundesregierung damit vom Beschweigen der Migrationsbeziehungen zum direkten Adressieren der Abwanderung als wünschenswert über. In den ›Berichten‹ konnte die Regierung Kohl nun öffentlichkeitswirksam die neue und im Gegensatz zur Helmut Schmidts Regierungslinie wieder stärker auf Konfrontation ausgerichtete Deutschlandpolitik kommunizieren und thematisierte das Thema der Freiheit konkret auf die Mauer und auf die Ausreise bezogen.144 Explizit formulierte Helmut Kohl diesen Wandel in einer Rede zur Lage der Nation vor dem Bundestag am 15. März 1984: »Wir wissen, welchen Belastungen sich Deutsche in der DDR aussetzen, die einen Übersiedlungsantrag stellen. Die Bundesregierung begrüßt die wachsende Zahl der Genehmigungen. Wir freuen uns über jeden, der in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln möchte und von den Behörden der DDR die Genehmigung dazu erhält.«145 Damit disziplinierte er zum einen Kritiker in den eigenen Reihen, die eine neue Überforderung oder eine ›Entvölkerung‹ der DDR befürchteten. Zum andern integrierte er so das spannungsgeladene Thema der Übersiedlung in die deutsch-deutschen Beziehungen. Zudem veränderte sich das Notaufnahmeverfahren 1986: Antragstellung und Ortwahl der Zuwanderer wurden vereinfacht.146 Ausreise aus der DDR wurde von der Bundesregierung und zahlreichen Medien nun gerade auch wegen des ökonomischen Hintergrunds der Antragsstellung und in Ergänzung zur Oppositionsbewegung (deren Ablehnung der Ausreise hingegen kaum wahrgenommen wurde) explizit als politischer Gegenstand behandelt. Dieser erneute Perspektivwechsel schlug sich bis in die Statistik des BMI durch, welche in einer historischen Darstellung des Eingliederungsverfahrens 1988 im Widerspruch zur Praxis der Jahre vor dem Mauerbau retrospektiv und kontrafaktisch sämtliche Einwanderer aus der DDR zwischen 1949 und 1961 als ›Flüchtlinge‹ charakterisierte.147

|| 143 Zitiert in Georg Stötzel, Kontroverse Begriffe: Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1995, S. 316. 144 Siehe z.B. Manuel Fröhlich, Sprache als Instrument politischer Führung: Helmut Kohls Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, München 1997. 145 Helmut Kohl, Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vor dem Deutschen Bundestag, 15. März 1984, in: ders., Reden 1982–1984, Bonn 1984, S. 344–364. 146 Kimmel, Das Notaufnahmeverfahren, S. 1026. 147 Nach 1961 wurde unterschieden in Übersiedler, Flüchtlinge inkl. Sperrbrecher und Sonstige; vgl. Bestandsaufnahme der Eingliederungshilfen von Bund und Ländern für Aussiedler und für

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Gleichzeitig stellte östlich der Grenze das MdI »zunehmend aggressive Begründungen des Übersiedlungsersuchens« und eine ansteigende Zahl der »Androhungen von provokatorisch-demonstrativen Handlungen« fest.148 Neben bereits bekannten Formen wie Kontaktaufnahme mit westlichen Medien, das Zeigen entsprechender Schilder im öffentlichen Raum kamen nun Botschaftsbesetzungen als eine neue Form hinzu, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ironischerweise baute diese Protestform gerade auf einem Resultat der weitgehenden bundesrepublikanischen Anerkennung der DDR auf. Die auf der Basis des Grundlagenvertrages eingerichtete Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR mauserte sich zu einem Anlaufpunkt für Antragssteller zwecks Erbauung und Information. Für den SED-Staat war die Ständige Vertretung der Bundesrepublik damit auch ein ›Feindobjekt‹ im Rahmen der migrationsbedingten Sicherheitsarchitektur und eine offene Wunde aufgrund von Botschaftsbesetzungen. Ebenso gerieten die nach der Aufnahme der DDR in die UNO eingerichteten westliche Botschaften dritter Staaten und die bundesdeutschen Vertretungen im sozialistischen Ausland zu weiteren Vehikeln, die Ausreise zu erpressen. Um dem zumindest in der DDR entgegenzutreten, stellten die Sicherheitsorgane des SED-Staates zunehmend Zutrittsregeln auf und Bedienstete zur Überwachung ab.149 Solche Botschaftsbesetzungen blieben numerisch zwar begrenzt und auf einzelne Wellen bezogen (1984: 310 Personen, 1985–1988: insgesamt 359 Personen; im Verlaufe des Jahres 1989 bis zum 9. November: 2.044 Personen), aber die negative Öffentlichkeitswirkung setzte die SED-Führung unter hohen Druck.150 Schon lange vor dem Einsatz von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher für die Botschaftsbesetzer in Prag im Herbst 1989 erkannte auch der SEDFührung, dass das monotone Berufen auf ›innere Angelegenheiten‹ zur Farce verkommen war. Je weiter die 1980er Jahre fortschritten, desto mehr zeigten die Abnutzungseffekte des Grundlagenvertrages ihre Wirkung. Bis 1988 begrenzte der SED-Staat sein Handeln jedoch ganz wesentlich auf weitere Repressionen gegen Ausreisende, von einigen Aktionen abgesehen, die darauf zielten Wanderungsdruck abzulassen. Partiell traten Ausreisewillige dem entgegen, indem sie sich zumindest in Einzelfällen informell organisierten und öffentliche Aktionen unternahmen. Oft zielten sie dabei auf Aufmerksamkeit und mediale Berichterstattung in der Bundesrepublik, von denen zumindest Funk und Fernsehen ja auch weitestgehend in der DDR zu empfangen waren.151 Der Sicherheitsapparat des || Zuwanderer aus der DDR und Berlin (Ost), S. 2f.; Baum, Die Integration von Flüchtlingen und Übersiedlern, S. 517–520. 148 Zwischenbericht Familienzusammenführung, 22. März 1984, S. 6, BArch B, DO1/16489. 149 Mayer, Flucht und Ausreise, S. 307–310. 150 Zahlen aus: ebd., 358f. 151 Oft zitierte Fälle wie der ›Jenaer Kreis‹ oder demonstrative Aktionen blieben aber die Ausnahme, der Großteil der Antragsteller versuchte dem Staat die Genehmigung der Ausreise im Rahmen des legal Möglichen abzuringen; siehe v.a. Hürtgen, Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz; hier

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SED-Staates kaprizierte sich immer mehr auf die Ausweitung der ›Rückdrängung‹ unter Einbeziehung der organisierten Gesellschaftsteile, in erster Linie der Betriebe, Kombinate und der Massenorganisationen, weswegen die in der Erstform recht kurz gehaltene Ordnung 0118/77 und die Verfügung 143/83 durch zahlreiche Erweiterungen und Verfeinerungen ergänzt wurden. Erneut blähten sich detaillierte Geheimregelungen auf, denen zudem eine Vielzahl weiterer Anweisungen, Kontrollprozeduren, Brigadeeinsätzen, Durchführungsverordnungen und Argumentationen zur Seite gestellt wurden.152 Der Grundton dieser Maßnahmen war, die Verantwortung für die Ausreisebewegung den lokalen Gegebenheiten und regionalen Verantwortungsträgern zuzuschieben, ohne die Willkür der Genehmigungspolitik und das Staatsgefüge des Mauerstaates im Gesamten kritisch hinterfragen zu müssen.153 Der von allen Seiten steigende Druck jedoch führte dazu, dass die SED-Führung Ende 1988 eine zentrale Änderung am Antragsverfahren beschloss. Ab 1. Januar 1989 erhielten alle DDR-Bürger das Recht auf einen Ausreiseantrag. Auch wenn daraus freilich kein Recht auf Ausreise folgte, wurde ihnen dadurch ein Menschenrecht zugestanden, welches zuvor (seit 1983) allein Rentnern und als ›arbeitsunfähige Invaliden‹ kategorisierte Personen zugesprochen wurde. Dies war eine grundlegende Kursumkehr. Dadurch wandelte sich zumindest normativ die operative Verfolgung der Antragsteller zur Bearbeitung der Anträge, was auch eine partielle Rückverlagerung der Verantwortung von der mittlerweile vollkommen überlasteten Staatssicherheit auf die Organe des MdI bedeutete. Dies mündete im ohnehin aufgeheizten Jahr 1989 direkt in einen massiven Anstieg der Antragszahlen und in der sofortigen Überforderung der lokalen Ämter.154 Es änderte sich aber nur das Antragsverfahren, nicht das nach wie vor geheime Genehmigungsverfahren. Den Ämtern stand weiterhin das Recht zu, direkt und unbegründet abzulehnen und sie unterlagen weiterhin der Pflicht, den Bearbeitungsprozess aufs Engste mit dem MfS abzustimmen. Den Frust der Antragsteller steigerte dies nur weiter – zusammen mit dem Ärger über die gefälschten Kommunalwahlen 1989 und der allgemeinen öffentlichen Empörung über den SED-Staat. Für prospektive Auswanderer eröffnete sich nun aber die Möglichkeit, sich eines Anwalts zu bedienen. Neben dem in diesem Feld sehr versierten Wolfgang Vogel trat dabei der Rostocker Wolfgang Schnur hervor. Hier jedoch schloss sich der Kreis. Wie sich im Jahre 1990 herausstellte, diente der Kirchenvertreter und Rechtsbeistand der Opposition Schnur, dem sich vielen Antragssteller anvertrauten und der im Jahre 1990 sogar beinahe als Spitzenkandidat in die erste freie Volkskam-

|| im Gegensatz zur überstarken Betonung von Organisation und Vernetzung bei Gehrmann, Die Überwindung des ›Eisernen Vorhangs‹. 152 BArch B, DO1/64237f.; DC20/5416 153 BArch B, DO1/16490. 154 Siehe Quartalsberichte 1988–1989, BArch B, DO1/16491.

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merwahl gezogen wäre, seit 1965 dem MfS als äußerst effektiver ›Inoffizieller Mitarbeiter‹. Zumindest in seinem Fall wurde so der Anwalt zu einem weiteren Überwachungsinstrument. Zudem entkriminalisierte die Regelung vom 1. Januar 1989 ausschließlich die Antragsstellung. Die Antragsteller selbst galten weiterhin als ›feindlich-negativ‹ und wurden politisch, sozial und rechtlich ausgegrenzt.155 Zusammen mit der Agitation gegen die Oppositionsbewegung, die im letzten Jahr der SED-Herrschaft große Macht gewann, nahm der Eingriff in die Privatsphäre der Antragsteller im Laufe der Zuspitzungen des Jahres 1989 damit trotz allem nicht ab. Dabei ist anzunehmen, dass die SED-Führung zunehmend verstand, dass es sich hierbei um ein unerwartetes ›letztes Gefecht‹ handelte. Am 9. November 1989 gab sie nach und der Sekretär des ZK der SED für Informationswesen, Günther Schabowski, öffnete durch eine eher beiläufige Bemerkung auf einer Pressekonferenz »mit sofortiger Wirkung« die Grenzen. Was als unspezifizierte Reiseerleichterung den nicht mehr handhabbaren Druck mindern sollte, bedeutete das Ende der »Diktatur der Grenze«.156 Dies war allerdings nur der finale Paukenschlag eines Endes, welches Jahre zuvor begonnen hatte und aufgrund der Marginalisierung der Relevanz der Migrationsverhältnisse für alle Beteiligten doch überraschend kam.

7 Schlussfolgerungen Die SED-Führung entwarf unter steter Betonung kollektiver Ziele und mit wandelndem Charakter zahlreiche normative und operative Geheimregeln, die die Migrationsverhältnisse einseitig regulieren sollten. Zudem betonte sie stets die Destruktivität der ›hartnäckigen Antragsteller‹ und verfolgte sie ironischerweise ebenso wie die die Antragsteller oft ausgrenzende Oppositionsbewegung. Faktisch jedoch war der SED-Staat aufgrund seines Ringens um internationale Anerkennung seiner staatlichen Souveränität zunehmend in internationale Rahmen eingebunden. In der Bundesrepublik wandelte sich nach einer längeren Phase des offiziellen Beschweigens die Politik hin zur Individualisierung der Ausreisewilligen und zur Erleichterung der Integration der anfangs als Last empfundenen Emigranten aus der DDR.

|| 155 Diese Modi der Selbstrechtfertigung und Angriffsrhetorik suchen wirklichkeitsresistente hohe MfS-Offiziere auch lange nach dem Mauerfall noch zu ihren Gunsten auszulegen, vgl. Gerhard Niebling, Gegen das Verlassen der DDR, gegen den Menschenhandel und Bandenkriminalität (zur Verantwortung der ZKG/BKG), in: Reinhard Grimmer (Hg.), Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, Bd. 2, Berlin 2002, S. 161–245. 156 Thomas Lindenberger, Diktatur der Grenze(n): Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde, in: Hans-Hermann Hertle/Konrad Jarausch/Christoph Kleßmann (Hg.), Mauerbau und Mauerfall: Ursachen, Verlauf, Auswirkungen, Berlin 2002, S. 203–213.

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Dies spiegelte in den 1980er Jahren die einsetzende akademische Erforschung der Ausreisemotive. Im Gegensatz zur vormaligen Suche nach kollektiven und politischen Motiven und Repressionserlebnissen zum Beispiel aufgrund religiöser Zugehörigkeit, individualisierte die Wissenschaft und die Politik der 1980er Jahre die Ausreisemotive und Integrationsprozesse. Besonders sticht dabei eine ausführliche Studie heraus, deren Ergebnisse und Grundthesen später unter dem Begriff »Private Wege der Wiedervereinigung« auf den Punkt gebracht wurden.157 Dies entsprach jedoch der in den 1980er Jahren herrschenden, politischen Sicht auf die Ausreisenden als Individualmigranten, wobei der informelle Netzwerkcharakter der Migrationsverhältnisse marginalisiert wurde. Selbst in den 1980er Jahren war die Auswanderung alles andere als eine Privatangelegenheit, sondern ein staatlich regulierter (und immer stärker medial thematisierter) Vorgang. Er reichte von der ›hartnäckigen‹ Durchsetzung des Ausreisewillens über internationale Vernetzungen zwecks Rechteinforderung bis zur schnellstmöglichen Integration in die Bundesrepublik durch Anerkennungsbürokratie, Begrüßungsgeld und Wohnungskrediten. Letztendlich ist damit weder die Reduktion der Handlungsoptionen auf ›exit‹ oder ›voice‹, wie damals in der Soziologie vertreten, noch die scheinbare Polarität zwischen privatem Handeln und kollektiven Folgen weiterführend. Vielmehr blicken wir hier auf die Legitimation des eigenen Handelns. Die betroffenen Personen mussten sich in Ost und West unbedingt als Einzelfall darstellen, denn nur dies ermöglichte erstens das Erringen einer Sondergenehmigung durch den SED-Staat und zweitens lange Zeit die Akzeptanz als Flüchtling in der Bundesrepublik und damit den Erhalt des Flüchtlingsausweises der Kategorie C. Sozial aber war die Auswanderung aus der DDR ein kollektiver Prozess, der individuell vor allem durch die Ausgrenzung spürbar war. Dem stellten prospektiven Auswanderer teilweise lokale, häufiger jedoch grenzüberschreitende familiäre Netzwerke entgegen. Diese jedoch waren weder migrationsursächlich noch allein motivierend, sie sicherten vielmehr eine gewisse psychologische Stabilität in Zeiten von Ausgrenzung, Rückstellung und Verfolgung. Die Individualisierung hatte also System und baute auf zahlreiche Prozesse auf, derer sich Antragsteller und auch Flüchtlinge gezielt bedienten und die sich ebenso wie die Ablehnungsrhetorik des SED-Staates aus Tropen und wiederholten Motiven speisten, die sich den Veränderungen der staatlichen Relationen im Kalten Krieg anpassten. Die Individualisierung zum Zwecke der Durchsetzung des Ausreisewillens und der Integration in die Bundesrepublik war eine kollektive Verhaltensform, denn weder Verfolgung noch Kriminalisierung oder Argumentationsmuster beruhten auf situativen Einzelfällen, sondern entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte in einem, den Migranten wohl

|| 157 Schumann (Hg.), Private Wege der Wiedervereinigung.

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bewussten deutsch-deutschen Wechselspiel aus Annäherung und Spannung beziehungsweise aus Bekämpfen, Beschweigen und Motivieren. Dabei ist es von größter Bedeutung, die deutsch-deutschen Migrationsverhältnisse nicht von ihrem Ende 1989/90 her zu denken, sondern die einzelnen Phasen als jeweiligen Ausdruck – und eventuell gar als Kristallisationspunkt – der deutschdeutschen Beziehungen ernstzunehmen. Weder war die Politik des SED-Staates dauerhaft von einer prinzipiellen Überforderung durch den Emigrationsdruck gekennzeichnet, noch ist die Politik und Kultur der Bundesrepublik auf eine grundlegende Ausnahmebereitschaft und auf kohärent unterstützende Maßnahmen gegenüber den Auswanderern aus der DDR zu reduzieren. Vielmehr benötigt dies eine schonungslose und entmystifizierende Historisierung der dynamischen Prozesse zwischen Individuen, Politik und Gesellschaft. Trotz des Wechselspiels zwischen individuell begründetem Handeln sowie politischen und kollektiven Rahmungen erzeugte der Ruf nach Auswanderungsrecht, die Restriktion und die zahlreichen evasiven Praktiken der Auswanderungswilligen genau jene Spannung, die dafür sorgte, dass die Emigration aus der DDR vor 1961 und auch zu Zeiten der Mauer ein verbindendes Glied zwischen den beiden deutschen Staaten blieb. Im Zuge der Souveränisierung der DDR gewann diese Bewegung paradoxerweise trotz zeitweiliger gegensätzlich erscheinender Entwicklungen letzten Endes immer stärker an Schlagkraft und staatsgefährdendem Potenzial. Ironischerweise sollte Erich Honecker Recht behalten, wenn er im Januar 1989 erklärte: »Die Mauer wird […] so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben.«158 Denn letzten Endes verursachte der Fall der Mauer die sofortige Änderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Seit Jahren wirkten Tausende Oppositionelle und Hunderttausende Ausreisewillige auf die Änderung der Bedingungen hin. So war die tolpatschig berühmte Pressekonferenz Günter Schabowskis am 9. November, auf der er in skurriler Unbeholfenheit und in zentralen Details unabgesprochen die sofortige Reisefreiheit erklärte, nur noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Damit jedoch begann eine neue Epoche der innerdeutschen Wanderungen, die eines anderen Analyserahmens bedürfen.159

|| 158 Neues Deutschland, 20. Januar 1989. 159 Siehe z.B. Rainer Münz, Deutschland und die Ost-West-Wanderung, in: Heinz Fassmann/ Rainer Münz (Hg.), Ost-West-Wanderung in Europa, Wien 2000, S. 49–82.

Monika Mattes

Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren Das dynamische Wirtschaftswachstum im westlichen Nachkriegsdeutschland war unter anderem Zuwanderungsbewegungen zu verdanken, welche die bundesdeutsche Erwerbsbevölkerung ergänzten – zunächst durch Flüchtlinge und Vertriebene, dann durch die staatlich initiierte Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum. Wie andere westeuropäische Industriestaaten schloss auch die Bundesrepublik zwischen 1955 und 1968 bilaterale Abkommen mit Ländern des Mittelmeerraums, um Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien für die boomende westdeutsche Wirtschaft anzuwerben.1 Damit knüpfte sie zum einen an das bereits im Kaiserreich erprobte Instrument der aktiven Arbeitskräfterekrutierung an.2 Zum anderen bildeten diese Jahre prospektiv auch das zeitliche Bindeglied zum »Einwanderungsland wider Willen« (Klaus J. Bade). Verlängerte Aufenthaltszeiten und Kettenwanderungen beziehungsweise verstärkter Familiennachzug markierten zunehmend sichtbar die Konturen der zukünftigen Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik, obgleich alle Beteiligten auf deutscher wie ausländischer Seite bis in die 1980er Jahre am ›Gastarbeiter‹-Mythos einer baldigen Rückkehr der Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer festhielten. Ziel des folgenden Beitrags ist es, diese Entwicklung für die Jahre der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und des Sozialstaatsausbaus mit ihren zentralen Linien und Akteuren darzustellen. Zunächst wird in einem Abriss der westdeutschen Anwerbepolitik zwischen 1955 und 1969 herausgearbeitet, dass Entwicklung und Struktur || 1 Einen makrohistorischen Zugriff auf bilaterale Wanderungsverträge bietet Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010. 2 Ein restriktives Kontrollsystem zur Verhinderung der Niederlassung war bereits Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere gegenüber auslandspolnischen Saisonkräften entwickelt worden; vgl. dazu die zahlreichen Arbeiten von Klaus J. Bade, etwa: ›Preußengänger‹ und ›Abwehrpolitik‹. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, 24. 1984, S. 91–162; ders., Vom Auswanderungsland zum ›Arbeitseinfuhrland‹. Kontinentale Zuwanderung und Ausländerbeschäftigung in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Ostfildern 1985, Bd. 2, S. 433–485; vgl. auch Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 14–21.

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der Anwerbung sowohl außenpolitische Bedingungsfaktoren als auch eine spezifische Nachfrage- und Angebotskonstellation auf den Arbeitsmärkten der Anwerbeländer und der Bundesrepublik zugrunde lagen. In einem zweiten Schritt geht es um die politische Kontrolle und Regulierung der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren, wobei insbesondere der staatliche Umgang mit Einreiseformen jenseits der offiziellen Anwerbung (der so genannte Zweite und Dritte Weg) in den Blick genommen wird. Drittens werden knapp die Einflüsse der Arbeitsmigration auf das westdeutsche Beschäftigungssystem skizziert. Viertens ist schließlich auf die Situation Anfang der 1970er Jahre einzugehen, als der Prozess der Niederlassung der Arbeitsmigrantinnen und -migranten für Politik und Wirtschaft nicht länger ignorierbar war und gesellschaftspolitische Lösungen herausforderte. Der Beitrag konzentriert sich auf die Jahre der aktiven Anwerbepolitik der Bundesrepublik zwischen dem deutsch-italienischen Anwerbeabkommen von 1955 und dem Anwerbestopp im Jahr 1973. Mit den Eckdaten 1955 und 1973 wird zwar die übliche politikgeschichtliche Periodisierung übernommen, nicht jedoch dem damit implizierten Verlaufsmodell gefolgt, wonach die Phase der ›Gastarbeit‹ nach dem Anwerbestopp von einer Phase der Familienmigration abgelöst wurde. Vielmehr wird im Anschluss an die Ergebnisse der neueren migrationshistorischen Forschung für die 1960er und frühen 1970er Jahre von der Gleichzeitigkeit einer Bandbreite von Migrationsformen ausgegangen wie solitärer ›Gastarbeit‹, Pendelmigration, Familienmigration etc.3 Der Akzent liegt im Folgenden entsprechend auf der Frage, wie staatliche Regelungen und privatwirtschaftliche Arbeitskräftenachfrage zusammen einen Rahmen schufen, in dem eine enge Verknüpfung von Arbeits- und Familienmigration seit den frühen 1960er Jahren möglich wurde.

1 Die Anwerbepolitik der Bundesrepublik Die Genese der Anwerbeabkommen zeigt, dass außenpolitische Erwägungen eine weitaus größere Rolle spielten als dies die historische Forschung lange Zeit aufgrund der Schutzfrist für staatliche Archivalien berücksichtigen konnte. Die Bundesrepublik hatte 1955 mit der Souveränität die außenpolitische Handlungsfähigkeit wiedererlangt und richtete ihr auf einem antikommunistischen Grundkonsens basierendes außenpolitisches Koordinatensystem auf die Festigung der Westbindung

|| 3 Vgl. Anne Oswald/Karen Schönwälder/Barbara Sonnenberger, ›Einwanderungsland Deutschland‹: A New Look at Its Post-War History, in: Rainer Ohliger/Karen Schönwälder/Triadafilos Triadafilopoulos (Hg.), European Encounters. Migrants, Migration and European Societies, Aldershot 2003, S. 19–37; Barbara Sonnenberger, Gastarbeit oder Einwanderung? Migrationsprozesse in den Fünfziger- und Sechzigerjahren am Beispiel Südhessen, in Archiv für Sozialgeschichte, 42. 2002, S. 81–104.

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und des europäischen Einigungsprozesses aus. Italien galt als wichtiger Mitstreiter für Europa, Griechenland und die Türkei waren NATO-Partner und im Fall FrancoSpaniens strebte die Bundesregierung dessen politische und wirtschaftliche Annäherung an Westeuropa an.4 Wenn die Bundesrepublik auf die diplomatischen Offerten der zukünftigen Anwerbeländer einging und bilaterale Anwerbeabkommen abschloss, lässt sich damit allerdings nicht einseitig auf ein Primat der Außenpolitik schließen.5 Vielmehr überlagerten sich in der westdeutschen Anwerbe- und Migrationspolitik sowohl außenpolitische als auch wirtschaftliche beziehungsweise arbeitsmarktpolitische Interessen. Der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik war leergefegt und gerade im Niedriglohnsegment beziehungsweise in tariflich unzureichend geregelten Branchen drohte sich das Lohngefüge aufzulösen. Zudem standen in vielen westdeutschen Betrieben Innovationen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität an. Die staatlich initiierte Arbeitsmigration bot Unternehmern die Möglichkeit des Zugriffes auf junge und flexibel einsetzbare ausländische Arbeitskräfte bei der Planung ihrer technologischen und arbeitsorganisatorischen Investitionen.6

1.1 Die Anfänge der Anwerbung mit dem deutsch-italienischen Abkommen 1955 Als der deutsch-italienische Anwerbevertrag im Dezember 1955 geschlossen wurde, war damit auf deutscher Seite keineswegs eine arbeitsmarktpolitische Weichenstellung intendiert, die zukünftige Massenanwerbungen einleitete. Im Vordergrund stand vielmehr die Absicht, dem italienischen Wunsch nach einem Anwerbeabkommen entgegenzukommen und damit den Prozess der Europäischen Integration voranzutreiben. Die italienische Regierung hatte seit 1953 entsprechende diplomatische Vorstöße unternommen.7 Italien, insbesondere sein südlicher Teil, litt wie die

|| 4 Vgl. z.B. Johannes-Dieter Steinert, Arbeit in Westdeutschland: Die Wanderungsvereinbarung mit Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei und der Beginn der organisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, in: Archiv für Sozialgeschichte, 35. 1995, S. 197–209, hier S. 197; Barbara Sonnenberger, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955–1967, Darmstadt 2003, S. 64. 5 Vgl. die primär auf Außenpolitik fokussierte Studie von Heike Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte. ›Gastarbeiter‹ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973, Köln 2003. 6 Vgl. zu Automatisierung und Rationalisierung in der Industrie Gerold Ambrosius, Wirtschaftlicher Strukturwandel und Technikentwicklung, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 107–128; und Anton Kehl, Die Arbeitswelt, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1984, Bd. 2: Die Gesellschaft, S. 157–182, hier S. 164. 7 Die neuere Migrationsforschung hat darauf hingewiesen, dass die Anwerbevereinbarungen mit Italien und den anderen Mittelmeerländern maßgeblich auf die diplomatischen Initiativen der

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anderen Anwerbeländer an hoher struktureller Erwerbslosigkeit und ökonomischer Unterentwicklung und war bestrebt, durch den zeitlich begrenzten Export von Arbeitskräften seinen Arbeitsmarkt vorübergehend zu entlasten. Der Arbeitsmarkt der frühen Bundesrepublik entwickelte sich nach Regionen und Branchen sehr unterschiedlich. Während in den überwiegend landwirtschaftlich ausgerichteten Bundesländern mit starkem Flüchtlingsanteil an der Bevölkerung, namentlich in Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, noch Mitte der 1950er Jahre eine relativ hohe Erwerbslosigkeit herrschte, waren in industriestarken Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg die Erwerbslosenzahlen bereits zurückgegangen. Schon früh wurde allerdings nahezu bundesweit in der Landwirtschaft, dem Baugewerbe und dem Hotel- und Gaststättengewerbe der Mangel an Saisonkräften zum Strukturproblem. Seitdem süddeutsche Bauernverbände schon 1952 die Beschäftigung italienischer Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft durchgesetzt hatten, gab es innerhalb der landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände immer wieder Überlegungen, ausländische Arbeitskräfte in größerer Zahl in der schlecht entlohnenden Landwirtschaft zu beschäftigen.8 Noch Anfang der 1950er Jahre war die Bundesregierung mit Plänen für die Abwanderung von westdeutschen Arbeitskräften beschäftigt, um den einheimischen Arbeitsmarkt zu entlasten.9 Der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung verbunden mit dem Rückgang der Erwerbslosigkeit sowie die Pläne zur Wiederbewaffnung10 führten zusammen mit demographischen Prognosen über die abnehmende deutsche Erwerbsbevölkerung zu Überlegungen, welche zusätzlichen Arbeitskräfte-

|| Herkunftsländer zurückgingen; vgl. Steinert, Arbeit, S. 198; Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001, S. 245–250; Yvonne Rieker, Südländer, Ostagenten oder Westeuropäer? Die Politik der Bundesregierung und das Bild der italienischen Gastarbeiter 1955–1970, in: Archiv für Sozialgeschichte, 40. 2000, S. 231– 258, hier S. 232–234. 8 Knuth Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht vom Kaiserreich zur Bundesrepublik Deutschland, Königstein i.Ts. 1981, S. 149–153; Johannes-Dieter Steinert, Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945–1961, Osnabrück 1995, S. 212; Herbert, Geschichte, S. 202f. 9 Neben der Rückkehr der als ›Displaced Persons‹ bezeichneten ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in ihre Herkunftsländer wanderten zwischen 1946 und 1961 rund 760.000 Deutsche zunächst ins europäische Ausland, dann vor allem nach Übersee aus; Steinert, Migration, S. 21, 126– 132; Siegfried Bethlehem, Heimatvertreibung, DDR-Flucht und Gastarbeiterzuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982, S. 205– 220. Hierzu siehe auch den Beitrag von Jan Philipp Sternberg in diesem Band. 10 So schätzte man im Januar 1953, dass die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) dem Arbeitsmarkt rund 590.000 junge männliche Arbeitskräfte entziehen würde; Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 217; ferner Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, 5. Aufl. Bonn 1991, S. 210–212, 230–233.

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reserven mittelfristig mobilisiert werden könnten. Die damaligen Diskussionen von Arbeitsverwaltung und Wirtschaft über mobilisierbare Reserven kreisten um zwei Optionen: Die einzige nennenswerte inländische Reserve stellten aus der Sicht der Arbeitsverwaltung die nichterwerbstätigen verheirateten Frauen und Mütter dar. Deren Mobilisierung erschien jedoch aus familienpolitischen Gründen höchst problematisch.11 Die zweite, schließlich realisierte Option bestand darin, den nationalen Arbeitsmarkt für ausländische Arbeitskräfte zu öffnen.12 Die zuständigen Ressorts und Interessenverbände waren sich nicht einig über den richtigen Zeitpunkt einer Arbeitsmarktöffnung. Das Auswärtige Amt empfahl, zur Verbesserung der diplomatisch-politischen Beziehungen auf das italienische Angebot einzugehen. Aus lohnpolitischen Gründen optierten das Bundeswirtschaftsministerium (BMW) und die Arbeitgeberverbände ebenfalls für eine baldige Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitskräfte, um die durch den regionalen und strukturellen Arbeitskräftemangel drohenden Lohnzugeständnisse an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzuwenden. Demgegenüber bremsten das Bundesarbeitsministerium (BMA) und die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BAVAV), aber auch die Gewerkschaften alle Bemühungen um die Hereinnahme ausländischer Arbeitskräfte ab mit dem Hinweis auf die noch bestehende Erwerbslosigkeit.13 Der DGB-Bundesvorstand wollte von einer Arbeitsmarktöffnung nichts wissen, solange nicht alle vorhandenen Arbeitskraftreserven ausgeschöpft waren.14 Wirtschaftsverbände, deren Branchen sich vom Arbeitskräftemangel besonders betroffen fühlten, wandten sich im Sommer 1955 direkt an die Politik mit Appellen, nunmehr »Maßnahmen für einen Einsatz ausländischer Arbeitskräfte zu treffen.«15 Fluktuation und Abwerbung von Arbeitskräften waren || 11 Gerade mit Blick auf die DDR und deren Frauenpolitik, die auf die volle Erwerbsintegration von Müttern zielte, wäre die breite Mobilisierung von verheirateten Frauen und Müttern politisch kaum durchsetzbar gewesen; vgl. Monika Mattes, ›Gastarbeiterinnen‹ in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 206–222. 12 Bereits im Januar 1953 war auf einer Sitzung im BMA von einer etwaigen »Heranziehung außernationaler Kräfte« die Rede, auf die man angesichts eines sich abzeichnenden »Fehlbestands« nicht verzichten könnte. Kurzbericht über die Sitzung vom 15.1.1953 im BMA (Abschrift vom 2.2.1953), Bundesarchiv Koblenz (BArch K), B149/657, o.P. 13 Steinert, Migration, S. 220–223; Yvonne Rieker, »Ein Stück Heimat findet man ja immer«. Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003, S. 18f.; allgemein dazu: Oliver Trede, Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik in den 1950er bis 1970er Jahren, in: Jochen Oltmer/Axel Kreienbrink/Carlos Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S. 183–197. 14 Dohse, Arbeiter, S. 162–165. 15 Ministerpräsident von Baden-Württemberg an den Arbeitsminister, 10.6.1955; Antwort des Arbeitsministers an den Landesverband des Hotel- und Gaststättengewerbes in Baden-Württemberg e.V., 20.7.1955, Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), EA 8/203 130/1, o.P.

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gerade in den industriestarken Regionen Nordrhein-Westfalens und BadenWürttembergs Gegenstand häufiger Klagen. So drängte etwa die Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalen im August 1955 gegenüber der BAVAV darauf, im Interesse des Lohn-Preis-Gefüges und der Währungsstabilität dem Beispiel der Niederlande zu folgen und ebenfalls Arbeitskräfte aus Griechenland und Spanien anzuwerben.16 Noch erteilte die Bundesanstalt solchen Überlegungen eine Absage und verwies auf bestehende Reserven, die sich mit dem klassischen arbeitsmarktpolitischen Instrument des Ausgleichs zwischen Arbeitsämtern sowie aus der Flüchtlingszuwanderung ergäben.17 Im Herbst 1955 hielten auch BMA und Arbeitsverwaltung den Zeitpunkt für gekommen, einer baldigen Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zuzustimmen. Ende September 1955 betrug die Erwerbslosenquote im Bundesdurchschnitt nur noch 2,6 Prozent, in Baden-Württemberg 1,0 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 1,6 Prozent.18 Bei westdeutschen Männern lag die Erwerbslosenquote noch bei 1,8 Prozent, was bedeutete, dass die Arbeitskräftereserve, die am problemlosesten aktiviert werden konnte, bedrohlich zusammengeschrumpft war. Kurz vor Abschluss des deutsch-italienischen Abkommens ermahnte die BAVAV die Landesarbeitsämter noch einmal, den Kräftebedarf der gewerblichen Wirtschaft »möglichst weitgehend aus den vorhandenen Kräftereserven« zu decken. Die inländischen Reserven erwartete sie für 1956 vor allem im »Zuströmen von Sowjetzonenflüchtlingen und bisher nicht erwerbstätigen Frauen.« Die Arbeitsämter sollten darüber wachen, dass die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte nur als letzter Notanker eingesetzt wurde, wenn andere arbeitsmarktpolitische Instrumente nicht mehr griffen.19 Am 20. Dezember 1955 wurde das deutsch-italienische Anwerbeabkommen unterzeichnet.20 Seine quantitativen Auswirkungen blieben bis 1959 gering. Die angeworbenen mehrheitlich männlichen Arbeitskräfte waren als Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft und im Baugewerbe beschäftigt.21 Die Bedeutung des deutsch|| 16 Landesvereinigung der Industriellen Arbeitgeberverbände NRW e.V. an BAVAV, 19.8.1955, BArch K, B119/3023, o.P. 17 BAVAV an Landesvereinigung der Industriellen Arbeitgeberverbände NRW e.V., 29.9.1955, ebd. 18 Errechnet aus den Statistischen Monatszahlen in: Wirtschaft und Statistik, 7. 1955, Nr. 12, S. 626*. 19 Schnellbrief der BAVAV an LAÄ, 2.12.1955, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (HStA Nds.), Nds. 1310 Acc. 136/82 Nr. 722, o.P. 20 Runderlaß 49/56 zur deutsch-italienischen Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland vom 20. Dezember 1955, in: Dienstblatt der BAVAV Nr. 10, 6.2.1956, HStA Nds., Nds. 1310 Acc. 136/82 Nr. 722, o.P. 21 Seit 1959 wurden auch männliche italienische Arbeiter verstärkt als Dauerarbeitskräfte im Bergbau eingesetzt; Helmuth Weicken, Anwerbung und Vermittlung italienischer, spanischer und griechischer Arbeitskräfte im Rahmen bilateraler Anwerbevereinbarungen, in: Ausländische Arbeitskräfte in Deutschland, hg.v. Hessischen Institut für Betriebswirtschaft e.V., Düsseldorf 1961, S. 9– 43, hier 14–18.

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italienischen Abkommens rührte von seinem Modellcharakter her, diente es doch für die späteren Abkommen mit anderen Ländern als Vorlage, wie das Anwerbeverfahren und die Akteure der Anwerbung zu regeln waren.22 Auf deutscher Seite übernahm die Durchführung des transnationalen Arbeitskräftetransfers die staatliche Arbeitsverwaltung. Diese war mit Gründung der BAVAV 1952 aus der Hoheit der Länder in jene des Bundes überführt worden und besaß mit der Neufassung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1957 (§§ 38, 39 AVAVG) wie bereits in der Weimarer Republik eine Monopolstellung bei der Vermittlung von Arbeitskräften.23 Die BAVAV richtete in allen Entsendeländern Außenstellen ein, die so genannten Deutschen Kommissionen und Verbindungsstellen, welche Vermittlungsaufträge erhielten, mit denen die Betriebe eine bestimmte Zahl nach Nationalität, Geschlecht, Alter, beruflichen Kenntnissen etc. spezifizierter Arbeitskräfte anforderten. In Kooperation mit den zuständigen nationalen Behörden des jeweiligen Landes wählten sie die Arbeitskräfte aus und unterzogen diese einer eingehenden Gesundheits- und Tauglichkeitsuntersuchung. Die Nürnberger Hauptstelle der Bundesanstalt fungierte dabei als Koordinationszentrale zwischen den Anwerbestellen in den einzelnen Ländern und den als Landesarbeitsämter und Arbeitsämter vertikal gegliederten Dienststellen im Inland. Dort liefen die Fäden der Anwerbeorganisation und der Ausländerbeschäftigung zusammen.24 Die Gewerkschaften, die die Arbeitskräfteanwerbung im Ausland zunächst entschieden ablehnten, hatten sich in den Vorverhandlungen des Anwerbeabkommens mit Italien beim BMA dafür stark gemacht, dass ausländische Arbeitskräfte keinesfalls als ›Billiglöhner‹ und ›industrielle Reservearmee‹ eingesetzt würden. Ihre zentrale Forderung fand Eingang in die Anwerbeverträge und verpflichtete zur Bereitstellung einer ›menschenwürdigen‹ Unterkunft durch den Arbeitgeber sowie zur arbeits-, tarif- und sozialrechtlichen Gleichstellung der ausländischen mit deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.25 Für Gewerkschaften und Arbeits|| 22 Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. 23 Vgl. Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer, Erfahrungsbericht 1961, Beilage zu Nr. 4 der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (ANBA), 26. April 1962, S. 9 (im Folgenden jeweils mit Jahresangabe zitiert als: Erfahrungsbericht); zur Arbeitsverwaltung vgl. Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, Nürnberg 2003, sowie Johannes Frerich/Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 3: Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, München 1993, S. 84. 24 Unterhalb der Nürnberger Hauptstelle bildeten 13 Landesarbeitsämter die mittlere Instanz. Auf unterster Ebene befanden sich über 200 Arbeitsämter mit fast 560 Nebenstellen; vgl. Anton Sabel, Aufbau und Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Welt, 11. 1960, H. 4, S. 313–320, hier S. 314f. 25 Vgl. Heinz Richter, Der ausländische Kollege. Gelöste und ungelöste Probleme aus der Sicht des DGB, in: Der Arbeitgeber, Nr. 11/12. 1965, S. 320f.; Rieker, Südländer, S. 233f.; Dohse, Arbeiter, S. 159–161.

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verwaltung gleichermaßen wichtig blieb die Aufrechterhaltung des seit der Weimarer Republik bestehenden ›Inländerprimats‹. Nur wenn die Bedarfsdeckung auf dem inländischen Arbeitsmarkt nicht möglich war, sollten nach § 43 AVAVG Arbeitskräfte im Ausland angeworben werden.26 Für Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit waren Einreise, Arbeitsaufnahme und Aufenthalt in der Bundesrepublik über arbeitsmarkt- und ausländerrechtliche Zulassungsbestimmungen strikt reguliert. Bei der amtlichen Anwerbung wurde das Verfahren der Arbeitsmarktzulassung vereinfacht. Die Angeworbenen bekamen von den Deutschen Kommissionen eine Legitimationskarte ausgestellt, die für ein Jahr die Arbeitserlaubnis ersetzte und zur Einreise berechtigte. Die Arbeitsmarktzulassung ausländischer Arbeitskräfte regelte das AVAVG von 1927 in seiner Neufassung von 1957, seit 1969 das Arbeitsförderungsgesetz. Für das Aufenthaltsrecht relevant blieb vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes von 1965 die Ausländerpolizeiverordnung von 1938, die 1952 trotz ihres nationalsozialistischen Entstehungskontextes wieder in Kraft gesetzt worden war. Die Wiederbelebung des ausländerrechtlichen Instrumentariums geschah nicht mit Blick auf konkreten Rekrutierungspläne, wie von der älteren Forschung vermutet, sondern rührte daher, dass die Innenminister auf Bundes- und Länderebene danach strebten, die gewohnte Verfügungsgewalt des Staates über den Aufenthalt nichtdeutscher Menschen wiederzuerlangen.27

1.2 Arbeitsmarktwende 1959 und Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland 1959 kam es zur entscheidenden Wende auf dem Arbeitsmarkt. Die Erwerbslosenquote betrug Ende September 1959 bundesweit nur noch 0,9 Prozent. Unabhängig von staatlicher Einflussnahme hatten zu diesem Zeitpunkt transnationale Arbeitswanderungen aus den angrenzenden Ländern Österreich und den Niederlanden nach Westdeutschland bereits stark zugenommen. Auch aus den späteren Anwerbeländern Griechenland, Spanien und Jugoslawien reisten vermehrt Menschen ein, um in der Bundesrepublik eine Beschäftigung aufzunehmen.28 Die Arbeitsmigration

|| 26 Vgl. Erfahrungsbericht 1961, S. 9; Dohse, Arbeiter, S. 163f. 27 Schönwälder, Einwanderung, S. 218f.; vgl. Michael Bommes, Von ›Gastarbeitern‹ zu Einwanderern: Arbeitsmigration in Niedersachsen, in: Klaus J. Bade (Hg.), Fremde im Land: Zuwanderung und Eingliederung im Raum Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg, Osnabrück 1997, S. 249– 322; zum »dualen Rechtsstatus« ausländischer Arbeitnehmer vgl. Dohse, Arbeiter, S. 185–188, 307– 309. 28 Erfahrungsbericht 1961, Tab. 1, S. 23.

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verlagerte sich immer deutlicher von der Saisonarbeit auf Dauerarbeitsverhältnisse.29 Die Regierungen von Spanien und Griechenland zeigten sich an einem Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik nach italienischem Vorbild äußerst interessiert und unternahmen entsprechende diplomatische Initiativen.30 Durch die zunehmenden Anwerbeaktionen von Unternehmern, aber auch die Aktivitäten privater Arbeitsvermittler, deren Gewerbe nach deutschem Recht illegal war, sah die Bundesanstalt sich in ihrem staatlichen Monopol in der Arbeitsvermittlung herausgefordert. Die spanische Botschaft in Bonn betätigte sich als informelle Arbeitskräftevermittlung, indem sie den bei ihr anfragenden Textilunternehmern versprach, die benötigten Arbeiterinnen relativ problemlos besorgen zu können. Entsprechende, in Wirtschaftszeitschriften lancierte Artikel über die Vermittlungsmöglichkeiten der spanischen Botschaft sollten BMA und Bundesanstalt unter Druck setzen, angesichts des drohenden Kontrollverlusts in der Arbeitsmarktregulierung einem Abkommen mit Spanien zuzustimmen.31 Auch im griechischen Fall ging die Initiative vom zukünftigen Entsendeland aus.32 Im Vorfeld der deutsch-griechischen Anwerbevereinbarung waren ebenfalls bereits viele griechische Arbeitskräfte beiderlei Geschlechts auf private Vermittlung hin in die Bundesrepublik eingereist. Die Suche nach Arbeitskräften hatte »eine ganze Anzahl deutscher Firmen und Industrievertretungen schon seit einiger Zeit dazu veranlaßt, das Konsulat [in Saloniki, M.M.] um Unterstützung bei der kurzfristigen Anwerbung von Arbeitskräften zu bitten«.33 Das zwischenstaatliche Abkommen zielte darauf, die privaten Anwerbeaktivitäten zu unterbinden und die wachsende Wanderungsbewegung in die Bundesrepublik unter Kontrolle zu bringen. Die beiden Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland wurden schließlich Ende März 1960 kurz hintereinander unterzeichnet.34

|| 29 Seit 1959 wurden auch männliche italienische Arbeiter verstärkt als Dauerarbeitskräfte im Bergbau eingesetzt; Weicken, Anwerbung, S. 14–18. 30 Auswärtiges Amt an BMA, 27.11.1959, BArch K, B149/22387, o.P. Das faschistische Spanien war bis 1953 wirtschaftlich und politisch isoliert, erst danach förderten US-Kredite aufgrund des ›Kalten Krieges‹ den wirtschaftlichen Aufbau. 31 Steinert, Migration, S. 295f. 32 Auch hier befürwortete das Auswärtige Amt bereits 1956 ein Anwerbeabkommen, während das BMA unter Verweis auf die Arbeitsmarktlage noch bremste; Auswärtiges Amt an BMA und BMW, 21.2.1956; Auswärtiges Amt an BMA und BMW, 21.4.1956; BMA, Vermerk über griechische Arbeitskräfte, 20.10.1958, BArch K, B149/22390, o.P. 33 Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Saloniki, 6.2.1960, ebd. 34 Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Griechenland über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland vom 30.3.1960, in: Bundesarbeitsblatt (BArbBl), 1962, Nr. 3, S. 77–80; Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Spanischen Staates über die Wanderung, Anwerbung und Vermittlung von spanischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland vom 29.3.1960, in: ebd., S. 80–83.

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1.3 Die neuen Anwerbeländer Türkei und Portugal Im Fall der Türkei sieht die neuere Forschung die geostrategische Lage des NATOLandes als einen wesentlichen außenpolitisch motivierten Grund dafür an, dass die Bundesrepublik mit einem nichteuropäischen Land eine Anwerbevereinbarung schloss – entgegen dem Grundsatz, nur Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland zu beschäftigen. Die Türkei galt allerdings in den 1960er Jahren als ein europäisches Land, das neben der bündnispolitischen auch große wirtschaftliche Bedeutung für den Westen hatte.35 Die Entstehungsgeschichte der deutsch-türkischen Anwerbevereinbarung vom Oktober 1961 unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von den vorangegangenen Abkommen.36 Die Bundesregierung drang darauf, dass die Anwerbevereinbarung lediglich durch einen geheimen Notenwechsel offiziell besiegelt werden sollte, um zu vermeiden, dass andere außereuropäische Länder, die ebenfalls ein Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik anstrebten, sich auf die Vereinbarung mit der Türkei berufen konnten.37 Bereits Mitte Juli 1961 war in Istanbul die Deutsche Verbindungsstelle als Anwerbeeinrichtung installiert worden.38 Die Vermittlung von türkischen Arbeitskräften sollte zunächst nur in einem sehr begrenzten Umfang geschehen und sich auf die Landesarbeitsamtsbezirke Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hamburg beschränken, in denen bereits eine größere Zahl türkischer Arbeitnehmer beschäftigt war. Auch wurden im Unterschied zu den anderen Anwerbeländern, wo neben der anonymen auch die namentliche Anwerbung möglich war, »vorerst« nur Aufträge für »männliche,

|| 35 Mathilde Jamin, Die deutsch-türkische Anwerbevereinbarung von 1961 und 1964, in: Aytaç Erуιlmaz/Mathilde Jamin (Hg.), Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, Essen 1998, S. 69–82, hier S. 70f.; Steinert, Migration, S. 305–309; Karin Hunn, Asymmetrische Beziehungen: Türkische ›Gastarbeiter‹ zwischen Heimat und Fremde. Vom deutsch-türkischen Anwerbeabkommen bis zum Anwerbestopp (1961–1973), in: Archiv für Sozialgeschichte, 42. 2002, S. 145–172, hier S. 147–149; Schönwälder, Einwanderung, S. 251–254; Sonnenberger, Migrationspolitik, S. 64, 90–94. 36 Ausführlich zum Entstehungskontext der Anwerbevereinbarung Karin Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück…« Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 29–58. 37 Steinert, Migration, S. 305–310; Hunn, Beziehungen; Schönwälder, Einwanderung, S. 251–257. 38 Die Verbindungsstelle nahm ihre Arbeit auf, noch bevor der deutsch-türkische Anwerbevertrag vom 30.10.1961 rückwirkend am 1.9. in Kraft getreten war. Dies verweist darauf, dass schon vorher türkische Arbeitskräfte von deutschen Unternehmen angeworben worden waren; vgl. Klaus Manfrass, Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den einzelnen Herkunftsländern im Zeichen der Arbeitskräftewanderung, in: Reinhard Lohrmann/Klaus Manfrass (Hg.), Ausländerbeschäftigung und internationale Politik. Zur Analyse transnationaler Sozialprozesse, München/Wien 1974, S. 255–334, hier S. 264 sowie Hisashi Yano, »Wir sind benötigt, aber nicht erwünscht«. Zur Geschichte der ausländischen Arbeitnehmer in der Frühphase der Bundesrepublik, in: Erуιlmaz/ Jamin (Hg.), Fremde Heimat, S. 39–55, hier S. 46f.

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nicht-namentliche Kräfte angenommen.«39 Die Verbindungsstelle in Istanbul wurde eingerichtet, so unterrichtete die BAVAV die Landesarbeitsämter im Oktober 1961, »nicht als Anwerbestelle [,] sondern als Vermittlungsstelle für qualifizierte Arbeitskräfte […], die in den übrigen Ländern nicht gewonnen werden können.«40 Das wachsende Angebot türkischer Arbeitskräfte hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer Zuwanderung aus dem NATO-Partnerland jenseits des engen Anwerberahmens geführt. Der deutsch-türkische Anwerbevertrag legte ausdrücklich fest, dass die Beschäftigungsdauer türkischer Arbeitskräfte grundsätzlich auf zwei Jahre begrenzt werden sollte. Namentlich das Bundesinnenministerium (BMI) setzte 1961 erfolgreich durch, den Aufenthalt türkischer Arbeitskräfte auf zwei Jahre zu befristen und keinen Familiennachzug zuzulassen. Bei der Neufassung der Anwerbevereinbarung 1964 konnte es sich mit seiner Forderung nicht mehr durchsetzen. Insbesondere die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände sowie das Bundeswirtschaftsministerium hatten sich gegen das faktische Rotationsprinzip ausgesprochen, weil Betriebe dadurch ständig neue Arbeitskräfte einarbeiten müssten.41 Der Arbeitskräftemangel hatte sich seit 1959/60 weiter zugespitzt. Der Mauerbau im Sommer 1961 unterbrach den Arbeitskräftezustrom aus dem Osten endgültig. Das BMA und die Bundesanstalt befürworteten nun ein Anwerbeabkommen mit Portugal aus arbeitsmarktpolitischen Gründen.42 Seit Anfang der 1960er Jahre hatte von dort eine verstärkte Arbeitswanderung in der Bundesrepublik eingesetzt, wobei viele Portugiesen per Touristenvisum einreisten und nachträglich eine Arbeitserlaubnis beantragten. Die portugiesische Regierung drängte auf eine Anwerbevereinbarung, um die Abwanderungsbewegung zu kanalisieren. Die Vereinbarung mit Portugal wurde im März 1964 fixiert und im Mai 1964 eine Deutsche Verbindungsstelle in Lissabon eingerichtet.43 Allerdings blieb die portugiesische Migration in die Bundesrepublik vergleichsweise gering, zum einen weil Portugal eine äußerst restriktive Abwanderungspolitik verfolgte und zum anderen, weil Frankreich das Migrationsziel der meisten Portugiesen blieb.44 || 39 BAVAV an Landesarbeitsämter Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, nachrichtlich an die anderen, 14.7.1961, HStA Nds., Nds. 1310 Acc. 136/82 Nr. 727, o.P. 40 BAVAV an Landesarbeitsämter, 13.10.1961, ebd., o.P. 41 Genauer dazu Karen Schönwälder, Zukunftsblindheit oder Steuerungsversagen? Zur Ausländerpolitik der Bundesregierung der 1960er und frühen 1970er Jahre, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 123–144, hier S. 128f.; Jamin, Anwerbevereinbarung. 42 Sonnenberger, Migrationspolitik, S. 66, und Schönwälder, Einwanderung, S. 269, machen darauf aufmerksam, dass auch die Weigerung des BMA und anderer Ressorts, außereuropäische Arbeitskräfte zu beschäftigen, zum Zustandekommen der deutsch-portugiesischen Wanderungsvereinbarung geführt hat. 43 Manfrass, Beziehungen, S. 268f. 44 Vgl. Rass, Institutionalisierungsprozesse, S. 237.

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War der ›Europäer‹-Grundsatz der Bundesregierung bereits im türkischen Fall außer Kraft gesetzt worden, so wurden noch zwei weitere Anwerbevereinbarungen außerhalb Europas vornehmlich aus außenpolitischen Gründen geschlossen.45 Im Mai 1963 wurde eine Vereinbarung zunächst nur für männliche Bergleute mit Marokko unterzeichnet. Im Oktober 1965 folgte eine deutsch-tunesische Vereinbarung ebenfalls nur für ein geringes Kontingent an Arbeitskräften.46 Beide Abkommen blieben für die Arbeitskräfteanwerbung im Umfang relativ bedeutungslos. Zur Arbeitskräfterekrutierung außerhalb Europas gehört auch die Anwerbung von Krankenschwestern aus Asien, um die sich das BMA seit 1965 bemühte.47

1.4 Anwerbepolitik und Rezession 1966/67 Als sich die erste Nachkriegsrezession im Herbst 1966 mit verlangsamtem Wirtschaftswachstum und deutlich gedämpfter Nachfrage nach Arbeitskräften ankündigte, waren über 1,3 Millionen ausländische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik (Ausländerquote von 6,2 Prozent) beschäftigt. Ein Jahr später zählten sie nur noch 991.255 (Ende September 1967). Knapp eine halbe Million waren in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und schienen die der ›Gastarbeit‹ zugeschriebene Funktion des konjunkturellen Ausgleichsinstruments zu bestätigen.48 Die BAVAV reagierte auf die veränderte Nachfragesituation zum einen mit einer aktiven Verdrängungspolitik gegenüber den bereits in westdeutschen Betrieben tätigen ausländischen Beschäftigten. So wurde etwa Ende 1966 mit dem 31. März 1967 ein Stichtag festgelegt, über den hinaus prinzipiell keine Arbeitserlaubnis mehr an erwerbslose Ausländer und Ausländerinnen ausgestellt werden sollte. Damit galten sie als nicht mehr vermittlungsfähig, erhielten keine Erwerbslosenun|| 45 Vgl. zum ›Europäer-Grundsatz‹ und dessen rassistischer Stoßrichtung Schönwälder, Einwanderung, S. 257–277. Danach waren mit außereuropäischen Ländern nicht die USA, Kanada, Neuseeland und Israel gemeint. Vielmehr ging es um den Ausschluss dunkelhäutiger Menschen; ferner auch Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 172; Yano, »Wir sind benötigt«, S. 48. 46 Vgl. zu Motivlagen und Rekonstruktion der Anwerbevereinbarungen Schönwälder, Einwanderung, S. 272f.; auch Yano, »Wir sind benötigt«, S. 47f. 47 Ein Abkommen über die Gewinnung philippinischer Schwestern scheiterte im Sommer 1965, nachdem das BMA der philippinischen Regierung nicht zusagen konnte, in westdeutschen Krankenhäusern eine ihrer Ausbildung entsprechende qualifizierte Tätigkeit auszuüben. Bevor es im Februar 1970 zu einem offiziellen Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Südkorea kam, waren bereits seit Mitte der 1960er Jahre über kirchliche Einrichtungen oder private Vermittler rekrutierte koreanische Krankenschwestern in westdeutschen Krankenhäusern beschäftigt. Das am 18. Februar 1970 geschlossene Anwerbeabkommen umfasste neben Krankenschwestern auch Bergleute. Bis 1977 kamen insgesamt 10.000 Krankenschwestern und Schwesternhelferinnen sowie 8.000 Bergleute in die Bundesrepublik; vgl. dazu Susanne Kreutzer, Vom ›Liebesdienst‹ zum modernen Frauenberuf: Die Reform der Krankenpflege nach 1945, Frankfurt a.M. 2005. 48 Erfahrungsbericht 1967, S. 3f.

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terstützung und liefen Gefahr, abschoben zu werden.49 Zum anderen wurde die Anwerbemaschinerie in den Mittelmeerländern drastisch zurückgefahren. Das in den jeweiligen Anwerbekommissionen und Verbindungsstellen angestellte einheimische Personal wurde größtenteils entlassen und die deutschen ›Dienstreisekräfte‹ der Bundesanstalt abberufen.50 Zudem wurden die Außenstelle Saloniki der Deutschen Kommission in Griechenland sowie die Zweigstelle Ankara der Deutschen Verbindungsstelle in der Türkei aufgelöst.51 Die Krise traf die Anwerbeländer sehr unterschiedlich. Während die Anwerbung insgesamt fast zum Erliegen kam, galten für die italienische Migration die bestehenden EWG-Freizügigkeitsregeln grundsätzlich weiter.52 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 100.000 50.000 0 1956

1958

1960

1962

1964

1966

1968

1970

1972

angew orbene ausl. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon Frauen

Schaubild: Durch die Auslandsstellen der Bundesanstalt vermittelte ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Quelle: Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer, Erfahrungsbericht 1972/73, Beilage zu Nr. 4 der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (ANBA), S. 42. || 49 Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: 1966–1974, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 2006, S. 783–810, hier S. 785. 50 Waren z.B. in der Deutschen Kommission in Verona zusammen mit der Zweigstelle in Neapel 1964 noch 47 Kräfte insgesamt (davon 12 Dienstreisekräfte und 35 Ortskräfte) tätig, schrumpfte die Zahl 1967 auf 12 (4 Dienstreisekräfte und 8 Ortskräfte) zusammen. In Griechenland gingen die Zahlen von 61 Kräften (15 Dienstreisekräfte und 46 Ortskräfte) im Jahre 1964 auf 9 Kräfte (4 Dienstreisekräfte und 5 Ortskräfte) im Jahr 1967 zurück; vgl. Erfahrungsbericht 1964, S. 16 und Erfahrungsbericht 1968, S. 27. 51 Schnellinformationen der BAVAV an Landesarbeitsämter, 3.3.1967 sowie Schnellinformationen der BAVAV an Landesarbeitsämter, 10.7.1967, HStA NRW, BR 1134/711, Bl. 198 und Bl. 201; vgl. auch Manfrass, Beziehungen, S. 266. 52 Sonnenberger, Migrationspolitik, S. 81.

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Was Neuanwerbungen betraf, ordnete die Nürnberger Hauptstelle im Oktober 1966 an, dass die Arbeitsämter die Vermittlungsaufträge der Betriebe für ausländische Arbeitskräfte nicht sofort an die Deutschen Kommissionen und Verbindungsstellen weiterleiteten, sondern für eine Woche zurückstellten, um zunächst den Arbeitskräftebedarf aus dem einheimischen Arbeitskräfteangebot einschließlich der erwerbslosen Migrantinnen und Migranten im »Bundes- oder Landesausgleich« zu decken.53 Im Mai 1967 wurde ein so genannter Stellenhinweisdienst für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingerichtet. Die Arbeitsämter mussten bei Eingang eines Vermittlungsauftrags prüfen, ob ausländische oder deutsche Arbeitssuchende aus dem eigenen Bezirk oder »im Randausgleich« vermittelt werden konnten. Gelang dies nicht, war der Auftrag sofort an die »Bundesausgleichsstelle« weiterzuleiten. Diese fasste die gemeldeten Vermittlungsaufträge in einem ›Stellenhinweisdienst für ausländische Arbeitnehmer‹ zusammen und versandte diesen zwei Mal wöchentlich an alle Dienststellen. Erst wenn daraufhin in einer Frist von vierzehn Tagen immer noch kein/e Bewerber/in gefunden werden konnte, durfte das jeweilige Arbeitsamt den Vermittlungsauftrag an die Anwerbekommissionen weiterleiten.54 Seit Juli 1967 konnten die Arbeitsämter Vermittlungsaufträge für weibliche Arbeitskräfte und Baufacharbeiter wieder sofort an die Deutschen Kommissionen weiterleiten, ohne den Stellenhinweisdienst einzuschalten.55 Für andere männliche Arbeitskräfte aus dem Ausland wurde der Stellenhinweisdienst allerdings erst Ende April 1968 aufgehoben.56 Nachdem die Konjunkturkrise im Frühjahr 1968 rasch überwunden war, schnellte die Nachfrage insbesondere nach männlichen Arbeitskräften rasch nach oben. Allerdings baute die Bundesanstalt ihre Anwerbeverwaltung in den Anwerbeländern erst allmählich wieder auf.57

1.5 Die deutsch-jugoslawische Anwerbevereinbarung Der vom ›Kalten Krieg‹ diktierte Grundsatz, Arbeitskräfte aus sozialistischen Staaten überhaupt nicht in der Bundesrepublik zu beschäftigen, wurde im Fall Jugoslawien partiell außer Kraft gesetzt. Das sich zu den blockfreien Staaten zählende Land galt im Westen nicht nur außenpolitisch als Hoffnungsträger, sondern hielt auch ein

|| 53 BAVAV an alle Dienststellen, 26.10.1966, BArch K, B149/54448, o.P. 54 Schnellbrief der BAVAV an alle Dienststellen, 2.5.1967, BArch K, B119/4146, o.P. 55 Schnellbrief an alle Dienststellen, 31.7.1967, BArch K, B119/4146, o.P.; vgl. auch Verfügung des AA München an Referate und Nebenstellen, 17.8.1967, Staatsarchiv München (StAMü), AA München 1089, o.P. 56 Erfahrungsbericht 1968, S. 4. 57 Vgl. Erfahrungsbericht 1968, S. 27.

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vielversprechendes Arbeitskräftepotenzial bereit.58 Ließ sich der enorme Bedarf an männlichen Hilfsarbeitern in den Anwerbeländern decken, hatte die westdeutsche Wirtschaft für die dringend gesuchten Facharbeiter oder weiblichen Arbeitskräfte ihre Hoffnungen seit Ende 1967 verstärkt auf die wieder aufgenommenen deutschjugoslawischen Anwerbeverhandlungen gerichtet. Die bereits seit Anfang der 1960er Jahre laufenden Verhandlungen über eine Regierungsvereinbarung zur Anwerbung jugoslawischer Arbeitskräfte waren 1964/65 ergebnislos abgebrochen worden. Streit entzündete sich vor allem an der Frage, wer die Auswahl der Arbeitskräfte vornehmen sollte. Die jugoslawische Regierung bestand darauf, diese Aufgabe ausschließlich den eigenen Behörden zu übertragen. Eigenständig agierende deutsche Dienststellen, wie sie mit den Deutschen Kommissionen und Verbindungsstellen in den anderen Anwerbeländern bestanden, sollten auf keinen Fall zugelassen werden. Die jugoslawische Seite befürchtete einen allzu unmittelbaren Zugriff der deutschen Arbeitsverwaltung auf das relativ große jugoslawische Facharbeitskräftepotenzial. Diese Sorge war nicht unbegründet, standen doch westdeutsche Firmen häufig direkt mit lokalen und regionalen Arbeitsämtern in Kontakt, um Arbeitskräfte anzuwerben beziehungsweise sich diese über jugoslawische Leiharbeiterfirmen vermitteln zu lassen.59 Innerhalb der Bundesregierung bestand während der Rezession im Oktober 1967 keinesfalls ressortübergreifendes Einvernehmen über eine Wiederaufnahme der deutsch-jugoslawischen Anwerbeverhandlungen. Der neue Außenminister der großen Koalition, Willy Brandt, gehörte zu den vehementen Befürwortern einer baldigen Anwerbevereinbarung.60 Diese galt ihm als wichtiger Baustein seiner neuen Ostpolitik.61 Das BMA hielt es dagegen für unverantwortlich, angesichts noch || 58 1957 hatte die Bundesrepublik die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien abgebrochen, die erst 1968 kurz vor Abschluss des Anwerbeabkommens wieder aufgenommen wurden; dazu Manfrass, Beziehungen, S. 317f.; allgemein zu den sich verändernden außenpolitischen Konzeptionen Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1988, S. 96f; Hermann Graml, Die Außenpolitik, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 Politik, Frankfurt/M. 1984, S. 331–371, hier S. 367–369; Karolina Novinczak, Auf den Spuren von Brandts Ostpolitik und Titos Sonderweg: deutsch-jugoslawische Migrationsbeziehungen in den 1960er und 1970er Jahren, in: Oltmer/Kreienbrink/Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System, S. 133–148; vgl. auch Vladimir Ivanović, »Nostalgija za prugom«: Das Freizeitverhalten jugoslawischer.Gastarbeiter in der BRD und in Österreich, in: Hannes Grandits/Holm Sundhaussen (Hg.), Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat?, Wiesbaden 2013, S. 135–154. 59 Manfrass, Beziehungen, S. 270–275; Karl-Heinz Holjewilken, Vermittlung und Beschäftigung jugoslawischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe – Das Arbeitsamt (ABA), 20. 1969, Nr. 2, S. 37–39, hier S. 37. 60 Auswärtiges Amt an Chef des Bundeskanzleramts, 23.10.1967, BArch K, B149/22399, o.P. 61 1968 wurden in diesem Zusammenhang auch die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien wieder aufgenommen, die die Bundesrepublik 1957 abgebrochen hatte; allgemein dazu Kleßmann, Staaten, S. 96f.

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bestehender krisenbedingter Erwerbslosigkeit die Anwerbeverhandlungen mit Jugoslawien wieder aufzunehmen. Es war allenfalls bereit, über die Anwerbung der fehlenden Fachkräfte und weiblichen Arbeitskräfte zu verhandeln. Das Auswärtiges Amt, aber auch das von Arbeitgebern bedrängte Bundeswirtschaftsministerium plädierten dafür, die Verhandlungen mit Jugoslawien ohne Einschränkungen fortzusetzen.62 Im Januar 1968 einigten sich die beiden Bundesministerien mit dem BMA auf eine uneingeschränkte Vereinbarung und ein Zusatzprotokoll, wonach männliche Hilfskräfte zunächst von der Anwerbung ausgeschlossen bleiben sollten.63 Eine solche Zusatzklausel betrachtete Jugoslawien als eindeutige Diskriminierung, da keine andere Anwerbevereinbarung eine derartige Einschränkung enthielt. Die Verhandlungen drohten im Sommer 1968 zu scheitern. Unter dem Eindruck des ansteigenden Bedarfs an männlichen Hilfsarbeitern einigte sich das Kabinett Ende Juli 1968 darauf, die Ausschlussklausel aufzugeben.64 Die Anwerbevereinbarung mit Jugoslawien wurde schließlich am 12. Oktober 1968 unterzeichnet und trat am 1. Februar 1969 in Kraft.65 Seit 1969 lief die Anwerbung auf Hochtouren. Allein im Jahr 1970 wurden von den deutschen Anwerbekommissionen 322.600 Arbeitskräfte (darunter über 70.800 Frauen) aus dem Ausland vermittelt. Dieser Spitzenwert wurde nie wieder erreicht.66 Hauptanwerbeländer waren nun die Türkei und Jugoslawien. Nach 1970 gingen die jährlichen Anwerbezahlen leicht zurück. Dies lag zum einen an einem Nachfragerückgang, nachdem sich die Konjunkturentwicklung unter anderem in der Elektrotechnik, aber auch in der Metallindustrie und im Maschinen- und Fahrzeugbau merklich verlangsamt hatte.67 Zum anderen kam es auf der Angebotsseite zu deutlichen Verschiebungen. So brachen etwa in Griechenland die Vermittlungszahlen 1972 ein, als die griechische Regierung wegen der Verknappung der Arbeitskräfte auf dem heimischen Arbeitsmarkt in ihrer Migrationspolitik eine grundlegende Wende vollzog und die Anwerbung beschränkte.68 || 62 Stellungnahmen zur Vorbereitung eines Abkommens vom Oktober 1967, BArch K, B149/22399, o.P. 63 Minister des Auswärtigen Amts, Willy Brandt, an BMA, Hans Katzer, 20.1.1968; BMA, Hans Katzer, an Minister des Auswärtigen Amts, Willy Brandt, 29.1.1968, ebd., o.P. 64 Ergebnisprotokoll über die deutsch-jugoslawischen Verhandlungen vom 18.3. bis 1.4.1968 in Bonn (Vermerk, 4.4.1968), ebd., o.P.; Minister des Auswärtigen Amts, Willy Brandt, an BMA, Hans Katzer, 24.7.1968, ebd., o.P.; BMA Unterabt. IIa 5 2430.6 Vermerk, 7.10.68 (RD Weidenbörner, Dr. Kozlowicz). Über Besprechung mit DGB-Vertretern (Richter, Muss) und BDA (Weber) bei Min.Dir Dr. Ernst am 3.10.68, BArch K, B149/22400, o.P.; Vermerk Abt. IIA5, 2430.6 (Weidenbörner), 18.10.1968, BArch K, B149/22399, o.P. 65 Anders als in den anderen Anwerbeländern hatte die in Jugoslawien tätige Deutsche Delegation keinen eigenständigen Status, sondern war in das jugoslawische ›Bundesbüro für Beschäftigungsangelegenheiten‹ eingegliedert; Manfrass, Beziehungen, S. 270. 66 Erfahrungsbericht 1972/73, Tab. 39, S. 43. 67 Erfahrungsbericht 1971, S. 9. 68 Erfahrungsbericht 1972/73, S. 45.

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2 Einreiseformen und die Zielkonflikte staatlicher Politik Nicht immer war die Anwerbung für Unternehmen der schnellste Weg, ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren. In einigen Anwerbeländern gab es gegen die Emigration von Facharbeitskräften und Frauen starke Widerstände und die dortigen Behörden weigerten sich, diese nach Deutschland zu vermitteln.69 Nicht zuletzt aus diesem Grund blieben für die Zuwandernden in den 1960er Jahren neben der offiziellen Anwerbung weitere Wege in die Bundesrepublik offen. Abgesehen von den seit 1961 erleichterten Einreisebestimmungen für Italienerinnen und Italienern infolge der EWG-Zugehörigkeit, bestand in der Regel die Möglichkeit, entweder mit einem Sichtvermerk (Zweiter Weg) oder einem Touristenvisum (Dritter Weg) einzureisen. Die unterschiedlichen Formen der Einreise erleichterten familiäre Kettenwanderungen erheblich, welche der Zuwanderungsbewegung eine starke soziale Eigendynamik verliehen.70 Bei der Regulierung der Zuwanderungswege befanden sich die staatliche Verwaltung und insbesondere ihre lokalen Behörden in einem dauerhaften Zielkonflikt, galt es doch, innenpolitische Sicherheitsinteressen und das Funktionieren des Arbeitsmarktes aufeinander abzustimmen. In der Regel agierten die Innenverwaltung und die Arbeitsverwaltung hier als Gegenspieler. In den Jahren der Vollbeschäftigung setzte sich der Primat wirtschaftlicher Interessen durch und ließ die in den Innenministerien von Bund und Ländern ausgearbeiteten Pläne Makulatur werden, mit denen durch Rotation der Arbeitskräfte eine dauerhafte Niederlassung verhindert werden sollte.

2.1 Einreise mit Sichtvermerk (Zweiter Weg) Im Gegensatz zum Ersten Weg blieb der Zweite Weg bürokratisch aufwendiger. Wer an einem konkreten Arbeitsplatz in der Bundesrepublik interessiert war, beantragte bei einem westdeutschen Konsulat einen Sichtvermerk, der zur Einreise und Arbeitsaufnahme berechtigte. Voraussetzung musste sein, dass Arbeitnehmer/in und Arbeitgeber einander namentlich bekannt waren. Das Konsulat forderte bei dem zuständigen Arbeitsamt und der Ausländerbehörde die Zusicherungen für eine Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis an. Auch der deutsche Arbeitgeber konnte bei der Ausländerbehörde das Verfahren einleiten und beantragen, den Konsulaten die Zustimmung zur Erteilung eines Sichtvermerks für namentlich be-

|| 69 Zur besonderen Problematik der Frauenanwerbung vgl. Mattes, ›Gastarbeiterinnen‹, S. 82–91. 70 Zur staatlichen Migrationskontrolle im deutsch-belgischen Vergleich vgl. Jenny Pleinen, Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012.

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kannte Personen zu erteilen. Bevor die Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis zusicherte, unternahm sie zweierlei: Zum einen leitete sie die polizeiliche Überprüfung über das Ausländerzentralregister ein. Zum anderen ließ sie beim zuständigen Arbeitsamt prüfen, ob und für welche Dauer eine Arbeitserlaubnis erteilt werden würde. Entscheidend für das Arbeitsamt blieb die Frage, ob gemäß dem ›Inländerprimat‹ für den zu besetzenden Arbeitsplatz ein/e deutsche/r Bewerber/in verfügbar war. In den 1960er und frühen 1970er Jahren verneinten die zuständigen Stellen sie in der Regel. Dann wurde festgestellt, ob die antragstellende Person in der seit 1961 bei der Arbeitsverwaltung bestehenden Zentralkartei für nichtdeutsche Arbeitnehmer bereits einmal aktenkundig geworden war (aufgrund einer Ablehnung im Anwerbeverfahren, Ausweisung oder Vertragsbruch) und ob die üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten wurden. Erst wenn die Überprüfung durchgängig positiv verlaufen war, durfte das Arbeitsamt der Ausländerbehörde die Arbeitserlaubnis zusichern. Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung waren somit eng gekoppelt. Um die Zusicherung einer Arbeitserlaubnis zu erhalten, bedurfte es der Aufenthaltserlaubnis beziehungsweise deren Zusicherung. Der Sichtvermerk selbst wurde von den Konsulaten ausgefertigt. Die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter konnten damit einreisen und mussten am deutschen Zielort die Arbeitserlaubnis und die Aufenthaltsgenehmigung beantragen.71 Tabelle 1: Einschaltungsgrad der deutschen Vermittlungsstellen im Ausland bei den 1960–1973 insgesamt Eingereisten in Prozent

1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 Italien

1973

66,0

64,4

46,4

23,6

18,7

13,0

8,1

6,8

8,0

7,5

4,4

2,7

1,4

-

Griechenland 40,9

57,8

67,1

70,0

62,4

53,8

67,7

25,6

65,2

78,7

77,8

72,2

67,3

52,0

Spanien

40,6

52,9

66,0

68,2

68,1

62,2

68,5

41,8

72,6

83,7

83,0

78,5

78,4

89,6

Türkei

-

30,8

72,2

84,0

87,3

76,2

74,8

48,8

66,5

80,8

77,4

56,9

64,9

86,0

Portugal

-

-

-

-

58,4

73,8

79,9

46,3

69,9

86,0

90,2

86,3

87,5

95,7

37,3

52,6

64,8

63,3

82,3

Jugoslawien

Quelle: Erfahrungsbericht 1972/73, Übersicht 21, S. 114.

Mitte der 1960er Jahre vermittelten die Anwerbekommissionen einen immer kleineren Teil der einreisenden Arbeitsuchenden. Im Falle Italiens hing der drastische Rückgang des ›Einschaltungsgrades‹ mit der sukzessive eingeräumten EWG-Freizügigkeit zusammen. Griechenland und Spanien hatten nach 1963 die Bedingungen

|| 71 Vgl. Dohse, Arbeiter, S. 181–185.

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für die namentliche Anforderung von Arbeitskräften erschwert.72 Von den neu eingereisten griechischen Arbeitskräften waren 1965 lediglich 53,8 Prozent auf dem staatlichen Anwerbeweg gekommen. Zwei Jahre zuvor hatte der Anteil noch 70 Prozent betragen. Auch im Falle Spaniens war die Zahl der amtlich vermittelten Arbeitskräfte 1965 zurückgegangen. Ein nicht unerheblicher Teil der lohnarbeitenden Migrantinnen und Migranten reiste demnach auf dem Zweiten Weg in die Bundesrepublik ein. Viele Arbeitgeber – insbesondere solche, die auf Facharbeiter und weibliche Arbeitskräfte angewiesen waren – förderten diese Einreisevariante, wollten sie sich doch nicht ausschließlich auf die staatliche Vermittlung verlassen. Spanien und Griechenland und später auch Jugoslawien protestierten immer wieder gegen den Zweiten Weg, da er außerhalb der bilateralen Anwerbeabkommen funktionierte und den Entsendeländern jegliche Einflussmöglichkeit auf die Abwanderung entzog.73 Auch die deutschen Botschaften und Konsulate wandten sich seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend gegen die Ausreise per Sichtvermerk, waren sie doch zeitweise völlig überfordert, die vielen Anträge auf Erteilung eines Einreisesichtvermerks zu bearbeiten.74 Die deutschen Arbeitsämter selbst empfahlen den Arbeitgebern häufig den Zweiten Weg als eine Möglichkeit, schneller Arbeitskräfte zu beschaffen. Als die Anwerbekommissionen jedoch immer weniger in Anspruch genommen wurden, begann die Bundesanstalt gegenzusteuern. Die intensive Nutzung des Zweiten Weges widersprach dem amtlichen Interesse, mit Hilfe der Anwerbeabkommen die Arbeitsmigration zu regulieren. Der Zweite Weg sollte weiterhin nur als Ausnahme von der Regel erhalten bleiben.75 Seit Anfang Oktober 1965 wurde die Zusicherung der Arbeitserlaubnis über den Zweiten Weg auf Facharbeitskräfte und Frauen beschränkt.76 Dies unterstreicht die Intention der Nürnberger

|| 72 Vgl. Erfahrungsbericht 1963, S. 15; BAVAV an LAÄ und Deutsche Kommissionen und Verbindungsstellen, 25.3.1965, BArch K, B149/22388, o.P. 73 Deutsche Botschaft in Madrid an das Auswärtige Amt, 24.7.1963, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn (PA AA), Ref. V, 998, o.P.; Fernschreiben der Deutschen Botschaft in Madrid an das Auswärtige Amt, 24.4.1965, BArch K, B149/6238, o.P.; Memorandum der spanischen Botschaft an MinDir. Mayer-Lindenberg, PA AA, 25.4.1966, PA AA, V 6, 1309, o.P.; Auswärtiges Amt, Ref. V 5, 80.55 an BMI, 4.5.1966, PA AA, V 6, 1309, o.P. 74 BAVAV, Ia5-5761, F13g, Sitzung des Vorstands am 26.10.1965, BArch K, B119/4697, Bl. 62f. 75 Im März 1965 wies die Bundesanstalt ihre Dienststellen im In- und Ausland erstmals an, männliche Hilfskräfte zukünftig ausschließlich über die Deutschen Kommissionen anzuwerben. Diese könnten problemlos und in kürzester Zeit vermittelt werden. Nur bei weiblichen Arbeitskräften und männlichen Facharbeitern gestattete man weiterhin ein flexibleres Vorgehen. Ansonsten sollten die Arbeitsämter den Zweiten Weg über die Zusicherung der Arbeitserlaubnis nur dann öffnen, wenn es sich um Angehörige akademischer Berufe oder um »ausgesprochene Spezialkräfte« handelte, oder wenn es um Familienzusammenführung ging; BAVAV, Ia6-5761 (VOR Weicken) an LAÄ und Deutsche Kommissionen, 25.3.1965, BArch K, B119/4698, Bl. 9f. 76 BAVAV, Ia5-5761, an alle Dienststellen der Bundesanstalt und Deutsche Kommissionen, 1.10.1965, BArch K, B149/22388, o.P.

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Hauptstelle, für die schwierig zu gewinnenden Arbeitskräftekategorien ein Schlupfloch offen zu halten. In welchem Maße staatliches Handeln von arbeitsmarktpolitischem Opportunitätsdenken bestimmt war, macht der Umgang mit der Arbeitsmigration aus Jugoslawien besonders deutlich. Bis zum Abschluss des deutsch-jugoslawischen Anwerbeabkommens 1968 kamen rund 100.000 jugoslawische Arbeitsmigrantinnen und -migranten über den Zweiten Weg in die Bundesrepublik. Westdeutsche Unternehmer interessierten sich besonders für den hohen Facharbeitskräfteanteil unter den Zuwandernden, aber auch für weibliche Arbeitskräfte, um die Arbeitskräftelücken im schlechtbezahlten und unqualifizierten Frauensegment, etwa im Pflegesektor, zu füllen. Bereits seit Sommer 1962 sollten – soweit sie nicht über die Anwerbeländer zu gewinnen waren – nur noch Facharbeiter und weibliche Hilfskräfte für Krankenhäuser und -anstalten mit Sichtvermerk in die Bundesrepublik einreisen können. Für männliche Hilfsarbeiter wurde diese Einreisemöglichkeit versperrt und von Regierung und Bundesanstalt mit der Gefahr »kommunistischer Infiltration« begründet.77 Die Ausländerreferenten der Innenministerien der Länder, die sich im Sommer 1963 über den Umgang mit Arbeitsuchenden aus Ländern ohne Anwerbevereinbarungen wie Jugoslawien berieten, argumentierten bei der Öffnung des Zweiten Weges für unqualifizierte Dienstleisterinnen im hauswirtschaftlichen beziehungsweise pflegerischen Bereich geschlechterpolitisch mit der geringeren sicherheitspolitischen Relevanz von Frauen, denn »der Hereinnahme weiblicher Arbeitnehmer kommt auch unter ausländerrechtlichen Gesichtspunkten nicht die Bedeutung bei, wie der Anwesenheit männlicher Arbeitnehmer«.78 Die staatliche Regulierung der jugoslawischen Migration mit der Sichtvermerksregelung zeigt, wie Arbeitsmarktinteressen mit Hilfe eines restriktiven Ausländerrechts durchgesetzt werden sollten. Die Drohung, bei einem Arbeitsplatzwechsel die Aufenthaltserlaubnis zu verlieren, förderte zwangsläufig die Betriebsbindung. Die auf diese Weise erzwungene geringere Fluktuation jugoslawischer Arbeitskräfte machte ihre Beschäftigung in wenig nachgefragten Tätigkeitsbereichen wie der Hauswirtschaft möglich und bildete mithin einen Grund für ihre große Beliebtheit. Eine solche rigorose Praxis war nicht nur in Bayern, sondern auch in anderen Bundesländern verbreitet.79 Vor Abschluss des deutsch-jugoslawischen Anwerbeabkommens wurde der Zweite Weg gegenüber Jugoslawien von deutscher Seite benutzt, um die Regierung Jugoslawiens mit der anhaltenden Einreisemöglichkeit für jugoslawische Arbeits|| 77 Jugoslawische Hilfsarbeiter unerwünscht, in: Die Welt, 25.8.1962; Dohse, Arbeiter, S. 198; Schnellbrieferlaß der BAVAV an LAÄ, 5.7.1962, BArch K, B149/6240, o.P. 78 BMI, Ergebnisprotokoll über die Besprechung mit den Ausländerreferenten der Länder über ausländerrechtliche Fragen vom 16.–18.7.1963 in Konstanz, BArch K, B106/47428, o.P. 79 Erfahrungsbericht NRW 1969: Beschäftigung, Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer, 23.12.1969, BArch K, B119/3013, o.P.

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kräfte unter Druck zu setzen.80 Auch nachdem das Abkommen mit Jugoslawien 1969 in Kraft getreten war, setzte die Bundesrepublik den Zweiten Weg in den ersten beiden Jahren weiterhin als Druckmittel ein, um die jugoslawische Partnerverwaltung zu zwingen, mehr Facharbeiter und weibliche Arbeitskräfte auf dem Ersten Weg zu vermitteln.81 Besonders als der Arbeitskräftebedarf mit dem erneuten Wirtschaftsboom 1968/69 wieder steil anstieg, blieb der Einreisemodus per Sichtvermerk eine unverzichtbare Alternative zur amtlichen Anwerbung.82 Zwischen Ende September 1968 und Ende September 1969 hat sich die Zahl der in der Bundesrepublik tätigen jugoslawischen Arbeitskräfte von 119.000 auf 265.000 mehr als verdoppelt.83 Die jugoslawische Regierung widersetzte sich der von deutscher Seite betriebenen Ausweitung des Zweiten Weges.84 In der ersten Jahreshälfte 1970 betrug der Einschaltungsgrad der Deutschen Delegation in Belgrad nur noch 40 Prozent. Die Situation entspannte sich seit Mitte 1970, als sich der Anwerbebetrieb durch Personalaufstockung auf deutscher und jugoslawischer Seite zunehmend eingespielt hatte.85 Erst im November 1972 wurde der Zweite Weg schließlich für Einreisende aus allen Anwerbestaaten gesperrt.86

|| 80 Im August 1966 gestattete die Bundesanstalt, die sonst ihr Vermittlungsmonopol stets strikt verteidigte, deutschen Arbeitgebern sogar, privat Arbeitskräfte in Jugoslawien anzuwerben, soweit es sich dabei um Facharbeiter und weibliche Arbeitskräfte handelte. Auf diese beiden Kategorien hatte die deutsche Verhandlungsdelegation die Anwerbung in Jugoslawien beschränken wollen; Dohse, Arbeiter, S. 198f. 81 BMA, IIa5–2430.6 (Ref. RD Weidenbörner) Fernschreiben an Auswärtiges Amt, BMI, BMW, 5.5.1969, BArch K, B149/22401, o.P. 82 Analog zur Regelung des Zweiten Weges mit anderen Anwerbeländern durften Arbeitsämter für einzelne Facharbeiter, weibliche Arbeitskräfte, Familienmitglieder, »ausgesprochene Spezialkräfte« und akademische Berufe die für die Sichtvermerkseinreise notwendige Zusicherung der Arbeitserlaubnis erteilen; BMA, IIa5-2430.6, Ref. RD Weidenbörner, Vermerk, 19.5.1969, BArch K, B149/22400, o.P. 83 Erfahrungsbericht 1969, S. 17. 84 Vermerk Abt. IIa5-2430.6 (Ref. RD Weidenbörner), 22.7.1969, über die Beschäftigung jugoslawischer Arbeitnehmer, BArch K, B149/22401, o.P. 85 Im Oktober 1971 gab es bereits 110 Kräfte (davon 65 Ortskräfte und 45 deutsche Dienstreisekräfte), die bei der Deutschen Delegation in Belgrad tätig waren. Im Oktober 1973 waren es 117 Kräfte (davon 72 Ortskräfte und weiterhin 45 deutsche Dienstreisekräfte); vgl. Erfahrungsbericht 1972/73, S. 41. 86 Die jahrelange Aufrechterhaltung des Zweiten Weges unterlief die jugoslawische Migrationspolitik, die die Abwanderung von Arbeitskräften vorrangig auf Problemregionen mit hoher Erwerbslosigkeit und geringem Qualifikationsgrad der Arbeitskräfte wie dem Kosovo und Montenegro begrenzen wollte; vgl. Manfrass, Beziehungen, S. 272f.

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2.2 Die Einreise mit Touristenvisum (Dritter Weg) Eine nicht unbedeutende Zahl von Arbeitsuchenden reiste mit einem Touristenvisum ein. Vor allem zu Beginn der Anwerbung, als die Kooperation zwischen den nationalen Arbeitsverwaltungen der Entsendestaaten und den deutschen Anwerbekommissionen noch nicht eingespielt war, umgingen viele der mit Erwerbsabsichten Einreisenden die offizielle Anwerbeprozedur. Da keinerlei Kontrolle vor der Einreise stattfand und die Einreise auch nicht an einen konkreten Arbeitsplatz gebunden war, wurde der so genannte Dritte Weg bereits früh Gegenstand amtlicher Einschränkungsbemühungen. Gleichwohl wurde er bis Ende der 1960er Jahre genutzt und ist mithin Ausdruck der starken sozialen Eigendynamik der Migrationsbewegung in die Bundesrepublik. Als sich der Arbeitskräftemangel Ende der 1950er Jahre verschärfte, reisten vermehrt südeuropäische ›Touristen‹ über Bayern oder Baden-Württemberg in die Bundesrepublik ein, besorgten sich einen Arbeitsplatz und beantragten anschließend eine Aufenthaltserlaubnis. Die bayerischen Arbeitsämter sicherten dafür häufig die Arbeitserlaubnis mit der Begründung zu, die ausgeübte Tätigkeit sei ein ›Mangelberuf‹. Aus der Sicht des bayerischen Innenministeriums gerieten dadurch die Ausländerbehörden unter Zugzwang, nun ihrerseits eine Aufenthaltserlaubnis auszustellen. Es war höchst alarmiert angesichts dieser tatsachenschaffenden Praxis, drohte doch nach seiner Lesart die Bundesrepublik bereits Ende 1958, »in unerwünschtem Umfang […] Einwanderungsland« zu werden.87 Bayern wollte als Einreise- und Durchgangsland ausländerpolizeiliche Belange denen des Arbeitsmarktes unbedingt überordnen.88 Dass die Bastionen der Abwehr bei verschärftem Arbeitskräftemangel nur schwierig zu verteidigen waren und die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 beziehungsweise ab 1965 das Ausländergesetz hier nur begrenzt wirksame Kontrollmittel bereitstellten, sollten die Innenbehörden, gerade auch in Bayern, in den 1960er Jahren erfahren.

2.3 Wanderung im Familienkontext Bereits 1962 stellte das Bundesinnenministerium fest, dass »die Familien jetzt sehr stark auf eine Zusammenführung« drängten.89 Der Dritte Weg war für nachreisende

|| 87 Innenministerium an Arbeitsministerium, 6.12.1958, Bayrisches Hauptstaatsarchiv München (BHStA), 88385, o.P. Zu diesem Zeitpunkt lebten kaum ausländische Menschen in der Bundesrepublik. Neben italienischen und österreichischen Arbeitskräften wurden auch die zahlreichen ehemaligen DPs, jetzt euphemistisch ›Heimatlose Ausländer‹ genannt, dazu gezählt. Schönwälder, Einwanderung, S. 221–224. 88 Notiz von Dr. Kanein, Staatministerium des Innern, 1.12.1960, BHStA, 88386, o.P. 89 BMI, Ib3-13383 B, MR Breull an BMA, 28.11.1962, BArch K, B106/47428, o.P.

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Familienmitglieder eine beliebte Variante der Einreise. Insbesondere verheiratete Frauen, deren Ehemänner bereits im Bundesgebiet beschäftigt waren, nutzten diesen Weg zur spontanen Nachreise und Erwerbsaufnahme vermutlich vermehrt seit Januar 1964, als die deutschen Kommissionen und Verbindungsstellen angewiesen waren, nachreisende Ehepartner nur noch an den Beschäftigungsort des Ehemannes beziehungsweise der Ehefrau zu vermitteln.90 Wer mit Touristenvisum einreiste, um anschließend die Arbeitsmarktzulassung zu beantragen, handelte nicht illegal. Es war gerade bei nachreisenden Ehefrauen für die Ausländerbehörden unmöglich zu überprüfen, ob die Einreise tatsächlich zunächst in Besuchsabsicht geschah und der Wunsch, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, erst nach längerem Aufenthalt in der Bundesrepublik entstand. In Bayern befürchtete die Innenverwaltung, die Zuwanderung könnte durch eine zu laxe Kontrolle eine nicht zu steuernde Eigendynamik gewinnen. Etwa seit 1964 registrierte sie argwöhnisch, dass vermehrt türkische Ehefrauen, teilweise in Begleitung »von sämtlichen Kindern«, als Touristinnen einreisten.91 Auch die umgekehrte Konstellation, dass türkische Männer ihren amtlich angeworbenen Ehefrauen und Töchtern nachreisten, wurde beobachtet.92 Die verstärkte Nachreise von türkischen Ehepartnern war vermutlich auf die Neuauflage des deutsch-türkischen Abkommens vom Mai 1964 zurückzuführen, die das frühere Rotationsprinzip mittels Aufenthaltsbeschränkung auf zwei Jahre aufgab und damit den Familiennachzug ermöglichte.93 Der entscheidende Hebel, mit dem Einreise und Niederlassung von Familien zu verhindern waren, wurde bei den deutschen Anwerbekommissionen gesehen. Die Kommissionen sollten sich, so schlug etwa die Regierung von Oberbayern vor, »über die familiären Verhältnisse der zur Anwerbung anstehenden Ausländer Klarheit verschaffen« und nur diejenigen vermitteln, »bei denen ein Nachziehen von Familienangehörigen nicht zu befürchten ist«.94 Der Vorschlag, die sich abzeichnende Familienwanderung bereits in den Herkunftsländern zu verhindern, war indes wenig realistisch. Er überschätzte die Kontrollmöglichkeiten der dort tätigen Anwerbekommissionen und unterschätzte deren primäres Bestreben, bei der Vermittlung das Plansoll der Arbeitskräftenachfrage zu erfüllen. Die Bundesanstalt schränkte zwar die Anwerbung kinderreicher Frauen seit Sommer 1965 ein, aber sie förderte nach wie vor die Vermittlung von Ehepaaren, um auf diesem

|| 90 Genauer dazu Mattes, ›Gastarbeiterinnen‹, S. 127–133. 91 Schreiben des Landratsamtes München an Regierung von Oberbayern, 17.11.1964, BHStA, 88393, o.P. 92 Vgl. z.B. Regierung der Oberpfalz an das Bayerische Staatsministerium des Innern, 4.1.1965, ebd. 93 Das BMI hatte sich dabei vergeblich darum bemüht, im Vertragstext erneut einen Passus durchzusetzen, der den Familiennachzug verhindern und den Aufenthalt befristen sollte. Genauer dazu Hunn, »Nächstes Jahr«, S. 59–61, 76–78.; Schönwälder, Einwanderung, S. 251–257. 94 Regierung von Oberbayern an das Bayerische Staatsministerium des Innern, 26.11.1964, ebd.

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Wege ausreichend weibliche Arbeitskräfte zu gewinnen.95 Eine Beschränkung auf ausschließlich ledige Arbeitskräfte, wie sie im Kaiserreich bei der Anwerbung polnischer Arbeitskräfte zum Teil praktiziert worden war, wäre auch politisch kaum durchsetzbar gewesen.96

2.4 Arbeitsmarktpolitik contra Innenpolitik Für den staatlichen Umgang mit erwerbsbezogener Zuwanderung zeigt sich für die Jahre der Vollbeschäftigung, dass innenpolitische zugunsten wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Interessen zunehmend zurücktraten, und dies selbst in Bayern, das eine wesentlich rigidere Arbeitsmarktzulassung als andere Bundesländer praktizierte. In der Tat entschieden sich Arbeitsmigrantinnen und -migranten in wachsender Zahl gegen Bayern und – unterstützt durch bestehende soziale Migrationsnetzwerke – für andere Bundesländer, deren Ausländerbehörden als liberaler galten. Viele der als Touristen eingereisten Ausländerinnen und Ausländer, die in Bayern nie eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsaufnahme erhalten hätten, bekamen diese in anderen Bundesländern »ohne Schwierigkeiten«, wie etwa das bayerische Staatsministerium des Innern für das benachbarte Baden-Württemberg hervorhob. Immer häufiger komme es vor, »daß die auf diese Weise eingereisten Ausländer nach der Aufenthaltsnahme im Bereich des Landes Baden-Württemberg die in Bayern beschäftigten Bekannten zum Vertragsbruch veranlassen. Damit werde der sowohl aus volkswirtschaftlichen als auch aus sicherheitspolitischen Gründen unerwünschten Fluktuation unnötig Vorschub geleistet.«97 Nachdem sich häufig »namhafte bayerische Firmen über die zu strenge Handhabung des Ausländerrechts in Bayern« beklagt und eine entsprechende Großzügigkeit badenwürttembergischer Ausländerbehörden gelobt hatten, beschwerte sich das bayerische Innenministerium 1964 beim Innenministerium des Nachbarlandes.98 Es war allerdings unrealistisch anzunehmen, das Nachbarland mit seinem großen Arbeitskräftebedarf werde diese unkomplizierte und kostenlose Zufuhr von Arbeitskräften unterbinden. Während einer Dienstbesprechung der Ausländerreferenten der Länder gelobte der Vertreter Baden-Württembergs zwar Besserung. Dennoch hatte, so die Klage des bayerischen Innenministeriums an das BMI, bald »wieder die frühere großzügigere Praxis Platz gegriffen.« Das Innenministerium monierte, dass im Nachbarland »für die Handhabung des Ausländerrechts ausschließlich konjunkturelle Er-

|| 95 Mattes, ›Gastarbeiterinnen‹, S. 88–91, 127–133. 96 Sonnenberger, Migrationspolitik, S. 87–90; Dohse, Arbeiter, S. 33. 97 Bayerisches Staatsministerium des Innern an den Innenminister von Baden-Württemberg, 27.4.1964, BHStA, 88391, o.P. 98 Ebd.

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wägungen maßgeblich zu sein scheinen und die Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung demgegenüber in den Hintergrund treten.«99 Unter dem Druck des permanenten Arbeitskräftemangels geriet schließlich auch die Position des bayerischen Innenministeriums zunehmend in die Defensive. Arbeitgeber kritisierten die restriktive Ausländerpolitik in Bayern. Besonders heftig reagierten Branchen und Regionen mit traditionell niedrigen Löhnen. Die Nahrungs- und Textilindustrie setzten bei der Arbeitskräftebeschaffung im Ausland häufig auf den Zweiten oder Dritten Weg als Alternative, da die Abwicklungszeiten der amtlichen Anwerbung gerade bei weiblichen Arbeitskräften besonders lang waren. Eine bayerische Spinnerei hatte zum Beispiel zunächst versucht, Familienangehörige und Verwandte ihrer ausländischen Arbeitskräfte namentlich anzuwerben. Als sich aber die Bearbeitung der namentlichen Vermittlungsaufträge bei den deutschen Kommissionen allzu lange hinzog, reisten viele der angeforderten Arbeitskräfte kurzerhand als Touristen ein. Doch die zuständige Ausländerbehörde verweigerte diesen Arbeitskräften eine Aufenthaltserlaubnis. Daraufhin, so beklagte sich der Spinnereibetrieb beim bayerischen Wirtschaftsminister, seien die Migrantinnen und Migranten ins Rheinland abgewandert, wo sie nicht nur problemlos die Arbeitsmarktzulassung, sondern auch bessere Löhne erhielten.100 Nach wiederholten bayerischen Vorstößen verabredeten die Ausländerreferenten der Länder im Januar 1965 schließlich verschärfte Maßnahmen gegen die Einreise mit Touristenvisum, welche Eingang in die ›Grundsätze zur Ausländerpolitik‹ der Innenminister vom 3./4. Juni 1965 fanden.101 Ausländerbehörden wurden nun angewiesen, in diesen Fällen grundsätzlich keine Aufenthaltserlaubnis mehr zu erteilen. Wer ohne Sichtvermerk eingereist war und erwerbstätig wurde, sollte ausgewiesen oder abschoben und mit einem Aufenthaltsverbot von sechs Monaten belegt werden. Das Bestreben der Innenverwaltungen der Länder, den Dritten Weg abzuschaffen, entsprach immer mehr auch dem Interesse der Arbeitsverwaltung. Dort war man bemüht, die eigene Kontrolle und Steuerungskompetenz bei der Arbeitsmarktzulassung auch gegen das kurzfristige Arbeitskräfteinteresse mancher Arbeitsämter und Unternehmer zu behaupten.102 In der Tat hatten sich Arbeitsämter und Ausländerbehörden bei ihren Entscheidungen immer wieder von lokalen Arbeitsmarkterfordernissen leiten lassen. Einem

|| 99 Bayerisches Staatsministerium des Innern an den BMI, 20.6.1964, ebd. 100 Streichgarn- und Vigogne-Spinnerei Friedrich Kanzler KG an den Minister für Wirtschaft, 12.1.1964, BHStA, 88393, o.P. 101 Dohse, Arbeiter, S. 183, Anm. 2. 102 Mag diese restriktive Praxis auch Einzelne abgeschreckt haben, stieg die Zahl der ›Illegalen‹ dennoch an, zumal die Beschäftigung ›Illegaler‹ für die Arbeitgeber nicht ebenfalls entsprechend geahndet wurde; Erfahrungsbericht 1965, Beschäftigung, Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen (Entwurf), Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und Kalkum (HStA NRW), BR 1134/249, Bl. 124.

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besonders krassen Beispiel für arbeitsmarktpolitischen Pragmatismus kam ein Beamter der BAVAV während einer Dienstreise nach Dortmund auf die Spur. Der Nürnberger Hauptstelle war bereits aufgefallen, dass im Arbeitsamtsbezirk Dortmund verblüffend viele ausländische Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz ohne Einschaltung der Anwerbekommissionen antraten. Wie sich herausstellte, erhielten die per Touristenvisum eingereisten Arbeitssuchenden, die in anderen Bezirken keine Aufenthaltserlaubnis bekamen, in Dortmund ohne Probleme das entsprechende Papier und als »stillschweigende Übereinkunft mit dem Arbeitsamt Dortmund« daraufhin automatisch auch die Arbeitserlaubnis. Vor allem der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften insbesondere im Bereich der Pflege und Hauswirtschaft wurde über solche ›Touristinnen‹ gedeckt.103 Nach 1965 veranlassten die Innenverwaltungen der Länder Razzien bei Arbeitgebern, um die Touristen-Einreise einzudämmen. Sie entließen außerdem Leiter von Ausländerbehörden, die besonders häufig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatten.104 Dennoch reisten Migrantinnen und Migranten weiterhin auf dem Dritten Weg ein und wurden von Arbeitgebern, so kritisierte das Landesarbeitsamt NordrheinWestfalen, »leider« eingestellt.105 Nachdem die Einreise über den Zweiten und Dritten Weg zunehmend erschwert wurde bei anhaltend hohem Arbeitskräfteangebot in der Türkei, entstand Anfang der 1970er Jahre mit der illegalen Zuwanderung und Beschäftigung insbesondere von türkischen Arbeitern eine eigene Problematik.106

3 Arbeitsmigration und westdeutsches Beschäftigungssystem ›Gastarbeit‹ zielte auf eine temporäre Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte, um konjunkturelle Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, ohne der Bundesrepublik Ausbildungskosten zu verursachen und deren Rentenkassen langfristig zu beanspruchen. Je stärker ›Gastarbeiterinnen‹ und ›Gastarbeiter‹ im Laufe der 1960er Jahre ihre Funktion als flexible Arbeitskraftreserve verloren und zu einem festen Bestandteil der westdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft wurden,

|| 103 BAVAV Ia5-5761, Vermerk, 10.9.1965 (zugleich Dienstreisebericht von der Reise am 8./9.7.1965 zum AA Dortmund), BArch K, B119/4698, Bl. 65. 104 LAA Nordrhein-Westfalen, Beschäftigung, Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer. Erfahrungsbericht 1970, BArch K, B119/3015, o.P.; AA Krefeld an LAA Nordrhein-Westfalen, Erfahrungsbericht ausländische Arbeitnehmer 1968, 28.11.1968, HSTA NRW, BR 1134/253, Bl. 135. 105 LAA Nordrhein-Westfalen, Beschäftigung, Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer. Erfahrungsbericht 1969, BArch K, B119/3013, o.P. 106 Der DGB legte im Frühjahr seiner Forderung nach Legalisierung eine Zahl von 100.000 ›illegalen‹ Arbeitskräften zugrunde, 60.000 davon aus der Türkei; vgl. Hunn, »Nächstes Jahr«, S. 261–264.

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desto weniger ließ sich die ursprüngliche Zielsetzung aufrechterhalten.107 Zwischen der Volks- und Berufszählung 1961 und der Zählung von 1970 war die Zahl der Erwerbspersonen deutscher Staatsangehörigkeit um 1,5 Millionen zurückgegangen. Nach dem Mauerbau im August 1961, als die Flüchtlinge aus der DDR, die bis dahin eine willkommene Arbeitskräftezufuhr bildeten, ausblieben, ließ sich ein demographisch bedingter tiefer Einbruch in der Erwerbsbevölkerung nur durch die Zuwanderung von insgesamt 1,3 Millionen ausländischen Arbeitskräften vermeiden.108 Die Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum leistete nicht nur einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik. Sie verhalf auch einer großen Zahl männlicher deutscher Arbeitskräfte aufgrund der Unterschichtung durch die ›Gastarbeiter‹ zum beruflichen Aufstieg. Die sektorale Verteilung der abhängig Erwerbstätigen zeigt zwischen 1961 und 1970 im primären Sektor einen Rückgang, im sekundären Sektor einen leichten und im tertiären Sektor einen kräftigen Anstieg. Während bei den Deutschen die Zahl der im sekundären Sektor abhängig Erwerbstätigen zurückgegangen war, war sie bei den ausländischen abhängig Erwerbstätigen angestiegen. Die Umschichtung und Aufstiegsbewegung auf Seiten der deutschen Erwerbsbevölkerung zeigt sich insbesondere darin, dass die Zahl der deutschen Arbeiter beiderlei Geschlechts zwischen 1961 und 1970 um 14,6 Prozent abgenommen hatte.109 Besonders augenfällig ist der Rückgang im Produzierenden Gewerbe. Josef Mooser deutet die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte im Zusammenhang mit dem Rückgang manuell Beschäftigter als »Teil des Kontinuitätsbruchs in der Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterschaft«. Diese Entwicklung habe bei deutschen männlichen Facharbeitern eine stärkere soziale Homogenität und Abgrenzung nach unten gefördert.110 Innerhalb eines Jahrzehnts veränderte sich das westdeutsche Beschäftigungssystem entscheidend dadurch, dass deutsche durch ausländische Arbeitskräfte ersetzt wurden. Zwischen 1961 und 1971 stieg die Zahl der abhängig Erwerbstätigen im Produzierenden Gewerbe geringfügig von rund 10 Millionen auf 10,2 Millionen. Dabei verringerte sich die Zahl der deutschen Beschäftigten um 870.000, während die Zahl der ausländischen Beschäftigten um fast 1,1 Millionen anstieg. Im expandierenden Dienstleistungsbereich erhöhte sich die Zahl der abhängig Erwerbstätigen von rund 8,2 Millionen auf 9,5 Millionen. Hier war vor allem die Zahl der deut-

|| 107 Vgl. generell zur Ausländerpolitik als Sozialpolitik Herbert/Hunn, Beschäftigung. 108 Die Zahlen basieren auf den Ergebnissen der Volks- und Berufszählung am 6.6.1961 und am 27.5.1970; vgl. Johannes Adams, Erwerbsbeteiligung der Ausländer im Vergleich zur deutschen Erwerbsbevölkerung, in: Wirtschaft und Statistik, 1973, Nr. 11, S. 641–647, hier S. 642. 109 Ebd., S. 645f. 110 Josef Mooser, Abschied von der ›Proletarität‹. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–187, hier S. 150.

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schen Beschäftigten von rund 8,1 auf 9,1 Millionen kräftig angestiegen. Bei den ausländischen Beschäftigten im Dienstleistungssektor fiel der Anstieg von rund 90.400 auf rund 401.300 relativ stärker aus.111 Dies verweist darauf, dass die Expansion des Dienstleistungssektors sich nicht nur auf Büro- und Handelsberufe für deutsche Beschäftigte erstreckte, sondern auch die wenig prestigeträchtigen Hilfstätigkeiten etwa im Reinigungsgewerbe oder im Bereich der Krankenpflege einschloss, die vornehmlich ausländischen Arbeitskräften vorbehalten waren. Männliche ausländische Arbeitnehmer waren überwiegend in der Eisen- und Metallerzeugung und -verarbeitung wie etwa Maschinenbau und Autoindustrie sowie im Baugewerbe beschäftigt. Die mit Abstand meisten weiblichen ›Gastarbeiter‹ gab es im Verarbeitenden Gewerbe und hier vornehmlich in der Textil- und Bekleidungsindustrie sowie in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Ein relativ großer Teil ausländischer Frauen war auch in der Eisen- und Metallverarbeitung tätig, hier vorrangig in der Elektrotechnik und in kleinerem Umfang in der feinmechanischen und optischen Industrie. Rund ein Drittel der ausländischen Frauen arbeitete im September 1972 in einem Dienstleistungsgewerbe. Der relative Rückgang der weiblichen Beschäftigtenzahlen im Verarbeitenden Gewerbe und ihr gleichzeitiger Anstieg in den Dienstleistungsbereichen verweisen auf einen den gesamten Arbeitsmarkt umfassenden Strukturwandel. Bei den Männern ist die deutlichste Veränderung zwischen 1965 und 1972 im Bergbau zu erkennen, wo es mit der Stilllegung von Zechen zu einem Rückgang der Beschäftigtenzahl kam. Bereits Mitte der 1960er Jahre konzentrierte sich die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte auf einige Wirtschaftszweige. Betrug die durchschnittliche Ausländerquote (bezogen auf die beschäftigten unselbständigen Erwerbspersonen) im September 1965 lediglich 5,4 Prozent, wiesen einzelne Industriebranchen deutlich überdurchschnittliche Quoten auf. Dies waren insbesondere die Zellwoll- und Kunstseidenherstellung (18,8), die Eisen- und Stahlgießerei (16,4), die Obst- und Gemüseverwertung (14,0), die Kautschuk- und Asbestverarbeitung (13,6), die Fischindustrie (12,8), die Zuckerwaren- und Schokoladenindustrie (12,1), die Kunststoffherstellung (11,2), die Glasindustrie (10,4), der Straßenfahrzeugbau (9,9) und das Textilgewerbe (9,4).112 Bis Anfang der 1970er Jahre hatte sich hier der Anteil ausländischer Arbeitskräfte noch weiter erhöht. Kunststoff-, Gummi- und Asbestverarbeitung erreichten Ende Januar 1973 eine Ausländerquote von 20,6 Prozent, das Baugewerbe 21,9 Prozent, das Leder-, Textil- und Bekleidungsgewerbe zusammen eine Quote von 17,4 Prozent.113 Die ethnische Unterschichtung traf sowohl schrumpfende Industrien, die sich wie die Textil- und Bekleidungsindustrie im Niedergang befanden, als auch expandierende Industriezweige wie die Elektroindustrie, die mit

|| 111 Erfahrungsbericht 1972/73, S. 16. 112 Erfahrungsbericht 1965, S. 8. 113 Erfahrungsbericht 1972/73, S. 15.

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Tabelle 2: Verteilung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bundesgebiet nach Wirtschaftsabteilungen 1965 und 1972 in Prozent

Frauen Wirtschaftsabteilung

30.9.1965

Männer

30.9.1972

30.9.1965

30.9.1972

Landwirtschaft u. Tierzucht, Forst- und Jagdwirtschaft, Gärtnerei, Fischerei

0,5

0,4

1,3

1,2

Bergbau, Gewinnung u. Verarbeitung von Steinen und Erden; Energiewirtschaft

0,4

0,2

6,9

4,5

Eisen- und Metallerzeugung und -verarbeitung

29,9

30,5

35,7

36,6

Verarbeitendes Gewerbe (ohne Metallverarbeitung)

42,9

35,4

19,5

18,8

0,4

0,6

25,4

25,0

Bau-, Ausbau- und Bauhilfsgewerbe Handel, Geld- und Versicherungswesen

6,3

8,1

3,6

5,0

10,0

11,5

2,3

3,2

Verkehrswesen

0,7

0,8

3,1

2,8

Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen im öffentlichen Interesse

8,9

12,5

2,2

2,9

Dienstleistungen

Quelle: Eigene Zusammenstellung und Berechnung nach den Zahlen im Erfahrungsbericht 1965, S. 7 und Erfahrungsbericht 1972/73, S. 29 und 74f.

veränderter Arbeitsorganisation und Arbeitsintensivierung auf den starken Rationalisierungsdruck reagierten. In allen Fällen ging es um die Aufrechterhaltung oder Neuschaffung von Arbeitsplätzen, die aufgrund ihrer unangenehmen und gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen von deutschen Arbeitskräften gemieden wurden. Bereits in der ersten bundesdeutschen Rezession 1966/67 und deutlicher noch nach dem Anwerbestopp 1973 zeigte sich, dass bestimmte Branchen auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen waren.

4 Niederlassung und Einwanderung Im Frühjahr 1971 hatte die Zahl der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Zwei-Millionen-Grenze überschritten. Im Herbst 1973 erreichte sie mit rund 2,6 Millionen ihren Höchststand.114 Die ausländische Wohnbevölkerung hatte sich zwischen 1968 und 1973 von rund 1,92 Millionen auf 3,97 Millionen mehr als

|| 114 Ebd., S. 3 sowie Übersicht 2, S. 72f.

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verdoppelt.115 Mit dem zunehmenden Familiennachzug lebten immer mehr nichterwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik. Betrug deren Zahl 1968 noch 834.330, war sie bis 1973 auf 1,37 Millionen angestiegen.116 Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren stieg auf 16 Prozent im Jahre 1973. Folglich verstärkte sich auch der Trend innerhalb der migrantischen Bevölkerung, von betriebseigenen Wohnheimen in Privatwohnungen zu ziehen. Bereits 1968 wohnten von den ausländischen Beschäftigten aus Anwerbeländern 74 Prozent aller Frauen und 57 Prozent aller Männer in einer Privatwohnung.117 Auch die Dauer des Aufenthalts nahm zu. 1968 lebten bereits 56 Prozent der männlichen ausländischen Arbeitnehmer vier Jahre oder länger in der Bundesrepublik, bei den ausländischen Arbeitnehmerinnen betrug dieser Anteil 39 Prozent.118 Bis 1973 verlängerten sich die Aufenthaltszeiten weiter. Auf eine Verstetigung des Aufenthalts deuteten auch die steigende Geburtenrate innerhalb der ausländischen Wohnbevölkerung und der Anstieg der Schülerzahlen hin. Betrug der Anteil der Geburten ausländischer Kinder 1960 nur 1,2 Prozent, erreichte er 1973 bereits 15,6 Prozent. Die Schülerzahlen an allgemeinbildenden Schulen verfünffachten sich von 35.135 im Schuljahr 1965/66 auf 159.007 im Schuljahr 1970/71.119 Bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zeichnete sich ab, dass ein Teil der zugewanderten Arbeitskräfte sich längerfristig in der Bundesrepublik niederlassen und Familienangehörige nachziehen würde. Auf Druck der Herkunftsländer, die eine lang andauernde Familientrennung vermeiden wollten, war in den meisten bilateralen Anwerbeabkommen die Möglichkeit festgeschrieben worden, Familienmitglieder nachzuholen. Sofern eine ausreichend große Wohnung nachgewiesen werden konnte, stellten die Ausländerbehörden die Zusicherung der Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige aus.120 Dies lag auch im Interesse vieler Betriebe, die ihre Arbeitskräfte durch den Familiennachzug längerfristig binden wollten. Innerhalb der Regierung bestand in der Frage des Familiennachzugs Mitte der 1960er Jahre keine einheitliche Position. Das Bundesinnenministerium stimmte 1965 dem Beschluss der Länderminister zu, wonach der Familiennachzug erst nach einer mindestens dreijährigen Beschäftigung bei Aussicht auf eine längere Weiterbeschäf|| 115 Ursula Mehrländer u.a., Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland. Repräsentativuntersuchung ‘80, Bonn 1981, S. 2f. 116 Ebd., S. 3. 117 Der höhere Frauenanteil weist darauf hin, dass verheiratete ausländische Arbeiterinnen in weit höherem Maß mit Ehemann in der Bundesrepublik lebten als verheiratete ›Gastarbeiter‹; vgl. Ausländische Arbeitnehmer. Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung – Erfahrungsbericht 1969 – Ergebnisse der Repräsentativuntersuchung vom Herbst 1968 (Beilage zu ANBA 1970, Nr. 8), hg.v.d. Bundesanstalt für Arbeit, S. 58. 118 Ergebnisse der Repräsentativuntersuchung vom Herbst 1968, S. 49. 119 Vgl. Bommes, Von ›Gastarbeitern‹, S. 259. 120 Vgl. etwa Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Griechenland; zum Fall Türkei vgl. Hunn, Beziehungen, 149–154.

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tigung und auf eine Wohnung, die »normalen Anforderungen« entsprach, gestattet werden sollte. Das BMA sprach sich dagegen zu diesem Zeitpunkt für eine grundsätzliche Förderung der Familienzusammenführung aus.121 Faktisch änderte sich nur wenig daran, dass das Fehlen einer geeigneten Wohnung lange das wirkungsvollste Hindernis gegen den Nachzug darstellte. Die Wohlfahrtsverbände, die in den 1960er Jahren hauptsächlich auf die Betreuung der in Sammelunterkünften untergebrachten ausländischen Arbeitskräfte eingestellt waren, wurden immer stärker mit den drängenden sozialen Problemen der Familienzusammenführung, allen voran der Wohnungsfrage, konfrontiert. Bezahlbarer, ausreichend großer Wohnraum war auch für deutsche Familien in den frühen 1960er Jahren vielerorts noch knapp.122 Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände gehörten zu den frühen Fürsprechern des Familiennachzugs ausländischer Arbeitskräfte und des Baus entsprechender Familienwohnungen. Ihre Forderungen blieben allerdings politisch weitgehend folgenlos.123 Zwar rechnete man auch innerhalb der BAVAV bereits im Herbst 1960 mit der Längerfristigkeit der Ausländerbeschäftigung, und vertrat aus arbeitsmarktpolitischen Gründen den Standpunkt, dass »der Bau von Schlichtwohnungen für eine Familienzusammenführung wenigstens der bewährten Arbeiter, die länger als ein Jahr bleiben wollen, ins Auge gefaßt werden« sollte.124 Es bedurfte allerdings langwieriger inner- und interministerieller Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozesse, die staatliche Wohnungsbauförderung für ausländische Familien in äußerst bescheidenem Umfang überhaupt in Gang zu setzen.125 Die politisch Verantwortlichen befürchteten, das in der deutschen Mehrheitsbevölkerung verbreitete Vorurteil, ›die Ausländer‹ würden bevorzugt, könne neue Nahrung erhalten. Insgesamt blieb die politische Einschätzung der Zuwanderungsbewegung höchst uneinheitlich. Die Wohlfahrtsverbände ebenso wie die Städte und Kommunen kritisierten seit etwa 1963 den Mangel an politischen und administrativen Leitlinien für die Zukunft der Ausländerbeschäftigung.126 || 121 Schönwälder, Einwanderung, S. 314–330; Sonnenberger, Migrationspolitik, S. 93–99. 122 Flüchtlinge und Vertriebene wurden prioritär mit Wohnraum versorgt; vgl. Steinert, Migration, S. 320. 123 Josef Koenen, So schwierig ist es für sie. Katholische Kirche vermißt Familienwohnungen, in: Der Arbeitgeber, 1966, Nr. 6, S. 156f. 124 Bericht Böcklings über die Teilnahme an der Tagung des Katholischen Mädchenschutzvereins am 26.10.1960 in Freiburg, 1.11.1960, BArch K, B119/2308, o.P. 125 Bis Ende 1967 war nur der Bau von 799 Familienwohnungen mit Mitteln von Bundesanstalt, Bund, Ländern, Gemeinden und Arbeitgebern gefördert worden. Erfahrungsbericht 1967, S. 20f.; Schönwälder, Einwanderung, 295–297; Barbara Sonnenberger, Verwaltete Arbeitskraft: Die Anwerbung von ›Gastarbeiterinnen‹ und ›Gastarbeitern‹ durch die Arbeitsverwaltung in den 1950er und 1960er Jahren, in: Oltmer (Hg.), Migration, S. 145–174, hier S. 157–159. 126 So kritisierte z.B. Hinrich Lehmann-Grube vom Deutschen Städtetag in Köln 1963, die vielen mit Ausländerfragen befassten Stellen stünden oft nicht in Verbindung untereinander. »Diese Be-

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Neuere archivgestützte Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Entstehung einer Einwanderungssituation von den westdeutschen Regierungen zwar bereits Mitte der 1960er Jahre aufmerksam registriert und letztlich angesichts übergeordneter Ziele wie Wirtschaftswachstum und europäische Einigung in Kauf genommen wurde. Es fehlte an einer klaren politischen Gesamtkonzeption und einer zwischen den einzelnen Ressorts koordinierten Ausländerpolitik.127 Die eingeleiteten Prozesse dieser erwerbs- und familienbezogenen Immigration waren unter den rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen einer liberalen Demokratie kaum mehr umkehrbar.128 Allgemein ethisch-moralische Selbstverpflichtungen und die zwischenstaatlichen Vereinbarungen verhinderten die Beschränkung des Familiennachzugs. Von maßgeblicher Bedeutung war der bereits in der Weimarer Republik begonnene Prozess der Verrechtlichung. Mit der arbeits- und sozialrechtlichen Einbindung verfestigte sich auch der Aufenthaltsstatus der Zugewanderten.129 Mit der zunehmenden Aufenthaltsdauer ausländischer Arbeitskräfte versagten die verfügbaren ausländerpolitischen Steuerungsinstrumente. 1971 trat eine neue Arbeitserlaubnisverordnung für nichtdeutsche Arbeitnehmer in Kraft. Sie ermöglichte es Arbeitsmigrantinnen und -migranten, nach fünf Jahren ununterbrochener abhängiger Tätigkeit in der Bundesrepublik unabhängig von der Lage auf dem Arbeitsmarkt eine besondere, auf fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnis zu erhalten. Ende Mai 1972 hatten bereits 460.000 ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Arbeitserlaubnis. Weder sie noch die 500.000 – vornehmlich italienischen – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus EG-Mitgliedstaaten konnten kurzfristig durch Verweigerung einer Arbeitserlaubnis zur Rückkehr veranlasst werden.130 Die staatlichen Steuerungsmöglichkeiten gegenüber einem großen Teil der Zugewanderten waren damit deutlich eingeschränkt. Die seit 1969 amtierende sozialliberale Koalition hatte der sich faktisch vollziehenden Einwanderung zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im Zeichen von Wirtschaftsboom und politisch-gesellschaftlicher Aufbruchstimmung galt auch die anhaltend expandierende Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte nach wie vor

|| ziehungslosigkeit geht hinauf bis zu den obersten Bundesbehörden, deren jeweilige Maßnahmen wenig von einer Koordinierung der Absichten und Meinungen verspüren lassen«. Protokoll der 15. Konferenz für Ausländerfragen vom 14.11.1963 im Kirchlichen Außenamt (KAA), Anlage Referat von Dr. Hinrich Lehmann-Grube, »Der ausländische Arbeiter in der Industriegesellschaft«, Archiv Diakonisches Werk, Hauptgeschäftsstelle, DW, HGSt, HA III, 2978, o.P. 127 Schönwälder, Einwanderung, S. 288–305; vgl. auch dies., Zukunftsblindheit. 128 Generell zu den Handlungsrestriktionen, die den Regierungen demokratischer Staaten von liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien gesetzt werden, vgl. James Hollifield, Immigrants, Markets, and States: The Political Economy of Postwar Europe, Cambridge, MA 1992, S. 214–232. 129 Vgl. Herbert, Geschichte, S. 232–235; allgemein dazu auch Klaus J. Bade, Ausländer –Aussiedler – Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994. 130 Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 174f.

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als optimistisches Zeichen für Wachstum und Wohlstand. Zudem hatte die Bundesregierung sie eingeplant als eine notwendige Voraussetzung für die sozialliberale Reformpolitik, die auf frühere Verrentung, Arbeitszeitverkürzung und eine Verbreiterung der Bildung zielte.131 Ob in Regierung oder Opposition, instrumentelles Wachstumsdenken verbunden mit Planungseuphorie und politischem Machbarkeitsglauben gehörten zum prägenden Signum dieser Jahre. Die Bundesregierung hatte zwar anerkannt, dass die wachsende Zahl ausländischer Arbeitskräfte samt ihrer Familienangehörigen eine ›Eingliederung‹ in die westdeutsche Gesellschaft notwendig machte. Die in Regierung und Verbänden kursierenden zeitgenössischen Integrationskonzepte beschränkten sich jedoch hauptsächlich auf die Verbesserung der Deutschkenntnisse, Wohnraumversorgung sowie Schul- und Berufsausbildung. Ein entschiedenes Bekenntnis der Politik zur Zuwanderung war aufgrund der kollektiven Überzeugung, ein Nichteinwanderungsland zu sein, kaum zu erwarten.132 Um 1970/71 setzten in Politik und Wirtschaft erstmals Diskussionen über die Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung ein, die immer deutlicher auf eine Obergrenze für ausländische Beschäftigte in der Bundesrepublik hinausliefen. Im Mittelpunkt standen drei Überlegungen: Erstens nahm mit Familiennachzug und Niederlassung die so wertgeschätzte Mobilität und Disponibilität ausländischer Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt ab. Zweitens verhinderte der einfache Zugriff von Unternehmern auf ausländische Arbeitskräfte die Rationalisierung und Modernisierung der Betriebe. Drittens schien die zunehmende Anwesenheit von ausländischen Familien in Ballungsgebieten die kommunale Infrastruktur über Gebühr zu belasten und machte die Bereitstellung von Wohnungen, Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern etc. erforderlich.133 Außer bei den Arbeitgeberverbänden wuchsen auch bei der Bundesregierung die Zweifel an der nationalökonomischen Rentabilität der Ausländerbeschäftigung, wenn es statt um ›Gastarbeit‹ nun mehr und mehr um Einwanderung auf Dauer ging. Bundesarbeitsminister Walter Arendt erklärte im März 1972: »Bei sich abschwächenden Vorteilen und steigenden Folgekosten wird schließlich ein Punkt erreicht, wo die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer für eine Volkswirtschaft per Saldo keine neuen Wachstumsmöglichkeiten eröffnet.«134 Seit Ende 1972 zeichnete sich innerhalb der Regierung ein Wechsel in der Ausländerpolitik ab. Eine stärkere Regulierung der Zuwanderung sollte verhindern, dass die Zahl ausländischer Menschen in der Bundesrepublik weiter anstieg. Der Vorschlag von Arbeitgeberseite, über eine Zwangsrotation den Daueraufenthalt von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu unterbinden, fand aller|| 131 Schönwälder, Einwanderung, S. 500. 132 Ebd., S. 536–546; Bade, Vom Auswanderungsland, S. 98f. 133 Vgl. z.B. Herbert, Geschichte, S. 228; Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 189–195. 134 Rede des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Walter Arendt, im Rahmen der von der Financial Times veranstalteten Konferenz ›Europe’s Human Resources‹ am 13.3.1975 in Düsseldorf, zitiert nach: Erfahrungsbericht 1972/73, S. 6.

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dings keine Zustimmung. Die Betriebe selbst hatten kein Interesse, nach kurzer Zeit wieder auf die eingearbeiteten Arbeitskräfte zu verzichten und ständig neue Kräfte anzulernen. Zudem hätten rigide Rotationsbestimmungen zu Protesten bei Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden geführt.135 Der erste Schritt, ein »unkontrolliertes Ausufern der Ausländerbeschäftigung zu verhindern«, bestand darin, dass die Einreise per Sichtvermerk im November 1972 endgültig gesperrt wurde.136 Nun blieb für Erwerb suchende Menschen aus den Anwerbeländern mit Ausnahme des EWG-Landes Italien nur noch die Möglichkeit, mit Hilfe der offiziellen Anwerbekommissionen einzureisen. Weitere Elemente, um die Zuwanderung zu drosseln, enthielt das von der Bundesregierung im Juli 1973 verabschiedete ›Aktionsprogramm zur Ausländerbeschäftigung‹. Dieses favorisierte erstmals die Idee der lokalen Zuzugssperre, wenn die »Zulassung ausländischer Arbeitnehmer in überlasteten Siedlungsgebieten« zukünftig von der »Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur« abhängig gemacht werden sollte. Was die Anwerbung selbst betraf, beabsichtigte die Bundesregierung, die Vermittlungsgebühr für ausländische Arbeitskräfte zu erhöhen. In der Tat wurde im September 1973 die Vermittlungspauschale von 300 DM auf 1.000 DM heraufgesetzt. Die Überschüsse aus der Vermittlungsgebühr sollten für sprachliche und berufliche Bildungsmaßnahmen und zur Verbesserung der Unterbringung verwendet werden. Auch erwog die Bundesregierung, für ausländische Arbeitskräfte von den Betrieben eine Wirtschaftsabgabe zu erheben. Hinzu kam die strengere Kontrolle der seit Juli 1973 gesetzlich festgelegten Mindestanforderungen an Unterkünfte für ausländische Arbeitnehmer. Deutlich erkennbar wird hier die Absicht, ausländische Arbeitskräfte direkt oder indirekt so zu verteuern, dass für Unternehmer die Massenanwerbung im Ausland nicht mehr uneingeschränkt vorteilhaft war. Das Schlagwort der »sozial verantwortliche[n] Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung« kam bereits vor dem eigentlichen Anwerbestopp in Umlauf. Es verwies auf die zentrale Absicht der Bundesregierung, vor allem die Neuzuwanderung in die Bundesrepublik zu begrenzen.137 Am 23. November 1973 verhängte die Bundesregierung einen Anwerbestopp und beendete damit die Zuwanderung aus Nicht-EG-Ländern. Ziel war es, den hohen Stand der Ausländerbeschäftigung (Ausländerquote im September 1973: 11,9 Prozent) mittelfristig zu reduzieren.138 Bundesregierung und Bundesanstalt begründe-

|| 135 Vgl. Herbert, Geschichte, S. 227; Schönwälder, Einwanderung, S. 536–546. 136 Erfahrungsbericht 1972/73, S. 6. 137 Ebd.; Michael Bommes sieht bereits im Programm der Bundesregierung zur ›Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung‹ von 1973 die spätere »Doppelgleisigkeit« der bundesdeutschen Ausländerpolitik angelegt, mit der sowohl die Rückkehr der ausländischen Arbeitskräfte und ihrer Familien als auch die Integration der hier verbleibenden Familien angelegt war; Bommes, Von ›Gastarbeitern‹, S. 261; vgl. auch Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 190. 138 Die Bundesanstalt versprach sich von einem fortdauernden Vermittlungsstopp eine ganz allmähliche Abnahme der Ausländerbeschäftigung. So rechnete man, dass auch künftig ca. 200.000

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ten den Anwerbestopp mit dem »Ölboykott« der ölexportierenden arabischen Länder, indem sie auf die »aktuellen Energieversorgungsschwierigkeiten in Verbindung mit den konjunkturellen Abschwächungstendenzen« verwiesen.139 In der Tat schwächte sich die westdeutsche Konjunkturentwicklung, die sich seit 1972 kurzfristig erholt hatte, im Verlauf des Jahres 1973 erneut ab. Im letzten Quartal 1973 stieg die Zahl der erwerbslosen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 15.660 auf 49.400.140 Dennoch, so die einhellige Forschungsmeinung, waren nicht der massive Anstieg des Ölpreises und Befürchtungen über eine Rezession der unmittelbar politische Auslöser für den Anwerbestopp. Vielmehr handelte es sich um einen günstigen Anlass, die anhaltende Migrationsbewegung ohne Widerstände von Seiten der Anwerbeländer und ohne langwierige Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit einzuschränken. Bereits die seit Anfang der 1970er Jahre einsetzenden Kosten-Nutzen-Debatten hatten den Anwerbestopp eingeleitet.141

5 Schluss und Ausblick Der Anwerbepolitik der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1973 lagen neben gewichtigen außenpolitischen vor allem ökonomische Interessen zugrunde. Hatte das Abkommen mit Italien einen europapolitischen Hintergrund, ging es bei den bilateralen Anwerbeabkommen seit 1960 darum, die für den sich unter der Hochkonjunktur stark wandelnden westdeutschen Arbeitsmarkt benötigten Arbeitskräfte anzuwerben. Außenpolitische Motive beim NATO-Partner Türkei beziehungsweise die neue Ostpolitik im Fall Jugoslawiens spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Wirtschaftliche Prosperität, Vollbeschäftigung und politischer Machbarkeitsglaube prägten entscheidend die Perspektive, mit der die staatlich initiierte und geförderte Arbeitswanderung in die Bundesrepublik betrieben wurde. Handlungsleitend war hier ein funktionales Konzept von ›Gastarbeit‹, das Arbeitsmigrantinnen und -migranten als je nach Konjunktur flexible, die deutsche Arbeiterschaft unterschichtende industrielle Reservearmee wahrnahm. Mit dem Zurückfahren der Anwerbung und der Rückkehr vieler ›Gastarbeiter‹ während der ersten Nachkriegsrezession

|| bis 300.000 ausländische Arbeitnehmer jährlich auf eigenen Wunsch in ihre Heimatländer zurückkehrten. Auf der anderen Seite erreichten jedes Jahr etwa 40.000 bis 50.000 ausländische Kinder das erwerbsfähige Alter; Erfahrungsbericht 1972/73, S. 3, 8. 139 Ebd., S. 7. 140 Ebd., S. 30. 141 Vgl. die Rekonstruktion der Vorgeschichte des Anwerbestopps bei Schönwälder, Einwanderung, S. 532–536; Herbert, Geschichte, S. 229; Bethlehem, Heimatvertreibung, S. 188–191; europäisch vergleichend Marcel Berlinghoff, Das Ende der »Gastarbeit«. Die Anwerbestopps in Westeuropa 1970–1974, Paderborn 2013.

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schien sich für die westdeutsche Politik die Steuerbarkeit von Migrationsbewegungen zu bestätigen. Auch die darauffolgenden Massenanwerbungen vor allem in der Türkei und Jugoslawien geschahen unter der Prämisse, es handle sich bei der staatlich geförderten Arbeitsmigration um eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die angesichts der stagnierenden deutschen Erwerbsbevölkerung und der Reformpolitik der Brandt-Regierung zwar weiterhin notwendig sei, aber im Prinzip jederzeit revidiert werden konnte. Die Tatsache, dass Arbeitsmigration häufig mit Familienmigration verbunden war, wurde von staatlicher Seite indessen bereits früh registriert und als unintendierter Effekt der Anwerbungen in Kauf genommen. Indirekt trug die staatliche Anwerbepolitik sogar selbst zu einer engen Verknüpfung von Arbeits- und Familienmigration bei. Sie hielt neben der eigentlichen Anwerbung jahrelang weitere Einreisewege offen, um dadurch der differenzierten Nachfrage nach Arbeitskräften gerecht zu werden. Für weibliche Arbeitskräfte und Facharbeiter als den in der westdeutschen Wirtschaft besonders nachgefragten Arbeitskräftekategorien wurde die Einreise per Sichtvermerk staatlich toleriert und gefördert. Der Sonderfall Jugoslawien zeigt, wie der Zweite Weg als Lenkungsinstrument diente, um gezielt den Arbeitskräftenotstand im Pflegesektor zu lindern. Auch Migrantinnen, die als ›Touristinnen‹ einreisten, erhielten für so genannte Mangelberufe teilweise eine Arbeitserlaubnis. Diese eigentlich gesetzeswidrige administrative Praxis entsprang einem lokalen Pragmatismus der Arbeitsämter, der dem Steuerungsinteresse der übergeordneten Landesarbeitsämter und der Bundesanstalt zuwiderlief. In den Jahren der Hochkonjunktur erwies es sich schwierig, die Zuwanderung und mittelfristige Niederlassung mithilfe des ausländerrechtlichen Instruments gegen wirtschaftliche Interessen zu verhindern. Selbst für Bayern, das im Umgang mit der Arbeitsmigration gewiss ein Fall besonderer Rigidität darstellt, lässt sich zeigen, dass das tief verwurzelte Selbstverständnis des dortigen Innenministeriums als Bollwerk gegen Zuwanderung vorübergehend in die Defensive geriet, als die Wirtschaft gegen die Abwanderung von ausländischen Arbeitskräften in Bundesländer mit liberalerer Ausländerpolitik protestierte. In der politischen und gesellschaftlichen Verständigung über die Zuwanderung dominierte zwischen 1955 und 1973 zu jeder Zeit das auf nationalökonomischen Nutzen und Funktionalität ausgerichtete Argument. Arbeitsmigrantinnen und -migranten schienen letztlich nur als unterprivilegierte Schicht vorstellbar, die in konjunkturellen Hochzeiten am unteren Ende des Beschäftigungssystems eingesetzt wurde. Dass eine große Anzahl der ›Gastarbeiter‹ als Einwanderer dauerhaft bleiben und die Zusammensetzung der Bevölkerung dadurch ethnisch heterogener werden würde, überstieg den zeitgenössischen Vorstellungshorizont der politischen und gesellschaftlichen Mehrheit und erschien auch wegen des vorherrschenden eth-

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nisch-nationalen Selbstverständnisses und der durch die deutsche Zweistaatlichkeit schwierigen nationale Frage kaum politisch vermittelbar.142 Der Anwerbestopp hatte bekanntlich nicht-intendierte Folgen. Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sank zwar zunächst entsprechend der amtlichen Prognosen. Der Umfang der ausländischen Wohnbevölkerung aber nahm nicht ab, sondern erhöhte sich bis Mitte der 1970er Jahre. In der Tat hatte der Anwerbestopp Migrantinnen und Migranten vor die Entscheidung gestellt, endgültig zurückzukehren oder ihre Familien nachzuholen. Dies betraf besonders die Migration aus der Türkei. Während die Zahl der Menschen aus den frühen Anwerbeländern Italien, Spanien und Griechenland seit dem Anwerbestopp rückläufig war, nahm die türkische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik rasch zu.143 Damit trat innerhalb kurzer Zeit eine nicht vorhergesehene Situation ein und zog massive soziale Folgeprobleme nach sich. Die Bundesrepublik war faktisch ein Einwanderungsland geworden, ohne dass die Bundesregierungen in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten darauf mit einem politischen Bekenntnis zur Einwanderung antworteten.144

|| 142 Das schließt nicht aus, dass hinter dieser mehrheitlich geteilten Grundüberzeugung durchaus kontrovers diskutiert wurde, wie denn politisch-pragmatisch auf den faktischen Einwanderungsprozess regiert werden sollte; vgl. detailliert dazu Schönwälder, Zukunftsblindheit, S. 130–134. 143 Viele türkische Migrantinnen und Migranten hatten ihr Sparziel noch nicht erreicht. Zudem erwartete sie in der Türkei hohe Erwerbslosigkeit und Ende der 1970er Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände. In Griechenland, Portugal und Spanien war es dagegen in den 1970er Jahren mit dem Ende der dort herrschenden Diktaturen zu einem wirtschaftlichen Modernisierungsschub und demokratischen Aufbruch gekommen; Hunn, »Nächstes Jahr«, S. 328–330; Mathilde Jamin, Die deutsche Anwerbung: Organisation und Größenordnung, in: Erуιlmaz/Jamin (Hg.), Fremde Heimat, S. 149–170, hier S. 169. 144 Vgl. dazu etwa Bade, Migration, S. 424; ders./Michael Bommes, Migration im ›Nicht-Einwanderungsland‹, in: ders./Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2000. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M. 2000, S. 163–204.

Patrice G. Poutrus

Zuflucht im Nachkriegsdeutschland Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er Jahren bis zur Grundgesetzänderung im vereinten Deutschland von 1993 Der vom Parlamentarischen Rat verabschiedete und von 1949 bis zur Verfassungsänderung von 1993 geltende Passus »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« beeindruckt durch seine Prägnanz und Schlichtheit. Dieses Recht schützte den Asyl begehrenden ausländischen Staatsbürger oder Staatenlosen vor Zurückweisung an der Grenze, vor Ausweisung und Auslieferung.1 Damit erhielt das bundesdeutsche Asylrecht eine ›Doppelnatur‹: Einerseits gewährte die Bundesrepublik auf der Basis ihrer Souveränität dem ›politisch Verfolgten‹ auf dem eigenen Territorium Schutz vor dem verlassenen ›Verfolgerstaat‹; andererseits erlangte der ›politisch Verfolgte‹ das subjektive und durch das Grundgesetz gesicherte Recht auf Schutzgewährung im Zufluchtsland Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass der Asylberechtigte – also der im Anerkennungsverfahren für politisch Verfolgte erfolgreiche ausländische Staatsbürger oder Staatenlose – auf vielen Feldern, wie etwa im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht, einen Status erhielt, der als eine weitgehende Gleichbehandlung gegenüber Inländern anzusehen ist.2 Der weit reichende Schutz des Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 stellte eine sowohl in der deutschen Verfassungstradition als auch in der Praxis der Aufnahme von Flüchtlingen außergewöhnliche Neuerung dar.3 Immerhin waren vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die deutschen Staaten beziehungsweise das Deutsche Reich eher Ausgangs- und nicht Zufluchtsort für politisch Verfolgte in Europa gewesen.4 Selbst nach dem Ende der preußischdeutschen Monarchie und unter dem Eindruck der bolschewistischen Revolution in Russland war es in der Weimarer Republik nicht möglich, den nach Westen wan-

|| 1 Ursula Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung und Alternativen. 2. Aufl. Opladen 1993, S. 22–35; vgl. Bertold Huber, Ausländer- und Asylrecht, München 1983, hier S. 151. 2 Vgl. Die Rechtsstellung nach der Anerkennung, Abschnitte Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis, in: Wolfgang G. Beitz/Michael Wollenschläger (Hg.), Handbuch des Asylrechts, Bd. 2, BadenBaden 1981, S. 586–601, 618–622. 3 Peter Steinbach, Die Verpflichtung zur Beheimatung politisch Verfolgter: Der Weg zum Asylrecht des Grundgesetzes, in: Universitas, 50. 1995, H. 12, S. 1126–1145. 4 Herbert Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA, Berlin 1992; Hans-Ulrich Thamer, Flucht und Exil. ›Demagogen‹ und Revolutionäre, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 242–248.

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dernden osteuropäischen Flüchtlingen einen gesicherten Aufenthaltsstatus per Verfassung oder Gesetz zu gewähren.5 In noch viel stärkerem Maße wurde Deutschland Ausgangspunkt für Fluchtbewegungen, als unter der nationalsozialistischen Diktatur Menschen aufgrund ihrer politischen Anschauungen, ihrer Glaubenszugehörigkeit und ihrer ethnischen Herkunft verfolgt wurden.6 In der historisch interessierten Politikwissenschaft ist allerdings umstritten, ob die außergewöhnlich liberale Normsetzung im Grundgesetz aus den individuellen Emigrationserfahrungen seiner Mütter und Väter während der Zeit des Nationalsozialismus zu erklären sei7, oder ob es sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft um die gezielte Bezugnahme auf die allgemeinen Bürgerund Menschenrechte handelte.8 Unstrittig ist hingegen, dass sich die Mütter und Väter der Verfassung bewusst für eine großzügige Regelung des Asyls entschieden9, jedoch in diesem Gremium bereits unmissverständliche Einwände gegen ein uneingeschränktes Asylrecht offen zur Sprache kamen. Zwar fanden die vorgebrachten Bedenken gegen ein unumschränktes Asylrecht für jegliche politisch Verfolgte im Parlamentarischen Rat keinen Eingang in die Formulierung des Artikel 16, Absatz 2, Satz 2.10 Damit war aber die an dieser Stelle erstmals offenkundig gewordene latente Spannung zwischen der universellen Gültigkeit von politischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und der exklusiven Souveränität des Nationalstaates auf der anderen Seite mit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht aufgehoben. Vielmehr sollte diese Spannung von nun an bis zur Verfassungsänderung von 1993 die Auseinandersetzungen um Inhalt, Reichweite und Praxis des bundesdeutschen Asylrechtes begleiten. || 5 Jochen Oltmer, Flucht, Vertreibung und Asyl im 19. und 20. Jahrhundert, in: Klaus J. Bade (Hg.), Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter (IMIS-Beiträge, H. 20), Osnabrück 2002, S.107–134; vgl. Karl Schlögel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995. 6 Vgl. Claus-Dieter Krohn/Erwin Rotermund/Lutz Winckler/Wulf Koepke (Hg.), Exile im 20. Jahrhundert, München 2000. 7 Hans-Peter Schneider, Das Asylrecht zwischen Generosität und Xenophobie. Zur Entstehung des Artikels 16 Absatz 2 Grundgesetz im Parlamentarischen Rat, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 1. 1992, S. 217–236. 8 Peter Steinbach, Asylrecht und Asylpolitik: Zur historisch-politischen Dimensionierung eines aktuellen Problems, in: Rainer A. Roth/Walter Seifert (Hg.), Die zweite deutsche Demokratie: Ursprünge, Probleme, Perspektiven, Köln/Wien 1990, S. 201–230. 9 Vgl. Hans Kreuzberg (Hg.), Grundrecht auf Asyl. Materialien zur Entstehungsgeschichte, Köln 1984; Der Parlamentarische Rat und das Asylrecht in der Bundesrepublik Deutschland [Dokumentation], in: Herbert Spaich (Hg.), Asyl bei den Deutschen. Beiträge zu einem gefährdeten Grundrecht, Reinbek 1982, S. 18–37. 10 Patrice G. Poutrus, Zuflucht im Nachkriegsdeutschland. Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er bis zu den 1970er Jahren, in: Ute Frevert/ Jochen Oltmer (Hg.), Europäische Migrationsregime (Themenheft von ›Geschichte und Gesellschaft‹, 35. 2009, H. 1), S. 135–175, hier S. 140f.

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Trotzdem wäre es verfehlt, dieses Problem als einen weiteren Beleg für einen unterstellten ›deutschen Sonderweg‹ in der europäischen Entwicklung des Nationalstaates zu betrachten.11 Die Konflikte um den Schutz politisch Verfolgter und die Gewährung von Asyl gehören eher zu den Gemeinsamkeiten in der Geschichte der europäischen Nationalstaaten. Bereits in der Französischen Revolution, in der sich die Exklusivität des neuzeitlichen Nationalismus mit der proklamierten Universalität der Menschenrechte verband, wurde dieser Komplex im Zusammenhang mit der Gestaltung eines säkularen Asylrechts in der damaligen republikanischen Verfassung verhandelt.12 Bevor jedoch Frankreich und Paris zu Zufluchtszentren für politisch Verfolgte aus ganz Europa wurden, hatte paradoxerweise die Französische Revolution selbst eine Emigrationsbewegung ausgelöst, weil zunächst zentrale Repräsentanten und zahlreiche Anhänger des Ancien Régime das Land verließen, um den Gefahren des revolutionären Umsturzes zu entgehen.13 Bemerkenswert daran war, dass insbesondere die französischen Revolutionsflüchtlinge im Königreich Großbritannien dessen Regierung dazu zwangen, eine gesetzliche Regelung – den ersten Alien Act von 1793 – zu entwickeln, die dem Sicherheitsinteresse des britischen Staates und der liberalen Asylrechtstradition Großbritanniens entsprach. Auch wenn diese Flüchtlinge noch nicht dem Typus des politisch Verfolgten aus der Zeit nach dem Wiener Kongress oder den europäischen Revolutionen von 1848/49 entsprachen14, bleibt doch festzuhalten, dass die Anwesenheit jener Flüchtlinge den sich formierenden Nationalstaat herausforderte, seine eigenen Rechtsnormen zu prüfen und gegebenenfalls neu zu bestimmen.15 In letzter Konsequenz traf dies auch auf den historisch besonderen Fall des bundesdeutschen Asylrechts zu. Zwar war es das unbestreitbare Ergebnis der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, dass dem Wort nach ein in jeder Hinsicht

|| 11 Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: 1914–1949, München 2003. 12 Vgl. Gérard Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Deutschland, Lüneburg 1994, S. 14–18. 13 Christian Henke, Das Zentrum der ›Gegenrevolutions-Parthie‹ liegt am Rhein. Französische Emigranten im Kurfürstentum Trier 1789 bis 1794, in: Dittmar Dahlmann (Hg.), Unfreiwilliger Aufbruch. Migration und Revolution von der Französischen Revolution bis zum Prager Frühling, Essen 2007, S. 9–30. 14 Margrit Schulte Beerbühl, Conflict Aims. Die britische Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik zwischen Asylrecht und konterrevolutionärer Strategie 1789–1818, in: ebd., S. 31–50; vgl. Sabine Freitag (Hg.), Exiles from European Revolutions: Refugees in Mid-Victorian England, Oxford 2003. 15 Andreas Fahrmeir, Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789–1900, New York 2000; Beatrix Mesmer, Die politischen Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, in: André Mercier (Hg.), Der Flüchtling in der Weltgeschichte. Ein ungelöstes Problem der Menschheit, Bern 1974, S. 209–239.

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offenes Asylrecht in den Verfassungstext des Grundgesetzes eingebracht wurde.16 Dennoch definierte er den Kreis der Asylberechtigten darin lediglich mit zwei Worten – nämlich als ›politische Verfolgte‹ – und verzichtete somit willentlich auf eine formale oder inhaltliche Abgrenzung dieses Personenkreises. Das wiederum zeitigte die Konsequenz, dass die Normen zur rechtswirksamen Bestimmung, was ein politisch Verfolgter sei und welche Verfolgungstatbestände zum Genuss von Asyl berechtigten, der exekutiven Praxis überlassen blieben, die ihrerseits nun einem permanenten Prozess höchstrichterlicher Überprüfungen unterzogen war.17 Damit kam (und kommt) nach dem Grundgesetz der Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens für politisch Verfolgte zur Gewährung von Asyl eine zentrale Bedeutung zu, was dieses Verfahren – unabhängig von der Anzahl der Asylsuchenden – von Beginn an zu einem bemerkenswerten Konfliktfeld innerhalb der (damals noch nicht als solche) bezeichneten Migrationspolitik der frühen Bundesrepublik machte.

1 Die Asylverordnung von 1953 Die Verfahrensregeln für das bundesdeutsche Asylrecht wurden mit der Asylverordnung vom 6. Januar 195318 wirksam, also rund dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes selbst. Die Initiative für die rechtsverbindliche Regelung des Asylverfahrens durch die Bundesregierung ging von den alliierten Besatzungsbehörden aus.19 Unter direkter Bezugnahme auf die Asylbestimmung des Grundgesetzes forderte die Alliierte Hohe Kommission in einem Memorandum, dass alle ausländischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufzunehmen seien, die an deren Grenzen um Asyl baten. Die Asylsuchenden sollten nicht in den Lagern für deutsche Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht, sondern bei ihrer Ankunft auf ein oder mehrere separate Lager je Besatzungszone verteilt werden. Die ausländischen Flüchtlinge sollten von den deutschen Behörden angehört werden, um die Rechtmäßigkeit ihres Begehrens zu prüfen und um ihnen die Gelegenheit zu geben, mit den für Flüchtlingsfragen zuständigen Dienststellen der Vereinten Nationen Ver|| 16 Jochen Hoffmann, Die Erarbeitung von Artikel 16 Grundgesetz im Herrenchiemseer Verfassungskonvent und Parlamentarischen Rat, in: Vierzig Jahre Asylgrundrecht, Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention. 4. Expertengespräch für Asylrichter, 25.–27.9.1989 in Bonn, hg.v.d. OttoBenecke-Stiftung, Baden-Baden 1990, S. 63–90. 17 Reinhard Marx, Die Definition politischer Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Andreas Germershausen/Wolf-Dieter Narr (Hg.), Flucht und Asyl. Berichte über Flüchtlingsgruppen, Freiburg i.Br. 1988, S. 148–158. 18 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1953 I, S. 3. 19 Vgl. dazu, Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 3, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Baden-Baden 2005, S. 779–801, hier S. 788–790.

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bindung aufzunehmen. Allerdings behielten sich die Hochkommissare ein eigenes Verhörrecht vor und forderten, über fragliche Zulassungsansprüche informiert zu werden, wie sie auch das Recht der »Ausweisung unerwünschter Personen« zu diesem Zeitpunkt noch selbst auszuüben gedachten. Den davon nicht betroffenen ausländischen Flüchtlingen hatte der Bund Ausweispapiere auszustellen und sie auf die Länder zu verteilen. Im Übrigen wurde die Bundesregierung darum gebeten, sowohl für Unterkunft und Arbeit als auch für eine Gleichbehandlung vor deutschen Zivil- und Strafgerichten Sorge zu tragen.20 Demgegenüber galt der Bundesregierung, wie ihren Fachverwaltungen, die Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen angesichts der anhaltenden Nöte der deutscher Flüchtlinge und Vertriebener zu diesem Zeitpunkt als höchstens sekundäre Aufgabe.21 Die aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Massenmigrationen sowie dadurch ausgelöste Folgewanderungen, hatten eine Homogenisierung der Bevölkerungen der europäischen Staaten zur Folge, wie sie in einem solchen Ausmaß weder je zuvor noch je danach zu verzeichnen war.22 Diese einzigartige Konstellation betrachtete man in beiden deutschen Staaten nach 1949 als voraussetzungslosen und nationalen ›Normalfall‹ für die eigene Bevölkerungsstruktur.23 Vor diesem Hintergrund ist es daher nicht verwunderlich, dass weder die verantwortlichen Politiker noch die Beamten der bundesdeutschen Innenbehörden eine Neigung zu einer offenen Aufnahmepolitik gegenüber ausländischen Flüchtlingen zeigten – auch nicht mit Bezug auf die Asylbestimmung des Grundgesetzes. Entsprechend war von bundesdeutscher Seite auch nicht vorgesehen, eine gesetzliche Direktive zu schaffen, die das Verfahren und die Rechtstellung asylberechtigter Ausländer regeln sollte. Vielmehr wurde auf die weiterhin gültigen und als ausreichend angesehenen Grundsätze der Ausländer-Polizeiverordnung vom 28. August 1938 (APVO) Bezug genommen, wobei die Bundesregierung unter anderem auf die aus ihrer Sicht »bevölkerungspolitisch« schwierige Lage Westdeutschlands verwies, aufgrund derer keine große Anzahl ausländischer Flüchtlinge aufgenommen werden könne.24 Da die Bundesregierung in der Frage des bundesdeutschen Asylrechts mit so offensichtlicher Zurückhaltung reagierte, sah sich die Alliierte Hohe Kommission

|| 20 Alliierte Hohe Kommission (AHK), 14.7.1950, Zulassung und Behandlung nicht deutscher Flüchtlinge in der Bundesrepublik, Bundesarchiv Koblenz (BArch K), B106, Nr. 47453, o.Bl. 21 Schreiben des Bundesministerium des Innern an Bundeskanzleramt, Verbindungsstelle zur AHK, 21.9.1950, betr.: Memorandum der AHK v. 14.7.1950 über Zulassung und Behandlung nicht deutscher Flüchtlinge in der Bundesrepublik, BArch K, B106, Nr. 47453, o.Bl. 22 Göran Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945–2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt a.M./New York 2000, hier S. 55–60. Auf Therborn hat mich Thomas Mergel aufmerksam gemacht. 23 Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Normalfall Migration. Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert, Bonn 2004. 24 Abschrift des Schreiben der AHK-Verbindungsstelle an den Generalsekretär der AHK, Herrn Joseph E. Slater, 10.11.1950, BArch K, B106, Nr. 47453, o.Bl.

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veranlasst, zusätzliche und verbindliche Zusicherungen einzufordern. Zwar hatten die Alliierten sich damit einverstanden erklärt, dass auf bundesdeutscher Seite die praktischen Aufgaben der Flüchtlingsaufnahme und Integration in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Vertriebene fallen sollten. Dennoch wurde von der Alliierten Hohen Kommission die Zusicherung eingefordert, dass ausländische Flüchtlinge nicht direkt an der Grenze abgewiesen werden sollten, sondern diese Aufnahmebegehren in inländischen Lagern zu prüfen seien. Des Weiteren forderte die Alliierte Hohe Kommission nähere Angaben über Form und Ausgestaltung der Überprüfung ausländischer Asylsuchender. Insbesondere der Hinweis auf die Gültigkeit der Ausländer-Polizeiverordnung von 1938 schien den alliierten Vertretern keine Gewähr für die geforderte Gleichbehandlung der ausländischen Flüchtlinge zu sein. Vielmehr sahen sie darin einen Rückfall hinter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der die Bundesrepublik beizutreten die Absicht hatte.25 In den sich anschließenden Verhandlungen zwischen Bundesbehörden und Alliierter Hoher Kommission zur Ausgestaltung des Asylrechts sorgten sich deren Vertreter weiterhin darum, dass die von bundesdeutscher Seite vorgeschlagenen Regelungen keine ausreichende Freizügigkeit für politisch Verfolgte ermöglichten. Hier wurde von alliierter Seite die Forderung wiederholt, dass anerkannte ausländische Flüchtlinge eine Gleichstellung mit den sogenannten ›heimatlosen Ausländern‹ erhalten sollten, denen als ehemalige Displaced Persons (DPs), unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, eine weitgehende Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen per Gesetz zustand. Dies stellte eine Voraussetzung dafür dar, um auf diesem Gebiet das Besatzungsstatut aufzuheben. Die alliierte Seite vertrat zu dem Zeitpunkt die Auffassung, dass der bundesdeutsche »Verordnungsentwurf keinen Raum für Freizügigkeit lasse und der GFK widerspräche«.26 Aus außenpolitischen Erwägungen war die Bundesregierung jedoch an der Unterzeichung der Genfer Flüchtlingskonvention sehr interessiert, weshalb sie in den weiteren Verhandlungen mit den Vertretern der Alliierten Hohen Kommission darauf verzichtete, den Bezug zum Grundgesetz als rechtlichen Ausgangspunkt für die Regelung des bundesdeutschen Asylrechts herauszustellen und stattdessen die Übereinstimmung der Asylverordnung mit der GFK betonte. In diesem Kontext akzeptierte die bundesdeutsche Seite auch, dass dem Hohen Kommissar für Flüchtlingsfragen der UN ein allgemeines Mitspracherecht in Flüchtlings- und Asylangelegenheiten auf dem Gebiet der Bundesrepublik eingeräumt wurde.27 Nachdem das Bundesinnenministerium (BMI) im Textentwurf der Asylverordnung vielfältige For|| 25 Übersetzung des Schreibens der AHK an Bundeskanzleramt, VLR Dr. Dittmann, 16.2.1951, BArch K, B106, Nr. 47453, o.Bl. 26 Bundesministerium für Vertriebene, Niederschrift v. 1.10.1951 über Besprechung mit der Flüchtlingsabteilung der AHK auf dem Petersberg am 27.9.1951, BArch K, B106, Nr 47453, o.Bl. 27 DBMdI (gemeint: BMI), MR Kleberg, Vermerk über Besprechung mit der Flüchtlingsabteilung der AHK auf dem Petersberg am 27.9.1951, BArch K, B106, Nr. 47453, o.Bl.

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mulierungsänderungen vorgenommen hatte und in den Verhandlungen zunehmend ein Klima grundsätzlicher Gemeinsamkeiten sichtbar wurde, gelangten die Vertreter der Alliierten Hohen Kommission zu der Auffassung, dass die Vorschriften der Asylverordnung zustimmungsfähig waren.28 Damit jedoch war der ausländerrechtliche Bezug auf die APVO keineswegs ausgeschlossen. Jene enthielt selbst nämlich keine asylrechtlichen Regelungen, sondern gab den zuständigen Behörden einen weit reichenden Entscheidungsspielraum bei der Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis, der sich seinerseits zur Gänze an inländischen Interessen orientierte. Dies verdeutlichte schon § 1 der APVO: »Der Aufenthalt wird Ausländern erlaubt, die nach ihrer Persönlichkeit und dem Zweck ihres Aufenthaltes im Reichsgebiet die Gewähr dafür bieten, dass sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind.«29 1938 wirkte diese Formulierung wegen der Nürnberger Gesetze rassistisch exkludierend. Doch auch nach 1953 konnte eine so formulierte Rechtsnorm immer noch vieles bedeuten: Würdig konnte sein, wer kein Feind der Verfassungsordnung war, wer keine Gefahr für die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik darstellte oder aber den bevölkerungspolitischen Vorstellungen in Westdeutschland entsprach. In jedem Fall stand eine solche Rechtsgrundlage für die Asylgewährung dem subjektiven Recht des Asylsuchenden auf Anerkennung seines persönlichen Verfolgtenschicksals diametral entgegen. Weiterhin entschieden über die Aufenthaltsgewährung von Asylsuchenden, wie bei Einreise aller anderen Nichtdeutschen, auch nach Inkrafttreten der Asylverordnung am 6. Januar 1953 die Kreispolizeibehörden – später Ausländerbehörden.30 Immerhin hatten die Verhandlungen mit der Alliierten Hohen Kommission erbracht, dass sich die Bundesrepublik in Flüchtlings- und Asylfragen auf internationales Recht bezog. Da die Flüchtlingsdefinition darin aber uneindeutig und auf politische Ereignisse vor dem 1. Januar 1951 begrenzt war, bauten sich hier andere Beschränkungen auf. Für politisch Verfolgte war das Anerkennungsverfahren faktisch zweigeteilt. Sie konnten sich entweder auf die Genfer Flüchtlingskonvention berufen, woraufhin das Verfahren bei der ›Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge‹ mit Sitz anfänglich in Valka und später in Zirndorf (bei-

|| 28 Vermerk von ORR Breull, 21.12.1951, betr.: Besprechung mit der Flüchtlingsabteilung der AHK auf dem Petersberg am 19.12.1951, BArch K, B106, Nr. 47453, o.Bl. 29 Ausländer-Polizeiverordnung vom 22.8.1938 (Reichsgesetzblatt I, S. 1053), nebst Dienstanweisung (Teil I – Allgemeines), amtliche Ausgabe, Berlin 1939, S. 5. In der betreffenden Dienstanweisung heißt es sogar: »Der Ausländer hat kein Recht zum Aufenthalt im Reichsgebiet«, ebd. 30 Vgl. Knuth Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Berlin 1985, hier S. 233–255; vgl. dazu unter Bezug auf Dohse: Bernhard Santel/Albrecht Weber, Zwischen Ausländerpolitik und Einwanderungspolitik. Migrations- und Ausländerrecht in Deutschland, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2000. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M. 2000, S. 109–140, hier S. 111.

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de in der Umgebung von Nürnberg) erfolgte.31 Oder sie beriefen sich auf den Asylsatz im Grundgesetz, dann waren allein die lokalen Ausländerpolizei-Behörden zuständig, und es lag ganz in deren Ermessen, dem jeweiligen Ausländer Aufenthalt zu gewähren. Von Beginn an waren dabei neben politischen auch wirtschaftliche Erwägungen maßgeblich, und nicht zuletzt stellte sich die Frage einer legalen beziehungsweise illegalen Einreise der Betreffenden.32 Das Anerkennungsverfahren nach der Asylverordnung eröffnete den Antragstellern zwei Verwaltungs- und drei Gerichtsinstanzen zur Durchsetzung ihres Asylbegehrens beziehungsweise zu dessen Zurückweisung durch Exekutive und Judikative. Ursprünglich war vorgesehen, dass ein solches Verfahren nicht länger als zwei oder drei Monate in Anspruch nehmen sollte. Obwohl sich die Zahl der Asylbewerber in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Asylverordnung auf zwei- bis dreitausend Flüchtlinge pro Jahr beschränkte33 und diese mehrheitlich aus den kommunistisch regierten Staaten Mittel- und Osteuropas stammten34, kam es häufig zu unangemessen langen Verfahren mit einer Dauer von zwei bis drei Jahren. Wie Juristen der frühen Bundesrepublik scharfsinnig bemerkten, hatte sich damit die prägnante Formulierung des Grundgesetzes in eine Regelungsfalle für politisch Verfolgte verwandelt, denn das Verfahren war nicht nur uneinheitlich gestaltet, sondern zudem auf unterschiedlichen Ebenen deutlichen Restriktionen unterworfen. Die offene Asylgarantie des Grundgesetzes trat dahinter kaum noch zutage, weil in der frühesten Periode die Asylpraxis nach Asylverordnung mehr einer Abwehr als einer Gewährung von Asyl diente.35 Von einer neuen, offenen Asylpraxis konnte in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auch deshalb keine Rede sein, weil in der westdeutschen Politik und Öffentlichkeit die Aufnahme ausländischer Flüchtlinge nicht als Chance zur symbolischen Abgrenzung gegenüber den Folgen der NS-Diktatur angesehen wurde, sondern eher

|| 31 Schreiben der Bundesdienststelle für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an Bundesministerium des Innern, 16.5.1953, betr.: Aufnahme und Unterbringung anderer Dienststellen in herzurichtenden Sammellagern, BArch K, B106, Nr. 47472, o.Bl. 32 Bayrischer Staatssekretär für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen im Bayrischen Staatsministerium für Inneres an Bundesministerium des Inneren, betr. Aufnahme und Überprüfung illegal eingewanderter Ausländer, 4.12.1951, BArch K, B106, Nr. 47453, Bl. 37–38, vgl. dazu Münch, Asylpolitik, S. 52. 33 Regine Heine, Ein Grundrecht wird verwaltet, in: Bewährungsprobe für ein Grundrecht, hg.v. Amnesty International, Baden-Baden 1978, S. 407–504, hier S. 408. 34 Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bd. 5, Baden-Baden 2006, S. 781–810, hier S. 791; vgl. Otto Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, Darmstadt, 1983, S. 111. 35 Heinrich Meyer, Neues vom Asylrecht, in: Monatsschrift für Deutsches Recht, 1953, S. 534–536; vgl. Grenzfragen des innerdeutschen Asylrechts, Bulletin einer Arbeitstagung vom 1.–3.12.1975 in Bonn, hg.v.d. Otto-Benecke-Stiftung, Bonn 1976.

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als Belastung beziehungsweise Gefahr für den inneren Frieden der erst kürzlich gegründeten Bundesrepublik. Beispielhaft dafür steht die Reaktion auf eine missliebige Äußerung des ehemaligen Ministers der ersten Nachkriegsregierung in der ČSR, Bohumil Laušman, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Laušman war nach der kommunistischen Machtübernahme nach Österreich geflohen und hatte in einem Interview am 9. Januar 1950 erklärt, dass für ihn die Deutschen vor 1945 ebenso schlimm gewesen seien wie die Kommunisten nach 1945, und dass die ausgewiesenen Deutschen keine Chance hätten, jemals wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren.36 Diese am selben Tag in der fränkischen Regionalzeitung ›MainPost‹ veröffentlichte Stellungnahme des emigrierten Vorsitzenden der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei, der auch schon vor den Nationalsozialisten ins Exil hatte fliehen müssen, erboste regionale Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaft dermaßen, dass sie vom gänzlich unzuständigen Bundespräsidenten Theodor Heuß die unverzügliche Ausweisung des Exilpolitikers verlangten.37 Dass diese öffentlich wiederholte Forderung den Prinzipen des Grundgesetzes widersprach, erregte allerdings kein weiteres Aufsehen. Die freimütige Äußerung Laušmans hatte jedoch so offenkundig den Nachkriegsmythos der westdeutschen Gesellschaft – wonach die Deutschen selbst Opfer des Kriegsgeschehens gewesen seien38 – angegriffen, dass sich sogar Bundeskanzler Konrad Adenauer in der Sache und mit ähnlicher Intention wie die sudetendeutschen Vertriebenenfunktionäre an den damals noch zuständigen Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland, General John J. McCloy, wandte. In seiner Antwort zeigte dieser einiges Verständnis für Adenauers Besorgnis, dass öffentliche Äußerungen von ausländischen Flüchtlingen, wie die von Laušman, zu Unruhe in der westdeutschen Gesellschaft und insbesondere unter den Millionen Vertriebenen führen könnten. McCloy machte aber zugleich darauf aufmerksam, dass auch für ausländische Flüchtlinge in der Bundesrepublik das durch das Grundgesetz geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung uneingeschränkt gelte und warnte vor einem überstürzten Vorgehen der bundesdeutschen Behörden, da ein solches das Vertrauen in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik schmälern würde.39 Die Konfliktlagen aus der unmittelbaren Nachkriegssituation dominierten in den ersten Jahren der Bundesrepublik die westdeutsche Gesellschaft derart, dass anti-

|| 36 DPA-Meldung, 9.1.1950. 37 Schreiben des Verbands der Heimatvertriebenen, Stadt- und Landkreis Würzburg an den Bundespräsidenten Theodor Heuss, 11.1.1950, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland (PA AA), B85, Nr. 262, o.Bl. 38 Mathias Beer, Flüchtlinge und Vertriebene in den Westzonen und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Flucht, Vertreibung, Integration, hg.v.d. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn/Wiesbaden 2005, S. 109–123. 39 Schreiben des Hohen Kommissars der Vereinigten Staaten für Deutschland an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 24.3.1950, PA AA, B85, Nr. 262, o.Bl.

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kommunistische Exilpolitiker in Westdeutschland nicht per se als ›natürliche‹ Verbündete anerkannt beziehungsweise willkommen geheißen werden konnten. Entsprechend hatte Laušman sein Exil dann in der noch unter der Vier-MächteKontrolle stehenden Bundesrepublik Österreich gewählt. Allerdings wurde er 1953 von dort in die ČSSR entführt, wo man ihm im selben Jahr den Prozess machte.40 Die sich in diesem Vorgang offenbarende Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Flüchtlingen fand ihre Entsprechung in einer Erklärung bundesdeutscher Diplomaten gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, wonach die Bundesrepublik im Interesse eines außenpolitischen Prestigegewinns zu den ersten Staaten gehörte, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatten. 1952 gab der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Genf bekannt, man sei aufgrund der kriegsbeziehungsweise nachkriegsbedingten Flüchtlingssituation in Westdeutschland außerstande, in der nächsten Zeit ausländische Flüchtlinge aufzunehmen. Bemerkenswert an dieser am Genfer Sitz der Vereinten Nationen vorgelegten unmissverständlichen Stellungnahme ist, dass die Bundesregierung keinen substantiellen Unterschied zwischen den Belastungen machte, die der Bundesrepublik aus der Integration von Vertriebenen, SBZ/DDR-Flüchtlingen und ehemaligen DPs beziehungsweise ›Heimatlosen Ausländern‹ entstanden waren. In der daraus abgeleiteten empirischen Begründung der westdeutschen Abwehrposition gegenüber neuen Aufnahmebegehren von Seiten der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR verlor der Unterschied zwischen deutschen und nichtdeutschen Migrantengruppen seine argumentative Relevanz. Zugleich vertraten Beamte des Auswärtigen Amtes unverblümt die Auffassung, dass eine zusätzliche Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen in der deutschen Bevölkerung auf geringes Verständnis stoßen und die innenpolitische Lage der jungen Bundesrepublik gefährden würde.41 Tatsächlich gab es in der bundesdeutschen Justiz und in Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit jedoch durchaus Verständnis für das Asylbegehren von flüchtigen Ausländern, welche die bundesdeutsche Grenze illegal überschritten hatten. Allerdings handelte es sich dabei um sieben ehemalige niederländische Mitglieder der Waffen-SS, die von niederländischen Gerichten zu mehrjährigen bis lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren und im Zuchthaus Breda einsaßen. In einer von außen unterstützten Aktion waren sie gemeinsam aus der Haftstätte ausgebrochen, hatten unbemerkt die Bundesgrenze überschritten und bemühten sich nach ihrer Inhaftierung im Bundesland Nordrhein-Westfalen um Asyl nach Artikel 16, Abs. 2, Satz 2. Anders als in ähnlichen Fällen an der bayerisch-tschechischen Gren|| 40 Prokop Tomek, Die Struktur der Staatssicherheit in der ČSSR, in: Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.), Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression, Leipzig 2008, S. 99–106. 41 Erklärung der deutschen Delegation über die wirtschaftliche Eingliederung der Flüchtlinge beim Beratenden Ausschuss des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, 15.9.1952, PA AA, B10, Nr. 69, Bl. 76–83.

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ze, hatte der illegale Grenzübertritt dieser Personen nicht zur sofortigen Abschiebung geführt. Die Flüchtigen waren von einem Amtsrichter in Kleve lediglich zu einer Geldstrafe von 10 Mark verurteilt und anschließend aus der Haft entlassen worden.42 In der niederländischen Öffentlichkeit erregte der Vorfall umgehend politisches Aufsehen. Die niederländische Regierung verlangte von der Bundesregierung die Auslieferung der entflohenen Häftlinge, wozu insbesondere Kanzler Adenauer anfänglich bereit war. Jedoch offenbarte die deutsche Polizei eine deutliche Zurückhaltung bei der Verfolgung der niederländischen Häftlinge, und schließlich änderte sich die Situation, als nach ergangenem höchstrichterlichem Urteil die sieben ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS durch ihren Eintritt in diese verbrecherische Organisation deutsche Staatsangehörige geworden waren. Damit konnten sie gemäß Artikel 16, Abs. 2, Satz 1 Grundgesetz ohnehin nicht ausgeliefert werden. Im Einklang mit dieser Entscheidung bemühten sich Teile der NRW-FDP um Erich Mende, die westdeutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, jegliche Auslieferung flüchtiger ›Kriegsgefangener‹ sei unrecht. Dass schließlich einer der sieben Flüchtigen im November 1952 den niederländischen Behörden übergeben wurde, war allein der direkten Intervention der britischen Besatzungsmacht zuzuschreiben, was Adenauer wiederum als offene Brüskierung der Bundesregierung ansah.43 Auch wenn das anfängliche Asylbegehren der Breda-Flüchtlinge nicht zum Tragen kam, da die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS schließlich unter das im Grundgesetz verankerte Auslieferungsverbot für deutsche Staatsangehörige fielen, kann von einem radikalen Bruch mit der NS-Vergangenheit in diesen Fall ebensowenig die Rede sein, wie die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention die deutsche Politik der Abwehr von ausländischen Flüchtlingen herbeiführte. Auch hatte der unzweifelhaft vorhandene Antikommunismus in der deutschen Politik nicht die wohlwollende Anerkennung von Flüchtlingen aus dem kommunistischen Machtbereich in den frühen 1950er Jahren zur Folge. Die mit dem apokalyptischen Untergang der NS-Herrschaft verbundene Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die strukturellen und normativen Vorgaben der westlichen Besatzungsmächte stellten zwar notwendige Vorausetzungen für einen Neubeginn in der Flüchtlings- und Asylpolitik dar, dennoch dominierten in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit dieser Zeit nationale Selbstgenügsamkeit und kollektives Selbstmitleid das Feld.

|| 42 Schreiben des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen an Bundesministerium der Justiz, betr: Grenzübertritt holländischer Kriegsverbrecher, 2.1.1953, BArch K, B106, Nr. 47456, o.Bl. 43 Harald Fühner, Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern 1945–1989, Münster 2005.

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2 Zuflucht im Osten: Asyl in der DDR Derartige Diskrepanzen zwischen der verfassungsrechtlichen Normsetzung und der ausländerrechtlichen Verwaltungspraxis, wie in der frühen Bundesrepublik, gab es im anderen deutschen Staat nicht. Dennoch war die Gewährung von Asyl auch in der DDR keine Selbstverständlichkeit. Weil sowohl die innerstaatliche räumliche Mobilität auf dem Territorium Ostdeutschlands als auch die Zuwanderung dorthin vergleichsweise gering blieb, repräsentierte die Abwanderung aus dem SED-Staat – trotz erheblicher Schwankungen – die eigentliche Massenerscheinung.44 Obwohl die Einreise in das Staatsgebiet der DDR von Ausländern im Allgemein und von Asylsuchenden im Besonderen für die dort ansässige deutsche Bevölkerung wie auch für die Führung der herrschenden Staatspartei SED eine seltene Ausnahme darstellte, bot in Anlehnung an das sowjetische Beispiel45 bereits die erste Verfassung der DDR eine Möglichkeit für die Aufnahme politischer Flüchtlinge. Im Verfassungstext von 1949 wurde im Artikel 10 denjenigen Ausländern Asyl gewährt, die »wegen ihres Kampfes für die in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze im Ausland verfolgt werden.«46 In der nachfolgenden ›sozialistischen Verfassung‹ von 1968, Artikel 2347, wandelte sich das Asylrecht der DDR allerdings sehr deutlich in eine reine Kann-Bestimmung.48 Bezüglich der Asylgewährung durch den SED-Staat – wie auch im allgemeinen Ausländerrecht der DDR – existierte für die Asylsuchenden keinerlei Rechtswegegarantie.49 Anders als in der Bundesrepublik war das Asyl- und Ausländerrecht in der DDR deshalb kein Konfliktgegenstand. Hinweise auf einen Wandel der Asylpraxis im SED-Staat bietet stattdessen die unmittelbare Aufnahmepraxis. Deren eigentliche Entscheidungsträger waren die Führungskader der kommunistischen Staatspartei

|| 44 Siegfried Grundmann u.a., Migration in, aus und nach Ostdeutschland, in: Soziologen-Tag Leipzig 1991. Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme, hg. i.A. der Gesellschaft für Soziologie (Ostdeutschland) v. Hansgünter Meyer, Berlin 1992, S. 1577– 1609. 45 Vgl. Jochen Laufer, Die Verfassungsgebung in der SBZ 1946–1949. »Errichten wir die Diktatur des Proletariats, dann werden die Dinge klar und einfach«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1998, H. 32/33, S. 29–41. 46 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Art. 10, Abs. 2, Berlin (Ost) 1949, S. 5. 47 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1976, S. 25. 48 Vgl. Siegfried Mampel, Die Sozialistische Verfassung der DDR. Text und Kommentar, Frankfurt a.M. 1972, S. 493f. Die dritte Auflage erschien mit Ergänzungen über die Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989 und das Ende der sozialistischen Verfassung, Goldbach 1997, S. 597f. 49 Vgl. Heidemarie Beyer, Entwicklung des Ausländerrechts in der DDR, in: Manfred Heßler (Hg.), Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft. Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1993, S. 211–227.

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der DDR. Von Fall zu Fall entschieden mit dem SED-Politbüro50 beziehungsweise dem Sekretariat des ZK der SED51 die zentralen nichtstaatlichen Gremien über die Gewährung von Asyl beziehungsweise über den dauerhaften Aufenthalt von Asyl suchenden Ausländern in der DDR. Von hier aus gingen die Anweisungen an das für die Anwendung des Ausländerrechts verantwortliche Ministerium des Innern und andere staatliche beziehungsweise nichtstaatliche Institutionen, die sich in der Hauptsache mit der sozialen Einbindung der ›polit. Emigranten‹ zu beschäftigen hatten. Die unmittelbare politische Kontrolle über diese Vorgänge oblag der ZKAbteilung ›Internationale Verbindungen‹.52 Damit entwickelte sich eine Aufnahmepraxis, die den jeweiligen aktuellen außenpolitischen Interessen der SED nachgeordnet war und auf einen eingeschränkten beziehungsweise bedingten Aufnahmewillen der Staatspartei verweist. Bis in die 1970er Jahre lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Tendenzen nachweisen: zum einen die Unterstützung kommunistischer ›Bruderparteien‹, die als Versuch einer internationalistischen und revolutionären Solidaritätspolitik gesehen werden kann, jedoch maßgeblich von den Konflikten des ›Kalten Kriegs‹ determiniert war und stets abhängig von den außenpolitischen Prämissen der Sowjetunion blieb53; zum anderen die Aufnahme von Emigranten aus sogenannten ›Jungen Nationalstaaten‹, die Züge einer nationalstaatlichen Interessenwahrnehmung zur Erlangung der außenpolitischen Anerkennung der DDR trug und folglich in einem gewissen Spannungsverhältnis zur erstgenannten Tendenz stand.54 Die Unterstützung ›fortschrittlicher Kräfte‹ im ›Kampf gegen den Imperialismus‹ zeigte sich in der Ausbildung beziehungsweise begrenzten Aufnahme von Mitgliedern und Funktionären weiterer Organisationen aus Staaten Afrikas und Asiens, wie der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), der namibischen SWAPO und lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen. Die Grenzen zwischen indirekter Außenpolitik, Entwick-

|| 50 Vgl. z.B. Politbürositzung, 13.3.1950, Tagesordnungspunkt 11: Einreise des Chirurgen und griechischen Genossen T., Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch B), DY 30/J IV 2/2A, Nr. 76, o.Bl. 51 Vgl. z.B. Sekretariatssitzung, 24.7.1989, Tagesordnungspunkt 7: Aufnahme des Mitglieds des Politbüros des ZK der Irakischen Kommunistischen Partei H.M.M. und dessen Familie als politische Emigranten in der DDR, SAPMO-BArch B, DY 30/J IV 2/3A, Nr. 4423, o.Bl. 52 Patrice G. Poutrus, Polit-Emigranten in der DDR, in: Elena Demke/Annegret Schüle (Hg.), Fremde Freunde – Nahe Fremde, Berlin 2006, S. 59–78. 53 Ders., Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 17. 2004, Berlin 2004, S. 355–378. 54 Ders., An den Grenzen des proletarischen Internationalismus: Algerische Flüchtlinge in der DDR, in: Jürgen Danyel/Patrice G. Poutrus (Hg.), Der Algerienkrieg in Europa (Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 55. 2007, H. 2), Berlin 2007, S. 162–178.

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lungshilfe und humanitärer Hilfe waren hier fließend.55 Durch die Wechselfälle des ›Kalten Kriegs‹ außerhalb Europas trat wiederholt die Situation ein, dass ausländische Auszubildende beziehungsweise Studierende durch die schlagartige Änderung der politischen Machtverhältnisse in ihren Heimatländern nicht mehr imstande waren, ohne Risiko für Leib und Leben dorthin zurückzukehren. Deshalb hatten sie oft keine andere Wahl, als in den Status von Asylsuchenden beziehungsweise ›polit. Emigranten‹ zu wechseln.56 Mit der Gewährung dieses Status oder der gezielten Aufnahme in der DDR blieb allerdings der Anspruch auf politische Kontrolle durch die DDR-Institutionen im Allgemeinen und den SED-Apparat im Besonderen dauerhaft erhalten und die Asylgewährung implizit unter Vorbehalt. Diese Situation soll im Folgenden exemplarisch anhand der Migration griechischer Flüchtlinge nachgezeichnet werden.

2.1 Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge in der SBZ/DDR Noch vor Gründung der DDR fand eine Gruppe von griechischen Bürgerkriegsflüchtlingen, mehrheitlich Kinder und Jugendliche, Aufnahme im Land Sachsen. Diesen ersten Flüchtlingen folgte im Juni 1950 mit ca. 700 Personen eine größere Anzahl griechischer Migranten, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Widerstands im griechischen Bürgerkrieg in den SED-Staat einreisten.57 Bereits im September 1948 war auf Beschluss der SED-Führung das ›Hilfskomitee für das demokratische Griechenland‹ gegründet worden. Unter Mitwirkung der griechischen KP (KKE) erklärten die DDR-Behörden schließlich 1950 im sächsischen Radebeul einen umfangreichen Gebäudekomplex zum Heimkombinat ›Freies Griechenland‹, in dem die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen untergebracht wurde. Hier erhielten sie, anfänglich unter der Leitung der DDR-Wohlfahrtsorganisation ›Volkssolidarität‹ und später unter der Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung, ihre Schulausbildung.58 Unterrichtet wurden die Kinder und Jugendlichen nach den Maßgaben des DDR-Bildungssystems sowohl in deutscher als auch in griechischer Sprache mit dem Ziel, sie auf eine Rückkehr in ein sozialistisches Griechenland vorzubereiten. Diejenigen heranwachsenden Flüchtlinge, die nach dem Eintreffen || 55 Weiterführend und bisher am ausführlichsten zur Entwicklungshilfepolitik der DDR HansJoachim Döring, Es geht um unsere Existenz. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 1999. 56 Patrice G. Poutrus, Teure Genossen. Die ›polit. Emigranten‹ als ›Fremde‹ im Alltag der DDRGesellschaft, in: Christian Th. Müller/Patrice G. Poutrus (Hg.), Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnungen in der DDR-Gesellschaft, Köln 2005, S. 221–266. 57 Stefan Troebst, Die ›Griechenlandkinder-Aktion‹ 1949/50. Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52. 2004, H. 8, S. 717–736. 58 Ebd., S. 729.

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in Radebeul für eine Schulausbildung schon zu alt waren oder diese dort wenig später abschlossen, wurden in sächsischen Volkseigenen Betrieben in Facharbeiterberufen ausgebildet. Bis 1960 hatten nach Angaben des Heimkombinats ›Freies Griechenland‹ 960 Griechen einen Facharbeiter- und 201 einen Fachschulabschluss erworben, 67 ein Studium an Hochschulen und Universitäten aufgenommen sowie 37 eine Parteischule der verschiedenen Ebenen absolviert.59 Die umfassende Fürsorge des SED-Staates war jedoch kein Garant für eine konfliktfreie Integration in die sich nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 langsam stabilisierende DDR-Gesellschaft. In den Folgejahren kam es wiederholt zu Konflikten zwischen der Staatspartei und den griechischen Migranten, die vor dem Mauerbau als standhaft beziehungsweise politisch zuverlässig gegenüber den ›imperialistischen Angriffen‹ gegolten hatten. Die von KPdSU-Generalsekretär Chruschtschow betriebene Annäherung an Titos Jugoslawien und die sich parallel dazu zuspitzende Auseinandersetzung mit Maos Volksrepublik China waren für jene griechischen Genossen unverständlich, die weiterhin im Sinne des verstorbenen Stalins an eine sozialistische Revolution in ihrem Heimatland glaubten. Als orthodoxe Kommunisten begriffen sie die Verschiebungen in der sowjetischen Außenpolitik als glatten Revisionismus und waren – anders als die SED-Führung – nicht bereit, in solch prinzipiellen Fragen den Schwenks der sowjetischen Führer bedingungslos zu folgen. Genau das aber verlangte die SED von den ca. 1.000 griechischen Migranten in der DDR, von denen alle Mitglieder der Einheitsgewerkschaft FDGB und ca. 450 der SED waren. Die Partei reagierte auf die sich in ihren Augen abzeichnenden Auseinandersetzungen unter den griechischen Kommunisten in der DDR mit Bestürzung und der gesamten Wucht des Apparates. Es wurde eine Ermittlungsgruppe zu den »griechischen Genossen« entsandt, um sich einen »Überblick über den politischideologischen Zustand« 60 zu verschaffen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zur Veränderung der »Lage« herbeizuführen. Dabei stand als letzte Konsequenz immer auch die Möglichkeit einer Ausweisung von im Sinne der SED-Funktionäre unverbesserlichen Abweichlern im Raum, die in den späten 1950er Jahren auch öfter zur Anwendung kam.61 Eine politische Sonderrolle, und sei es in beipflichtender Haltung, gestand man den griechischen Emigranten nicht zu: Als sich 1963 einige von ihnen anboten, für die DDR unter den vielen griechischen ›Gastarbeitern‹ in der Bundesrepublik politisch zu arbeiten, lehnte die Abteilung ›Internationale Verbindungen‹ im ZK ab. Die daraus erwachsende Gefahr mehrfacher ›Westreisen‹ wog offenbar schwerer als der zu erwartende

|| 59 Andreas Stergiou, Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR und das Verhältnis der SED zur KKE, Diss. Mannheim 2001, hier S. 43. 60 Abteilung Internationale Verbindungen, Schreiben v. 26.1.1963, betr.: Einige Erscheinungen unter den griechischen Emigranten, SAPMO-BArch B, DY 30 IV A 2/20, Nr.1032, o.Bl. 61 Vgl. Poutrus, Teure Genossen, S. 228.

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ideologische Effekt.62 Beinahe 15 Jahre nach Ankunft der ersten griechischen Flüchtlingskinder waren aus Sicht der verantwortlichen SED-Kader die sogenannten ›polit. Emigranten‹ dem Status der zu belehrenden ›Fremden‹ keineswegs entwachsen.63 Mit der aus dem Internationalismus der SED-Ideologie begründeten Aufnahme und Hilfeleistung verband sich – bewusst oder unbewusst – die essentielle Vorstellung von nationaler Differenz und Überlegenheit der DDR-deutschen Kommunisten, die von den Emigranten nicht zu überwinden war.64 Seit den frühen 1960er Jahren bemühten sich die DDR-Behörden darum, die Unterbringung der griechischen Emigranten im ›Heimkombinat Freies Griechenland‹ in Radebeul zu beenden und die dort verbliebenen Griechen separat in Mietwohnungen an ihre Arbeitsorte umzusetzen, um die Bildung einer unerwünschten griechischen Kolonie zu verhindern.65 Obwohl sich einzelne griechische Emigranten auch weiterhin an der aktuellen Politik der SED und den Restriktionen im Umgang mit Ausländern störten, verschwanden sie als Migrantengruppe allmählich aus dem Fokus des SED-Staates. Parallel zu dieser Entwicklung hatten sich die Beziehungen der DDR zum Königreich Griechenland deutlich entspannt. Griechenland war seit Mitte der 1950er Jahre in das Visier der DDR-Außenpolitik geraten, da sich das Land in einer prekären Situation an der Süd-Ost-Flanke der NATO befand. Die Tatsache, dass es im Norden an das kommunistische Bulgarien grenzte und sich im Osten im Konflikt um die Hoheitsrechte mit dem NATO-Verbündeten Türkei befand, führte wiederholt zu Spannungen in den griechisch-amerikanischen Beziehungen. Das ZK-Sekretariat beschloss zwar aufgrund einer Bitte des KKE die Aufnahme griechischer Migranten nach dem Militärputsch von 1967, die mit einer entsprechenden Empfehlung in die DDR kamen. Die Gewährung von Asyl sollte allerdings nur für jene Flüchtlinge gelten, die in ›kapitalistischen Ländern‹ keine Aufnahme gefunden hatten.66 De facto bedeutete für die Betroffenen die Aufnahme in der DDR also ein Asyl zweiter Wahl. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der SED, Griechenland betreffend, standen nun die Bemühungen um die diplomatische Anerkennung der DDR auf internationaler Ebene. Auf eine unmittelbar nach dem Militärputsch einsetzende Periode zwischenzeitlicher Abkühlung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Griechen-

|| 62 Hausmitteilung v. 11.3.1963 von Internationale Verbindungen an Erich Honecker, SAPMO-BArch B, DY 30 IV A 2/20, Nr. 1032, o.Bl. 63 Interne Mitteilung der Abteilung Internationale Verbindungen, 2.11.1963, SAPMO-BArch B, DY 30 IV A 2/20, Nr. 1032, o.Bl. 64 Zum Zusammenhang von kommunistischer Ideologie und nationalistischer Praxis in der DDR vgl. Christiane Griese/Helga Marburger, Zwischen Internationalismus und Patriotismus. Konzepte des Umgangs mit Fremden und Fremdheit in den Schulen der DDR, Frankfurt a.M. 1995. 65 Schreiben v. 22.9.1966 des Stellvertreters des Ministers, Ministerium für Volksbildung an die Abteilung Internationale Verbindungen, SAPMO-BArch B, DY 30 IV A 2/20, Nr. 1032, o.Bl. 66 Vorlage an das Sekretariat des ZK v. 21.6.1967, betr.: Aufnahme von griechischen Emigranten, SAPMO-BArch B, DY 30 IV A 2/20, Nr. 1032, o.Bl.

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land folgte eine Phase der lautlosen und vorsichtigen Annäherung, die 1973 mit der Aufnahme von gleichberechtigten bilateralen Beziehungen und dem Austausch von diplomatischen Vertretungen für die DDR ihren spektakulären Höhepunkt fand. Mit dem Ende der Militärdiktatur 1974 standen die griechischen Emigranten schließlich vor der Wahl, entweder in ihr inzwischen fremdes Heimatland zurückzukehren oder sich vollständig in der DDR-Gesellschaft zu assimilieren. Während die Rückkehr der Griechen durch die Staatspartei aktiv unterstützt wurde67, war ihr dauerhafter Verbleib in der DDR fortan eine quasi private Angelegenheit der Betroffenen und wurde nur noch von den Polizeibehörden des SED-Staates verhandelt.

2.2 Solidarität und Propaganda Ähnlich verlief die Aufnahme einer anderen frühen Gruppe von Asylsuchenden: den Spaniern.68 Im September 1950 traf eine Gruppe von Kommunisten beziehungsweise pro-kommunistischer Einstellung verdächtigten Personen verschiedenster Nationalitäten in der DDR ein, die von der französischen Regierung ausgewiesen worden war. Unter den Ausgewiesenen befanden sich einige griechische und spanische Emigranten, die ursprünglich in Prag politisches Asyl beantragen wollten.69 In den Quellen weichen die Personenangaben deutlich voneinander ab; unter anderem ist von 13 Personen in Dresden die Rede: »Spanier, Griechen, 3 Rumänen und 2 Deutsche und 25 Spanier in Schleiz.«70 Im Frühjahr 1951 wurden nach der Zustimmung des Politbüros der KP Spaniens weitere 38 Personen in die DDR aufgenommen.71 Dabei handelte es sich hauptsächlich um Angehörige der zuvor aus Frankreich ausgewiesenen und in den SED-Staat emigrierten Mitglieder der Kommunistischen Partei und der Vereinigten Sozialistischen Partei Kataloniens – eine Gruppe von zwölf Frauen und 26 Kindern im Alter von einem bis 22 Jahren.72 Sie stellten aus der Perspektive der SED-Führung schon früh den Idealfall der soge-

|| 67 Sekretariatssitzung, 29.1.1974, Tagesordnungspunkt 19: Übersiedlung von polit. Emigranten nach Griechenland, SAPMO-BArch B, DY 30/J IV 2/3, Nr. 2114, o.Bl. 68 Axel Kreienbrink, Der Umgang mit Flüchtlingen in der DDR am Beispiel der ›politischen Emigranten‹, in: Fluchtpunkt Realsozialismus – politische Emigranten in Warschauer Pakt-Staaten (Themenheft von Totalitarismus und Demokratie, 2. 2005, H. 3), Göttingen 2005, S. 317–344. 69 Bericht über die Einreise von Spaniern aus Frankreich in die DDR, 12.9.1950, SAPMO-BArch B, DY 30 IV 2/20, Nr. 271, o.Bl. 70 Sekretariat für internationale Verbindungen, Schreiben v. 27.9.1950 an das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen, Hauptabteilung Arbeit, betr.: Aus Frankreich ausgewiesene Personen, SAPMO-BArch B, DY 30 IV 2/20, Nr. 271, o.Bl. 71 Hausmitteilung der Abteilung Internationale Verbindungen an Gen. Ulbricht, 10.2.1951, betr.: Spanische Emigranten, SAPMO-BArch B, DY 30 IV 2/20, Nr. 271, o.Bl. 72 Abteilung Internationale Verbindungen, Vorlage an das Sekretariat, betr.: Spanische Emigration in Deutschland, 27.3.1951, SAPMO-BArch B, DY 30 IV 2/20, Nr. 271, o.Bl.

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nannten ›polit. Emigration‹ in die DDR dar. Durch ihre biographischen Bindungen an das republikanische Spanien verkörperten sie die Vorstellung des ›guten Ausländers‹, weil Freiheitskämpfers beziehungsweise Antifaschisten.73 Damit entsprachen sie zugleich jenem Bild, das die SED-Führung vor allem für sich selbst in Anspruch nahm und mit dem sie ihre diktatorische Herrschaft begründete.74 Gemeinsam war den griechischen und den spanischen Asylsuchenden, dass es sich bei den Aufgenommenen nicht lediglich um humanitäre Opfer innerer Unruhen oder Verfolgte von Willkür und Gewaltherrschaft in den Herkunftsländern handelte. Sie waren zugleich politische, meist kommunistische Gegner der jeweiligen Regime in ihrer Heimat und galten damit als Verbündete im ›Kalten Krieg‹. Bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 kam es vor diesem Hintergrund wiederholt zur Aufnahme verfolgter Einzelpersonen aus den unterschiedlichsten Ländern. Hierbei, wie auch in anderen Fällen der Asylgewährung in der DDR, galt die Regel, dass vor allem Funktionäre beziehungsweise als zuverlässig geltende Mitglieder der jeweiligen kommunistischen Parteien und sogenannter Bündnisorganisationen aufgenommen wurden. Für diesen Personenkreis war es unter Umständen möglich, mit der gesamten Familie in die Emigration zu gehen. Die eigentlichen Spitzenkräfte reisten jedoch häufig nach Moskau beziehungsweise in die Sowjetunion ins Exil aus.75 Die individuelle Rechtlosigkeit von Asyl suchenden Ausländern in der DDR und ihre Abhängigkeit von den außenpolitischen Interessen der SED-Führung kontrastierten scharf mit der Bedeutung, die ihnen im Einzelfall in der Propaganda der SED zukommen konnte. Die insgesamt zwiespältige Haltung von DDR-Führung und DDR-Bevölkerung gegenüber diesen öffentlich vorgestellten Ausländern zeigte sich besonders deutlich, als ab Herbst 1973 chilenische ›polit. Emigranten‹ in der DDR aufgenommen wurden. Sie waren nach dem blutigen Militärputsch gegen die gewählte Linksregierung von Präsident Salvador Allende nach Europa geflohen und suchten bis Mitte der 1970er Jahre in der DDR Asyl. Mit maximal 2.000 Personen waren sie hier die letzte größere Migrantengruppe.76 Der eingemauerten DDRBevölkerung wurden die chilenischen Emigranten als Freiheitskämpfer und Objekte ihrer ›Solidarität‹ präsentiert, die eine neue Lebensperspektive im SED-Staat gefunden hatten. An diesen ›Vorzeigefamilien‹ aus dem Bilderbuch des proletarischen

|| 73 Vgl. dazu Michael Uhl, Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR, Bonn 2004. 74 Vgl. Olaf Groehler, Antifaschismus – Vom Umgang mit einem Begriff, in: ders./Ulrich Herbert (Hg.), Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, S. 29–40. 75 Dieser instrumentelle Gebrauch des Asylrechts entsprach deutlich der Aufnahmepraxis der Sowjetunion in den 1930er Jahren; vgl. dazu Reiner Tosstroff, Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1939, in: Krohn u.a. (Hg.), Exile im 20. Jahrhundert, S. 88–111. 76 Jost Maurin, Die DDR als Asylland. Flüchtlinge aus Chile 1973–1989, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51. 2003, H. 9, S. 814–831.

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Internationalismus gab es nichts, was den Innenminister der DDR dazu hätte bewegen können, ihnen die Einreise in die DDR zu verweigern. Es war von vorbildlicher Berufsausbildung beziehungsweise Berufsausübung der Eltern die Rede, die Kinder galten als klug und fleißig in der Schule und – wie die ganze kommunistische Familiendynastie – als politisch pflichtbewusst.77 Solche Darstellungen dienten jedoch nicht in erster Linie der Rechtfertigung der Aufnahme von Ausländern in der DDR. Vielmehr richteten sie sich gerade an die Teile der DDR-Bevölkerung, die dem SEDStaat skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden. Die Ankunft der chilenischen Emigranten sollte als erneuter Beweis für die eigene humanistische Mission des SED-Staates gelten und demonstrierten, dass in der DDR auch weiterhin eine Lebensperspektive zu finden war – ein Argument, das in einer Zeit, in der die SEDFührung kritische Künstler einschüchterte oder gar aus dem Land trieb, an Bedeutung gewann.78 Folglich werteten die öffentlichen Auftritte von Parteiprominenz und chilenischen Emigranten auf Protestveranstaltungen gegen die Militärdiktatur in Chile zu jener Zeit nicht nur den im westlichen Ausland um Anerkennung kämpfenden SED-Staat auf. Die ›anti-imperialistischen‹ Demonstrationen dienten zugleich der Bestätigung einer von diesem unterstellten grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Parteiführung und Bevölkerung und damit zu einer Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruches nach innen.79 Für die ›polit. Emigranten‹ hatte dies zur Folge, dass ihnen durch das Überschreiten der Demarkationslinie zwischen Ost und West in der Zeit der Blockkonfrontation eine äußere wie innere Mehrdeutigkeit zufiel. Ihre zumeist kommunistische Gesinnung verband sich sowohl mit einer emotionalen Bindung an das verlassene Heimatland als auch mit einer politischen Loyalität gegenüber dem SEDStaat. Beides vertrug sich nur bedingt mit der nationalen Orientierung und dem eingegrenzten Lebenshorizont in der DDR-Gesellschaft. Trotz der Lehre vom ›proletarischen Internationalismus‹ waren die ›polit. Emigranten‹ keine gleichberechtigten Mitglieder eines transnational gedachten, sozialistischen Kollektivs, sondern geduldete Gäste einer national definierten deutschen Gemeinschaft. Dies zeitigte hinsichtlich ihrer Selbstdefinition wie auch der Wahrnehmung durch den SED-Staat

|| 77 Gabi Klotzsche, Die Estays fanden bei uns ein neues Zuhause. Chilenische Patrioten leben und arbeiten in Dresden, in: Junge Welt, 25.7.1978. 78 Patrice G. Poutrus, Mit strengem Blick. Die sogenannten ›Polit. Emigranten‹ in den Berichten des MfS, in: Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hg.) Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu den historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 231–250, hier S. 242f. 79 Jost Maurin, Flüchtlinge als politisches Instrument – Chilenische Emigranten in der DDR, in: Fluchtpunkt Realsozialismus, S. 345–374.

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und die DDR-Bevölkerung eine »Mehrfachcodierung von personaler Identität«80, die sie zu einer Randgruppe in der Gemeinschaft von DDR-Deutschen machte. Die notwendige Folge waren Konflikte, in denen Ausländer – auch und gerade die ›polit. Emigranten‹ – in Abhängigkeit zu den Institutionen des SED-Staates standen und sich, angesichts der Unmöglichkeit, Rechtsgarantien einzuklagen, in einer schwachen und letztlich gefährdeten Position befanden. Nicht selten unterlief die gesellschaftliche Praxis der Asylgewährung und Flüchtlingsaufnahme gerade jenes allgemeine Schutzgebot, das dem säkularen Asylrecht zugrunde lag. Damit befand sich das politische Asyl in der DDR in einer eigentümlich ambivalenten Position zwischen der willkürlichen, aber auch generösen Asylgewährung und der Abwehr des Andersseins der aufgenommenen Flüchtlinge. Der von der SED reklamierte Anspruch auf ›gesellschaftlichen Fortschritt‹ durch den ›Kampf gegen den Imperialismus‹ – das heißt gegen den ›kapitalistischen Westen‹ – war allerdings nicht nur eine rein ideologische Etikette. Vielmehr stellte er eines der Prinzipien dar, mit denen die SED einerseits ihre Herrschaft in der DDR über ihre vierzigjährige Existenz hinweg rechtfertigte81, dessen Bedeutung andererseits jedoch zugleich den Unwillen des Regimes verstärkte, sich im Grundsatz wie im Einzelfall mit den Schwierigkeiten im Zusammenleben von Einheimischen und Fremden auseinanderzusetzen. Entscheidend für den Umgang mit Fremden im Staatssozialismus war die mit der Totalität des marxistisch-leninistischen Herrschaftsanspruchs verbundene Homogenitätsvorstellung der kommunistischen Staatspartei. Nicht das Postulat des universalen Menschheitsfortschritts, sondern die dichotome Struktur des Klassenkampfes kann für den Umgang mit Fremden im ›Arbeiter-und-Bauern-Staat‹ als grundlegend angesehen werden. Für DDR-deutsche Kommunisten wie auch für einfache DDR-Bürger war es unter Berufung auf den ›proletarischen Internationalismus‹ durchaus möglich, im Alltag fremdenfeindliche Vorurteile beziehungsweise nationalistische Stereotypen bedenkenlos zu benutzen, ohne dadurch in Konflikt mit der ›sozialistischen Staatsmacht‹ zu geraten.82

|| 80 Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: dies. (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 1–29, hier S. 7. 81 Vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Revolution und Stabilität in der DDR 1945–1989, Frankfurt a.M. 1992. 82 Patrice G. Poutrus, Die DDR, ein anderer deutscher Weg? Zum Umgang mit Ausländern im SEDStaat, in: Rosmarie Beier-de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005, Berlin 2004, S. 118–131.

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3 Spannungen und Dynamik: der politisch bedingte Wandel der Asylgewährung in der frühen Bundesrepublik Im Gegensatz zu diesen bis zum Zusammenbruch des SED-Staates in der DDR vorherrschenden und weitgehend statischen gesellschaftlichen Strukturen war die Entwicklung in der Bundesrepublik auf den Feldern Asylrecht sowie Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme durch Widersprüche und Spannungen von einer bemerkenswerten Veränderungsdynamik gekennzeichnet. Schon 1959 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Asylrecht für politisch Verfolgte nicht allein auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren sei.83 Damit wurde in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte eine Auseinandersetzung eingeleitet, die in ihrer Bedeutung nicht nur weit über die Frage nach einer generösen oder restriktiven Asylgewährung hinausging. Vielmehr wurde am Rechtsgut Asyl mitverhandelt, ob die jeweiligen Interessen des Staates den Wirkungsbereich des Grundgesetzes begrenzen oder ob sich alles staatliche Handeln in der Bundesrepublik an dessen Verfassungsnormen messen lassen müsse.84 Schließlich entschied das Bundesverwaltungsgericht 1975, dass das Asylrecht nach Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 keine immanenten Schranken habe. Damit wurde anerkannt, dass der Asylberechtigte Träger dieses Grundrechtes sei und ihm die Ausländereigenschaft im Verfahren und insbesondere nach der Anerkennung nicht zum Nachteil gereichen dürfe.85 Nicht die Interessen des Staates und seine Sicherheitsbedürfnisse sollten von nun an über die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik entscheiden, sondern allein die anzuerkennende politische Verfolgung des Asyl begehrenden Flüchtlings. Damit näherte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung erst mehr als 25 Jahre nach der Verankerung des Rechts auf Asyl im Grundgesetz den ausdrücklich großzügigen Intentionen der Verfassungsmütter und -väter. Zudem verdeutlicht das bemerkenswerte Urteil von 1975 schlaglichtartig, dass es immer wieder ausländische Flüchtlinge waren, die – mit durchaus wechselndem Erfolg – vor den Gerichten der Bundesrepublik um ihre Rechte stritten86, was eine deutliche Differenz zur Entwicklung in der DDR markiert. Das bundesdeutsche Asylrecht war in diesem Sinn keineswegs »vergessen«87, sondern ein von Anfang an umkämpftes und im

|| 83 Vgl. BVerfGE 9, 174 (181) v. 4.2.1959, zit. nach Münch, Asylpolitik, S. 53. 84 Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 99–106. 85 Vgl. BVerwGE 49, 202 v. 7.10.1975, zit. in: ebd., S. 103. 86 Vgl. Erhard Schüler/Peter Wirtz (Hg.), Rechtsprechung zur Ausländerpolizeiverordnung und zum Ausländergesetz, Berlin 1971. 87 So Simone Wolken in: dies., Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 37.

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Wandel befindliches Rechtsgut.88 Mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1975 war der Vorrang des Verfassungsgrundsatzes vor einfachen Gesetzesregelungen, wie der Ausländer-Polizeiverordnung und dem ihr 1965 nachfolgenden Ausländergesetz, sowie vor politischen Interessen insbesondere in der Ausländerpolitik höchstrichterlich geklärt. Allerdings war damit der Konflikt um eine grundsätzlich geschützte und ungehinderte Aufnahme von politisch Verfolgten nicht beendet, denn eine derart generöse Asylgewährung musste fast zwangsläufig in Kollision mit der in der Bundesrepublik vorherrschenden restriktiven Migrationspolitik geraten.89 Umso mehr markiert die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes von 1975 einen Einschnitt in die rechtlichen Rahmenbedingungen von Flüchtlings- und Asylpolitik, der sich nicht allein aus einer rechtssystematischen Perspektive erklären lässt90, sondern vielmehr auf die sich in der Bundesrepublik ab den 1950er Jahren wandelnden politischen Bezugnahmen hinsichtlich ausländischer Flüchtlinge und ihres Asylbegehrens verweist.

3.1 Die Fluchtwelle aus Ungarn und ihre Folgen Die Wende von einer weitgehend auf Abwehr von ausländischen Flüchtlingen ausgerichteten und hin zu einer eher pragmatischen, das heißt von den Wechselfällen des ›Kalten Kriegs‹ geprägten Asylpolitik erbrachten erst die revolutionären Ereignisse in Ungarn 1956 und die nach deren Niederschlagung durch sowjetische Truppen im Herbst und Winter desselben Jahres ausgelöste Flüchtlingswelle.91 In den europäischen Nachbarstaaten wie auch in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik wurde den ungarischen Flüchtlingen große Sympathie entgegengebracht.92 Die Nachrichten und Bilder der sowjetischen Militärintervention beim ehemaligen Verbündeten hatten weite Teile der westdeutschen Bevölkerung sensibilisiert und führten zu einer Vielzahl von öffentlichen Solidaritätsbekundungen, in denen sich ein Stimmungsgemisch aus alter ›Russen-Angst‹ und demonstrierter Zugehörigkeit zum demokratischen ›Westen‹ zeigte. Wie die in Hamburg erscheinende Tageszeitung || 88 Vgl. Simone Klausmeier, Vom Asylbewerber zum ›Scheinasylant‹. Asylrecht und Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1973, Berlin 1984, bes. S. 3–16. 89 Vgl. Klaus J. Bade, Ausländer – Aussiedler – Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, bes. S. 91–146. 90 Peter Nicolaus, Der Flüchtlingsbegriff in der obergerichtlichen Rechtsprechung, in: Asylrecht und Asylpolitik – eine Bilanz des letzten Jahrzehnts, hg.v. Gustav-Stresemann-Institut e.V., Bonn 1986, S. 79–100. 91 Sándor Csík, Die Flüchtlingswelle nach dem Ungarn-Aufstand 1956 in die Bundesrepublik, in: Almanach II (2003–2004), hg.v.d. Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, Berlin 2005, S. 207–246. 92 Stille Demonstration gegen Terror. Überfüllte Kirchen in Budapest – Über 191.000 Flüchtlinge, in: Die Welt, 25.10.1956; Mehr Flüchtlinge aus Ungarn. Österreich gewährt jedem Hilfesuchenden Asyl, in: Frankfurter Rundschau, 31.10.1956.

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›Die Welt‹ am 6. November 1956 zu berichten wusste, kam es in Landeshauptstädten von Kiel bis München, aber auch in Bonn zu beeindruckenden Demonstrationen, denn: »Die Ereignisse in Ungarn […] hielten Millionen in Bann.«93 Angesichts der sich zeitgleich weiter zuspitzenden Block-Konfrontation in Europa galt damals in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und insbesondere im Bundestag jeder ungarische Flüchtling als Verbündeter im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung.94 Demgegenüber war die anfängliche Reaktion der verantwortlichen Bundesministerien auf das Hilfeersuchen aus der Bundesrepublik Österreich sehr zurückhaltend. Vor allem das Bundesinnenministerium war bemüht, die abwehrende Haltung hinsichtlich der Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen aufrechtzuerhalten und argumentierte, ähnlich wie schon 1952 das Auswärtige Amt, mit den aus der Nachkriegsmigration sowie der anhaltenden innerdeutschen Zuwanderung aus der DDR erwachsenden Belastungen. Angesichts des öffentlichen Erwartungsdrucks schlug dann die Ministerialbürokratie im Sinne einer völkisch orientierten Migrationspolitik eine bemerkenswerte Reihenfolge der Flüchtlingsaufnahme in die Bundesrepublik nach »Dringlichkeit« vor: An erster Stelle standen deutsche Staatsangehörige aus Ungarn, an zweiter Stelle sogenannte ›Volksdeutsche‹, an dritter Stelle ungarische Studierende, die ihre Ausbildung an westdeutschen Universitäten fortsetzen sollten, an vierter Stelle Ungarn mit Verwandten in der Bundesrepublik und an letzter Stelle schließlich sollten »eventuell andere Ungarnflüchtlinge« Aufnahme in der Bundesrepublik finden.95 Berücksichtigt man den Umstand, dass deutsche Staatsangehörige laut Grundgesetzartikel 116 ohnehin nicht abgewiesen werden durften, wird deutlich, dass dieser Aufnahmekatalog mehr auf die Abwehr ausländischer Flüchtlinge zielte, als schnelle Hilfe für politisch Verfolgte zu leisten. Allerdings wurde schon frühzeitig klar, dass angesichts der Bedingungen einer anhaltenden Fluchtbewegung aus Ungarn und der sich dadurch dramatisch verschlechternden humanitären Situation in den Flüchtlingslagern in Österreich derartige Aufnahmekriterien nur schwerlich angewendet werden konnten.96 Bedeutsamer aber war, dass eine solche Position mit der bereits angeführten politischen Stimmung in der westdeutschen Gesellschaft im Konflikt stand. In ergreifenden bis rührseligen Berichten der bundesdeutschen Tagespresse wurden der westdeutschen Leserschaft die gefahrenreiche Flucht vor den sowjetischen Trup|| 93 Nach dem Drama in Ungarn: Halbmast in der Bundesrepublik, in: Die Welt, 6.11.1956. 94 Gedenkworte des Bundestagsvizepräsidenten auf der 168. Sitzung des Deutschen Bundestages, Bonn, den 8. November 1956, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestag, 2. Wahlperiode, Stenografischer Bericht, Bd. 32, S. 9259 B. 95 MR Breull, Referat IB3, betr.: Ungarnhilfe der Bundesregierung, Vermerk 7.11.1956, BArch K, B106, Nr. 47465, o.Bl. 96 Telegramm der Botschaft der Bundesrepublik aus Wien, 16.11.1956, betr.: Aufnahme von Ungarn-Flüchtlingen, BArch K, B106, Nr. 47465, o.Bl.

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pen, die schwierigen Lebensbedingungen in den österreichischen Flüchtlingslagern, aber auch die Probleme nach der Ankunft der ersten Flüchtlinge geschildert.97 Dabei zeigte sich, dass sich Belastbarkeit und Hilfsbereitschaft der westdeutschen Bevölkerung als viel größer erwiesen, als von einigen Länderpolitikern und Behördenvertretern öffentlich angenommen worden war. Außerdem stellte sich heraus, dass gerade durch die langjährigen Ost-West-Wanderungen von Vertriebenen und SBZ/DDR-Flüchtlingen eine Infrastruktur – vornehmlich in Bayern – entstanden war, die die Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen eher ermöglichte als erschwerte. Und nicht zuletzt wurde deutlich, dass zu jenem Zeitpunkt eine Vielzahl ungarischer Flüchtlinge noch keine Neigung zeigte, sich allzu weit von der Grenze ihrer Heimat zu entfernen. Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Ungarn war größer als der Wunsch, in ein westliches Land weiterzureisen.98 ›Die Welt‹ sah die Bundesrepublik in ihrer Aufnahmebereitschaft in einer Phalanx mit Ländern wie den USA, Belgien, Großbritannien, der Schweiz, Schweden und den Niederlanden, die sich gegenüber dem UNHCR ebenfalls zur Aufnahme bereiterklärt hatten. Diese Bereitschaft fand schließlich auch ihre Entsprechung in Stellungnahmen prominenter Vertriebenenvertreter, wie dem bayerischen Arbeits- und Sozialminister Walter Stain vom Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, der erklärte: »Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um die Ungarn zu empfangen.«99 Mit einiger Verzögerung und gedrängt von der Öffentlichkeit fasste die Bundesregierung schließlich Ende November 1956 den Beschluss, mehr als 10.000 ungarischen Flüchtlingen Zuflucht in Westdeutschland zu gewähren.100 Mit dieser politisch motivierten Aufnahmeentscheidung entfiel zugleich die juristische Möglichkeit einer individuellen Zurückweisung der Asylsuchenden durch die lokalen Ausländerpolizei-Behörden, da die ungarischen Flüchtlinge aus dem sicheren Zufluchtsland Österreich in die Bundesrepublik einreisten. Juristisch abgesichert wurde diese Handlungsweise durch eine aufschlussreiche Kausalkonstruktion, die davon ausging, dass die ungarische Revolution als Folge von Ereignissen – hier die kommunistische Machtergreifung von 1948/49101 – zu sehen sei, die vor dem Stich|| 97 Karin Friedrich, Eine Mutter, die vor den Panzern floh. Mit drei Kindern von Ungarn nach München/Vater an der Grenze zurückgehalten, in: Süddeutsche Zeitung, 9.11.1956; Alois Euler, Mit Totengebeten kamen sie über die Grenze. Volk auf der Flucht – Säugling am Schlagbaum niedergelegt – Brief an den Vater in Budapest – Erinnerungen an furchtbare Stunden, in: Bonner Generalanzeiger, 10.11.1956. 98 Ungarische Flüchtlinge wollen der Heimat nahe bleiben. 500 Volksdeutsche in Bayern erwartet – Appell an die Bundesländer, in: Stuttgarter Nachrichten, 10.11.1956. 99 Wilhelm Maschner, Kommen die ungarischen Flüchtlinge nach Westdeutschland? Bayern ist empfangsbereit – Viele wollen in die Heimat zurück, in: Die Welt, 10.11.1956. 100 Bundeskanzleramt, IA2, Kabinettssache, 22.11.1956, betr.: Hilfe für ungarische Flüchtlinge, BArch K, B106, Nr. 47465, o.Bl.; vgl. 161. Kabinettssitzung am 28. November 1956, in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, 9. 1956, München 1998, S. 746. 101 Vgl. Arpad von Klimo, Ungarn seit 1945, Göttingen 2006, hier S. 33–37.

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tag 1. Januar 1951 lagen, und somit unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention fiel.102 Dieser ›kreative‹ Umgang mit den Normen des Völkerrechts und die sich daran anschließende Praxis der Asylgewährung selbst wurden von den politisch Handelnden als Teil der Blockauseinandersetzung im ›Kalten Krieg‹ verstanden, hinter die die ansonsten vorherrschende Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Migranten zurückzutreten hatte. Nicht zuletzt deshalb kritisierte Bundeskanzler Adenauer schon früh das Zögern des Bundesinnenministeriums und forderte gegenüber Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, auch unter Berücksichtigung von Sicherheitsinteressen und finanziellen Aufwendungen, »daß das Verfahren so einfach wie möglich gehalten wird.«103 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die westdeutsche Bevölkerung die ungarischen Flüchtlinge herzlich aufnahm104, sondern dass Interessengruppen, wie die Vertriebenenverbände sowie das für deren Belange zuständige Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, der Aufnahme und Integration dieser nicht-deutschen Migranten besondere Aufmerksamkeit schenkten.105 Sowohl die von der Bundesregierung initiierten staatlichen Förder- und Entschädigungsprogramme des Kriegsfolgelastenausgleichs106 als auch die wirtschaftliche Hochkonjunktur verbesserten ab Mitte der 1950er Jahre die Lage der Vertriebenen in der Bundesrepublik deutlich. Bis dahin hatte sich der Integrationsprozess der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in der westdeutschen Aufnahmegesellschaft durchaus nicht frei von Konflikten vollzogen.107 Gerade deshalb war es das Bundesvertriebenenministerium, welches sich – im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Asylverordnung und des Beitritts der Bundesrepublik zur Genfer Flüchtlingskonvention – gegen eine großzügige Aufnahme von ausländischen

|| 102 Bundesministerium des Innern (BMI) an Innenminister der Länder, betr.: Rechtstellung der ungarischen Flüchtlinge, 20.12.1956, BArch K, B106, Nr. 47476, o.Bl.; vgl. Reinhardt Marx, Vom Schutz vor Verfolgung zur Politik der Abschreckung. Zur Geschichte des Asylverfahrensrechtes in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kritische Justiz, 18. 1985, H. 4, S. 379–395, hier S. 380. 103 Mitteilung des Staatsekretärs I an Abt. I des BMI, 14.11.1956, BArch K, B106, Nr. 47476, o.Bl. 104 Viel Hilfe für Ungarn. Die ersten Flüchtlinge in der Bundesrepublik – Letzte Augenzeugenberichte, in: Stuttgarter Nachrichten, 20.11.1956. 105 Bundesministerium für Vertriebene an alle Länderflüchtlingsverwaltungen, betr.: Betreuung der Ungarn-Flüchtlinge, 29.11.1956, BArch K, B106, Nr. 24545, Bl. 62f. 106 Vgl. Rüdiger Wenzel, Die große Verschiebung? Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952, Stuttgart 2008. 107 Paul Lüttinger, Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 15. 1986, S. 20–36; Rainer Schulze (Hg.), Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-) Deutschland 1945–2000, Osnabrück 2001.

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Flüchtlingen in der Bundesrepublik aussprach.108 Unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Ungarn 1956 aber gaben die Vertriebenenfunktionäre im Bundestag und das zuständige Bundesvertriebenenministerium ihre fünf Jahre zuvor formulierte Ablehnung gegenüber der Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen auf. Die Vertreter der Vertriebenenverbände im Bundestag, die sich zu dieser Zeit in allen Regierungs- und Oppositionsparteien fanden, nahmen nun die Position von Interessenvertretern aller Flüchtlinge im Parlament ein109, und das Bundesministerium für Vertriebene handelte, in Anlehnung an seine Aufgaben, gegenüber den Vertriebenen und den ›Heimatlosen Ausländern‹ wie eine Integrationsbehörde des Bundes. Die von ihm erbrachten Leistungen reichten von Eingliederungshilfen über Kredite zur Existenzgründung, Sprachkursen und Wohnraumbeschaffung bis hin zur Familienzusammenführung im Ausland und Härtefallregelungen für nichtarbeitsfähige Flüchtlinge.110 Diese Praxis einer aktiven Integrationshilfe nach der Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik ist für sich genommen schon bemerkenswert, offenbart sie doch – unter der Voraussetzung einer positiven Interpretation der Anwesenheit von Ausländern in der westdeutschen Gesellschaft – die erheblichen Handlungsmöglichkeiten für politische Verantwortungsträger in diesem Feld. Nicht allein die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verbesserte Lage auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt, wie wiederholt in der Literatur behauptet111, erklärt die vergleichsweise konfliktfreie Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge. Vielmehr ergaben sich Aufstiegsmöglichkeiten für deutsche Flüchtlinge und Vertriebene wie auch für ausländische Flüchtlinge, weil ihre Integration in die westdeutsche Gesellschaft aktiv von der bundesdeutschen Politik betrieben wurde.112 Im Zusammenhang mit der politisch gewollten Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen wurde dann, zehn Jahre nach der Aufnahme ungarischer Flüchtlinge, von der Ständigen Bundesinnenministerkonferenz am 26. August 1966, mitten in einer ersten wirtschaftlichen Rezession, der Beschluss gefasst, osteuropäische Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt worden waren, dennoch nicht in ihre Herkunftsstaaten abzuschieben. Im ›Kalten Krieg‹ galt es auch unter den verantwortlichen Innenpolitikern der Bundes-

|| 108 Der Bundesminister für Vertriebene an den Staatssekretär des Kanzleramtes, betr.: Entwurf eines Gesetzes über das Abkommen v. 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bonn 10.10.1952, BArch K, B106, Nr. 28176, Bl. 730. 109 Bundestagsausschuss für Heimatvertriebene an Bundesregierung, 7.11.1956, BArch K, B106, Nr. 47465, o.Bl. 110 Auswärtige Amt an Bundesministerium für Vertriebene am 8.1.1958, betr.: Bildung eines besonderen Härtefonds für ausländische Flüchtlinge, BArch K, B106, Nr. 25038, Bl. 3. 111 Z.B. Eugen Deterding, Asyl. Anspruch und Wirklichkeit, Berlin 1987, hier S. 9. 112 Vgl. Michael Schwartz, ›Zwangsheimat Deutschland‹. Vertriebene und Kernbevölkerung zwischen Gesellschaftskonflikt und Integrationspolitik, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 114–148.

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republik als unbillige Härte, diese Menschen wieder an die kommunistischen Diktaturen zu überstellen.113 Diese Entscheidung in der bundesdeutschen Asylpolitik fügte sich, angesichts der anfänglichen Abwehr gegenüber ausländischen Flüchtlingen, in die Tendenz zur allgemeinen Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft seit den späten 1950er Jahren.114 Die frühzeitig durch die Bundesbehörden formulierte Sorge um die innere Ordnung der Bundesrepublik bei einer unkontrollierten Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen trat wiederholt gegenüber der Sorge um die außenpolitische Sicherheit, vor allem ihrer Bedrohung durch den kommunistischen Ostblock, in den Hintergrund. Auch diese Spannung zwischen innen- und außenpolitischen Bedrohungsszenarien trug dazu bei, dass sich die Asylpraxis in der Bundesrepublik nicht von Beginn an, sondern sukzessive an die offen formulierte Asylbestimmung im Grundgesetz annäherte. Auf der einen Seite kam es 1968 nach der Invasion der Truppen des Warschauer Vertrages in der ČSSR115 und 1973 nach dem Militärputsch gegen die linksgerichtete Regierung in Chile116 in der Öffentlichkeit und im Bundestag erneut zu emotionalen Solidaritätsbekundungen für politisch Verfolgte, was schließlich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Ländern führte, die dann in das reguläre Asylverfahren eintraten.117 Während aus der Perspektive einer sich allmählich liberalisierenden Asylpraxis die Aufnahme ungarischer und tschechoslowakischer Flüchtlinge für die überwiegend antikommunistische Ausrichtung der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik im Rahmen des ›Kalten Kriegs‹ in Europa steht, kann der chilenische Fall als Tendenz zur Universalisierung des Schutzes politisch Verfolgter vor jeglicher diktatorischer Herrschaft angesehen werden. Die politische Auseinandersetzung um die Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte der PinochetDiktatur in den Jahren 1974 und 1975 wies allerdings gleichermaßen auf eine Auflösung des anti-totalitären Konsenses der 1950er und 1960er Jahre zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien hin und offenbarte, dass die Liberalisierung bei der || 113 Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder am 26.8.1966 in Hannover, BArch K, B106, Nr. 60299, o.Bl. 114 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49. 115 Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an BMI, betr.: Aufnahme tschechoslowakischer Flüchtlinge im Sammellager für Ausländer in Zirndorf, 18.11.1968, BArch K, B106, Nr. 25086, Bl. 143f. 116 BMI an Auswärtige Amt, betr.: Aufnahme politisch verfolgter Personen aus Chile in der Bundesrepublik, 17.10.1973, BArch K, B106, Nr. 69037, o.Bl. 117 Vgl. Jiri Prenes, Das tschechoslowakische Exil 1968. Exulanten, Emigranten, Landsleute: Diskussion über Begriffe, in: Dahlmann (Hg.), Unfreiwilliger Aufbruch, S. 187–196; Miloš Trapl, Tschechische politische Emigranten in den Jahren 1938, 1939, 1948 und 1968, in: Krohn u.a. (Hg.), Exile im 20. Jahrhundert, S. 77–87; zum chilenischen Fall Irmtrud Wojak/Pedro Holz, Chilenische Exilanten in der Bundesrepublik Deutschland (1973–1989), in: ebd., S. 168–190.

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Aufnahme politisch Verfolgter in der Bundesrepublik an ihre Grenzen stieß. Denn im Grunde ging es in diesen Auseinandersetzungen um die Frage, ob auch Kommunisten Zuflucht in der Bundesrepublik erhalten sollten.118 Es spricht für die innere Stabilität und den Wandel der politischen Kultur der Bundesrepublik, dass dieser Konflikt zugunsten der politisch Verfolgten entschieden wurde und es letztlich keine Auswahl der Asylsuchenden entlang ihrer politischen Gesinnung gab.119 Damit war auf dem Feld der Asylpolitik in der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre Großzügigkeit die äußerste Grenze erreicht.

3.2 Grenzen des Wandels: algerische Flüchtlinge, neues Ausländerrecht und Flüchtlingsaufnahme in Bayern Parallel zum deutlichen Wandel der Asylpraxis gegenüber Flüchtlingen aus den Staaten des sowjetischen Herrschaftsbereiches lassen sich in der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik seit den späten 1950er Jahren allerdings Konfliktfelder aufzeigen, die auf die Grenzen der oben beschriebenen Entwicklung verweisen und zugleich veranschaulichen, dass die Spannung zwischen humanitärem Flüchtlingsschutz und einer traditionellen Abwehrpolitik gegenüber ›unerwünschten Ausländern‹ weder durch den Kalten Krieg noch durch die geringe Zahl von Asylsuchenden in dieser Zeit aufgehoben wurde. Bereits 1959120 und dann wieder 1962 wurde in der bundesdeutschen politischen Öffentlichkeit mit deutlich abwehrendem Duktus vom »Missbrauch des Gastrechts«121 durch ausländische Flüchtlinge gesprochen, wie es zwanzig Jahre später in der Asyldebatte unter veränderten Vorzeichen gang und gäbe werden sollte.122 In beiden Fällen verbarg sich hinter diesen Äußerungen die andauernde Befürchtung, dass die Aufnahme von politisch Verfolgten beziehungsweise der Aufenthalt von ausländischen Flüchtlingen sowohl die innere Ordnung der Bundesrepublik als auch deren gerade gewonnene außenpolitische Stellung gefährden könnten.

|| 118 Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister am 9. Dezember 1974 in Bonn, Punkt 14: Aufnahme chilenischer Staatsangehöriger in Bundesrepublik, BArch K, B106, Nr. 39858, o.Bl. 119 Vgl. dazu Fred Balke/Norbert Kreuzkamp/Diane Nagel/Thomas Seiterich (Hg.), Mit dem Kopf hier – mit dem Herzen in Chile. Zehn Jahre Diktatur – zehn Jahre Exil. Chilenen berichten, Reinbek 1983; Mit Träumen von der Vergangenheit erreicht man nichts. Gespräch mit einer Exilfamilie aus Chile. Aufgezeichnet von Emma Rickert-Gafner, in: Rudolf Karlen (Hg.), Fluchtpunkte. Menschen im Exil, Basel 1986, S. 169–179. 120 Schärfere Kontrolle der Algerier. Länder wollen ihre Maßnahmen koordinieren, in: Die Welt, 28.10.1959. 121 Mißbrauchtes Gastrecht, in: Bonner Generalanzeiger, 30.11.1962. 122 Astrid Bröker/Jens Rautenberg, Die Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des sogenannten ›Asylmißbrauchs‹, Berlin 1986.

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Im ersten Fall war es der algerische Unabhängigkeitskrieg, in dessen Gefolge auch die Kolonialmacht Frankreich selbst zum Schauplatz gewaltsamer Konflikte wurde.123 Für die Bundesregierung stellte sich zu diesem Zeitpunkt die Situation als extrem schwierig dar. Zwar hatten sich die Beziehungen zu Frankreich bedeutend verbessert, doch betrachtete die US-Regierung als eigentliche Schutzmacht der Bundesrepublik die französische Kolonialpolitik mit größter Skepsis.124 Und nicht zuletzt galten die radikalen Methoden der französischen Kriegführung in Algerien in der bundesdeutschen Öffentlichkeit aus unterschiedlichen Gründen als höchst umstritten.125 Nun suchten aus Frankreich kommende algerische Migranten vor dem Zugriff des französischen Staates in der Bundesrepublik Zuflucht und gefährdeten damit, aus Sicht der Bundesregierung, potentiell deren außenpolitische Interessen.126 Nach einer Reihe von Gewalttaten gegen Algerier in den westdeutschen Regionen an der Grenze zu Frankreich schien es, als würde die Bundesrepublik zu einem weiteren Schauplatz des algerisch-französischen Konfliktes werden. Obwohl die Hintergründe jener Taten noch fraglich waren, erklärten sich die Innenbehörden der betroffenen Bundesländer und des Bundes umgehend dazu bereit, den französischen Staat bei der Suche nach ›arabischen Terroristen‹ unter den algerischen Flüchtlingen zu unterstützen, und übermittelten persönliche Daten von algerischen Asylsuchenden.127 Diese dem Flüchtlingsschutz widersprechende Praxis setzte sich auch dann noch fort, als bekannt wurde, dass eine Reihe von Attentaten auf Algerier in Westdeutschland von einer französischen Terrororganisation mit Verbindungen zum französischen Geheimdienst verübt worden war.128 Im Zusammenhang mit den Aufnahmebegehren von algerischen Flüchtlingen fällt auf, dass vom Bundesinnenministerium gegenüber dem Auswärtigen Amt nicht weiter ausgeführte, doch sehr ernsthafte Bedenken gegen die Aufnahme von außereuropäischen Migranten

|| 123 Marcel Streng, Abrechnungen unter Nordafrikanern? Algerische Migranten im Alltag der französischen Gesellschaft während des Algerienkriegs (1954–1962), in: WerkstattGeschichte, 12. 2003, Nr. 35, S. 57–80. 124 Jean-Paul Cahn/Klaus-Jürgen Müller, La République fédérale d'Allemagne et la guerre d'Algérie (1954–1962). Perception, implication et retombées diplomatiques, Paris 2003. 125 Erstmals dazu Klaus-Jürgen Müller, Die Bundesrepublik Deutschland und der Algerienkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38. 1990, H. 4, S. 609–641. 126 Jüngst dazu Paul-Jean Cahn, Bedrohung für die deutsch-französischen Beziehungen? Die Bundesrepublik und der Algerienkrieg, in: Christiane Kohser-Spohn/Frank Renken (Hg.), Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 227–243. 127 BMI an Auswärtiges Amt, betr.: Vorbeugende Maßnahmen gegen bedenkliche Einreise von Algeriern, 9.9.1959; Liste des franz. Verbindungsdienstes über angeblich gefährliche Algerier, 17.10.1959, beides in BArch K, B106, Nr. 5351, o.Bl. 128 Diplomat als Agent der ›Roten Hand‹? Französischer Botschaftssekretär als Verbindungsmann der Terrororganisation genannt, in: Hamburger Echo, 27.11.1959.

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vorgebracht wurden.129 Im Zentrum der darin wieder erkennbaren Abwehrhaltung gegenüber einer offenen Zufluchtgewährung stand die fortwährende und sich nun scheinbar beispielhaft bestätigende Furcht der bundesdeutschen Exekutive vor ›gefährlichen Ausländern‹, die den verfassungsrechtlich gesicherten Schutz von Flüchtlingen nachrangig erscheinen ließ.130 Erneute Bestätigung fand die Sorge um die innere Sicherheit der Bundesrepublik bei der Aufnahme ausländischer Flüchtlinge, als 1962 als politisch Verfolgte anerkannte, kroatische Separatisten Anschläge auf Handelsvertretungen des kommunistisch regierten Jugoslawien in der Bundesrepublik verübten.131 Unter direktem Bezug auf derartige Vorfälle kam es in der Folgezeit im Bundestag wiederholt zu Anfragen und Debatten, die deutlich machten, dass Parlamentarier und Öffentlichkeit Flüchtlingsschutz nur sehr bedingt als Grundrecht akzeptierten. In Reaktion auf die Taten der radikalen Ausländer war man im Parlament wie in den Bundesministerien bereit, die betreffenden Straftäter selbst an einen kommunistischen Verfolgerstaat auszuliefern, zu dem die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt keine diplomatischen Beziehungen pflegte.132 Jenseits der Frage des Umgangs mit den Gewaltakten der kroatischen Nationalisten zeigt sich gerade an diesem besonderen Fall, dass der dem Asylrecht zugrunde liegende absolute Abschiebeschutz dann in Frage gestellt wurde, wenn die innen- und außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik als davon negativ berührt angesehen worden waren.133 Die anhaltende Spannung zwischen einer situativ vorhandenen Aufnahmebereitschaft für politisch Verfolgte in der westdeutschen Gesellschaft während des ›Kalten Kriegs‹ und der fortwährenden Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Flüchtlingen in der Exekutive der Bundesrepublik, die in der Öffentlichkeit immer auch ein Echo fand134, schlug sich insbesondere in den 1965 erlassenen Bestimmun-

|| 129 MR Breull an Auswärtige Amt, betr.: Algerier im Bundesgebiet, 26.11.1959, BArch K, B106, Nr. 5351, o.Bl. 130 Aufzeichnung über Besprechung im BMI, betr.: Zusammenarbeit der Polizei und Grenzdienststellen an der dt.-franz. Grenze, 22.1.1960, BArch K, B106, Nr. 5350, o.Bl. 131 Bundeskriminalamt an Landeskriminalamt Düsseldorf und BMI, 30.11.1962, betr.: Überfall kroatischer Nationalisten auf die jugoslawische Handelsmission in Mehlem, BArch K, B106, Nr. 47450, o.Bl. 132 BMI, Anfrage betr. Vorkehrungen gegen unerwünschte politische Betätigung von Emigrantenorganisationen im Zusammenhang mit dem Überfall kroatischer Terroristen in Mehlem: Drs. IV/ 1373. Antw.: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, Stenografische Berichte Bd. 53, 81. Sitzung, Bonn 1963, S. 3894 D–3896 B. 133 Vgl. Simone Wolken, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Politik gegen politische Flüchtlinge?, in: Dietrich Thränhardt/Simone Wolken (Hg.), Flucht und Asyl. Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg i.Br. 1988, S. 62– 97. 134 Grundsätzlich dazu: Birgit Stark, Streitpunkt ›Asyl‹ im Spannungsfeld von Medien, Politik und öffentlicher Meinung, Stuttgart 1998, bes. S. 17–37.

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gen des neuen Ausländergesetzes nieder, das die Asylverordnung von 1953 ablöste. Auf die hier neu geregelten Bestimmungen lässt sich die von Karin Hunn und Ulrich Herbert gewählte Formulierung für die Ausrichtung der frühen bundesdeutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik ebenfalls anwenden: »so liberal wie nötig und so restriktiv wie möglich.«135 Zwar wollten die Parlamentarier des Bundestags mit der Ablösung des Ausländer-Polizeigesetzes von 1938 eine symbolische Distanzierung von der diskriminierenden Rechtspraxis gegenüber Ausländern demonstrieren, doch konnten sie sich zu einem uneingeschränkten Vorrang der Verfassungsbestimmung zur Asylgewährung nicht durchringen.136 Das Anerkennungsverfahren wurde vereinheitlicht und wird seitdem ausschließlich über die in NürnbergZirndorf zum Bundesamt aufgewertete ›Bundesstelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge‹ abgewickelt. Schließlich verankerte das Ausländergesetz auch das Prinzip der Duldung von abgelehnten Asylbewerbern, um diese vor einer aus humanitären oder politischen Gründen nicht geboten erscheinenden Abschiebung zu bewahren.137 So erhielten insbesondere Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten Osteuropas ein gewisses Maß an Schutz vor Auslieferung in ihre Herkunftsländer, denn dort galt oft genug schon der Fluchtversuch selbst als schwere Straftat. Auf diese Weise wurde die gesetzliche Grundlage für jenen, oben bereits erwähnten Duldungsbeschluss der Innenministerkonferenz geschaffen138 und letztlich ein mögliches Vorgehen wie im geschilderten jugoslawischen Fall ausgeschlossen. Das hinter dieser Regelung verborgene Problem der ›Verfolgungstatbestände‹ blieb damit jedoch ungelöst. Es sollte zu langwierigen Anerkennungsverfahren führen, da auch weiterhin nicht allein die Formulierung des Grundgesetzes, sondern gleichermaßen die Genfer Flüchtlingskonvention mit der darin enthaltenen Einschränkung des Abschiebeschutzes als der entscheidende Maßstab galt.139 Wie die Praxis bis zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung von 1965 gezeigt hatte, waren die Bestimmungen zur Flüchtlingseigenschaft der Genfer Konvention im Bedarfsfall zwar dehnbar, führten jenseits tagespolitischer Aufmerksamkeit aber zu einer leichter handhabbaren und damit letztlich restriktiveren Auslegung des Asylrechtes. Daran änderte sich auch nichts, als die Konvention 1967 per Zusatzprotokoll eine

|| 135 Herbert/Hunn, Beschäftigung, Bd. 5, S. 791. 136 Karen Schönwälder, ›Ist nur Liberalisierung Fortschritt?‹ Zur Entstehung des ersten Ausländergesetzes der Bundesrepublik, in: Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999, S. 127–144. 137 Vgl. Ausländer-Gesetz, in: BGBl. 1965 I, S. 353. 138 Vgl. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder am 26.8.1966 in Hannover, BArch K, B106, Nr. 60299, o.Bl.; vgl. Bettina Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik: von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung, Münster 1995, S. 114f. 139 Fritz Franz, Asylrecht im Schatten der Flüchtlingskonvention, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 1966, S. 623–630.

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Fassung erhielt, die keine Geltungsfrist mehr beinhaltete. Diese wurde von der Bundesrepublik, im Unterschied zur DDR, auch deshalb unverzüglich unterzeichnet140, weil es der Bundesregierung innerhalb dieses Verfahrens immer möglich war, ihre Interessen durch den rechtswirksamen Einspruch des vom Bundesinnenministerium zu berufenden Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten durchzusetzen.141 Dennoch galten die Regelungen des neuen Ausländerrechts insbesondere führenden Politikern und Innenbehörden in Bayern als Türöffner für eine von ihnen schon in den 1960er Jahren befürchtete ›Flüchtlingsschwemme‹, weil die bayerische Staatsregierung mutmaßte, dass dem Asylrecht in Zukunft keine strikten Beschränkungen mehr zugemessen werden könnten.142 Bayern (und in erster Linie München) war in der Frühphase der bundesdeutschen Migrationsgeschichte – also in der Zeit vor dem Massenflugverkehr über das Drehkreuz Frankfurt am Main – durch seine geographische Lage sowohl Ziel als auch Durchgangsstation eines Großteils der Migrationsbewegungen in Richtung Bundesrepublik.143 Auch lagen das ›Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge‹ und das ihm zugeordnete Aufnahmelager für Ausländer in Zirndorf auf dem Territorium des Freistaates. Die damit zwischen dem Bund und dem Freistaat geteilte Zuständigkeit für die Unterbringung der Asylsuchenden hatte zur Folge, dass sich die bayerische Staatsregierung – als eine Art strenge Torwächterin – in allen Asylfragen einen besonders restriktiven Standpunkt einzunehmen bemühte. Dies reichte vom grundsätzlichen Infragestellen jeglicher gesetzlichen Regelung des Asyls bis zur präventiven Abwehr von sogenannten ›Wirtschaftsflüchtlingen‹ in der Phase von Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum. Die Anerkennungsquote von Asylanträgen lag in der Zeit von 1953 bis 1966 um die 20 Prozent.144 Exemplarische Bestätigung für ihre abwehrende Haltung gegenüber ausländischen Flüchtlingen fanden die bayerischen Behörden und Politiker in den anhaltenden Konflikten um das Ausländersammellager Zirndorf. Dessen wiederholte Überlastung und die daraus resultierende menschenunwürdige Unterbringung der Asylsuchenden führten in den 1960er Jahren zu andauernden Auseinandersetzungen zwischen den Ländern und dem Bund.145 Vor allem zwischen 1968 und 1970, als || 140 Vgl. Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt 2000/01. 50 Jahre Humanitärer Einsatz, hg.v. Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, Bonn 2000, S. 62–65. 141 Vgl. Münch, Asylpolitik, S. 52. 142 Bayerisches Staatsministerium des Inneren an Bundesministerium des Inneren, betr.: Fremdenrecht, Umgang mit Schranken des Asylrechts, 12.5.1964, BArch K, B106, Nr. 39962, o.Bl. 143 Vgl. dazu Franziska Dunkel/Gabriella Stramaglia-Faggion (Hg.), ›Für 50 Mark einen Italiener‹. Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 2000. 144 Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bd. 4, Baden-Baden 2007, S. 685–724, hier S. 698–701. 145 Auswirkungen der Bundessammellager für asylsuchende Ausländer in Zirndorf, BArch K, B106, Nr. 38057, o.Bl.

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Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei die Asylbewerberzahlen zeitweise auf jährlich über 10.000 steigen ließen146, wurde die Bereitstellung mindestens eines weiteren Sammellagers Gegenstand der Verhandlungen. Allerdings stimmte weder der Freistaat Bayern einem erwogenen Ausbau des Ausländerlagers zu, noch fanden sich die anderen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt bereit, ausländische Flüchtlinge vor dem Entscheid über ihren Asylantrag aufzunehmen.147 Insbesondere die wiederholten Spannungen unter den Asylsuchenden im Zirndorfer Lager, zumeist bedingt durch die zuweilen Jahre währenden Anerkennungsverfahren und einen damit verbundenen unsicheren Status, entluden sich mehrfach in tätlichen Auseinandersetzungen im Lager und in der Gemeinde Zirndorf. Diese Vorfälle schrieben weder die einheimische Bevölkerung noch die lokalen und regionalen Politiker der schwierigen Situation der ausländischen Flüchtlinge im Ausnahmelager zu. Vielmehr galt die von Asylsuchenden ausgehende Störung von Ruhe und Ordnung in Zirndorf als eindeutiger Beleg für die Gefährdung des Gemeinwesens durch Ausländer.148 Damit waren schon Ende der 1960er Jahre die Missbrauchs-, Belastungs- und Gefahrenargumentationen im Zusammenhang mit der Gewährung von Asyl in den Institutionen der frühen Bundesrepublik etabliert, auch wenn diese Topoi erst in der Asyldebatte der 1980er Jahren den Migrationsdiskurs der Bundesrepublik beherrschen sollten.149

4 Von der Anerkennung des unumschränkten Asylrechts zur Änderung des Grundgesetzes Derartige Argumente waren jedoch bis zu diesem Zeitpunkt nicht dazu geeignet, den verfassungsrechtlichen Rahmen der Asylgewährung in der Bundesrepublik in Frage zu stellen. Trotz erheblichen Drucks der Exekutive fand sich weder im Bundestag noch im Bundesrat eine Mehrheit, die solche abwehrenden Bewertungen der Gewährung von Asyl zum Gegenstand politischer Interventionen machen wollte.150 || 146 Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an BMI, betr.: Aufnahme tschechoslowakischer Flüchtlinge im Sammellager für Ausländer in Zirndorf, 18.11.1968, BArch K, B106, Nr. 25086, Bl. 143f. 147 Niederschrift über Besprechung am 24.10.1973 im BMI, Entlastung des Sammellagers für Ausländer in Zirndorf, BArch K, B106, Nr. 25088, Bl. 231–235. 148 Weißbuch über die Bemühungen um die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in der Stadt Zirndorf, BArch K, B106, Nr. 25088, Bl. 209–225. 149 Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003, hier S. 442–514; vgl. Birgit Stark, Streitpunkt ›Asyl‹ im Spannungsfeld von Medien, Politik und öffentlicher Meinung, Stuttgart 1998. 150 Herbert/Hunn, Beschäftigung, Bd. 5, S. 808.

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In der bundesdeutschen Rechtslehre galt das Ziel einer möglichst weit reichenden Beschränkung des Asylrechts zu dieser Zeit bereits als hoch umstritten und letztlich als der Verfassung widersprechend.151 Dem folgend mehrten sich, parallel zu den öffentlichen Debatten um die Aufnahme von politisch Verfolgten aus den kommunistischen Diktaturen Ostmitteleuropas, Entscheidungen von Bundesgerichten, die einer restriktiven Aufnahme von Flüchtlingen beziehungsweise einer exklusiven Gewährung von Asyl immer stärker entgegentraten.152 In diesem Sinne waren die Aufnahme von chilenischen Asylsuchenden in den Jahren 1974 und 1975 und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. Oktober 1975 zur unbeschränkten Wirkung der Asylnorm des Grundgesetzes153 bemerkenswerte Ereignisse in einer langwierigen und andauernden Auseinandersetzung um Inhalt und Anwendung des Asylrechts. Diese historische Bedingtheit des Asyls für politisch Verfolgte in der frühen Bundesrepublik rechtfertigt deshalb auch nicht das Narrativ vom Verlust des ›guten Ursprungszustandes‹ nach 1975.154 Allerdings fiel die bedeutsame Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts innerhalb eines gesellschaftlichen Umfeldes, das sich von der Situation in den 1950er und 1960er deutlich unterschied. Die Auseinandersetzung um die Aufnahme beziehungsweise Asylgewährung chilenischer Flüchtlinge hatte nicht nur gezeigt, dass sich der antikommunistische Konsens in Öffentlichkeit und Politik der frühen Bundesrepublik nicht einfach in einen universellen Konsens zum Schutz von politisch Verfolgten überführen ließ. Vielmehr hatte sich an der Frage, ob auch politisch verfolgten Kommunisten Asyl in der Bundesrepublik gewährt werden sollte, eine scharfe politische Debatte entzündet.155 Zugleich hatte das bundesdeutsche Asylrecht durch die innere Stabilisierung der westdeutschen Gesellschaft und die außenpolitischen Erfolge der sozial-liberalen Koalition nach 1969 seine Funktion als Beleg einer westlich-demokratischen Ausrichtung der Bundesrepublik offenkundig verloren.156 Bedeutsamer aber war schließlich, dass sich auf dem Feld der Arbeitsmigration eine Wende von der aktiven Anwerbung zur restriktiven Zuwanderungsbeschränkung vollzogen hatte und damit das Asyl für nichtdeutsche Migranten zum

|| 151 Vgl. Otto Kimminich, Asylrecht, Berlin 1968. 152 Vgl. Erhard Schüler/Peter Wirtz (Hg.), Rechtsprechung zur Ausländerpolizeiverordnung und zum Ausländergesetz, Berlin 1971. 153 Vgl. BVerwGE 49, 202 v. 7.10.1975, zit. in: Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 103. 154 So in Heiko Kaufmann (Hg.), Kein Asyl bei den Deutschen. Anschlag auf ein Grundrecht, Reinbek 1986. 155 Michael Stolle, Inbegriff des Unrechtsstaates. Zur Wahrnehmung der chilenischen Diktatur in der deutschsprachigen Presse zwischen 1973 und 1989, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51. 2003, H. 9, S. 793–813. 156 Dietrich Thränhardt, ›Ausländer‹ als Objekte deutscher Interessen und Ideologien, in: Hartmut M. Griese (Hg.), Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik, Opladen 1984, S. 115–132.

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einzig möglichen Zugangsweg nach Westdeutschland wurde.157 Dies ging einher mit einem allgemeinen Wandel des Wanderungsgeschehens nach (West-)Europa. Durch moderne Kommunikations- und Transportmittel erreichten nicht nur die Nachrichten über Konflikte in allen Teilen der Welt die Haushalte der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft, vielmehr besaßen auch die Flüchtlinge aus diesen Regionen zumindest die theoretische Möglichkeit, in der Bundesrepublik um Asyl nachzusuchen.158 Der mehrdimensionale Wandel der Migrationsverhältnisse manifestierte sich für die bundesdeutsche Politik und Öffentlichkeit in einem zentralen Punkt: dem kontinuierlichem Anstieg der Asylbewerberzahlen. Bis zum Beginn der 1970er Jahre hatten jährlich zwischen 2.500 und 5.600 Personen einen Asylantrag in der Bundesrepublik gestellt. Lediglich in den Jahren nach dem Prager Frühling, also 1969 beziehungsweise 1970, lagen die Zahlen deutlich über diesen Werten. Im Jahr 1976 stiegen die Antragszahlen erstmals über 10.000 und bereits 1980 sogar erstmals über 100.000. Zugleich änderte sich auch die Herkunftsstruktur der Antragsteller. Bis zum Beginn der 1970er Jahre stellten hauptsächlich Flüchtlinge aus den kommunistischen Diktaturen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas Anträge auf Asyl in der Bundesrepublik. So stammten im Jahr 1963 sogar ca. 95 Prozent aller Asylsuchenden aus der ČSSR, Jugoslawien und Ungarn. Der Anteil der sogenannten Ostblockflüchtlinge ging in den frühen 1970er Jahren in dem Maße zurück, in dem die Gesamtzahl der Asylsuchenden anstieg und sich vor allem der Anteil nichteuropäischer Flüchtlinge erhöhte. So kamen im Jahr 1975 beispielsweise nur noch ca. 25 Prozent der Asylsuchenden aus dem östlichen Europa.159 Es war wieder die bayerische Staatsregierung, die in dieser Situation auf eine Änderung der Verhältnisse im Anerkennungsverfahren drängte, wobei es diesmal insbesondere um die Verteilung der Asylsuchenden ging. Das bis dahin einzige Aufnahmelager des Bundes für Asylsuchende im fränkischen Zirndorf besaß eine nur beschränkte Aufnahmekapazität, und die wachsende Zahl von Asylsuchenden führte zu inakzeptablen Zuständen. Deshalb beschloss die Innenministerkonferenz der Länder bereits im Februar 1974, die Verteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer nach einem festgelegten Schlüssel schon vor Abschluss des Anerkennungsverfahrens durchzuführen. Als sich in den folgenden Jahren zeigte, das Zirndorf auch als zentrales Durchgangslager nicht mehr ausreichte, wurde das Lager gegen den Widerstand des Bundes und der anderen Länder im August 1978 von der bayerischen Staatsregierung geschlossen beziehungsweise nur noch als bayerisches || 157 Bade, Ausländer – Aussiedler – Asyl, S. 96. 158 Rainer Münz, Woher – wohin? Massenmigration im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Ludger Pries (Hg.), Transnationale Migration (Sonderbd. 12 der Zeitschrift Soziale Welt), Baden-Baden 1997, S. 221–243. 159 Asylpraxis, hg.v. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Nürnberg 1998, S. 8; vgl. Hans-Ingo von Pollern, Das moderne Asylrecht. Völkerrecht und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. 9f.

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Sammellager benutzt. Die in der Bundesrepublik ankommenden Asylsuchenden brachte die Exekutive von nun an in jenem Bundesland unter, in dem sie erstmals vorstellig wurden, oder verteilte sie bei Überlastung nach einer festgesetzten Quote auf andere Bundesländer.160 Diese nicht unwesentliche Veränderung im Asylverfahren markierte zum einen das Ende der institutionellen Sonderrolle des Freistaates Bayern im Feld der Flüchtlings- und Asylpolitik. Zum anderen erwuchs daraus jedoch zugleich eine zunehmende Bedeutung aller Bundesländer im Asylverfahren. Infolge der neuen Verteilungspraxis entstanden immer wieder Konflikte zwischen Bund, Ländern und den betroffenen Kommunen um die Zuständigkeit für die Unterbringung der Asylbewerber sowie die damit verbundenen Verpflichtungen und notwendigen Kostenaufkommen. Angesichts der sich abzeichnenden Krise der öffentlichen Haushalte, insbesondere in den Kommunen und Bundesländern am Ende der 1970er und frühen 1980er Jahre, und einer zumindest unklaren, wenn nicht gar abweisenden Haltung einer Vielzahl lokaler und regionaler Politiker gegenüber ausländischen Flüchtlingen, entstand hier über Parteigrenzen hinweg die Forderung nach einer alsbaldigen Beschleunigung beziehungsweise Verschärfung des Asylverfahrens.161 Eine Konsequenz aus dieser Situation war der Erlass des Bundesarbeitsministers vom 14. März 1975, in dem noch im Verfahren befindlichen Asylbewerbern der Zugang zum bundesdeutschen Arbeitsmarkt erlaubt wurde. Ziel war es zwar, die Sozialhilfekosten für Asylbewerber zu senken und damit die Haushalte der verantwortlichen Kommunen zu entlasten. Im Ergebnis aber machte diese Maßnahme das Asylverfahren auch für Nicht-EG-Ausländer attraktiv, denen mit dem Anwerbestopp vom 23. November 1973 der legale Zugang zum westdeutschen Arbeitsmarkt verwehrt worden war.162 Die getroffenen Maßnahmen waren nicht nur gänzlich ungeeignet, die Zahl der Asylbewerber zu reduzieren. Sie trugen vielmehr dazu bei, die Verhältnisse auf dem Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik dramatisch zu dynamisieren und weiteren Handlungsdruck gegenüber der Politik und den betroffenen Institutionen aufzubauen.163 Insbesondere die Dauer des Asylverfahrens geriet nun ins Zentrum der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung. Bis zum Inkrafttreten des ersten

|| 160 Doris Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und der Bundesrepublik. Eine vergleichende Studie der 1980er und 1990er Jahre, Opladen 2002, hier S. 283. 161 Münch, Asylpolitik, S. 64–66. 162 Regina Heine/Reinhard Marx, Ausländergesetz mit neuem Asylverfahrensrecht, Rechtsprechung zum Asylrecht mit Erläuterungen, Baden-Baden 1978, S. 238; Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, S. 117f. 163 Fritz Franz, Politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Grundrecht und Verwaltungspraxis, in: Ulrich O. Sievering (Hg.), Praxisprobleme im Asylverfahren. Das Recht auf politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Verfassungsauftrag und Verwaltungsaufgabe, Frankfurt a.M. 1982, S. 17–37, hier S. 33.

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Beschlusses zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 25. Juli 1978 entschieden Anerkennungsausschüsse des Zirndorfer Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge über das jeweilige Asylbegehren. Bei Ablehnung konnten die Asylbewerber gegen diese Entscheidungen im Amt Widerspruch einlegen, der von einem Widerspruchsausschuss geprüft wurde. Dessen Entscheidung wiederum konnte dann beim Amtsgericht Ansbach, dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden. Auf gleichem Wege war es allerdings ebenso dem an die Weisungen des Bundesinnenministers gebundenen Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten möglich, seinerseits gegen Anerkennungsentscheidungen zu klagen. Dieses mehrstufige Verfahren führte bei steigender Verfahrenszahl zu einer erheblichen Überlastung der Gerichtsinstanzen und damit zu einer mehrjährigen Verfahrensdauer.164 Zwar erhielt der Asylsuchende so eine bis zu acht Jahre andauernde Duldung in der Bundesrepublik, für politisch Verfolgte bedeutete dies aber zugleich ein Höchstmaß an Statusunsicherheit, denn schließlich garantierte nur die Anerkennung des Asylbegehrens einen Schutz vor Ausweisung oder Auslieferung an den potentiellen Verfolgerstaat.165 Die Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ließen diesen Umstand jedoch weitgehend unbeachtet. Vielmehr zielten sie darauf ab, vermutete ›unbeachtliche‹ Antragsteller vom Asylverfahren fernzuhalten oder aber dieses auf dem Verfahrens- und Verwaltungsweg substanziell einzuschränken. Im März 1977 wurde im Zuge geänderter Verwaltungsvorschriften die Vorprüfung von Asylgesuchen beim Grenzübertritt eingeführt. Diese durch die Grenz- und Ausländerbehörden vollzogene Praxis widersprach zwar den Bestimmungen des Ausländergesetzes von 1965, wurde aber erst 1981 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben.166 Ein gutes Jahr nach dem Inkrafttreten der neuen Vorkontrollen verabschiedete der Bundestag am 25. Juli 1978 einstimmig das Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens, das wesentliche Veränderungen mit sich brachte. Ohne ein Widerspruchsrecht im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde von nun an über einen Asylantrag nur noch vom Anerkennungsausschuss entschieden. Hinzu kam, dass eine Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht für all jene Fälle ausgeschlossen wurde, über die man in der Vorinstanz bereits als ›offensichtlich unbegründet‹ entschieden hatte. Weiterhin wurden die Verwaltungsgerichtsverfahren dezentralisiert, das heißt sie sollten in den Gerichtsbezirken durchgeführt werden, in denen den klagenden Asylsuchenden während des Verfahrens ihr vorläufiger Wohnsitz zugewiesen worden war. Die erhoffte Beschleunigung des Asylverfahrens blieb jedoch aus, da dessen Verkürzung in Zirndorf zu einer

|| 164 Michael Wollenschläger/Ulrich Becker, 40 Jahre Asylgrundrecht – Rückblick und Ausblick, in: Archiv des Öffentlichen Rechtes, 115. 1990, S. 369–399, hier S. 378f. 165 Franz Nuscheler, Internationale Migration. Flucht und Asyl, Opladen 1995, S. 141. 166 Wolken, Das Grundrecht auf Asyl, S. 45.

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nahezu zwangsläufigen Erhöhung der Zahl der Verfahren beim Amtsgericht in Ansbach führte und die Dezentralisierungsmaßnahmen erst mit zweijähriger Verzögerung in den anderen Bundesländern wirksam wurden. Dies konnte kaum überraschen: weder gingen die Asylbewerberzahlen allein durch veränderte Verfahrensregelungen zurück, noch erfuhren bereits anhängige Verfahren dadurch eine Beschleunigung.167 Allerdings wandelte sich die Flüchtlings- und Asylpolitik ab spätestens 1980 von einem Experten- und Juristenthema zu einem zentralen Gegenstand der bundesdeutschen Innenpolitik. Durch ihre starke Stellung in den Ländern und bestärkt durch das eher zurückhaltende bis zögerliche Vorgehen der sozial-liberalen Bundesregierung in der allgemeinen Ausländerpolitik vermochte die zu diesem Zeitpunkt oppositionelle CDU, Profil zu gewinnen und der Regierungskoalition Untätigkeit in der Asylfrage vorzuwerfen.168 Mit neuen Entwürfen und einer massiven Mobilisierung in den Kommunen gelang es der Union schon zwei Jahre nach dem ersten Beschleunigungsgesetz, ein zweites zu erzwingen, das weitere Einschränkungen des Asylverfahrens mit sich brachte. Die wesentlichste Veränderung stellte dabei die Ersetzung der Anerkennungsausschüsse durch weisungsunabhängige Einzelentscheider dar. Der von einem solchen Beamten gefällte Bescheid über den Asylantrag wurde den Asylsuchenden nicht mehr persönlich, sondern über das lokale Ausländeramt zugeleitet. Im Falle eines negativen Bescheides sollte die Behörde diesen dem Asylsuchenden sofort mit der fälligen Ausreiseaufforderung und der Abschiebeandrohung aushändigen. Einspruch konnte dann nur gegen Bescheid und Abschiebung im Verbund eingelegt werden.169 Als quasi flankierende Maßnahme schränkte die Bundesregierung darüber hinaus die visafreie Einreise für Angehörige verschiedener nicht-europäischer Staaten ein – eine Restriktion, die in den kommenden Jahren bis zur Grundrechtsänderung 1993 auf immer mehr afrikanische und westasiatische Staaten ausgeweitet wurde.170 Erneut hatte der Versuch der Verfahrensveränderung dazu geführt, die grundsätzlichen Probleme aus der dramatisch zunehmenden Inanspruchnahme des Asylrechtes lediglich zu verlagern und dadurch neue Schwierigkeiten zu erzeugen. Insbesondere die Maßnahmen des zweiten Beschleunigungsgesetzes führten zu einer ungewollten Belastung der Justiz, da mit der Aufhebung zuvor getrennter Rechtswege für asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragen nun beinahe jede Asylklage zu einer Verbundklage wurde. Wäh|| 167 Münch, Asylpolitik, S. 72–77. 168 Margit Stöber, ›Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‹. Positionen und Konzeptionen von CDU/CSU zu Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz 1978 bis 1989, Berlin 1990, S. 88f.; vgl. Klaus J. Bade, ›Politisch Verfolgte genießen…‹: Asyl bei den Deutschen: Idee und Wirklichkeit, in: ders. (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, S. 411–422, hier S. 413. 169 Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, S. 285f. 170 Bernhard Santel, Migration in und nach Europa. Erfahrungen, Strukturen, Politik, Opladen 1995, S. 193f.

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rend es zuvor kaum zu Klagen gegen Bescheide der Ausländerbehörden kam, führte die geänderte Verfahrensregel nun beinahe zu einer Verdoppelung der Streitgegenstände vor den für die Ausländerbehörden zuständigen Verwaltungsgerichten.171 Noch schwerer aber wog, dass sich nunmehr jeder Asylsuchende – zunächst an der Grenze, dann im Asylverfahren selbst – mit einer pauschalen ›Missbrauchsvermutung‹ konfrontiert sah. Das (nächste) Asylverfahrensgesetz von 1982 erweiterte die Befugnisse der Grenz- und Ausländerbehörden dahingehend, Asylgesuche ohne Einschaltung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als unbeachtlich einzuschätzen und die betroffenen Flüchtlinge abzuweisen. Dies galt insbesondere dann, wenn angenommen werden konnte, dass der Flüchtling schon andernorts Schutz vor Verfolgung hätte finden können. Derartige Fälle brauchten keine Kammer mehr, sondern konnten von nun an von einem Einzelrichter entschieden werden. Weitere Festlegungen dieses Gesetzes betrafen unter anderem eine Beschränkung des Aufenthalts von Asylbewerbern auf den Verwaltungsbezirk der betreffenden Ausländerbehörde, eine weitere Beschränkung des Einspruchsrechts der Asylbewerber sowie die Regelunterbringung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften.172 Diese Veränderungen wären wahrscheinlich nicht so schwerwiegend für die Asylsuchenden gewesen, wenn die bundesdeutsche Rechtsprechung die Tendenz der zunehmenden Einschränkung des Asylrechts nicht weitgehend nachvollzogen hätte. Bereits 1977 änderte das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zur Feststellung politischer Verfolgung. Künftig war nicht mehr die subjektive Furcht vor Verfolgung des Asylsuchenden maßgeblich, stattdessen rückten die politischen Motive des Verfolgerstaates in den Blickpunkt.173 Die GFK, in der subjektive Elemente der Furcht vor Verfolgung ausdrücklich aufgeführt wurden, verlor damit für das bundesdeutsche Asylrecht endgültig jede Bedeutung. Dies zeitigte eine äußerst dramatische Konsequenz: Die bloße Furcht vor Folter musste nicht mehr notwendig ein hinreichender Asylgrund sein, wichtiger war ihr ›objektivierbarer‹ Zweck.174 Bei kommunistischen Diktaturen stand dieser Anfang der 1980er Jahre in der Regel nicht in Zweifel, wohl aber bei der Anwendung von Folter durch die Militärdiktatur im NATO-Mitglied Türkei. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1990 Folter als Asylgrund schließlich anerkannt.175 Ungeachtet derartiger Entwicklungen führten von 1978 bis 1993 die unbedingten Versuche der bundesdeutschen Politik, den anwachsenden Druck auf das || 171 Münch, Asylpolitik, S. 82. 172 Bröker/Rautenberg, Asylpolitik, S. 208–213. 173 Marx, Die Definition politischer Verfolgung, S. 151. 174 Jochen Frohwein/Rolf Kühner, Drohende Folterung als Asylgrund und Grenze für Auslieferung und Ausweisung, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 43. 1983, S. 537–565. 175 Nuscheler, Internationale Migration, S. 150–154.

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Asylgrundrecht durch Verschärfungen beziehungsweise Einschränkungen des Asylverfahrens abzumildern, zu insgesamt 17 größeren Gesetzesänderungen beziehungsweise rechtswirksamen Beschlüssen der Innenministerkonferenz und der Bundesregierungen. Eine Hauptursache für diese Regelungsflut lag darin begründet, dass auch unter der ab Oktober 1982 regierenden CDU die Zahl der Asylbewerber nur temporär zurückging und aufgrund der politischen Veränderungen in Osteuropa Ende der 1980er Jahre sogar nicht einmal mehr unter die Marke von 100.000 Asylgesuchen pro Jahr sank.176 Allerdings erklären sich die anhaltenden Konflikte um das Asylrecht nicht allein aus dieser Entwicklung. Vor dem Hintergrund der immer latenten Spannung zwischen den Souveränitätsansprüchen des modernen Nationalstaates und den mit diesen zugleich historisch untrennbar verbundenen Normen der allgemeinen Menschenrechte177 war das bundesdeutsche Asylrecht – von seiner Entstehung bis zur Verfassungsänderung von 1993 – fortwährenden Neuinterpretationen unterworfen.178 Diese Dynamik war beeinflusst durch die Nachkriegssituation in Westdeutschland und das sich im Kalten Krieg wandelnde Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und der Bedeutung der Verfassungsnormen für die politische Kultur der Bundesrepublik. Im Kontext der geschilderten Entwicklungen bis 1975 stellen die nachfolgenden Konflikte um die Anwendung und Ausgestaltung des politischen Asyls daher eine neue Etappe in der andauernden Auseinandersetzung um Asylrecht sowie Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik dar, die schließlich in den Asylkompromiss von 1993 mündete.179 Der Vollzug dieser Verfassungsreform fand in einer innenpolitisch aufgeladenen Atmosphäre statt, die sich mit den Auseinandersetzungen um die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1956 oder der Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung 1968 vergleichen lässt.180 Die außerordentliche Mobilisierung der politischen Öffentlichkeit beim Thema Asyl von den späten 1970er bis in die frühen 1990er Jahre erklärt sich nicht allein aus den bedauernswerten Schicksalen der

|| 176 Asylpraxis, hg.v. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, S. 14f. 177 Joan Fitzpatrick, The Human Rights of Migrants, in: Thomas Alexander Aleinikoff/Vincent Chetail (Hg.), Migration and International Legal Norms, Cambridge 2003, S. 169–184. 178 Vgl. Olaf Köppe, MigrantInnen zwischen sozialem Rechtsstaat und nationalem Wettbewerbsstaat. Zur Bedeutung von Justiz und Politik bei der Vergabe von ›bürgerlichen‹ und sozialen Rechten an MigrantInnen unter sich verändernden sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, Diss. Duisburg 2003. 179 Günter Renner, Aktuelle und ungelöste Probleme des Asyl- und Flüchtlingsrechts, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2002. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M/ New York 2002, S. 179–206. 180 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, hier S. 319–332.

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vielen ausländischen Flüchtlinge181 oder aus den mit der Aufnahme verbundenen Herausforderungen für einen bundesdeutschen Sozialstaat, der ohnehin an seine Grenzen zu stoßen schien.182 Vielmehr war der Komplex Flüchtlings- und Asylpolitik immer auch mit fundamentalen Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen der bundesrepublikanischen Gesellschaft verbunden: Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik eine Garantie für die grundsätzliche Abkehr der Bundesrepublik von einer rassistisch geprägten Vergangenheit, insbesondere vom Nationalsozialismus, dar. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des ›Nichteinwanderungslandes‹ bedeutet hätte und als ein Aufgeben der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden wurde.183 Dass es den Anhängern eines großzügigen beziehungsweise unbeschränkten Asylrechts nicht gelang, sich durchzusetzen, mag den Asylkompromiss als Niederlage erscheinen lassen. Dennoch spricht dieser zugleich für die Stärke und die fundamentale Verankerung der Menschenrechte in der politischen Kultur der inzwischen vereinigten Bundesrepublik Deutschland.184 Immerhin hatte es in dieser Auseinandersetzung nicht an Stimmen gefehlt, die das Asylrecht gänzlich abschaffen wollten, womit die latente Spannung zwischen Nationalstaatsprinzip und Menschenrechten im Feld der Migrationspolitik folglich weder aufgehoben worden war noch ist. Im Gegenteil weist vieles darauf hin, dass dieser Konflikt andauert, auch wenn er künftig wohl mehr und mehr auf europäischer Ebene ausgehandelt werden wird.185

|| 181 Johannes Müller (Hg.), Flüchtlinge und Asyl. Politisch handeln aus christlicher Verantwortung, Frankfurt a.M. 1990. 182 Hans F. Zacher, Sozialer Einschluß und Ausschluß im Zeichen von Nationalisierung und Internationalisierung, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 103–152. 183 Bade, Ausländer – Aussiedler – Asyl, S. 91–146. 184 Vgl. dazu Mathias Hong, Asylgrundrecht und Refoulementverbot, Baden-Baden 2008. 185 Elisabeth Haun, The Externalisation of Asylum Procedures. An Adequate EU Refugee Burden Sharing System?, Frankfurt a.M. 2007.

Jannis Panagiotidis

Staat, Zivilgesellschaft und Aussiedlermigration 1950–1989 In den vier Jahrzehnten des Kalten Krieges war die Bundesrepublik Deutschland Zielland eines kontinuierlichen Zustroms von sogenannten Aussiedlern aus den Ländern des sozialistischen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas. Ursprünglich erfasste die Rechtskategorie des ›Aussiedlers‹ die Nachzügler der massenhaften Nachkriegsvertreibung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten, die in den frühen 1950er Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung aus humanitären Gründen nach Deutschland übersiedeln durften. Die Aussiedler entwickelten sich im Laufe der Zeit zu einer zentralen Kategorie des bundesdeutschen Migrationsgeschehens. Sie wurden de facto zu einer privilegierten Zuwanderergruppe. Von 1950 bis Ende 1986 fanden ca. 1,3 Millionen Personen aus Polen, Rumänien, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ungarn Aufnahme in der Bundesrepublik aufgrund ihrer ›deutschen Staatsoder Volkszugehörigkeit‹. Mit Ausnahme der Jahre 1957–1958 und 1976–1982, als jeweils die Zuwanderung aus Polen sprunghaft anstieg, lag die Zahl der jährlichen Neuzugänge aus allen Ostblockländern meist unter 30.000. Somit handelte es sich bei der Aussiedlerzuwanderung in Zeiten des Ost-West-Konflikts nicht um ein Massenphänomen. Dies änderte sich mit der sukzessive Öffnung der staatssozialistischen Länder in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Nach der Liberalisierung der Ausreisebestimmungen in Polen, der Sowjetunion und schließlich auch in Rumänien vervielfachte sich die Zahl der Aussiedler in die Bundesrepublik auf über drei Millionen von 1987 bis 2012, wobei der Höhepunkt 1990 mit fast 400.000 Neuankömmlingen innerhalb eines Jahres erreicht wurde.1 Trotz der vergleichsweise geringen Zahlen ist die Aussiedlermigration vor Öffnung des Ostblocks für das Studium des Verhältnisses von Staat und Migration von großer Bedeutung, handelte es sich doch um ein Handlungsfeld mit ausgeprägtem staatlichen Einfluss sowohl in den Herkunftsländern als auch im Zielland. Während das sprichwörtliche ›offene Tor‹, das die Bundesrepublik den Deutschen aus dem Osten Europas bot, ein unbürokratisches Aufnahmeverfahren suggeriert, war Aus|| 1 Die Zuzugsstatistiken von 1950 bis 2012 (summarisch nach Jahren sowie detailliert für Polen, Rumänien und die Sowjetunion) sind abgedruckt in: Susanne Worbs u.a., (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, Forschungsbericht 20, hg.v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2013, S. 31–33. Die detaillierten Zuzugszahlen für alle Herkunftsländer bis 1985 finden sich auch in Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen, Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler, 1940–1985, Bonn 1986, S. 41–43. Zur Aussiedlermigration seit den späten 1980er Jahren siehe auch den Beitrag von Barbara Dietz in diesem Band.

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siedlermigration in Wirklichkeit das Objekt intensiver staatlicher Regelung.2 Die Zuwanderung ›deutscher Staats- und Volkszugehöriger‹ aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa wurde durch verschiedene Institutionen der regulären staatlichen Bürokratie sowie der nach dem Krieg geschaffenen speziellen ›Flüchtlingsverwaltung‹ kontrolliert.3 Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Eingliederung der Aussiedler, auf die in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden kann, war ebenfalls durch einen hohen Grad an staatlichem Engagement gekennzeichnet.4 Dem Zuwanderungsprozess vorgeschaltet war die Ausreise aus dem Heimatland, die in der Regel strenger staatlicher Kontrolle unterlag. In der Summe war der Migrationskanal, durch den sich Aussiedler während des Kalten Krieges von Ost nach West bewegten, somit ein Musterbeispiel für einen staatlich stark reglementierten Wanderungsprozess. Manche Autoren gehen in ihrer Bewertung der Rolle des Staates in der Aussiedlermigration noch weiter. Zuletzt interpretierten Rogers Brubaker und Jaeeun Kim das gesamte Phänomen der Aussiedlermigration nach Westdeutschland als Resultat der bürokratischen Institutionalisierung der Rechtskategorie ›Aussiedler‹ und somit als allein durch staatliches Handeln induziert.5 Hierbei handelt es sich aber um eine Vereinfachung, die der Komplexität der Wanderungsmotive von Ost-West-Migranten während des Kalten Krieges (und auch danach) nicht gerecht wird.6 Migration || 2 Der Soziologe Christian Joppke, der einige der wichtigsten Arbeiten im Bereich der Aussiedlermigration vorgelegt hat, schrieb beispielsweise von einer »open-door policy for anyone from Eastern Europe and the Soviet Union who could claim, however remotely, German origin«; siehe Christian Joppke, Selecting by Origin: Ethnic Migration in the Liberal State, Cambridge, MA 2005, S. 174. Dieses Sprachbild wurde im öffentlichen Diskus u.a. von Horst Waffenschmidt popularisiert, der in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wiederholt verlautbaren ließ, dass das ›Tor für deutsche Aussiedler offen bleibe‹. Zu diesem Zeitpunkt war dies freilich eine Reaktion auf lauter werdende Forderungen, es zu schließen. 3 Zur deren Entstehung siehe Abschnitt E ›Flüchtlinge, Suchdienst und Kriegsgefangene‹ in Walter Vogel, Westdeutschland 1945–1950. Der Aufbau von Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen über den Ländern der drei westlichen Besatzungszonen, Teil III, Boppard am Rhein 1983, S. 459– 485; siehe auch die Untersuchung von Rolf Messerschmidt, Die Flüchtlingsfrage als Verwaltungsproblem im Nachkriegsdeutschland. Das Phänomen der klientenorientierten Flüchtlingssonderverwaltung in Ost und West, in: Dierk Hoffmann u.a. (Hg.), Vertriebene in Deutschland: Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000, S. 167–186. Siehe zudem die zeitgenössische Abhandlung von Heinrich Rogge, Eingliederung und Vertreibung im Spiegel des Rechts, in: Eugen Lemberg u.a. (Hg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland, Bd. 1, Kiel 1959, S. 174–245. 4 Neben den vielfältigen finanziellen Eingliederungsleistungen, die durch das Bundesvertriebenengesetz vorgesehen waren (siehe Abschnitt 1), sei hier auf spezielle staatliche Aktionen wie die ›Sonderprogramme zur Eingliederung der Aussiedler‹ vom Frühjahr 1976 und vom Herbst 1988 verwiesen. 5 Rogers Brubaker/Jaeeun Kim, Transborder Membership Politics in Germany and Korea, in: Archives européennes de sociologie/European Journal of Sociology, 52. 2011, S. 21–75, hier S. 44. 6 Diese extreme institutionalistische Sichtweise ist gewissermaßen das Gegenstück zur lange vorherrschenden ideologischen Annahme, dass die Aussiedler in die Bundesrepublik kämen, um

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findet nicht einfach deshalb statt, weil eine entsprechende Rechtskategorie existiert. Allerdings ist die Existenz einer solchen Rechtskategorie dazu geeignet, als ›PullFaktor‹ zu wirken, der im Zusammenspiel mit gewissen wirtschaftlichen, politischen und ethno-nationalen ›Push-Faktoren‹ im Heimatland größere Migrationsbewegungen ermöglicht, als dies ansonsten der Fall wäre. Dieses Zusammenhangs waren sich staatliche Akteure in der Bundesrepublik bereits in den 1960er Jahren bewusst, was zu entsprechenden – damals noch erfolglosen – Initiativen führte, die Reichweite der Aussiedler-Kategorie einzuschränken und damit den Zuzug zu mindern (siehe dazu auch Abschnitt 6). Der vorliegende Beitrag wird sich in seinen Abschnitten 1 und 2 mit den rechtlichen Grundlagen und den staatlichen Institutionen und Prozeduren des ethnisch kodierten Migrationskanals für Aussiedler befassen – gewissermaßen mit den ›Türstehern‹ des ›offenen Tors‹ sowie den Verfahren und Kriterien, an die sie sich zu halten hatten. Von besonderem Interesse ist dabei deren historischer Entstehungskontext. Die Abschnitte 3 und 4 befassen sich dann mit der Praxis dieser Kontrollen. Es sind Fallstudien staatlicher Produktion von ›Ethnizität‹ bei der Anerkennung von Aussiedlern aus Jugoslawien in den 1950er und 1960er Jahren und von jüdischen Zuwanderern aus Osteuropa in den 1960er bis 1980er Jahren. Die Abschnitte 5 und 6 schließlich interpretieren die fortdauernde Aussiedlermigration während des ›Kalten Krieges‹ in einer Längsschnittperspektive zum einen als Resultat der Pfadabhängigkeit staatlichen Handelns, zum anderen aber auch als das Ergebnis bestimmter institutioneller und politischer Weichenstellungen, die zur jahrzehntelangen Fortsetzung der privilegierten Aussiedleraufnahme beitrugen. Jenseits der zweifellos dominanten Rolle staatlicher Akteure wird es durchgängig auch darum gehen, das Wirken einiger nicht-staatlicher Akteure zu beleuchten. Dabei wären insbesondere die Vertriebenenverbände zu nennen, die im Prozess der Zuerkennung des Aussiedlerstatus direkten und indirekten Einfluss ausübten. Sie spielten eine quasi-institutionelle Rolle durch ihre organisatorische und personelle Verquickung mit der Flüchtlingsverwaltung. Weiterhin bemühten sie sich, durch gezielte Lobbyarbeit ihre aussiedlerpolitischen Interessen und insbesondere ihre Vorstellungen von zentralen, durch den Staat vorgegebenen Kategorien wie ›Volkszugehörigkeit‹ und ›Vertreibungsdruck‹ durchzusetzen, deren Inhalt im Weiteren erläutert wird. Wie zu zeigen sein wird, entwickelte sich das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat im Bereich der Aussiedleranerkennung im Spannungsfeld zwischen den Polen Kooperation und Dualismus.

|| ›als Deutsche unter Deutschen‹ zu leben. Eine Überblicksdarstellung über die Migrationsmotive von russlanddeutschen Aussiedlern im Wandel der Zeit bietet Götz-Achim Riek, Die Migrationsmotive der Russlanddeutschen. Eine Studie über die sozial-integrative, politische, ökonomische und ökologische Lage in Russland, Stuttgart 2000.

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1 Die rechtlichen Grundlagen Die rechtliche Grundlage für die mehrere Jahrzehnte andauernde Aussiedlerzuwanderung wurde in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren in Reaktion auf die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa gelegt. Schon für die Zeitgenossen war erkennbar, dass die Vertreibung trotz ihres Massencharakters unvollständig blieb, Familien getrennt wurden und Einzelne wegen ihrer beruflichen Stellung oder aus anderen Gründen zurückgehalten worden waren. Entsprechend wurden verschiedene Gesetze, die sich mit der rechtlichen und sozialen Integration der Vertriebenen befassten, als zeitlich offen konzipiert, um auch die ›Nachzügler‹ aufnehmen zu können. Aus dem Rechtskonstrukt des Aussiedlers als ›Vertriebener nach der Vertreibung‹ entwickelte sich über die Zeit und begünstigt durch weitere staatliche Weichenstellungen, die im Folgenden diskutiert werden, eine ethnisch kodierte privilegierte Einwanderungskategorie im vermeintlichen ›Nicht-Einwanderungsland‹ Bundesrepublik Deutschland. Wie zu sehen sein wird, wurde diese langfristige Perspektive einer generationenübergreifenden Wanderung bei der Schaffung der entsprechenden Bestimmungen von Grundgesetz, Bundesvertriebenengesetz und Erstem Staatsangehörigkeitsregelungsgesetz jedoch nicht mitgedacht, da ein Ende des Nachzugs offenkundig sehr bald erwartet wurde. Es handelt es sich hierbei somit um ein exzellentes Beispiel für staatliches Handeln außerhalb des Politikfeldes ›Migration‹ im engeren Sinne, das unbeabsichtigte, aber nachhaltige Konsequenzen im Bereich der Zuwanderung erzeugte.

1.1 Grundgesetz (1949) und Erstes Staatsangehörigkeitsregelungsgesetz (1955) Die Grundlage für die zeitlich offene Vertriebenenkategorie fand sich in der Konzeption des ›Deutschen‹, wie sie im Grundgesetz von 1949 festgeschrieben wurde. Das Grundgesetz, welches einerseits die provisorische Verfassung des separaten westdeutschen Staates war, zum anderen aber den Anspruch hatte, für das ›gesamte deutsche Volk‹ zu sprechen, gab in seinem Artikel 116, Absatz 1 eine Definition eines ›Deutschen‹, die im Hinblick auf den späteren Prozess der Aussiedlermigration zukunftsweisend sein sollte. Besagter Artikel stellte die etwa 3,2 Millionen Vertriebenen, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt war oder die keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, deutschen Staatsangehörigen gleich.7 Im Wortlaut hieß es: || 7 Die Zahl ist entnommen aus: Der Bundesminister für Vertriebene (BMVt) (III 2a), Schätzung der Zahlen der im Bundesgebiet in Betracht kommenden Personenkreise, 14.1.1954, Bundestagsarchiv, Materialien zum Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (II/108), Nr. 60.

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»Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat.«

Trotz der perfektiven Formulierung war diese Definition auch in die Zukunft gerichtet, wie der sudetendeutsche Politiker Dr. Hans-Christoph Seebohm (Deutsche Partei) im Parlamentarischen Rat auf Nachfrage erfuhr, und wie es im schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes explizit festgehalten wurde.8 Artikel 116, Abs. 1 GG schuf so die konstitutionelle Grundlage für die Zuwanderung von über 4,5 Millionen Aussiedlern. Die ›anderweitige gesetzliche Regelung‹ folgte mit dem Ersten Staatsangehörigkeitsregelungsgesetz (1. StAngRegG) von 1955, welches den durch das Grundgesetz geschaffenen vertriebenen ›Statusdeutschen‹ den Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit zusprach und zudem kollektive Einbürgerungen durch NS-Deutschland vor dem und im Zweiten Weltkrieg im Sudetenland, im Memelland, in Polen und in der Ukraine (jeweils durch die ›Deutsche Volksliste‹) sowie in der Untersteiermark, in Kärnten und in der Krain nachträglich anerkannte. Eine Intention zur Schaffung eines langfristigen Einwanderungsprivilegs für ethnische Deutsche aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa ist in diesen Gesetzesakten jedoch nicht zu erkennen. Dies geht bereits aus dem zeitgenössischen Sprachgebrauch hervor: Bereits in den 1950er Jahren galten den zuständigen Stellen die Neuankömmlinge aus diesen Regionen als ›Spätaussiedler‹.9 Der frühe Gebrauch dieses Begriffs, der erst durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 auch als Rechtskategorie eingeführt wurde, zeigt, dass man ein baldiges Ende des Aussiedlernachzugs erwartete. Wie aus dem Protokoll des Parlamentarischen Rats zudem hervorgeht, bezog sich Seebohms Nachfrage konkret auf die Deutschen, die in der Tschechoslowakei verblieben waren und eventuell später die Möglichkeit zur Ausreise erhalten könnten. Dasselbe gilt für das 1. StAngRegG, welches grundsätzlich nur den Zweck hatte, die Staatsangehörigkeitsverhältnisse von Vertriebenen im Inland zu regeln. Zwar stattete es gleichzeitig eine unbestimmte Zahl von Personen und deren Nachkommen, die während des Krieges eingebürgert, dann aber nicht vertrieben worden waren, mit der deutschen Staatsangehörigkeit und damit mit dem Anrecht auf Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland aus. Dieser Aspekt wurde jedoch augenscheinlich von den gesetzgebenden Institutionen in seiner Tragweite nicht wahrgenommen: In der Vorbereitung dieses Gesetzes bezog || 8 Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 20. Sitzung, 7. Dezember 1948, in: Parlamentarischer Rat: Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, S. 226; und: Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, XI. Übergangs- und Schlussbestimmungen (von Heinrich von Brentano), in: Parlamentarischer Rat, Bonn 1948/49, S. 95. 9 Siehe zum Beispiel den den seit 1956 aus Polen eintreffenden Aussiedlern gewidmeten Band: Das Dritte Problem. Betrachtungen zur Aufnahme der Spätaussiedler aus dem Osten, hg.v. Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Troisdorf 1958.

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sich eine statistische Berechnung des Bundesvertriebenenministeriums nur auf jenen Personenkreis, der innerhalb der Bundesrepublik Deutschland durch dieses Gesetz einen Einbürgerungsanspruch erhielt.10 Eine vergleichbare Schätzung der Zahl der Personen in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa, die gewissermaßen in Abwesenheit eingebürgert wurden, gab es hingegen nicht.11 Auf die langfristigen Auswirkungen dieser staatlichen Entscheidungen wird in Abschnitt 5 noch näher eingegangen.

1.2 Das Bundesvertriebenengesetz (1953) Die Rechtskategorie des ›Aussiedlers‹ als solche entstammte dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) vom 19. Mai 1953 und war eine in die Zukunft gerichtete Erweiterung der dort festgelegten Kategorie des ›(Heimat-)Vertriebenen‹. Das BVFG war ein umfassendes Gesetzeswerk, das die Integration der ursprünglich ca. acht Millionen Vertriebenen in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik Deutschland regulieren und beschleunigen sollte. Es stattete die Inhaber eines Vertriebenenausweises mit dem Anspruch auf zahlreiche Eingliederungsleistungen sowie auf Rentenzahlungen für im Ausland geleistete Arbeitsjahre aus. Der Zugang zu diesen Leistungen war doppelt kodiert: der Inhaber eines Vertriebenenausweises musste erstens ein ›Vertriebener‹ (gemäß § 1) und zweitens ›deutscher Volkszugehöriger‹ (gemäß § 6) sein. Für den Kontext der Aussiedlermigration war entscheidend, dass sich die Definition eines Vertriebenen auch auf solche Personen bezog, die nach dem Ende der ›allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen‹ nach Deutschland gekommen waren.

|| 10 BMVt (III 2a), Schätzung der Zahlen der im Bundesgebiet in Betracht kommenden Personenkreise, 14.1.1954, Bundestagsarchiv, Materialien zum Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (II/108), Nr. 60. 11 Der zeitgenössische Gesetzeskommentar von Werner Hoffmann verweist zwar auf den »relativ kleinen Teil« der »deutschstämmigen Bevölkerung« aus den ehemals annektierten Gebieten, die in den Heimatstaaten verblieben seien und von denen »voraussichtlich noch zahlreiche Personen nach Deutschland ausgesiedelt werden« würden. Unmittelbar danach verweist er aber auf die bereits im Bundesgebiet lebenden »mehrere Millionen von deutschen Volkszugehörigen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit in den Jahren 1938 bis 1945 im Wege der Sammeleinbürgerung verliehen worden ist«. Vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch die Ehepartner bzw. Nachkommen der kollektiv einbürgerten Personen qua regulärem ius sanguinis ist später zwar auch die Rede, aber nur im Zusammenhang mit dem vom Gesetz vorgesehenen Ausschlagungsrecht. Das Anwachsen der Anzahl deutscher Staatsangehöriger in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa über mehrere Generationen wird auch hier nicht antizipiert; siehe Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955, erläutert von Dr. jur. Werner Hoffmann, Stuttgart 1955, S. 28f.

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Grundsätzlich war ein Vertriebener jemand, der als ›deutscher Staats- oder Volkszugehöriger‹ in den Ostgebieten des Deutschen Reiches (gemäß den Grenzen vom 31. Dezember 1937) oder außerhalb dieser Grenzen gelebt hatte und im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs seinen dortigen Wohnsitz verloren hatte.12 Derselbe Status stand Personen zu, die diese Gebiete aus Furcht vor nationalsozialistischer Verfolgung zwischen dem 30. Januar 1933 und dem Beginn der Vertreibungen gegen Ende des Krieges verlassen hatten (›Fiktivvertriebene‹); Personen, die durch bilaterale Verträge oder einseitige Bevölkerungsverschiebungen durch NS-Deutschland umgesiedelt worden waren (›Umsiedler‹) sowie Personen, die nach Ende der ›allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen‹ ihre Heimatländer im kommunistischen Ostmittel-, Südost- und Osteuropa verließen (›Aussiedler‹).13 Aufgrund der Vorgaben von Art. 116, Abs. 1 GG war die Erweiterung in die Zukunft konsequent: Wenn ›Deutscher im Sinne des Grundgesetzes‹ jemand sein konnte, der nach Ende der eigentlichen Vertreibungen ›als Vertriebener oder Flüchtling‹ in der Bundesrepublik Aufnahme fand, musste sich auch die Definition des ›Vertriebenen oder Flüchtlings‹ auf die Zeit nach den Vertreibungen beziehen können. Zudem ist zu bedenken, dass in den frühen 1950er Jahren, als das BVFG verhandelt wurde, bereits die ersten ›Nachzügler‹ der Vertreibung im Rahmen von Programmen zur Familienzusammenführung (wie etwa ›Operation Link‹ im Jahre 1951) in der Bundesrepublik eintrafen.14 Die rechtliche Kategorie des ›Aussiedlers‹ war somit die Fortentwicklung einer bereits existierenden rechtlichen Vorgabe sowie die Reaktion auf konkrete Zuwanderungsereignisse, die einer Regelung bedurften. Die Definition der ›Volkszugehörigkeit‹ erfolgte in § 6 BVFG. Demnach war ein ›deutscher Volkszugehöriger‹ jemand, der »sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird«.15 Diese Formulierung war fast wörtlich aus einem Rundschreiben des NS-Reichsinnenministeriums vom März 1939 über die Klassifizierung der Bevölkerung im ›Protektorat Böhmen und Mähren‹ übernommen, allerdings abzüglich des Nachsatzes, der »Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden«, von der Anerkennung als ›deutsche Volkszugehörige‹ generell ausschloss.16 Die Verwendung dieser Definition verweist auf eine gewisse Kontinuität staatlicher Kategorien zur Erfassung von ›Auslandsdeutschen‹, zumal die auf dieser Grundlage erfolgten Einbürgerungen von ›Volksdeutschen‹ durch NSDeutschland von der Bundesrepublik als bindende Rechtsfolgen gesehen wurde. || 12 Strassmann-Nitsche. Bundesvertriebenengesetz. Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge. Kommentar, 2. Aufl., hg.v. Walter Straßmann u.a., München 1958, S. 15. 13 Ebd. 14 Deutsches Rotes Kreuz, Generalsekretariat, 60 Jahre Suchdienst, Berlin 2005, https://www.drkwb.de/wissensboerse/download-na.php?dokid=6356). 15 Strassmann-Nitsche. Bundesvertriebenengesetz, S. 35. 16 Michael Silagi, Vertreibung und Staatsangehörigkeit, Bonn 1999, S. 117.

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Trotzdem ist die tatsächliche politische Praxis bundesrepublikanischer Aussiedlerpolitik von nationalsozialistischer ›Volkstumspolitik‹ und ›Heim-ins-Reich‹-Kampagnen klar abzugrenzen.17 Wie die Formulierung von § 6 BVFG zeigt, war die Definition von ›Volkszugehörigkeit‹ ihrerseits zweigeteilt. Sie bestand aus einem ›subjektiven‹ Kriterium (dem Bekenntnis) und mehreren ›objektiven‹ Kriterien (Sprache, Abstammung, Erziehung, Kultur). Zur Anerkennung als ›deutscher Volkszugehöriger‹ musste das subjektive sowie mindestens eines der objektiven Kriterien erfüllt sein. Wie genau der Nachweis eines Bekenntnisses erbracht werden sollte, war vom Gesetzgeber kaum durchdacht – im federführenden Heimatvertriebenenausschuss des Bundestages konnte man sich im Januar 1952 lediglich darauf einigen, dass dieser Nachweis schwer zu erbringen sein würde.18 Spätere Gesetzeskommentare sahen vor allem »die Mitgliedschaft in deutschen Vereinen und Organisationen, […] den Bezug deutschsprachiger Publikationen und die Angabe der deutschen Muttersprache oder der deutschen Verkehrssprache bei Volkszählungen oder ähnlichen Gelegenheiten« vor.19 Wichtig war außerdem, dass das Bekenntnis vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen im Jahr 1944/45 erbracht worden sein musste.20 Das Verhalten während und nach der Vertreibung sollte unerheblich sein. Obwohl diese zeitliche Beschränkung mit der Absicht vorgenommen wurde, größere bürokratische Kom-

|| 17 Für spätere Kritiker deutscher Aussiedlerpolitik war diese Bezugnahme auf eine NS-Verordnung einer der Hauptangriffspunkte, da sich vermeintlich eine Kontinuität in völkischem Denken manifestierte. Die einzige nennenswerte zeitgenössische Kritik kam von der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, die sich im Januar 1955 über die »alten Normen in neuen Gesetzen« empörte. In seiner Antwort an den Chefredakteur der Zeitung, Karl Marx, rechtfertigte der Vertriebenenminister Dr. Theodor Oberländer die Einführung des § 6 BVFG mit der Notwendigkeit, eine eigene, bundesdeutsche Definition von ›Volkszugehörigkeit‹ zu schaffen, eben gerade um nicht Bezug auf die NS-Verordnung von 1939 als bisher einzige Legaldefinition nehmen zu müssen. Für seinen Amtsvorgänger, Dr. Hans Lukaschek, war die in § 6 verwendete Formulierung einfach »die Literaturfassung«. Die Verwendung dieser vorbelasteten Definition war somit weniger das Resultat einer bewussten Bezugnahme auf die völkische Tradition, als ein Ausdruck des kompletten Mangels an Bewusstsein, wonach die fast wörtliche Übernahme einer solchen Definition in irgendeiner Weise problematisch sein könnte. Als Beispiel für kritische Literatur aus den frühen 1990er Jahren siehe Karl A. Otto, Aussiedler und Aussiedler-Politik im Spannungsfeld von Menschenrechten und Kaltem Krieg. Historische, politisch-moralische und rechtliche Aspekte der Aussiedler-Politik, in: ders. (Hg.), Westwärts – Heimwärts? Aussiedlerpolitik zwischen ›Deutschtümelei‹ und ›Verfassungsauftrag‹, Bielefeld 1990, S. 11–68, hier S. 21. Der Schriftwechsel zwischen Oberländer und Marx vom 13.1.1955 findet sich in: Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart, EA 12/201, Az. 2552, Nr. 4 (2605/4). Lukascheks Äußerung ist dokumentiert in Bundestag, 1. Wahlperiode, 250. Sitzung, 25.2.1953, S. 11985. 18 Bundestag Heimatvertriebenenausschuss, 1. Wahlperiode, 49. Sitzung, 16.1.1952, Bundestagsarchiv (3113). 19 Strassmann–Nitsche. Bundesvertriebenengesetz, S. 36. 20 Ebd., S. 37.

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plikationen und Nachweisschwierigkeiten zu verhindern, war der langfristige Effekt umgekehrt: Je mehr Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verging, desto schwieriger wurde es für immer noch nachziehende Aussiedler, ihr früheres Bekenntnis nachzuweisen. Diese Problematik wurde durch generationellen Wandel über die Zeit umso komplizierter: Wie konnte sich jemand vor den ›allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen‹ zum ›Deutschtum‹ bekannt haben, wenn er oder sie erst nach dem Krieg geboren worden war? Dieser Themenkomplex wird in Abschnitt 6 erläutert. Zunächst gilt es aber, die Verfahren und Institutionen der Aussiedlermigration und -anerkennung in Augenschein zu nehmen.

2 Der Migrationskanal und seine Institutionen Die Aufnahme und Anerkennung von Aussiedlern in der Bundesrepublik wurde in zwei separaten Verfahren durchgeführt, die hier als ›äußeres‹ und als ›inneres‹ Verfahren bezeichnet werden sollen. Das äußere Verfahren (offiziell als ›Übernahmeverfahren‹ oder ›D1-Verfahren‹ bezeichnet) diente dazu, die Berechtigung von in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa lebenden Antragstellern auf ›Übernahme‹ (so die offizielle Bezeichnung) in die Bundesrepublik festzustellen. Das als Zwischenschritt institutionell mit dem Übernahmeverfahren verbundene sogenannte Registrierverfahren, das in den Grenzdurchgangslagern wie Friedland/Niedersachsen und Nürnberg (bis in die frühen 1960er auch Piding/Oberbayern und München) durchgeführt wurde, stellte provisorisch die Anerkennungsfähigkeit von Neuankömmlingen als Aussiedler fest. Im inneren Verfahren wurde der Vertriebenenausweis erteilt und die übernommene Person somit auch offiziell zum deutschen Aussiedler. Theoretisch musste ein Aussiedler alle diese Verfahren durchlaufen, was den hohen staatlichen Regelungsanspruch im Bereich der Aussiedlermigration unterstreicht und zeigt, dass das ›offene Tor‹ für Deutsche aus Osteuropa von einer Vielzahl von ›Türstehern‹ kontrolliert wurde. In diesem Abschnitt werden die beteiligten staatlichen, halb- und nicht-staatlichen Institutionen eingeführt und ihre Funktion in den besagten Verfahren beleuchtet. Im Zusammenspiel mit den Ausreiseprozeduren der ostmittel-, südost- und osteuropäischen Staaten konstituierte das deutsche Übernahmeverfahren einen ethnisch kodierten, staatlich stark reglementierten Ost-West-Migrationskanal. Ein zentrales Paradox der ›Vertreibung nach der Vertreibung‹ war, dass sich ein Staat wie etwa Polen, der sich bis 1948 gewaltsam seiner deutschen Bevölkerung entledigt hatte, in der Folge in ein »Land ohne Ausweg« verwandelte.21 Auch die übrigen

|| 21 Siehe Dariusz Stola, Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949–1989 [Land ohne Ausweg? Migration aus Polen 1949–1989], Warschau 2010.

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sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas – mit Ausnahme des blockfreien Jugoslawien – erlaubten ihren Staatsbürgern keine freie Ausreise und sahen grenzüberschreitende Migration auch innerhalb des Ostblocks generell skeptisch.22 ›Ethnizität‹ war im Zusammenspiel mit familiären Bindungen einer der wichtigsten Faktoren, der Migration aus, innerhalb von und auch nach Ostmittel-, Südost- und Osteuropa ermöglichen konnte. Neben Deutschen konnten etwa auch Juden aus verschiedenen sozialistischen Ländern und Griechen aus der Sowjetunion im Rahmen offiziell so deklarierter ›Familienzusammenführungen‹ nach Israel, Griechenland und in andere Länder ausreisen.23 Innerhalb des Ostblocks wurden in den 1950er Jahren beispielsweise Polen aus der Sowjetunion in die Volksrepublik Polen repatriiert.24 Auch die DDR war Ziel ethnisch deutscher Zuwanderer aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien.25 Als Beispiel für ›ethnische Migration‹ von West nach Ost sei die Nachkriegs-›Repatriierung‹ von Armeniern aus Griechenland, der Levante und anderen Ländern in die Armenische SSR genannt.26

2.1 Humanitäre und konsularische Institutionen des Migrationskanals Die Anfänge des ethnisch kodierten Ost-West-Migrationskanals für deutsche Aussiedler mit ihren humanitär motivierten Aktionen zur Familienzusammenführung in den 1950er Jahren waren gekennzeichnet durch die Beteiligung des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) als nicht- beziehungsweise halb-staatlichem || 22 Zur migrationsfeindlichen Haltung der im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe organisierten Ostblockstaaten sowie zu der dennoch stattfindenden Migration von sogenannten Vertragsarbeitern siehe den aufschlussreichen zeitgenössischen Artikel von Amalendu Guha, Intra-COMECON Manpower Migration, in: International Migration, 16. 1978, H. 2, S. 52–65. 23 Eine Überblicksdarstellung zu ethnisch begründeter Ost-West-Migration während des Kalten Krieges fehlt. Für die 1990er Jahre – mit Verweisen auf die Zeit davor – siehe Anne De Tinguy, Ethnic Migrations of the 1990s from and to the Successor States of the Former Soviet Union: ›Repatriation‹ or Privileged Migration?, in: Rainer Münz/Rainer Ohliger (Hg.), Diasporas and Ethnic Migrants: Germany, Israel, and post-Soviet Successor States in Comparative Perspective, London/Portland 2003, S. 112–127. 24 Stola, Kraj bez wyjścia, S. 81, mit Verweis u.a. auf Maɫgorzata Ruchniewicz, Repatriacja ludności polskiej z ZSRR w latach 1955–1959 [Die Repatriierung der polnischen Bevölkerung aus der UdSSR in den Jahren 1955–1959], Warschau 2000. 25 Siehe Jannis Panagiotidis, What is the German’s Fatherland? The GDR and the Resettlement of Ethnic Germans from Socialist Countries (1949–1989), in: East European Politics & Societies and Cultures 29. 2015, S. 120-146. 26 Zu dieser ethnischen ›Repatriierung‹ der Jahre 1946/47 siehe beispielsweise die historischanthropologische Studie von Susan Pattie, From the Centers to the Periphery: ›Repatriation‹ to an Armenian Homeland in the Twentieth Century, in: Fran Markowitz/Anders H. Stefansson (Hg.), Homecomings. Unsettling Paths of Return, Lanham 2004, S. 109–124.

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humanitären Akteur in der Aussiedlermigration. In den folgenden Jahrzehnten erfüllte der Suchdienst eine wichtige Funktion als Vermittler zwischen den ausreisewilligen Personen in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa, ihren Verwandten im Westen und den staatlichen Institutionen auf beiden Seiten. Das DRK verhandelte mit den Rotkreuzgesellschaften der jeweiligen Länder im Osten Europas über die Ausreise von einzelnen Personen oder Gruppen, überreichte Listen mit angeforderten Personen und informierte die staatlichen Institutionen regelmäßig über den Stand der Aussiedlung. Das DRK war somit ein wichtiger Akteur, der Ost-West-Migration ermöglichte und zur Institutionalisierung des Migrationskanals beitrug. Allerdings erfüllte es keine eigenständige Kontrollfunktion und ist daher getrennt vom Übernahmeverfahren zu betrachten. Die politischen, konsularischen und diplomatischen Aspekte der Aussiedlung wurden vom Auswärtigen Amt behandelt, dessen Referate 505/V6 und 513 sich mit ›Deutschen im Ausland‹ befassten. Außerdem war das Auswärtige Amt verantwortlich für die deutschen diplomatischen Vertretungen in den sozialistischen Ostblockstaaten und in den benachbarten Transitländern. Es stellte zudem die Verbindung zu den alliierten Institutionen her, mit denen die Bundesrepublik zunächst häufig kooperieren musste. Da Westdeutschland vor 1972 bzw. 1973 keine diplomatischen Vertretungen mit konsularischen Befugnissen in Polen bzw. in der CSSR hatte, lief die offizielle Emigration aus diesen Ländern über die sogenannten alliierten ›Permit Offices‹ in Warschau und Prag. Anders war die Situation in Jugoslawien und in der Sowjetunion, wo bereits seit 1952 bzw. 1955 deutsche Botschaften und Konsulate bestanden.27 In diesen beiden Ländern konnte die Aussiedlung zum Teil über die Botschaften abgewickelt werden.

2.2 Das ›äußere Verfahren‹: Übernahme- und Registrierverfahren Die Bearbeitung der Übernahmeanträge und damit die eigentliche Immigrationskontrolle führte das Bundesverwaltungsamt (bzw. vor 1960 die Bundesstelle für Verwaltungsangelegenheiten) als ausführendes Organ des Bundesinnenministeriums in Kooperation mit Behörden auf lokaler und auf Länderebene durch. Die wichtigste Aufgabe war festzustellen, ob ein Antragsteller deutscher Staatsangehöriger oder zumindest deutscher ›Volkszugehöriger‹ war. Seit Mai 1956 fand dieser Anerkennungsprozess im Rahmen des sogenannten D1-Verfahrens statt, welches die zuvor existierenden Prozeduren systematisierte. Es war der ›erste Ring‹ der ethnisch kodierten Immigrationskontrolle.

|| 27 In Jugoslawien gab es auch nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen in Jahr 1957 eine Schutzmachtvertretung mit konsularischen Befugnissen in Belgrad sowie ein Generalkonsulat in Zagreb.

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Da Aussiedlung zunächst per definitionem Familienzusammenführung war, wurde das D1-Verfahren in der Regel durch die in der Bundesrepublik lebenden Verwandten initiiert, welche einen Übernahmeantrag bei der Vertriebenen- oder Ausländerbehörde an ihrem Wohnort einreichten. Aufgabe der lokalen Behörden war es festzustellen, ob hinreichende Anhaltspunkte für die deutsche Staatsangehörigkeit oder ›Volkszugehörigkeit‹ (gemäß § 6 BVFG) der zu übernehmenden Person vorlagen. Dazu erfragte das entsprechende Formular Informationen wie den Geburtsort, Staatsangehörigkeit bei Geburt und in der Gegenwart, ›Volkszugehörigkeit‹, Wohnort in den Jahren 1938, 1941 und 1944, im Falle von Sudetendeutschen auch den Wohnort am 10. Oktober 1938, Mitgliedschaft in Wehrmacht, Waffen-SS, Polizei, Reichsarbeitsdienst oder Organisation Todt sowie mögliche Kriegsgefangenschaft und Verwandtschaft in der Bundesrepublik Deutschland.28 In Jugoslawien konnten Aussiedler die Anträge auch selber in der bundesdeutschen Botschaft in Belgrad oder im Konsulat in Zagreb stellen, welche dann auch Teile der Ermittlungen übernehmen konnten. Die endgültige Entscheidung lag in jedem Fall beim Bundesinnenministerium beziehungsweise ab 1960 beim Bundesverwaltungsamt. Das Bundesverwaltungsamt führte auch das Registrierverfahren in den Grenzdurchgangslagern durch, in dem die relevanten Angaben zur deutschen Staatsbeziehungsweise ›Volkszugehörigkeit‹ erneut überprüft wurden. Nach erfolgreicher Registrierung kamen die Aussiedler an den vorgesehenen Wohnort, das heißt in der Regel zu ihren Verwandten.

2.3 Das ›innere Verfahren‹ Auch nach Durchlaufen des Übernahme- und des Registrierverfahrens war ein ostmittel-, südost- oder osteuropäischer Immigrant deutscher Herkunft noch immer nicht offiziell als ›deutscher Volkszugehöriger‹ und damit als Vertriebener beziehungsweise Aussiedler anerkannt. Dazu musste er oder sie erst einen Vertriebenenausweis bei einer lokalen Vertriebenenbehörde beantragen. Dieser Ausweis berechtigte zu den im BVFG vorgesehenen Sozialleistungen sowie zum unmittelbaren Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit. Erneut war deutsche ›Volkszugehörigkeit‹ gemäß § 6 BVFG das entscheidende Anerkennungskriterium. Die ›Vertreibung‹ wurde gewissermaßen vorausgesetzt – es galt die Annahme, dass die Ausreise von Deutschen aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa »im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen«, wie es später hieß, aufgrund von andauerndem »Vertreibungs-

|| 28 Anlage zu: Bundesinnenministerium (BMI) an die Herren Innenminister (-senatoren) der Länder, 22.5.1956, Bundesarchiv Koblenz (BArch K), B106/39937.

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druck« erfolgte.29 So blieb für die Behörden einzig festzustellen, ob ein Antragsteller auf Anerkennung als Vertriebener entweder schon deutscher Staatsangehöriger war (zum Beispiel als Bürger aus den abgetrennten Ostgebieten ›unter polnischer Verwaltung‹ oder als kollektiv eingebürgerter ›Volksdeutscher‹ etwa aus dem Sudetenland) oder die Kriterien der ›Volkszugehörigkeit‹ gemäß § 6 BVFG erfüllte. Anders als das im Bundesverwaltungsamt zentralisierte externe Übernahmeverfahren war das innere Verfahren dezentral. Jeder Einzelfall oblag der Entscheidungshoheit der örtlichen Flüchtlingsbehörden. Das war der Genese der Flüchtlingsverwaltungen geschuldet, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen Besatzungszonen entstanden. Mangels staatlicher Organisation auf höherer Ebene wurden diese Verwaltungsorgane außerhalb des regulären Verwaltungsapparates auf lokaler Ebene aufgebaut. 1948 wurden sie in die reguläre Verwaltung integriert, behielten aber ihre autonome Entscheidungsbefugnis bei. Den zentrifugalen Tendenzen dieses Konstrukts entgegen wirkte die Koordination der Anerkennungspraxis durch die Arbeitsgemeinschaft der Landesflüchtlingsverwaltungen (Argeflü), die 1951 gegründet wurde. Insbesondere ab den 1970er Jahren wurde die Argeflü zu einem wichtigen Diskussionsforum für die Koordination und Weiterentwicklung der Aussiedleraufnahme in der Bundesrepublik (siehe auch Abschnitt 6).

2.4 Heimatortskarteien, Heimatauskunftstellen und die zivilgesellschaftliche Komponente ethnischer Einwanderungskontrolle Bei der Identifikation von ›deutschen Volkszugehörigen‹ griffen die Flüchtlingsämter auf das institutionalisierte Wissen zweier nicht- beziehungsweise halbstaatlicher Institutionen zurück: die ›Heimatortskarteien‹ (HOK-en) und die ›Heimatauskunftstellen‹ (HASt-en). Die Heimatortskarteien wurden von den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas betrieben. Es handelte sich um Kartenindizes der Flüchtlingsbevölkerung, die die Wohlfahrtsverbände bereits ab 1945 zu erstellen begannen. 1948 wurden die ursprünglich alphabetischen Einträge nach Heimatorten reorganisiert, mit dem Ziel, jeden Ort des ›Vertreibungsgebiets‹ auf dem Papier »wieder so erstehen zu lassen, wie er vor Kriegsbeginn bestanden hatte«.30 Während die ursprüngliche Aufgabe der HOK-en war, Familien wieder zu vereinen und vermisste Personen ausfindig zu machen, entwickelten sie sich im Laufe der Zeit »zu

|| 29 Zu ›Aussiedlung im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen‹ als Vertreibungstatbestand siehe schon die Diskussion zum Entwurf des BVFG in Bundestag Heimatvertriebenenausschuss, Unterausschuss I, Bundesvertriebenengesetz, DS Nr. 2872, 26.11.1951, Bundestagsarchiv (3113). 30 HOK – 50 Jahre Kirchlicher Suchdienst: die Heimatortskarteien der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, München/Stuttgart 1996, S. 12.

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einer Art Einwohnermeldeamt für die Deutschen aus den Vertreibungsgebieten«. Die im Jahr 1995 insgesamt 20,3 Millionen Einträge zu Vertriebenen, Aussiedlern und in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa verbliebenen Deutschen ermöglichten es den HOK-en, der Flüchtlingsverwaltung bei der Identifikation von Aussiedlern als ›deutsche Volkszugehörige‹ beziehungsweise als ›Abkömmlinge von deutschen Volkszugehörigen‹ zu assistieren.31 Die Heimatauskunftstellen bildeten die zweite wichtige Informationsquelle für die Vertriebenenbehörden.32 Aufgabe der insgesamt 34 regional spezialisierten HASt-en war es ursprünglich, im Auftrag des Bundesausgleichsamtes Schadensfeststellungen für Entschädigungen nach dem Lastenausgleichsgesetz zu erstellen. Mit der Zeit wurden sie zunehmend auch für die Begutachtung der ›Volkszugehörigkeit‹ von Antragstellern auf Vertriebenenausweise in Anspruch genommen. Zu diesem Zwecke griffen die HASt-en auf Expertennetzwerke mit Kenntnissen der Herkunftsregionen der Aussiedler zurück, insbesondere auf ehemalige Beamte und andere Offizielle. Die Vermittlung solcher Experten übernahmen die Landsmannschaften der Vertriebenen, die auch häufig direkt das Personal stellten. Die Verquickung der Landsmannschaften mit den Heimatauskunftstellen fügte dem grundsätzlich staatlich dominierten Feld der ethnischen Einwanderungskontrolle eine bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Komponente hinzu. Über ihre institutionalisierte Rolle hinaus bemühten sich diese Verbände bei verschiedenen Gelegenheiten intensiv darum, eine Definitionshoheit darüber herzustellen, wer ›deutsch‹ sei und folglich als Vertriebener anerkannt werden dürfe. Darüber hinaus waren sie Träger eines Geschichtsbildes, das fortdauernde Aussiedlerimmigration über die eigentliche ›Erlebnisgeneration‹ hinaus legitimierte. Dieses Geschichtsbild wurde bei Bedarf durch intensive Lobbyarbeit an den Staatsapparat herangetragen. Das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden schwankte somit zwischen Kooperation und Dualismus, wie insbesondere die in den nächsten beiden Abschnitten entwickelten Fallstudien demonstrieren.

|| 31 Ebd., S. 24 und 26; siehe auch Kirchlicher Suchdienst, Heimatortskarteien der Kirchlichen Wohlfahrtsverbände, Exposé zu den Aufgaben der Heimatortskarteien in Vergangenheit und Zukunft (1958), BArch K, B136/9437. 32 25 Jahre Heimatauskunftstellen in Schleswig-Holstein, Kiel 1978; 20 Jahre Heimatauskunftstellen in Baden-Württemberg, Stuttgart [1973].

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3 Das ›äußere Verfahren‹ in der Praxis: Deutsche aus Jugoslawien Die erste Fallstudie befasst sich mit der Aussiedlung der Deutschen aus Jugoslawien, in ihrer Mehrzahl sogenannte Donauschwaben. Anhand dieses Falles lassen sich insbesondere drei Aspekte staatlichen Handelns im Bereich der Aussiedlermigration aufzeigen: Erstens fand staatliche Kontrolle des Zuwanderungsflusses über das bisher bekannte Maß hinaus statt, und zwar dann, wenn die Ausreise der Aussiedler aus ihrem Heimatland keinen besonderen Beschränkungen unterlag. Durch die Analyse der daraus resultierenden Praxis lässt sich zweitens demonstrieren, dass die ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ der Aussiedler keinesfalls eine gegebene Größe war, sondern die staatlichen Behörden sie erst durch ihre Interpretation von § 6 BVFG im konkreten Einzelfall produzierten. Schließlich lässt sich drittens das bisweilen dualistische Verhältnis staatlicher und zivilgesellschaftlicher Definitionsmacht im Bereich der ›Volkszugehörigkeit‹ verdeutlichen.

3.1 Wider den Mythos der ›offenen Tür‹ Lange herrschte in der Forschung die Auffassung vor, die behördliche Anerkennungspraxis gegenüber Aussiedlern sei während des Kalten Krieges durchgehend sehr großzügig gewesen und habe das Ziel verfolgt, die Tür für Deutsche aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa bedingungslos offen zu halten.33 Für diese Einschätzung gab es gute Gründe. Einer war der Fokus früherer Untersuchungen auf die Übernahmepraxis des äußeren Verfahrens bei gleichzeitiger restriktiver Ausreisepraxis der Herkunftsstaaten. Wie es der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ausdrückte, diente das Übernahmeverfahren dazu, den Antragstellern aus humanitären Gründen die Ausreise zu ermöglichen, ohne damit jedoch ihre tatsächliche Anerkennung als Vertriebene beziehungsweise Aussiedler zu präjudizieren.34 Angesichts des politischen Einsatzes der Bundesregierung für die Ausreisefreiheit der ›deutschen Volkszugehörigen‹ aus dem kommunistischen Osten Europas schien es wenig opportun, Antragstellern die Einreise zu verweigern und damit den Aussiedlungsprozess generell in Frage zu stellen. Ein weiterer Grund dürfte die Tatsache sein, dass ein Großteil der Aussiedler insbesondere während der 1950er und 1960er Jahre deutsche Staatsangehörige waren beziehungsweise in der Bundesrepublik als sol-

|| 33 Joppke, Selecting by Origin, S. 174. 34 Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Stuttgart, 6.11.1974, HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2552, Nr. 35.

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che galten und ihnen damit die Einreise und Anerkennung als Aussiedler gar nicht verweigert werden konnte.35 Die große Ausnahme waren die Deutschen aus Jugoslawien. Sie waren weder deutsche Staatsangehörige, noch unterlag ihre Ausreise besonderen Restriktionen. Anders als im Falle der sozialistischen Ostblockstaaten unterhielt die Bundesrepublik Deutschland ab 1951 diplomatische Beziehungen zu Titos blockfreiem Jugoslawien, welches nach dem Krieg die Angehörigen der deutschen Minderheit internierte, aber nicht wie die Tschechoslowakei oder Polen offiziell auswies, da es nicht vom Potsdamer Abkommen erfasst war. Ab 1951 gewährte das Land den verbliebenen ›Volksdeutschen‹ die Ausreise in einem relativ offenen und verlässlichen Verfahren. In Abwesenheit von durch die Blockkonfrontation bedingten Zwängen hatte die Bundesrepublik somit die Möglichkeit – und sah zugleich die Notwendigkeit – den Migrationsfluss von Aussiedlern aus Jugoslawien ihrerseits schärfer zu kontrollieren. Da die donauschwäbische ›Volksgruppe‹ während des Zweiten Weltkriegs nicht eingebürgert worden war und auch sonst keine rechtliche Verbindung zum Deutschen Reich hatte, konnte somit Antragstellern auf Übernahme ins Bundesgebiet die Einreise verweigert werden, wenn sie die Voraussetzungen nach § 6 BVFG nicht erfüllten. Nachdem allein in der ersten Hälfte der 1950er Jahre über 35.000 Aussiedler aus Jugoslawien in die Bundesrepublik kamen, machten die mit der Übernahme befassten Behörden zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch, schärfere Kontrollen durchzuführen. Diese wurden auch dadurch begünstigt, dass Antragsteller für ein Interview in die Botschaft in Belgrad oder das Konsulat in Zagreb vorgeladen werden konnten und sich die Überprüfung mithin nicht auf unter Umständen wenig aussagekräftige Papiere beschränken musste.

3.2 Die Praxis der ethnischen Anerkennung Ein erstes Ziel ethnischer Einwanderungskontrolle in den 1950er Jahren waren sogenannte ›Mischehen‹. In mehreren dokumentierten Fällen wurde ethnisch gemischten Familien beziehungsweise Ehepaaren die Einreise verweigert.36 In allen diesen Fällen war es die Frau, die angab, deutsch zu sein. Die Eheschließung mit einem nichtdeutschen Partner wurde in solchen Fällen von den Anerkennungsbehörden als ›Gegenbekenntnis‹ ausgelegt. Dieser augenscheinliche ›gender bias‹ ist

|| 35 Deutsche Staatsangehörige waren vor allem die sogenannten Autochthonen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die nach dem Krieg zunächst als Polen ›verifiziert‹ worden waren, sowie die ›Reichsdeutschen‹ aus dem sowjetischen Ostpreußen. Als deutsche Staatsangehörige galten seit dem sogenannten Czastka-Urteil von 1952 auch die kollektiv eingebürgerten Sudetendeutschen sowie andere Gruppen von ›Volksdeutschen‹, die von ihren Heimatstaaten nicht als Staatsbürger in Anspruch genommen wurden (siehe dazu auch Abschnitt 5). 36 Z.B. HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 81.

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wohl damit zu erklären, dass in Anlehnung an das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht davon ausgegangen wurde, dass die Nationalität des Mannes automatisch über die der Frau dominierte.37 Dies ging so weit, dass manchen Frauen die Einreise erst dann gestattet wurde, nachdem sie sich von ihren nicht-deutschen Partnern hatten scheiden lassen.38 Ab Juli 1959 änderte sich diese Praxis auf Geheiß des Bundesinnenministeriums. Nunmehr sollte im Falle von ›Mischehen‹ untersucht werden, welcher der Ehepartner den »volkstumsmäßig bestimmenden Einfluss« ausübte. Von einem »Überwiegen des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum« sei dann auszugehen, wenn in der Familie Deutsch gesprochen werde, die Kinder »typisch deutsche Vornamen« trugen, die Kinder deutsch erzogen wurden und die Familie zudem den »Umgang mit deutschen Staats- oder Volkszugehörigen« pflegte: »Bei volkstumsmäßig gemischten Ehen ist besonders sorgfältig zu prüfen, ob sich das deutsche Volkstum in der Familie durchgesetzt hat. Auf Beteiligung der Landesflüchtlingsverwaltungen, Anhören der Landsmannschaften usw. wird daher regelmäßig nicht verzichtet werden können.«39 Vor diesem Hintergrund rückte in der Folge die Dominanz des ›deutschen Volkstums‹ in den Mittelpunkt der Überprüfung von gemischten Familien. In der Praxis lief dies oft auf einen faktischen familiären Sprachtest hinaus. So wurde etwa Josef K., einem 1927 geborenen ›Volksdeutschen‹ aus Sokolovac in Kroatien, die Einreise verweigert, weil seine Frau kein Deutsch sprach und die Kinder slawische Vornamen hatten.40 Im Fall von Emil S. aus Vukovar nützten auch die ›typisch deutschen‹ Vornamen seiner Söhne – Emmerich, Josef und Karl – nichts, da das ›kroatische Volkstum‹ seiner Frau Jelka nach Meinung des Bundesverwaltungsamtes überwog.41 Der einer ungarisch-deutschen Mischehe entstammende und in seinem jugoslawischen Pass als ethnischer Ungar registrierte Stefan V. aus dem serbischen Crvenka hingegen durfte einreisen, obwohl er den ungarischen Nachnamen seines Vaters trug und seinem Sohn den typisch ungarischen Namen Tibor gegeben hatte. Da er und seine Kinder jedoch gut Deutsch sprachen und laut Botschaft »einen sehr guten Eindruck machten«, wurden sie trotzdem übernommen.42 In wieder anderen Fällen wurde Familien, in denen das ›deutsche Volkstum‹ nicht überwog, geraten, einen

|| 37 Bis 1953 sah das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) vor, dass eine deutsche Frau bei Eheschließung mit einem Ausländer automatisch ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlor, während eine ausländische Frau, die einen Deutschen heiratete, Deutsche wurde. Diese Regel wurde hier vermutlich auf die Begutachtung der deutschen Volkszugehörigkeit übertragen. 38 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 108, 111 und 114. 39 Alle Zitate aus BMI an die Bundesstelle für Verwaltungsangelegenheiten (BSVA) des BMI, Köln, 11.7.1959, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), B85 938. 40 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 299. 41 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 294. 42 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 306.

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erneuten Antrag stellen, sobald sich dies geändert habe. Dies funktionierte zum Beispiel für eine ungarisch-deutsche Familie, deren Übernahmeantrag im April 1959 abgelehnt, im Juni 1961 aber angenommen wurde, da der ungarische Ehemann sich inzwischen bemüht habe, »im deutschen Volkstum aufzugehen« und die Tochter »deutsch erzogen« werde.43 Andere durften sogar mit dem Vertrauensvorschuss einreisen, »dass sich das deutsche Volkstum in naher Zukunft in der Familie durchsetzen« werde.44 Im Zweifelsfalle konnten soziale Faktoren, wie die Verfügbarkeit von Wohnraum, den Ausschlag für oder gegen die Übernahme geben. Auch politische Faktoren spielten in der Übernahmepraxis eine Rolle. Am deutlichsten wurde dies im Falle des kroatischen Dorfes Blagorodovac. Im Jahr 1959 erfuhr das Generalkonsulat in Zagreb, dass die – ethnisch deutschen – Bewohner dieses Dorfes im Zweiten Weltkrieg für die jugoslawischen Partisanen gekämpft hatten.45 Aus diesem Grund hätten sie, anders als die anderen Deutschen aus Jugoslawien, nach dem Krieg keine Verfolgung erlitten. Wie das Generalkonsulat im März 1961 mitteilte, könne »bei einer Unterstützung der Partisanen, aus welchen Gründen und in welcher Form auch immer, […] wohl von einem Bekenntnis zum deutschen Volkstum wirklich nicht mehr gesprochen werden. Es wird daher vorgeschlagen, sämtliche Übersiedlungsanträge aus Blagorodovac abzulehnen, soweit nicht ausnahmsweise nachgewiesen wird, dass der Antragsteller nicht mit den Partisanen zusammengearbeitet hat oder haben kann.«46

Auch wenn aus den Quellen nicht ersichtlich ist, inwieweit dieser politisch motivierte Ausschluss durchgesetzt wurde, zeigt der Vorfall doch, dass aus der antikommunistischen Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gespeiste Erwägungen die Praxis der Aussiedleraufnahme beeinflussen konnten.

3.3 Staatliche Definitionsmacht versus Definitionsansprüche der Landsmannschaften Die hier geschilderten Fälle zeigen sehr deutlich, dass die ›Volkszugehörigkeit‹ der Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland ein Produkt staatlicher Definitionsmacht war. Dies wurde im Übrigen auch von der zeitgenössischen Rechtslehre so gesehen, welche betonte, dass ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ nach dem BVFG keine »ethnologische« Eigenschaft sei, sondern »einen Rechtsbegriff für die spezifischen

|| 43 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 228. 44 HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2257, Nr. 256. 45 BSVA an BMI, 30.11.1959, PA AA, B85 938. 46 Konsulat der Bundesrepublik Deutschland, Zagreb an das Auswärtige Amt (AA), 16.3.1961, PA AA, B85 938.

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Zwecke des BVFG« darstelle.47 Allerdings war diese Definitionsmacht nicht unumstritten. Am Fall der Jugoslawiendeutschen lässt sich ebenfalls zeigen, wie sich bestimmte Vertriebenenverbände bemühten, ihrerseits Definitionshoheit zu beanspruchen und dabei mitzuentscheiden, wer als Aussiedler anerkannt wurde und wer nicht. Wie die oben zitierte Anweisung des Bundesinnenministeriums vom Juli 1959 verdeutlicht, war ihre Beteiligung am Entscheidungsprozess, insbesondere als Expertenstimme in Zweifelsfällen, durchaus vorgesehen. Manch ein Landsmannschaftsfunktionär hatte aber mehr im Sinn. So kontaktierte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien, Florian Krämer, im Februar 1969 das Bundesinnenministerium, um sich über die vorherrschende Anerkennungspraxis mit ihrer starken Betonung der Sprachkenntnis der Antragsteller zu beklagen. Diese führe zur Ablehnung von Kandidaten, die nur aufgrund der schwierigen Umstände in Jugoslawien kein Deutsch sprächen. Krämers Sorge galt aber vor allem solchen Fällen, in denen Kandidaten angenommen wurden, ohne dass die Landsmannschaft bei der Entscheidung hatte mitreden dürfen: »Jetzt, nachdem die Bewerber daheim Hab und Gut verkauft hatten und alle Beziehungen zur alten Heimat lösten, konnten und können wir nicht mehr Stellung nehmen. Was soll mit einem Bewerber geschehen, der von uns eventuell abgelehnt würde? Nach erfolgter Einreise ins Bundesgebiet wäre es unverantwortlich, den Bewerbern Schwierigkeiten zu bereiten. Es muss ein Weg gefunden werden, der fertigen Tatsachen vorbeugt.«48

Und Krämer hatte auch schon eine genaue Vorstellung von diesem Weg: Die »Heimatortsarbeitskreise«, die bei »unseren Heimatauskunftstellen« gebildet worden seien, sollten alle Fälle begutachten, wobei die endgültige Entscheidung immer noch beim BVA liege. »Auf diese Weise könnte man zuverlässige Ergebnisse erzielen. Klar ist, dass damit den HASten eine Mehrbelastung und bedeutend höhere Unkosten entstehen. Diese Unkosten müssten im Etat eine Deckung finden. Immer noch wäre dieses Verfahren bedeutend billiger, als wenn man Unwürdige, Nichtdeutsche, Agenten ins Bundesgebiet bekommt, die von den Steuergeldern finanziert werden […]. Die HASt-en müssten mit geeignetem Personal ergänzt werden.«

An dieser Stelle wird deutlich, dass es Krämers Ziel war, die Vorstellung der Landsmannschaft darüber, wer deutsch sei, im administrativen Verfahren durchzusetzen. Das Innenministerium war von diesem Versuch, dem Staat seine Deutungshoheit streitig zu machen, jedoch wenig beeindruckt. In seiner Antwort an Krämer verteidigte Referent Dr. Heuer aus dem Bundesinnenministerium die vorherrschende || 47 Strassmann-Nitsche. Bundesvertriebenengesetz, S. 38. Rogers Brubakers gegenteiliger Behauptung in Brubaker/Kim, Transborder Membership Politics, S. 38, ist somit entschieden zu widersprechen. 48 Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien, Landesverband Bayern e.V. an das BMI über das Bayerische Staatsministerium des Innern (BSMI), 18.2.1969, BArch K, B106/39940.

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Anerkennungspraxis einschließlich der Bezugnahme auf die Sprachkenntnis als Indiz für ein Bekenntnis und stellte fest: »Wer sich einem fremden Volkstum assimiliert hat, ist trotz deutscher Abstammung kein deutscher Volkszugehöriger.«49 Die staatliche Bürokratie war zu diesem Zeitpunkt also nicht gewillt, ihre Definitionshoheit im Feld der ›Volkszugehörigkeit‹ über das unbedingt erforderliche Maß hinaus an die Heimatauskunftstellen und damit die Vertriebenenverbände abzugeben. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, blieb die Rolle und Definitionsmacht der Heimatauskunftstellen auch in der Folgezeit umstritten.

4 Das ›innere Verfahren‹ in der Praxis: jüdische Zuwanderer aus Osteuropa An der folgenden Fallstudie über jüdische Antragsteller, die eine Anerkennung als Aussiedler beantragten, lassen sich Kooperation und Dualismus staatlicher und nicht-staatlicher Akteure im Bereich der Identifikation ›deutscher Volkszugehöriger‹ im inneren Verfahren noch deutlicher illustrieren. Zudem lässt sich zeigen, wie verschiedene Lobbygruppen miteinander konkurrierten, um ihre jeweilige Konzeption in die staatliche Anerkennungspraxis einzubringen und durchzusetzen. Objekt dieser konkurrierenden Definitionen waren osteuropäische Juden, die ab den 1950er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland immigrierten.50 In Abwesenheit eines regulären Einwanderungsrechts war die Anerkennung als Aussiedler die vielversprechendste Möglichkeit für sie, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erlangen und obendrein noch Eingliederungshilfen und Rentenzahlungen zu beziehen. Die betroffenen Personen stammten in ihrer Mehrzahl zunächst aus Rumänien und Polen sowie aus der Tschechoslowakei und Ungarn. Ab den 1970er Jahren kamen sie überwiegend aus der Sowjetunion. In vielen Fällen emigrierten sie aus ihren Heimatländern zunächst nach Israel, um dann von dort aus in die Bundesrepublik weiterzureisen. Zwischen 1955 und 1985 kamen so ca. 40.000 jüdische Zuwanderer nach Westdeutschland.51 Ihre Eigenschaft als ›deutsche Volkszugehörige‹ versuchten diese Antragsteller in der Regel durch ihre Kenntnis der deutschen Sprache glaubhaft zu machen. Wie || 49 BMI an die Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien, Landesverband Bayern e.V., 7.5.1969, BArch K, B106/39940. 50 Für eine ausführliche Analyse dieses Falles siehe: Jannis Panagiotidis, ›The Oberkreisdirektor decides who is a German‹: Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, 1953–1990, in: Geschichte und Gesellschaft, 38. 2012, S. 503–533. 51 Karin Weiss, Between Integration and Exclusion: Jewish Immigrants from the Former Soviet Union in Germany, in: Mike Dennis/Eva Kolinsky (Hg.), United and Divided: Germany since 1990, New York 2004, S. 176–194, hier S. 183.

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bereits gesehen, war Sprachkenntnis im Fall der Deutschen aus Jugoslawien tatsächlich häufig das entscheidende Kriterium. Die Anerkennung jüdischer Immigranten blieb in der administrativen Praxis jedoch stets umstritten. Den Hintergrund bildete das juristische Postulat, wonach das vom Bundesvertriebenengesetz geforderte ›Bekenntnis zum deutschen Volkstum‹ exklusiv sein musste, da sich niemand »zugleich zu zwei Volkstümern bekennen« könne.52 Da Personen ›mosaischen Glaubens‹ (so die offizielle Sprachregelung) aus Gebieten mit einer separaten jüdischen Minderheit (etwa Galizien oder Rumänien) unterstellt wurde, sich regelmäßig zum ›jüdischen Volkstum‹ bekannt zu haben, war die Anerkennung von Juden als deutsche Vertriebene eine immer wieder neu zu begründende Ausnahme.53 Trotzdem gelang es in den 1960er und 1970er Jahren etlichen osteuropäischen Juden, Vertriebenenausweise zu erhalten, was in Städten wie Mannheim und Offenbach, wo sich Zuwanderer in größerer Zahl niedergelassen hatten, zu behördlichen Nachprüfungen, Einziehungsverfahren und sogar staatsanwaltlichen Ermittlungen führte.

4.1 Zivilgesellschaftlicher Streit um Definitionsmacht Unterstützt wurden jüdische Antragsteller vom 1962 in Frankfurt gegründeten ›Verband der jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge‹ (Flüchtlingsverband). Die Verwendung des ideologisch aufgeladenen Begriffs ›Heimatvertriebene‹ war dabei kein Zufall, war es doch Ziel der Vereinigung, die Gleichstellung der jüdischen Zuwanderer mit den übrigen ›volksdeutschen‹ Vertriebenen und Aussiedlern zu erreichen. Ähnlich wie die jugoslawiendeutsche Landsmannschaft setzten die Verbandsrepräsentanten dabei bewusst auf die direkte Intervention bei den Flüchtlingsbehörden, um für die Interessen ihrer Klientel Gehör zu finden.54 Man wollte »eine Art Hupka oder Czaja […] für Juden« sein, wie es der Vorstand viele Jahre später in seinem Tätigkeitsbericht ausdrückte.55 Dies beinhaltete Überlegungen, eine Heimatauskunftstelle für jüdische Antragsteller zu schaffen, die, wie es das Vorstandsmitglied Hans Meyer 1973 ausdrückte, Gutachten erstatten sollte, »die der Zeitgeschichte gerecht werden«.56 Der Zeitgeschichte nicht gerecht wurden nach Ansicht des Flüchtlingsverbands und mit ihm kooperierender Rechtsanwälte etwa die Gutachten der Heimatauskunftstelle Rumänien, dem Herkunftsland vieler jüdischer Immigranten. Diese ver-

|| 52 Strassmann-Nitsche. Bundesvertriebenengesetz, S. 37. 53 Ebd., S. 40. 54 Generalversammlung, 28.3.1965, Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (Zentralarchiv) B.1/17, Nr. 16. 55 Tätigkeitsbericht des Vorstands, 11.1.1987, Zentralarchiv B.1/17, Nr. 8. Herbert Hupka war Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Czaja des Bundes der Vertriebenen. 56 Hans Meyer, Oh, Du liebe Heimat(auskunftstelle), in: Unsere Stimme, 1973, Nr. 5, S. 5f.

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neinte regelmäßig die Zugehörigkeit einzelner Antragsteller zum ›deutschen Volkstum‹ ausgehend von der Überlegung, dass sich die übergroße Mehrzahl der ›Personen mosaischen Glaubens‹ in Rumänien auch zum ›jüdischen Volkstum‹ bekannt habe. In einem Schreiben an das Bundesinnenministerium äußerte der mit Fällen jüdischer Antragsteller in Mannheim befasste Rechtsanwalt Hano Ramge zudem den Verdacht, dass die Heimatauskunftstellen mit ehemaligen Volkstumsaktivisten durchsetzt seien, die traditionell ein problematisches Verhältnis zu den Juden in ihrem Heimatland gehabt hätten.57 Tatsächlich finden sich in der Argumentation des ebenfalls mit dem MannheimFall befassten Regierungspräsidiums Nordbaden bemerkenswerte Elemente völkischen Denkens. Um den Entzug des Vertriebenenausweises eines gewissen Isidor B. aus dem rumänischen Iaşi zu rechtfertigen, argumentierte der verantwortliche Beamte mit »einem gewissen Eigenleben« der »völkischen Gemeinschaften« in Südosteuropa. Diese »natürliche Zuordnung« sei nur in Ausnahmefällen und aus triftigen Gründen zu ändern gewesen. Im konkreten Fall habe der Antragsteller, obwohl deutschsprachig, in seiner »jüdischen Volksgemeinschaft« gelebt und keinerlei Anhaltspunkte dafür geliefert, dass er sich von »seiner« jüdischen Gemeinschaft abgewendet habe, der er »von Geburt an zugeordnet« gewesen sei.58

4.2 Stärkung der staatlichen Definitionshoheit Solche völkischen, auf Ausschluss jüdischer Antragsteller ausgerichteten Argumentationsmuster blieben nicht unwidersprochen. Zwar kam es nie zur Schaffung einer jüdischen Heimatauskunftstelle. Ende der 1970er bemühte sich die Arbeitsgemeinschaft der Landesflüchtlingsverwaltungen (Argeflü) aber erstmalig um eine Systematisierung der Anerkennungspraxis nach § 6 BVFG. Ergebnis waren die ›Volkszugehörigkeitsrichtlinien‹ vom Februar 1980, die sich gegenüber ›Antragstellern mosaischen Glaubens‹ insgesamt sehr großzügig zeigten. Dem vorausgegangen war eine Reihe von spektakulären Fällen polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gegen jüdische Aussiedler, die sich ihre Vertriebenenausweise vermeintlich betrügerisch erschlichen hatten. Besonders die Vorfälle in der Stadt Offenbach sorgten für heftige Proteste durch den Flüchtlingsverband, der sich durch die behördlichen Ermittlungsmethoden an die »Zeiten der Naziverfolgung« erinnert sah.59 Die großzügigen Regelungen der neuen Richtlinien müssen als Reaktion auf || 57 RAe. Gericke, Miess und Ramge an das BMI, Abteilung Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten, 8.1.1970, HStA Stuttgart, EA 12/201, AZ 2552, Nr. 14. 58 Regierungspräsidium (RP) Nordbaden an Herrn Oberbürgermeister Dr. Reschke, Mannheim, 25.8.1970, HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2552, Nr. 14. 59 Schreiben des Flüchtlingsverbandes (gez. Der Vorsitzende Hans Meyer) an den FDP-Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Otto Wilke, 2.8.1977, Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34.

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diese Ereignisse interpretiert werden und geschahen in Abstimmung mit jüdischen Organisationen. Nunmehr sollte weder eine zionistische Vergangenheit, noch die Ausreise aus dem Heimatland nach Israel vor der Einreise nach Deutschland, noch die Tatsache, dass man nach 1945 keinen Verfolgungen ausgesetzt gewesen war, gegen eine Anerkennung als Deutscher sprechen. Darüber hinaus wurde die Rolle der Heimatauskunftstellen im Anerkennungsprozess offiziell beschränkt und ihre Gutachten als nicht bindend für die Flüchtlingsbehörden definiert. Die Definitionshoheit der staatlichen Institutionen wurde somit gestärkt.

4.3 Triumph einer exklusiven Logik Ab Mitte der 1980er Jahre setzte jedoch ein erneuter Wandel ein. Ausgehend von einer Initiative des Auswärtigen Amtes beschloss die Argeflü im März 1987, dass zumindest im Falle von Aussiedlern aus der Sowjetunion, woher inzwischen die Mehrzahl der jüdischen Antragsteller stammte, die ethnischen Kategorien ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ prinzipiell inkompatibel seien.60 Dieser Beschluss ging von der Beobachtung aus, dass die sowjetische Nationalitätennomenklatur jeden Bürger des Landes eindeutig einer ethnischen Gruppe zuordnete und diese Zuordnung im Inlandspass fixierte. Wie die Botschaft in Moskau berichtete, ließen die sowjetischen Behörden nur Personen mit dem Eintrag ›deutsch‹ nach Deutschland reisen, während Personen mit dem Eintrag ›jüdisch‹ nach Israel geschickt wurden. Wenn also ein sowjetischer Emigrant aus Israel nach Deutschland käme, könne er, anders als von den Richtlinien stipuliert, nicht als Deutscher anerkannt werden.61 Die Initiative des Auswärtigen Amtes basierte weiterhin auf einem Gutachten der HASt Sowjetunion, welches die Bedeutung des sowjetischen Passeintrags hervorhob und eine Art ›Kollektivbiographie‹ für die ›deutsche Volksgruppe‹ in der Sowjetunion entwarf, die dem Kollektivschicksal der ›jüdischen Volksgruppe‹ gegenüber gestellt wurde. Das deutsche Geschichtsnarrativ bezog sich zentral auf die Deportation nach Kasachstan und Sibirien im Jahr 1941, die Verbannung bis 1955 und den nachfolgenden Kampf um Rehabilitierung und Ausreise. Die Juden hätten ihrerseits keine kollektive Verfolgung durch die Sowjets erlitten und unter »wesentlich anderen (besseren) Bedingungen gelebt«. Generell habe es keine jüdischen Russlanddeutschen gegeben, und auch keine deutschsprachigen Juden. Die HASt Sowjetunion stellte zusammenfassend fest: »Die Deutschen haben sich stets für jedermann erkennbar zum deutschen Volkstum bekannt und haben in ihren Personenstandsurkunden als Volkszugehörigkeit Deutscher eintragen lassen. Die Juden haben sich immer nur zum jüdischen Volkstum bekannt. In ihren Personen-

|| 60 Argeflü-Rechtsausschuss, Nürnberg, 19./20.3.1987, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 52. 61 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 8.1.1985, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2570-4, Nr. 8, Dok. 8, Anlage 1.

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standsurkunden haben sie sich als Juden eintragen lassen. Bei ihnen fehlt es am Bekenntnis zum deutschen Volkstum.«62

Durch Übernahme der Argumentationslinie von Auswärtigem Amt und HASt Sowjetunion gab der bundesdeutsche Staat – in diesem Fall repräsentiert durch die Argeflü – somit seine Definitionshoheit in zweifachem Sinne auf: Er überließ die Definition dessen, wer deutsch sei, zum einen den Behörden eines anderen Staats (der Sowjetunion) und zum anderen der Heimatauskunftstelle Sowjetunion, mithin der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Im Widerspruch zur ursprünglichen Interpretation von § 6 BVFG, gemäß der es »für die Anwendung des BVFG nicht darauf an[komme], ob der Betroffene im Vertreibungsgebiet von der dortigen Staatsgewalt als Deutscher angesehen wurde«, wurde die ethnische Klassifikation von Bürgern in der Sowjetunion in vollem Umfang in die deutsche Rechtssprache übertragen und die sowjetische ›nacional’nost‘‹ mit dem deutschen Begriff der ›Volkszugehörigkeit‹ identifiziert.63 Entsprechend wurde die sowjetische ›Vorsortierung‹, wer durch welchen ethnischen Migrationskanal migrieren durfte, als bindend akzeptiert. Die Bereitschaft zur Übernahme dieser fremden als eigene Kategorien erklärt sich unter anderem aus dem Wirken der HASt Sowjetunion, welche mit der Autorität der Expertin für sowjetische ›Volkstumsverhältnisse‹ die Möglichkeit jüdischer Deutscher beziehungsweise deutscher Juden aus der Sowjetunion wegdefinierte. Die Aufnahme der ›jüdischen Kontingentflüchtlinge‹ in den 1990er Jahren als separate ethnische Kategorie, welche ausschließlich durch sowjetischen Pass- beziehungsweise Dokumenteneintrag nachzuweisen war, bildete die logische Konsequenz dieser Konzeption.

5 Langzeitwirkungen staatlichen Handelns: die ›Deutsche Volksliste‹ Wie eingangs erwähnt, war der jahrzehntelange Aussiedlerzuzug auch das Resultat der langfristigen Auswirkungen staatlichen Handelns außerhalb des Politikfeldes Migration im engeren Sinne. Als Beispiel soll hier die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die Bewohner der während des Krieges annektierten Teile Polens durch die NS-Behörden sowie die nachträgliche Anerkennung dieser Einbürgerungen durch den bundesdeutschen Gesetzgeber diskutiert werden. In Kombination erzeugten diese Rechtsakte eine offensichtlich kaum antizipierte Wirkung, versahen sie im Laufe der folgenden Jahrzehnte doch hunderttausende Bewohner || 62 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 17.12.1985, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2570-4, Nr. 8, Dok. 8, Anlage 2. 63 Die ursprüngliche Interpretation findet sich in Strassmann-Nitsche. Bundesvertriebenengesetz, S. 35.

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Polens mit einem Rechtsanspruch auf Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland, von dem diese vor allem ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt Gebrauch machen konnten. Diese Pfadabhängigkeit staatlichen Handelns wurde erst in den späten 1980er Jahren endgültig durchbrochen – allerdings mit dem paradoxen Ergebnis, dass die bundesdeutschen Behörden strenger ethnisch selektierten als die nationalsozialistischen. Die Bewohner ›Deutschen oder artverwandten Blutes‹ der von NS-Deutschland annektierten Teile Polens (die ›Reichsgaue‹ Danzig-Westpreußen und Wartheland, das östliche Oberschlesien, sowie die Gebiete um Ciechanów/Zichenau und Dziaɫdowo/Soldau, die der Provinz Ostpreußen zugeschlagen wurden) waren während des Krieges in der ›Deutschen Volksliste‹ (DVL) registriert und klassifiziert worden. Dabei definierten die Besatzer vier Kategorien: DVL 1 und 2 waren ›volksdeutsche‹ Aktivisten aus der Zwischenkriegszeit sowie politisch passive Personen, die nach Ansicht der Behörden die deutsche Sprache und Kultur bewahrt hatten. Sie erhielten umstandslos die deutsche Staatsangehörigkeit. DVL 4 (›Renegaten‹) galten als ›deutschstämmig‹, deklarierten sich aber als Polen. Sie wurden Anwärter auf die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf. Die zahlenmäßig bedeutsamste Kategorie war aber DVL 3, die gemäß Definition ›Deutsche‹ mit starken Bindungen zum ›polnischen Volkstum‹ sowie die national nicht definierten Bewohner Oberschlesiens (›schwebendes Volkstum‹) enthielt. In Danzig-Westpreußen und Oberschlesien waren dies 731.000 (77 Prozent) beziehungsweise 994.000 (72 Prozent) aller registrierten Personen. Sie erhielten die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf.64 Das Erste Staatsangehörigkeitsregelungsgesetz von 1955 erkannte diese Einbürgerungen als rechtmäßig an. Wie oben erläutert, verband sich diese Entscheidung nicht mit zuwanderungspolitischen Erwägungen, sondern geschah vor allem mit Blick auf die Vertriebenen, die sich bereits in der Bundesrepublik befanden. Angesichts der Masse der in der ›Volksliste‹ Registrierten, von denen insbesondere die ›Autochthonen‹ aus Kategorie 3 nach dem Krieg als Polen ›verifiziert‹ und nicht vertrieben wurden, erstreckte sich die Gültigkeit der Einbürgerungen somit auch auf eine Vielzahl von Personen, die sich noch in Polen befand.65 Als deutsche Staatsangehörige hatten sie einen Rechtsanspruch auf Einreise in die Bundesrepublik. Gemäß den Regelungen des deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStAG) vererbten sie ihre Staatsbürgerschaft zudem auf ihre Nachkommen, was die Zahl der von der Bundesrepublik als eigene Staatsbürger betrachteten Bewohner Polens in den Nachkriegsjahrzehnten kontinuierlich wachsen ließ. Auch wenn kon-

|| 64 Siehe Gerhard Wolf, Deutsche Volksliste, in: Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 129–135. 65 Zur ›Verifizierung‹ der Autochthonen siehe z.B. Hugo Service, Reinterpreting the Expulsions of Germans from Poland, 1945–9, in: Journal of Contemporary History, 47. 2012, S. 528–550.

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krete Zahlen nicht verfügbar sind, ist davon auszugehen, dass ein bedeutsamer Teil der ca. 1,4 Millionen Aussiedler aus Polen bis Ende der 1980er Jahre von dieser Regelung profitierte. Das 1. StAngRegG enthielt jedoch eine terminologische Unschärfe. Zum Verständnis sei § 1, Abs. 1 des Gesetzes auszugsweise zitiert: »Die deutschen Volkszugehörigen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit auf Grund folgender Bestimmungen verliehen worden ist [u.a. die ›Deutsche Volksliste‹ in Polen] sind nach Maßgabe der genannten Bestimmungen deutsche Staatsangehörige geworden.«66 Diese Formulierung konnte man tautologisch verstehen: Wer durch die NSBehörden kollektiv eingebürgert wurde, war per definitionem ein ›deutscher Volkszugehöriger‹ und damit einbürgert. Alternativ konnte die Bestimmung aber auch so interpretiert werden, dass nur derjenige nach dem Krieg als deutscher Staatsbürger anerkannt wurde, der auch die Bedingungen von § 6 BVFG erfüllte. Anders formuliert: ein slawischsprachiger Bewohner Oberschlesiens, der von den nationalsozialistischen Behörden als ›deutsch genug‹ für Kategorie DVL 3 befunden worden war, der aber nach den Maßstäben von § 6 BVFG nicht als ›deutscher Volkszugehöriger‹ galt, hätte somit die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erworben. Ein zeitgenössischer Kommentar befürwortete die tautologische Lesart, da der Begriff des »›deutschen Volkszugehörigen‹ […] im Sinne der damaligen Bestimmungen zu verstehen« sei und es »allein auf den damals vergangenen Verwaltungsakt« ankomme.67 Der Kommentator, Oberregierungsrat Werner Hoffmann aus dem hessischen Innenministerium, war der Auffassung, dass dies »auch für fremde Volkszugehörige gelten« müsse, räumte aber ein, dass die Problematik nicht eindeutig geregelt sei. Zur Relativierung fügte er noch hinzu, dass »Fälle dieser Art […] wohl nur selten praktisch in Erscheinung treten« würden.68 Während letztere Einschätzung für die ›echten‹ Vertriebenen vermutlich zutraf, änderte sich die Situation vollständig durch die Aussiedlermigration der folgenden Jahrzehnte. Insbesondere Ende der 1980er Jahre, als sich die Zahl der Aussiedler aus Polen – und damit auch von Personen, die sich auf ihren Volkslisteneintrag oder den ihrer Eltern oder Großeltern bezogen – dramatisch erhöhte, befasste sich die Argeflü eingehend mit der Bindewirkung eines Volkslisteneintrags.69 Um den massenhaften und ungeregelten Zustrom von Aussiedlern aus dem Polen der späten 1980er Jahre begrenzen zu können, suchten die Länder nach Möglichkeiten, Neuankömmlinge von der Anerkennung als Aussiedler auszuschließen. Ansatzpunkt war || 66 Kommentar Hoffmann, S. 21. 67 Ebd., S. 22f. 68 Ebd., S. 25f. 69 Diese Frage war zuvor bereits im Kontext der verstärkten Zuwanderung der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aufgekommen. Damals war man aber dabei geblieben, die Einbürgerung gemäß DVL 3 weiterhin anzuerkennen; Argeflü-Rechtsausschuss, Oppenheim, 8./9.6.1978, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 13.

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die nicht-tautologische Lesart von § 1 StAngRegG: Wenn die Gültigkeit der Einbürgerung während des Krieges von der ›deutschen Volkszugehörigkeit‹ der registrierten Person im Sinne von § 6 BVFG abhing, dann mussten diese Kriterien von den gegenwärtigen Behörden nachgeprüft werden. Dies eröffnete die Möglichkeit, Antragsteller auf Anerkennung als Aussiedler abzulehnen – eine Möglichkeit, die bei deutschen Staatsangehörigen nicht bestand. Nach zeitgenössischen Schätzungen betraf dies bis zu 40 Prozent der aus Polen stammenden Antragsteller auf einen Vertriebenenausweis.70 Im April 1990 gab das bis dahin skeptische Bundesinnenministerium dem Druck der Länder nach und instruierte das Bundesverwaltungsamt, die ›Volkszugehörigkeit‹ von DVL 3-Registrierten zu prüfen.71 Mit der Einführung des obligatorischen schriftlichen Übernahmeverfahrens durch das Aussiedleraufnahmegesetz vom Juli 1990 endete der unkontrollierte Zustrom von Aussiedlern in die Gemeinden, womit die Bund-Länder-Konfrontation beigelegt wurde. Die Verneinung der Gültigkeit der DVL 3-Einbürgerungen enthielt ein bitteres Paradox. Einerseits signalisierte sie zwar die ›Emanzipation‹ der deutschen Aussiedlerpolitik von den Langzeitwirkungen der NS-Volkstumspolitik – nicht jeder, der von den Nationalsozialisten als ›deutsch‹ klassifiziert wurde, musste auch von den bundesdeutschen Behörden so gesehen werden. Neben der Möglichkeit, die Aussiedlerzahlen drastisch zu reduzieren, beendete dies auch die problematische Bezugnahme auf völkische Klassifikationsschemata der Vergangenheit. Dies bedeutete aber andererseits, dass die Behörden der Bundesrepublik gehalten waren, ethnisch selektiver zu handeln, als ihre nationalsozialistischen Vorgänger: Ein autochthoner Oberschlesier, der ›deutsch genug‹ war, um mit der Wehrmacht in den Krieg zu ziehen, war es nicht mehr, um in die Bundesrepublik der späten 1980er Jahre einwandern zu können. Letztlich überwog aber das Interesse, den Aussiedlerzuzug unter Kontrolle zu bringen, ohne die ›offene Tür‹ für Deutsche aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa komplett zu schließen. Innerhalb des weiterbestehenden ethnischen Bezugssystems konnte dies nur gelingen, indem man sich von den Zwängen der Spätfolgen der Rechtsakte NS-Deutschlands und der frühen Bundesrepublik emanzipierte, auch wenn dies bedeutete, strengere ›Volkstumsmaßstäbe‹ anzulegen, als die Besatzungsbehörden in Polen es taten.

|| 70 Südwestpresse, 9.1.1990, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2572, Nr. 50, Dok. 10. 71 Dies geht hervor aus Innenministerium Schleswig-Holstein an Bundesinnenminister Schäuble, 30.5.1990, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2572, Nr. 50, Dok. 22.

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6 Staatliche Weichenstellungen für eine fortdauernde Aussiedleraufnahme Wie am Anfang dieses Beitrags dargelegt, nahm das bundesdeutsche AussiedlerMigrationsregime seinen Anfang in einer grundsätzlich zeitlich limitierten, humanitär motivierten Familienzusammenführung nach der Massenvertreibung der Deutschen aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa. Dem entsprach eine Rechtslage, die die Aufnahme vertriebener ›Volksdeutscher‹ auch nach der eigentlichen Vertreibung ermöglichte, ohne dabei allerdings einen ausgedehnten Zeithorizont zu entwickeln. Somit ist es einerseits zutreffend, von der jahrzehntelangen Aussiedlermigration als ›unbeabsichtigter Folge‹ der ursprünglichen Gesetzgebung zu sprechen, wie es Rogers Brubaker getan hat.72 Andererseits wurde die fortdauernde Zuwanderung deutscher Aussiedler über die erste Generation der getrennten Familienangehörigen hinaus durch bestimmte staatliche Maßnahmen ermöglicht, die hier erläutert werden sollen. Diese Maßnahmen hatten freilich nicht den Zweck, ein dauerhaftes ethnisches Immigrationsregime nach Vorbild des israelischen Rückkehrgesetzes zu schaffen. Es handelte sich um gezielte Maßnahmen, um das Migrationsregime zu verstetigen und weitere Generationen von Migranten einzubeziehen. Diese Form von staatlicher Intervention in den Ost-West-Migrationsprozess war kurzfristig erfolgreich. Da sich die provisorisch konzipierte Rechtslage jedoch nicht änderte, führte sie mittelfristig zu einer Reproduktion derselben Probleme, die die ursprüngliche Intervention herbeigeführt hatten.

6.1 Die generationelle Erweiterung des ›äußeren Verfahrens‹ Anders als oft angenommen, war die fortdauernde privilegierte Aufnahme von Aussiedlern aus dem Ostblock auch während des Kalten Krieges nicht gänzlich unkontrovers.73 Innerhalb des Staatsapparates war ihre Fortsetzung Mitte der 1960er Jahre durchaus nicht unumstritten. Ursprünglich fokussierte sich die Kritik allein auf die Aussiedlung aus Jugoslawien, die, wie die seit 1957 mit westdeutschen Interessen befasste Schutzmachtvertretung in Belgrad schon 1963 bemängelte, zunehmend auch »ehemalige Volksdeutsche« umfasste, die durch die großzügige Anerkennungspraxis »geradezu angereizt« wurden, auszusiedeln, obwohl sie eigentlich in Jugoslawien voll integriert seien und meist nur wenig Deutsch sprächen.74 Ihre Aus|| 72 Brubaker/Kim, Transborder Membership Politics, S. 49. 73 Die unkontroverse Natur der Aussiedleraufnahme zu dieser Zeit wurde zuletzt behauptet ebd., S. 51. 74 Ambassade de France, Service de protection des intérêts allemands (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), Belgrad, an das Auswärtige Amt, 10.7.1963, BArch K, B106/39940.

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siedlung sei vor allem wirtschaftlich motiviert. Diese Kritikpunkte stießen auf eine gewisse Resonanz bei den übrigen involvierten Institutionen (Auswärtiges Amt, Bundesinnenministerium, Bundesverwaltungsamt), führte aber zu keiner nennenswerten Verschärfung der Praxis oder gar zur Beendigung der Aussiedlung aus Jugoslawien. Auf Länderebene tat sich zu derselben Zeit das Bayerische Staatsministerium des Innern als Kritiker der großzügigen Aussiedlungspraxis im Allgemeinen hervor. Für den Ministerialbeamten und Ausländerrechtsexperten Dr. Werner Kanein hatte die erleichterte Aufnahme von Aussiedlern etwa aus Polen, die für den Erhalt einer Übernahmegenehmigung nicht einmal Dokumente zum Nachweis ihres ›Deutschtums‹ vorlegen mussten, längst ihre Berechtigung verloren. Aus der Tatsache, dass Aussiedler zunehmend über Drittstaaten wie Österreich, Italien, Finnland oder Dänemark (das sogenannte ›freie Ausland‹) einreisten, folgerte Kanein, dass sich die Migrationssituation im Ostblock soweit normalisiert habe und eine privilegierte Behandlung dieser Migranten nicht mehr angebracht sei.75 Eine Verschärfung der Kontrollen und eine generelle Revision des Übernahmeverfahrens beziehungsweise seine Abschaffung seien angebracht. Tatsächlich diskutierten die mit Vertriebenenfragen befassten Ministerien der Länder und des Bundes in den Jahren 1967/68 darüber, wie das D1-Verfahren zu reformieren sei, um den neuen Entwicklungen gerecht zu werden. Kaneins radikaler Vorschlag, das reguläre Ausländerrecht zu nutzen, war nicht mehrheitsfähig und wurde vom Bundesinnenministerium grundsätzlich abgelehnt.76 Stattdessen rückte eine andere Frage in den Mittelpunkt: Wie sollten in Zukunft solche Personen behandelt werden, die als Deutsche in die Bundesrepublik aussiedeln wollten, aber bei Ende des Krieges noch minderjährig beziehungsweise noch gar nicht geboren waren? Mit anderen Worten: Wie konnte die Aussiedleraufnahme generationell erweitert werden? In solchen zunehmend häufiger vorkommenden Fällen lag das Problem darin, dass das Bekenntnis, das die Zugehörigkeit zum ›deutschen Volkstum‹ nach § 6 BVFG bestimmte, vor 1945 abgelegt sein musste. Dies war bei minderjährigen (›nicht bekenntnisfähigen‹) beziehungsweise nach dem Krieg geborenen Personen nicht möglich. Bereits seit dem Jahr 1966 diskutierten das Bundesinnenministerium und das Bundesvertriebenenministerium, wie man dieses Problem lösen könne. Der Vorschlag des Bundesinnenministeriums war, § 6 BVFG so zu ändern, dass die Nachkriegsgeneration nach dem Bekenntnis der Eltern beurteilt wurde.77 Das Bun-

|| 75 Dr. Kanein im BSMI an Dr. Reuscher im Bundesverwaltungsamt (BVA), 29.3.1965, BArch K, B106/39948; BSMI an BVA, nachrichtl. an das BMI und die Innenminister der Länder, 13.9.1965, HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2250, Nr. 309. 76 BMI an die Innenminister der Länder, 13.4.1967, HStA Stuttgart, EA 12/201, Az. 2250, Nr. 327. 77 BMI an BMVt, 29.12.1966, BArch K, B106/39937.

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desvertriebenenministerium wiederum bevorzugte eine Lösung, gemäß der das Aussiedlungsgesuch als solches ein ›Bekenntnis zum deutschen Volkstum‹ darstellen sollte. Dieser Vorschlag wurde dann auch als Punkt 5.4 in die neuen Richtlinien zum D1-Verfahren vom Juni 1968 übernommen. Eine Gesetzesänderung blieb aus.

6.2 Das ›innere Verfahren‹ und das ›vererbliche Bekenntnis‹ Durch die Reform des D1-Verfahrens war die ›äußere Tür‹ – das Übernahmeverfahren – für die Nachkriegsgeneration geöffnet worden. Die zugrunde liegende Logik war allerdings ein Zirkelschluss: Deutsch sei demnach, wer nach Deutschland aussiedeln wolle. Für die provisorische Prüfung im ›äußeren Verfahren‹ schien diese Definition auszureichen. Für das ›innere Verfahren‹ war sie jedoch unbefriedigend. Da eine Änderung des BVFG nach wie vor nicht zur Debatte stand, waren die mit der Anerkennung befasste Argeflü und das Bundesverwaltungsgericht gezwungen, nach Lösungen für die Praxis zu suchen. Die Argeflü diskutierte in den Jahren 1974 bis 1976 verschiedene Optionen, deren zentraler Vorschlag war, den ›Bekenntniszeitpunkt‹ in die Gegenwart zu verlegen. Somit wäre derjenige deutsch, der ›objektiv‹ ›deutscher Abstammung‹ sei und sich in seiner Heimat (aber nach dem Krieg) zum ›deutschen Volkstum‹ bekannt habe. Eine solche Regelung hätte den Charakter des Bundesvertriebenengesetzes grundsätzlich verändert: Aus dem Vertriebenengesetz wäre ein Aussiedlergesetz geworden, welches die Rechtskategorie des Aussiedlers vom historischen Ereignis der ›allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen‹ gelöst und damit die Möglichkeit eröffnet hätte, dass sich ›deutsche Volkszugehörige‹ in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa in die Zukunft reproduzieren. Das Bundesverwaltungsgericht schob diesen Überlegungen aber einen Riegel vor. In seinem Urteil zum Fall von Margit C., einer 1952 geborenen Aussiedlerin aus Ungarn, entschied es im November 1976, dass für die Einbeziehung der Nachkriegsgeneration das Elternbekenntnis entscheidend sein müsse – im Prinzip so, wie es das Bundesinnenministerium bereits 1966 vorgeschlagen hatte. Da sich in der Forschungsliteratur bestimmte Mythen um dieses Urteil ranken, lohnt es sich, die Urteilsbegründung genauer anzusehen: »Auch für sie [die Nachkriegsgeneration] gilt wegen des fortdauernden Prozesses der Überlieferung von der älteren auf die jüngere Generation, dass ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum, das Eltern oder der die Familie prägende Elternteil kurz vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen abgelegt haben, grundsätzlich auch den nachgeborenen Kindern, die auch von der Umgebung dem Volkstum der Eltern zugerechnet werden, zugute kommen muss. Der Familienverband vermittelt den Bekenntniszusammenhang. […] Die weitere Frage, ob eine entsprechende Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG […] auch für weitere Generation von Spätgeborenen in Betracht kommen kann, ist sehr zweifelhaft. Das Bundesvertriebenengesetz ist

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kein Aussiedler-, sondern ein Vertriebenengesetz, das auch die Aussiedler […] nur als Nachzügler der allgemeinen Vertreibung in einer bestimmten geschichtlichen Situation ansieht.«78

Für Christian Joppke war dieses Urteil der Ursprung des »merkwürdigen Konstrukts des vererblichen Bekenntnisses«.79 Für den Soziologen Karl Otto stellte es »eine neue Variante der Abstammungslehre« dar, da sich das Bekenntnis »wie ein genetischer Code« vererbe.80 Dem ist entgegenzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht in keiner Weise biologisch argumentierte, wie es die Formulierung ›genetischer Code‹ nahelegt, sondern explizit im Sinne einer gesellschaftlich bedingten Identifikation der nach dem Krieg geborenen Kinder mit ihren Eltern, die sich vor dem Krieg als deutsch bekannt hatten. Eingedenk der vielfältigen Berichte etwa von Russlanddeutschen der Nachkriegsgeneration, wonach sie von ihrem Umfeld als ›Faschisten‹ beschimpft wurden, obwohl sie zum Teil gar kein Deutsch mehr sprachen, gewinnt diese Argumentation an Plausibilität und lässt das ›vererbliche Bekenntnis‹ weniger ›merkwürdig‹ erscheinen.81 Das ›Deutschtum‹ der Nachkriegsgeneration wäre somit weniger ein aktives Bekenntnis denn ein elterlich ›vererbtes‹ Stigma. Zudem ist es bedeutsam, dass das Bundesverwaltungsgericht diese Annahme ausdrücklich auf die erste Nachkriegsgeneration beschränkte, da für die weiteren Generationen der ›Bekenntniszusammenhang‹ nicht mehr unterstellt werden könne. Aussiedlung sollte an den historischen Bezugspunkt der Vertreibung nach 1945 gekoppelt bleiben und nicht ad infinitum in die Zukunft verlängert werden.

6.3 Die ›Vertreibungsdruckrichtlinien‹ und die Suche des Staates nach Kontrollinstrumenten Faktisch blieb es aber nicht bei der Beschränkung auf die erste Nachkriegsgeneration. Die staatliche Aussiedlerpolitik erzeugte auch deshalb Widersprüche und unbeabsichtigte Ergebnisse, weil Politik, Justiz und Verwaltung nicht immer koordiniert vorgingen. Die sozialliberale Bundesregierung trat im Rahmen ihrer neuen Ostpolitik recht erfolgreich für die erleichterte Ausreise von Deutschen aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa ein. Von 1976 bis zur Verhängung des Kriegsrechts 1981 immigrierten über 210.000 Aussiedler aus Polen und knapp über 40.000 aus der Sowjet|| 78 BVerwG VIII C 92.75, 10.11.1976, in: Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE), Bd. 51, S. 298-310, hier S. 305 und 309. 79 Joppke, Selecting by Origin, S. 186. 80 Otto, Aussiedler und Aussiedler-Politik, S. 49. 81 Siehe beispielsweise Christiane Sell-Greiser, Aus- und Übersiedler in der Bundesrepublik Deutschland. Determinanten ihres Ausreiseprozesses und ihrer lebensweltlichen Strukturen, Münster 1993, S. 43. In lebensgeschichtlichen Erzählungen kontrastieren russlanddeutsche Aussiedler diese Beschimpfung als ›Faschisten‹ oft mit der entgegengesetzten Stigmatisierung in Deutschland als ›Russen‹.

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union. Hinzu kamen ab 1977 jährlich über 10.000 Aussiedler aus Rumänien, die von der Bundesregierung freigekauft wurden. Das Bundesverwaltungsgericht beharrte aber gleichzeitig auf dem Standpunkt, dass nur die erste nachgeborene Generation als Aussiedler anerkannt werden könne. Die Verwaltung musste wiederum auf das tatsächliche Migrationsgeschehen reagieren, das sich nicht an die juristischen Vorgaben hielt. Insbesondere wenn mehrere Generationen einer Familie aussiedelten, blieb oft nur die Möglichkeit, weitere Generationen in die Regelungen des BVFG einzubeziehen, um befriedigende Ergebnisse zu erzielen. In diesem Kontext bemühte sich die Argeflü, Kontrollinstrumente zu entwikkeln, die das Anerkennungsverfahren den neuen Gegebenheiten anpassten, ohne es grundsätzlich zu verändern. Der Ansatzpunkt war, gegebenenfalls zu untersuchen, ob ein Antragsteller, der als ›deutscher Volkszugehöriger‹ bezeichnet werden konnte, auch zwingend als Vertriebener zu betrachten sei – ob also ein Zusammenhang zwischen dem ›Deutschtum‹ der Person und ihrer Ausreise aus dem Heimatland bestand. Das Schlüsselwort lautete »Vertreibungsdruck«, der aus der »Vereinsamung«, »Entwurzelung« und dem »Fremdwerden in der alten Heimat« resultiere.82 In einem Urteil vom März 1977 hatte das Bundesverwaltungsgericht erstmals die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass jemand, der ›deutscher Volkszugehöriger‹ nach § 6 BVFG war, trotzdem nicht als Vertriebener anerkannt werden könnte. Dies sei dann der Fall, wenn die fragliche Person ihre Heimat nicht wegen ihres ›Deutschtums‹, sondern aus anderen, etwa politischen Gründen verlassen habe.83 Der Flüchtlingsverwaltung gab diese Konzeption die Möglichkeit, ›deutsche Volkszugehörige‹ nach Generationen zu differenzieren: Während ein ›Vertreibungsdruck‹ noch für die zweite Nachkriegsgeneration angenommen werden könne, sei dies in der dritten Generation nicht mehr der Fall, womit de facto eine letzte Aussiedlergeneration geschaffen worden wäre.84 Diese Kontrollmöglichkeit war gleichsam als ›Sicherheitsventil‹ gedacht, um die zweite Nachkriegsgeneration überhaupt in die Regelungen des BVFG einbeziehen zu können. Anders gesagt: Um dieser Generation den Vertreibungsdruck generell unterstellen zu können, musste es im Einzelfall möglich sein, diese Annahme zu widerlegen und Antragsteller von der Anerkennung auszuschließen.85 Die Einführung des Kriteriums des ›Vertreibungsdrucks‹ war somit zugleich restriktiv und expansiv: restriktiv, da es die Möglichkeit des Ausschlusses mancher Antragsteller vorsah, aber zugleich expansiv, da dies die Einbeziehung vieler weiterer Antragsteller ermöglichte. || 82 BVerwGE Bd. 51, S. 304. 83 BVerwG VIII C 58.76, 16.3.1977, in: BVerwGE Bd. 52, S. 167–178. 84 Argeflü-Rechtsausschuss, Saabrücken, 12.11.1981, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 28. 85 Arbeitsgruppe des Argeflü-Rechtsausschusses, Oberreifenberg, 11.–13.7.1983, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 39; Argeflü-Rechtsausschuss, Worms, 29.–30.9.1983, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 37.

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Zwischen 1983 und 1986 diskutierte die Argeflü über die Einführung von Richtlinien für die praktische Handhabung des Begriffes ›Vetreibungsdruck‹, um die widersprüchliche Praxis verschiedener Ämter zu systematisieren. Manche Flüchtlingsämter hatten das Urteil von 1977 zum Anlass genommen, nunmehr den Kausalzusammenhang zwischen ›Deutschtum‹ und Aussiedlung in jedem Fall zu prüfen, obwohl das Bundesverwaltungsgericht diese Möglichkeit nur ausnahmsweise und bei Vorliegen eindeutiger Anhaltspunkte vorgesehen hatte.86 Der erste Richtlinienentwurf startete daher mit dem Grundsatz, dass ›Vertreibungsdruck‹ generell anzunehmen sei und nur dann geprüft werde, wenn es einen entsprechenden Anfangsverdacht gebe.87 Dies blieb auch die allgemein akzeptierte Position aller beteiligten Institutionen.

6.4 Der Bund der Vertriebenen und der Kampf um historische Deutungshoheit Trotz dieser keinesfalls ›aussiedlerfeindlichen‹ Haltung der Flüchtlingsverwaltung entwickelte sich die Diskussion um die ›Vertreibungsdruckrichtlinien‹ zur letzten großen Konfrontation zwischen Vertriebenenverbänden und staatlichen Institutionen um die Definitionshoheit in Aussiedlerfragen. Der Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), Dr. Herbert Czaja, tat sich dabei als aggressiver Lobbyist hervor. Für ihn war die Einführung der Richtlinien ein Angriff auf die Vertriebeneneigenschaft der Aussiedler und letztlich auf privilegierte Aussiedlerimmigration im Allgemeinen. Czaja argumentierte auf rechtlicher, politischer und historischer Ebene gegen jegliche Veränderung des Status Quo des Vertriebenenrechts. Zentrale Punkte waren dabei die fehlende Basis einer Vertreibungsdruckprüfung im BVFG, die ungelöste deutsche Frage, sowie die seiner Meinung nach bedrückende Situation der Deutschen in den ostmittel-, südost- und osteuropäischen Ländern, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht substanziell verändert habe.88 Durch beständige Interventionen bei verschiedenen Ministerien gelang es dem BdV-Vorsitzenden tatsächlich, die endgültige Fassung der Richtlinien so zu verwässern, dass sie für die Vertriebenenverbände akzeptabel erschienen. So wurden etli-

|| 86 Arbeitsgruppe des Argeflü-Rechtsausschusses, Oberreifenberg, 11.–13.7.1983, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 39. 87 Arbeitsgruppe des Argeflü-Rechtsausschusses, Bonn, 21.–22.3.1983, HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2558, Nr. 38. 88 Siehe dazu die ausführliche Dokumentation in HStA Stuttgart, EA 2/811, Az. 2570-4, Nr. 13, beispielsweise die Schreiben von Dr. Czaja an Ministerialdirigent Stemmler im Innenministerium Baden-Württemberg am 10.8. und 26.10.1983 (Dok. 12 und 20), sowie an den Leitenden Ministerialrat für Soziales, Gesundheit und Umwelt in Rheinland-Pfalz, Herrn W. Franken, Mainz am 29.3.1984 (Dok. 35).

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che Tatbestände, die ursprünglich als Anhaltspunkte für eine Überprüfung aufgelistet wurden (zum Beispiel mangelnde Bemühungen um Auswanderung in der Vergangenheit oder eine überdurchschnittliche berufliche Karriere im Heimatland), in der Endfassung explizit als Anhaltspunkte ausgeschlossen. In der Substanz änderte dies freilich wenig, war es doch nie das Ziel der Flüchtlingsverwaltung gewesen, den ›Vertreibungsdruck‹ generell zu überprüfen und Aussiedlerimmigration insgesamt in Frage zu stellen. Die Bedeutung von Czajas Interventionen fand sich auf einer anderen Ebene. Ihm war es gelungen, sein zentrales historisches Argument durchzusetzen, dass die Situation der Deutschen in Osteuropa grundsätzlich unverändert sei. Betrachtet im Kontext der Zeit war diese Ansicht eine Fortsetzung des ›Schlesier-Mottos‹ mit anderen Mitteln. 1985 hatte die Landsmannschaft Schlesien mit ihrem Motto ›40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser‹ für Aufsehen gesorgt. Czajas fanatisches Insistieren, dass sich in den ›Vertreibungsgebieten‹ nichts geändert habe, brachte dieselbe Grundhaltung zum Ausdruck. Zugleich war die Aggressivität seiner Einlassungen jedoch ein Anzeichen dafür, dass sich die Vertriebenenverbände mit ihrem statischen Geschichtsbild zunehmend in der Defensive sahen. Zu viele Anzeichen sprachen dafür, dass sich die Verhältnisse in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa eben doch langsam änderten und von allgemeinem ›Vertreibungsdruck‹ nicht mehr die Rede sein konnte. So konnten aus Polen selbst nach Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski deutsche Aussiedler (so wie auch tausende andere polnische Bürger) relativ problemlos ausreisen.89 Die in Ungarn verbliebenen Deutschen hatten diese Möglichkeit schon länger, ohne von ihr massenhaft Gebrauch zu machen. Und selbst in der Sowjetunion kündigte sich mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Jahr 1985 ein neuer, liberalerer Kurs an, der sich ab 1987 auch in großzügigeren Ausreiserichtlinien niederschlug. Czajas Triumph bestand somit darin, die Fiktion einer unveränderten Situation in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa gegenüber der staatlichen Administration noch einmal machtvoll durchgesetzt und damit die ultimative Definitionsmacht der Vertriebenenverbände in Aussiedlerfragen untermauert zu haben. Mit der Einführung kompletter Ausreisefreiheit zunächst aus Polen und schließlich auch der Sowjetunion und der Ankunft hunderttausender Neuankömmlinge Ende der 1980er Jahre und darüber hinaus brach diese Fiktion allerdings endgültig in sich zusammen und ebnete den Weg für tiefgreifende Reformen des Vertriebenenrechts durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 und damit für das absehbare Ende der privilegierten Aussiedlerimmigration in die Bundesrepublik Deutschland.

|| 89 Ausführliche Zahlen zur offiziellen und inoffiziellen Ausreise aus Polen in diesem Zeitraum finden sich im statistischen Anhang zu Stola, Kraj bez Wyjscia, S. 478–490.

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7 Zusammenfassung Dieser Beitrag hat die Rolle von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren im Bereich der Aussiedlermigration in die Bundesrepublik Deutschland während des Kalten Krieges untersucht. Wie gezeigt, war der Migrationskanal, durch den Aussiedler aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa Westdeutschland erreichten, in hohem Maße staatlich reglementiert, sowohl durch die Herkunftsländer als auch durch das Zielland. Die Bundesrepublik kontrollierte den Aussiedlerzuzug in zwei separaten Verfahren – einem ›äußeren‹ und einem ›inneren‹ – und in bis zu drei Kontrolldurchgängen. Während der äußere ›Kontrollring‹ insbesondere dann recht durchlässig war, wenn die Migranten aus Ländern mit strengen Ausreisebegrenzungen stammten – beispielsweise aus der Sowjetunion – zeigt die Fallstudie zu Aussiedlern aus Jugoslawien, dass das äußere Verfahren zu einem echten Instrument der Einwanderungskontrolle wurde, wenn die Ausreise frei und berechenbar war. Hier wie auch in dem Abschnitt zu jüdischer Immigration aus Osteuropa wurde analysiert, wie staatliche Institutionen im auf dem Kriterium der ›deutschen Volkszugehörigkeit‹ basierenden Anerkennungsverfahren ›Ethnizität‹ produzierten. Insbesondere der Fall der jüdischen Aussiedler verdeutlicht, dass es sich dabei um eine ›Koproduktion‹ von staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie den Vertriebenenverbänden und dem jüdischen Flüchtlingsverband handelte. Je nach Situation ergänzten sich Staat und Zivilgesellschaft oder konkurrierten miteinander. Weiterhin hat dieser Beitrag gezeigt, dass die fortdauernde Aussiedlermigration während der Jahrzehnte des Kalten Krieges durch rechtliche und bürokratische Institutionen ermöglicht wurde, die ursprünglich mit dem Ziel geschaffen worden waren, die Nachkriegsvertriebenen zu integrieren beziehungsweise mit ihren in Osteuropa verbliebenen Familienangehörigen zu vereinigen. Aus dem mit begrenztem zeitlichen Horizont und außerhalb des Politikfeldes Migration kreierten Rechtskonstrukt des ›Aussiedlers‹ als ›Vertriebener nach der Vertreibung‹ entwickelte sich eine der zentralen Kategorien des bundesdeutschen Migrationsgeschehens bis Ende der 1980er Jahre und darüber hinaus. Das Fortbestehen dieses Arrangements war einerseits das Ergebnis der Pfadabhängigkeit staatlichen Handelns, etwa bei der nachträglichen Anerkennung der NS-Kollektiveinbürgerungen und den daraus resultierenden Rechtsansprüchen von Aussiedlern. Andererseits war es aber auch das Resultat bürokratischer und politischer Entscheidungen, die das ›Verfallsdatum‹ des Aussiedlermigrationsregimes wiederholt aufschoben. Auch dabei spielte der Einfluss der Vertriebenenverbände eine Rolle, wie die Intervention Herbert Czajas gegen die ›Vertreibungsdruckrichtlinien‹ zeigte. Erst das Ende des Kalten Krieges verdeutlichte mit Nachdruck, dass das ›Verfallsdatum‹ endgültig erreicht war.

Marcel Berlinghoff

Die Bundesrepublik und die Europäisierung der Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren Das bundesdeutsche Migrationsregime war durch lange bestehende Migrationsnetzwerke und deren rechtliche Institutionalisierung sowie die Kriegsfolgewanderungen von Beginn an in das (west)europäische eingebunden.1 Zwar unterschieden sich die nationalen Migrationsregime aufgrund traditioneller Wanderungsbeziehungen, kolonialer Verknüpfungen und nationaler Selbstverständnisse zum Teil deutlich voneinander, doch näherten sich diese in den 1960er Jahren vor allem aufgrund des wachsenden Arbeitskräftebedarfs einander an. In Rahmen von (post)kolonialen Freizügigkeitsvereinbarungen und bilateralen Anwerbeabkommen zogen die westeuropäischen Industriestaaten eine große Zahl von Arbeitsmigranten aus den wirtschaftlichen Peripherien des Mittelmeerraums und der (ehemaligen) Kolonialgebiete an. Diese verlängerten zunehmend ihren häufig nur auf Zeit geplanten Aufenthalt, holten ihre Familien nach und machten damit die Staaten Westeuropas zu ›Einwanderungsländern wider Willen‹.2 Hieraus entstanden mehrere Europäisierungseffekte3, die die bundesdeutsche Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren zunehmend prägten: Diese betrafen || 1 Aufgrund der Zweiteilung Europas im ›Kalten Krieg‹ war auch der Wanderungsraum Europa in dieser Zeit geteilt. Der folgende Beitrag bezieht sich auf den westeuropäischen Teil, in den die Bundesrepublik eingebunden war; vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Jochen Oltmer, Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009, S. 5–27; Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010; Johannes-Dieter Steinert, Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945–1961, Osnabrück 1995; Jenny Pleinen, Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012 sowie den Beitrag von K. Erik Franzen in diesem Band. 2 Marcel Berlinghoff, Das Ende der ›Gastarbeit‹. Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013. Der von Bade für die Bundesrepublik geprägte Begriff des ›Einwanderungslandes wider Willen‹ lässt sich auch auf die westeuropäischen Nachbarstaaten anwenden. Das gilt selbst für Frankreich, das sich traditionell als Einwanderungsland verstand, sich dabei jedoch vor allem auf ›weiße‹ Einwanderer aus den ›kulturell‹ näher stehenden Ländern Nordwesteuropas bezog; vgl. Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980, Berlin 1983, S. 67; Klaus Manfrass, Türken in der Bundesrepublik, Nordafrikaner in Frankreich. Ausländerproblematik im deutsch-französischen Vergleich, Bonn 1991; Patrick Weil, Qu'est-ce qu'un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2005. 3 Zum hier verwendeten Europäisierungsbegriff vgl. Ulrike von Hirschhausen/Kiran Klaus Patel, Europeanization in History: An Introduction, in: Martin Conway/Kiran Klaus Patel (Hg.), Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, New York 2010, S. 1–18.

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erstens die Problemwahrnehmung bezüglich der Einwanderung beziehungsweise der daraus abgeleiteten Angst vor ›Überfremdung‹; zweitens die gemeinsame Suche nach Lösungen für das festgestellte gemeinsame ›Ausländer-‹ beziehungsweise ›Einwandererproblem‹ und drittens die damit in Wechselwirkung stehende Verschiebung der mentalen Grenzen Europas, also der Vorstellung davon, wer als Europäer dazu gehöre und wer nicht.4 Migrationspolitik betrifft jedoch stets die Souveränität über das nationalstaatliche Territorium sowie nationale Selbstbilder als (Nicht-)Einwanderungsland. Daher blieb Migrationspolitik in Europa eine grundlegend nationale Angelegenheit, die zudem nicht selten eher von anderweitigen innen- und außenpolitischen denn genuin migrationspolitischen Interessen geleitet wurde.5 Dabei sind insbesondere die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen staatlichen Ebenen, der politischen Parteien, der von ihnen besetzten Ministerien sowie schließlich der nichtstaatlichen Akteure im Blick zu behalten, zumal sich diese stets in Bewegung befinden. Schließlich dürfen auch die Aktionen und Reaktion der Migranten auf politische Entscheidungen und Debatten keineswegs außer Acht gelassen werden, diese stehen jedoch nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags.6

|| 4 Vgl. Marcel Berlinghoff, L'arrêt de la politique d'immigration de travail en France et en Allemagne et ses répercussions sur l'image des étrangers, in: Marianne Amar/Marie Poinsot/Catherine Wihtol de Wenden (Hg.), À chacun ses étrangers? France – Allemagne de 1871 à aujourd'hui, Arles 2009, S. 101–105; ders., Europäische Identität im Spiegel von Migrationspolitik, in: Teresa Tschech (Hg.), Nationale und europäische Identität im Spannungsfeld weltgesellschaftlicher Orientierung. Vorträge zum Doktorandencolloquium vom 12.–17. September 2010 in der Villa Vigoni 2011, S. 3–13, http://www.villavigoni.eu/fileadmin/user_upload/pdfs/Nationale_und_europaeische_Identitaet_i m_Spannungsfeld_weltgesellschaftlicher_Orientierung.pdf (11.4.2013); ders., Ende der ›Gastarbeit‹, S. 357–364. 5 Vgl. für die Bundesrepublik: Dietrich Thränhardt, Ausländer als Objekt deutscher Interessen und Ideologien, in: Hartmut M. Griese/Micha Brumlik (Hg.), Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und Ausländerpädagogik, Opladen 1984, S. 115–132; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001; Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Barbara Sonnenberger, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen (1955–1967), Darmstadt 2003; Heike Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte. ›Gastarbeiter‹ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973, Köln 2008; sowie der Beitrag von Monika Mattes in diesem Band. 6 Vgl. hierzu Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; Serhat Karakayali, Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008; Karin Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück…«. Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005; Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. 2007.

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Drei Perspektiven führen durch die Darstellung der bundesdeutschen Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren bis zum Ende der 1980er Jahre.7 Dies ist erstens die bereits angesprochene Europäisierung der Migrationspolitik und zwar sowohl in ihrem rechtlichen als auch in ihrem Identitäten konstruierenden Rahmen; zweitens das Fortbestehen des Bildes der ›Gastarbeit‹, das heißt die Illusion eines nur temporären, also auf Rückkehr ausgerichteten Aufenthaltes sowie eine auf Arbeitsmarktsteuerung verengte migrationspolitische Sichtweise. Darauf aufbauend zogen sich drittens die damit verbundenen Widersprüche einer Einwanderung im selbst erklärten Nichteinwanderungsland durch den betrachteten Zeitraum und darüber hinaus. Im Folgenden wird zunächst auf den Umgang mit der ›Entdeckung der Einwanderung‹ in den migrationspolitischen Debatten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre eingegangen, die im November 1973 zu der bis in die Gegenwart prägenden Zäsur der deutschen Migrationspolitik führte: dem Anwerbestopp. Daran anschließend werden in einem zweiten Teil die politischen Reaktionen auf das Scheitern dieser als Einwanderungsstopp gedachten Maßnahme geschildert, die sich durch die folgenden zwei Jahrzehnte zogen. Drittens soll noch einmal der Blick auf die europäischen Ebenen geworfen werden, auf denen diverse migrationspolitische Strukturen gesetzt und gefestigt wurden, die mit dem Abschluss des Schengener Abkommens 1985 einen wesentlichen Grundstein des heutigen europäischen Migrationsregimes legten.8

1 Von der Entdeckung der Einwanderung zum Anwerbestopp Zum Verständnis der migrationspolitischen Debatten in den 1970er und 1980er Jahren ist es unabdingbar, sich der ›Geschäftsgrundlage‹ bewusst zu machen, auf der Migration in der Bundesrepublik aber auch in den anderen westeuropäischen Staaten zu dieser Zeit verhandelt wurde. Daher wird im Folgenden in aller Kürze noch einmal auf das System der ›Gastarbeit‹ Bezug genommen, das bereits in den vorangegangen Beiträgen behandelt wurde.

|| 7 Dabei werden die Asylpolitik, die Aufnahme von ›volksdeutschen‹ Aussiedlern sowie ›Übersiedlern‹ aus der SBZ/DDR, die in je eigenen Beiträgen behandelt werden, nicht in die Darstellung miteinbezogen; vgl. die Beiträge von Frank Wolff, Jannis Panagiotidis und Patrice G. Poutrus in diesem Band. 8 Die migrationspolitischen Herausforderungen, die der Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ gegen Ende der 1980er Jahre mit sich brachte, sind ebenfalls Bestandteil eigener Beiträge und bleiben hier ausgeklammert; vgl. die Beiträge von Barbara Dietz und Holger Kolb in diesem Band.

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1.1 Das Rotationsprinzip der ›Gastarbeit‹ Während des außerordentlichen Wirtschaftswachstums der 1950er und 1960er Jahre entwickelten sich nicht nur die industriellen Ballungsgebiete Westdeutschlands, sondern auch die der übrigen Staaten (Nord-)Westeuropas zu Einwanderungsregionen. Die steigende Beschäftigung von Migranten infolge gezielter Anwerbung und (post)kolonialer Freizügigkeitsregime war von zunehmend längeren Aufenthaltszeiten begleitet, die wiederum mit Familiennachzug einhergingen. Europa wurde zum Einwanderungskontinent – sowohl statistisch als auch faktisch.9 In beiden Fällen, der ›Gastarbeit‹ wie auch der (post)kolonialen Freizügigkeit, widersprach das der politischen Intention. War letztere primär dazu gedacht, ›europäischen‹ Siedlern die ›Heimkehr‹ ins ›Mutterland‹ und Geschäftsleuten den freien Zugang zu den (ehemaligen) Kolonien zu gewähren sowie Kontakte und Einfluss in den unabhängig gewordenen Staaten zu bewahren, so führte sie vor allem in den 1960er Jahren verstärkt zu unerwünschter Immigration ›nicht-europäischer‹ (ehemaliger) Staatsbürger der (ehemaligen) Kolonialreiche.10 Auch das Migrationsregime der ›Gastarbeit‹ war nicht auf einen langanhaltenden oder gar dauerhaften Verbleib der angeworbenen Arbeitsmigranten ausgelegt. Dem Prinzip der ›Rotation‹ entsprechend sollten diese für einige Jahre in den Zielländern arbeiten, um anschließend wieder in ihre Herkunftsländer zurückzukehren und, bei Bedarf, Platz für neue Arbeitskräfte zu machen. Dieses Rotationsprinzip, das zum Teil durch die bilateralen Anwerbeabkommen selbst, zum Teil durch die Koppelung zeitlich, räumlich und betrieblich beschränkter Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen sichergestellt werden sollte, war zum Vorteil aller Beteiligten gedacht: So sollten den Unternehmen günstige und flexible Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die zwar auf Druck der Gewerkschaften zu den allgemein gültigen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden mussten, meist jedoch in niedrigere Lohngruppen eingruppiert werden konnten und dabei nur geringe Ausbildungskosten verursachten. Die Arbeitsmigranten selbst konnten in einem relativ sicheren und häufig organisierten Rahmen in kurzer Zeit vergleichsweise viel Geld verdienen, um das erwirtschaftete Kapital in der Heimat in ein eigenes Haus zu investieren oder den Start in die Selbständigkeit zu wagen. Die Herkunftsländer sollten von Rücküberweisungen profitieren, die bei ledigen oder allein emigrierten Arbeitskräften, die ihre zurückgelassenen Familien finanziell unterstützen, reichlicher ausfielen als bei dauerhaften Auswanderern. Des || 9 Vgl. Bade, Europa; Imke Sturm-Martin, Die Europäisierung der Migration im 20. Jahrhundert, in: dies./Clemens A. Wurm (Hg.), Europa im Blick. Westeuropäische Perspektiven im 20. Jahrhundert, Hamburg 2007, S. 167–180. 10 Vgl. Imke Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich 1945–1962, Frankfurt a.M. 2001; Karen Schönwälder/Imke Sturm-Martin (Hg.), Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung. Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2001.

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Weiteren sollte der heimische Arbeitsmarkt entlastet und durch den Transfer von fachlichem Know-how bei der Rückkehr von Facharbeitern eine Art ›Entwicklungshilfe‹ geleistet werden. Zugleich, dies war beispielsweise im Falle der jungen nordafrikanischen Staaten von Bedeutung, sollte die kulturelle Entfremdung der Migranten von der Heimatgesellschaft gering gehalten werden.11 Umgekehrt zielte eine Begrenzung des Arbeitsaufenthalts auf eine Beschränkung fremden Einflusses auf die Gesellschaften der Zielländer ab. ›Entwurzelung‹, ›Vermischung‹ und ›Überfremdung‹ sollten durch eine frühzeitige Rückkehr der Migranten vermieden werden. Wichtiger erschien jedoch zunächst der Vorteil, den angespannten Arbeitsmarkt zu entlasten und dabei Ausbildungs- und Sozialkosten zu sparen. Die Rückkehr oder ›Rotation‹ der ›Gastarbeiter‹ war also lange Zeit Ziel und Erwartungshorizont aller Beteiligten, womöglich mit Ausnahme von Arbeitgebern, die es vermeiden wollten, gut eingearbeitete Mitarbeiter zu verlieren und ständig neue Arbeitnehmer einlernen zu müssen. Während dieses System über viele Jahre hinweg zu funktionieren schien – Arbeitsmigranten kamen, arbeiteten, sparten, kehrten zurück und wurden durch neue Arbeitsmigranten ersetzt – stieg mit der Zeit die Zahl derer, die länger blieben und ihre Familien nachholten. Aufgrund eines in den Ballungsgebieten ohnehin schon umkämpften Wohnungsmarktes, auf dem Migranten per se einen schlechten Stand hatten, lebten diese, gemessen am allgemeinen Standard der Zielländer, unter zum Teil miserablen Wohnbedingungen, was sich auch in öffentlichen Debatten niederschlug.12 Angesichts offensichtlich notwendiger zusätzlicher Wohnungsbaumaßnahmen, Investitionen in die soziale Infrastruktur wie Nahverkehr, Schulen und Krankenhäuser sowie negativen wirtschaftsstrukturellen Effekten der Ausländerbeschäftigung wie künstliche Niedrighaltung des Lohnniveaus und aufgeschobene Rationalisierungsmaßnahmen wurde in den neuen Einwanderungsländern daher schon Mitte der 1960er Jahre darüber diskutiert, ob sich die Anwerbung denn volkswirtschaftlich überhaupt lohne.13 Betriebswirtschaftlich schien sich diese Frage gleichwohl nicht zu stellen, und auch aus Sicht der Migranten war die Arbeitswanderung weiter attraktiv, wie die nach der ›Konjunkturdelle‹ 1966/67 wieder stark anwachsende Migration belegt. Mit dem Umfang und dem zunehmend längeren Aufenthalt der Arbeitsmigranten ver-

|| 11 Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 329. 12 Vgl. Ernst Karpf, Eine Stadt und ihre Einwanderer. 700 Jahre Migrationsgeschichte in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 2013; Bettina Severin-Barboutie, Stadt – Migration – Transformation. Stuttgart und Lyon im Vergleich, in: Jochen Oltmer/Axel Kreienbrink/Carlos Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S. 233–245. 13 Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹; Maxim Silverman, Deconstructing the Nation. Immigration, Racism, and Citizenship in Modern France, London 1992; Jan Lucassen/Rinus Penninx, Newcomers. Immigrants and their Descendants in the Netherlands 1550–1995, Amsterdam 1997.

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stärkten sich jedoch auch die Einwanderung und die mit ihr verbundenen Herausforderungen und Problemwahrnehmungen. Zugleich schien den staatlichen Behörden die Kontrolle über die Wanderungsbewegungen zu entgleiten, die sie mit Hilfe der bilateralen Abkommen und der nationalen Regeln zu Einreise, Aufenthalt und Arbeitsaufnahme der Migranten zu steuern versuchten. Wie aber sollten die sozialen Probleme der Einwanderung gelöst werden, wenn die Migration selbst unkontrollierbar zu werden schien? Diese Frage stellte sich in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensität in allen europäischen Einwanderungsländern, weshalb es Anfang der 1970er Jahre auf verschiedenen Ebenen zu einem Austausch der Problemwahrnehmungen und Lösungsstrategien der verantwortlichen Regierungsbeamten kam. Denn bei allen nationalen Unterschieden war den staatlichen Akteuren klar, dass es sich bei der transnationalen Arbeitsmigration und den daraus resultierenden Problemen um ein Phänomen handelte, das auf europäischer Ebene angegangen werden musste.14

1.2 Europäisierung der Problemwahrnehmung Einer der Orte dieses Austausches war die Europäische Kommission in Brüssel, wo mehrere Arbeitskreise eingerichtet waren, die sich um die Gestaltung der Freizügigkeit von Fachkräften zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kümmerten. Denn freie Arbeitskräftemobilität war als elementarer Bestandteil des Gemeinsamen Marktes von Beginn an ein Bereich der europäischen Integration im Rahmen der EWG.15 Zwischen 1962 und 1970 wurde diese Freizügigkeit von Arbeitskräften zwischen den EWG-Staaten schrittweise hergestellt, wobei ab 1968 auch die Einreise zur Suche einer Arbeitsstelle erlaubt war.16 Hiervon profitierten in erster Linie Italiener, die vor allem aufgrund der Strukturprobleme im Süden des Landes die größte nationale Gruppe an Arbeitsmigranten stellten. Da jedoch der weitaus größte Teil der Arbeitsmigranten in der EWG aus Drittstaaten stammte, war auch der administrative Umgang mit Drittstaatsangehörigen Thema der Gremien in Brüssel, etwa des Fachausschusses Freizügigkeit oder des allgemeinen Beschäftigungsausschusses. Hier tauschten sich die in den nationalen Regierungsbehörden mit dem Thema Einwanderung befassten Fachbeamten

|| 14 Vgl. Helmut Heyden, Diskussion über die Ausländerbeschäftigung in Europa, in: Bundesarbeitsblatt, 24. 1973, S. 33–36. 15 Vgl. Emmanuel Comte, European Regionalism and Migration Global Governance: Les Cahiers Irice, 2012, H. 9, S. 117–137; Pleinen, Migrationsregime, S. 101f., 109. 16 Berthold Huber/Klaus Unger, Politische und rechtliche Determinanten der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Karl-Otto Hondrich (Hg.), Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz. Segregation und Integration: eine vergleichende Untersuchung, Frankfurt a.M. 1982, S. 124–194, hier S. 148.

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über aktuelle Entwicklungen, staatliche Maßnahmen und Erfahrungen der Ausländerbeschäftigung aus und entwickelten dabei ein gemeinsames Verständnis des ›Problems der ausländischen Arbeitskräfte‹. Zum Teil waren hieran auch Vertreter der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften beteiligt. Weitere Foren der internationalen Diskussionen über die Folgeprobleme der umfangreichen Ausländerbeschäftigung waren die OECD und der Europarat, auf denen einerseits die Herkunftsländer, allen voran Italien, versuchten, Verbesserungen der sozialen Situation ihrer Emigranten durchzusetzen und rechtlich zu fixieren, die andererseits dem persönlichen Kennenlernen und dem informellen Austausch der Regierungsbeamten über die damit verbundenen Themen dienten.17 Diese ›europäisierte‹ Problemwahrnehmung umfasste neben der eingeschränkten Steuerungsfähigkeit, Sicherheitsfragen und wirtschaftlichen Kosten-NutzenRechnungen auch die Frage der Integrations- oder, wie es hieß, ›Aufnahmefähigkeit‹ der Einwanderungsländer wider Willen. Hierdurch gelangten auch Aspekte in die deutsche Diskussion beziehungsweise wurden verstärkt, die in anderen nationalen Kontexten weitaus größere Bedeutung hatten als in der Bundesrepublik. Zu nennen wären hier beispielsweise die Überfremdungsdebatte in der Schweiz, die Ausbreitung slumähnlicher Wohnverhältnisse in den ›bidonvilles‹ an den Rändern der französischen Großstädte oder die Verbindung von Wohnungsknappheit mit offen rassistischen Aggressionen in den Ballungsgebieten der Niederlande dieser Zeit.

1.3 ›Soziale Aufnahmefähigkeit‹ als Grenze Wenngleich also die Lage in der Bundesrepublik zu Beginn der 1970er Jahre weit von Verhältnissen wie in der Schweiz oder in Frankreich entfernt war, so verstärkte sich zu dieser Zeit ein Problembewusstsein, das als ›Entdeckung der Einwanderung‹ in der politischen Migrationsdebatte bezeichnet werden kann. Damit ist keineswegs gemeint, dass erst zu diesem Zeitpunkt über die langfristige Niederlassung und faktische Einwanderung von ›Gastarbeitern‹ diskutiert und die damit verbundenen sozialen Probleme erkannt wurden. Dies war schon seit Mitte der 1960er Jahre regelmäßig Thema von Expertengesprächen und Presseberichterstattung gewesen. Vielmehr zog der Aspekt der sozialen Integration und des Umgangs mit der Einwanderung mit der bis dahin dominierenden arbeitsmarktpolitischen Perspektive der Ausländerbeschäftigung in migrationspolitischen Diskussionen gleich. Der

|| 17 Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹; ders., Die Schweiz und die Migrationspolitik im Europarat. Vom Pranger zum Vorbild, in: Bernhard Altermatt/Gilbert Casasus (Hg.), 50 Jahre Engagement der Schweiz im Europarat 1963–2013. Die Schweiz als Akteur oder Zaungast der europäischen Integration?, Zürich 2013, 163–176.

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offensichtliche Widerspruch zwischen konzeptionell temporärer ›Gastarbeit‹ und tatsächlicher Einwanderung ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ignorieren. Entsprechend verabschiedeten die beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMA) angesiedelten Arbeitskreise und Ausschüsse 1970 ›Grundsätze zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer‹18, in denen die Ausländerbeschäftigung als dauerhaft notwendig und Hilfestellungen zur »alsbaldige[n] Eingliederung ausländischer Arbeitskräfte in Gesellschaft und Arbeitswelt der Bundesrepublik« als wichtige gesellschaftlichen Aufgaben festgehalten wurden. Zwar handelte es sich bei den ›Grundsätzen‹ nicht um das erste ausländerpolitische Konzept einer Bundesregierung, als das sie Meier-Braun 1988 bewertete.19 Vielmehr stellten sie eine Aufzählung möglicher integrationspolitischer Maßnahmen dar, die jedoch auf Länder- beziehungsweise kommunaler Ebene umgesetzt werden müssten. Gleichwohl spiegelten diese ›Grundsätze‹ die Anerkennung der realen Einwanderungssituation in der fachpolitischen Debatte um die Ausländerpolitik wider, deren soziale Folgen nun gleichberechtigt neben arbeitsmarkt- und bald auch sicherheitspolitischen Aspekten diskutiert wurden. Institutionell führte diese Perspektivenerweiterung 1971 zur Gründung einer Arbeitsgruppe der Sozialpolitischen Gesprächsrunde, einem Forum zur korporatistischen Abstimmung von sozialpolitischen Vorhaben, in dem wichtige gesellschaftliche Interessengruppen vertreten waren.20 In der ›AG Ausländerbeschäftigung‹ kamen (ebenso wie schon im ›Koordinierungskreis Ausländische Arbeitnehmer‹ und im ›Ausländerausschuss‹) Beamte der maßgeblich mit Migrationspolitik beschäftigten Ministerien aus Bund und Ländern mit Vertretern der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, ab 1973 auch von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, zusammen, um an einer Reform der bundesdeutschen Ausländerpolitik mitzuarbeiten. Migranten selbst blieben dagegen von der Mitarbeit in diesem Gremium ausgeschlossen.21 In ihren ersten Sitzungen diskutierte die Arbeitsgruppe ein vom BMA erarbeitetes Positionspapier, in dem die Vorteile der bisherigen Ausländerbeschäftigung zwar genannt, aufgrund der immer deutlicher wahrnehmbaren Einwanderungstendenzen jedoch für die Zukunft ein eher skeptisches Bild gezeichnet wurde: »Eine weitere starke Zunahme der Ausländerbeschäftigung und längere Verweildauer sowie vermehrte Familienzusammenführung werden zu einem beträchtlichen Anstieg der aus der Ausländerbeschäftigung resultierenden sozialen Kosten führen, da

|| 18 Grundsätze zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer verabschiedet, in: Bundesarbeitsblatt, 21. 1970, H. 4, S. 281–284. 19 Karl-Heinz Meier-Braun, Integration und Rückkehr? Zur Ausländerpolitik des Bundes und der Länder, insbesondere Baden-Württembergs, Mainz 1988, S. 11. 20 Vgl. Schönwälder, Einwanderung, S. 534f. 21 Die Beteiligung von Migranten in Gremien, die über ihre Belange berieten, wurde in ganz Europa diskutiert, jedoch nur selten, beispielsweise in Belgien, umgesetzt.

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die sozialen Maßnahmen zugunsten der Ausländer intensiviert und stärker auf eine Eingliederung auf Dauer hin ausgerichtet werden müssen.«22 Es gebe »aus ökonomischen und außerökonomischen Gründen […] eine Grenze der Ausländerbeschäftigung, die sich zahlenmäßig jedoch nicht genau bestimmen« lasse.23 Daher stelle sich die Frage, ob etwas gegen den weiteren Zuwachs der Ausländerbeschäftigung unternommen werden könne und solle, und wenn ja, welche Maßnahmen hierfür geeignet seien.24 Neben Vorschlägen einer globalen Wirtschaftssteuerung sowie der Anregung, die Kosten der »Folgelasten« den als Verursachern angesehenen Arbeitgebern zu übertragen, wurde hier zusammen mit anderen kontrollpolitischen Maßnahmen wie einer strikten Rotationspolitik zum ersten Mal auch ein Anwerbestopp ins Gespräch gebracht. Solcherlei administrative Maßnahmen zur Verringerung der Ausländerzahlen wurden von der AG ›Ausländerbeschäftigung‹ jedoch mehrheitlich abgelehnt, da sie auf Arbeitnehmer aus EWGMitgliedstaaten sowieso keinen Einfluss hätten und sonst nur »zur Zunahme der illegalen Einreise mit all ihren unerwünschten Konsequenzen führen« würden, weshalb sie zur Lösung des Problems kaum geeignet seien. Zur Steuerung der »mittel- und längerfristigen Entwicklung der Ausländerbeschäftigung« sollten allein marktkonforme Mittel, vor allem eine Verteuerung der ausländischen Arbeitskraft für Unternehmen genutzt werden.25 Die Vorstellung, es gebe eine Obergrenze der Ausländerbeschäftigung, die aus ökonomischen und innenpolitischen Gründen nicht überschritten werden sollte, war auch in den anderen europäischen Einwanderungsländern verbreitet. Dabei schien die innenpolitische »Schallgrenze«, die sowohl die soziale Infrastruktur als auch die Akzeptanz der einheimischen Bevölkerung umfasste, vor der ökonomischen zu liegen, wie es ein Mitarbeiter des niederländischen Sozialministeriums gegenüber seinen deutschen Kollegen ausdrückte.26 In Frankreich wurde diese Grenze unter dem Begriff ›seuils de tolérance‹ diskutiert und die Schweiz setzte im Rahmen ihrer ›Globalplafonierung‹ Obergrenzen der Einwanderung fest.27 Auf die Entwicklung eines europäisierten Problembewusstseins der aus der Ausländerbe|| 22 BMA, Entwurf einer Gesprächsunterlage zur ersten Sitzung der AG ›Ausländerbeschäftigung‹ der SpG, o.D. [Juli 1971], Bundesarchiv Koblenz (BArch K), B149 83821. Ein weiterer Absatz, in dem »intensive Bemühungen« angemahnt wurden, »um in der deutschen Öffentlichkeit Bereitschaft zugunsten einer Eingliederung auf Dauer zu wecken« und so »Gefahren für den gesellschaftlichen Frieden als Folge von vorhandenen Widerständen in der deutschen Bevölkerung [zu] vermeiden« wurde in der ersten Sitzung der AG aus der Vorlage gestrichen. 23 BMA, Vermerk zur dritten Sitzung der AG ›Ausländerbeschäftigung‹, 25.11.1971, ebd. 24 BMA, Ressortbesprechung zur Vorbereitung der Besprechung der Arbeitsgruppe ›Ausländerbeschäftigung‹, 9.9.1971, ebd. 25 BMA, Vermerk, 25.11.1971, ebd. 26 Berie; Fendrich, Bericht über die Studienreise in die Niederlande, 10.–12.4.1972, BArch K, B136 8844. 27 Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 45–50.

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schäftigung resultierenden Einwanderung und die daraus erwachsenen Folgen für eine europäische Migrationspolitik wird im dritten Teil dieses Beitrags näher eingegangen.

1.4 Innenpolitische Wege zur Konsolidierung Die verstärkte Aufmerksamkeit, welche die Politik der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik in dieser Zeit erfuhr, führte auch zu einer Wiederbelebung der Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts aus den vorangegangenen Jahren. Vor allem das Bundesinnenministerium (BMI) aber auch das Auswärtige Amt (AA) bemühten sich um eine stärkere Berücksichtigung der jeweils eigenen Interessen und forderten die Führungsrolle des BMA heraus.28 Dabei überraschte vor allem das BMI mit einer neuen Konzeption. Hatte das Ministerium bis dahin traditionell für eine auf Abwehr gerichtete Ausländerpolitik gestanden, so trat Innenminister HansDietrich Genscher (FDP) ab 1972 für eine rechtliche Absicherung des Aufenthaltsstatus der Ausländer ein, der schrittweise verfestigt werden sollte. Dies sei ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Ausländerpolitik, die mehr als nur arbeitsmarktpolitische Aspekte betrachten müsse. »Eine integrale Ausländerpolitik«, so ein Referentenvermerk des BMI, müsse neben der bisherigen sicherheits- und ordnungspolitischen Ausrichtung vermehrt strukturpolitische Aspekte miteinbeziehen: »Bevölkerungspolitik, Raumordnung, rechtliche Integration bis zu den Fragen der Einbürgerung.«29 Dabei wurde seitens des BMI explizit auf die innenpolitischen Konflikte in den Niederlanden und der Schweiz Bezug genommen und die als ›Ghettobildung‹ charakterisierten Probleme in deutschen Großstädten vor dem Hintergrund von ›Rassenunruhen‹ in London oder New York gedeutet.30 Mit seiner neuen liberalen Ausrichtung dieser Politikbereiche stieß das BMI aber nicht nur auf den Widerstand des BMA, das sich neben inhaltlichen Vorbehalten in seiner Koordinierungskompetenz bedroht sah, sondern auch auf Proteste aus einigen Bundesländern, deren Innenminister sich an die Rückkehr-Prämisse klammerten.31 Insbesondere Schleswig-Holstein und Bayern hielten an ihrer Politik fest, Ausländern, die schon lange in der Bundesrepublik lebten, eine Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung zu versagen, bevor diese einen Rechtsanspruch auf den Aufenthalt in Deutschland erlangten. Schließlich sei Deutschland kein Einwande-

|| 28 Vgl. ebd., S. 144f.; Knortz, Tauschgeschäfte. 29 BMI, V II an V II 6, 14.11.1972, BArch K, B106 45161. 30 BMI, Vermerk UAbt. V II, 10.1.1972; B136 8846, Genscher an Arendt, 27.11.1972, ebd., B106 45161. 31 Bereits im Mai 1969 hatte die Innenministerkonferenz (IMK) auf Antrag Bayerns ›Grundsätze‹ beschlossen, nach denen die möglichst restriktive Erteilung der Aufenthaltsberechtigungen eine dauernde Niederlassung verhindern solle; vgl. Schönwälder, Einwanderung, S. 511f.

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rungsland.32 Einer Abkehr von sicherheitspolitischen Prämissen in der Ausländerpolitik entgegen wirkte auch das Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München.33 In der Folge wurden die Einreisebestimmungen für Reisende aus arabischen Ländern verschärft und beschlossen, »Araber, gegen die Ausweisungsgründe vorliegen, sofort auszuweisen und abzuschieben«.34 Dabei stellte Genscher den ›illegalen‹ Aufenthalt von Ausländern gegenüber seinen Länderkollegen in direkten Zusammenhang mit schwerer Kriminalität und Terrorismus: In den letzten Jahren sei ein Anstieg ›illegaler‹ Einreisen und ›illegalen‹ Aufenthalts zu beobachten, wodurch externe politische Konflikte nach Deutschland getragen würden, was zu Erpressungen, Gewaltverbrechen und Terroraktionen führe. Zwar fielen diese Worte im nichtöffentlichen Kreis der Innenministerkonferenz, doch führte die Berichterstattung über Polizeiaktionen gegen vermeintliche Terroristen zu einer Verstärkung der Vorurteile gegenüber ›arabisch‹ oder sonst wie ›fremdländisch‹ aussehenden Menschen. Der rassistische Diskurs führte im Herbst 1972 so weit, dass sich die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) genötigt sah, Bundeskanzler Brandt aufzufordern, »den gegenwärtig bemerkbaren Emotionen in der Frage des Verhältnisses zu den Ausländern […] entgegenzuwirken.«35 Das »Ausländerproblem [dürfe zudem, M.B.] in seiner derzeitigen Zuspitzung nicht zum Spielball des anlaufenden Wahlkampfes für die Bundestagswahlen« werden.36 Gleichwohl wurde die Ausländerpolitik im Wahlkampf aufgegriffen und die Regierung sprach nun auch in der Öffentlichkeit davon, dass die »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« erreicht seien.37 Mit der Problemwahrnehmung übernahmen die deutschen Regierungsbeamten auch Lösungsvorschläge aus den europäischen Nachbarländern. So wurde wieder-

|| 32 Vgl. Berlinghoff, Ende, S. 165–168; Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: 1966–1974, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 2006, S. 781–810, hier S. 803. 33 Vgl. Matthias Dahlke, Der Anschlag auf Olympia '72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006; Eva Oberloskamp, Das Olympia-Attentat 1972. Politische Lernprozesse im Umgang mit dem transnationalen Terrorismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60. 2012, S. 321–352. 34 BMI, Sprechzettel für den Minister zur IMK am 21.9.1972, BArch K, B106 39996; vgl. Niels Seibert, Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964–1983, Münster 2008, S. 155–159. 35 EKD an den Bundeskanzler, 10.10.1972, BArch K, B136 8846. Dabei verwies die EKD explizit auf die Gefahr staatlichen Rassismus‘ für das demokratische Gemeinwesen: »Wir sind es unserem Rechtsstaat und allen hier lebenden Menschen jedweder Rasse, Hautfarbe und politischer Einstellung schuldig, für das gleiche Recht Aller Sorge zu tragen und uns ungerechten Pauschalurteilen zu widersetzen.« 36 Ebd. 37 BMI Genscher, zitiert nach Michael Jungblut, Die Kulis der Nation, in: Die Zeit v. 20.10.1972; vgl. Schönwälder, Einwanderung, S. 530f.; 589–601.

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holt auf die (geplante) Einführung eines strikten Rotationsmodells in den Niederlanden verwiesen, wonach die Beschäftigung von Ausländern genehmigungspflichtig und der Aufenthalt der Migranten strikt auf zwei Jahre begrenzt werden sollte.38 Auch das sogenannte ›Schweizer Modell‹ war häufiger Bezugspunkt einer neuen ausländerpolitischen Konzeption. Dabei wurde nicht immer expliziert, ob mit diesem Modell die strikte Begrenzung des Aufenthalts für Saisonarbeiter und ›Jahresaufenthalter‹ oder vielmehr die Festlegung einer bundesweiten Obergrenze des Ausländeranteils gemeint war, wie sie in der Eidgenossenschaft 1970 mit der sogenannten ›Globalplafonierung‹ eingeführt worden war. Als im Sommer 1972 in einer interministeriellen Besprechung zudem klar wurde, dass mit dem weiteren Anstieg der Ausländerbeschäftigung – das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) rechnete mit 3,5 Millionen ausländischen Arbeitnehmern im Jahr 1985 – auch mit einer »Verschärfung der Eingliederungsprobleme«39 zu rechnen sei, wurden neben der weiteren Verteuerung der Anwerbung und der Schließung des sogenannten Zweiten Weges, also der Erteilung von Arbeitsvisa durch die deutschen Konsulate in den Anwerbestaaten, auch Zuzugsbeschränkungen in als überlastet angesehene Ballungsgebiete nach niederländischem Vorbild ins Gespräch gebracht. Wenngleich die AG ›Ausländerbeschäftigung‹ der Sozialpolitischen Gesprächsrunde noch im Herbst 1971 von administrativen Maßnahmen abgeraten hatte, so fand sich in ihrem Bericht 1973 dennoch der Vorschlag wieder, zur »Anpassung der Zuwanderung an die Aufnahmefähigkeit der Einrichtungen der sozialen Infrastruktur […] eine zeitweilige Begrenzung der Zuwanderung in die Verdichtungsräume«40 zu erlassen. Hier fand sich auch der Begriff wieder, der die kommenden Jahre – in wechselnden Ausprägungen – eines der Hauptziele der deutschen Migrationspolitik sein sollte: Die »Konsolidierung« der Ausländerbeschäftigung.41

|| 38 Des Weiteren wurden Rückkehrprämien vorgeschlagen. Tatsächlich konnte die niederländische Regierung ihre restriktive Politik aufgrund der parlamentarischen Widerstände jedoch nicht durchsetzen; vgl. Leo Lucassen/Jan Lucassen, Gewinner und Verlierer. Fünf Jahrhunderte Immigration – eine nüchterne Bilanz, Münster 2014, S. 107; Lucassen/Penninx, Newcomers, S. 166; Han Entzinger, Remigrationspolitik in den Niederlanden, in: Heiko Körner/Ursula Mehrländer (Hg.), Die ›neue‹ Ausländerpolitik in Europa. Erfahrungen in den Aufnahme- und Entsendeländern, Bonn 1986, S. 87–99, hier S. 92. 39 BMA, Vermerk über Besprechung beim Staatssekretär, 11.8.1972, BArch K, B149 54440. 40 Gemeinsames Kommuniqué der sechsten Sozialpolitischen Gesprächsrunde im Bundesarbeitsministerium, in: Sozialpolitische Informationen, VII. 1973, H. 16, S. 61–63, hier S. 62. Eine »globale Plafondierung und Rotation« seien hingegen »derzeit keine geeigneten Instrumente zur Lösung der sich aus der Zunahme der Ausländerbeschäftigung ergebenden Probleme«; ebd. 41 BMA, ›Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland‹, Entwurf, 22.3.1973, BArch K, B149 83824.

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1.5 Vom Aktionsprogramm zum Anwerbestopp Bereits in seiner Regierungserklärung im Januar 1973 hatte Bundeskanzler Willy Brandt gemahnt, »daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist, und soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.«42 Am 6. Juni beschloss das Kabinett ein ›Ausländerpolitisches Aktionsprogramm‹, das noch am gleichen Tag im Bundestag vorgestellt wurde und in weiten Teilen den in der AG ›Ausländerbeschäftigung‹ aufgestellten Analysen und Forderungen entsprach: Da die soziale Infrastruktur nicht mit der Ausländerbeschäftigung Schritt gehalten habe, könnten bei einer »weiterhin ungesteuerte[n] Zunahme der Ausländerbeschäftigung […] soziale Konflikte nicht mehr ausgeschlossen werden.«43 Daher müssten beide durch die »sozial-verantwortliche Konsolidierung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer« in Einklang gebracht werden. Als kurzfristige Maßnahmen kündigte das Aktionsprogramm die Regulierung des Zuzugs von Migranten in ›Verdichtungsgebiete‹ und die Kontrolle des ordnungsgemäßen Zustandes von Betriebsunterkünften an. Mittelfristig solle die Vermittlungsgebühr von 300 auf 1.000 DM erhöht und die Mehreinnahmen zum Ausbau der sozialen Infrastruktur verwendet werden. Falls das nicht ausreiche, könne auch die Einführung einer speziellen ›Wirtschaftsabgabe‹ für Ausländer beschäftigende Unternehmen in Betracht kommen. Ergänzend solle der Aufenthaltsstatus von seit langem in der Bundesrepublik lebenden Ausländern verbessert und die ›illegale‹ Beschäftigung von Migranten entschlossen bekämpft werden. Des Weiteren gehe die Bundesregierung davon aus, »daß die Probleme der Ausländerbeschäftigung nur im europäischen Rahmen dauerhaft zu lösen sind.«44 Der sogenannte Zweite Weg der Anwerbung war per Erlass des Arbeitsministers bereits im November 1972 geschlossen worden.45 Während die Umsetzung der im ›Aktionsprogramm‹ angekündigten Maßnahmen nur sehr schwerfällig von statten ging, nahm ein Teil der Arbeitsmigrantinnen und -migranten den Kampf um tatsächliche Gleichberechtigung am Arbeitsplatz zunehmend selbst in die Hand: Analog zu den wilden Streiks, in denen Migranten in den westlichen Nachbarländern, vor allem in Frankreich, auch ohne Unterstützung durch die großen Gewerkschaften für ihre Rechte kämpften, kam es seit den 1960er Jahren auch in der Bundesrepublik zu Arbeitskämpfen gegen die Diskriminierung

|| 42 Regierungserklärung Willy Brandt im Deutschen Bundestag am 18.1.1973. 43 Kabinettsvorlage zu TO-Punkt 4 der 19. Kabinettssitzung am 6. Juni 1973 ›Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer‹ für den BK, 29.5.1973, BArch K, B136 8845; vgl. Wilhelm Weidenbörner, Aktionsprogramm zur Ausländerbeschäftigung, in: Bundesarbeitsblatt, 24. 1973, H. 7/8, S. 350–354. Zur Genese des Aktionsprogramms vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 236–242. 44 Weidenbörner, Aktionsprogramm, S. 351. 45 Erlass v. 23.11.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), B85 1033.

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ausländischer Arbeitnehmer und vor allem Arbeitnehmerinnen.46 Diese häuften sich im Sommer 1973. Zu den bekanntesten, und zum Teil medial umfangreich begleiteten, zählten der Arbeitskampf bei Pierburg in Neuss und der Kölner Fordstreik.47 Vor allem die Boulevardmedien stilisierten letzteren zu einem Kampf zwischen deutschen und türkischen Arbeitern hoch, der die Gefahr von Nationalitäten- oder gar Rassenunruhen in einer Einwanderungsgesellschaft vorwegnehme. Politiker aller Parteien nutzten daher das Thema zur Profilierung, während sich die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, in ihrem Alleinvertretungsanspruch bedroht sahen und die sozialliberale Regierung aufforderten, die ›Konsolidierungsmaßnahmen‹ schnell umzusetzen.48 Die zu diesem Zeitpunkt als beste administrative Lösung verfolgten Zuzugsbegrenzungen in als ›überlastet‹ angesehene Ballungsgebiete erforderten jedoch umfangreiche Abstimmungen und Verhandlungen. So war beispielsweise lange nicht klar, ob als Bezugsgröße die Arbeitsmarktdaten (Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer) oder die Wohndaten (Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung) gewählt werden sollten und wie die neuen Regelungen überhaupt kontrolliert und durchgesetzt werden sollten. Da kam ein äußerer Anlass gerade recht, um Entschlossenheit zu signalisieren und Fakten zu schaffen. Die Ölkrise von 1973, die auf einer deutlichen Verteuerung eines Grundstoffs des industriellen Wirtschaftsmodells beruhte, beunruhigte die politischen Akteure, welche sich an die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre erinnert sahen, sehr.49 Bundesarbeitsminister Walter Arendt nutzte daher Ende November 1973 die Gelegenheit, die ihm Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften mit ihrer Forderung boten, bei einer Gefahr für den deutschen Arbeitsmarkt infolge der Energiekrise die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu unterbrechen.50 Am 23. November 1973 wies er die Bundesanstalt für Arbeit (BA) an, bis auf Weiteres keine Arbeitnehmer

|| 46 Birke, Wilde Streiks. 47 Vgl. Bojadžijev, Internationale, S. 156–173; Simon Goeke, Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. in: Heinrich BöllStiftung (Hg.), Politische Partizipation & Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft. Dossier, Berlin 2011, S. 16–19; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 243–261; Jörg Huwer, ›Gastarbeiter‹ im Streik. Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973, Köln 2013; sowie die Beiträge in: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004; Dieter Braeg (Hg.), »Wilder Streik – das ist Revolution«. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2012. 48 Zum 1.9.1973 trat die Erhöhung der Vermittlungsgebühr von 300 auf 1.000 DM in Kraft. 49 Vgl. Werner Abelshauser, Aus Wirtschaftskrisen lernen – aber wie? Krisenszenarien im Vergleich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 57. 2009, S. 467–483; Marcel Berlinghoff, Der Einwanderungsstopp-Reflex. Migrationskontrolle als Reaktion auf wirtschaftliche Krisen, in: Meik Woyke (Hg.), Arbeitnehmerinteressen in Krisenzeiten, Bonn [2015]. 50 Heinz Richter, DGB und Ausländerbeschäftigung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 25. 1974, S. 35–40, hier S. 39f.

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aus den Anwerbestaaten mehr zu vermitteln.51 Damit hob er für Arbeitsmigranten aus ›nicht-westlichen‹ Drittstaaten die einzig verbliebene legale Möglichkeit auf, in der Bundesrepublik zu arbeiten. Für Staatsangehörige der EWG-Mitgliedsländer und anderer westlicher Staaten wie der Schweiz oder den Vereinigten Staaten änderte sich dagegen nichts.52 Aufgrund der Bindung der Aufenthalts- an die Arbeitserlaubnis war der Anwerbestopp jedoch mehr als eine Grenzschließung für potentielle Arbeitsmigranten außerhalb Deutschlands. Auch ›Gastarbeiter‹, die bereits in der Bundesrepublik lebten und ihre Arbeitsstelle verloren, mussten damit rechnen, ausgewiesen zu werden beziehungsweise nach einem Heimaturlaub nicht wieder einreisen zu können.53 Tatsächlich war der Vermittlungsstopp als vorübergehende Maßnahme gedacht, die nach dem Wiederanspringen der Konjunktur per Erlass wieder aufgehoben werden konnte. Dabei sollte die ›Atempause‹ vor allem dazu genutzt werden, eine an die neue Situation angepasste Migrationspolitik zu entwickeln und Steuerungsinstrumente zu entwerfen, die eine »sozial-verantwortliche Konsolidierung« sicherstellen und die »Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien auf Zeit« unterstützen könnten.54 Zwar wurden bereits im Frühjahr 1974 im Rahmen von »Sonderaktionen« Ausnahmen für bestimmte Branchen erlaubt, auch ohne dass die Voraussetzungen für eine generelle Aufhebung des Anwerbestopps in Sicht waren: etwa im Gastgewerbe und der Krankenpflege, aber auch in saisonalen Bereichen wie der Landwirtschaft, der Torf- und Konservenindustrie.55 Der Anwerbestopp – und mit ihm die Grundausrichtung der deutschen Migrationspolitik – blieb allerdings grundsätzlich bis zum heutigen Tage in Kraft.56 || 51 BMA, Bundesarbeitsminister Arendt an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Stingl, 23.11.1973, BArch K B149 54458. 52 Weitere Ausnahmen galten für bestimmte Berufsgruppen wie Künstler, Spezialitätenköche oder Spitzensportler, da diese nicht über das Anwerbeverfahren vermittelt werden mussten. 53 Vgl. Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6: 1974–1982, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 2008, S. 751–777; Huber/Unger, Determinanten. 54 BMA, Vermerk über eine hausinterne Besprechung zum Anwerbestopp, 5.2.1974, BArch K, B149 59835; Senator für Arbeit und Soziales Berlin an BMA, 26.4.74, ebd., B149 59840; BMA, Vermerk über die Sitzung der AG ›überlastete Siedlungsgebiete‹ am 21.3.1974, ebd. 55 Die entsprechenden Regelungen wurden schließlich in einer Weisung des BA-Präsidenten vom 13.11.1974 zusammengefasst. Diese ist u.a. abgedruckt in: Alice Münscher, Ausländische Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Familiennachzug und generatives Verhalten, München 1979, S. 82–87. Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 259f.; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 347f. 56 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (Hg), Migrationsland 2011. Jahresgutachten mit Migrationsbarometer, Berlin 2011, S. 71. Symbolischer Endpunkt der ›Gastarbeiteranwerbung‹ war die Schließung der deutschen Vermittlungsstellen in den Anwerbestaaten zum Jahresende 1975; Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 264.

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Auch mit der einseitigen Aufhebung der ›Gastarbeiter-Anwerbung‹ blieb die Bundesrepublik in Westeuropa nicht alleine. Von der Schweizerischen ›Globalplafonierung‹ 1970 bis zur französischen ›suspension‹ der Einwanderung 1974 stellten alle westeuropäischen Industriestaaten die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer ein oder schränkten die Möglichkeiten einer legalen Arbeitsaufnahme für gering qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittländern so ein, dass dies einem Anwerbestopp gleich kam.57 Die Ölkrise bot dabei nur einen willkommenen, häufig erst in der Rückschau als Erklärung herangezogenen Anlass, die mit der ›Gastarbeiterbeschäftigung‹ verbundene Einwanderung zu drosseln.

2 Einwanderung im Nichteinwanderungsland Vor dem Erfahrungshintergrund des Konjunkturabschwungs von 1966/67, als infolge gezielter Beschränkung der Anwerbung und stark abnehmender Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt mit der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer auch die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer deutlich gesunken war, war der Anwerbestopp mehr als nur eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Vielmehr erhofften sich die Regierungsbeamten wie auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit einen Rückgang der Ausländerzahlen und damit der Einwanderung, die von vielen weiterhin nur als vorübergehendes Phänomen angesehen wurde. In der Praxis zeigte sich diese Erwartung beispielsweise in der Bildungspolitik, die in die Kulturhoheit der Bundesländer fällt. So wurde in einigen Ländern, etwa in Bayern oder in Hessen noch bis weit in die 1980er Jahre an Maßnahmen festgehalten, die die ›Rückkehrfähigkeit‹ der Kinder von Migranten erhalten sollte. Teilweise durch separate ›Ausländerklassen‹, teilweise durch zusätzlichen Unterricht in Sprache und Kultur des Heimatlandes, sollten diese bei einer bald erwarteten Rückkehr der Familien in die Herkunftsländer unterstützt und die dortige Wiedereingliederung gefördert werden. Andere Landesregierungen, wie etwa in Nordrhein-Westfalen, setzten bereits früh auf die Förderung der Eingliederung in das allgemeine Bildungssystem, um die Integration der migrantischen Familien zu unterstützen.58 Gleichwohl erfüllte sich von allen europäischen Staaten nur in der Schweiz die Hoffnung auf einen deutlichen Rückgang der Ausländerzahlen und auch hier nur verspätet infolge einer starken Rezession in Verbindung mit einer äußerst restrikti-

|| 57 Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹. 58 Vgl. Helmut Heyden, Schul- und Berufsausbildung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer, in: Bundesarbeitsblatt, 24. 1973, H. 7/8, S. 359–362; Ursula Mehrländer u.a., Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland. Repräsentativuntersuchung ‘80. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1981; exemplarisch als lokale Untersuchung: Karpf, Eine Stadt.

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ven Aufenthaltspolitik. In allen anderen Ländern wurde durch die genannten Maßnahmen nur der Anstieg des Anteils der Ausländer an der Bevölkerung gebremst sowie der Umfang der Ausländerbeschäftigung gedrosselt, die Einwanderung setzte sich jedoch größtenteils ungewollt fort.59 Für die Bundesrepublik können hierfür zwei spezifische und ein allgemeiner Grund zur Erklärung herangezogen werden: Zum einen waren Bürger ›westlicher‹ beziehungsweise der EWG-Mitgliedstaaten, darunter die große Gruppe der Italiener, aufgrund der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit vom Anwerbestopp gar nicht betroffen. Die Migranten aus Drittstaaten, vor allem Jugoslawen und Türken, standen durch die Migrationsbeschränkung dagegen vor der Situation, dass eine Rückkehr vermutlich endgültig und keine weitere ›Rotation‹ im Sinne einer Wiedereinreise mehr möglich sein würde.60 Vor der Wahl, wohl unwiderruflich in ein wirtschaftlich schwächeres sowie – im Falle der Türkei – politisch zunehmend instabiles Land zurückzukehren oder sich längerfristig niederzulassen und Familienmitglieder nachzuholen, entschieden sich viele für letzteres.61 Infolge dessen sank zwar die Zahl ausländischer Beschäftigter nach dem Anwerbestopp tatsächlich, die ausländische Bevölkerung stieg dagegen 1974 zunächst weiter an, um sich in den Folgejahren bei etwa vier Millionen einzupendeln. Zudem passte sie sich strukturell der deutschen Mehrheitsgesellschaft an: Die Beschäftigungsquote sank, während der Anteil nicht-erwerbstätiger Frauen, Kinder und Alter stieg.62 Gefördert wurde diese Entwicklung, ungewollt aber folgerichtig, noch durch sozialpolitische Einzelentscheidungen, etwa der, für im Ausland lebende Kinder deutlich weniger Kindergeld zu bezahlen, als für in der Bundesrepublik lebende Kinder.63 Grundsätzlich jedoch zeigte sich hierin die beschränkte Steuerungsfähigkeit von Migration durch die Politik, die zwar rechtliche Rahmenbedingungen setzt und

|| 59 Vgl. Tomas Hammar, Comparative Analysis, in: ders. (Hg.), European Immigration Policy. A Comparative Study, Cambridge 1985, S. 239–304, hier S. 247; Heinz Fassmann/Rainer Münz, Europäische Migration – ein Überblick, in: dies. (Hg.), Migration in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Trends und politische Reaktionen, Frankfurt a.M. 1996, S. 13–52. 60 Bei Spaniern, Griechen und Portugiesen zeigte sich dieser Effekt weniger deutlich. So kehrten Mitte der 1970er Jahre viele Migranten dieser Nationalitäten in die von Wirtschaftswachstum gekennzeichneten und von den diktatorischen Regimen befreiten jungen Demokratien zurück. Zum anderen ist davon auszugehen, dass diese analog zu Bestimmungen in Frankreich in Erwartung ihres baldigen EWG-Beitritts von inoffiziellen Ausnahmeregelungen profitierten, die ihnen trotz Anwerbestopp einen erleichterten Zugang zu Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen sicherten. Ein baldiger EWG-Beitritt Jugoslawiens oder der Türkei war dagegen weder zu erwarten noch erwünscht. 61 Gleichwohl kehrte infolge des Anwerbestopps bis 1976 rund ein Fünftel der jugoslawischen Arbeitnehmer in ihr Herkunftsland zurück; Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 760. 62 Herbert, Ausländerpolitik, S. 232; vgl. auch Mehrländer, Situation. 63 Vgl. Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 755; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 374–378.

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Migration entweder fördern oder erschweren, diese jedoch nicht verhindern kann.64 Dies liegt nicht nur an der »Autonomie der Migration«65, sondern auch an der Gebundenheit an internationale Abkommen, soziale Rechte und gesellschaftliche Normen.

2.1 Konsolidierungspolitik Da eine zwangsweise Beendigung des Aufenthalts von Ausländern aufgrund seiner schrittweisen rechtlichen Verfestigung häufig weder möglich, noch mit dem humanitären Selbstbild der bundesdeutschen Gesellschaft vereinbar war und zudem den Interessen der Arbeitgeber widersprach, führten die Behörden zunächst die bereits vor dem Anwerbestopp verfolgten Pläne einer ›Globalsteuerung‹ genannten Politik der Zuzugsbeschränkung in als ›überlastet‹ ausgewiesene Ballungsgebiete fort. Infolge dessen wurden ab dem 1. April 1975 26 Städte und Kreise als ›überlastet‹ gekennzeichnet und der Zuzug für Ausländer aus Drittstaaten gesperrt.66 Dazu gehörten Frankfurt, Offenbach, Mannheim, Stuttgart, Remscheid, Krefeld, Nürnberg und München.67 Grundsätzlich durften in diesen Gebieten keine neuen Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse ausgestellt werden. Diese Regel galt jedoch nicht für den Familiennachzug, Staatsangehörige von EWG-Staaten, mit Deutschen Verheiratete oder im Gesundheitssektor Beschäftigte.68 Aufgrund dieser und weiterer Ausnah-

|| 64 Vgl. Pleinen, Migrationsregime; Catherine Wihtol de Wenden, Est-il possible – et souhaitable – de contrôler les flux migratoires? in: Philippe Dewitte (Hg.), Immigration et intégration. L'état des savoirs, Paris 1999, S. 391–396. 65 Vgl. zu diesem Ansatz zuletzt Manuela Bojadžijev, Das ›Spiel‹ der Autonomie der Migration, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2011, H. 2, S. 139–145 und die darauf folgenden interdisziplinären Diskussionsbeiträge, bspw. Jochen Oltmer, ›Autonomie der Migration‹ oder ›Eigen-Sinn‹ von Migranten?, in: ebd., S. 151–153. 66 Ein Gebiet galt automatisch als ›überlastet‹, wenn der Ausländeranteil an der Bevölkerung 12 Prozent (das entsprach in etwa dem doppelten Bundesdurchschnitt) überstieg. Bereits ab 6 Prozent konnten Landkreise und kreisfreie Städte von den Ländern als ›überlastet‹ ausgewiesen werden; vgl. Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 371; Huber/Unger, Determinanten, S. 155– 159; Meier-Braun, Integration, S. 134–164. 67 Vgl. Huber/Unger, Determinanten, S. 156f.; Karpf, Eine Stadt, S. 193f. In Berlin wurden bereits zum 1.1.1975 die Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten als ›überlastet‹ ausgewiesen und sogar der Familiennachzug in diese Gebiete untersagt; Berliner Innensenator an BMI, 9.12.1974, BArch K, B149 59841; vgl. Stephan Lanz, Berlin aufgemischt. Abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, Bielefeld 2007, S. 71f.; Stefan Luft, Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration, Frankfurt a.M. 2009, S. 148f. 68 Eine Reihe weiterer Ausnahmen betraf beispielsweise Griechen und Spanier, mit deren Herkunftsländern Niederlassungsvereinbarungen bestanden, oder Arbeitnehmer, die den ›Ersatzbedarf‹ von Unternehmen decken sollten.

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men blieb aber der erhoffte Erfolg einer Entlastung aus, weshalb die Maßnahme bereits zwei Jahre später, zum 1. Juli 1977, wieder aufgehoben wurde.69 Bereits Ende 1974 war die Anwendung des Inländerprimats, der von Beginn der Anwerbung an deutschen Arbeitsuchenden den Vortritt bei der Besetzung von Stellen garantierte70, per BA-Erlass weiter verschärft worden: Unter anderem sollte die Erstausgabe von Arbeitsgenehmigungen an bereits in Deutschland lebende Ausländer aus Drittstaaten versagt werden – mit Ausnahme von Jugendlichen, die sich bereits vor dem 1. Dezember 1974 legal in der Bundesrepublik aufgehalten hatten.71 Auch diese Regelung bezog sich wohlgemerkt weder auf Staatsangehörige von EWG-Mitgliedstaaten noch auf ›westliche‹ Ausländer, denen die Arbeitsaufnahme grundsätzlich erlaubt war. Als den Arbeits- und Sozialministern der Länder aufging, dass ein ›amtliches Arbeitsverbot‹ für ausländische Jugendliche die sozialen Probleme eher verschärfen als verringern werde, wurde 1977 auf Beschluss der ›BundLänder-Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik‹ der Stichtag der Einreise, ab dem das Arbeitsverbot galt, auf den 31. Dezember 1976 verschoben. Gleichzeitig wurde das Arbeitsverbot für nachziehende Ehegatten verschärft.72 Insgesamt waren die seit dem ausländerpolitischen Aktionsprogramm ergriffenen Maßnahmen bezüglich des Ziels, die infolge der Einwanderung entstandenen sozialen Probleme durch eine Verringerung der Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik zu lösen, wenig erfolgreich gewesen. Zwar hatte insofern eine ›Konsolidierung‹ stattgefunden, dass sich diese Zahl ab Mitte der 1970er Jahre bei etwa vier Millionen einzupendeln schien. Ohne eine – auch offizielle – Anerkennung der Einwanderungssituation und die Ergreifung entsprechender Maßnahmen konnten jedoch die Folgeprobleme der Einwanderung nicht gelöst werden.73

|| 69 Huber/Unger, Determinanten, S. 158. Mit der Vereinbarung zwischen der Türkei und der EWG über die Freizügigkeit von Türken innerhalb der EWG vom Dezember 1976 war die letzte große Gruppe von den Zuzugsbeschränkungen praktisch ausgenommen worden, was die Regelung gänzlich überflüssig machte; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 374. 70 Vgl. den Beitrag von Monika Mattes in diesem Band. 71 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 754. 72 Huber/Unger, Determinanten, S. 160; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 384. Zum 1.4.1979 wurde die Stichtagsregelung durch eine Wartezeitenregelung ersetzt nach der nachreisende Ehepartner nach vier und Jugendliche nach zwei Jahren eine Arbeitserlaubnis erhielten; Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 759. 73 Innerhalb der Bundesregierung war die Anerkennung, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland geworden war, schon Anfang 1973 erfolgt. So sprach die Bundesanstalt für Arbeit (BA) in einem Schreiben an den Bundeskanzler davon, die Bundesrepublik sei wenn auch kein klassisches, so doch ein Einwanderungsland im weiteren Sinne und auch Innenminister Genscher erklärte im Innenausschuss des Bundestags, die Bundesrepublik sei »in Wahrheit ein Einwanderungsland«. In der Vorlage des BMA, die als Basis sowohl der Beratungen in der SpG als auch im Kabinett diente, hieß es, die Bundesrepublik sei »bezüglich der Arbeitnehmer aus den EWG-Staaten […] sogar mehr

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2.2 Integration oder Eingliederung auf Zeit? Hiervon war jedoch auch in den ›Vorschläge[n] der Bund-Länder-Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik‹ keine Spur zu finden. Stattdessen hieß es darin, die Bundesrepublik sei »kein Einwanderungs- sondern ein Aufenthaltsland für Ausländer, die in der Regel nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt aus eigenem Entschluß in ihre Heimat zurückkehren.«74 Der Anwerbestopp müsse langfristig uneingeschränkt aufrechterhalten und die Rückkehrbereitschaft und -fähigkeit verstärkt werden. Gleichwohl sei den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien die Möglichkeit zu geben, »ein in ihrem sozialen und rechtlichen Status gesichertes und in die Gesellschaft integriertes Leben führen [zu] können.«75 Besonderes Augenmerk sei dabei auf die Probleme der ›zweiten Generation‹ zu legen. Entsprechend dieser Forderungen konnte im Folgejahr nach sechs Jahren endlich der Plan des liberal geführten BMI umgesetzt werden, den Aufenthaltsstatus der Migranten aus Drittstaaten zu verbessern76: 1978 bestimmte das Ministerium in einem ›Verfestigungserlass‹, dass in Zukunft die Aufenthaltserlaubnis beim ersten Mal für ein Jahr, bei den folgenden beiden Verlängerungen für jeweils zwei Jahre erteilt werden sollte. Nach fünfjährigem ununterbrochenen legalem Aufenthalt sollte nun eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn eine ›besondere Arbeitserlaubnis‹, eine ›angemessene‹ Wohnung und einfache Sprachkenntnisse nachgewiesen wurden. Nach achtjährigem Aufenthalt konnte dann eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung erteilt werden.77 Auch bezüglich der Staatsangehörigkeit hatte es kleine Fortschritte gegeben: So wurde seit dem 1. Januar 1975 den Kindern binationaler Ehen grundsätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit zugestanden. Gleichwohl ließen die zum 15. Dezember 1978 in Kraft getretenen Einbürgerungsrichtlinien nach Einschätzung von Herbert/Hunn »keinen Zweifel an der grundsätzlichen Haltung, dass eine Einbürgerung nur in Ausnahmefällen in Frage kam.«78 || als ein Einwanderungsland. […] Es wäre allerdings gefährlich, den Begriff ›Einwanderungsland‹ in der öffentlichen Diskussion zu benutzen«, da hierdurch »falsche Vorstellungen« und »unbegründete Befürchtungen« geweckt werden könnten; Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 212f. 74 Zitiert nach Huber/Unger, Determinanten, S. 160; vgl. Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 758f. 75 Zitiert nach Huber/Unger, Determinanten, S. 160. 76 Unmittelbarer Anlass war jedoch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die routinemäßige Neuerteilung der Aufenthaltserlaubnis einen Vertrauensschutz begründe, womit Ausländer nach einigen Jahren ein Recht auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis erlangten. Nina Grunenberg, Die Politiker müssen Farbe bekennen. II. Die Türken in Deutschland. Improvisation statt Integration, in: Die Zeit v. 5.2.1982. 77 Huber/Unger, Determinanten, S. 161–164. Zur ›besonderen Aufenthaltserlaubnis‹ vgl. Pleinen, Migrationsregime, S. 110f. 78 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 756.

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Einen kurzzeitigen Perspektivenwechsel der Migrationspolitik brachte 1978 die Berufung von Heinz Kühn (SPD) zum ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung mit sich. Allein die Wahl des ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen war umstritten, galt dieser doch als Integrationsbefürworter.79 Zugleich zeigten die Befristung des Amtes auf zwei Jahre, ein verhältnismäßig kleiner Etat und fehlende Befugnisse des Sonderbeauftragten, dass es der Bundesregierung nicht um einen starken Fürsprecher der Ausländer in Deutschland, sondern vor allem um den Versuch ging, die interministerielle Selbstblockade von BMA und BMI bei der angestrebten Gesamtkonzeption zur Ausländerpolitik zu überwinden und der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit zu signalisieren. Das Ergebnis übertraf dann aber die Erwartungen der Auftraggeber im Bundeskanzleramt, denn in seinem im September 1979 verfassten Memorandum forderte Kühn nichts weniger als eine mit der »Anerkennung der faktischen Einwanderung« verbundene »konsequente[n] Integrationspolitik«.80 In einem Begleitbrief an Bundeskanzler Schmidt schrieb er, »daß die Bundesrepublik für die vier Millionen ausländische[n] Arbeitskräfte und ihr[e] Familienmitglieder […] ein definitives Einwanderungsland« sei.81 Daher müssten die integrativen Maßnahmen insbesondere für die Kinder und Jugendlichen »erheblich« intensiviert, segregierende Einrichtungen wie »Nationalklassen« abgeschafft und Jugendlichen der ungehinderte Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt gewährt werden. Ebenso solle in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen ein Optionsrecht auf Einbürgerung zugestanden und das Einbürgerungsrecht zugunsten der »legitimen besonderen Interessen der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien« reformiert werden. Schließlich solle die Sozialberatung für Migranten gestärkt und diesen »nach längerem Aufenthalt« das kommunale Wahlrecht gewährt werden.82 Für die bundesdeutsche Öffentlichkeit, die jahrzehntelang auf eine Rückkehr der ›Gastarbeiter‹ verwiesen worden war und der eine Integration oder gar Einbürgerung der Ausländer wenn überhaupt nur unter einer ethno-kulturell gedachten Assimilierung vorstellbar schien, waren die Vorschläge Kühns eine Provokation.83 Zwar konnte der ›Schock‹ der gesellschaftlichen und politischen Debatte neuen Schwung geben, doch anstelle einer ›heilsamen Wirkung‹ fiel die Diskussion bald in alte Bahnen zurück und das Memorandum wurde nur als eine weitere unter den vielen Stellungnahmen der bisher eingebundenen Akteure – Ministerien, Sozial|| 79 Ebd., S. 760. 80 Heinz Kühn, Stand und Entwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Memorandum des Beauftragten der Bundesregierung, Bonn 1979, S. 3. 81 Der Ausländerbeauftragte an den Bundeskanzler, 28.9.1979, BArch K, B149 83929, zitiert nach Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 760. 82 Kühn, Stand und Entwicklung, S. 3f. 83 Vgl. Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 399–407.

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partner, Wohlfahrtsverbände und Kirchen – verhandelt.84 In den ›Orientierungslinien für die Weiterentwicklung der Ausländerpolitik‹, die das BMA im Februar 1980 vorlegte und die zugleich die Grundlage für einen Kabinettsbeschluss im März bildeten, blieben die Forderungen Kühns weitgehend unberücksichtigt.85 Zumindest jedoch wurde seinem Wunsch nach einer Nachfolge trotz erheblicher Widerstände nachgegangen und das Amt des Ausländerbeauftragten am 1. Januar 1981 mit der stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Liselotte Funcke wiederbesetzt – ein Glücksfall für die in der Bundesrepublik lebenden Migranten, denn Funcke bewährte sich nach dem Regierungswechsel als zähe Verteidigerin der Ausländerrechte in Deutschland.

2.3 Konsolidierung durch Rückkehrförderung? Zunächst jedoch konnte auch sie nichts gegen die grundsätzliche Ausrichtung der Ausländerpolitik auf eine als Verringerung der Ausländerzahlen verstandene ›Konsolidierung‹ ausrichten. Angesichts einer seit 1979 wieder wachsenden Ausländerbevölkerung schien die Stimmung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nämlich eine restriktive Politik zu erfordern.86 Allein zwischen September 1979 und dem gleichen Monat des Folgejahres war die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik durch Familiennachzug, Asylbewerber und ›Geburtenüberschuss‹ um 300.000 gestiegen.87 Dieser Zuwachs entfiel zu einem großen Teil auf türkische Staatsbürger, der zu dieser Zeit größten und bei weitem auch als am fremdesten wahrgenommenen nationalen Ausländergruppe.88 Waren zu Beginn der Gastarbeiteranwerbung in den 1950er und 1960er Jahren noch ›Südländer‹ im Allgemeinen verdächtig gewesen, heißblütig und »von völlig anderer Kultur zu sein«, so galten Italiener, Spanier und andere Südeuropäer als mittlerweile ›nicht mehr ganz so fremd‹.89 Ihre Rolle || 84 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 761. In den Niederlanden war es zur gleichen Zeit im Zusammenhang mit einem parlamentarischen Gutachten zu einer Kehrtwende der Migrationsund Minderheitenpolitik gekommen; vgl. Rinus Penninx, Towards an Overall Ethnic Minorities Policy? Outline of the Social Position in the Netherlands of Moluccans, Surinamese and Antillean Dutch Nationals and Mediterranean Workers, and a Survey of Official Dutch Policy, in: Netherland’s Scientific Council for Government Policy (Hg.), Ethnic Minorities, Den Haag 1979; Lucassen/Penninx, Newcomers. 85 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 762; vgl. dagegen Ursula Mehrländer, Ausländerpolitik und ihre sozialen Folgen, in: Griese/Brumlik (Hg.), Der gläserne Fremde, S. 89–102, hier S. 91. 86 Herbert, Ausländerpolitik, S. 239–241. Zum Anstieg des offenen Rassismus, rechtsextremer Verlautbarungen und Gewalttaten dieser Zeit vgl. auch Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 770f; Hans Schueler, Die Angst vor den Fremden. In der Bundesrepublik wächst die Ausländerfeindlichkeit bedrohlich schnell, in: Die Zeit, 1.1.1982. 87 Herbert, Ausländerpolitik, S. 247. 88 Laut Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 451, wuchs die Zahl der Türken von September 1979 bis September 1981 ebenfalls um 300.000. 89 Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 362f.

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wurde nun von ›Außereuropäern‹, insbesondere Türken, übernommen, die als ›absolut fremd‹ und daher nicht integrierbar galten. Wurde in den 1980er Jahren von Ausländern geredet, so waren in der Regel ›die Türken‹ gemeint und aus dem ›Ausländerproblem‹ wurde ein ›Türkenproblem‹.90 Angesichts einer gesellschaftlich weit verbreiteten Abwehrhaltung wurde im November 1981 vom Bundeskabinett beschlossen, dass ein weiterer Zuzug von Ausländern aus Drittstaaten »unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden«91 solle. Wie das aussehen könnte, zeigte sich im gleichen Monat in Berlin, wo Innensenator Heinrich Lummer unter anderem verfügte, volljährig gewordene erwerbslose Ausländer, die noch keine fünf Jahre rechtmäßig in Berlin lebten, auszuweisen, den Ehegattennachzug weiter zu erschweren und Jugendlichen unter 16 Jahren den Zuzug zu verwehren.92 Nach umfangreichen Protesten wurde der ›Lummer-Erlass‹ im Dezember jedoch wieder zurückgezogen. Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung sah zudem eine Prüfung vor, unter welchen Voraussetzungen finanzielle Anreize die Rückkehr der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer beschleunigen könnten. Die Idee der Rückkehrförderung war in der Bundesrepublik bereits Ende der 1960er Jahre im Bereich der Entwicklungshilfepolitik aufgekommen.93 Demnach sollten die Herkunftsländer auch durch Investitionen und Know-how-Transfer wirtschaftlich von der ›Gastarbeiter‹-Migration profitieren und zugleich den ausländischen Arbeitnehmern nach der Rückkehr gemäß dem Rotations-Modell eine Perspektive geboten werden. So wurde im sogenannten ›Ankara-Abkommen‹ von 1972 und dem ›Kreditsonderfondsabkommen‹ aus demselben Jahr zwischen der Türkei und der Bundesrepublik vereinbart, Remigranten durch Schulungen und Beratungen wie auch finanziell zu unterstützen.94 || 90 Vgl. Nina Grunenberg, Was tun mit den Türken? Parteien und Gewerkschaften stehen hilflos vor einem selbstgeschaffenen Problem, in: Die Zeit v. 29.1.1982; Manfrass, Türken; Hunn, Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹, S. 453; Leo Lucassen, The Immigrant Threat. The Integration of Old and New Migrants in Western Europe since 1850, Urbana 2005. 91 Zitiert nach Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 763. Erneut waren damit keine ›westlichen‹ Ausländer wie Schweizer, Kanadier oder Australier gemeint; vgl. auch die von Grunenberg überlieferte Episode, nach der Bundeskanzler Helmut Schmidt auf das Ansinnen des BDIPräsidenten Rolf Rodenstock, weitere Ausnahmen vom Anwerbestopp zuzulassen, mit einem nachdrücklichen »Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze« reagierte; Grunenberg, Farbe bekennen. 92 Vgl. Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 763f; Schueler, Angst. 93 Vgl. Martin Frey, Direkte und indirekte Rückkehrförderung seitens der Aufnahmeländer. Überblick, in: Körner/Mehrländer (Hg.), Ausländerpolitik, S. 15–63. In Frankreich hatte es bereits in der Zwischenkriegszeit ›erfolgreiche‹ Rückkehrprogramme gegeben. 1931/32 übernahm der Staat für rund 450.000 Ausländer die Reisekosten bis zur Grenze, die Frankreich infolge massenhafter Ausweisungen verlassen mussten; ebd., S. 15. 94 Ein Schwerpunkt lag dabei in der Gründung von genossenschaftsähnlichen Arbeitnehmergesellschaften. Ähnliche Vereinbarungen wurden mit Jugoslawien und Griechenland getroffen; Frey, Rückkehrförderung, S. 36f.; vgl. Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 759f. Zu den Arbeitnehmergesellschaften vgl. Hans Werner Mundt, Politische, technische und finanzielle Kooperation

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Während diese Kooperation ab 1976 an Fahrt gewann, rückte die Rückkehrförderung auch in den Fokus der ›Konsolidierungspolitik‹. So forderte der badenwürttembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) wiederholt finanzielle Anreize einer beschleunigten Rückkehr.95 Die Bundesregierung lehnte zu diesem Zeitpunkt jedoch »finanzielle Anreize aus Haushaltsmitteln zur verstärkten Rückkehr von ausländischen Arbeitnehmern«96 ebenso ab wie eine Regelung zur Beitragserstattung von Sozialabgaben. Dennoch sei es ein vorrangiges Ziel, »daß die Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer in ihre Heimatländer auch von den Rückkehrern selbst als Chance für sie und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Heimatländer verstanden wird.«97 In diesem Sinne benannte 1977 auch die Bund-Länder-Kommission die verstärkte Förderung von »Rückkehrbereitschaft und Rückkehrfähigkeit der in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien« als eine der Grundpositionen der zukünftigen Ausländerbeschäftigungspolitik.98 Zur gleichen Zeit baute Frankreich seine bereits in der Zwischenkriegszeit erprobte und 1975 reaktivierte »aide au rétour« aus.99 Nachdem diese wohl auch aufgrund geringer Beträge kaum Wirkung gezeigt hatte, zahlte die französische Regierung ab 1. Juli 1977 erwerbslosen Immigranten aus Drittstaaten bei einer Rückkehr 10.000 FF sowie zusätzlich 5.000 FF für deren erwerbslose beziehungsweise 10.000 FF für deren erwerbstätige Ehegatten und schließlich weitere 5.000 FF für jedes mit ihnen ausreisende Kind. Zudem wurden die Kosten der Heimreise übernommen. Nachdem die Regierung Schmidt mit dem Kabinettsbeschluss von 1981 das Thema wieder auf die Tagesordnung gebracht hatte, folgte ein politischer Wettlauf um das beste Konzept. Bereits am 11. März 1982 brachten die CDU/CSU-regierten Bundesländer einen von Baden-Württemberg erarbeiteten Gesetzentwurf zur ›Konsolidierung des Zuzugs und der Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern‹, kurz: ›Ausländerkonsolidierungsgesetz‹, in den Bundesrat ein, der neben einer weiteren Begrenzung der Einreisemöglichkeiten die finanzielle Förderung der freiwilligen Rückkehr vorsah.100 Hierzu sollte anstelle des Arbeitslosengeldes ein einmaliger Betrag gezahlt sowie die Beiträge zur Rentenversicherung erstattet werden. Zudem solle, so ein gleichzeitig eingebrachter Entschließungsantrag, die Ent-

|| zwischen Aufnahme- und Entsendeländern aus Sicht von CIM, in: Körner/Mehrländer (Hg.), Ausländerpolitik, S. 251–255. 95 Frey, Rückkehrförderung, S. 37. 96 Entwurf von Thesen zur Ausländerpolitik eines Ausschusses der Bundesregierung vom 23. Oktober 1975, in: epd-Dokumentation 5/76, Frankfurt a.M. 26.1.1976, S. 4–10, hier S. 6. 97 Ebd., S. 7. 98 Frey, Rückkehrförderung, S. 37. 99 Vgl. ebd., S. 42–49; Klaus Manfrass, Rückkehrförderung. Der Fall Frankreich, in: Körner/Mehrländer (Hg.), Ausländerpolitik, S. 73–86. 100 Frey, Rückkehrförderung, S. 38.

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wicklungshilfe verstärkt zur Förderung der Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern eingesetzt werden. Vier Monate später, am 14. Juli 1982, beschloss die Bundesregierung eigene ›Grundpositionen zur Rückkehrförderung‹. Diese sahen unter anderem die Möglichkeit vor, staatlich geförderte Spareinlagen (etwa Bausparverträge) ohne Verlust der staatlichen Zuschüsse vorzeitig an Remigranten auszuzahlen. Ebenso sollten Leistungen aus Betriebsrenten vorab ausgezahlt werden können. Zusätzliche finanzielle Anreize wurden von der sozial-liberalen Regierung jedoch weiterhin abgelehnt. Der Regierungswechsel verzögerte eine Konkretisierung dieser Pläne, doch die Regierungserklärung Helmut Kohls am 13. Oktober 1982, in der dieser die Verwirklichung einer »menschlichen Ausländerpolitik« als eine der vier dringendsten Aufgaben seiner Regierung bezeichnete, ließ eine baldige Umsetzung der Unionspläne erwarten.101 Tatsächlich legte das BMA bereits im Juni des Folgejahres einen Gesetzentwurf vor und am 28. November 1983 trat das ›Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern‹ in Kraft.102 Darin wurden zusätzlich zur Zahlung von finanziellen ›Rückkehrhilfen‹ der Abbau von ›Rückkehrhemmnissen‹ und die Beratung ›rückkehrwilliger Ausländer‹ geregelt. Letzteres war angesichts der komplizierten Regeln, die für eine finanzielle Unterstützung galten, auch notwendig. So konnten Arbeitnehmer, die nach dem 30. Oktober 1983 infolge von Betriebsstillegungen oder Konkurs erwerbslos wurden oder seit mindestens sechs Monaten von Kurzarbeit betroffen waren, bis zum 30. Juni 1984 einen Antrag auf Rückkehrhilfe in Höhe von 10.500 DM plus 1.500 DM für jedes mit dem Arbeitnehmer ausreisende Kind stellen, wenn sie mit ihrer Familie bis zum 30. September 1984 aus dem Bundesgebiet ausreisten. Zudem konnten sich alle remigrierenden Arbeitnehmer ihre betrieblichen und gesetzlichen Rentenbeiträge ohne Wartefrist auszahlen lassen und die staatlichen Zuschüsse für geförderte Spareinlagen behalten.103 Nach Angaben der Bundesregierung kehrten infolge der Rückkehrförderung 300.000 Ausländer in ihre Heimatländer zurück, was diese als Erfolg wertete.104 Kritiker wiesen dagegen darauf hin, dass dies im Vergleich zu den Vorjahren ledig|| 101 Die anderen drei bis zur Neuwahl anzugehenden Punkte des ›Dringlichkeitsprogramms‹ waren die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Sicherung des sozialen Netzes und die Grundlagenerneuerung der Außen- und Sicherheitspolitik. Regierungserklärung Bundeskanzler Kohl am 13.10.1982; vgl. Ulrich Herbert/Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7: 1982–1989, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 2005, S. 621–651, hier S. 627; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. 1982–1990, München 2006, S. 298. 102 Frey, Rückkehrförderung, S. 39–41. 103 Zudem legte die Bundesregierung 1985 ein ›Gesetz über eine Wiedereingliederungshilfe im Wohnungsbau für rückkehrende Ausländer‹ vor, das die staatlich geförderte Nutzung von Bausparverträgen auch für den Bau oder Erwerb von Wohneigentum in Nicht-EWG-Staaten erlaubte; ebd., S. 41. 104 Vgl. ebd., S. 40; Herbert, Ausländerpolitik, S. 255.

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lich eine leicht erhöhte Zahl an Ausreisen darstellte und es sich hierbei vor allem um Mitnahmeeffekte gehandelt habe.105

2.4 Streit ums Nachzugsalter blockiert Reform des Ausländergesetzes Neben der Rückkehrförderung hatte Bundeskanzler Kohl in der Regierungserklärung als weitere Grundsätze der Ausländerpolitik seiner Regierung die »Integration der bei uns lebenden Ausländer« sowie die Beibehaltung des Anwerbestopps und die Begrenzung des Familiennachzugs genannt und angekündigt, »alles zu tun, um den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern.«106 Dabei lag der Fokus der Integrationspolitik, die »ein möglichst spannungsfreies Zusammenleben von Ausländern und Deutschen« ermöglichen solle, auf der Verhinderung einer »unbegrenzte[n] und unkontrollierte[n] Einwanderung«.107 Nach seiner Wiederwahl kündigte Kohl eine auf Arbeitsergebnissen einer Kommission von Bund, Ländern und Kommunen beruhende Reform des Ausländergesetzes an.108 Doch auch innerhalb der neuen Union-FDP-Regierung bestand bei weitem kein Konsens über die zukünftige Ausländerpolitik. Während das Rückkehrförderungsgesetz schnell das Kabinett und den Bundestag passierte, blieben die Vorschläge von CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann, die die angekündigte restriktive Ausländerpolitik umsetzen sollten, regierungsintern umstritten. Darüber konnte auch die Koalitionsvereinbarung nicht hinwegtäuschen, die einen deutlichen Schwenk von der Arbeits- zur Innen- und Rechtspolitik markierte und – wieder einmal – offiziell feststellte: »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland.«109 Daher solle zwar die Integration der seit vielen Jahren mit ihren Familien in der Bundesrepublik lebenden Ausländern durch berufliche Qualifizierung und Sprachförderung in den Schulen unterstützt und »der sozialen Isolation und || 105 Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, ebd.; Bade, Ausländer, S. 58–60. 106 Regierungserklärung Bundeskanzler Kohl am 13.10.1982; zur Asylpolitik vgl. den Beitrag von Patrice G. Poutrus zur Asylpolitik in diesem Band. 107 Regierungserklärung Bundeskanzler Kohl am 13.10.1982. Dabei bezog er explizit die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer, die gemäß dem Assoziierungsabkommen mit der EWG von 1963 ab 1986 in Kraft treten sollte, mit ein. Zum Integrationsbegriff der Regierung vgl. auch Fritz Franz, Ausländerrecht – Kritische Bilanz und Versuch einer Neuorientierung, in: Griese/Brumlik (Hg.), Der gläserne Fremde, S. 73–88, hier S. 85f. 108 Regierungserklärung Bundeskanzler Kohl am 4.5.1983; vgl. Herbert, Ausländerpolitik, S. 250– 252; Meier-Braun, Einwanderungsland, S. 57f. 109 Koalitionsvereinbarung 1982 zwischen den Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP für die 9. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, abgedruckt in: Bonner Depesche 10/1982, Archiv des Liberalismus, IN5-304. Darin war die Ausländerpolitik als erster Punkt des Teils Innen- und Rechtspolitik aufgeführt.

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der Ghettobildung in den Städten entgegen[gewirkt]« werden. Gleichwohl sei dabei »die kulturelle Eigenständigkeit [der Ausländer] zu respektieren« und ihre Rückkehrbereitschaft zu fördern. Migration wurde in der Vereinbarung ausschließlich negativ beurteilt: Neben der Gefahr der »Ghettobildung« thematisierte der Text »illegale Einreisen und Beschäftigungen«, den »Mißbrauch des Asylrechts« und gewalttätige politische Auseinandersetzungen von Ausländern im Inland, die allesamt bekämpft werden müssten.110 Damit verschoben sich auch die Fronten zwischen den Ressorts: Hatten sich in der sozialliberalen Regierung die FDP-Innenminister Genscher, Maihofer und Baum mit ihren Integrationsplänen lange nicht gegen die Arbeitsminister Arendt und Ehrenberg behaupten können, so stellten sich nun Arbeitsminister Blüm (als Vertreter der CDU-Sozialausschüsse) und mit der Ausländerbeauftragten Funcke sowie Vizekanzler Genscher große Teile der FDP gegen das CSU-geführte Innenministerium.111 Aufgrund dieser anhaltenden Selbstblockade wurde auch lange nichts aus dem angekündigten neuen Ausländergesetz. Die bereits im September 1983 im BMI ausgearbeiteten Pläne, die unter anderem eine Senkung des Nachzugsalters auf sechs Jahre und Beschränkungen des Familiennachzugs aus ›nicht-westlichen‹ Drittstaaten sowie vereinfachte Ausweisungsmöglichkeiten vorsahen, waren innerhalb der Koalition nicht mehrheitsfähig.112 Die Ausländerbeauftragte und der Bundesarbeitsminister äußerten schwere Bedenken, und nachdem die Debatte, insbesondere um eine Begrenzung des Nachzugsalters, weiter schwelte, sah sich Außenminister Genscher gar gezwungen, mit seinem Rücktritt zu drohen, sollten die gegenüber der Türkei eingegangenen Verpflichtungen nicht beibehalten werden.113 Auch ein zweiter Anlauf des BMI scheiterte 1988, als das Ministerium die Existenz eines an die Öffentlichkeit gelangten neuen Gesetzentwurfs nach lautstarken Protesten innerhalb wie außerhalb der Koalition erst bestritt, dann als ›Referentenentwurf‹ herabstufte und schließlich zurückzog.114 Wenngleich auch dieser 200 Seiten starke Entwurf einen Teil zu Integrationsfragen neben einem zweiten zum Aufenthaltsrecht enthielt, so war die Ausrichtung auf eine Begrenzung und Verminderung der offiziell nicht anerkannten Einwanderung doch deutlich. Integrationsbemühungen sollten sich nur auf vor dem Anwerbestopp eingereiste ›Gastarbeiter‹ und ihre Familien beziehen. Der Aufenthalt aller Übrigen sollte nicht wie bisher schrittweise automatisch verfestigt werden, vielmehr sollte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur noch eine »auf begründete Einzelfälle beschränkte Aus|| 110 Als weitere Maßnahmen wurde die Verhinderung des Inkrafttretens der Freizügigkeit für Türken und die Möglichkeit der leichteren Abschiebung straffällig gewordener Ausländer genannt. 111 Vgl. Herbert/Hunn, Beschäftigung 1982–1989, S. 630–632; Wirsching, Abschied, S. 299–302. 112 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1982–1989, S. 635f. 113 Herbert, Ausländerpolitik, S. 253. 114 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1982–1989, S. 646–648; vgl. Bade, Ausländer, S. 61f.

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nahme«115 sein. Ebenfalls Ermessenssache sei der Nachzug von Kindern zwischen sechs und 15 Jahren, und der Ehegattennachzug sollte künftig nur noch für Ausländer möglich sein, die seit mindestens acht Jahren in der Bundesrepublik lebten und deren »Einbürgerung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gescheitert«116 sei. Wer länger als ein Jahr Arbeitslosenhilfe empfing, solle zudem ausgewiesen werden können. Die Ablehnungsfront war diesmal noch breiter und umschloss auch die Christdemokratische Arbeitnehmerschaft und den Vorsitzenden des Unions-Fraktionsausschusses für Inneres Johannes Gerster. In der Folge wurde Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble beauftragt, gemeinsam mit den Ausländerexperten der drei Regierungsparteien sowie den Staatssekretären des BMI und des Bundesministeriums für Justiz einen innerhalb der Koalition kompromissfähigen Vorschlag auszuarbeiten, was diesem auch gelang. Das Gesetz stach im Wesentlichen durch die rechtliche Absicherung des Aufenthaltsstatus hervor und konnte nach der Ablösung des polarisierenden Zimmermann durch Schäuble als Innenminister sowie im Schatten des Mauerfalls und der anstehenden deutschen Wiedervereinigung durch Bundestag und Bundesrat gebracht und schließlich am 9. Juli 1990 verkündet werden. Es trat am 1. Januar 1991 in Kraft.117 Bis dahin war, wie Herbert und Hunn zu Recht betonen, eine »grundsätzlich[e] Verständigung über den sich schon seit Ende der 1960er-Jahre abzeichnenden Einwanderungsprozess« in den 1970er Jahren und darüber hinaus ausgeblieben, was diese »trotz mancher Einsichten und anhaltender Kritik in Presse und Öffentlichkeit« als »prägnantestes Merkmal der Ausländerpolitik« jener Zeit bezeichnen.118

3 Europäische Migrationspolitik vom Sozialpolitischen Aktionsprogramm bis Schengen Einige Aspekte der europäischen und Beispiele paralleler Entwicklungen in den Nachbarländern wurden in den vorangegangenen Kapiteln bereits skizziert. Im Folgenden soll noch einmal konkret auf Aspekte der europäischen Einbindung des bundesdeutschen Migrationsregimes in den 1970er und 1980er Jahren eingegangen werden. || 115 Entwurf für ein Gesetz zur Regelung des Ausländerrechts, 8.1.1988, BArch K, B 149/83662, zitiert nach Herbert/Hunn, Beschäftigung 1982–1989, S. 647. 116 Ebd. 117 Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, S. 278–284; Herbert/Hunn, Beschäftigung 1982–1989, S. 649f.; Meier-Braun, Einwanderungsland, S. 62f.; sowie den entsprechenden Beitrag von Holger Kolb in diesem Band. 118 Herbert/Hunn, Beschäftigung 1974–1982, S. 755.

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3.1 Sozialpolitische Aktionsprogramme und Rechtsstatuten für Wanderarbeitnehmer Einen wesentlichen Akteurs- und Handlungsrahmen bildete dabei die Europäische Gemeinschaft (EG) in deren Fachausschüssen sich die nationalen Fachbeamten untereinander und mit Vertretern der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften über die ›Probleme der Wanderarbeitnehmer‹, wie es im EG-Jargon hieß, austauschten. Nicht von ungefähr hatte die Bundesregierung in ihrem ›Aktionsprogramm Ausländische Arbeitnehmer‹ vom Juni 1973 darauf hingewiesen, dass eine Lösung des ›Ausländerproblems‹ nur im europäischen Rahmen gefunden werden könne.119 Zu dieser Zeit befassten sich in Brüssel bereits drei Ausschüsse mit den Problemen der Ausländerbeschäftigung. Zudem hatte der Pariser Gipfel im Vorjahr die Erarbeitung eines Sozialpolitischen Aktionsprogramms angeregt, das auch die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien berücksichtigen sollte.120 Für die EG-Kommission war das Bemühen um die Förderung der Arbeitsmigranten als benachteiligter Gruppe aus dem Verständnis heraus, gleiche Marktbedingungen für alle Beteiligten zu schaffen, nur logisch. Disparate Ausgangschancen der Arbeitnehmer aber auch der Unternehmen und Regionen führten diesem Verständnis nach zu einer Verzerrung des Binnenmarktes wobei die Staatsangehörigkeit der Arbeitsmigranten keine Rolle spielte. Von daher richtete sich das Interesse der Kommission auch auf Drittstaatsangehörige sowie die Harmonisierung der europäischen Migrationspolitik. Hierzu wurde im November 1973 eine ›Ad hoc-Gruppe‹ beauftragt, die Ende 1974 das ›Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien‹ vorlegte.121 Darin wurden Regelungen zum Transfer von Sozialleistungen, Maßnahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie des Sprachunterrichts, aber auch die Einrichtung von Beratungsstellen für Migranten, die Gewährleistung der Schulausbildung ihrer Kinder und eine umfassende medizinische Versorgung vorgeschlagen. Unterschiede zwischen Staatsangehörigen der EG-Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen sollten schrittweise aufgehoben werden: »Die Schaffung gleicher Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Gewährleistung gleicher Arbeitsverdienste sowie gleicher wirtschaftlicher Rechte für Arbeitnehmer aus der Gemein-

|| 119 Weidenbörner, Aktionsprogramm, S. 351. 120 Zum Folgenden vgl. Marcel Berlinghoff, Between Emancipation and Defence: The Failure of the Commission’s Attempt to Concert a Common European Immigration Policy, in: L'Europe en Formation. Journal of Studies on European Integration and Federalism, 2009, H. 353–354, S. 183–195. 121 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien (von der Kommission dem Rat vorgelegt), (KOM (74) 2250), Brüssel 18.12.1974.

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schaft und aus Drittländern sowie ihrer Familienangehörigen«122 sei eines der Hauptziele des Aktionsprogramms. Neben dem Kapitel zu Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigranten und ihrer Familien enthielt das Aktionsprogramm auch drei Abschnitte, die über die eigentliche Bestimmung des Dokuments hinausgingen: die Gewährung politischer Rechte, die Bekämpfung ›illegaler Migration‹ sowie eine Koordinierung der Migrationspolitik in Europa. Da konkrete integrationsrelevante Entscheidungen vor allem auf kommunaler Ebene getroffen würden, sollten nach belgischem Vorbild in allen EG-Staaten Migrationsräte eingerichtet werden, die Migranten »wirklichen Einfluss auf die kommunalen Entscheidungen verschaff[en] und zugleich ihre angemessene Vertretung in den verschiedenen kommunalen Instanzen im Erziehungs-, Sozialund Kulturbetrieb«123 sicherstellen sollten. Dies sei jedoch nur als Zwischenschritt zu einem allgemeinen kommunalen Wahlrecht zu sehen, das ab 1980 den ausländischen Arbeitnehmern zuerkannt werden solle. Bei den Mitgliedstaaten stieß insbesondere Letzteres auf großen Widerstand, weshalb zunächst nur die angekündigte Zusammenarbeit zur Bekämpfung ›illegaler Migration‹ angegangen wurde. In der folgenden Sitzung des ›Fachausschusses Freizügigkeit‹ im Februar 1975 wurde beschlossen, »a) diesen Punkt vorrangig in das Konzertierungsprogramm aufzunehmen; b) die Grenzkontrollen und die Kontrolle in den Unterkünften zu verschärfen; c) die Strafen für die betreffenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu verschärfen; d) die Rückführungen unbedingt in das Ursprungsland vorzunehmen; e) die Arbeits- und Innenministerien in die Konzertierung mit einzubeziehen.«124 Im Folgejahr schlug die Kommission dem Rat eine Richtlinie zur Rechtsangleichung im Kampf gegen ›illegale Migration‹ vor.125 Die einzige sozialpolitische Forderung des Aktionsprogramms, die in der Folge umgesetzt wurde, war dagegen die ›Richtlinie über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern‹, die 1977 verfügte, dass Kinder von Migranten in der Sprache des Ziellands unterrichtet werden müssten und ihnen darüber hinaus eine Förderung in der Sprache des Herkunftslandes ihrer Eltern zuteil werden sollte.126

|| 122 Ebd., S. 9. 123 Ebd., S. 23. Belgien hatte bereits 1972 Einwandererräte zur Beteiligung an kommunalen Entscheidungen eingerichtet. 124 Protokoll der Sitzung des Fachausschusses Freizügigkeit v. 19.2.1975 [V/243/75-D], BArch K, B149 21659. 125 Richtlinienentwurf zur Harmonisierung von Gesetzen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung und illegale Beschäftigung [R/2655/76]; vgl. Berlinghoff, Emancipation, S. 192; Bastian A. Vollmer, Policy Discourses on Irregular Migration in Germany and the United Kingdom, Basingstoke 2014. 126 Richtlinie 77/486/EWG v. 25.7.1977; vgl. Hannelore Goeman, Migrant Integration Policy at European Level: Past, Present and Future, 2008, http://www.jhubc.it/ecpr-riga/virtualpaperroom/ 127.pdf (19.4.2013).

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In den Folgejahren trafen sich die Fachbeamten der nationalen Regierungen regelmäßig in verschiedenen Ausschüssen der EG-Kommission, um Ansätze einer gemeinsamen Migrationspolitik auf den Weg zu bringen. Eine tatsächliche Konzertierung, Koordinierung oder gar Harmonisierung der europäischen Migrationspolitik konnte zu diesem Zeitpunkt nicht umgesetzt werden. Dazu lagen die Interessen von EG-Kommission und einzelnen Mitgliedstaaten, wie schon die unterschiedlichen in der Diskussion verwendeten Begriffe zeigen, zu weit auseinander.127 Zwar hatte beispielsweise das bundesdeutsche Auswärtige Amt die Idee der Kommission, Drittstaatsangehörigen die Binnenfreizügigkeit zu gewähren, noch im Februar 1973 als »interessante Anregung«128 gewertet, doch waren die Mitgliedstaaten angesichts ihres Politikwechsels hin zu einer stärkeren Kontrolle und Beschränkung der Migration weder bereit, Teile ihrer Souveränität an die Kommission, die dafür kein Mandat besaß, abzugeben, noch lag es im Interesse der Regierungen, dass die zu dieser Zeit geführten Debatten um die Neuausrichtung der Migrationspolitik öffentlich geführt würden.129 Ähnliche ernüchternde Erfahrungen musste auch der Sonderbeauftragte des Europarats für Nationale Flüchtlinge und Überbevölkerung, Pierre Schneiter, bei dem Versuch machen, die unterschiedlichen Abkommen, Richtlinien und Empfehlungen der verschiedenen Internationalen Organisationen International Labour Office (ILO), Europarat, OECD und EWG in einem ›Europäischen Übereinkommen zur Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer‹ zusammenzufassen.130 Aufgrund der gegenläufigen Interessen von Herkunfts- und Zielländern von Arbeitsmigration zogen sich die 1966 begonnenen Verhandlungen über viele Jahre hin, bis das Statut 1977 schließlich verabschiedet wurde. Weitere sechs Jahre später trat es mit der fünften Ratifizierung in Kraft, ohne dass wichtige Zielländer wie die Bundesrepublik oder die Schweiz das Abkommen ratifiziert hatten.131 Der Drang, den vermeintlich sensiblen Bereich der Migrationspolitik außerhalb der Öffentlichkeit zu diskutieren, führte in den 1970er und 1980er Jahren dazu, dass sich die zuständigen Ministerialbeamten bevorzugt in Runden trafen, die außerhalb des offiziellen diplomatischen Parketts stattfanden.132 Dies hatte sowohl den Vorteil,

|| 127 Vgl. Berlinghoff, Emancipation; Goeman, Migrant Integration Policy. 128 Referat 412 an 513 v. 18.4.1973, PA AA, B85 1031. 129 Die Entscheidung, eine gemeinsame oder zumindest koordinierte Migrationspolitik dann doch im halböffentlichen Beratenden Ausschuss Freizügigkeit zu führen, in dem auch Vertreter der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften beteiligt waren, wurde vermutlich auch getroffen, da hier eine Einigung auf eine gemeinsame Politik mehr als unwahrscheinlich war. 130 Zum Einfluss internationaler Abkommen auf die bundesdeutsche Sozialpolitik vgl. die Beiträge zu: Internationale Sozialpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg.v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden, 2001–2008. 131 http://conventions.coe.int/ (19.4.2013); vgl. Berlinghoff, Schweiz. 132 Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 199f.

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eigene Positionen frei von diplomatischer Zurückhaltung zur Diskussion zu stellen als auch der parlamentarischen und damit öffentlichen Kontrolle zu entgehen. Ein Beispiel hierfür ist die TREVI-Gruppe, in der sich die Innen- und Justizminister ab 1975 außerhalb der Institutionen von EWG und Europarat trafen, um Fragen der Grenzsicherung und der Bekämpfung von Terrorismus, grenzüberschreitender Kriminalität aber auch ›illegaler Migration‹ zu erörtern und ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen.133 Ein anderes ist die Genese des Schengener Abkommens, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Zudem ermöglichte die offene Aussprache Abstimmungen des gemeinsamen Auftretens nach Außen beispielsweise gegenüber den mit der EG assoziierten Staaten, insbesondere der Türkei.

3.2 Freizügigkeit für die Türkei? Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Westeuropa bildeten Migranten aus der Türkei in den 1970er Jahren eine der größten und die am schnellsten wachsende Migrantengruppe.134 Türkische Einwanderer wurden zudem als kulturell besonders fremd angesehen, weshalb die Aussicht auf die vertragliche vereinbarte Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in die EG-Staaten bereits Anfang des Jahrzehnts auch über die Bundesrepublik hinaus für Unruhe sorgte.135 1963, als die Türkei als säkularer Staat, Gründungsmitglied der OEEC, frühes Mitglied des Europarats und wichtiger NATO-Partner geopolitisch noch unbestritten zu Europa gehörte, war im Assoziationsabkommen mit der EWG die gegenseitige Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbart worden.136 1970 wurde in einem Zusatzprotokoll zudem geregelt, dass diese ab 1976 innerhalb von zehn Jahren schrittweise umgesetzt werden solle.137 Je näher der Beginn der Übergangszeit jedoch kam, desto nervöser wurden die Beamten der Arbeits- und Innenministerien. Bereits 1972 wurde intern über Möglichkeiten nachgedacht, die eingegangene Verpflichtung aufzuweichen, würde eine ungehinderte Migration türkischer Arbeitnehmer doch jegliche Kontrollbemühungen seitens der westeuropäischen Einwanderungsstaaten unterlaufen. Im Sommer 1975 bereiste Bundesarbeitsminister Arendt alle EG-Staaten, um mit seinen Amtskollegen eine gemeinsame Linie zu finden: Der deutsche Vorschlag

|| 133 Vgl. ebd., S. 57f. 134 Ahmet Akgündüz, Labour Migration from Turkey to Western Europe, 1960–1974. A Multidisciplinary Analysis, Aldershot 2008. 135 Vgl. Berlinghoff, Ende der ›Gastarbeit‹, S. 71–73. 136 Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei, Art. 12, in: BGBl. 1964 II, S. 510–557, hier S. 520. 137 Zusatzprotokoll für die Übergangsphase der Assoziation zwischen der EWG und der Türkei, Art. 36; in: BGBl. 1972 II, S. 387–432, hier S. 393; vgl. Zuhâl Yesilyurt, Die Türkei und die Europäische Union. Chancen und Grenzen der Integration, Osnabrück 2000.

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sah vor, dass türkische Arbeitnehmer nicht berechtigt sein sollten, zur individuellen Arbeitsuche einzureisen. Zudem solle die Freizügigkeit um fünf Jahre verschoben werden. Letztlich einigten sich die Vertreter der EWG und der Türkei im Dezember 1976 im Assoziationsrat darauf, dass die Freizügigkeitsrechte bei der Gefahr »ernster Störungen« für den Arbeitsmarkt, Lebensstandard oder regionale sowie sektorale Bereiche temporär ausgesetzt werden könnten.138 Damit konnten die Anwerbe- und Einwanderungsstopps bis auf Weiteres aufrechterhalten werden. Mit Auslaufen der Übergangsfrist übertrug sich diese Nervosität zumindest in der Bundesrepublik auch auf die Öffentlichkeit. In Zeitungsartikeln, Parlamentsdebatten und sogar der Koalitionsvereinbarung der Kohl-Regierung wurde gefordert, das Assoziierungsabkommen in diesem Punkt zu ändern.139 Mehrere Bundesminister und sogar der Kanzler selbst reisten in den 1980er Jahren nach Ankara, um mit der türkischen Regierung zu einer Einigung in dieser Frage zu kommen. Letztlich war aber der ›offizielle‹ Weg über die EG erfolgreicher. 1986 beschloss der Ministerrat auf Antrag der Bundesregierung, dass das Assoziationsabkommen keine Freizügigkeit der Arbeitnehmer beinhalte.140 In der Skandalisierung und Verhinderung der Freizügigkeit für türkische Staatsbürger wurde auch auf europäischer Ebene eine Entwicklung deutlich, die weiter oben bereits für die Bundesrepublik festgestellt wurde: Die Verschiebung der Zugehörigkeitsgrenzen.141 War zu Beginn des Jahrhunderts beispielsweise im protestantischen Preußen noch die kulturelle Andersartigkeit der katholischen Polen skandalisiert worden und hatte die französische Regierung in den 1930er und 1940er Jahren Einwanderer aus den nördlichen Nachbarländern denen aus den südlichen Nachbarländern mit der Begründung der größeren kulturellen Nähe vorgezogen, so galten ›Südländer‹ wie Italiener, Spanier und Portugiesen nun als Europäer. Türken hingegen wurden gemeinsam mit anderen ›Außereuropäern‹ als kulturell andersartig, absolut fremd und nicht assimilierbar angesehen, weshalb ihre Einwanderung gestoppt und wo möglich zurückgefahren werden müsste. Die rechtliche Aufteilung der ›Gastarbeiter‹ in Europäer und Nicht-Europäer infolge der Anwerbestopps verstärkte das ›Problembewusstsein‹ und Fremdheitsgefühl und führte umgekehrt zu einer Europäisierung im Sinne einer neuen komplementären Identitätskonstruktion.

|| 138 Beschluß des Assoziationsrats über die Durchführung des Artikels 12 des Abkommens von Ankara, inkraftgetreten am 20. Dezember 1976, zitiert nach Andreas Treichler, Arbeitsmigration und Gewerkschaften. Das Problem der sozialen Ungleichheit im internationalen Maßstab und die Rolle der Gewerkschaften bei der Regulation transnationaler Migrationen, untersucht am Beispiel Deutschlands und der Arbeitsmigrationen aus der Türkei und Polen, Münster 1998, S. 80. 139 Herbert, Ausländerpolitik, S. 258f. 140 Ebd., S. 259. 141 Vgl. Berlinghoff, L'arrêt; ders., Identität.

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3.3 Auf dem Weg zu Schengen Diese Entwicklung wurde auch durch einen Prozess fortgeführt, der letztlich zur Verabschiedung des Schengener Abkommens und Ende der 1990er Jahre zu einer institutionalisierten Europäisierung der Migrationspolitik im Rahmen der Europäischen Union (EU) führen sollte.142 Ausgehend von dem Wunsch, ein ›Europa der Bürger‹ zu schaffen, hatte der Europäische Rat auf dem Pariser Gipfel von 1974 beschlossen, eine Passunion zu gründen, um damit eine europäische Identität der Bürger zu stärken und die nationalen Grenzen innerhalb Westeuropas für seine Bürger durchlässiger zu machen.143 Es sollte bis 1981 dauern, dass der ›Europapass‹ beschlossen wurde. Die damit verknüpfte Erleichterung der Grenzkontrollen für EGBürger ließ sich aufgrund massiver Sicherheitsbedenken der meisten Mitgliedstaaten bis auf weiteres nicht umsetzen. Neben Zweifeln, ob die EG überhaupt befugt sei, über die Grenzkontrollen zu befinden, spielten vor allem auch die Sorgen vor einem Kontrollverlust in der Migrationspolitik eine bedeutende Rolle. Es waren schließlich ausgerechnet die Bundesrepublik und Frankreich, beziehungsweise genauer: Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterand, die 1984 im ›Saarbrücker Abkommen‹ einen schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten vereinbarten und damit den westeuropäischen Grenzabbau vorantrieben.144 Denn angesichts dieser Entwicklung forderte im Juni 1984 auch der Europäische Rat auf seiner Sitzung in Fontainebleau die Kommission auf, die Personenkontrollen an den Binnengrenzen bis Mitte 1985 aufzuheben. Ein entsprechender Vorschlag der EG-Kommission vom Februar 1985 wurde jedoch nie verabschiedet. Stattdessen fanden sich die Benelux-Staaten, die ja bereits auf lange Erfahrungen mit der Personenfreizügigkeit zurückblicken konnten, mit der Bundesrepublik und Frankreich in der bald so genannten ›SchengenGruppe‹ zusammen, die ihren Namen von dem Grenzort bezog, in dem am 14. Juli 1985 der schrittweise Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenze beschlossen wurde. Die Inkraftsetzung und Ausweitung auf weitere Mitgliedstaaten sollte || 142 Dabei symbolisiert auch ›Schengen‹ selbst bis heute die Janusköpfigkeit dieses erst west- dann gesamteuropäischen Projekts der gleichzeitigen Annäherung und Abschottung; vgl. Angela Siebold, ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2013. 143 Zum Folgenden vgl. Andreas Pudlat, Der lange Weg zum Schengen-Raum: Ein Prozess im VierPhasen-Modell, in: Journal of European Integration History, 17. 2011, S. 303–325; ders., Schengen. Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa, Hildesheim 2013. 144 Kohl hatte das Abkommen unter Ausschluss der zuständigen Ressorts vom Bundeskanzleramt ausarbeiten lassen, um den Widerstand der verschiedenen Ministerien von vornherein ins Leere laufen zu lassen; Mechthild Baumann, Der Einfluss des Bundeskanzleramts und des Bundesministeriums des Innern auf die Entwicklung einer europäischen Grenzpolitik, in: Uwe Hunger/Can M. Aybek/Andreas Ette/Ines Michalowski (Hg.), Migrations- und Integrationsprozesse in Europa. Vergemeinschaftung oder nationalstaatliche Lösungswege?, Wiesbaden 2008, S. 17–33.

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sich jedoch ebenso wie die Übernahme des Abkommens in EU-Recht erst in den 1990er Jahren ergeben und ist daher Thema eines eigenen Beitrags.145

4 Fazit Angesichts einer ungewollten Einwanderung infolge der ›Gastarbeiteranwerbung‹ schränkte die Bundesregierung zu Beginn der 1970er Jahre die legale Arbeitsmigration aus ›nicht-westlichen‹ Drittstaaten zunehmend ein. Ein erster Höhepunkt dieser Bemühungen war 1973 schließlich der Anwerbestopp, der die bundesdeutsche Migrationspolitik bis heute prägt. Die Verweigerung, die Einwanderungssituation offiziell anzuerkennen und entsprechende sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen beziehungsweise Investitionen zu tätigen, führte jedoch zu einer weiteren Verschärfung des ›Ausländerproblems‹, das sich zu Beginn der 1980er Jahre diskursiv zu einem ›Türkenproblem‹ wandelte. Türken bildeten zu diesem Zeitpunkt nicht nur die größte, sondern vor allem auch die als am fremdesten angesehene nationale Gruppe von Immigranten in der Bundesrepublik. Hierin spiegelte sich auch die Zweiteilung des bundesdeutschen Ausländerrechts in EG-Staatsangehörige (beziehungsweise auf Ebene der Durchführungsbestimmungen als ›europäisch‹ oder ›westlich‹ angesehene Ausländer) und Migranten aus ›außereuropäischen‹ Drittstaaten wieder, welche die europäische Binnenmigration zur gewünschten Mobilität und die Einwanderung aus Drittstaaten zum nicht gewollten Ausnahmefall erklärte. Um dieses Leitbild aufrecht zu erhalten legten sich alle Bundesregierungen der 1970er und 1980er Jahre auf eine ›Konsolidierungspolitik‹ fest, die an der Illusion des ›Nicht-Einwanderungslandes‹ festhaltend auf die Durchsetzung der Rückkehr gemäß des Rotationsprinzips der ›Gastarbeit‹ gerichtet war. Gleichwohl musste eine solche Politik angesichts der eigenen rechtlichen und moralischen Rahmenbedingungen scheitern, wodurch sich die marginalisierte Position der ungewollten Ausländer, insbesondere der Türken, weiter verschärfte. Dabei markierte der Regierungswechsel von der sozial-liberalen zur christlich-liberalen Regierung keinen so starken Wechsel, wie dies von Zeitgenossen bisweilen wahrgenommen wurde. Eine ›Konsolidierung‹ durch ›Rückkehrförderung‹ war bereits von der Regierung Schmidt geplant gewesen und hatte lediglich aufgrund des Regierungswechsels nicht mehr umgesetzt werden können. Gleichwohl verschärften sich der Ton wie auch die ergriffenen Maßnahmen, mit denen die verleugnete Einwanderung aufgehalten werden sollte. Neben dem Dilemma der Einwanderung im selbsterklärten Nicht-Einwanderungsland hatte die Regierung Kohl auch die Selbstblockade der Ministerien von der

|| 145 Vgl. den Beitrag von Holger Kolb in diesem Band.

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Vorgängerregierung geerbt – wenn auch mit verschobenen Fronten. Hatte zuvor vor allem das gewerkschaftsnahe Arbeitsministerium eine liberalere Einwanderungspolitik, wie sie das FDP-geführte Innenministerium trotz sicherheitspolitischer Bedenken favorisierte, zu verhindern gewusst, so stellten sich nun mit Arbeitsminister Blüm, der Ausländerbeauftragten Funcke und Außenminister Genscher Teile von CDU und FDP dem CSU-geführten Innenministerium entgegen, das für eine äußerst restriktive Ausländerpolitik einstand. Diese Blockade konnte erst am Ende des Jahrzehnts durch den pragmatischen Zugang des Kanzleramtsministers und späteren Innenministers Schäuble aufgelöst werden. Mit dem Problem der ungewollten Einwanderung stand die Bundesrepublik nicht alleine da, hatten doch alle westeuropäischen Industriestaaten spätestens seit den 1960er Jahren damit zu kämpfen. In dem Bewusstsein, dass das transnationale ›Problem der Ausländerbeschäftigung‹ nur auf europäischer Ebene gelöst werden konnte, berieten die zuständigen Regierungsbeamten in den frühen 1970er Jahren die Möglichkeiten einer gemeinsamen Migrationspolitik, was jedoch mit Ausnahme der Bekämpfung ›illegaler‹ Migration aufgrund der nationalstaatlichen Eigeninteressen scheiterte. Die maßgeblichen Impulse für eine institutionalisierte Europäisierung der Migrationspolitik beispielsweise im Rahmen des Schengener Abkommens sollten Mitte der 1980er Jahre unter Umgehung der EG-Kommission auf bilateralem Wege von Seiten der französischen und der bundesdeutschen Regierung kommen.

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Aufnahme in die ›geschlossene Gesellschaft‹. Remigranten, Übersiedler, ausländische Studierende und Arbeitsmigranten in der DDR Die spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen des SED-Staates für die Aufnahme von Migranten in der DDR und den daraus resultierenden Umgang mit diesen ›Fremden‹ im ostdeutschen Alltag beschreibt die evangelische Pfarrerin Dagmar Henke im Rückblick auf ihre Erfahrungen treffend: »Ins Land gekommen sind Ausländer grundsätzlich nur auf Einladung von Organisationen, Parteien, der Gewerkschaft oder staatlichen Institutionen. Klar war, wer einlädt, wer das bezahlt, der Zweck des Aufenthalts und wann derjenige wieder geht.«1 Dieser aus der Zeitzeugenerfahrung gewonnene Imperativ der politischen Nützlichkeitserwartung an Migration kontrastiert jedoch scharf mit dem proklamierten Selbstverständnis der SED-Führung. Danach hatte sich die DDR als Staat und Gesellschaft von der Entstehung jeglicher fremdenfeindlich oder rassistisch begründeter Diskriminierungen grundsätzlich abgekoppelt. Der von der Staatspartei für sich reklamierte Anspruch auf »gesellschaftlichen Fortschritt« durch den »Kampf gegen den Imperialismus«, also gegen den ›kapitalistischen‹ Westen, war nicht nur ein ideologisches Etikett. Vielmehr war dies eines der Prinzipien, mit denen die SED ihren Herrschaftsanspruch in der DDR rechtfertigte.2 Jüngere Forschungen zur Geschichte des Stalinismus berechtigen zu der Annahme, dass das Bild des ›Klassenfeindes‹ auch mit ethnozentrischen beziehungsweise rassistischen Inhalten aufgeladen werden konnte.3 So war nicht das Postulat des Menschheitsfortschritts, sondern die dahinter liegende dichotomische Struktur des Klassenkampfes für den Umgang mit Migranten im ›Arbeiter-und-Bauern-Staat‹ grundlegend. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, war es unter Berufung auf den ›proletarischen Internationalismus‹ dann durchaus auch möglich, im Alltag xenophobe Vorurteile beziehungsweise nationalistische Stereotypen bedenkenlos zu benutzen.4

|| 1 Dagmar Henke, Fremde Nähe – nahe Fremde. Ein Beitrag zur Ausländerarbeit der Kirchen in der ehemaligen DDR, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 9. 1992, S. 119–132, hier S. 121. 2 Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, 1968 zur Begründung der neuen sozialistischen DDR-Verfassung, zitiert in: Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1988, S. 564. 3 Jörg Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. 4 Christine Griese/Helga Marburger, Zwischen Internationalismus und Patriotismus. Konzepte des Umgangs mit Fremden und Fremdheit in den Schulen der DDR, Frankfurt a.M. 1995, bes. S. 115.

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1 Heimkehr in ein fremdes Land: kommunistische Remigranten und späte ›Übersiedler‹ Allerdings wäre es verfehlt, diese eigentümliche Konstellation ausschließlich aus einer rein dogmatischen Ideologieauslegung der (ost-)deutschen Kommunisten abzuleiten. Vielmehr erklärt sich der Umgang mit Fremden beziehungsweise Migranten im Wesentlichen aus der besonderen historischen Situation in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) beziehungsweise der daraus entstehenden DDR. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich den Migrationswegen und Aufnahmebedingungen der ehemaligen kommunistischen Emigranten aus der NS-Zeit und schließlich auch den hier als Übersiedler bezeichneten ›ethnischen Deutschen‹ aus Polen und der Sowjetunion zuwendet. Diese sehr unterschiedlichen Gruppen von deutschen Staatsangehörigen beziehungsweise ›ethnisch deutschen‹ Zuwanderern werden im Folgenden behandelt, weil ihre Einreise in die SBZ beziehungsweise in den SED-Staat emblematisch für die politische Bedingtheit von Einwanderung in die ostdeutsche Gesellschaft steht und Strukturen erkennen lassen, die dann schließlich auch die Migration von Ausländern in die DDR prägten.

1.1 Antifaschistische Remigranten in der SBZ und DDR Gemeinhin gelten die nach dem Ende der NS-Herrschaft aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrten Kommunisten als der eigentliche Kaderstamm des zukünftigen SED-Staates. Diese Einschätzung findet sich sowohl in der durch den ›Kalten Krieg‹ geprägten zeithistorischen Forschung westdeutscher Provenienz5 als auch in jenen Veröffentlichungen des Faches, die für einzelne Persönlichkeiten aus dieser oben benannten Gruppe weiterhin ehrfürchtige Bewunderung erkennen lassen.6 Zugleich kann anhand dieser relativ kleinen, jedoch prominenten Gruppe aus der Vor- und Frühgeschichte der DDR belegt werden, wie die Amalgamierung von einem letztlich doch ungebrochenen Fortbestand fremdenfeindlicher Einstellungen in der (ost-)deutschen Bevölkerung und den Belastungen des in der SBZ installierten stalinistischen Herrschaftssystems schon frühzeitig die gesellschaftlichen Verhältnisse in der SBZ und späteren DDR prägte. Die sowjetische Militärverwaltung im von ihr beherrschten Teil des besetzten Deutschland, vor allem aber die Moskauer Parteiführungen der KPdSU und entsprechend auch die dort angesiedelte Führung der Exil-KPD vertrauten noch vor der || 5 Horst Möller, Die Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland – Ursachen, Phasen und Formen, in: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Bd. 4, München 2010, S. 96–104. 6 Mario Kessler, Exil und Nach-Exil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002.

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geplanten Rückkehr der deutschen Kommunisten aus dem Exil uneingeschränkt nur jenen KPD-Mitgliedern, die wie sie selbst auch in das Moskauer Exil gegangen waren und dort die diversen Säuberungen und vor allem den ›Großen Terror‹ weitgehend unbehelligt überstanden hatten.7 Demgegenüber galten die deutschen Kommunisten aus anderen und insbesondere ›westlich-kapitalistischen‹ Exilländern im besten Fall als Personalreserve für den Aufbau des Sozialismus im Nachkriegsdeutschland. Von der KPD-Führung im Moskauer Exil wurde geschätzt, dass 600 Parteimitglieder in der Sowjetunion lebten, und in Großbritannien sowie in Schweden wurden jeweils weitere 300 sogenannte ›polit. Emigranten‹ vermutet. Auch wurde davon ausgegangen, dass weitere 300 potentielle kommunistische Kader je in den Ländergruppen USA, Mexiko und die Schweiz sowie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Norwegen eine Zuflucht gefunden hatten. In der Literatur zur kommunistischen Remigration nach dem Zweiten Weltkrieg wird allerdings davon ausgegangen, dass die Zahl der tatsächlich heimkehrwilligen KPDMitglieder höher lag, wenngleich jene, die keine weiterreichenden politischen Ambitionen verfolgten, für die KPD-Führung in Moskau nicht von Interesse waren und deshalb auch keine materielle und institutionelle Unterstützung erwarten konnten.8 Viele von den zumeist politisch erfahrenen deutschen Kommunisten wollten jedoch möglichst bald in ihre frühere Heimat zurückkehren. Allerdings standen diesem Wunsch in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl die Gegebenheiten der Zusammenbruchsgesellschaft im besetzten Nachkriegsdeutschland als auch die sich abzeichnenden Interessenkonflikte zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs entgegen. Insbesondere die US-Besatzungsbehörden zeigten wenig Interesse, kommunistischen Emigranten die Rückkehr nach Deutschland zu erleichtern oder zu erlauben. Bemerkenswerterweise zögerte anfänglich auch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD), kommunistische Emigranten aus dem ›Westen‹ in ihre Besatzungszone zurückzuholen. Erst als sich ein spürbarer Mangel an politisch vertrauenswürdigem Personal für die neu aufzubauenden Verwaltungen in der SBZ abzeichnete, hatte dies auch eine erleichterte Gewährung von Einreiseerlaubnissen durch die SMAD für diesen Personenkreis zur Folge. Damit endete auch die frühe Phase der kommunistischen Remigration, in der eine individuelle Rückkehr einzelner Emigranten aus dem ›Westen‹ erschwert, aber doch möglich war. Von nun an übernahm die inzwischen in Berlin installierte KPD-Führung die Kontrolle über die Remigration von Kommunisten aus dem Exil.9 Ein Recht auf || 7 Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001. 8 Sabine Schleiermacher, Rückkehr der Emigranten. Ihr Einfluss auf die Gestaltung des Gesundheitswesens in der SBZ/DDR, in: dies. (Hg.), Medizin, Wissenschaft und Technik in der SBZ und DDR. Organisationsformen, Inhalte, Realitäten, Husum 2009, S. 79–94. 9 Michael F. Scholz, Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration. Die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZ/DDR, Stuttgart 2000.

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Rückkehr gab es für diese Personen allerdings auch fortan nicht. Von rückkehrwilligen deutschen Kommunisten wurden nun vor der Anreise regelrechte Anträge auf Einreise eingefordert, welche mit Lebenslauf, Nachweisen der beruflichen Qualifikation und parteiinternen Empfehlungsschreiben – Bürgschaften genannt – ausgestattet sein mussten. Erfolgte die Überprüfung ihrer politischen Zuverlässigkeit nach der Einreise, wurden die Remigranten bis zur Entscheidung der Parteiführung vor Ort weitgehend von der restlichen Partei und ihrem sozialen Umfeld isoliert untergebracht. Darüber hinaus trafen pro-sowjetische beziehungsweise pro-sozialistische Emigranten, die nicht der KPD angehört hatten, auf erhebliches Misstrauen sowohl bei den sowjetischen Besatzungsbehörden als auch bei den verantwortlichen KPFührern: Nicht-kommunistischen jüdischen oder sozialdemokratischen WestEmigranten war die Rückkehr folgerichtig nur ausnahmsweise oder auf Zeit erlaubt.10 Nach der erlaubten Einreise und insbesondere am zugewiesenen Einsatzort hatten die Remigranten wiederholte Überprüfungen ihrer politischen Zuverlässigkeit zu überstehen. Teil dieses Prozesses war die formelle Anerkennung als ›Opfer des Faschismus‹ (OdF), welche an eine spezifische kommunistische Interpretation der NS-Herrschaft gebunden war. Der damit verliehene Status hatte aber auch zur Voraussetzung, dass die betreffende Person der KPD- beziehungsweise der späteren SED-Führung weiterhin bedingungslose Gefolgschaft leistete. War dies aus der Perspektive der jeweils verantwortlichen Parteileitungen gegeben, so konnten die West-Emigranten ähnlich wie ehemalige kommunistische KZ-Häftlinge oder ehemalige Mitglieder des kommunistischen Untergrundes während der NS-Herrschaft zahlreiche materielle Vergünstigungen aufgrund ihres OdF-Status erhalten.11 Obgleich sie damit privilegierte ›Fremde‹ in der Mangelgesellschaft der SBZ und nachfolgenden DDR wurden, war ihnen ein Aufstieg in exponierte Positionen in den neu entstehenden Machtapparaten keineswegs sicher.12 Vielmehr gerieten viele der Remigranten aus dem ›Westen‹, ähnlich wie die kommunistischen Kader aus den sogenannten ›Sudetengebieten‹ in ein Geflecht von vielfältigen Konfliktlinien. Einmal in der SBZ angekommen, wo diese Fremden als lästige Konkurrenz von außen beziehungsweise oben betrachtet wurden, bremsten insbesondere autochthone Parteiinstanzen den politischen Eifer der kommunistischen Kader oft genug aus. Für die meisten Einheimischen außerhalb der KPD/SED waren die ›auswärtigen Genossen‹ eine Verkörperung der ohnehin ungeliebten sowjetischen Besatzungsmacht || 10 Katrin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln 2000. 11 Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im ›antifaschistischen Staat‹. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945–1989), Berlin 2002. 12 Jan Foitzik, Remigranten in der Medienpolitik der sowjetischen Besatzungsmacht, in: ClausDieter Krohn/Axel Schildt (Hg.), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002, S. 93–113.

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und der im Entstehen begriffenen sozialistischen Herrschaft. Dabei fühlten sich beide Gruppen von den ›Fremden‹ durch den OdF-Status und das daraus resultierende selbstbewusste Auftreten provoziert und reagierten mit Abwehr und auch Feindseligkeit.13 Gleichwohl gehört die Rückkehr deutscher Kommunisten aus der Emigration im ›Westen‹ zu jenen Erzählungen, die bis in die Gegenwart das Bild der antifaschistischen Grundausrichtung der DDR stützen sollen. Dieses bereits im SED-Staat etablierte Narrativ verzichtet nicht auf eine Differenzierung der Integrationswege von einzelnen Remigranten in die ostdeutsche Gesellschaft. Die fortdauernde politische Gefährdung des Status der Remigranten aus dem ›Westen‹ im SED-Staat bleibt dabei jedoch schlicht unberücksichtigt.14 Mit der Radikalisierung der kommunistischen Herrschaft im Osten Europas änderte sich ab 1948 auch die parteiinterne und öffentliche Position der kommunistischen Remigranten aus dem ›Westen‹ in der SBZ beziehungsweise der DDR. Sie wurden pauschal verdächtigt, durch ihr Exil außerhalb der Sowjetunion dem Einfluss des ›Klassenfeindes‹ ausgesetzt gewesen zu sein. Die damit einhergehenden Vorwürfe gegen die nicht selten jüdischen Remigranten aus dem ›Westen‹ reichten von ›bürgerlicher Dekadenz‹ bis hin zu feindlicher Spionage zugunsten Israels und der USA. Damit verbunden war eine antiwestliche beziehungsweise antiamerikanische Propaganda, die sich ungezügelt kulturkritischer und durchaus auch antisemitischer Argumentationen bediente, die aus der Tradition der ›Ideen von 1914‹ oder auch aus dem Arsenal der NS-Propaganda hätten entliehen sein können.15 Auch wenn diese politische Kampagne in der DDR für die betroffenen Personen nie so dramatische Folgen hatte wie zum Beispiel in Ungarn oder Polen, bedeutete es für die zumeist lang gedienten kommunistischen Parteikader zumindest eine öffentliche Demütigung. Oft war damit auch der Verlust der bisherigen Stellung im SED-Staat verbunden und in einzelnen Fällen konnte es sogar die willkürliche Verfolgung und Internierung durch den gerade erst erschaffenen staatssozialistischen Repressionsapparat zur Folge haben. Nach dem Tode Stalins im Jahr 1953 endete zwar die Welle dieser Anfeindungen und die meisten Remigranten aus dem ›Westen‹ erfuhren eine Rehabilitierung. In ihre vorherigen Positionen konnten sie jedoch nur in Ausnahmefällen zurückkehren. Der Verdacht der tendenziellen Unzuverläs-

|| 13 Heike van Hoorn, Zwischen allen Stühlen. Die schwierige Stellung sudetendeutscher AntifaUmsiedler in den ersten Jahren der SBZ/DDR, in: Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu den historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 133–152. 14 Schleiermacher, Rückkehr der Emigranten. 15 Zur Genese antiliberaler und antiwestlicher Positionen in der deutschen Geschichte siehe Konrad H. Jarausch, Missverständnis Amerika. Antiamerikanismus als Projektion, in: Behrends u.a. (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, S. 34– 49.

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sigkeit wegen des Aufenthaltes im ›Westen‹ wirkte somit fort.16 Unter diesen Umständen standen die kommunistischen Remigranten vor den Alternativen, die sich in dieser Zeit allen DDR-Bürgern boten: den wechselhaften Anforderungen der kommunistischen Parteiführung Folge leisten, resignieren und sich in die innere Emigration zurückziehen oder aber den SED-Staat – wie Hunderttausende andere Ostdeutsche zu der Zeit auch – in Richtung Westen verlassen.17 Mit dem Ende der Regentschaft des langjährigen sowjetischen Diktators und dem in der Folgezeit einsetzenden ›Tauwetter‹18 in der Sowjetunion erhielten allerdings auch all jene eine Chance zur Einreise in die DDR, die entweder als deutsche Staatsangehörige oder ›ethnische Deutsche‹ galten. Zu diesem Personenkreis gehörte, wer entweder seit der Zeit des ›Großen Terrors‹19 sowie während beziehungsweise in Folge des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion gefangen gehalten wurde oder wem im sowjetischen Machtbereich ein Verlassen des bisherigen Aufenthaltsortes bewusst versagt geblieben war.20 In der Forschung wird davon ausgegangen, dass ca. 180 deutsche Emigranten den ›Großen Terror‹ in der Sowjetunion überlebt hatten und in die SBZ beziehungsweise DDR zurückkehrten. Bereits nach Kriegsende und noch vor dem Tod Stalins im März 1953 konnte eine kleine Gruppe von ca. 30 deutschen Emigranten aus der Sowjetunion, die dort Opfer der stalinistischen Säuberungsmaßnahmen geworden waren, in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehren. Es handelte sich dabei zumeist um Personen, die in der kurzen Phase der Abschwächung der Repression nach der Ablösung des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der UdSSR (NKWD), Nikolai Iwanowitsch Jeschow, im November 1938 und seiner Verhaftung im April 1939 aus der NKWD-Haft entlassen und in der Sowjetunion auch rehabilitiert worden waren. Danach arbeiteten sie zumeist für den sowjetischen Staat, die KPD oder im Apparat der Kommunistischen Internationale. Nach ihrer Rückkehr aus dem sowjetischen Exil in das besetzte und geteilte Nachkriegsdeutschland beteiligten sich diese kommunistischen Kader nicht unwe|| 16 Annette Leo, Die ›Verschwörung der Weißen Kittel‹. Antisemitismus in der Sowjetunion und in Osteuropa, in: Jan Foitzek u.a. (Hg.), Das Jahr 1953. Ereignisse und Auswirkungen, Potsdam 2004, S. 9–22. 17 Hartewig, Zurückgekehrt; zur Abwanderung aus der DDR siehe auch den Beitrag von Frank Wolff in diesem Band. 18 Der Begriff geht zurück auf den gleichnamigen, 1957 in Ostberlin erschienenen Roman des jüdisch-russischen Schriftstellers und sowjetischen Kriegsberichterstatters Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg und meint die Phase der innen- wie auch außenpolitischen Lockerungen in der sowjetischen Herrschaftspraxis in der Mitte der 1950er Jahre. 19 Jörg Baberowski, ›Entweder für den Sozialismus oder nach Archangel’sk!‹ Stalinismus als Feldzug gegen das Fremde, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen, 50. 2000, S. 617–637. 20 Ewa Kępińska/Dariusz Stola, Migration Politics and Policy in Poland, in: Agata Gorny/Paolo Ruspini (Hg.), Migration in the New Europe. East-West Revisited, Basingstoke 2004, S. 159–176; Mervyn Matthews, The Passport Society. Controlling Movement in Russia and the USSR, Boulder 1993.

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sentlich am Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland. Allerdings blieb dies nicht voraussetzungslos, denn die sowjetischen Behörden gestatteten ohnehin nur die Ausreise in die SBZ, und die KPD/SED-Führung forderte von ihnen schriftliche Verschwiegenheits- und Treueerklärung, nach denen sie insbesondere die Erlebnisse in der Gefängnis- und Lagerhaft in der UdSSR nicht öffentlich machen sollten.21 Beide Voraussetzungen zur Rückkehr wurden späterhin obligatorisch für alle ehemaligen GULag-Häftlinge. Allerdings konnten die erst Mitte der 1950er Jahre aus der sowjetischen Haft entlassenen Emigranten den hier angedeuteten politischen und sozialen Status der unmittelbar nach Kriegsende in die SBZ zurückgekehrten ›Opfer des Faschismus‹ im SED-Staat nicht mehr erreichen. Die meisten dieser Heimkehrer hatte die zumeist mehr als anderthalb Jahrzehnte dauernde Lagerhaft körperlich und mental schwer gezeichnet. Sie waren über zwei Jahrzehnte der (ost-)deutschen Gesellschaft politisch, sozial und auch kulturell entfremdet und konnten in den 1950er Jahren als Zeugen des Verhaltens der DDR-Partei- und Staatsführung gelten, die im sowjetischen Exil den ›Großen Terror‹ nicht nur überlebt hatte, sondern Teil dieses System gewesen war.22 Um das öffentliche Ansehen von insbesondere Staatspräsident Wilhelm Pieck und SED-Generalsekretär Walter Ulbricht nicht zu gefährden, steuerte die Kaderabteilung des Zentralkomitees (ZK) der SED als federführende Instanz sowohl die soziale Eingliederung als auch die politische Kontrolle der späten Rückkehrer aus der Sowjetunion in die DDR. Dies erfolgte unter Einbeziehung verschiedenster staatlicher Stellen sowie der mit der Vergabe von Sozialleistungen beauftragten Massenorganisation und nicht zuletzt auch des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Rückkehrer erhielten so finanzielle Überbrückungsleistungen, Lebensmittelkarten und Wohnungen sowie Arbeitsstellen zugewiesen. Ein weitgehendes Ansiedlungsverbot für Berlin trug dafür Sorge, dass sich an diesem neuralgischen Ort keine Kolonie von ehemaligen GULag-Häftlingen bilden konnte.23 In diesen Kontext gehören auch Anstrengungen zur parteiinternen Rehabilitierung und Anerkennung der ehemaligen GULag-Häftlinge als ›Verfolgte des Naziregimes‹ (VdN). Beides waren in der Praxis halbherzige Schritte der Wiedergutmachung des stalinistischen Unrechts. In der Folge wurden die erlittenen Verfolgungen und auch die damit einhergehenden Parteistrafen und Ausschlüsse schlicht annulliert. Zugleich sicherte die VdN-Rente insbesondere jenen Betroffenen ein erträgliches Auskommen, die aufgrund ihrer langen Haft und der miserablen Haftbedingungen in der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft keinen Neuanfang machen

|| 21 Meinhard Stark, »Traten keine Probleme auf…« Zur Rückkehr deutscher Exilanten aus der UdSSR, in: Annette Kaminky (Hg.), Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener, München1998, S. 282–298. 22 Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001. 23 Meinhard Stark, »Ich muß sagen, wie es war«. Deutsche Frauen des GULag, Berlin 1999, S. 209.

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konnten. Auch bedeutete diese Anerkennung, dass die späten Heimkehrer aus der Sowjetunion Teil des Versorgungs- und Gesundheitssystems wurden, das die SEDFührung dem Moskauer Exil entlehnt hatte. Dieses Privileg erhielten die in die DDR zurückkehrten ehemaligen GULag-Häftlinge allerdings nur um den Preis eines dauerhaften Schweigens über die erfahrene Willkür während der stalinistischen Verfolgung und der sowjetischen Lagerhaft.24 Von den aus der Sowjetunion zurückgekehrten Opfern des Stalinismus wie auch den Remigranten aus dem Westen wurde gefordert, dass sie ihre Loyalität zur SED-Politik durch strikte Konformität im DDRAlltag unter Beweis stellten.

1.2 Späte ›Übersiedler‹ aus der Sowjetunion und aus Polen Jenseits der relativ kleinen Gruppe von deutschen Kommunisten beziehungsweise Emigranten, welche die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg auf dem sowjetischen Staatsgebiet überlebt hatten, konnte ab Mitte der 1950er Jahre eine weitaus umfangreichere und höchst heterogene Gruppe von ehemaligen deutschen Staatsangehörigen beziehungsweise als ›ethnisch deutsch‹ klassifizierten sowjetischen Staatsbürgern auf ein Verlassen der UdSSR hoffen.25 In diese Gruppe gehörten die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, die auf dem sowjetischen Staatsgebiet interniert waren, aber hier nicht weiter behandelt werden.26 Zu dieser Gruppe zählten aber auch jene deutschen Einwohner des nördlichen Ostpreußens, welches seit dem Potsdamer Abkommen zum Staatsgebiet der UdSSR gehörte. Trotz ›wilder‹ und schließlich auch systematischer Vertreibungen war in diesem nun als Kalingrader Gebiet der Russischen Föderativen Sowjetrepublik bezeichneten Territorium eine bemerkenswert hohe Anzahl von ehemaligen deutschen Reichsbürgern verbleiben.27 Schließlich gehörten auch jene sowjetischen Staatsbürger zu der fortan ›Übersiedler‹ genannten Gruppe, die in der UdSSR als Angehörige der deutschen Minderheit unter anderem im Baltikum, in der Ukraine, in Südrussland, Sibirien und Zentralasien Verfolgung, Deportation und Zwangsarbeit überlebt hatten.28 Letztlich geht diese allumfassende Zuordnung von kulturell wie auch historisch || 24 Peter Erler, »Mich haben die persönlichen Erlebnisse nicht zum nörgelnden Kleinbürger gemacht.« Deutsche GULag-Häftlinge in der DDR, in: Annette Leoe/Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 173–196. 25 Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Einführung: Aussiedlerzuwanderung und Aussiedlerintegration. Historische Entwicklung und aktuelle Probleme, in: dies. (Hg.), Aussiedler: deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl. Göttingen 2003, S. 9–47. 26 Hierzu siehe den Beitrag von K. Erik Franzen in diesem Band. 27 Arune Liucija Arbusauskaité, The Soviet Policy Towards the ›Kaliningrad Germans‹ 1945–1951, in: IMIS-Beiträge, 1999, H. 12, S. 93–114. 28 Jochen Oltmer, Die Vorgeschichte der Aussiedler-Zuwanderung, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 25. 2005, S. 18–25.

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sehr verschiedenen Gruppen von ›Deutschen‹ auf dem sowjetischen Staatsgebiet zurück auf die frühe Politik der Bundesrepublik, die gemäß den Grundgesetzartikeln 16, Abs. 1 und 116, Abs. 1 gegenüber allen im Ausland lebenden Deutschen eine ›Fürsorgepflicht‹ wahrzunehmen hatte. Bemerkenswerterweise war die Bundesregierung in diesem Fall sogar bereit, durch die Anerkennung der sonst unerwünschten doppelten Staatsangehörigkeit, den Deutschen in der Sowjetunion auf diesem Wege schnell und unbürokratisch zu einer Ausreise zu verhelfen. Aufgrund dieser Haltung konnte sich die Bundesregierung auch für die Deutschen in der UdSSR bei der sowjetischen Regierung nachdrücklich einsetzen, da sie diese als ›ihre‹ Staatsangehörigen definierte.29 Zugleich waren die frühen diplomatischen Initiativen der Bundesregierung zur erleichterten Ausreise von Deutschen aus dem sowjetischen Machtbereich Teil einer bewusst herbeigeführten Auseinandersetzung um den alleinigen Vertretungsanspruch des westdeutschen Staates für alle Deutschen und somit auch Teil der Auseinandersetzungen im sich in den 1950er Jahren zuspitzenden ›Kalten Krieg‹.30 Dennoch verfolgte die SED-Führung in dieser Zeit und über den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR hinweg auf diesem Feld der deutsch-deutschen Konkurrenz keine wirksame beziehungsweise stringente Politik. Zugleich war es der DDR-Führung nicht gelungen, den vermeintlich strukturellen Vorteil eines engen Bündnisses für eine großzügige Lösung zugunsten deutscher Übersiedler aus der Sowjetunion geltend zu machen. Die sowjetische Seite selbst hatte nur ein geringes bis mäßiges Interesse, insbesondere sowjetische Staatsbürger deutscher Herkunft in die DDR ausreisen zu lassen. Auch konnte die SED-Führung – ganz im Gegensatz zur Bundesregierung – der sowjetischen Seite kaum attraktive Angebote für ein Entgegenkommen in der Sache unterbreiten.31 Gleichwohl reisten aus der UdSSR zwischen 1950 und 1989 immerhin ca. 22.000 Übersiedler in die DDR ein. Demgegenüber nahm die Bundesrepublik im gleichen Zeitraum ca. 255.000 ›Aussiedler‹ aus der Sowjetunion auf. Dabei entwickelte sich das Verhältnis von Einreisen in die DDR zu Aufnahmen in die Bundesrepublik von 1 zu 2 in den 1950er Jahren zu 1 zu 25 in den 1980er Jahren.32

|| 29 Hubert Heinelt/Anne Lohmann, Immigranten im Wohlfahrtsstaat am Beispiel der Rechtspositionen und Lebensverhältnisse von Aussiedlern, Opladen 1992. 30 Karl A. Otto, Aussiedler und Aussiedler-Politik im Spannungsfeld von Menschenrechten und Kaltem Krieg. Historische, politisch-moralische und rechtliche Aspekte der Aussiedler-Politik, in: ders. (Hg.), Westwärts – Heimwärts? Aussiedlerpolitik zwischen ›Deutschtümelei‹ und ›Verfassungsauftrag‹, Bielefeld 1990, S. 11–68. 31 Beate Ihme-Tuchel, Zwischen Tabu und Propaganda. Hintergründe und Probleme der ostdeutsch-sowjetischen Heimkehrerverhandlungen, in: Kaminsky (Hg.), Heimkehr 1948, S. 38–54. 32 Nicole Hirschler, Neue ›alte‹ Heimat DDR. ›Repatriierung‹ und Familienzusammenführung von Personen deutscher Herkunft aus der UdSSR in die DDR. Konzeptionen und ihre Umsetzung im innen-und außenpolitischen Spannungsfeld, Diss. Osnabrück 2002, S. 454.

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Während die Bundesrepublik die Deutschen in der UdSSR mit in ihre Konzeption von Staat und Nation einbezog und den Deutschen in den kommunistischen Staaten unter den Vorzeichen des ›Kalten Krieges‹ ihre besondere Aufmerksamkeit widmete, grenzten die DDR-Instanzen den Kreis der Einreiseberechtigten von Beginn an stark ein. Jede Ähnlichkeit im Aufnahmemodus mit jenem der Bundesrepublik wurde dabei strikt vermieden, um sich nicht dem Vorwurf des ›Revanchismus‹ auszusetzen. In Abgrenzung zur Bundesrepublik bemühten sich die Instanzen des SED-Staates deshalb im Sinne einer Familienzusammenführung hauptsächlich um die Ausreise von Personen deutscher Nationalität mit nächsten Verwandten in der DDR sowie um ehemalige deutsche Staatsangehörige aus dem früheren Ostpreußen, dem Baltikum und der Westukraine. Insbesondere die 1950er Jahre bildeten für diese Aufnahmepraxis im ostdeutschen Staat die eigentliche Sattelzeit. Zu Beginn der 1950er Jahre wurden von sowjetischer Seite Sammeltransporte für die Ausreise von ehemaligen deutschen Staatsangehörigen organisiert, die in der Durchführung noch der Praxis der organisierten Vertreibungen ähnelten.33 Dem folgten spätestens seit 1953 sogenannte Einzelreisen von deutschen Übersiedlern, die grundsätzlich der Genehmigung der sowjetischen Seite bedurften. Anschließend standen die Betreffenden vor der Aufgabe, sich in einem ungeregelten Verfahren die Einreiseerlaubnis von Instanzen der DDR zu verschaffen, um schließlich selbständig dorthin einzureisen. Dieser Zustand wurde schließlich Anfang 1957 durch eine gemeinsame Erklärung der Regierungen der DDR und der UdSSR formalisiert. Dabei bildeten die Bemühungen der Bundesregierung um Ausreise aller nach ihrer Lesart Deutschen einen wichtigen Impuls für die SED-Führung, eine solche Vereinbarung anzustreben. Die sowjetische Seite konnte eine solche Vereinbarung leicht akzeptieren, weil die DDR-Regierung darauf verzichtet hatte, eine Ausreise von Angehörigen der deutschen Minderheit mit UdSSR-Staatsbürgerschaft einzufordern.34 Diese Sondervereinbarung war bis Ende 1959 gültig. Danach war eine Ausreise für potentielle Übersiedler in die DDR unter den gleichen Kriterien, aber nur noch im Rahmen der allgemeinen Ausreisebeantragung für sowjetische Staatsbürger möglich. Dabei kam es in der Sache jedoch wiederholt zu wirksamen Absprachen zwischen UdSSR und DDR. Diese letztlich doch ungeregelte und somit willkürlich institutionelle Praxis der Aus- und Einreisegewährung machte den Ablauf des Verfahrens für die Betroffenen nur schwer vorhersehbar.35 || 33 Nicole Hirschler-Horáková, Deutsche aus der Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Aspekte des Vertretungsanspruches in den 1950er Jahren, in: Behrends/Lindenberger/Poutrus (Hg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 141–156. 34 Nicole Hirschler-Horáková‚ Neue Arbeitskräfte aus dem Osten. ›Repatrierung‹ und Familienzusammenführung von Personen deutscher Herkunft aus der UdSSR in die DDR 1957, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 377–397. 35 Hirschler, Neue ›alte‹ Heimat DDR.

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Ähnlich zwiespältig verhielt sich die DDR-Führung auch bei der Aufnahme von Zuwanderern aus Polen. Mit der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages vom 6. Juli 1950 hatte der SED-Staat gegenüber dem kommunistisch regierten Polen die OderNeiße-Linie offiziell als Ostgrenze anerkannt. Allerdings waren schon zuvor von ostdeutscher Seite Versuche unternommen worden, infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung getrennte Familien auf dem Staatsgebiet der eben erst gegründeten DDR zusammenzuführen. Ergebnis entsprechender diplomatischer Verhandlungen war eine im Januar 1950 getroffene Vereinbarung mit der polnischen Regierung, die es den Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen erlauben sollte, zu ihren Verwandten sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland auszureisen. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass die beiden kommunistischen Regierungen hier eine besondere Form der Kooperation gefunden hätten, die auf einer gemeinsamen Vertrauensbasis ruhte. Sie war zu dieser Zeit bereits durch gegenseitiges Misstrauen geprägt.36 Das Agreement zugunsten der ausreisewilligen Deutschen aus Polen blieb zunächst weitgehend folgenlos, weil die polnischen Kommunisten wenig Neigung zeigten, das Abkommen umzusetzen. Vielmehr war der Umgang mit der deutschen Minderheit in Polen in dieser Zeit durch einen starken Assimilationsdruck gekennzeichnet. Ausreisewillige mussten hohen Gebühren an den polnischen Staat entrichten und konnten dennoch über Jahre nicht sicher sein, dass ihrem Verlangen stattgegeben wurde. Zusätzlich machte der Ausbau von Absperrungen und Sicherungsanlagen die polnische Grenze in Richtung Westen zunehmend undurchlässiger.37 Dennoch war es von 1951 bis 1959 ca. 65.000 Angehörigen der deutschen Minderheit möglich, aus Polen in die DDR auszureisen. Insbesondere die Erfolge des bundesdeutschen Deutschen Roten Kreuzes bei den Verhandlungen zur Familienzusammenführung war das ostdeutsche Regime im Ost-West-Konflikt in Zugzwang geraten. Immerhin war von westdeutscher Seite erreicht worden, dass zwischen 1956 und 1958 270.000 Deutsche im Sinne der bundesdeutschen Definition Polen verlassen durften.38 Bis zur halbamtlichen Initiative des westdeutschen Roten Kreuzes sahen sich die DDR-Institutionen nur dann zum Handeln veranlasst, wenn Angehörige der deutschen Minderheiten in Ostdeutschland Verwandte hatten und diese gegenüber dem SED-Staat auf deren Ausreise aus Polen drängten. Ansonsten wurde dem Problem der deutschen Minderheit in Polen nur nachrangige Bedeutung || 36 Burckhard Olschowsky, Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR der Volksrepublik Polen 1900–1989, Osnabrück 2005, hier S. 43. 37 Dariusz Stola, Das kommunistische Polen als Auswanderungsland, in: Zeithistorische Forschungen, 2. 2005, S. 345–366. 38 Angaben nach Krzysztof Ruchniewicz, Niemcy w Polsce jako objekt zainteresowania obu państw niemieckich, in: Między irredentą, lojalnością a kolaboracja. Osuwerenność państwową i niezaleśność narodową (1795–1989), Thorn 2001, S. 345–387; zit. nach: Claudia Schneider, Übersiedlungen aus der Volksrepublik Polen in die DDR 1964–1987, Diss. Halle-Wittenberg 2013, S. 63.

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zugemessen. Möglichst konfliktfreie Beziehungen zum östlichen Nachbarn erschienen der SED-Führung aufgrund der Abhängigkeit von polnischen Rohstofflieferungen weitaus wichtiger. So trug sie faktisch dazu bei, dass sich westdeutsche Akteure für eine großzügige Ausreise von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen einsetzen konnten. Um den westdeutschen Verhandlungserfolg zu kontern, gingen die DDR-Auslandsvertretungen dazu über, Angehörige der deutschen Minderheit in Polen als DDR-Bürger registrieren zu lassen. Dieses Vorgehen erfuhr allerdings keinen großen Zuspruch in der Zielgruppe, außerdem beschränkte es die polnische Seite territorial auf das ehemalige deutsche Reichsgebiet von vor 1937. Schließlich endete die Etappe der reinen Familienzusammenführung 1959, als die polnische Staatsführung nach einer Zeit der relativ liberalen Gesellschafts- und Migrationspolitik wieder zu einem Kurs der strikt nationalistischen Homogenisierungs- beziehungsweise Polonisierungspolitik gegenüber der deutschen Minderheit im Polen zurückkehrte.39 Als eine sichtbare Auswirkung dieser Richtungsänderung in der Bevölkerungs- und Migrationspolitik der polnischen Staatsführung gingen zwischen 1960 und 1963 die genehmigten Ausreisen in die DDR auf ca. 1.000 bis 1.500 Personen pro Jahr zurück. Die SED-Führung blieb trotz erheblicher Skepsis gegenüber dieser Praxis über Jahre in dieser Frage passiv.40 Dies änderte sich erst, als die Bundesregierung erneut erfolgreich ihre Beziehungen zum kommunistisch regierten Polen verbesserte und 1963 in der polnischen Hauptstadt eine Handelsvertretung eröffnete. Nicht zu Unrecht sah die DDR darin eine markante Wende hin zur gegenseitigen Anerkennung der Bundesrepublik und Polens, was den SED-Staat zwangsläufig erneut in eine unkomfortable Konkurrenzsituation gebracht hätte und schließlich auch hat. In langwierigen Verhandlungen mit der polnischen Regierung bemühten die ostdeutschen Offiziellen nun hauptsächlich die Arbeitskräftesituation der beiden Planwirtschaften als Argument für die Ausreise von Angehörigen der deutschen Minderheit aus Polen in die DDR. Schließlich kam es im Herbst 1965 zu einer Vereinbarung zwischen den Regierungen der beiden kommunistischen Staaten, die mit Modifikationen bis 1987 Bestand hatte und aufgrund derer insgesamt 35.000 Personen in den SED-Staat einreisten.41 Verglichen mit den ca. 570.000 ›Aussiedlern‹, die in diesem Zeitraum Polen in Richtung Westdeutschland verlassen durften42, nimmt sich diese Zahl gering aus. Gemessen aber an der seit dem Bau der Berliner Mauer 1961 ansonsten eher geringen Zuwanderung nach Ostdeutschland stellt diese Migrationsbewegung doch eine in der Ge|| 39 Beate Ihme-Tuchel, Die DDR und die Deutschen in Polen. Handlungsspielräume und Grenzen ostdeutscher Außenpolitik 1948 bis 1961, Berlin 1997. 40 Schneider, Übersiedlungen, S. 150. 41 Ebd., S. 204. 42 Jürgen Hensen, Zur Geschichte der Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme, in: Christoph Bergner/Matthias Weber (Hg.), Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, München 2009, S. 47–66, hier S. 50.

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schichte der DDR außergewöhnliche Entwicklung dar. Zugleich lassen sich trotz gegenteiliger Verlautbarungen der SED-Propaganda deutliche Parallelen zu anderen Einwanderungsbewegungen in der deutschen Geschichte erkennen. In dem langwierigen Verfahren war lediglich antragsberechtig, wer seine deutsche Staatsangehörigkeit durch Dokumente aus der Zeit vor 1945 belegen konnte. Darüber hinaus waren in dem Verfahren Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation und das Alter der Antragsteller für die DDR-Behörden von Bedeutung. Mit der neuen Ostpolitik durch die sozial-liberale Regierungskoalition in der Bundesrepublik und den damit einhergehenden Reiseerleichterungen für Angehörige der deutschen Minderheit in Polen ging in dieser Gruppe das Interesse an einer Ausreise in die DDR jedoch in den 1970er Jahren deutlich zurück. Dies änderte sich auch nicht, als der SED-Staat sein Ausreiseangebot an die Deutschen aus dem ehemaligen deutschen Reichsgebiet auf die deutsche Minderheit im gesamten polnischen Staatsgebiet ausweitete. Schließlich führte die zugespitzte politische Situation in Polen 1981 dazu, dass die DDR-Behörden aus ›Sicherheitsgründen‹ die Einreise scharf beschränkten. 1987 wurde dieses Verfahren von ostdeutscher Seite gänzlich eingestellt.43 Ähnlich wie bei den deutschen Einwanderern aus der Sowjetunion und auch schon bei den von den DDR-Behörden als ›Übersiedlern‹ bezeichneten Flüchtlingen und Vertriebenen aus der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten die Zuweisung von Arbeitsplätzen, die damit einhergehende Teilnahme am planwirtschaftlichen Versorgungssystem sowie die – über lange Zeit sehr schwierige – Bereitstellung von Wohnraum die hauptsächlichen Leistungen des SED-Staates. Sie sollten eine Assimilation in der ostdeutschen Ankunftsgesellschaft ermöglichen. Die staatlichen Zuwendungen waren zwar im Vergleich zu den bundesdeutschen Eingliederungshilfen und Ausgleichszahlungen weitaus bescheidener und in der ostdeutschen Mangelgesellschaft auch nicht allerorten sofort beziehungsweise permanent verfügbar. Dennoch forderten insbesondere regionale und lokale Behörden in der DDR kompromisslos von den Übersiedlern konfliktfreie Anpassung an das ostdeutsche Alltagsleben.44 Den Umsiedlern war weder eine autonome Identitätsartikulation noch eine organisierte Interessenvertretung erlaubt. Bereits in der kurzen Spanne der offiziellen ›Umsiedlerpolitik‹45 – im Sprachgebrauch des SEDStaates bezeichnete diese die staatlichen Maßnahmen zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten – hatte sich ein || 43 Claudia Schneider, Als Deutsche unter Deutschen? ›Übersiedler aus der VR Polen‹ in der DDR ab 1964, in: Kim Christian Priemel (Hg.), Transit – Transfer. Politik und Praxis der Einwanderung in der DDR 1945–1990, Berlin 2011, S. 51–74. 44 Schneider, Übersiedlungen, S. 205. 45 Vgl. Michael Schwartz, Vertriebene und ›Umsiedlerpolitik‹. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004, S. 1118.

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gesellschaftlicher Umgang mit den Folgen von Zwangsmigration entwickelt, der den Betroffenen zwar in einem System sozialer Absicherungen Betreuung anbot, dies aber nur um den Preis der Unterdrückung jeglicher kultureller oder auch nur biografischer Differenz.

2 Ausländer im ›Arbeiter-und-Bauern-Staat‹ Die sowjetischen Besatzungstruppen waren mit Abstand die größte Gruppe von Ausländern, die die DDR kannte. Zum Zeitpunkt der friedlichen Revolution 1989/90 befanden sich noch ca. 580.000 Soldaten, Zivilangestellte und Familienangehörige in den ostdeutschen Standorten der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD). ›Die Russen‹ kamen als fremde Sieger- und Besatzungsmacht, die ihr eigenes diktatorisches Herrschaftssystem mit Hilfe der deutschen Kommunisten in der SBZ implementierte.46 Prägend für das Verhältnis der ersten Jahre waren die Gewalterfahrungen gegen Kriegsende, insbesondere die Massenvergewaltigungen von deutschen Frauen. Wilde Plünderungen, die Vertreibung aus den Ostgebieten und die anhaltende Demontage wurden auch östlich der Elbe nicht gutgeheißen und schadeten dem Ansehen der als ›Russenpartei‹ geltenden SED.47 Weite Teile der Bevölkerung blieben auf Distanz zum neuen SED-Staat. Doch die Kontakte zwischen DDR und Sowjetunion, zwischen Deutschen und Sowjetbürgern, erschöpften sich nicht in den offiziellen Freundschaftsritualen der staatlichen Propaganda.48 Vielmehr drangen Elemente der politischen und der Arbeitskultur der Sowjetunion in einem ambivalenten Prozess von Aneignung, Umformung und Ablehnung in das öffentliche Leben und den betrieblichen Alltag der DDR ein. Das Paradox parallelen Zusammen- und Nebeneinanderlebens, von hermetischer Abschottung der sowjetischen Besatzungstruppen und oktroyierter Aneignung sowjetischer Arbeitsmethoden, von propagierter Fortschrittlichkeit des sowjetischen Gesellschaftssystems und erlebter Fremdheit und Rückständigkeit seitens der ostdeutschen Bevölkerung49

|| 46 Silke Satjukow, Besatzer. ›Die Russen‹ in Deutschland 1945–1994, Göttingen 2008. 47 Norman Naimark, Die Russen in Deutschland. Die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997. 48 Jan C. Behrends, Freundschaft, Fremdheit, Gewalt. Ostdeutsche Sowjetunionbilder zwischen Propaganda und Erfahrung, in: Gregor Thum (Hg.), Traumland Osten. Das östliche Europa in der Wahrnehmung der Deutschen, Göttingen 2006, S.157–180. 49 Christian Th. Müller, »O’ Sowjetmensch!« Beziehungen von sowjetischen Streitkräften und DDR-Gesellschaft zwischen Ritual und Alltag, in: ders./Patrice G. Poutrus (Hg.), Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnungen in der DDR-Gesellschaft, Köln 2005, S. 17–134.

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gehörte zu jenen gesellschaftlichen Spannungen50, die erst mit dem Ende des SEDStaates und dem Abzug der nun auch offiziell russischen Truppen gelöst wurde.

2.1 ›Studieren im Freundesland‹: ausländische Studierende in der DDR Nach den sowjetischen Besatzungstruppen und den ersten ausländischen Asylsuchenden51 gehörten die ausländischen Studierenden in der DDR zu denjenigen Ausländern, die schon sehr früh ein – wenn auch begrenztes – Aufenthaltsrecht besaßen. Es kann davon ausgegangen werden, dass in der Zeit von 1951 bis 1989 zwischen 64.000 und 78.400 ausländische Studierende aus über 125 verschiedenen Staaten an tertiären Bildungseinrichtungen der DDR einen Abschluss erwarben und damit bis zu drei Prozent aller Hochschulabsolventen in diesem Zeitraum stellten. Für 1952 weisen die internen Statistiken des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen erstmals 16 ausländische Studierende an den ostdeutschen Hochschulen und Universitäten aus. Die Zahl der dort eingeschriebenen Ausländer stieg kontinuierlich an, und für 1989 wurden 13.410 ausländische Studierende in der DDR gezählt. Die ausländischen Studierenden in der DDR konzentrierten sich wesentlich auf die sechs ostdeutschen Universitätsstädte. So gab es 1989 zum Beispiel 1.200 ausländische Studierende aus 80 verschiedenen Ländern an der Humboldt-Universität zu Berlin, was zehn Prozent aller dort Immatrikulierten entsprach.52 Nicht alle ausländischen Studierenden kamen aus den kommunistisch beherrschten Ländern in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa oder Ostasien. Auch waren diejenigen, die in der DDR studierten und nicht aus den sogenannten Bruderländern kamen, keineswegs notwendigerweise in ihren Heimatländern kommunistische Parteigänger oder Sympathisanten. Über all die Jahre hinweg waren die ausländischen Studierenden eine undeutlich konturierte, heterogene Gruppe. Es gehörte zur international betriebenen Imagewerbung des SED-Staates, dass es Studenten beinahe jeden Landes der Welt ermöglicht wurde, an ostdeutschen Hochschulen und Universitäten zu studieren. 1988 immatrikulierten DDR-Bildungseinrichtungen über 13.400 Studenten aus 126 Ländern, unter ihnen gab es auch 103 Studierende aus den USA und vier aus dem Vatikanstaat.53

|| 50 Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 24. 1997, S. 110–131. 51 Hierzu siehe den Beitrag von Patrice G. Poutrus über Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in diesem Band. 52 Irene Runge, Ausland DDR. Fremdenhaß, Berlin 1990, S. 107. 53 Damian Mac Con Uladh, ›Studium bei Freunden?‹ Ausländische Studierende in der DDR bis 1970, in: Müller/Poutrus, (Hg.), Ankunft – Alltag – Ausreise, S. 175–220.

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Obwohl die DDR-Funktionäre das Ausländerstudium beharrlich als Ausdruck der sozialistischen Solidarität und des proletarischen Internationalismus darstellten, war es doch zugleich auch außen- und handelspolitischen Zielen unterworfen.54 So veränderte sich die Herkunftsstruktur der ausländischen Studierenden in der DDR gemäß den sich wandelnden außenpolitischen Interessen des SED-Staates. Die Zahl der arabischen Studenten ging zwischen 1959 und 1967 um zehn Prozent zurück, während der Prozentsatz der Studierenden aus afrikanischen Ländern um zehn Prozent anstieg und die Zahl der Studierenden aus Asien, Westeuropa und Lateinamerika in diesem Zeitraum relativ konstant blieb. Der Anteil aller ausländischen Studierenden aus den Ländern unter kommunistischer Herrschaft betrug zu dieser Zeit ungefähr 45 Prozent, und immerhin ca. 7,5 Prozent kamen aus Westeuropa. Ein entscheidendes und vielleicht einzigartiges Charakteristikum des Ausländerstudiums in der DDR war die Tatsache, dass der ostdeutsche Staat für sämtliche Ausbildungskosten aufkam. Genau wie ihre ostdeutschen Kommilitonen mussten auch ausländische Studierende keine Studiengebühren bezahlen und erhielten einen monatlichen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt.55 Vor Antritt des eigentlichen Studiums absolvierten die ausländischen Studierenden ab 1951 einen meist einjährigen Deutschlehrgang an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) der Universität Leipzig. 1956 ging aus der ABF das Institut für Ausländerstudium hervor, das im Juni 1961 in Herder-Institut (HI) umbenannt wurde. Im Bedarfsfall absolvierten ausländische Studierende am HI Intensivkurse, um die deutsche Sprache zu lernen und sich fachlich auf ihr Studium vorzubereiten. Insbesondere außereuropäische Studenten waren auf das universitäre Lehrangebot an den Universitäten und Hochschulen der DDR eher schlecht vorbereitet. Die Sprach- und Vorbereitungskurse am HI waren somit nicht immer ausreichend, um einen auch politisch gewollten Studienerfolg zu sichern. Ab 1963 mussten deshalb manche Universitäten für afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Studenten zusätzliche Vorbereitungskurse in Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern einführen. Verhindert werden sollte vor allem eine Abwanderung der potentiellen Studierenden in die Bundesrepublik oder in westeuropäische Staaten.56 Zugleich hatten sich die ausländischen Studierenden in der DDR mit einem erheblichen Druck der Anpassung an die gegebenen politischen und ökonomischen Verhältnisse im SED-Staat auseinanderzusetzen. Die daraus resultierenden Konflikte im Alltag der DDR erklärten sich nicht allein aus dessen unvorhersehbaren Härten. Sie hatten besonders auch mit den idealisierten Bildern vom Sozialismus zu || 54 Siegfried Förster, 30 Jahre Ausländerstudium in der DDR, in: Deutsche Außenpolitik, 9. 1981, S. 29–35. 55 Roland Wiedmann, Strukturen des Ausländerstudiums in der DDR, in: Hans F. Illy/Wolfgang Schmidt-Streckenbach (Hg.), Studenten aus der Dritten Welt in beiden deutschen Staaten, Berlin 1987, S. 67–99. 56 Harry B. Ellis, African Students Vault Iron Curtain, in: Christian Science Monitor, 25.2.1967, S. 9.

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tun, mit denen der SED-Staat bei potentiellen Kandidaten für das Ausländerstudium in der DDR warb.57 Seit den frühen 1950er Jahren wurden ausländische Studierende in Studentenwohnheimen untergebracht, deren Ausstattung und Zustand im Allgemeinen den von der DDR selbst gesetzten Standards nicht entsprachen. Die Studentenwohnheime waren auch in den späten 1960er Jahren überfüllt, und der Umstand, dass nicht wenige ausländische Studierende im Verlauf ihres Studiums geheiratet hatten und ihre Zimmer mit Ehegatten und Kindern teilten, verschärfte das Problem weiter.58 Zu dieser Situation trug aber auch bei, dass ausländische Studierende in den Studentenwohnheimen möglichst in einer Etage untergebracht wurden. Zwar war die Segregation ausländischer und ostdeutscher Studierender in der DDR keine erklärte Politik der SED, doch entwickelte sie sich aus verschiedenen Gründen trotzdem. Die DDR-Offiziellen wollten eine Privatunterbringung der Ausländer möglichst ausschließen, damit diese sich nicht der Kontrolle durch die Universitäts- und Hochschulinstanzen entziehen konnten. Zugleich widersetzten sich viele ausländische Studierende dem Bestreben der Hochschulleitungen, ihnen ›vertrauenswürdige‹ Kommilitonen in das jeweilige Quartier zuzuweisen wie auch ostdeutsche Studierende wenig Neigung zeigten, in den überfüllten und heruntergekommenen Studentenwohnheimen für Ausländer zu leben. Zugleich mussten sich Studenten aus der DDR häufig dazu verpflichten, mit ihnen keinen außeruniversitären Kontakt zu pflegen. »Mit Studienkollegen durften wir fachliche Diskussionen führen, aber keine persönlichen Beziehungen aufnehmen.«59 Obwohl es ausländischen Studierenden auf vielen Ebenen gelang, funktionierende Beziehungen zu DDR-Bürgern zu knüpfen, lehnte die offizielle Politik Heiraten zwischen ostdeutschen und ausländischen Studierenden mit Rücksicht auf die Entwicklungshilfepolitik der DDR ostentativ ab. Im Namen dieser Politik wurden bi-nationale Paare und Familien sehr häufig auseinandergerissen, wenn ein Teil den SED-Staat auf Dauer zu verlassen hatte.60 Es steht außer Zweifel, dass die DDR vielen Menschen eine Hochschulausbildung ermöglichte, die sie ansonsten niemals gehabt hätten. Die individuellen Bedürfnisse dieser Menschen jedoch wurden vom SED-Staat im Allgemeinen ignoriert. Trotz der Rhetorik des Internationalismus und der Solidarität sah dieser die ausländischen Studierenden vor allem als außen- und handelspolitisches Kapital an. Die Verantwortlichen führten sich die unvermeidlichen sozialen Konsequenzen nicht vor Augen, die es haben musste, wenn jungen Studierenden über so viele Jahre || 57 Vijoy Batra, Studium bei Freunden? Das Ausländerstudium an den Universitäten der Sowjetzone, hg.v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1962. 58 Mac Con Uladh, Studium, S. 175–220. 59 Bernd Bröskamp/Gabriele Jaschok/Andreas Noschak (Red.), Schwarz-weiße Zeiten. AusländerInnen in Ostdeutschland vor und nach der Wende. Erfahrungen der Vertragsarbeiter aus Mosambik. Interviews – Berichte – Analysen, hg.v. Informationszentrum Afrika, Bremen 1993, S. 83. 60 Mac Con Uladh, Studium, S. 175–220.

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hinweg erlaubt wurde, in der DDR zu leben, und sie ignorierten durchweg die Existenz rassistischer Einstellungen in der DDR-Gesellschaft. Zugleich entstand dadurch erneut Raum für fremdenfeindliche Gewalttaten in der DDR-Gesellschaft. Das zerstörte letztlich nicht nur viele positive Beispiele für interkulturelle Verständigung in der DDR, es machte auch die Effekte zunichte, die die DDR sich vom Ausländerstudium erhofft hatte, und hier vor allem die Verbreitung eines positiven DDR-Bildes bei den Bürgern nichtsozialistischer Länder. Weil die DDR sich bei der Entwicklung eines Systems von Nachkontakten mit den Absolventen sehr schwerfällig zeigte, ist es unmöglich, deren Lebensweg nach ihrer Studienzeit in Ostdeutschland anhand von DDR-Quellen nachzuvollziehen. Einiges weist jedoch darauf hin, dass viele Absolventen schlussendlich in Westdeutschland oder bei westdeutschen Firmen im Ausland Arbeit fanden. Ironischerweise hat so letztlich vielleicht gerade die Bundesrepublik am stärksten vom Ausländerstudium in der DDR profitiert.61 Zugleich wies das Ausländerstudium in der DDR bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Merkmale auf, die in der folgenden Zeit charakteristische Grundlinien der SED-Politik gegenüber Ausländern im Allgemeinen und insbesondere gegenüber Arbeitsmigranten werden sollten.

2.2 Ausländische Arbeitskräfte für den Sozialismus: Vertragsarbeiter in der DDR Die größte Gruppe von permanent in der DDR lebenden Ausländern – abgesehen von den sowjetischen Truppen der GSSD – bildeten die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mosambik und Angola, Kuba, Algerien, Ungarn und Polen. Im Jahr 1989 registrierte der SED-Staat ca. 95.000 ausländische Beschäftigte. In der neueren Forschung herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass der entscheidende Grund für die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in der DDR der zunehmende Arbeitskräftemangel in der zentralistischen Planwirtschaft war. Zugleich gingen die ausländischen Arbeitskräfte, die Repräsentanten der jeweiligen Entsendeländer und auch ihre administrative Partner in der DDR sowie die ostdeutsche Bevölkerung davon aus, dass mit der Arbeitsmigration keine langfristige Einwanderung verbunden sei.62 Geregelt wurde die Beschäftigung der ausländischen Arbeitsmigranten in der DDR auf der Grundlage von bilateralen Regierungsabkommen. In diesen zwischenstaatlichen Verträgen wurde der zeitliche und personelle Umfang der Beschäftigung, die Lohnhöhe sowie Einkommenstransfers in das Herkunftsland, Anreiseund Urlaubsregelungen, Sozial- und Ausbildungsleistungen sowie der Anstellungs-

|| 61 Ebd., S. 175–220. 62 Mirjam Schulz, Migrationspolitik der DDR. Bilaterale Anwerbungsverträge von Vertragsarbeitnehmern, in: Priemel (Hg.), Transit – Transfer, S. 143–168.

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ort und auch die Unterkunftsmodalitäten festgelegt. Im Ergebnis fanden die Vertragsarbeiter vor allem in Branchen und Betrieben der DDR-Planwirtschaft Anstellung, in welchen die ostdeutschen Werktätigen nur ungern einer Beschäftigung nachgehen wollten. Das traf insbesondere auf körperlich schwere oder gesundheitsschädigende Arbeiten zu und galt auch für Betriebsabläufe im Zwei- oder DreiSchicht-System. Außerdem war die konzentrierte und kontrollierte Unterbringung der meisten ausländischen Arbeitsmigranten in Wohnunterkünften eine direkte Folge dieser Vereinbarungen zwischen den Regierungen der Entsendeländer und dem SED-Staat.63 In der offiziellen Propaganda galt der Aufenthalt der ›ausländischen Werktätigen‹ im Arbeiter-und-Bauern-Staat als ›Arbeitskräftekooperation‹ im Rahmen der ›sozialistischen ökonomischen Integration‹: Durch ›Arbeitskräftekooperation‹ sollte das unterschiedliche Entwicklungsniveau zwischen den sozialistischen Staaten ausgeglichen werden. Der Aufenthalt in der DDR sollte insbesondere die vietnamesischen ›Werktätigen‹ auf die ›künftige Arbeit beim Aufbau des Sozialismus‹ vorbereiten und galt entsprechend als staatlicher Auftrag, dem die ›Entsandten‹ ihre persönlichen Interessen unterzuordnen hatten.64 In der Presse wurde ein ausnahmslos harmonisierendes Bild vom Leben und Arbeiten von Vertragsarbeitern in der ostdeutschen Gesellschaft gezeichnet. Hilfsbereitschaft, Solidarität und harmonisches Lernen und Arbeiten mit und vor allem von Seiten der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen wurden hervorgehoben. Rührung, Herzlichkeit und Zuneigung wurden vorgestellt, aber das alltägliche Zusammenleben in der Mangel- und Misstrauensgesellschaft der DDR kam schlicht nicht vor. Widersprüche und Konflikte wurden – wenn überhaupt – nur als Anpassungsprobleme der Arbeitsmigranten an den Alltag in der ›fortschrittlichen‹ Industrieproduktion dargelegt. Implizit erschienen die Vertragsarbeiter entweder als Bestätigung des kommunistischen Ideals vom Revolutionär in der Welt oder sie galten als behütete Schützlinge und folgsame Schüler des Sozialismus in der DDR.65 Jenseits der uniformierten Repräsentationen der Vertragsarbeiter in den Massenmedien der DDR entwickelte sich die Arbeitskräfteeinwanderung aber weitaus dynamischer und auch widersprüchlicher. Bereits im Jahr des Mauerbaus wurden

|| 63 Sandra Gruner-Domić, Zur Geschichte der Arbeitskräftemigration in die DDR. Die bilateralen Verträge zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter (1961–1989), in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 32. 1996, S. 204–240. 64 Andreas Müggenburg, Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen DDR. Darstellung und Dokumentation, hg.v.d. Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, Berlin 1996, S. 81. 65 Elena Demke, Fremdbild und Selbstbild – Fotoanalysen zu Ausländern in der DDR, in: dies./Annegret Schüle (Hg.), Fremde Freunde – Nahe Fremde, Berlin 2006, S. 101–146; Jessica Haak, Ausländer in der DDR im Spiegel der Tagespresse. Eine Analyse der Berichterstattung von den Anfängen der DDR bis zur Wiedervereinigung, in: Priemel (Hg.), Transit – Transfer, S. 247–271.

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von Seiten des SED-Staates erfolglos Versuche unternommen, Arbeitskräfte aus verbündeten Staaten Osteuropas auf der Basis von bilateralen Abkommen zu gewinnen. Erst mit dem Angebot, den ausländischen Arbeitskräften während ihrer Anstellung auch eine berufsspezifische Ausbildung zu ermöglichen, ergab sich 1963 eine erste zwischenstaatliche Vereinbarung mit dem polnischen Nachbarn über die Beschäftigung von 500 polnischen Arbeitskräften im ostdeutschen Braunkohletagebau. Dem folgte 1966 das sogenannte Pendlerabkommen für die Grenzregion an der Oder.66 Die in den östlichen und süd-östlichen DDR-Verwaltungsbezirken Frankfurt/Oder, Cottbus und Dresden angesiedelten staatlichen Großunternehmen – sogenannte Kombinate – beschäftigten fortan polnische Arbeitskräfte, die mit ihrem polnischen Personalausweis und einem Betriebsausweis aus der DDR täglich die Oder-Neiße-Grenze ohne weitere Ein- und Ausreisedokumente passieren durften. Angestellt wurden hauptsächlich polnische Frauen für eine Dauer von maximal zwei bis drei Jahren, die überwiegend im Zwei- oder Dreischichtsystem arbeiteten. Bis zum Mauerfall pendelten durchschnittlich 3.000 bis 4.000 polnische Staatsbürger täglich über die östliche Grenze des SED-Staates. Die Bezahlung der polnischen Pendler erfolgte ausschließlich in DDR-Mark und auch sonst waren sie formalrechtlich ihren ostdeutschen Kollegen vollkommen gleichgestellt. Allerdings war ein Transfer der Sozialleistungen, wie etwaige Rentenansprüche nach Beendigung der Beschäftigung in der DDR, nicht geregelt.67 Als jedoch am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht durch die kommunistische Partei- und Staatsführung verhängt wurde, führte dies zwar zur Aufhebung des visafreien Reiseverkehrs an der OderNeiße-Grenze, die polnischen Pendler aber gingen in dieser Zeit bis zum Herbst 1989 weiterhin ihrer Beschäftigung in den ostdeutschen Betrieben nach. Insbesondere weil diese ausländischen Arbeitskräfte das ohnehin mangelhafte Wohnungsangebot nicht beanspruchten und dadurch sonstige soziale Aufwendungen weitgehend entfielen, war diese besondere Form der Ausländerbeschäftigung für den SED-Staat lukrativ. Daraus erklärt sich auch der bemerkenswert krisenfreie Verlauf dieser besonderen Form der Arbeitsmigration in die DDR.68 In Anlehnung an die Vereinbarungen aus Polen konnte die DDR-Regierung 1967 einen Vertrag mit der ungarischen Regierung zum Arbeitskräftetransfer treffen, dessen Umsetzung allerdings zu vergleichsweise großen Konflikten führte. Zwischen 1968 und 1975 gingen ca. 12.000 ungarische Arbeiterinnen und Arbeiter in der DDR einer Beschäftigung nach, wobei deren Anzahl in diesem Zeitraum jährlich nie

|| 66 Ewa Helias, Polnische Arbeitnehmer in der DDR und der BRD, ihre Rechte, Pflichten und die neue Situation nach der Wende, Berlin 1992. 67 Christoph Kleßmann, Arbeiter im ›Arbeiterstaat‹ DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn 2007, S. 617. 68 Rita Röhr, Hoffnung – Hilfe – Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirkes Frankfurt/O., 1966–1991, Berlin 2001, S. 289.

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die Größenordnung von ca. 5.000 bis 6.000 Personen überstieg.69 Obwohl im Abkommen mit Ungarn festgeschrieben war, dass die Unterbringung der ungarischen Arbeitskräfte in der DDR den allgemeinen Gepflogenheiten der beiden Partnerländer entsprechen sollte, waren die tatsächlich bereitgestellten Unterkünfte eher spärlich ausgestattet, und bis zu sechs Personen mussten sich ein Zimmer teilen. In einigen Fällen standen den einzelnen Bewohnern gerade 4,5 Quadratmeter Wohnraumfläche zur Verfügung. Auch waren die ungarischen Vertragsarbeiter häufig in eben erst fertiggestellten Plattenbausiedlungen untergebracht, denen es weitgehend an jeglicher urbaner Infrastruktur mangelte. Daneben zeigten die ungarischen Vertragsarbeiter nur eine geringe Neigung, an der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der DDR teilzunehmen. Immerhin hatten 60 Prozent von ihnen ihre Facharbeiterausbildung bereits in Ungarn absolviert. Die alltäglichen Lebensverhältnisse wie auch die Arbeitsbedingungen in den DDR-Betrieben führten insbesondere in den sächsischen Verwaltungsbezirken Karl-Marx-Stadt und Leipzig zu wiederholten Konflikten mit den lokalen Behörden und der einheimischen Bevölkerung.70 Die vielfältigen Friktionen bei der Umsetzung des Arbeitskräftetransfers führten schließlich dazu, dass sowohl die ungarischen als auch die DDR-Stellen kein Interesse an einer Ausweitung des fortbestehenden Abkommens nach 1975 hatten. Schließlich kündigte die ungarische Seite es 1979 teilweise auf, da sich inzwischen in der ungarischen Planwirtschaft ebenfalls ein akuter Arbeitskräftemangel eingestellt hatte. Gleichwohl waren bis Ende der 1980er Jahre weiterhin ca. 4.000 ungarische Arbeitskräfte in 45 ostdeutschen Betrieben beschäftigt. Fortan konzentrierten sich die Anstrengungen der DDR-Institutionen zur Gewinnung von Arbeitskräften für die Planwirtschaft des SED-Staates auf Staaten beziehungsweise Regierungen außerhalb des sowjetisch beherrschten Mittel- und Osteuropas. Bereits 1974 wurde ein bilaterales Regierungsabkommen mit Algerien unterzeichnet, und im gleichen Jahr kam es zur Beschäftigung erster algerischer Arbeitskräfte in der Braunkohle- und Baustoffindustrie sowie im Landmaschinenbau in der DDR. Ab 1975 und 1984 wurden jährlich zwischen 3.500 und 4.000 algerische Arbeiter in staatlichen Industrieunternehmen sowie in der Bau- und Verkehrswirtschaft eingesetzt.71 Eine Besonderheit dieses Arbeitskräftetransfers war aber, dass die algerischen Beschäftigten sowohl die An- und Abreisekosten, als auch die Ausbildungskosten selbst tragen sollten. Auch war den algerischen Vertragsarbeitern nur der Transfer von 40 Prozent ihres Nettolohnes in die DDR gestattet. Die Unzufriedenheit mit den vorgefundenen Arbeits- und Lebensbedingungen führte || 69 Schulz, Migrationspolitik, S. 152. 70 Damian Mac Con Uladh, Die Alltagserfahrungen ausländischer Vertragsarbeiter in der DDR. Vietnamesen, Kubaner, Mosambikaner, Ungarn und andere, in: Karin Weiss/Mike Dennis (Hg), Erfolg in der Nische? Die Vietnamesen in der DDR und in Ostdeutschland, Münster 2005, S. 51–67. 71 Mike Dennis, Asian and African Workers in the Niches Society, in: ders./Norman LaPorte, State and Minorities in Communist East Germany, New York 2011, S. 87–123, hier S. 89.

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bei algerischen Vertragsarbeitern zu wiederkehrenden Arbeitsniederlegungen. Zwischen 1974 und 1984 gab es in DDR-Betrieben mindestens 15 Streiks algerischer Arbeiter, an denen sich mehr als 800 Personen beteiligten.72 Hauptgrund für diese Proteste war die niedrige Entlohnung an den zugewiesenen Arbeitsplätzen, welche zumeist monotone und körperlich anstrengende Tätigkeiten erforderten. Beim größten Streik im Gaskombinat ›Schwarze Pumpe‹ erreichten die Streikenden sowohl Lohnerhöhungen und bessere Ausbildungsmöglichkeiten als auch das Recht, die betriebseigenen Wohnbaracken – in denen auch DDR-Arbeiter wohnten – zu verlassen und in normale Wohnblocks ins Umland umzuziehen. In unmittelbarer Reaktion auf diese Auseinandersetzungen wurde die Einreise algerischer Vertragsarbeiter zeitweise sogar gestoppt. Auch ging die Häufig- und Heftigkeit der entsprechenden Arbeitskonflikte ab Mai 1976 erheblich zurück. Immerhin aber war eine Folge dieser Auseinandersetzungen, dass durch eine Änderung des bilateralen Vertrages alle algerischen Vertragsarbeiter ein monatliches Trennungsgeld von 120 DDR-Mark erhielten.73 Da allerdings die Spannungen und Konflikte mit algerischen Vertragsarbeitern im Arbeits- und Lebensalltag in der DDR anhielten, wenn auch auf einem weitaus niedrigem Niveau, ergriffen die algerischen Regierungsstellen schließlich die Partei ihrer Staatsbürger. Sie verboten die ›Ausbeutung‹ algerischer Staatsbürger im Ausland per Gesetz, kündigten für 1984 das Abkommen mit dem SED-Staat auf und beorderten schließlich die algerischen Vertragsarbeitskräfte aus der DDR zurück.74 Bereits 1978 war es zu einem Abkommen zwischen der DDR-Regierung und der kommunistischen Regierung der Republik Kuba gekommen. Vereinbart wurde, kubanische Vertragsarbeiter für fünf Jahre in der DDR zu beschäftigen und parallel zu Facharbeitern auszubilden. 1979 reisten dann ca. 1.200 Kubanerinnen und Kubaner in die DDR ein. Für 1980 war darüber hinaus vereinbart, dass weitere 2.000 kubanische Vertragsarbeiter in der Elektro- und Chemieindustrie sowie dem Landmaschinen- und Fahrzeugbau der DDR eine Anstellung mit entsprechender Ausbildung erhalten sollten. Eine derartige Größenordnung wurde jedoch nie erreicht. Bis Ende 1988 fanden insgesamt 8.310 kubanische Arbeitskräfte eine Beschäftigung in der DDR.75 Gemeinhin wird in der Forschung davon ausgegangen, dass die kubanische Regierung in der Folge gewaltsamer Auseinandersetzungen 1988 in der ČSSR zwischen kubanischen Vertragsarbeitern und Tschechoslowaken auch das Abkom|| 72 Mac Con Uladh, Alltagserfahrungen. 73 Almut Riedel, Doppelter Sozialstatus, späte Adoleszenz und Protest. Algerische Vertragsarbeiter in der DDR, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53. 2001, H. 5, S. 76–95. 74 Hanns Thomä-Venske, Notizen zur Situation der Ausländer in der DDR, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 1990, H. 3, S. 125–131; Almut Riedel, Erfahrungen algerischer Arbeitsmigranten in der DDR: »…hatten ooch Chancen, ehrlich«, Opladen 1994, S. 6f., 84f. 75 Sandra Gruner-Domić, Kubanische Arbeitsmigration in die DDR 1978–1989. Das Arbeitskräfteabkommen Kuba – DDR und dessen Realisierung, Berlin 1997, S. 5–74.

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men mit dem SED-Staat kündigte und schon vor dem Fall der Mauer Ende 1989 keine Arbeitskräfte mehr ins Ausland entsandte beziehungsweise die dort beschäftigten sukzessive zurückholte.76 Dem Abkommen mit Kuba folgten ähnlich gelagerte Vereinbarungen mit der Mongolei (1982), Angola (1985) und China (1986), die alle gemeinsam hatten, dass die Zahl der jeweils entsandten Arbeitskräfte vergleichsweise gering blieb. Im Jahr 1989 waren ca. 1.650 angolanische, 300 mongolische und 800 chinesische Vertragsarbeiter in der DDR beschäftigt. Zugleich zeichnete sich ab, dass diese Arbeitskräfte kaum eine adäquate Ausbildung in den sogenannten Einsatzbetrieben erhielten und stattdessen hauptsächlich für Aushilfs- und Anlernarbeiten eingesetzt wurden. Außerdem hatten die Entsendeländer und insbesondere Angola erhebliche Probleme, die vertraglich vereinbarte Anzahl von Arbeitskräften für den Einsatz im Ausland zu mobilisieren. Ungeachtet dieser Entwicklung hielten die Institutionen des SED-Staat bis zu seinem abrupten Zusammenbruch im Herbst 1989 an der Politik des gesteuerten Arbeitskräftetransfers fest, da es den Verantwortlichen bis zu diesem Zeitpunkt als das gebotene Mittel zur Kompensation des Arbeitskräftemangels in der DDR-Planwirtschaft erschien.77 Insbesondere die Beschäftigung von Vertragsarbeitern aus Vietnam und Mosambik prägte durch deren Quantität und Kontinuität das Bild vom Arbeitsmigranten im SED-Staat in den 1980er Jahren. Immerhin waren 1989 ca. 52.000 beziehungsweise 15.000 Personen aus den beiden Staaten als Beschäftigte in der DDRIndustrie registriert. Die Gründe dafür lagen aber nicht allein im notorischen Arbeitskräftemangel der Planwirtschaft des SED-Staates. Vietnam und Mosambik hatten am Ende der 1970er Jahre nach Jahrzehnten dauernder Dekolonisationskonflikte, die durch die globale Blockkonfrontation im ›Kalten Krieg‹ radikal ausgeweitet wurden, mit den Folgen dieser Auseinandersetzungen zu ringen. Massive Kriegszerstörungen, hohe Auslandsverschuldung, wirtschaftliche Krisenerscheinungen sowie Versorgungsengpässe bei Grundnahrungsmitteln und gleichzeitige Massenerwerbslosigkeit führten dazu, dass die kommunistischen beziehungsweise prokommunistischen Regierungen der beiden Staaten großes Interesse an Vereinbarungen zum Arbeitskräftetransfer in die verbündeten Staaten in Europa hatten.78 Neben anderen Verträgen über politische und wirtschaftliche Kooperation schlossen die Regierungen der DDR und von Mosambik 1979 ein Abkommen über den im gleichen Jahr beginnende Beschäftigung von mosambikanischen Vertragsarbeitern in DDR ab. Dem folgte 1980 ein entsprechendes bilaterales Abkommen über den Einsatz vietnamesischer Vertragsarbeiter. Die Verträge galten über fünf Jahre, wobei Spezifikationen und Modifikationen in jährlichen bilateralen Konsultationen erfolgten. Angeworben werden sollten insbesondere junge Arbeitskräfte im Alter zwi-

|| 76 Dennis, Asian and African Workers, S. 90; vgl. auch Schulz, Migrationspolitik, S. 155. 77 Schulz, Migrationspolitik, S. 157–160. 78 Dennis, Asian and African Workers, S. 89f.

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schen 18 und 35 Jahren, weil diese Altersgruppe als besonders leistungsfähig angesehen wurde. Die Beschäftigung der Vertragsarbeiter sollte dennoch auf einen Zeitraum von jeweils vier Jahren begrenzt bleiben, wobei aber die Möglichkeit einer Verlängerung auf sieben Jahren bestand, wenn die Betriebe die Vertragsarbeiter für unabkömmlich hielten. Ab 1987 sollte es dann möglich sein, dass vietnamesische Vertragsarbeiter auch für fünf Jahre in der DDR einer Arbeit nachgingen. Allerdings war ein Übergang in eine permanente Anstellung mit einem entfristeten Aufenthaltsrecht kein Gegenstand der bilateralen Übereinkünfte.79 Grundsätzlich war nicht vorgesehen, dass Verwandte beziehungsweise Eheleute gemeinsam in der DDR einer befristeten Arbeit nachgingen. Ließen die einheimischen Behörden dies aber dennoch zu, hatten auch Ehepaare in der DDR keinen Anspruch auf einen Arbeitsplatz am gleichen Ort oder im gleichen Betrieb, und eine gemeinsame Unterkunft stand ihnen nicht zu. Die Unterbringung erfolgte im Grundsatz ohnehin nach Geschlechtern getrennt. Übernachtungen von Bekannten waren nur »bei freier Bettenkapazität« für höchstens drei Nächte möglich. Um sogenannten illegalen Übernachtungen beizukommen, veranstalteten besonders vietnamesische Gruppenleiter mit den deutschen Heimleitungen nächtliche Razzien. Sollten Vertragsarbeiter den Wunsch haben, in die ebenfalls kommunistisch regierten Nachbarländer der DDR zu reisen, mussten sie sowohl eine Erlaubnis ihres Entsendelandes als auch ein Visum für das Reiseziel rechtzeitig beantragen.80 Zwar war von Seiten der DDR das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne (SAL) die zentrale Steuerungsagentur für die Beschäftigung der Vertragsarbeiten zuständig, allerdings lag es in der Verantwortung der jeweiligen Staatsunternehmen, die vom SAL vorgegebenen Anforderungen an Verdienst, Sozialleistungen, Unterbringung, berufliche Qualifikation und Eingliederung in den Arbeitsalltag der Vertragsarbeiter umzusetzen. Von diesen Betrieben wurde dann das Personal für die Gemeinschaftsunterkünfte und die Betreuung am Arbeitsplatz, einschließlich Dolmetscher eingestellt. Laut Regierungsabkommen sollten die Vertragsarbeiter nur in Gruppen ab 50 Personen eingesetzt werden, und jeder dieser Gruppen wurde ein Gruppenleiter aus dem Heimatland der Vertragsarbeiter zugeteilt, der wiederum einem Bezirksbeauftragten der jeweiligen Botschaft unterstand. Diese wiederum waren für mindestens 2.000 Vertragsarbeiter verantwortlich und sollten insbesondere die politische Konformität der Vertragsarbeiter sicherstellen.81 Schließlich waren mehrere Hauptabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) damit beauftragt, die Aktivitäten von Ausländerinnen und Ausländern in der DDR und somit auch von Vertragsarbei-

|| 79 Müggenburg, Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer. 80 Helga Marburger (Hg.), »Und wir haben unseren Beitrag zur Volkswirtschaft geleistet« – eine aktuelle Bestandsaufnahme der Situation der Vertragsarbeitnehmer der DDR vor und nach der Wende, Berlin 1993, S. 21. 81 Dennis, Asian and African Workers, S. 95.

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tern zu kontrollieren. In dieser Überwachungspraxis spiegelten und amalgamierten sich sowohl ein institutionalisiertes Misstrauen gegen jegliche auswärtige Einflüsse, Erfahrungen aus früheren Konflikten mit Vertragsarbeitern und Vorurteilsstrukturen aus der Geschichte des deutschen Nationalstaates.82 Das hatte erheblich Konsequenz für das staatliche Handeln in tatsächlichen Konfliktsituationen. Insbesondere wenn es zwischen Vertragsarbeitern und Einheimischen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, verurteilten die Justizorgane des SED-Staates bei gleichen Strafvorwürfen Ausländer deutlich härter als ostdeutsche Angeklagte. Auffällig ist zugleich, dass insbesondere mosambikanische Vertragsarbeiter überdurchschnittlich oft wegen Sexualdelikten angeklagt und verurteilt wurden.83 Die mosambikanischen Vertragsarbeiter befanden sich zum Zeitpunkt der Rekrutierung mehrheitlich im Alter von 18 bis 25 Jahren, ihr Ausbildungsniveau war deutlich niedriger als das ihrer vietnamesischen Kollegen. Unter den vietnamesischen Vertragsarbeitern wiederum waren einige Hochschulabsolventen, die deshalb auch die vorgegebene Altersgrenze bis zu fünf Jahre überschreiten durften. Der Frauenanteil unter den angeworbenen mosambikanischen Arbeitskräften lag mit ca. 10 Prozent vergleichsweise niedrig, während er bei den vietnamesischen Vertragsarbeitern mit ca. 30 Prozent überdurchschnittlich hoch war.84 Obwohl die Ausbildung der Vertragsarbeiter weiterhin als ein zentrales Ziel der bilateralen Abkommen proklamiert wurde, trat der Fortbildungsaspekt in den dafür verantwortlichen Betrieben zusehends in den Hintergrund. Das Interesse der staatlichen Unternehmen lag in einer maximalen Nutzung der angeworbenen Arbeitskräfte, und auch für die Vertragsarbeiter selbst war eine berufliche Fortbildung in der verbleibenden Freizeit nicht immer attraktiv. Nicht jede in der DDR erworbene Qualifikation versprach in der Heimat einen Zugewinn an ökonomischem oder kulturellem Kapital und der Einkommensvorteil nach erfolgreichem Abschluss der Fortbildungskurse war zuweilen auch eher unerheblich.85 Dennoch monierten mosambikanische und vietnamesische Regierungsstellen bei den Verhandlungen zur Verlängerung der Abkommen zum Arbeitskräftetransfer die mangelnde Ausbildung ihrer Staatsangehörigen in den Unternehmen des SED-Staates, blieben jedoch ohne Erfolg. Die Verschuldung Mosambiks bei der DDR, die mittels der Vertragsarbeiter getilgt werden sollte, verlieh der Forderung nach Verbesserung der Ausbildung für die mosambikanischen Vertragsarbeiter keinen hinreichenden Nachdruck. Auch Vietnam verzichtete letztendlich auf entsprechende Verbesserungen, da es auf die Erlöse der Arbeitsmigranten und auf die Entlastung des heimatlichen Arbeitsmarktes weiterhin an|| 82 Michael Feige, Vietnamesische Studenten und Arbeiter in der DDR und ihre Beobachtung durch das MfS, Magdeburg 1999, S. 7–20. 83 Jürgen Mense, Ausländerkriminalität in der DDR. Eine Untersuchung zu Kriminalität und Kriminalisierung von Mosambikanern 1979–1990, in: Priemel (Hg.), Transit – Transfer, S. 211–244. 84 Gruner-Domić, Zur Geschichte der Arbeitskräftemigration in die DDR. 85 Mac Con Uladh, Alltagserfahrungen.

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gewiesen blieb.86 Offenkundig war hier eine Grenze der Darstellung partnerschaftlicher beziehungsweise solidarischer Zusammenarbeit unter staatssozialistischen Systemen auf Regierungsebene erreicht. Im Betrieb waren die Vertragsarbeiter ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen formal gleichgestellt. Dennoch blieben deutliche Barrieren zur ostdeutschen Belegschaft, wie Interviews mit Vertragsarbeitern verdeutlichten87: Wenn Vertragsarbeiter gegen Anweisungen, die sie als diskriminierend empfanden, protestierten, drohten ihnen Vorgesetzte mit Polizei und Zwangsrückführung wegen Verstoßes gegen die ›sozialistische Arbeitsdisziplin‹. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen war wegen der antirassistischen Ideologie der SED nicht möglich, galt doch Rassismus als Konsequenz kapitalistischer Gesellschaftsordnungen und damit als alleiniges Problem der ›imperialistischen‹ Staaten, insbesondere der USA. Entsprechende Vorfälle wurden in der kontrollierten Öffentlichkeit der DDR tabuisiert.88 Konflikte erwuchsen aber auch aus einer wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen Vertragsarbeitern und DDR-Bürgern. Aufgrund des Wohlstandsgefälles zwischen den Herkunftsländern und der DDR trugen einige der fremden Arbeitskräfte marktwirtschaftliche Elemente in die Betriebe und Kaufhallen. Sie sahen ihren Aufenthalt als begrenzt an, während dieser Zeit wollten sie ihre Familien nach Möglichkeit unterstützen. Wer dieses Ziel verfolgte, versuchte über Normübererfüllung auch ein hohes Einkommen zu erzielen. Das im Vergleich bessere Warenangebot in der DDR lohnte solche Anstrengungen. In Thüringen kam es aufgrund dieses Mechanismus zu Beginn der 1980er Jahre zu einem Überfall einheimischer Jugendlicher auf ein Wohnheim, in dem Vietnamesen lebten, die die Vertragsarbeiter – laut einem Bericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) – von weiterer Normübererfüllung abhalten wollten.89 Ein weiteres Konfliktfeld bildete das Konsumverhalten mancher Vertragsarbeiter: Die vertraglich geregelte Reglementierungen des Lohntransfers machten es attraktiv, vom Lohn Konsumgüter zu kaufen, die im Heimatland einen hohen Wiederverkaufswert erzielten. Der vermeintlich unberechtigte Aufkauf von Waren durch Vertragsarbeiter bestimmte schnell die Sicht des SED-Staates und auch manches DDR-Bürgers auf diese Ausländergruppe. In den Akten des MfS wird von »kri-

|| 86 Dennis Kuck, »Für den sozialistischen Aufbau ihrer Heimat«? – Ausländische Vertragsarbeitskräfte in der DDR, in: Behrends/Lindenberger/Poutrus (Hg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 271–281. 87 Annegret Schüle, »Die ham se sozusagen aus dem Busch geholt« – Die Wahrnehmung der Vertragsarbeitskräfte aus Schwarzafrika und Vietnam durch Deutsche im VEB Leipziger Baumwollspinnerei, in: ebd., S. 309–324. 88 Bröskamp/Jaschok/Noschak (Red.), Schwarz-weiße Zeiten. 89 Eva-Maria Elsner/Lothar Elsner, Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Über Ausländer und Ausländerpolitik in der DDR 1949–1990. Darstellung und Dokumente, Rostock 1994, S. 56.

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minellen Gruppierungen« und »spekulativem« Handel mit Elektrogeräten berichtet. Die offizielle Kritik erwartete mehr Begeisterung der Vertragsarbeiter für Sprachkurse, Fortbildung und das angebotene Sport- und Kulturprogramm. Doch eine berufliche Qualifikation ergab auch für die meisten vietnamesischen Arbeitsmigranten keinen Sinn, da sie mit den Abschlüssen aus der DDR-Planwirtschaft in ihrer Heimat nur schwer eine gleichwertige Arbeitsstelle finden konnten. Auch nutzten sie ihre Freizeit lieber zu Besuchen untereinander oder zu lukrativer Nebenerwerbstätigkeit in der Mangelwirtschaft. Gefragt waren unter den DDR-Bürgern die von Vietnamesen genähten Jeans, die das Kleidungsangebot bereicherten, doch die Stasi beklagte nur das Streben nach dem »Besitz eines bestimmten Mehrgeldbetrages«.90 Als Wertanlagen, die es in die Heimat zu schicken galt, waren Fahrräder und Mopeds begehrt. Aufgrund ihrer anderen Ernährungsgewohnheiten konkurrierten sie mit den DDR-Bürgern auch um mangelnde Lebensmittel wie Reis. Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise in der DDR Ende der 1980er Jahre hielten die Schlagworte ›Schmuggel‹ und ›Warenabkauf‹ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDRMedien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken.91 Dennoch kam es zwischen Vertragsarbeitern und DDR-Bürgern zu privaten Kontakten und Beziehungen. Schliefen Vertragsarbeiter außerhalb des Wohnheims, musste dies gemeldet werden. Entdeckten die Behörden eine Liebesbeziehung oder wollten die Betroffenen heiraten, so entstand ein nervenaufreibendes Tauziehen. Für die Eheschließung benötigte das Paar das Einverständnis beider Staaten und dies war weder in der DDR noch in den Entsendeländern ein mit Wohlwollen begleiteter Vorgang. Vietnam ging gegen Ende der 1980er Jahre dazu über, von seinen Vertragsarbeitern ein dem Qualifikationsgrad entsprechendes Lösegeld zu fordern, wenn diese in der DDR bleiben wollten. Sonst drohte ihnen die Rückführung ins Heimatland.92 Ähnlich dramatisch waren die angedrohten Konsequenzen, wenn Vertragsarbeiterinnen während ihres Einsatzes in der DDR schwanger wurden. Nur polnische Frauen durften in der DDR entbinden, während sonst die Alternative von Abtreibung oder Zwangsrückkehr galt. Erst in den letzten beiden Jahren der DDR bemühten sich die DDR-Behörden um Einvernehmen mit den Schwangeren. Viele Beziehungen scheiterten an der staatlichen Willkür, manche deutsche Frau verleugnete gar den ausländischen Vater ihres Kindes, um diesem Schwierigkeiten nach der Rückkehr ins Heimatland zu ersparen. Wenngleich dieser staatliche Druck auf bi-nationale Beziehungen Ausdruck der generellen Politisierung eines jeden

|| 90 Feige, Vietnamesische Studenten, S. 85 und 69. 91 Andrzej Stach/Saleh Hussain, Die DDR als Staat der Völkerfreundschaft und internationaler Abgrenzung, in: dies., Ausländer in der DDR. Ein Rückblick, Berlin 1991, S. 18f. 92 Feige, Vietnamesische Studenten, S. 83, 108–121.

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Auslandskontakts war93, so erwies sich diese Gemengelage de facto doch als geeignet, ohnehin bestehende rassistische Vorbehalte in der ostdeutschen Bevölkerung durch institutionelle Rahmensetzung zu bestätigen. Spätestens hier wird deutlich, dass Migranten und insbesondere die Vertragsarbeiter keine gleichberechtigten Mitglieder einer transnational gedachten sozialistischen Gesellschaft, sondern geduldete Gäste einer ethnisch-national definierten deutschen Gemeinschaft in der DDR waren. Die ganze Aufmerksamkeit der verantwortlichen Teile des Partei- und Staatsapparates richtete sich auf die Entlastung der angeschlagenen Planwirtschaft der DDR durch den Arbeitskräftetransfer. Wenn auch die Willkür im institutionellen Handeln dabei zuweilen überraschende Spielräume für einzelne beziehungsweise paradoxe Lebensumstände für manche Vertragsarbeiter mit sich bringen konnte, entwickelte sich die gesellschaftliche Integration der Vertragsarbeiter in die ostdeutsche Gesellschaft nie zum Ziel. Erwartet wurde eine umfassende Anpassung an die vorgefundenen Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie eine unbedingte Anerkennung der staatlichen Autorität.94 Zugleich aber zeichnete die Migranten in der DDR und insbesondere die Vertragsarbeiter – sowohl in ihrer Selbstdefinition als auch in der Wahrnehmung durch den SED-Staat und der ostdeutschen Bevölkerung – eine »Mehrfachcodierung von personaler Identität«95 aus, die sie zu einer Randgruppe in der homogenisierten und abgeschotteten Gemeinschaft der Ostdeutschen machte. Die notwendige Folge waren wiederholt Konflikte im Alltag, in denen sich diese Fremden in einer institutionell abhängigen und somit schwachen und letztlich gefährdeten Position befanden. Mit dem Ende der DDR 1990 sollten dies insbesondere die Vertragsarbeiter auf dramatische Weise erfahren. Mit dem rapiden Machtverlust für den SED-Staat ging nicht nur die Illusion über die ökonomische Stärke beziehungsweise die Reformierbarkeit der Planwirtschaft verloren, sondern auch die Kontrolle über die staatlichen Betriebe. Damit landeten die Vertragsarbeiter trotz fortwährender Gültigkeit der bilateralen Entsendevereinbarungen in einem rechtlichen Niemandsland.96 In der sich abzeichnenden Systemkrise sahen sich viele Vertragsarbeiter nun massiv unter Druck gesetzt: Betriebliche Unterkünfte wurden aus Kostengründen geschlossen, die Vertragsarbeiter waren mit als Erste von betrieblichen Kündigungen betroffen

|| 93 Heidrun Budde, Voyeure im Namen des Sozialismus. Ehe Ost-West nach 1972, Berlin 1999. 94 Oliver Raendchen, Fremde in Deutschland. Vietnamesen in der DDR, in: Hans-Martin Hinz (Hg.), Zuwanderungen – Auswanderungen. Integration und Desintegration nach 1945, Berlin 2001, S. 78–101. 95 Elisabeth Bronfen/Marius Benjamin, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: dies./Therese Steffen, Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 1–29, hier S. 7. 96 Eva Kolinsky, Multiculturalism in the Making? Non-Germans and Civil Society in the New Länder, in: Chris Flockton/Eva Kolinsky (Hg.), Recasting East Germany. Social Transformation after the GDR, London 1999, S. 192–214.

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und insbesondere außerhalb der ostdeutschen Großstädte breitete sich ein xenophobes Klima aus, deren radikalster Ausdruck gewaltsame Übergriffe auf Ausländer waren. Um diesen Verhältnissen zu entgehen, folgten zahlreiche Vertragsarbeiter dem Weg ihrer ostdeutschen Kollegen, gingen nach dem Fall der Mauer nach Westdeutschland und beantragten dort Asyl.97 Zugleich bemühte sich die inzwischen frei gewählte und zugleich letzte Regierung der DDR im Sommer 1990 darum, die gezielte Rückführung der nun ehemaligen Vertragsarbeiter in ihre Entsendeländer durch finanzielle Unterstützungszahlungen zu befördern.98 Auf dem Weg der Regierungsverordnung wurden zeitgleich weitere Übergangsregelungen erlassen, die vor allem auf Rückführung und nicht auf gesicherten Aufenthalt für die Migranten zielten. Die gewandelte gesellschaftliche Situation in der DDR und die damit einhergehenden staatlichen Maßnahmen führten schließlich dazu, dass von den Ende 1989 registrierten ca. 59.000 vietnamesischen und 15.100 mosambikanischen Vertragsarbeitern zum Zeitpunkt der deutschen Einheit lediglich noch 21.000 beziehungsweise 2.800 in Ostdeutschland lebten.99

|| 97 Uli Sextro, Gestern gebraucht – heute abgeschoben. Die innenpolitische Kontroverse um die Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR, Dresden 1996. 98 Annegret Schüle, Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in der DDR: »Gewährleistung des Prinzips der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung«?, in: 1999, 17. 2002, S. 80–100. 99 Karin Weiss, Nach der Wende. Vietnamesische Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen heute, in: Weiss/Dennis (Hg.), Erfolg in der Nische?, S. 77–96.

| Teil VII: Staat um die Jahrtausendwende: die Aushandlung nationaler Souveränitätsrechte im europäischen Integrationsprozess und Migration im vereinigten Deutschland seit 1990

Barbara Dietz

Die Bundesrepublik Deutschland im Fokus neuer Ost-West-Wanderungen Am Ende der 1980er Jahre wurde die Bundesrepublik Deutschland zum bevorzugten Ziel neuer Ost-West-Wanderungen in Europa, die infolge der politischen Transformation in den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten und später durch die Auflösung der UdSSR möglich geworden waren. Beträchtliche Unterschiede des Einkommens und des Lebensstandards in Ost und West sowie ökonomische und politische Krisen in den vormals sozialistischen Staaten im Osten Europas stellten den Hintergrund der neuen Migrationsbewegung dar. Überwiegend knüpften diese Wanderungen nach Deutschland an bestehende Migrationsmuster an, wie beispielsweise an die Aussiedler- und Asylzuwanderung, an regulierte Arbeitsmigration und an Einwanderungen infolge des Familiennachzugs oder der Ausbildung. Als die Ausreisebarrieren in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa Ende der 1980er Jahre fielen und der Umfang der Migration zunahm, reagierte die deutsche Politik in erster Linie mit Abwehr, obwohl sie lange Jahre die Freizügigkeit für Bürger der Warschauer-Pakt-Staaten gefordert hatte. In der Bundesrepublik überwogen jedoch die Befürchtungen, dass die neue Migration aus dem Osten Europas die heimischen Arbeitsmärkte destabilisieren und soziale Konflikte nach sich ziehen könnten. Der politische Mythos, wonach Deutschland »kein Einwanderungsland« sei, wurde weiterhin von der Mehrheit der politisch Verantwortlichen und der Bevölkerung getragen. Deshalb setzte die Bundesregierung eine Reihe von Maßnahmen zur Einschränkung der Zuwanderungen aus Ostmittel- und Südosteuropa sowie den Nachfolgestaaten der UdSSR durch. Ungeachtet dessen prägte die Ost-West-Migration das Wanderungsgeschehen in Deutschland während der 1990er Jahre und auch nach der Jahrtausendwende, wobei die Osterweiterungen der Europäischen Union am 1. Mai 2004 und am 1. Januar 2007 neue politische Rahmenbedingungen der OstWest-Migration nach Deutschland vorgaben. Zudem wurde mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 eine neue gesetzliche Regelung der Zuwanderung und der Integration von Immigranten in Deutschland geschaffen. Das Zusammenspiel von staatlicher Politik und Ost-West-Migration nach Deutschland ist Gegenstand dieses Aufsatzes, der den Hintergrund, den Verlauf und die Struktur der Ost-West-Migration seit dem Ende der 1980er Jahre untersucht und beleuchtet, auf welche Weise und aus welchen Gründen die Bundesrepublik sie zu kontrollieren und zu lenken bemüht war. Bis zur Mitte der 1990er Jahre waren Aussiedler- und Asylmigration von herausragender Bedeutung für das Ost-WestWanderungsgeschehen in Deutschland, während legale Arbeitsmigration einen vergleichsweise kleinen Raum einnahmen. Diese Gewichtung veränderte sich im Laufe der 1990er Jahre, wobei vor allem Gesetzesänderungen, wie beispielsweise die

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Änderung der Aussiedler- und Asylgesetzgebung sowie eine Umgestaltung der politischen Rahmenbedingungen – sowohl im Zusammenhang mit der Einführung des Zuwanderungsgesetzes in Deutschland als auch mit den EU Osterweiterungen – eine herausragende Rolle spielten. Es lässt sich zeigen, dass die in Deutschland geltenden politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen die neue Ost-West-Migration in ihrer Struktur und Dynamik erheblich beeinflussten, dass diese Wanderungsbewegungen aber auch auf die Neufassung von migrationspolitischen Regelungen zurückwirkten.

1 Die Aufnahme der (Spät)Aussiedler: das Recht der Rückkehr Die größte Zuwanderergruppe, die zu Beginn der neuen Ost-West-Wanderungen nach Deutschland kam, waren Aussiedler aus Polen, Rumänien und aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Migrationsbewegung hatte bereits in den 1950er Jahren ihren Anfang genommen, blieb aber aufgrund der restriktiven Ausreisebedingungen in den Herkunftsländern – trotz einer hohen Ausreisemotivation der Deutschen in diesen Staaten – begrenzt (Schaubild 1). Erst die sukzessive Aufhebung der Ausreisebeschränkungen infolge der politischen Transformation in Polen und Rumänien sowie später in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten machte den Weg der (Spät)Aussiedler nach Deutschland frei.1 Unvermittelt sah sich die Bundesrepublik, die lange Jahre von den Staaten Ostmittel-, Südost- und Osteuropas die Ausreisefreiheit für Deutsche gefordert hatte, mit einer drastisch steigenden Einwanderung von Aussiedlern konfrontiert: von 78.000 Aussiedlern im Jahre 1987 stieg ihre Zahl auf 202.000 im Jahre 1988 an, um 1989 bzw. 1990 mit 377.000 bzw. 397.000 Personen den Höhepunkt in den Nachkriegsjahren zu erreichen. Im Zeitraum zwischen 1988 und 2014 kamen mehr als 3 Millionen (Spät)Aussiedler nach Deutschland2, zwei Drittel davon stammten aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten (Schaubild 1).

|| 1 Barbara Dietz, Aussiedler in Germany: From Smooth Adaptation to Tough Integration, in: Leo Lucassen/David Feldman/Jochen Oltmer (Hg.), Paths of Integration. Migrants in Western Europe (1880–2004), Amsterdam 2006, S. 116–136. 2 Mit der Einführung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes (Januar 1993) wurden alle Personen, die im Rahmen der Aussiedleraufnahme nach Deutschland kamen, als Spätaussiedler bezeichnet.

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400.000 350.000 300.000 250.000 200.000

Polen

Rumänien

vorm. UdSSR

andere Länder

150.000 100.000 50.000 0 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

Schaubild 1: (Spät)Aussiedlerzuwanderung nach Deutschland (1950–2014). Quelle: Bundesverwaltungsamt.

Die Bundesregierung reagierte auf die dynamische Entwicklung der Aussiedlerzuwanderung gegen Ende der 1980er Jahre in erster Linie mit dem Versuch, diese Migration durch Verfahrensänderungen, so durch das Aussiedleraufnahmegesetz vom 1. Juli 1990 und insbesondere das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 1. Januar 1993 zu steuern und zu begrenzen. Bis zum KfbG wurde generell davon ausgegangen, dass alle Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa sowie der vormaligen Sowjetunion aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit Benachteiligungen erlitten hatten. Diese Annahme wurde im KfbG nur noch für Antragsteller aus den Nachfolgestaaten der UdSSR aufrechterhalten, während alle übrigen Ausreisewilligen einen individuellen Nachweis für erlittene Diskriminierung erbringen mussten. Zudem schrieb das KfbG ein Einreisekontingent von jährlich etwa 225.000 Aussiedlern fest, das am 1. Januar 2000 auf 100.000 Zuwanderer pro Jahr nach unten korrigiert wurde. Außerdem beschloss das KfbG die Terminierung der Aussiedlerzuwanderung, das heißt, dass die nach 1993 geborenen Angehörigen der deutschen Minderheit in Ostmittel- und Südosteuropa und der vormaligen Sowjetunion keinen Antrag auf die Anerkennung als Spätaussiedler mehr stellen können. Die Kontingentierung der Zuwanderungszahlen hatte ab 1993 eine Verstetigung der Spätaussiedlerzuwanderung auf hohem Niveau (ca. 220.000 Zuwanderer jährlich) und eine Verschiebung der Herkunftsländer auf die Nachfolgestaaten der UdSSR, insbesondere auf Russland und Kasachstan, zur Folge. Da in den 1990er Jahren so gut wie keine ethnische Diskriminierung Deutscher in Polen und Rumänien zu belegen war, kam die Spätaussiedlerzuwanderung aus diesen Ländern seit dem Jahr 1993 nahezu zum Erliegen und wurde durch die Aufnahme Polens und Rumäniens in die Europäische Union obsolet.

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Ein weiterer deutlicher Rückgang der Spätaussiedlerzuwanderung war seit dem Jahr 1996 zu verzeichnen. Dieser ist in erster Linie auf die im Sommer 1996 eingeführte Prüfung der deutschen Sprachkenntnisse der Ausreisewilligen in den Nachfolgestaaten der UdSSR zurückzuführen, die dem Nachweis der ›deutschen Volkszugehörigkeit‹ dienen sollte.3 Da die Deutschen in der vormaligen Sowjetunion nur über eine geringe Sprachkompetenz im Deutschen verfügen4 und die Anerkennung als Spätaussiedler für die Antragsteller ausgeschlossen ist, die den Sprachtest nicht bestanden haben, stellt der Sprachtest de facto eine Einreisebarriere dar. Bis zum Jahre 2004 musste der Personenkreis der nichtdeutschen Ehegatten und Kinder von Spätaussiedlern, die mit dem deutschen Antragsteller das Recht auf Zuwanderung nach Deutschland erhielten, keinen deutschen Sprachtest ablegen. Dies wurde im neuen Zuwanderungsgesetz vom Januar 2005 geändert, und seither ist der deutsche Sprachtest für alle Personen verpflichtend, die als Spätaussiedler oder deren Angehörige nach Deutschland kommen wollen.5 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich die Spätaussiedlerzuwanderung in den Folgejahren deutlich verringerte und schließlich nahezu zum Stillstand kam. Während im Jahr 2004 noch 59.000 Spätaussiedler nach Deutschland gekommen waren, sank diese Zahl im Jahr 2005 auf 35.500 Personen und ging bis zum Jahr 2014 auf 5.649 Personen zurück. Die jüngste Entwicklung der Spätaussiedlerzuwanderung macht deutlich, dass sich aufgrund der restriktiveren gesetzlichen Aufnahmebestimmungen in Deutschland und der starken Abwanderung der Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion das Potenzial für diese Zuwanderung weitgehend erschöpft hat.

|| 3 Vor Einführung der Sprachtests waren die Angaben der Antragsteller zu ihren deutschen Sprachkenntnissen zugrunde gelegt worden, die jedoch häufig nach der Einreise nicht verifiziert werden konnten; Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Nürnberg 2005, S. 41. 4 Obwohl die letzte Volkszählung in der UdSSR im Jahre 1989 zu dem Ergebnis kam, dass 49 Prozent aller dort lebenden Deutschen die deutsche Sprache als ihre Muttersprache ansahen, wird dies in der wissenschaftlichen Literatur als ein ethnisches Bekenntnis gewertet. Es herrscht Konsens darüber, dass die Angaben zur Muttersprache nicht die tatsächliche Sprachkompetenz im Deutschen widerspiegelt. Der russische Mikrozensus des Jahres 1994 bestätigt dies. Er ergab, dass zwar 36 Prozent aller Deutschen in Russland die deutsche Sprache als ihre Muttersprache ansahen, dass Deutsch aber nur von 13 Prozent der Deutschen in der Familie gesprochen wurde; Barbara Dietz, Zwischen Anpassung und Autonomie. Rußlanddeutsche in der vormaligen Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1995. 5 Da bei den Angehörigen der Antragsteller keine ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ vorausgesetzt und deshalb nicht angenommen wird, dass die deutsche Sprache in der Familie vermittelt wurde, kann der Sprachtest von Angehörigen beliebig oft wiederholt werden.

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2 Asyl- und Fluchtwanderungen: humanitäre Rechte Der politische Umbruch in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa und die damit einhergehenden ökonomischen und politischen Krisen sowie ethnischen Konflikte ließen die Asylwanderungen aus diesen Staaten nach Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre deutlich ansteigen. Das hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen war die Ausreise aus dieser Region leichter geworden und das Asylrecht stellte für die meisten migrationswilligen Personen die einzige Möglichkeit dar, in Deutschland Aufnahme zu finden. Zum andern trug der Krieg in Ex-Jugoslawien wesentlich zum Anwachsen der Zahl der Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlinge in diesem Zeitraum bei. Auch im Falle der Nachfolgestaaten der Sowjetunion war Asylmigration relevant, wobei vor allem die Kaukasus-Staaten (Armenien, Georgien und Aserbaidschan) sowie Russland Herkunftsregionen waren, die bis heute von Bedeutung für Asylwanderungen sind.6 Darüber hinaus hatte Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre eine Regelung im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes eingeführt, die es Juden aus der vormaligen UdSSR erlaubte, nach Deutschland einzureisen.7

2.1 Asylwanderungen Ein Blick auf die nach Herkunftsländern differenzierten Asylzuwanderungen aus den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten nach Deutschland macht die Bedeutung dieser Immigration bis zum Jahre 1993 deutlich. Zunächst ist festzuhalten, dass mehr als ein Viertel (27 Prozent) aller Zuwanderer aus Ostmittel- und Südosteuropa zwischen 1989 und 1993 Asylbewerber waren. Im Falle Bulgariens und Rumäniens betrug der Anteil der Asylmigration an der Gesamtzuwanderung aus diesen Staaten in diesem Zeitraum sogar 76 Prozent. Während die Asylmigration aus Polen, der vormaligen Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland seit 1989 zurückging, nahm sie aus Rumänien und Bulgarien erst in diesem Jahr ihren Anfang (Schaubild 2). In Bulgarien trugen vor allem die politische Instabilität und die krisenhafte ökonomische Entwicklung zur Asylwanderung bei.8 Diese Motive waren auch für die Asylwanderungen aus Rumänien von grundlegender Bedeutung. Hinzu traten ethnische und soziale Migrationsgrün|| 6 Susanne Schmidt, Das Migrationspotential aus der GUS in die Europäische Union, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht Nr. 17, Nürnberg 2012. 7 Barbara Dietz, Gemeinsames Erbe – plurale Tendenzen. Aussiedler und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland. Ein Vergleich, in: Menora. Jahrbuch für Deutsch-Jüdische Geschichte 2004, Berlin/Wien 2005, S. 259–278. 8 Daniela Bobeva, Bulgaria, in: Tamas Frejka (Hg.), International Migration in Central and Eastern Europe and the Commonwealth of Independent States, New York/Genf 1996, S. 37–47.

1004 | Barbara Dietz

de im Falle der in Rumänien diskriminierten Roma.9 Da Arbeitsmigration aus Bulgarien und Rumänien zu dieser Zeit aufgrund der rechtlichen Barrieren nur sehr eingeschränkt möglich war, schlug sich das angewachsene Migrationspotenzial in Asylwanderungen nieder.

120.000

Bulgarien

100.000

vorm. Tschech. Ungarn

80.000

Polen Rumänien

60.000 40.000 20.000 0 1989

1991

1993

1995

1997

1999

2001

2003

Schaubild 2: Die Zuwanderung von Asylbewerbern aus einzelnen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in die Bundesrepublik Deutschland (1989–2003). Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Aufgrund der geringen Asylzuwanderungen aus den genannten ostmittel- und südosteuropäischen Staaten wurden nach dem Jahre 2003 keine gesonderten Daten mehr ausgewiesen.

Die insgesamt stark gestiegene Zunahme der Zahl der Asylbewerber zu Beginn der 1990er Jahre hatte in Deutschland zu einer heftigen Debatte über die zu erwartenden Konsequenzen dieser Immigration geführt.10 Die Kritiker der deutschen Asylgesetzgebung forderten vor dem Hintergrund der steigenden sozialen und ökonomischen Lasten der Asylzuwanderungen eine Verschärfung der Asylregelungen. In der Folge wurde das deutsche Asylgesetz trotz gewichtiger humanitärer Gegenargumente grundlegend geändert.11 Das neue Asylgesetz, das am 1. Juli 1993 in Kraft

|| 9 Rainer Ohliger, Von der ethnischen zur ›illegalen‹ Migration: Die Transition des rumänischen Migrationsregimes, in: Heinz Fassmann/Rainer Münz (Hg.), Ost-West-Wanderung in Europa, Wien 2000, S. 195–205. 10 Die Zahl der Asylbewerber war in Deutschland von 57.379 im Jahre 1987 auf 438.191 im Jahre 1992 angestiegen. 11 Margaret Knipping/Uta Saumweber-Meyer, Basic Principles of Asylum Law and Asylum Proceedings in the Federal Republic of Germany, in: Friedrich Heckmann/Wolfgang Bosswick (Hg.), Migration Policies. A Comparative Perspective, Stuttgart 1995, S. 267–304.

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trat, erschwerte die Anerkennung auf politisches Asyl deutlich, und es schloss Personen, die aus sogenannten ›sicheren Herkunftsstaaten‹ kamen, vollkommen vom Asylverfahren aus.12 Da die in Schaubild 2 angesprochenen ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in die Kategorie der ›sicheren Herkunftsstaaten‹ fielen, gab es seit Mitte der 1990er Jahre so gut wie keine Asylzuwanderung aus diesen Gebieten mehr.13 Ungeachtet der Änderungen des Asylgrundrechts blieb die Asylmigration aus einigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens und aus den von Bürgerkriegen und ethnischen Konflikten betroffenen Gebieten der Kaukasus-Staaten (Armenien, Georgien, Aserbaidschan) und der Russischen Föderation (Tschetschenien) vergleichsweise hoch.14 Seit der Aufhebung der Visumpflicht für serbische und mazedonische Bürger im Dezember 2009 ist die Zahl der Asylsuchenden aus dieser Region in Deutschland stark angestiegen. Im Jahr 2010 stand Serbien an dritter Stelle unter den Herkunftsländern von Asylbewerbern, Mazedonien an fünfter und die Russische Föderation an zehnter. Die Asylwanderung aus der Balkanregion hielt auch in den darauffolgenden Jahren an. Unter den wichtigsten Herkunftsländern von Asylsuchenden befanden sich im Jahr 2014 sechs Balkanstaaten (Serbien, Albanien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Montenegro sowie Mazedonien). Jeder Fünfte unter den 202.834 Asylbewerbern in diesem Jahr kam aus der Balkanregion.15 Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien gehören zum größten Teil zur Gruppe der Roma, die in ihren Herkunftsländern unter Armut und ethnischer Diskriminierung zu leiden haben. Aufgrund der ökonomischen Krisen und der anhaltenden politischen und ethnischen Konflikte in den Balkanländern ist auch weiterhin mit Asylzuwanderungen aus dieser Region zu rechnen.

|| 12 Unter ›sicheren Herkunftsstaaten‹ werden Länder verstanden, die aufgrund der legalen und politischen Situation keine Verfolgung und inhumane Behandlung zulassen; Wolfgang Bosswick, Asylum Policy and Migration in Germany, in: Heckmann/Bosswick (Hg.), Migration Policies, S. 305– 335. 13 Nicht nur die gesetzlichen Änderungen in Deutschland, auch die politische und rechtliche Transformation in den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten trug zu einer deutlichen Verringerung der Ost-West-Asylwanderungen bei. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung hatten die mittelund osteuropäischen Staaten im Laufe der 1990er Jahre demokratische und rechtsstaatliche Strukturen aufgebaut und waren von Herkunfts- zu Aufnahmeländern von Asylbewerbern geworden. 14 Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (Migrationsbericht 2010), hg.v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2010, S. 97. 15 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das Bundesamt in Zahlen 2014. Asyl, Nürnberg 2015, S. 16–18.

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2.2 Die Zuwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge Im Juli 1990 beschloss die letzte Regierung der DDR, jüdischen Bürgern der UdSSR, die von Verfolgung und Diskriminierung bedroht waren, Asyl zu gewähren. Im Zuge dieser Regelung kamen Juden aus der Sowjetunion in die DDR, größtenteils nach Ostberlin. Allerdings war es jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ab November 1991 nicht mehr möglich, mit einem Touristenvisum nach Deutschland zu kommen, um hier Asyl zu beantragen. In Absprache mit der Regierung des vereinigten Deutschland und dem Zentralrat der Juden einigten sich die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer im Februar 1991 darauf, die Einreise von Juden aus der vormaligen Sowjetunion mit einer an der Genfer Flüchtlingskonvention orientierten Regelung auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen.16 Diese sogenannte ›Kontingentflüchtlingsregelung‹ basierte auf einem Gesetz, das ursprünglich 1980 zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Südostasien beschlossen worden war. Es legte die Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Bundesländer nach einem Quotensystem fest. Im Fall der jüdischen Immigranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wozu die Antragsteller einschließlich ihrer Familien zählten, wurde auf eine Festlegung von Jahreskontingenten verzichtet. In einem vereinfachten Verfahren konnten die Ausreisewilligen bei den deutschen Auslandsvertretungen in den Nachfolgestaaten der UdSSR einen Aufnahmeantrag stellen.17 Nach der Bewilligung wurden die Flüchtlinge durch das Bundesverwaltungsamt den Quoten des ›Königsteiner Schlüssels‹ entsprechend auf alle Bundesländer verteilt. Anders als Asylbewerber erhielten die jüdischen Kontingentflüchtlinge eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Mit dem Zuwanderungsgesetz wurde die Immigration jüdischer Zuwanderer aus der vormaligen Sowjetunion auf eine neue Basis gestellt. Die seit dem 1. Juli 2006 geltende Neuregelung sieht die Aufnahme jüdischer Zuwanderer nach einem Kriterienkatalog vor, der von den Antragstellern zunächst den Nachweis deutscher Sprachkenntnisse (auf einem einfachem Niveau) im Heimatland verlangt. Daneben erstellt die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) für jeden Einreisewilligen eine ›Integrationsprognose‹, die familiäre Bindungen, Alter, Ausbildung und berufliche Pläne berücksichtigt. Darüber hinaus prüft sie, ob der Antragsteller Jude ist. Erst wenn eine jüdische Gemeinde in Deutschland die Aufnahme des Antragstellers garantiert, kann ein Aufnahmebescheid erteilt werden. Über die || 16 Alle jüdischen Immigranten, die zwischen dem 1. Juni 1990 und dem 15. Februar 1991 nach Deutschland gekommen waren, wurden rückwirkend als ›Kontingentflüchtlinge‹ anerkannt. 17 Berechtigt waren alle Personen, die selbst jüdischer Nationalität nach den Kategorien des (post)sowjetischen Passystems waren oder von mindestens einem jüdischen Elternteil abstammten. Familienangehörige (Ehegatten und Kinder) des Antragstellers konnten in den Antrag einbezogen werden.

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Einbindung in jüdische Gemeinden sollen jüdischen Immigranten aus der vormaligen Sowjetunion möglichst gut in das wirtschaftliche und soziale Leben in Deutschland integriert werden. Nach Angaben des Bundesverwaltungsamtes reisten 234.000 jüdische Immigranten zwischen Februar 1991 und Dezember 2013 mit ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland ein. Der Zentralrat der Juden in Deutschland registrierte im selben Zeitraum etwa 104.000 neue Gemeindemitglieder, die als Kontingentflüchtlinge eingewandert waren (Schaubild 3).

25.000 20.000 15.000 10.000 5.000

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

0

BVA

ZWST

Schaubild 3: Die Zuwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge nach Deutschland (1990–2013). Quellen: Bundesverwaltungsamt (BVA), Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).

Im Gegensatz zu den jüdischen Gemeinden in Deutschland, die sich auf das jüdische Religionsgesetz (Halacha) berufen und nur Juden aus der UdSSR in die Gemeinden aufnehmen, die jüdische Eltern beziehungsweise eine jüdische Mutter besitzen oder die zum Judentum konvertiert sind, erkennen die deutschen Behörden alle Personen als jüdische Kontingentflüchtlinge an, die mindestens ein jüdisches Elternteil haben oder die als nichtjüdische Ehepartner und Verwandte von jüdischen Zuwanderern nach Deutschland kommen. Das erklärt die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und der deutschen Behörden. Nach Israel und den USA hat Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre die größte Zahl jüdischer Immigranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgenommen. Damit entwickelte sich die jüdische Gemeinde in Deutschland zur drittgrößten jüdischen Gruppe in Europa.

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3 Arbeitsmigration: bilaterale Verträge, Ausnahmeregelungen und die Folgen der EU-Osterweiterung Bereits unmittelbar nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs war absehbar, dass Deutschland aufgrund der beträchtlichen Einkommensunterschiede zwischen Ost und West ein attraktives Zuwanderungsland für Arbeitsmigranten aus ostmittel-, südost- und osteuropäischen Ländern darstellten würde. Die Öffnung der Grenzen fiel jedoch zeitlich mit einer Phase steigender Erwerbslosigkeit in Deutschland zusammen, und politisch wurde mehrheitlich eine strikte Begrenzung von Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten befürwortet. Da (illegale) Arbeitswanderungen aus dem Osten Europas aufgrund von Netzwerkbeziehungen und geographischer Nähe nicht auszuschließen waren, vereinbarte die Bundesregierung mit einer Reihe von ostmittel- und südosteuropäischen Staaten (Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Serbien, Lettland, Mazedonien, Polen, Rumänien, Slowenien und Ungarn) bereits zu Beginn der 1990er Jahre bilaterale Verträge zur Arbeitsmigration.18 Damit wurde die legale Arbeitsaufnahme von Ostmittel- und Südosteuropäern in Deutschland reguliert und meist auf eine kurzfristige Erwerbstätigkeit begrenzt.19 Mit den bilateralen Abkommen zur Arbeitsmigration waren von deutscher Seite eine Reihe von politischen und ökonomischen Zielen verbunden, wobei als erstes angestrebt wurde, die wirtschaftliche Entwicklung in Ostmittel- und Südosteuropa mit Hilfe einer (kurzfristigen) Beschäftigung von Arbeitsmigranten aus diesen Staaten in Deutschland zu unterstützen. Zweitens sahen die bilateralen Abkommen zur Arbeitsmigration vor, langfristige beziehungsweise dauerhafte Zuwanderung zu vermeiden und illegale Arbeitsmigration zu verhindern. Drittens sollten die Ar-

|| 18 Als die Regelung der Arbeitsmigration aus ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in Deutschland diskutiert wurde, galt der 1973 beschlossene Anwerbestopp. Dieser lässt die Zuwanderung und Arbeitsaufnahme von Migranten aus nicht EU-Staaten nur in Ausnahmefällen zu. Die 1990 eingeführte Anwerbestoppausnahmeverordnung (ASAV) bildete die gesetzliche Grundlage für die Beschäftigung von Arbeitnehmern aus Mittel- und Osteuropa; Harald W. Lederer, Indikatoren der Migration. Zur Messung des Umfangs und der Arten von Migration in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Ehegatten- und Familiennachzugs sowie der illegalen Migration, Bamberg 2004. S. 33. Seit dem 1. Mai 2011 gelten die Abkommen mit den zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetretenen Staaten aufgrund der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht mehr. 19 Christoph Pallaske, Migrationen aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren. Migrationsverläufe und Eingliederungsprozesse in sozialgeschichtlicher Perspektive, Münster 2002, S. 85; Barbara Dietz, Europäische Integration von unten? Mittel- und osteuropäische Migranten in Deutschland und die Rolle transnationaler Netzwerke im EU-Erweiterungsprozess, München 2005.

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beitsmigranten aus ostmittel- und südosteuropäischen Staaten dazu beitragen, in Deutschland bestehende Engpässe am Arbeitsmarkt zu reduzieren, zum Beispiel bei der Nachfrage nach saisonalen Arbeitskräften in der Landwirtschaft. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die auf bilateralen Verträgen basierende Arbeitsmigration aus dem Osten Europas auch einen nachfragebestimmten Aspekt enthielt, vergleichbar der Rekrutierung von Arbeitsmigranten aus den Mittelmeeranrainerstaaten in den 1960er und beginnenden 1970er Jahren. Seit der Einführung der bilateralen Wanderungsabkommen galten für ostmittelund südosteuropäischen Arbeitnehmer verschiedene Zuwanderungsregelungen im Bereich der Saison-, Werkvertrags-, Gast- und Grenzarbeit.20 Während ostmittel- und südosteuropäische ›Saisonarbeitnehmer‹ auf individueller Basis eine zeitlich begrenzte Tätigkeit in Deutschland annehmen können, sind ›Werkvertragsarbeitnehmer‹ Beschäftigte ostmittel- und südosteuropäischer Firmen (Subunternehmer), die mit deutschen Firmen kooperieren. Die Entlohnung der entsandten Werkvertragsarbeitnehmer muss den in Deutschland geltenden Tarifen entsprechen, allerdings sind die Beiträge zur Sozialversicherung der Arbeitnehmer in den jeweiligen Heimatländern zu leisten. Anders als Werkvertragsarbeitnehmer, die Angestellte ostmittel- und südosteuropäischer Firmen sind, gehen ›Gastarbeitnehmer‹ aus diesen Staaten ein Beschäftigungsverhältnis mit deutschen Unternehmen ein, um ihre beruflichen und sprachlichen Kenntnisse zu erweitern. Als Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme müssen Gastarbeitnehmer eine abgeschlossene Berufsausbildung und Grundkenntnisse der deutschen Sprache mitbringen. Für ihre Tätigkeit steht ihnen der gleiche Tariflohn zu wie einheimischen Beschäftigten, und sie sind den deutschen Bestimmungen entsprechend sozialversicherungspflichtig. Allerdings wurde das vorgesehene Kontingent von 7.050 Arbeitsplätzen für Gastarbeitnehmer aus den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten bisher in keinem Jahr voll ausgeschöpft. Zudem hatte Deutschland mit den unmittelbaren Nachbarstaaten Polen und der Tschechischen Republik Vereinbarungen zur Beschäftigung von ›Grenzarbeitnehmern‹ getroffen. Arbeitnehmer aus grenznahen Gebieten in Polen und der Tschechischen Republik konnten in Deutschland eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sie täglich in ihr Herkunftsland zurückkehrten oder höchstens zwei Tage pro Woche (zu gleichen Bedingungen wie deutsche Erwerbstätige) beschäftigt waren.21 Diese Regelung lief im Jahr 2011 mit der vollständigen Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der EU Osterweiterung aus. || 20 Heinz Werner, Temporary Migration of Foreign Workers, IAB Labour Market Research Topics Nr. 18, Nürnberg 1996; Elmar Hönekopp, Labor Migration to Germany from Central and Eastern Europe – Old and New Trends, IAB Labour Market Research Topics, Nr. 23, Nürnberg 1996; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Migrationsbericht 2005, S. 72. 21 Der Umfang der Beschäftigung von Grenzarbeitnehmern blieb relativ gering. Im Durchschnitt kamen zwischen 2001 und 2006 ca. 5.300 Grenzarbeitnehmer jährlich aus Polen und der Tschechischen Republik nach Deutschland.

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400.000 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000

Saisonarbeiter Werkvertragsarbeiter

100.000 50.000 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

0

Schaubild 4: Saison- und Werkvertragsarbeitnehmer aus Ostmittel- und Südosteuropa in Deutschland (1991–2011). Quelle: Bundesagentur für Arbeit. Die statistische Erfassung der Saisonarbeit- und Werkvertragsarbeitnehmer aus den EU-Erweiterungsstaaten von 2004 wurde im Jahr 2012 eingestellt. Saisonarbeitnehmer aus dieser Region benötigten keine Arbeitserlaubnis für saisonale Arbeit mehr und für Werkvertragsarbeitnehmer besteht Dienstleistungsfreiheit.

Ein Rückblick auf die 1990er Jahre lässt erkennen, dass die Zuwanderung ostmittelund südosteuropäischer Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt in erster Linie von zeitlich befristeter – häufig aber wiederholter – Arbeitsmigration gekennzeichnet war.22 Die Statistik der erteilten Arbeitserlaubnisse an Saisonarbeitnehmer und der jahresdurchschnittlich in der Bundesrepublik tätigen Werkvertragsarbeitnehmer macht die Struktur dieser Zuwanderung deutlich. Eine Gegenüberstellung der beiden Gruppen zeigt, dass seit Beginn der neuen Arbeitsmigration aus den ostmittelund südosteuropäischen Staaten die Beschäftigung von Saisonarbeitskräften – bezogen auf die nachgefragte Personenzahl – die wichtigste Rolle spielte (Schaubild 4).23 Im Jahr 2004 war das bislang größte Kontingent von saisonalen Arbeitskräften – insgesamt 333.690 Personen – in Deutschland tätig, wovon 87 Prozent aus Polen kamen. Die Zahl der beschäftigten Saisonarbeitskräfte stieg zwischen 1991 und 2004 um beinahe das Dreifache an, was mit der großen Nachfrage an gering qualifizier-

|| 22 In vielen Fällen kamen Saisonarbeitnehmer jedes Jahr nach Deutschland. 23 Im Vergleich zu anderen Arbeitsmigranten (Werkvertrags- und Gastarbeitnehmer) muss allerdings berücksichtigt werden, dass Saisonarbeitnehmer höchstens 3 Monate in Deutschland arbeiten können.

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ten, saisonalen Arbeitskräften in Deutschland erklärt werden kann.24 Zwischen 1991 und 2011 waren jährlich etwa 300.000 Vermittlungen von saisonalen Arbeitskräften zu verzeichnen, die vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Polen stellte das wichtigste Herkunftsland von Saisonarbeitern dar, obwohl sich der Anteil polnischer saisonaler Arbeitskräfte im Jahr 2011 auf 60 Prozent verringert hatte. Dagegen waren die Vermittlungen von rumänischen Saisonarbeitern stark angestiegen. Im Jahr 2011 kam ungefähr ein Drittel (34,7 Prozent) der saisonalen Arbeitskräfte aus Rumänien, zehnmal so viele wie im Jahr 2000. Der Rückgang polnischer Arbeitskräfte war sowohl durch die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten in Polen bedingt als auch durch die Öffnung der Arbeitsmärkte einiger EU-Staaten für die Beitrittsländer von 2004 vor dem Ablauf der Übergangsfristen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Seit Januar 2011 benötigen die Staatsangehörigen der 2004 in die EU eingetretenen ostmitteleuropäischen Länder keine Arbeitserlaubnis in Deutschland mehr. Bulgaren und Rumänen sind seit Januar 2012 ebenfalls davon befreit. Die Zuwanderung von Werkvertragsarbeitnehmern wurde seit 1994 durch eine Kontingentierung bestimmt, die jährlich in Abhängigkeit von der deutschen Arbeitsmarktlage festgelegt wurde.25 Allerdings war die Werkvertragsregelung für die im Mai 2004 der EU beigetretenen Staaten ab diesem Zeitpunkt nur noch in solchen Sektoren vorgeschrieben, in denen die Dienstleistungsfreiheit aufgrund der Übergangsregelungen weiterhin eingeschränkt blieb. Dies betraf in erster Linie den Bausektor. Die größte Gruppe unter den Werkvertragsarbeitnehmer waren polnische Staatsbürger, die im Jahr 2010 einen Anteil von 36 Prozent ausmachten. Danach folgten Arbeitskräfte aus Kroatien (18 Prozent), Rumänien (12 Prozent) und BosnienHerzegowina (11 Prozent). Seit den Osterweiterungen der EU ging der Anteil der Werkvertragsarbeitnehmer aus den neuen ostmittel- und südosteuropäischen EUStaaten zurück, während der Anteil der Werkvertragsarbeitnehmer aus dem ehemaligen Jugoslawien zunahm. Mit dem Auslaufen der im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit bestehenden Übergangsregelungen zum 1. Januar 2014 wurden die Vereinbarungen zu Werkverträgen für alle EU-Erweiterungsstaaten gegenstandslos. Für die Arbeitsmigration aus dem Osten Europas spielte zwischen den Jahren 2000 und 2005 eine weitere Ausnahmeregelung, die sogenannte GreencardRegelung, eine Rolle.26 Seit August 2000 konnten Computerexperten aus Nicht-EU-

|| 24 Jörg Becker, Migration ohne Integration? Temporäre Arbeitsmigration polnischer Saisonarbeiter nach Deutschland, in: Frank Swiaczny/Sonja Haug (Hg.), Migration, Integration, Minderheiten. Neuere interdisziplinäre Forschungsergebnisse, Wiesbaden 2003, S. 7–16; Barbara Dietz, Gibt es eine Alternative? Zur Beschäftigung polnischer Saisonarbeitnehmer in Deutschland, München 2004. 25 Jeweils zum Oktober eines jeden Jahres werden die Beschäftigungskontingente auf der Basis der Erwerbslosenquote angepasst, wobei sich diese um je 5 Prozent erhöhen (verringern) kann, wenn die Erwerbslosenquote um je 1 Prozent sinkt bzw. steigt. 26 Der Begriff ›Greencard‹ ist von der amerikanischen Bezeichnung für die Arbeitserlaubnis von Migranten abgeleitet.

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Ländern nach Deutschland zuwandern, wenn sie als hoch spezialisierte Arbeitnehmer im IT-Bereich mindestens 50.000 Euro im Jahr verdienten. Allerdings blieb der Zuwanderungszeitraum auf höchstens fünf Jahre begrenzt, und es bestand ein Gesamtkontingent von maximal 20.000 Greencards, das jedoch zu keinem Zeitpunkt vollständig ausgeschöpft wurde.27 Bei der Einführung der Greencard-Regelung hatte die Bundesregierung besonders Computerspezialisten aus dem Osten Europas im Blick. Tatsächlich zeigte sich, dass nahezu ein Drittel (29 Prozent) aller GreencardInhaber aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa kam, so aus der Tschechischen und Slowakischen Republik, Ungarn, Rumänien, der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrussland. Mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005, das hochqualifizierten Immigranten aus Nicht-EU-Staaten besondere Migrationskonditionen einräumte, entfiel die Greencard-Regelung. Dafür wurde im Rahmen der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union die Blaue Karte EU als neuer Aufenthaltstitel eingeführt. Diese kann von Drittstaatsangehörigen beantragt werden, die über einen in Deutschland anerkannten oder einen mit einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Abschluss sowie ein konkretes Arbeitsplatzangebot verfügen. Allerdings muss ein bestimmtes jährliches Bruttomindestgehalt erreicht werden, das 2013 bei ca. 50.000 Euro lag. Die Einwanderung hochqualifizierter Drittstaatsangehöriger war bisher vergleichsweise gering. Im Dezember 2013 lebten und arbeiteten 13.551 Personen mit einer Blauen Karte EU in Deutschland.28 Durch die Osterweiterungen der Europäischen Union am 1. Mai 2004 und am 1. Januar 2007 wurde die Zuwanderung aus den ostmittel- und südosteuropäischen EU-Staaten nach Deutschland neu definiert. Ab dem 1. Mai 2004 galt innerhalb der um acht ostmittel- und südosteuropäische Staaten erweiterten Union zwar die Freizügigkeit von Personen, die aber im Falle der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt werden konnte.29 Hier war eine gestaffelte, bis zu siebenjährige Übergangsfrist (2+3+2 Regelung) vorgesehen, die es den bisherigen Mitgliedstaaten erlaubte, ihre nationalen Zuwanderungsregelungen vorerst beizubehalten, wobei die Notwendigkeit hierfür nach zwei Jahren zu überprüfen war. Nach weiteren drei Jahren (im Mai 2009) konnten die EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Regelungen für maximal zwei weitere Jahre aufrechterhalten, wenn eine schwere Störung des Arbeitsmarktes oder die Gefahr einer solchen Störung bestand. Aufgrund verschiedener Prognosen, die Deutschland im Zentrum der neuen Arbeitswanderungen nach der || 27 Zwischen August 2000 und Dezember 2004 kamen insgesamt 17.931 Greencard-Migranten nach Deutschland. 28 Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (Migrationsbericht 2013), hg.v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2015, S. 76. 29 Malta und Zypern, die ebenfalls zur Erweiterungsrunde von 2004 zählten, waren von den Übergangsregeln ausgenommen.

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Osterweiterung sahen30, legte die Bundesregierung im Zuge der Übergangsregelungen – zunächst bis zum 30. April 2006, und dann bis zum 30. April 2011 – eine Beschränkung der Arbeitsmigration aus den ostmittel- und südosteuropäischen EUStaaten nach den bisher gültigen nationalen Bestimmungen fest. Nach der maximalen Frist von sieben Jahren gilt ab 1. Mai 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland für alle neuen EU-Staaten der Erweiterungsrunde von 2004. Allerdings war bereits im Zuge der Osterweiterung die Dienstleistungsfreiheit (das heißt das Recht, als Selbstständiger oder als Gesellschaft in anderen EU-Staaten Dienstleistungen zu erbringen) umfassend auf die neuen Mitgliedstaaten erstreckt worden31 und die Staatsangehörigen der ostmittel- und südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten erhielten das Recht, in jedem anderen EU-Staat als Selbstständige eine Firma zu gründen. Diese neuen Formen der Arbeitsmigration, die im Rahmen der EU-Osterweiterungen möglich geworden waren, gerieten in Deutschland in die Kritik der Politik und Öffentlichkeit. Dies betraf sowohl die Möglichkeit von Firmen aus den neuen EU-Beitrittsstaaten, Arbeitnehmer im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit zu entsenden, als auch das Recht von Ostmittel- und Südosteuropäern, in Deutschland als Selbstständige – beispielsweise im Handwerk – tätig zu werden. Befürchtet wurde, dass heimischen Betrieben und heimischen Arbeitnehmern aufgrund der Ausnutzung von Lohnkostenvorteilen in bestimmten Branchen und Regionen eine verstärkte Konkurrenz durch ostmittel- und südosteuropäische Dienstleister erwachsen könnte.32 Obwohl Studien auf erhebliche positive Effekte der Freizügigkeit hinweisen (Steigerung des Bruttoinlandsprodukts), schließen sie mögliche negative Auswirkungen (langsamer steigende Löhne, geringerer Rückgang der Erwerbslosigkeit) in einigen Sektoren (z.B. Bauwesen, Handel) nicht aus.33 Als Folge der Osterweiterung im Jahr 2004 nahm die Migration aus den neuen ostmittel- und südosteuropäischen EU-Staaten nach Deutschland trotz der eingeführten Übergangsregelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit zu. Im Jahresdurchschnitt umfasste die Nettomigration 32.000 Personen aus den acht neuen ostmittel|| 30 Tito Boeri/Herbert Brücker, The Impact of Eastern Enlargement on Employment and Labour Markets in the EU Member States, Berlin/Mailand 2000; Thomas Straubhaar, Ost-West-Migrationspotential: Wie groß ist es?, Hamburg 2001; Hans-Werner Sinn u.a., EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration. Wege zu einer schrittweisen Annäherung der Arbeitsmärkte, München 2002. 31 Deutschland hatte sich vorbehalten, die Dienstleistungsfreiheit im Bausektor, der Innendekoration und der Gebäudereinigung einzuschränken. 32 Dies kann zur Verdrängung heimischer Arbeitnehmer oder zum Druck auf heimische Löhne führen, wofür die Beschäftigung mittel- und osteuropäischer Fleischer zu Niedriglöhnen in deutschen Schlachthöfen ein viel zitiertes Beispiel ist. Nach den Informationen der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) verloren 26.000 Fleischer im Jahr 2004 ihre Beschäftigung und wurden durch Arbeitskräfte aus ostmittel- und südosteuropäischen Staaten ersetzt (Rheinischer Merkur, 24.2.2005). 33 Timo Baas/Herbert Brücker/Elmar Hönekopp, EU-Osterweiterung. Beachtliche Gewinne für die deutsche Volkswirtschaft, Nürnberg 2007.

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und südosteuropäischen EU-Staaten. Dies überstieg die jahresdurchschnittliche Immigration vor der Osterweiterung nach Deutschland nahezu um das Doppelte.34 Dennoch verlor Deutschland als Adressat der Arbeitsmigration aus Ostmittel- und Südosteuropa im Vergleich zu den alten EU-Staaten an Gewicht. Während der Anteil Deutschlands an den Zuwanderern aus den acht neuen EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2004 etwas mehr als die Hälfte betragen hatte, machte er im Jahr 2009 nur noch 23 Prozent aus. Da Großbritannien und Irland ihre Arbeitsmärkte unmittelbar nach der Osterweiterung von 2004 für die neuen EU-Mitglieder geöffnet hatten, etablierten sich diese beiden Staaten als wichtigste Ziele der Arbeitsmigranten aus den ostmittel- und südosteuropäischen EU-Staaten der Erweiterungsrunde von 2004. Auch im Falle Bulgariens und Rumäniens wurde Deutschland nicht wie erwartet zum wichtigsten Zuwanderungsland. EU-Staaten, die bereits im Vorfeld der zweiten Osterweiterung zu Emigrationszielen von Arbeitsmigranten aus Bulgarien und Rumänien geworden waren, wie Griechenland, Italien und Spanien, zogen auch nach der EUErweiterung im Jahre 2007 Migranten aus diesen Ländern an. Allerdings nahm mit dem Ende der Übergangsregelungen im Mai 2011 die Einwanderung aus den acht ostmitteleuropäischen Staaten der Erweiterungsrunde von 2004 deutlich zu. Im Jahresdurchschnitt kamen zwischen 2011 und 2013 etwa 111.000 Personen aus diesen Staaten nach Deutschland. Dafür war jedoch auch die globale Wirtschaftskrise verantwortlich, von der Deutschland vergleichsweise wenig betroffen war. Wie in den Jahren zuvor war Polen das mit Abstand wichtigste Herkunftsland der Migranten aus dieser Region. Als die Übergangsregelungen für Bulgarien und Rumänien im Januar 2014 fielen, stieg auch die Einwanderung aus dieser Region merklich an: Innerhalb des Jahres 2014 wuchs die in Deutschland lebende Bevölkerung aus Rumänien und Bulgarien um insgesamt 124.000 Personen.

4 Weitere Zuwanderergruppen: Familiennachzug, Studierende und nicht-registrierte Migranten Der Nachzug von ausländischen Ehegatten und Kindern zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen beruht auf dem deutschen Grundgesetz und den Richtlinien der Europäischen Menschenrechtskonvention, die den Schutz von Ehe und Familie sichert. Dabei sieht die deutsche Rechtsprechung nur die Kernfamilie als nachzugsberechtigt an, weshalb im Wesentlichen nur die Kinder und die Ehepartner von in Deutschland lebenden Personen (Deutsche und Ausländer) das Recht auf Nachzug haben. Kinder von in Deutschland lebenden Ausländern dürfen nur einreisen, so|| 34 Timo Baas/Herbert Brücker, Wirkungen der Zuwanderungen aus den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft. WISO Diskurs, Bonn 2010.

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lange sie das 16. Lebensjahr nicht vollendet haben. Im Falle von nachziehenden Familienangehörigen, die keine EU-Staatsangehörigkeit haben, besteht Visumpflicht. Im Jahre 2013 war die Russische Föderation (mit 8,0 Prozent der insgesamt ausgegebenen 44.311 Visa für die Familienzusammenführung) nach der Türkei (13,8 Prozent) und Indien (8,7 Prozent) das drittwichtigste Herkunftsland des Ehegatten- und Familiennachzugs in Deutschland.35 Daneben gehörte die Ukraine mit 3,8 Prozent der Visa für den Ehegatten- und Familiennachzug zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern. Es ist anzunehmen, dass sich der Familiennachzug aus den Nachfolgestaaten der UdSSR vor allem auf (Spät)Aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge bezog. Ein gewisses Gewicht hatte auch der Familiennachzug aus dem Kosovo, auf den 5,4 Prozent der insgesamt zum Zwecke des Familiennachzuges erteilten Visa im Jahre 2013 entfielen. Im letzten Jahrzehnt hat die Zahl von Studierenden aus Ostmittel- und Südosteuropa sowie aus der vormaligen Sowjetunion, die als sogenannte Bildungsausländer zum Zweck des Studiums nach Deutschland einreisen, zugenommen. Zwischen den Wintersemestern 1999/2000 und 2009/2010 stieg die Zahl der Studierenden aus Polen um 23 Prozent an, bei russischen Studierenden konnte eine Steigerung um 39 Prozent und bei bulgarischen Studenten um 49 Prozent verzeichnet werden. Unter den in Deutschland studierenden Bildungsausländern kommt Studierenden aus dem Osten Europas eine hohe Bedeutung zu. Nahezu 15 Prozent aller ausländischer Studierenden (218.848), die zum Zweck des Studiums nach Deutschland eingereist waren, stammte im Wintersemester 2013/2014 aus dieser Region. Demgegenüber fällt die Bildungsmobilität aus den ehemaligen Anwerbeländern nach Deutschland geringer aus. So gehört die Türkei (3,4 Prozent) zwar zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern von Bildungsausländern, liegt aber in der Platzierung hinter der Russischen Föderation (3,9 Prozent). Aufgrund des teilweise begrenzten Arbeitsmarktzugangs von Migranten aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa kann vermutet werden, dass die Aufnahme eines Studiums von Ausländern aus diesen Staaten auch genutzt wurde, um in Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen. Tatsächlich weist die 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes darauf hin, dass die Erwerbstätigenquote, das heißt der Anteil der Studierenden, die gelegentlich, häufig oder laufend arbeiten, bei den ausländischen Studierenden aus den ostmittel-, südost- und osteuropäischen Staaten überdurchschnittlich hoch war.36 Auch steht bei den Studierenden aus dem || 35 Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (Migrationsbericht 2013), hg.v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2015, S. 126. 36 Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003. 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, hg.v. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin 2003, S. 49.

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Osten Europas die Erwerbstätigkeit zur Existenzsicherung deutlich im Vordergrund, weit vor anderen Motiven der studentischen Erwerbstätigkeit, wie etwa ›unabhängig von den Eltern zu sein‹ oder ›sich mehr leisten zu können‹.37 Es ist davon auszugehen, dass seit Beginn der 1990er Jahre eine nicht unerhebliche Zahl von Migranten aus dem Osten Europas in Deutschland eingereist und hier beschäftigt war, ohne gemeldet zu sein oder ohne eine Arbeitsgenehmigung zu besitzen.38 Einige dieser Migranten überquerten die Grenzen illegal, die meisten aber reisten legal nach Deutschland ein, zum Beispiel als Touristen, gingen dann aber einer Beschäftigung nach, für die keine Genehmigung vorlag – oder die Zuwanderer kamen mit einer offiziellen Arbeitsgenehmigung nach Deutschland und behielten den Arbeitsplatz länger als erlaubt (›overstayers‹). Die Beschäftigung von Ausländern ohne Arbeitserlaubnis, verkürzt als ›illegale Ausländerbeschäftigung‹ bezeichnet, umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte. Im Einzelnen reichen diese von der Beschäftigung von Migranten ohne Arbeitsgenehmigung oder ohne Sozialversicherung bis hin zu Verstößen gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder gegen die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Informationen von Arbeitsämtern weisen beispielsweise darauf hin, dass illegale Praktiken bei der Beschäftigung von Vertragsarbeitnehmern, vor allem von saisonalen Arbeitskräften, eine Rolle spielten. So ergab eine im Jahre 2002 durchgeführte landesweite Überprüfungsaktion saisonaler Arbeitsmigranten in Nordrhein-Westfalen bei immerhin 40 Prozent der geprüften Betriebe den Verdacht auf illegale Beschäftigung.39 Während es am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre Hinweise darauf gab, dass vor allem polnische Staatsbürger einen hohen Anteil an illegalen Grenzübertritten und illegaler Beschäftigung stellten40, zeigen die Daten der Bundespolizei in den letzten Jahren, dass insbesondere Personen aus den Balkanstaaten und den Nachfolgestaaten der UdSSR an illegalen Grenzübertritten nach Deutschland beteiligt waren. Im Jahre 2011 machten Staatsbürger des ehemaligen Jugoslawien etwa ein Fünftel (19,6 Prozent) aller unerlaubt einreisenden Ausländer aus, die an der deutschen Grenze aufgegriffen wurden. Aus der Russischen Föderation ka|| 37 Ebd., S. 52. 38 Klaus J. Bade (Hg.), Integration und Illegalität in Deutschland, Osnabrück 2001; Norbert Cyrus/ Franck Düvell/Dita Vogel, Illegale Zuwanderung in Großbritannien und Deutschland: ein Vergleich, in: IMIS-Beiträge, 2004, Nr. 24, S. 45–74; Dita Vogel, How many Irregular Residents are there in Germany? Estimates on the Basis of Police Criminal Statistics, Database on Irregular Migration, Working Paper No. 3, Database on Irregular Migration, Hamburg Institute of International Economics (HWWI), Hamburg 2011. 39 Dabei wurden in 30 Prozent der Fälle ausländische Arbeitnehmer ohne die erforderliche Arbeitsgenehmigung angetroffen, 8 Prozent der Arbeitnehmer hielten sich zudem illegal in Deutschland auf; Bundesagentur für Arbeit, Informationen Nr. 46/02, 6.11.2002. 40 Deutscher Bundestag, Neunter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – AÜG – sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung – BillBG, Drucksache 14/4220, Berlin 2000.

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men 2,7 Prozent aller irregulär Einreisenden. Dies lässt vermuten, dass unter den in Deutschland lebenden illegal beschäftigten Immigranten die Zahl der Personen aus den Balkanstaaten und der Russischen Föderation relativ hoch ist.

5 Künftige Herausforderungen der Migrationspolitik im Ost-West-Kontext Als Folge der EU-Osterweiterungen ist die Zuwanderung aus den neuen ostmittelund südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten mittlerweile uneingeschränkt gegeben. Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich vor dem Hintergrund ökonomischer Disparitäten und politischer Instabilitäten in einer Reihe von post-sowjetischen Staaten ein Migrationspotenzial aufgebaut hat, das für Deutschland relevant sein wird. Absehbar sind Asyl- und Fluchtwanderungen als Reaktion auf politische Krisen und ethnische Konflikte sowie zunehmende Arbeitsmigration, die den Mustern der bisherigen Ost-West-Migration – Kurzfristigkeit, Zirkularität und teilweise nicht legale Beschäftigung – folgen dürften. Auch aus den Balkanstaaten ist aufgrund ökonomischer Friktionen und ethnischer Konflikte weiterhin mit Zuwanderung zu rechnen. Für Deutschland bedeutet dies, dass sich wesentliche migrationspolitische Herausforderungen, die mit der Ost-West-Migration nach der politischen Transformation in Ostmittel- und Südosteuropa aktuell wurden, erneut im Kontext der Migrationsbeziehungen mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stellen. Die politischen Vorzeichen, unter denen dies geschieht, sind allerdings andere als am Ende der 1980er Jahre. Deutschland hat mit dem Zuwanderungsgesetz ein – wenn auch beschränktes – migrationspolitisches Instrumentarium geschaffen, das Ein- und Ausreisen, Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnisse und Integrationsbedingungen in einem Gesamtkonzept regelt.41 Zudem wurde innerhalb der Europäischen Union eine Reihe von migrationspolitischen Bestimmungen auf den Weg gebracht, die Immigration aus Nicht-EU-Staaten in die Länder der EU auf supranationaler Ebene regeln. Bereits als die internen Grenzkontrollen im Schengen-Raum im Jahre 1997 fielen, verständigte sich die EU auf gemeinsame Regelungen bezogen auf Visapolitik, Grenzkontrollen und auf die programmatische Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik. Dies geschah auch deshalb, weil in Folge der Freizügigkeit die Zuwanderungsregelungen einzelner EU-Länder, sei dies im Bereich der Visapolitik, der ethnischen Migration, Asyl- oder Arbeitskräftewanderungen, auch andere Staaten im Schengen-Raum betreffen.

|| 41 Dass die Innovationen des Zuwanderungsgesetzes weit hinter den Erwartungen zurückblieben, wurde unter anderen von Klaus J. Bade hervorgehoben. Klaus J. Bade, Integration: versäumte Chancen und nachholende Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, Nr. 22/23, S. 32–38.

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Seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) hat die Europäische Kommission eine Reihe migrationspolitischer Vorschläge vorgelegt, die im Bereich der Grenzkontrollen und der Asylpolitik mittlerweile EU-Recht geworden sind. Dabei war es ein vorrangiges Ziel der EU, die illegale Zuwanderung aus den Nicht-EU-Staaten zu bekämpfen und Menschenschmuggel bzw. -handel zu unterbinden. Neben dem Kontrollaspekt in Bezug auf Zuwanderung stellte der Europäische Rat im Rahmen des am 4./5. November 2004 verabschiedeten Haager Programms auch fest, dass die Mitgliedstaaten der EU in bestimmten Wirtschaftszweigen und Regionen Einwanderer brauchen, um künftige wirtschaftliche und demographische Herausforderungen zu bewältigen. Damit geht die Forderung nach neuen Ansätzen einer pro-aktiven Migrationspolitik einher, die beispielhaft im Green Paper der EU zur Arbeitsmigration ihren Niederschlag gefunden hat.42 Im Jahr 2011 wurden diese Zielsetzung nochmals im ›Global Approach to Migration and Mobility (GAMM)‹ niedergelegt.43 Als Reaktion auf globale Migrationstrends und demographische Veränderungen in der Europäischen Union sollte nicht nur die gemeinsame Migrationspolitik der EU nach außen gestärkt, sondern auch ein gemeinsames Programm zur ökonomischen und sozialen Integration von Immigranten umgesetzt werden. Zudem wurde die neue ›blue card directive‹ zur Anwerbung hochqualifizierter Nicht-EU Staatsbürger beschlossen. Angesichts nationalstaatlich kaum noch zu bewältigender Aufgaben im Hinblick auf Grenzkontrollen, Asylgesetzgebung und illegaler Zuwanderung aus NichtEU-Staaten haben sich die Mitgliedstaaten der EU beschränkt bereit gezeigt, eigene Verantwortlichkeiten auf Instanzen der Europäischen Union zu übertragen. Dennoch zeigen die anhaltenden Probleme bei der Delegation migrationspolitischer Kompetenzen auf die EU-Ebene, dass der europäische Integrationsprozess im Hinblick auf migrationspolitische Belange erst in den Anfängen steht.44 Ein besonders umstrittener Bereich ist hier die Kompetenz der Entscheidung über den Zugang zu den nationalen Arbeitsmärkten, wobei Deutschland für eine Beibehaltung nationaler Zuständigkeit optiert. Zwar betreffen neue Ost-West-Migration aus Nicht-EU-Staaten viele alte und neue EU-Mitgliedsländer, die Migrationserfahrungen, die Migrationsmuster und auch die Integrationsstrategien für Zuwanderer differieren jedoch in den einzelnen Mitgliedstaaten deutlich. Damit ist im Kontext von Migration und Migrationspolitik in der EU ein Prozess zu beobachten, der sich einerseits in einer Zunahme von wechselseitigen Verflechtungen, Abhängigkeiten und gemeinsamen Regelungen || 42 Commission of the European Communities, 811 final: Green Paper on an EU Approach to Managing Economic Migration, Brüssel 2004. 43 Commission of the European Communities, 1353 final: The Global approach to Migration and Mobility, Brüssel 2011. 44 Ursula Birsl, Migration und Migrationspolitik im Prozess der europäischen Integration?, Opladen 2005, S. 320.

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ausdrückt, andererseits aber ein Fortbestehen, wenn nicht sogar Verstärken von regionalen Unterschieden beinhaltet, die sich sowohl auf reale Wanderungen als auch deren nationalstaatlichen Regelungen beziehen. Beispiele dafür sind die unterschiedlichen Einstellungen von EU-Staaten in Bezug auf die Legalisierung illegaler Zuwanderer, auf die befristete Beschäftigung saisonaler Arbeitskräfte oder die wachsende Konkurrenz innerhalb der EU-Staaten um (hoch)qualifizierte Arbeitskräfte. Vor diesem Hintergrund ist es für die deutsche Politik vor allem im Bereich der Arbeitsmigration entscheidend, eine zukunftsfähige Migrationspolitik zu formulieren, die mit den migrationspolitischen Vorgaben der EU abgestimmt ist.

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Migrationsverhältnisse, nationale Souveränität und europäische Integration: Deutschland zwischen Normalisierung und Europäisierung Deutschland galt in der Politikwissenschaft lange Jahre als Prototyp eines Landes, in dem aufgrund einer spezifischen Anlage der Polity schnelle Politikwechsel unwahrscheinlich zu sein schienen. Angesichts zahlreicher politischer und unter verschiedenen parteipolitischen Vorzeichen vollzogener Kehrtwenden in der jüngeren Vergangenheit, etwa in der Sozial-, Energie-, Familien- oder Verteidigungspolitik, gilt die These des Inkrementalismus als einzig gangbarem politischen Weg in Deutschland allerdings zunehmend als fraglich.1 Migrations- und Integrationspolitik reiht sich dabei in die Liste der Politikfelder ein, in denen zuletzt innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit ein von vielen Beobachtern kaum erwartbarer Politikwechsel stattgefunden hat: Deutschland hat sich – wie aus international vergleichend angelegten Untersuchungen wie etwa dem Migrant Integration Policy Index (MIPEX), der Studie von Koopmans, Michalowski und Waibel2 oder auch dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR)3 deutlich wird – migrations- und integrationspolitisch von einem ethnokulturell orientierten Außenseiter in ein europäisches Durchschnittsland verwandelt. Ziel dieses Beitrages ist es, diesen Prozess nachzuzeichnen und seine strukturellen Hintergründe aufzudecken. Dabei ist zwischen zwei, nicht immer vollkommen trennscharf auseinander zu haltenden Ebenen des Politikwandels zu unterscheiden: 1. Auf nationalstaatlicher Ebene wird mit der deutschen Einheit und dem damit einhergehenden Abschluss des deutschen Nation-Building ein Prozess einer migrations- und integrationspolitischen Normalisierung initiiert, der im Wesentlichen (wenn auch nicht ausschließlich) als Liberalisierung und Öffnung

|| 1 Friedbert Rüb, Rapide Politikwechsel in der Demokratie: Gründe, Akteure, Dynamiken und Probleme, in: Jens Kersten/Gunnar Folke Schnuppert (Hg.), Politikwechsel als Governanceproblem, Baden-Baden 2012, S. 15–44; ders., Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik: Gründe, Akteure, Dynamiken und Probleme (Sonderheft der Zeitschrift für Politik), Baden-Baden 2014, S. 9–46. 2 Ruud Koopmans/Ines Michalowski/Stine Waibel, Citizenship Rights for Immigrants: National Political Processes and Cross-national Convergence in Western Europe, 1980–2008, in: American Journal of Sociology, 117. 2012, H. 4, S. 1202–1245. 3 Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich, Berlin 2015.

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der aufgrund der teilungsbedingten Sondersituation restriktiv gehaltenen institutionellen Zuwanderungs- und Integrationsarrangements zu verstehen ist. Ein strukturell anders gelagerter Treiber findet sich auf europäischer und internationaler Ebene und differenziert sich wiederum in zwei unterschiedliche Formen von Angleichungs- und Konvergenzprozessen aus: Einerseits ist im Sinne einer ›top down‹-Europäisierung auf die zunehmenden und wechselhaft erfolgreichen migrations- und integrationspolitischen Vergemeinschaftungsversuche der Europäischen Kommission einzugehen. Anderseits kann von einer ›bottom up‹-Variante einer wechselseitigen und als ›mimetischen‹ Lern- und Anpassungsprozess zu interpretierenden Reaktion auf die in allen Einwanderungsländern zu beobachtenden politischen Herausforderungen durch Migration und Integration ausgegangen werden.

1 Migrations- und Integrationspolitik nach dem Nation-Building: die deutsche Einheit und die einwanderungspolitische Normalisierung Die Diskrepanz zwischen den zu beobachtenden Wanderungsverhältnissen in Deutschland und dem auf die Formel ›Deutschland ist kein Einwanderungsland‹ komprimierten politischen Verarbeitungsmodus gehörte lange Zeit zu den zentralen Topoi der deutschen Migrationsforschung.4 Für diesen Beitrag relevanter als eine erneute Bezugnahme auf diese Widersprüchlichkeit ist allerdings die Diskussion ihrer strukturellen Hintergründe. In einem seiner letzten Beiträge hat Michael Bommes argumentiert, dass der in der Diskussion oft vorgebrachte Vorwurf einer ›defensiven Erkenntnisverweigerung‹ seitens der Politik zwar als Beschreibung der »politische[n] Verarbeitungsweise« hilfreich sein könnte. Unklar bleibe dabei allerdings, ob diese Diskrepanz über den Vorwurf einer »trotzigen Verleugnung nicht intendierter Folgen politischer Entscheidungen« hinaus auch »ein strukturelles Fundament« besitze.5 Für ein solches sprechen die von Schönwälder auch für Deutschland nachgewiesenen frühzeitigen (das heißt Mitte der 1960er Jahre erfolgten) Erwägungen zur möglichen dauerhaften Niederlassung der angeworbenen ›Gastarbeiter‹ sowie eines möglichen Eintretens von Prozessen des Familiennach-

|| 4 Siehe dazu für viele: Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994; ders., Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; oder auch schon Dietrich Thränhardt, Deutschland. Ein unerklärtes Einwanderungsland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 38. 1988, Nr. 24, S. 3–13. 5 Michael Bommes, Die Planung der Migration, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 29. 2009, H. 11/12, S. 376–381, hier S. 377.

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zugs.6 Anstelle der oft unterstellten intellektuellen Fehlleistung im Sinne eines Nichterkennens des Offensichtlichen ist als struktureller Hintergrund der Diskrepanz zwischen Wanderungsrealität und politischer Semantik eine politisch-historische Besonderheit Deutschlands hinsichtlich seiner Erklärungskraft gehaltvoller. Die hinter dem Einwanderungsdementi ›versteckten‹ politischen Strukturbedingungen stehen im Zentrum der Analyse von Joppke. Er begründet ausführlich, warum die oben angesprochene und in der Migrationsforschung nicht selten im Modus der Anklage und Empörung geäußerte Kritik an der Aufrechterhaltung des Einwanderungsdementis zwar empirisch korrekt ist, aber dessen normative Grundlagen und ihre Fundierung in der nationalen Selbstdefinition der Bundesrepublik Deutschland vernachlässigt.7 Demnach liegen die Wurzeln der auf den ersten Blick so merkwürdig erscheinenden Divergenz zwischen Einwanderungsrealität und ihrer Negation im ehemals stark ethno-kulturell ausgelegten Verständnis der deutschen Staatsbürgerschaft, die wiederum selbst als ein Resultat des Zweiten Weltkriegs anzusehen ist. Folge der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus war die Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik sowie die Abtrennung ehemals deutscher Gebiete und damit die Entstehung einer deutschen Diaspora im Osten Europas. Daraus resultierte die lange Zeit gültige Wahrnehmung der Bundesrepublik Deutschland als unvollständiger oder »provisorischer« Nationalstaat.8 Gerade die Tatsache, dass die Bundesrepublik über keine Verfassung verfügt, sondern lediglich über ein »Grundgesetz«, das nach einer Wiedervereinigung durch eine »richtige« Verfassung ersetzt werden sollte9, unterstrich den provisorischen Charakter der Bundesrepublik. Die ehemalige Präambel des Grundgesetzes bringt den provisorischen Charakter der Bundesrepublik auf den Punkt, in dem festgestellt wird: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Joppke bezeichnet es als »no small irony« der Geschichte, dass damit Deutschland in hohem Maße Israel ähnelt, einem Land, dessen Existenzgrundlage sich im Wesentlichen aus dem an den Juden begangenen Völkermord der Nationalsozialisten ableitet.10 Auf eine ähnliche Art || 6 Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001. 7 Christian Joppke, Immigration and the Nation-State: The United States, Germany, and Great Britain, Oxford 1999, S. 62–99. 8 Ebd., S. 63. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese spezifische deutsche Perspektive auf deutsche Minderheiten im Osten Europas nicht erst 1945 entsteht, sondern bereits im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 angelegt ist. 9 Nach der Wiedervereinigung blieb das Grundgesetz als deutsche Verfassung in Kraft, weil es keinen Änderungsbedarf gab und das Grundgesetz in vielen Ländern als stabile Grundlage für die Demokratie und als vorbildliche Verfassung angesehen wurde. 10 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 261.

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und Weise wie sich Israel als Heimat aller Juden versteht, verstand sich Deutschland lange Zeit als Heimat aller Deutschen einschließlich derer, die in deutschen Diasporen im Osten lebten und »als Teil der nationalen – wenn auch räumlich distanzierten – ›Schicksalsgemeinschaft‹ im Blick auf die Folgelasten des Zweiten Weltkriegs« galten.11 Als logische Folge dieses Selbstverständnisses prioritisierte Deutschland über Art. 116 des Grundgesetzes die semantisch als »Rückkehr« verschleierte Einwanderung und Niederlassung von Diaspora-Deutschen. Auf der Grundlage dieses Selbstverständnisses macht Joppke nun auch die strukturellen Grundlagen einer über reine politische Ignoranz hinausgehenden Aufrechterhaltung eines empirisch längst nicht mehr rechtfertigbaren Einwanderungsdementis explizit.12 Eine politisch-offizielle Anerkennung der Einwanderungssituation hätte zu dem Risiko geführt, die nationale Identität als Heimat aller Deutschen in Frage zu stellen und damit die historische Verpflichtung gegenüber den im Osten lebenden Diaspora-Deutschen abzuschwächen.13 In den Worten Hailbronners hätte eine »Konzeption der Bundesrepublik als Einwanderungsland mit zahlreichen nationalen Minderheiten aber der Vorstellung des Grundgesetzes schon im Hinblick auf die als vorläufig gedachte staatliche Organisation und die noch zu bewältigenden Aufgaben der Herstellung der nationalen und staatlichen Einheit schwer gerecht« werden können.14 Diese Haltung lässt sich auch in der politischen Semantik im Umgang mit den verschiedenen Einwanderergruppen feststellen: Für die in den Jahren 1955–1973 nach West-Deutschland angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer hat sich die Bezeichnung ›Gastarbeiter‹, also von temporär ansässigen ausländischen Arbeitnehmern ohne eigentliche Niederlassungsabsicht, etabliert. Dies war zu der Zeit der einzige Zustand, den die deutsche Politik aufgrund des »unfinished business« des deutschen Nation-Buildings für seine Einwanderer akzeptieren konnte.15 Der Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und schließlich die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990 änderten die strukturellen Grundlagen für Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland fundamental. Der durch die deutsche Einheit erreichte Abschluss des NationBuilding versetzte die Politik in die Lage, im Blick auf die Themen Migration und Integration insgesamt einen anderen politischen Ansatz wählen zu können oder gar zu müssen. Der zuvor im ›Provisorium‹ der Bundesrepublik Deutschland noch || 11 Klaus J. Bade/Michael Bommes, Migration und politische Kultur im ›Nicht-Einwanderungsland‹, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2000. Fakten, Analysen, Perspektiven, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 163–204, hier S. 183. 12 Joppke, Immigration and the Nation-State. 13 Ebd., S. 63. 14 Kay Hailbronner, Ausländerrecht und Verfassung, in: Neue Juristische Wochenschrift, 36. 1983, S. 2105–2113, hier S. 2113. 15 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 261.

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nachzuvollziehende und von Joppke als Doppelstrategie16 bezeichnete Ansatz eines weitgehenden politischen Ausschlusses der ›Gastarbeiter‹ genannten ausländischen Arbeitnehmer bei gleichzeitigem schnellen Einschluss der als Diaspora-Deutsche verstandenen »deutschen Einwanderer aus Osteuropa«17 verlor seinen Sinn. Deutschland als Nationalstaat war nun komplett, insofern erübrigte sich der auf den ersten Blick so merkwürdige und oft kritisierte, aber vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte doch nachvollziehbare deutsche Sonderzugriff auf das Thema Migration und Integration. Im Folgenden soll den dann nach Abschluss des deutschen Nation-Buildings folgenden Normalisierungsprozessen nachgegangen werden. Dabei wird auch deutlich werden, dass mit der Verwendung des Begriffs der Normalisierung keine normative Wertung erfolgen wird, sondern dass damit vielmehr eine Abkehr von im internationalen Vergleich einzigartigen oder zumindest von den meisten europäischen und außereuropäischen Einwanderungsländern sich diametral unterscheidenden Institutionen und Praktiken und eine Angleichung an europäische Standards zu verstehen ist.

1.1 Das Ausländergesetz von 1991 Ein Meilenstein einer als Liberalisierung erscheinenden Normalisierung trat bereits unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Einheit in Kraft. Das Ausländergesetz von 1991 ist in vielerlei Hinsicht ein unterschätztes und zu wenig beachtetes Gesetz. Nicht zuletzt aufgrund des zur Zeit der Konzeption und Diskussion des Gesetzes existierenden Überthemas der deutschen Vereinigung wurde es möglich, mit dem neuen Ausländergesetz, das das entsprechende Gesetz von 1965 ablöste, einen rechtlichen Rahmen zu entwickeln, der in vielerlei Hinsicht als Startpunkt einer in den darauffolgenden Jahren beschleunigten rechtlichen Normalisierung gelten kann. Unmittelbar auffällig im Gesetzestext ist, dass ein Bezug auf das lange Jahre parteiübergreifend akzeptierte Bekenntnis ›Deutschland ist kein Einwanderungsland‹ nicht erkennbar ist.18 Das Instrument der Rückkehrförderung fand sich ebenfalls nicht mehr. Es war – noch unter der Regierung Helmut Schmidt – Anfang der 1980er Jahre konzipiert und nach dem Regierungswechsel 1982 von der neuen Regierung Helmut Kohl umgesetzt worden.19 Materiell erwies || 16 Ebd. 17 Klaus J. Bade/Jochen Oltmer (Hg.), Aussiedler: deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl. Göttingen 2003. 18 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 84. 19 Klaus J. Bade, Ausländer- und Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Grundprobleme und Entwicklungslinien, in: Einwanderungsland Deutschland: bisherige Ausländer- und Asylpolitik, hg.v.d. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1992, S. 51–67, hier S. 56. Konkret umfasste das Programm die Auszahlung von Rückkehrprämien, die vorzeitige Erstattung von Arbeitnehmerbeiträgen aus der Rentenversicherung sowie Beratungsangebote.

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sich das Programm als vergleichsweise wirkungslos, es entwickelte hauptsächlich Mitnahmeeffekte, konnte nicht zu einer signifikanten Erhöhung der Rückkehrraten beitragen und wurde dementsprechend bereits 1984 wieder eingestellt.20 Konkrete und zweifellos als Liberalisierung zu interpretierende Änderungen bildeten im neuen Ausländergesetz das Herauslösen der Bestimmungen zur Erteilung unbefristeter Aufenthaltserlaubnisse und des Familiennachzugs von Kindern unter 16 Jahren aus dem diskretionären Spielraum der Ausländerbehörden. Die entscheidende Innovation des neuen Ausländergesetzes aber war das – zunächst sehr vorsichtige – Ersetzen des Prinzips der Ermessens- durch das der Anspruchseinbürgerung. Was auf den ersten Blick als vernachlässigbares technisches Detail in den Einbürgerungsrichtlinien aussieht, markierte den Wandel vom Einwanderung negierenden zum Einwanderung gestaltenden Land. Unterlag vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes 1991 die Einbürgerungsentscheidung dem diskretionären Spielraum der Ausländerbehörden, gestand das neue Gesetz Ausländern bei Erfüllung bestimmter Bedingungen wie Mindestaufenthaltsdauer, Straffreiheit und geregeltem Einkommen einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung zu. Dieser Rechtsanspruch galt zunächst nur für junge Ausländer, wurde allerdings im später noch detaillierter betrachteten »Migrationskompromiss«21 von 1992/93 auf alle Ausländer ausgedehnt. Damit kommt nicht zuletzt zum Ausdruck, dass sich aufgrund des abgeschlossenen Nationalstaatsbildungsprozesses die Sonderstellung vor allem der ehemals als ›Gastarbeiter‹ angeworbenen Ausländer nicht mehr als erforderlich erwies, diese vielmehr durch ein erleichtertes Verfahren zur Einbürgerung aufgefordert wurden, nun mittelfristig Inländer zu werden. Die zutreffende Einschätzung von Hellmuth Rittstieg, wonach die Vorschriften des Ausländergesetzes »über die Aufenthaltsverfestigung, den Familiennachzug, die Rechtsansprüche der jungen Generation und die Einbürgerung den ehemaligen Gastarbeitern, ihren Ehegatten und Kindern und sonstigen Inländern fremder Staatsangehörigkeit erstmals auf der gesetzlichen Ebene den Einwandererstatus«22 verschafften, lässt deutlich werden, dass das Ausländergesetz von 1991 als Startschuss einer auf der Ebene des Rechts ausgetragenen einwanderungspolitischen Normalisierung23 verstanden werden muss.

|| 20 Siehe dazu ausführlich Elmar Hönekopp, Rückkehrforderung und die Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien: Ergebnisse des Rückkehrforderungsgesetzes, der RückkehrhilfeStatistik und der IAB-Rückkehrbefragung, in: ders (Hg.), Aspekte der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, Nürnberg 1987, S. 287–342. 21 Bade , Ausländer, Aussiedler, Asyl, S. 123. 22 Hellmuth Rittstieg, Das neue Ausländergesetz: Verbesserungen und neue Probleme, in: Klaus Barwig u.a. (Hg.), Das neue Ausländerrecht, Baden-Baden 1991, S. 23–32, hier S. 25. 23 Mit der Interpretation des Ausländergesetzes als Startschuss einer rechtlichen Normalisierung sollen im Gesetz enthaltene Schwächen nicht negiert werden. Zu nennen sind hier die Verschärfung der nach wie vor relativ unbestimmten Ausweisungsbefugnisse, die Abhängigkeit der unbefristeten

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1.2 Der Asylkompromiss von 1993 Der mit dem Ausländergesetz begonnene Trend einer Ablösung eines Sonderstatus oder von Sonderregelungen setzt sich zu Beginn der 1990er Jahre fort. Neben dem 1991 in Kraft getretenen Ausländerrecht ist die 1992 konzipierte und diskutierte sowie schließlich 1993 wirksam gewordene Reform des deutschen Asylrechts als weiterer Schritt dieser Normalisierung zu sehen. Das bis dahin geltende und in Artikel 16 des Grundgesetzes festgeschriebene Asylrecht, das »einen die Erfordernisse des Völkerrechts deutlich überschreitenden individuellen subjektiv-öffentlichen Rechtsanspruch auf politisches Asyl beinhaltete«, hatte für den unvollständigen Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland als eine Art »moralische Absichtserklärung«24 eine wichtige »legitimatorische und identitätsbildende Funktion«.25 Es bestand lediglich aus den vier Worten »Politisch Verfolgte genießen Asyl« und ist auch als historische Antwort auf die Rettung vieler im nationalsozialistischen Deutschland Verfolgter durch Aufnahme im Ausland zu sehen.26 Artikel 16 dokumentierte folglich eine besondere historische Verantwortung nach innen und nach außen mit »metapolitischer Bedeutung«.27 Auch bezogen auf das Asylrecht ließ sich in Deutschland also eine Sonderstellung feststellen, allerdings nicht – wie bei anderen Einwanderungsaspekten – in dem Sinne, dass die bundesdeutschen Regelungen sich als im Vergleich zu anderen europäischen Nachbarländern besonders restriktiv erwiesen, sondern genau umgekehrt. Vor der Reform des Asylrechts, die das »ungeklärte Verhältnis zwischen der Funktionsweise eines Nationalstaates als in seiner Souveränität territorial beschränktem politischen System mit formal festgelegten Mitgliedschaften und einem Verfassungsrecht, das bei weltweit wachsenden Fluchtbewegungen für eine zunehmende Zahl von Individuen in Betracht zu kommen schien«28 neu und den neuen weltpolitischen Umständen Rechnung tragend definierte, setzte sich Deutschland von seinen europäischen Nachbarn durch ein im internationalen Vergleich einzigartig liberales und bewusst großzügig gehaltenes Asylrecht ab. Joppke be-

|| Aufenthaltserlaubnis und der Aufenthaltsberechtigung vom Nachweis ausreichenden Wohnraums gerade in Zeiten extremer Wohnungsnot bis hin zu den weiten Ermessensspielräumen bei der Verlängerung befristeter Aufenthaltserlaubnisse (Bade, Ausländer- und Asylpolitik, S. 61). 24 Bommes, Die Planung der Migration, S. 377. 25 Bernhard Santel/Albrecht Weber, Zwischen Ausländerpolitik und Einwanderungspolitik: Migrations- und Ausländerrecht in Deutschland, in: Bade/Münz (Hg.), Migrationsreport 2000, S. 109–140, hier S. 116. 26 Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, S. 94. 27 Santel/Weber, Zwischen Ausländerpolitik und Einwanderungspolitik, S. 116. 28 Bade/Bommes, Migration und politische Kultur, S. 184.

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zeichnete Deutschland in diesem Zusammenhang als Land, das »literally the whole world a right of entry« zugestand.29 Dieser Alleingang erwies sich gerade vor dem Hintergrund der durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs geänderten politische Situation und der dadurch voranschreitenden Europäisierung als nicht mehr praktikabel. So konnte Deutschland durch die Bestimmungen des Artikels 16 des Grundgesetzes nur sehr eingeschränkt an den europäischen Assoziierungsabkommen von Dublin und Schengen teilnehmen, was konkret dazu führte, dass beispielsweise ein in Belgien abgelehnter Asylbewerber in Deutschland neu Asyl beantragen konnte und so Deutschlands europäischen Nachbarländern eine bequeme und einfache Möglichkeit zur Verfügung stand, dort abgelehnte Asylbewerber nach Deutschland »abzuschieben«.30 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass 1992 Deutschland der zentrale europäische Magnet für Flüchtlinge aus aller Welt war. Die Zahl der Erstanträge auf Asyl stieg von 57.000 im Jahr 1987 beziehungsweise 193.000 im Jahr 1990 auf 438.000 im Jahr 1992 und gab damit Anlass zu einer politisch sehr kontroversen Diskussion – eben über jene »Folgen verfassungsmäßig verankerter Moral«.31 Nach einigem Zögern entschied die einer umfassenden Reform des deutschen Asylrechts gespalten gegenüberstehende SPD schließlich, sich einer Neufassung nicht zu widersetzen. Den rettenden und zur Gesichtswahrung erforderlichen Anker stellte das Argument einer notwendigen Europäisierung des Asylrechts dar. Teile der innerparteilichen Gegner der Asylrechtsverschärfung akzeptierten letztendlich die Notwendigkeit einer stärkeren europäischen Abstimmung und Angleichung der Asylregeln. Da eine Anpassung Europas an die liberalen deutschen Regeln nicht möglich war, blieb als Weg der Europäisierung lediglich eine Anpassung der deutschen Regeln an EU-Standards32, die gleichzeitig das Ende der deutschen asylrechtlichen Sonderrolle einläutete. Technisch umgesetzt wurde diese als Europäisierung verstandene Normalisierung des deutschen Asylrechts durch die Einführung des Artikels 16a in das Grundgesetz, wodurch Asylbewerber direkt an der Grenze zurückgewiesen werden konnten. Für Asylbewerber aus ›sicheren Drittstaaten‹ oder mit ungültigen Ausweispapieren wurde die sogenannte Flughafenregelung eingeführt, durch die das Asylverfahren bereits vor der Einreise, das heißt im Transitbereich des Flughafengeländes durchgeführt werden kann. Damit wurde das Asylrecht im Endeffekt auf Personen beschränkt, die auf dem Luft- oder Seeweg einreisen, gültige Papiere haben und keine sicheren Drittländer passierten.33 || 29 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 85. 30 Ebd., S. 93. 31 Bommes, Die Planung der Migration, S. 378. 32 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 93. 33 Günter Renner, Aktuelle und ungelöste Probleme des Asyl- und Flüchtlingsrechts, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2002. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M. 2002, S. 179–206, hier S. 185.

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Die hier als Leitmotiv deutscher Einwanderungspolitik vorgetragene These der Normalisierung erscheint als abhängig vom jeweiligen Regulierungsobjekt in unterschiedlichen ›Gewändern‹: Der mit dem 1991 in Kraft getretenen Ausländergesetz initiierte Normalisierungsschritt bedeutete dabei eine Liberalisierung, die mit der Neufassung des Asylrechts einhergehende Normalisierung und Angleichung an europäische Standards vollzog sich über eine Restriktivierung.34

1.3 Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 Zurecht hat Bade darauf hingewiesen, dass die 1992 verabschiedeten einwanderungspolitischen Reformen weniger als Asylkompromiss und vielmehr als umfassender »Migrationskompromiss« bezeichnet werden müssen, tangieren die darin getroffenen Entscheidungen neben Asylbewerbern auch zahlreiche andere Migrantenkategorien.35 Dies gilt besonders für die Migration der Aussiedler, die von Regierungsseite lange Zeit als »Heimkehrer« bezeichnet und damit nicht als Einwanderer gezählt wurden. Aufgrund des kriegsfolgenbedingt unvollendeten Prozesses der Nationalstaatsbildung wurde der ›deutschen Diaspora im Osten‹ eine Zutrittssonderoption gewährt, die nach dem mit der Wiedervereinigung (und der politischen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze) dokumentierten Abschluss der Nationalstaatsbildung »seine historische Grundlage verlor«36 und sich als nicht mehr notwendig erwies. War »zur Zeit des Kalten Kriegs […] die Inklusion der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler in die wohlfahrtsstaatlichen Systeme lange Zeit eine Frage der nationalen beziehungsweise ethnonationalen Solidarität« gewesen, büßte die damit verbundene »ethnonationale Semantik«37 ab Ende der 1980er Jahre angesichts einer sich fundamental geänderten weltpolitischen Lage zunehmend an Legitimationskraft ein. Dementsprechend wurde diese Sonderoption Teil des Migrationskompromisses und im 1992 verabschiedeten Kriegsfolgenbereinigungsgesetz deutlich zurückgefahren. Bereits vorher wurden die vormals exklusiv Aussiedlern gewährten großzügigen Eingliederungsbeihilfen deutlich reduziert. Kern des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes ist die Einführung einer Nachweispflicht eines vorher automatisch als gegeben angenommenen ›Vertreibungsdrucks‹ für alle Personen außerhalb der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Beschränkung der Zuzugsmöglichkeit auf Personen, die vor dem 1. Januar 1993 geboren wurden sowie die Einführung einer Jahresquote von 225.000 Aufnahmebescheiden. Gerade die Einführung einer Quote, die 1999 im Rahmen des Haushaltssanierungsgesetzes noch || 34 Vgl. auch Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010 mit Integrationsbarometer, Berlin 2010, S. 74. 35 Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, S. 123. 36 Vgl. auch SVR, Einwanderungsgesellschaft 2010, S. 76. 37 Bade/Bommes, Migration und politische Kultur, S. 183.

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einmal halbiert wurde, verdeutlichte den neuen Status der Aussiedler als einer regulären und entsprechend mit migrationspolitischen Standardinstrumenten steuerbaren Zuwanderergruppe.38 Dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz folgten in späteren Jahren weitere Regulierungen, wie die Pflicht, einfache Deutschkenntnisse im Herkunftsland nachzuweisen, die die Zuzüge weiter deutlich begrenzen konnten. Bereits im Jahr 2007 waren lediglich noch 5.792 Personen als Spätaussiedler als »unvermeidbare[r] Spätfolge der deutschen Staatsbildungsgeschichte«39 nach Deutschland eingereist, bis zum Jahr 2013 reduzierte sich diese Zahl noch einmal auf nur noch 2.400 Zuzüge. Deutschland entledigt sich damit seines Status als Land mit einer ethnisch-kulturell definierten Zuwanderungsoption. Auch aufgrund dieser »Entwertung der Nationalitätssemantik«40 wird es einwanderungspolitisch ›normaler‹ und folgt damit einer von Joppke beschriebenen Entwicklung41 hinsichtlich der als legitim anerkannten Kriterien zur Einwanderungsregulierung. Während die Rolle askriptiver Merkmale wie Ethnizität, Religion oder nationaler Herkunft zunehmend irrelevant und als Steuerungskriterium als illegitim angesehen wird, kristallisieren sich als Zulassungskriterium zunehmend das der individuellen Fähigkeiten des Einwanderungsbewerbers und der im Zielland formulierte Bedarf gegenüber diesen Fähigkeiten heraus. Nachdem Deutschland nach der Wiedervereinigung den Zugang für als ethnisch-kulturell verwandt definierte Personen zu schließen begonnen hatte, dauert es einige Jahre, bis Deutschland begann, aktiv Einwanderungsmöglichkeiten für Personen mit besonderen und im Land stark nachgefragten Qualifikationen zu schaffen. Auf die mit der Green Card 2000 begonnenen, mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 fortgesetzten und mit der Umsetzung der EU-Hochqualifiziertenrichtlinie 2012 zunächst abgeschlossenen Entwicklung einer Öffnung des Landes für Hochqualifizierte wird später noch eingegangen werden.

1.4 Das Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 Ein in der Öffentlichkeit ebenfalls kontrovers diskutierter Normalisierungsschritt stellte das neue Staatsbürgerschaftsgesetz dar. Es gilt allerdings zu Unrecht als entscheidender einwanderungspolitischer Paradigmenwechsel und wurde von der Politik nicht zuletzt über das prestige- und symbolträchtige Datum des Inkrafttre-

|| 38 Joppke, Immigration and the Nation-State, S. 96. 39 Bommes, Die Planung der Migration, S. 377. 40 Michael Bommes, Über die Aussichtslosigkeit ethnischer Konflikte in Deutschland, in: Ulrich Eckern/Leonie Herwartz-Emden/Rainer-Olaf Schulze (Hg.), Friedens und Konfliktforschung in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2004, S. 155–184, hier S. 170. 41 Vgl. Christian Joppke, Selecting by Origin: Ethnic Migration in the Liberal State, Cambridge, MA 2005.

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tens auch als solcher initiiert. Inhaltlich schreibt das Gesetz zum einen die schon im Ausländergesetz reformierten Einbürgerungsbedingungen fort.42 Die für einen Einbürgerungsanspruch notwendige Mindestaufenthaltsdauer wurde von 15 auf 8 Jahre gesenkt. Zudem wurde die in Deutschland – im Gegensatz zu allen anderen Ländern der europäischen Union – exklusiv am Abstammungsprinzip (ius sanguinis) orientierte Staatsbürgerschaft durch Elemente des Territorialprinzips (ius soli) ergänzt. Damit erwirbt ein Kind ausländischer Eltern bei Geburt in Deutschland dann die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil seit mindestens acht Jahren eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Diese Reform war seit langem als notwendig empfunden worden, um den Zustand zu beenden, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder und Enkel der in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland angeworbenen ›Gastarbeiter‹ rechtlich als Ausländer galten.43 Bis 2014 enthielt das Gesetz allerdings die umstrittene Optionspflicht, die in Deutschland geborene Kinder, die zudem die Staatsangehörigkeit der Eltern erhalten, verpflichtete, sich bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres für die deutsche oder die ausländische Staatsangehörigkeit zu entscheiden.44 Diese zutreffend von Masing45 eher als Abwahl- denn als Optionspflicht eingeschätzte Regelung war das Resultat eines aufgrund unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und Bundestag notwendig gewordenen parteipolitischen Kompromisses. Vorgesehen war, dass im Falle der Wahl der deutschen Staatsangehörigkeit der Verlust der ausländischen Staatsangehörigkeit rechtzeitig nachgewiesen werden muss. Falls dieser Nachweis nicht erbracht werden kann, geht die deutsche Staatsangehörigkeit nur dann nicht verloren, wenn die Betroffenen eine Genehmigung für deren Beibehaltung – etwa im Falle der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit des Verlustes der ausländischen Staatsangehörigkeit – erhalten haben. Die Optionspflicht galt seit ihrer Installierung allgemein als wenig praktikabel46, auch ihre || 42 Bade/Bommes, Migration und politische Kultur, S. 192. 43 Steffen Angenendt, Einwanderungspolitik und Einwanderungsgesetzgebung in Deutschland 2000–2002, in: Bade/Münz (Hg.), Migrationsreport 2002, S. 31–60, hier S. 33. 44 Christian Dornis, Zwei Jahre nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – Bilanz und Ausblick, in Bade/Münz (Hg.), Migrationsreport 2002, S. 163–178, hier S. 164. Diese Einschränkung gilt nicht für EU-Ausländer. Diese können bei der Einbürgerung in Deutschland ihre Staatsangehörigkeit behalten, sofern auch ihr Land bei der Einbürgerung von Deutschen die doppelte Staatsangehörigkeit hinnimmt. 45 Johannes Masing, Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, Tübingen 2001, S. 8. 46 Vgl. etwa Dornis, Zwei Jahre nach der Reform, S. 171; Ralph Göbel-Zimmermann, Das neue Staatsangehörigkeitsrecht – Erfahrungen und Reformvorschläge, in: Klaus Barwig/Ulrike Davy (Hg.), Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit: Konzepte und Grenzen einer Politik der Integration von Einwanderern, Baden-Baden 2004, S. 148–168, hier S. 153; SVR, Einwanderungsgesellschaft 2010, S. 76f.

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Verfassungsmäßigkeit war umstritten.47 Die nach der Bundestagswahl 2013 an die Macht gekommene Große Koalition hat sich entsprechend für die Abschaffung der Optionspflicht für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder und Jugendliche entschieden.48 Unabhängig von dieser Entwicklung und der mit der Optionspflicht wie mit der 2014 verabschiedeten Nachfolgeregelung verbundenen Probleme ist mit der im Rahmen des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 2000 erfolgten Ergänzung des Abstammungs- durch das Territorialprinzip im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht die vormals dominante und nur angesichts des lange Zeit als unabgeschlossen angesehenen Nationalstaatsbildungsprozesses erklärbare ethnisch-kulturelle Schlagseite aus dem deutschen Einbürgerungsrecht weitgehend verschwunden. Das in Deutschland etablierte konditionale ius soli kann mittlerweile als das staatsbürgerschaftsrechtlich dominante Modell für liberal-demokratisch orientierte Einwanderungsländer angesehen werden.49

1.5 Das Zuwanderungsgesetz von 2005 Mit dem 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz (ZuwG) findet der hier als Parallelvorgang zwischen Liberalisierung und Restriktivierung beschriebene Prozess einer Normalisierung der politischen Moderation von Migration und Integration seinen Abschluss. Als Artikelgesetz schafft das ZuwG für zahlreiche migrations- und integrationspolitische Teilaspekte neue Regelungsgrundlagen.50 Kernpunkte des ZuwG sind erstens die Etablierung einer beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angesiedelten umfangreichen Migrations- und Integrationsverwaltung. Hinzu tritt zweitens die Initiierung bundesweiter und mit der nach der unter dem Label ›Agenda 2010‹ zur neuen sozialpolitischen Leitlinie erhobenen Maxime

|| 47 So etwa Peter M. Huber/Kerstin Butzke, Das neue Staatsangehörigkeitsrecht und sein verfassungsrechtliches Fundament, in: Neue Juristische Wochenschrift, 52. 1999, S. 2769–2775. 48 Der von den Regierungsparteien gefundene Kompromiss bleibt allerdings insofern halbherzig, als dass er zwar im Rahmen des Geburtserwerbs die doppelte Staatsangehörigkeit zulässt, im Rahmen der Einbürgerung allerdings am Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit festhält. Zudem bleiben das Problem der unendlichen Weitervererbung der Staatsangehörigkeit der Pionierwanderer und die daraus resultierenden rechtlichen und demokratietheoretischen Probleme unangetastet; siehe dazu Christine Langenfeld, Der Spinnen-Fliegen-Kompromiss, in: Süddeutsche Zeitung, 2.4.2014, S. 2. 49 Iseult Honohan, The Theory and Politics of Ius Soli: EUDO Citizenship Observatory. Comparative Report Robert Schuman Centre for Advanced Studies/EUDO-CIT-Comp, 2010/2. 50 SVR, Einwanderungsgesellschaft 2010, S. 77.

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eines ›Fördern und Fordern‹51 eng verzahnter Integrationsprogramme.52 Drittens wurden – zunächst aber im internationalen Vergleich weiterhin eher restriktiv gehaltene – Zuwanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte geschaffen, die bald danach aber umfassend liberalisiert wurden.53 Als Abschluss eines etwa ein Vierteljahrhundert dauernden rechtlich-institutionellen Nachhol- und Anpassungsprozesses ist das ZuwG vor allem deshalb zu sehen, weil nun migrations- und integrationspolitisch Deutschland im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern keinerlei gravierende rechtlich-institutionelle Besonderheiten mehr aufweist.

2 Vergemeinschaftungsansprüche der EU und mimetische Isomorphie: zwei Varianten der Europäisierung der Migrations- und Integrationspolitik ›Europa‹ bildete im weitesten Sinne einen entscheidenden Impulsgeber für den beschriebenen migrations- und integrationspolitischen Anpassungs- und Liberalisierungsprozess. Zu unterscheiden sind dabei zwei Ebenen: 1. die als ›top down‹Prozess zu verstehende migrations- und integrationspolitische Kompetenzverlagerung ›nach Brüssel‹. Sie hatte eine von den Mitgliedstaaten selbst im Rat angestrebte und auch forcierte EU-weite Politikvereinheitlichung zur Folge; 2. den sich nicht nur zwischen den einzelnen EU-Mitgliedern abspielenden, sondern viele Einwanderungsländer als Resultat einer wechselseitigen Ausrichtung und politischen Bezugnahme betreffenden Prozess des »institutionellen Kopierens«, der eben nicht von der EU-Ebene angestoßen beziehungsweise den einzelnen Mitgliedstaaten aufgenötigt worden war.54 || 51 Michael Bommes, Integration durch Sprache als politisches Konzept, in: Ulrike Davy/Albrecht Weber (Hg.), Paradigmenwechsel in Einwanderungsfragen? Überlegungen zum neuen Zuwanderungsgesetz, Baden-Baden 2006, S. 59–86, hier S. 63. 52 Ines Michalowski, Integration als Staatsprogramm. Deutschland, Frankreich und die Niederlande im Vergleich, Münster 2007. 53 Vgl. dazu Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Migrationsland 2011. Jahresgutachten mit Migrationsbarometer, Berlin 2011, S. 66f. Analog zu den Ausführungen zur Reform des deutschen Asylrechts kann und muss auch hier offen bleiben, wie der mit den beschriebenen Entwicklungen einhergehende ›migration productivism‹ im Sinne einer »selektiven Betonung der langfristig von den Migranten für die Wirtschaft des Aufnahmelandes zu leistenden produktiven Beiträge« (Claus Offe, From Migration in Geographic Space to Migration in BiographicTime: Views from Europe, in: Journal of Political Philosophy, 2011, H. 3, S. 333–373, hier S. 351, Übersetzung HK) normativ zu bewerten ist. 54 SVR, Migrationsland 2011, S. 111.

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2.1 Erfolge und Grenzen der Vergemeinschaftung: die EU als migrations- und integrationspolitischer Akteur Der politische Expansionsdrang der Europäischen Union beziehungsweise ihrer Akteure auch im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik ist weder neu noch sonderlich erklärungsbedürftig. Aus der Perspektive der politischen Ökonomie ist das Streben nach einer Erweiterung des Kompetenzportfolios um die politisch sensiblen Themenfelder der Migrations- und Integrationspolitik vollkommen nachvollziehbar. Für den im Rahmen dieses Beitrags im Zentrum stehenden Anpassungsund Normalisierungsprozess ist er deshalb relevant, weil über ›aus Brüssel und Straßburg‹ kommende politische Vorgaben unmittelbar ein Erklärungszusammenhang für die als Normalisierung und vor allem als Anpassung beschriebene Entwicklung der deutschen Migrations- und Integrationspolitik offensichtlich wird. Europäisierung lässt sich als Entstehung »neue[r], die einzelnen Nationalstaaten übergreifende[r] Strukturen« verstehen, »die mit schon vorhandenen nationalstaatlichen Machtstrukturen interagieren und diese zum Teil beeinflussen oder zur Implementierung von Gesetzen veranlassen können«.55 Migrations- und Integrationspolitik sind für eine auf Kompetenzerweiterung bedachte und sich selbst auf dem Weg zur Staatswerdung sehende EU essentiell, weil damit die in Jellineks DreiElemente-Lehre einen Staat konstituierenden Elemente eines Staatsgebiets, eines Staatsvolks und einer Staatsgewalt unmittelbar und direkter als in anderen Politikfeldern tangiert und moderiert werden. Ein vor allem über das Sekundärrecht, das heißt über Richtlinien und Verordnungen, den Mitgliedstaaten seitens der EU auferlegter beziehungsweise angestoßener einheitlicher politischer Zugriff führt dabei automatisch trotz der im Rahmen von Richtlinien den Mitgliedstaaten gewährten Umsetzungsspielräume zu einer europäischen Vereinheitlichung des politischen Zugriffs auf die Themenfelder Migration und Integration. Seit dem Vertrag von Amsterdam von 1997 verfügt die EU über asyl-, flüchtlingsund einwanderungspolitische Gesetzgebungskompetenzen. Sie hat diese seitdem expansiv genutzt und insbesondere in den Bereichen Asyl und Flucht sowie hinsichtlich der Sicherung der EU-Außengrenzen für eine europaweite Angleichung gesorgt.56 In den Worten des Sachverständigenrates deutscher Stiftung für Integration und Migration (SVR) geht das im Feld von Asyl und Flucht erreichte Vereinheitlichungsniveau soweit, dass alle »wesentlichen Bereiche der Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung von Schutzbedürftigen […] inzwischen europarechtlich geregelt [sind]: die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Prüfung von Asylanträ-

|| 55 Bernd Parusel, Abschottungs- und Anwerbestrategien. EU-Institutionen und Arbeitsmigration, Wiesbaden 2010, S. 44. 56 Sandra Lavenex, The Europeanisation of Refugee Politics. Between Human Rights and Internal Security, Farnham 2001.

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gen (Dublin II-Verordnung), die Anforderungen an die Lebensbedingungen während des Asylverfahrens (Aufnahmerichtlinie), die Frage, wer ein Flüchtling ist und welche Rechte damit verbunden sind (Qualifikationsrichtlinie) sowie die Anforderungen an das Asylverfahren (Asylverfahrensrichtlinie).«57 An dieser Stelle zeigt sich, dass die hier als unterschiedliche Ebenen einer für einen Nationalstaat dargestellten einwanderungspolitischen Normalisierung und einer supranational angestoßenen Europäisierung sich nicht immer trennscharf auseinander halten lassen. Gerade die vor allem über das Dubliner Übereinkommen bereits Anfang der 1990er Jahre angestoßene Europäisierung der Asylpolitik diente als wichtiges Argument für die Reform des deutschen Asylrechts. Auch durch die vor allem in den Bereichen Asyl und Flucht vergleichsweise weit vorangeschrittene Europäisierung besteht »für den nationalen Gesetzgeber« politischer Handlungsspielraum lediglich »bei der Aufenthaltsverfestigung von subsidiär Schutzberechtigten und bei der Aufnahme aus humanitären Gründen in Bereichen, in denen individuelle Schutzansprüche fehlen, sowie bei ausreisepflichtigen Personen, die keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel haben, deren Abschiebung aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (sogenannte Geduldete)«.58 Ziel war aber weiterhin die Schaffung eines ›Gemeinsamen Europäischen Asylsystems‹, das im Sommer 2013 mit der Dublin III-Verordnung vollendet wurde. Auch für den Familiennachzug – und damit den für Deutschland lange Zeit relevantesten Zuwanderungskanal – haben bei engen und durch Grundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention rechtlich festgelegten Grenzen erfolgreiche Vergemeinschaftungen dazu geführt, dass die »Gestaltungsspielräume des nationalen Gesetzgebers […] sich in Bezug auf die rechtliche Regulierung des Familiennachzugs […] erheblich verringert« haben.59 Die durch die Familiennachzugsrichtlinie den Nationalstaaten verbleibenden Handlungsspielräume sind eher gering60, werden aber dennoch – wie noch zu zeigen sein wird – genutzt. Lange Zeit wenig erfolgreich waren hingegen Europäisierungsversuche im Bereich der Arbeitsmigration. Im Gegensatz zu den Bereichen Flucht und Asyl sowie Grenzsicherung, für die funktionale Vorteile einer Europäisierung sich relativ leicht erschließen (Größenvorteile), sprechen die Heterogenität der »Arbeitsmärkte der Mitgliedsstaaten, ihre Nachfragestrukturen und Dynamiken […] eher gegen eine Harmonisierung der Arbeitsmigrationspolitik«.61 Vor diesem Hintergrund wenig überraschend wurde die von der Europäischen Kommission als ambitionierter Ver|| 57 SVR, Einwanderungsgesellschaft 2010, S. 68. 58 SVR, Migrationsland 2011, S. 163. 59 Ebd., S. 103. 60 Christine Langenfeld/Sarah Mohsen, Die neue EG-Richtlinie zum Familiennachzug und ihre Einordnung in das Völkerrecht, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 23. 2003, H. 11/12, S. 398–404. 61 Bommes, Die Planung der Migration, S. 380.

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gemeinschaftungsversuch vorgelegte Richtlinie zum Zuzug von Hochqualifizierten in den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten im Rat stark eingeschränkt. In Deutschland ist die schließlich auf EU-Ebene verabschiedete Richtlinie erst verspätet im August 2012 umgesetzt worden. Die im Rahmen des Richtlinienumsetzungsgesetzes geschaffenen und unionsrechtlich vorgeschriebenen Möglichkeiten des Zuzugs von hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen nach Deutschland unterschieden sich nicht grundsätzlich von den zuvor geltenden Regelungen, allerdings wurden im Rahmen der Richtlinienumsetzung die seit Installierung des ZuwG bereits mehrfach liberalisierten Regelungen erneut liberalisiert und mit dem neuen § 18c AufenthG eine strukturell neue, unionsrechtlich nicht vorgegebene und hinsichtlich seiner Steuerungsphilosophie bis dato unbekannte Zuwanderungsmöglichkeit eingeführt.62 Trotz der im Vergleich zur Ursprungsvorlage eher geringen Regelungsreichweite ist mit der Hochqualifiziertenrichtlinie erstmals ein Segment des vormals weitgehend in der Regelungsprärogative der Nationalstaaten verbliebenen Bereichs der Arbeitsmigration europäisiert und damit vergemeinschaftet worden.

2.2 Europäisierung und Internationalisierung ›von unten‹: Migrations- und Integrationspolitik und mimetische Isomorphie Neben einer von der EU direkt angestoßenen europäischen Angleichung ›von oben‹ erweist sich im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik aber noch eine weitere und hier im Folgenden nicht ausschließlich für die EU, sondern vielleicht eher für die OECD als Raum beobachtbare Entwicklung als einflussreich für die im Zentrum stehende Beschreibung des Wandels Deutschlands von einem migrations- und integrationspolitischen Außenseiter zu einem Durchschnitts- beziehungsweise Standardland. Dabei lohnt es sich, den im Neoinstitutionalismus etablierten Begriff der Isomorphie einzuführen und als eine spezifische Variante mimetische Isomorphie als Hintergrundfolie des hier im Zentrum stehenden Wandels der deutschen Migrations- und Integrationspolitik zu erklären. Unter Isomorphie werden allgemein innerhalb eines organisationalen Feldes stattfindende institutionelle Angleichungsprozesse verstanden. Dabei werden mit ›erzwungener‹, ›mimetischer‹ und ›normativer‹ Isomorphie drei unterschiedliche ›Treiber‹ von Annäherung beziehungsweise Konvergenz definiert. Im Falle ›erzwungener Isomorphie‹ fordert und verursacht Druck einer übergeordneten Institution Anpassungsprozesse – ein Beispiel wären

|| 62 Dazu ausführlicher Holger Kolb/Julia Klausmann, Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede? Arbeitsmigrationssteuerung in Kanada und Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 7. 2013, S. 239–242.

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die mittlerweile europaweit und oft gegen den Willen der einzelnen Regierungen installierten Antidiskriminierungsgesetze. Phänomene normativer Isomorphie zeigen sich vor allem bei Professionalisierungsanstrengungen bestimmter Berufsgruppen.63 Mimetische Isomorphie umschreibt schließlich einen vor allem durch Ungewissheit und Unsicherheit fortschreitenden Prozess des ›institutionellen Kopierens‹.64 Innerhalb der EU besteht in diesem Zusammenhang mit der sogenannten ›Open Method of Coordination‹ zur Förderung und Unterstützung gemeinsamer Ziele und Leitlinien ein eigenes ›Soft Law‹-Instrument. Für das Politikfeld der Migrations- und Integrationspolitik lässt sich die Relevanz vor allem des mimetischen Mechanismus leicht zeigen. Öffentliche Probleme der Gestaltung und Legitimation von Migrations- und Integrationspolitik werden durch die Übernahme und das Kopieren von in anderen Ländern bereits etablierten institutionellen Designs gelöst. Dies lässt sich etwa an der europaweiten Einführung von Integrationskursen für Neuzuwanderer verdeutlichen, die zunächst in den Niederlanden als »Reaktion auf Folgeprobleme der in den 1980er Jahren aufgelegten ethnischen Minderheitenpolitik, die zu einem faktischen Ausschluss großer Teile der Migranten vom Arbeitsmarkt geführt hatte«65, etabliert und schließlich von weiteren wichtigen Einwanderungsländern Europas wie Deutschland und auch Frankreich übernommen wurden.66 Das niederländische Programm ist dabei als »Blaupause zur Konstruktion je eigener, in die etablierten Migrations- und Integrationsregime einpassbarer Varianten« und damit als Ausgangspunkt eines europaoder sogar OECD-weit beobachtbaren »model copying«67 zu sehen. Unmittelbare Folge sind Konvergenzprozesse im Bereich der politischen Gestaltung, die einen Beitrag zur Erklärung des in den letzten Jahren in Deutschland beschleunigten migrations- und integrationspolitischen Wandlungsprozesses leisten können. Sie sind allerdings nicht von der EU im Rahmen eines erfolgreichen Ausbaus ihrer Zuständigkeiten ausgelöst, sondern von den Staaten selbst zur Unsicherheitsabsorption und damit zur Bearbeitung der sich länderübergreifend ähnelnden Problemstellungen ergriffen worden. Einen ähnlichen als ›Europäisierung von unten‹ beschreibbaren Angleichungsprozess, beobachtet der SVR im Bereich des Familiennachzugs.68 Im Blick auf die

|| 63 Durch eine spezifische Personalauswahl innerhalb einzelner Organisationen werden dabei bestimmte Verhaltens- und Handlungsmuster sowie Überzeugungen und Einstellungen vereinheitlicht. 64 Vgl. dazu grundlegend Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, in: American Sociological Review, 48. 1983, S. 147–160. 65 Bommes, Integration durch Sprache, S. 69. 66 Michalowski, Integration als Staatsprogramm. 67 Bommes, Integration durch Sprache, S. 70. 68 SVR, Migrationsland 2011, S. 107–111.

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Relevanz eines Mechanismus ›institutionellen Kopierens‹ wird auf die wiederum in den Niederlanden angestoßene und daraufhin in Frankreich, Dänemark, Österreich, Großbritannien und Deutschland übernommene Pflicht, Sprachkenntnisse vor dem Familiennachzug nachzuweisen, Bezug genommen.69 Gerade weil zumindest in den europäischen Einwanderungsländern ein strukturell ähnlich gelagertes Problem besteht, dass sich über den Familiennachzug und unter Voraussetzung einer hohen Bildungshomogenität innerhalb der entsprechenden Partnerschaften Bildungsrückstände der im Ausland geborenen beziehungsweise der Zuwandererbevölkerung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung stabilisieren und reproduzieren können, wird die Übernahme von in anderen Ländern bereits praktizierten Lösungen zu einer politisch attraktiven Option. Denn durch die Bezugnahme auf die in anderen Ländern bereits etablierten politischen Lösungen lässt sich die Legitimität der im eigenen Land umgesetzten Steuerungsmaßnahmen sichern beziehungsweise erhöhen. Schließlich soll an dieser Stelle auf einen weiteren Angleichungsprozess nach dem Muster des beschriebenen ›model copying‹ hingewiesen werden, der auch die Einwanderungsländer außerhalb der EU betrifft: Papademetriou beschreibt eine in zahlreichen Einwanderungsländern feststellbare Diversifizierung der im internationalen Wettbewerb um hochqualifizierte Fachkräfte eingesetzten Anwerbeinstrumente als »Hybridisierung« der Einwanderungspolitik.70 Besonders anschaulich lässt sich dieser Angleichungsprozess am Beispiel Deutschlands und Kanadas darstellen. Sie gelten zwar, insbesondere was die Anwerbung von hochqualifizierten Fachkräften angeht, als Antagonisten per se71, sind sich allerdings aufgrund von Reformen der vergangenen Jahre hinsichtlich der Anwerbe- und Selektionsverfahren zunehmend ähnlicher geworden.72 Deutschland brach im Rahmen der Umsetzung der EU-Hochqualifiziertenrichtlinie mit dem über viele Jahre unangetasteten Dogma einer conditio sine qua non der Existenz eines Arbeitsvertrags und führte durch § 18c AufenthG ein einfaches und binär im Sinne von vorhanden/nicht vorhanden kodiertes Punktesystem ein. Damit wurde das ehemals einseitig arbeit-

|| 69 Sergio Carrera/Anja Wiesbrock, Civic Integration of Third Country Nationals. Nationalism versus Europeanisation in the Common EU Immigration Policy. CEPS Liberty and Security in Europe, Brüssel, Oktober 2009. 70 Demetrios Papademetriou/Madeleine Sumption, Punktesystem und arbeitgebergesteuerte Zuwanderung auf dem Prüfstand, in: Deutschland öffne dich!, hg.v.d. Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2012, S. 59–74; Demetrios Papademetriou/Will Somerville/Hiroyuki Tanaka, Hybrid ImmigrationSelection Systems. The Next Generation of Economic Migration Schemes, Washington, DC 2008. 71 Dietrich Thränhardt, Steps toward Universalism in Immigration Policies: Canada and Germany. RCIS Working Paper No. 2, Toronto 2014. 72 Vgl. dazu ausführlicher Holger Kolb, When Extremes Converge: German and Canadian Labor Migration Policy Compared, in: Comparative Migration Studies, 1. 2014, S. 229–247.

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geber- beziehungsweise arbeitsvertragsorientierte Steuerungssystem durch die (vorsichtige) Einführung humankapitalorientierter Elemente ergänzt.73 Für Kanada hingegen, den Prototypen eines humankapitalorientierten Steuerungsmodells, lässt sich in den letzten Jahren eine ähnliche, im Vergleich zu Deutschland allerdings spiegelverkehrte Entwicklung feststellen: Im kanadischen Einwanderungsrecht kam es ebenfalls zu einer Abkehr von einer Reinform der Steuerung. Das rein humankapitalorientiert ausgerichtete Punktesystem wurde durch die Vorschaltung einer ›Arranged Employment‹-Klausel ergänzt und das Punktesystem auf am kanadischen Arbeitsmarkt als besonders nachgefragt definierte Berufe beschränkt. Mit dieser Einführung von arbeitsvertrags- und sektorspezifischen Steuerungselementen kam es ebenfalls zu einer ›Hybridisierung‹ des Einwanderungsrechts.74 Dieser Prozess wurde durch das Anfang 2015 in Kraft gesetzte System ›Express Entry‹ noch einmal verstärkt. An dieser Stelle kann nicht auf die Details dieser umfassenden Reform, die alle vier Kanäle der permanenten Einwanderung nach Kanada umfassend neu regelt75, eingegangen werden. Ein klares Indiz für die Fortsetzung des bereits 2008 begonnen Prozesses einer zunehmenden Berücksichtigung arbeitsvertragsorientierter Steuerungselemente im kanadischen System der Arbeitsmigrationspolitik ist allerdings die starke Gewichtung von ›Arranged Employment‹ in dem im FSWP weiterhin als Steuerungsinstrument eingesetzten Punktesystem.76 Dieser zwischen Kanada und Deutschland – und damit zwei Ländern, die vor allem im Bereich der Arbeitsmigrationspolitik einen vermeintlichen Superlativ von Differenz darstellten – ablaufende und hier als Hybridisierung einwanderungspolitischer Steuerungsansätze beschriebene Konvergenzprozess verdeutlicht die Kraft der mimetischen Anpassung.

|| 73 Daniel Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der HochqualifiziertenRichtlinie der Europäischen Union (BT-Drs. 17/8682 v. 15.2.2012), Konstanz/Berlin 2012, S. 5. 74 Durch die Vorschaltung zweier Qualifikationsbedingungen zur Teilnahme am Punktesystem sollte dabei der Abbau des vor der Umstellung stetig gewachsenen ›backlogs‹ an Bewerbungen erreicht werden. 75 Im einzelnen sind dies das als institutionelles Rückgrat der kanadischen Regelungen anzusehende Federal Skilled Worker Program (FSWP), die ›Spezialprogramme‹ Federal Skilled Trades Program (FSTP) und Canadian Experience Class (CEC) sowie die den Provinzen bzw. Territorien offen stehenden Provinvial Nominee Programs (PNP). 76 600 von maximal 1.200 im Comprehensive Ranking System (CRS) titulierten Punktesystem erreichbaren Punkten erhalten Einwanderungsbewerber, die bereits einen Arbeitsvertrag mit einem kanadischen Arbeitgeber vorweisen können. Gegenüber Bewerbern ohne Arbeitsvertrag verfügen diese damit über einen »uneinholbaren Vorteil«; Holger Hinte/Ulf Rinne/Klaus F. Zimmermann, Punkte machen! Warum Deutschland ein aktives Auswahlsystem für ausländische Fachkräfte braucht (IZA Standpunkte 79), Bonn 2015, S. 16.

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3 Fazit: Einwanderungspolitik und Selbstselektion: einwanderungspolitische Herausforderungen Deutschlands nach Normalisierung und Europäisierung Deutschland hat sich institutionell in den letzten Jahren durch eine Angleichung seiner migrations- und integrationspolitischen Steuerungsinstrumente an jene seiner europäischen Nachbarn beziehungsweise anderer bedeutender Einwanderungsländer normalisiert. Ob und inwieweit die in den letzten Jahren sichtbar gewordene Veränderung in der Komposition des Zuzugs – von einer primär niedrigqualifizierten und vor allem über die Kanäle der Flucht- und Familienmigration erfolgenden Zuwanderung zu einer Zuwanderung von qualifizierten und hochqualifizierten Personen – ein Ergebnis der Normalisierung darstellt, muss und kann offen bleiben.77 Aufgrund international tendenziell immer ähnlicher werdender Selektionsund Attraktionsschemata bestehen die eigentlichen zuwanderungspolitischen Herausforderungen Deutschlands zukünftig gar nicht einmal in einer Reform des Zuwanderungsrechts, sondern – wie etwa auch Thym betont78 – vielmehr in der Verbesserung der ökonomischen, sozialpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Zuwanderung von Hochqualifizierten. Dieser Kontext wird unter dem Stichwort Selbstselektion79 diskutiert. Mit dem damit aufgerufenen Spannungsverhältnis zwischen ausgebauten Sozialstaaten beziehungsweise zu deren Finanzierung erforderlicher Steuern- und Abgabenbelastungen, die die Rendite auf das eingesetzte Humankapital vor allem der weltweit umworbenen hochqualifizierten Zuwanderern einzuschränken vermag, und einer potenziell unerwünschten negativen ›Magnetwirkung‹ auf diese hochqualifizierten Zuwanderer tut sich die politisch oft eher links stehende und Migration und Integration in der Regel als Probleme sozialer Ungleichheit beziehungsweise Verteilungsprobleme fassende Migrationsforschung80 aber schwer.

|| 77 Siehe dazu Andreas Ette/Stefan Rühl/Lenore Sauer, Die Entwicklung der Zuwanderung hochqualifizierter Drittstaatsangehöriger nach Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 32. 2012, H. 1/2, S. 14–20. 78 Thym, Stellungnahme. 79 Siehe dazu exemplarisch Yinon Cohen/Yitchak Haberfeld/Irena Kogan, Jüdische Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Ein natürliches Experiment zu Migrationsentscheidung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48. 2008, 185–201. 80 Michael Bommes, Migration and Migration Research in Germany, in: Ellie Vasta/Vasoodeven Vuddamalay (Hg.), International Migration and the Social Sciences. Confronting National Experiences in Australia, France and Germany, Basingstoke 2006, S. 143–221.

Die Autorinnen und Autoren Matthias Asche, Dr. phil. habil., geb. 1969, ist Apl. Professor für Neuere Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen, z.Zt. kommissarischer Vertreter des Lehrstuhls für Kulturgeschichte der Neuzeit an der Universität Potsdam. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur Migrationsgeschichte, zur vergleichenden Bildungs-, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Reformations- und Konfessionsgeschichte im Alten Reich und in Alteuropa, u.a. zur Geschichte des Ostseeraumes und alten deutschen Kulturraums im Osten Europas: Neusiedler im verheerten Land – Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006 (Habilitationsschrift); (Hg. zus. mit Michael Herrmann, Ulrike Ludwig und Anton Schindling), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008; (Hg. zus. mit Markus Denzel und Matthias Stickler), Religiöse und konfessionelle Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2006 und 2007), St. Katharinen 2009; (Hg. zus. mit Ulrich Niggemann), Das leere Land – Historische Narrative von Einwanderergesellschaften in diachroner und globaler Perspektive, Stuttgart 2015. Weitere Informationen: http://www.uni-tuebingen.de/?id=4388. Marcel Berlinghoff, Dr. phil., geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar und Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück sowie Ko-Koordinator des DFGNetzwerks ›Grundlagen der Flüchtlingsforschung‹. Zuletzt erschienen sind u.a.: Das Ende der ›Gastarbeit‹. Die Anwerbestopps in Westeuropa 1970–1974 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 27), Paderborn 2013; »Faux Touristes«? Tourism in European Migration Regimes in the Long Sixties, in: Comparativ, 24. 2014, H. 2, S. 88–99; Zwischen Einwanderung und Zwangsrotation. Europäische Migrationspolitik zum Ende des ›Booms‹ (1972–1975), in: Themenportal Europäische Geschichte (2015), URL: http://www.europa.clio-online.de/2015/Article=730. Weitere Informationen: http://www.imis.uni-osnabrueck.de/marcel_berlinghoff/person/profil.html. Barbara Dietz, Dr. phil., geb. 1949, ist Associated Researcher am Institut für Ostund Südosteuropaforschung in Regensburg und Research Fellow am IZA (Institute for the Study of Labor) in Bonn. Autorin von Aufsätzen zur Migrationspolitik, zur Ost-West-Migration und zur Integration von Immigranten, zuletzt u.a.: (zus. mit Alexander M. Danzer), Labour Migration from Eastern Europe and the EU’s Quest for Talents, in: Journal of Common Market Studies, 52. 2014, H. 2, S. 183–199; (zus. mit Alexander M. Danzer, Kseniia Gatskova und Achim Schmillen), Showing off to the

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New Neighbors? Socio-economic Status, Income and Consumption Patterns of Internal Migrants, in: Journal of Comparative Economics, 42. 2014, H. 1, S. 230–245; Destination Germany: Patterns, Demographic Consequences and Policy Implications of East-West Migration, in: Clément Benelbaz/Hugo Flavier/Olga Gille-Belova/ Moya Jones (Hg.), Les Migrations Intra-Européennes à l’Aube du XXI siècle, Paris 2014, S. 39–55; Fremde Deutsche. Zuwanderung und Integration von (Spät)Aussiedlern, in: Mathias Beer (Hg.), Baden-Württemberg – Eine Zuwanderungsgeschichte, Stuttgart 2014, S. 172–195; Aussiedler – Die fremden Deutschen, in: Begleitpublikation zur Ausstellung ›Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland‹, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2014, S. 114–125. Weitere Informationen: http://www.iza.org/en/webcontent/personnel/photos/index_html?key=90 Andreas Fahrmeir, Dr. phil. habil., geb. 1969, ist Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt 19. Jahrhundert) an der Goethe-Universität Frankfurt. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur Geschichte von Migration und Migrationspolitik, zur Geschichte von Eliten sowie zur allgemeinen Geschichte vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, zuletzt u.a.: Citizenship: The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2008; Revolutionen und Reformen: Europäische Geschichte 1789–1851, München 2010; Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815–1850, München 2012; (Hg. zus. mit Annette Imhause), Die Vielfalt normativer Ordnungen. Konflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive, Frankfurt a.M. 2013; (Hg. zus. mit Olivier Dard, Jens-Ivo Engels und Frédéric Monier), Scandales et corruption à l‘époque contemporaine, Paris 2014; (Hg. zus. mit Olivier Dard, Jens-Ivo Engels und Frédéric Monier), Krumme Touren in der Wirtschaft: Zur Geschichte ethischen Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015. Weitere Informationen: http://www.geschichte.uni-frankfurt.de/43147683/Fahrmeir K. Erik Franzen, Dr. phil., geb. 1964, ist Projektmitarbeiter am Collegium Carolinum in München und freier Kulturjournalist. Autor und Herausgeber von Büchern und Beiträgen vor allem zur Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen im 20. Jahrhundert, zuletzt u.a.: (Hg. zus. mit Peter Haslinger und Martin Schulze Wessel), Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989, München 2008; Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974, München 2010; (Hg. zus. mit Martin Schulze Wessel), Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012; Im Schatten von ›München‹. Edvard Beneš in der offiziellen sudetendeutschen Publizistik der 1950er bis 1970er Jahre, in: Ota Konrád/René Küpper (Hg.), Edvard Beneš: Vorbild und Feindbild. Politische, historiographische und mediale Deutungen, München 2013, S. 261–268. Weitere Informationen: http://www.collegium-caro linum.de/institut/mitarbeiterinnen/projektmitarbeiterinnen/dr-k-erik-franzen.html

Die Autorinnen und Autoren | 1043

Karl Härter, Dr. phil. habil., geb. 1956, ist Forschungsgruppenleiter am Max-PlanckInstitut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M. und Apl. Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Darmstadt. Er ist Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur frühneuzeitlichen Verfassungs-, Policeyund Kriminalitätsgeschichte, zuletzt: (Hg. mit Beatrice de Graaf), Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012; (Hg. zus. mit Angela De Benedictis), Revolts and Political Crime from the 12th to the 19th Century. Legal Responses and Juridical-Political Discourses, Frankfurt a.M. 2013; Security and Cross-border Political Crime: The Formation of Transnational Security Regimes in 18th and 19th Century Europe, in: Historical Social Research, 38. 2013, S. 96–106; Prekäre Lebenswelten vagierender Randgruppen im frühneuzeitlichen Alten Reich. Überlebenspraktiken, obrigkeitliche Sicherheitspolitik und strafrechtliche Verfolgung, in: Gerhard Ammerer/Gerhard Fritz (Hg.), Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Zur Lebenswelt vagierender Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Affalterbach 2013, S. 21–38; Political Crime in Early Modern Europe: Assassination, Legal Responses and Popular Print Media, in: European Journal of Criminology, 11. 2014, S. 142–168; (Hg. mit Michael Stolleis), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, 11 Bde., Frankfurt a.M. 1996–2015. Weitere Informationen: http://www.rg.mpg.de/607404/researcher_detail?c=477682&employee_id=37595 Bettina Hitzer, Dr. phil., Leiterin einer Minerva-Forschungsgruppe am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung (Berlin), Autorin und Herausgeberin von Büchern und Aufsätzen zur Migrations-, Religions-, Emotions- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, u.a.: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Köln 2006; (Hg. zus. mit Thomas Welskopp), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010; (Hg. zus. mit Michael Häusler), Zwischen Tanzboden und Bordell. Lebensbilder Berliner Prostituierter aus dem Jahr 1869, Berlin 2010; (Hg. zus. mit Joachim Schlör), God in the City. Religious Topographies in the Age of Urbanization (Themenheft Journal of Urban History, 37. 2011, H. 6); (zus. mit Ute Frevert u.a.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011; Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. Forschungsbericht, in: http://hsozkult.geschich te.hu-berlin.de/forum/2011-11-001.pdf (veröffentlicht: 23.11.2011); (Hg. zus. mit Pascal Eitler und Monique Scheer), Feeling and Faith – Religious Emotions in German History (Themenheft German History, 32. 2014, H. 3); (zus. mit Ute Frevert u.a.), Learning How to Feel. Children’s Literature and Emotional Socialization, 1870–1970, Oxford 2014; (Hg. zus. mit Otniel Dror, Anja Laukötter und Pilar Leon-Sanz), History of Science and the Emotions (Themenheft Osiris, 31. [2016]). Weitere Informationen: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/mitarbeiter/bettina-hitzer

1044 | Die Autorinnen und Autoren

Holger Kolb, Dr. phil., geb. 1977, ist Leiter des Arbeitsbereichs Jahresgutachten in der Geschäftsstelle des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Autor von Aufsätzen zur Arbeitsmigrationspolitik und zur Migrationspolitik im internationalen Vergleich, zuletzt u.a.: Vom ›restriktiven Außenseiter‹ zum ›liberalen Musterland‹ – Der deutsche Politikwechsel in der Arbeitsmigrationspolitik, in: Friedbert W. Rüb (Hg.), Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik (Zeitschrift für Politik, Sonderbd. 6), Baden-Baden 2014, S. 71–91; When Extremes Converge – German and Canadian Labor Migration Policy Compared, in: Comparative Migration Studies, 2. 2014, H. 1, S, 57–75; (zus. mit. Simon Fellmer), Vom ›Bremser‹ zum ›Heizer‹? Deutschlands europäische Arbeitsmigrationspolitik, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 35. 2015, H. 3, S. 105–108. Markus Leniger, Dr. phil., geb. 1968, Studienleiter für den Fachbereich Geschichte und Politik sowie für die Sparte Film an der Katholischen Akademie Schwerte. Mitglied der Kommission für kirchliche Zeitgeschichte im Erzbistum Paderborn, der Katholischen Filmkommission für Deutschland und des Arbeitskreises Filmarchivierung Nordrhein-Westfalen. Publikationen (Auswahl): »Heim im Reich?« – Das Amt XI und die Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle, 1939–1945, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 17. 2001, S. 81–109; Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und Umsiedlungspolitik 1933–1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese, Berlin 2006; Um-Siedlungen – Anspruch und Scheitern der SS-Siedlungspolitik, in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 273–295; Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und SS-Umsiedlungspolitik. Zur Vor-Geschichte von Flucht und Vertreibung, in: Thomas Flammer/Hans-Jürgen Karp (Hg.), Maximilian Kaller. Bischof der wandernden Kirche. Flucht und Vertreibung – Integration – Brückenbau, Münster 2012, S. 105–127; Antisemit und Bürokrat. Adolf Eichmann im Spiegel der aktuellen Zeitgeschichtsforschung, in: Christoph Wessely/Dietmar Regensburger (Hg.), Von Ödipus zu Eichmann. Kulturanthropologische Voraussetzungen von Gewalt, Marburg 2015, S. 123–137. Weitere Informationen: http://www.akademie-schwerte.de/personen/dr-phil-markus-leniger Monika Mattes, Dr. phil., geb. 1965, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Sie hat zur Zeitgeschichte von Migration, Bildung, Familie und Geschlechterbeziehungen publiziert. Zu ihren Monographien gehören: »Gastarbeiterinnen« in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht, Frankfurt a.M. 2005; Das Projekt Ganztagsschule. Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland 1955– 1982, Köln 2015; zuletzt veröffentlichte Aufsätze sind u.a.: Reformen und Krisen. Ganztagsschule und Frauenerwerbstätigkeit in der Bundesrepublik, in: Julia Paulus

Die Autorinnen und Autoren | 1045

u.a. (Hg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2012, S. 179–201; Travail, immigration et genre: Les travailleuses immigrées en République fédérale d’Allemagne (1960–1973), in: Anne Saint Saveur-Henn (Hg.), Migrations, intégrations et identités multiples. Le cas de l’Allemagne au XXe siècle, Paris 2012, S. 205–215. Weitere Informationen: http://www.dipf.de/de/ueber-uns/personen/mattes Ulrich Niggemann, Dr. phil. habil., geb. 1974, ist Akademischer Rat auf Zeit am Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur Migrationsgeschichte, zur Geschichte konfessioneller Konflikte und zu Erinnerungskulturen der Frühen Neuzeit, u.a.: Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681–1697), Köln 2008; Hugenotten, Köln 2011; (Hg. zus. mit Kai Ruffing), Antike als Modell in Nordamerika? Konstruktion und Verargumentierung, 1763–1809, München 2011; Craft Guilds and Immigration: Huguenots in German and English Cities, in: Bert de Munck/Anne Winter (Hg.), Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Farnham 2012, S. 45–60; Herrschermemoria als Norm und Symbol: Zum Umgang mit der Erinnerung an Wilhelm III. im England des frühen 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 39. 2012, S. 1–36; (Hg. zus. mit Christoph Kampmann), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation, Köln 2013; Konfessionelle Dissidenten als Kriegswaffe. Das Beispiel der hugenottischen Galeerensträflinge im 17. und 18. Jahrhundert, in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien, Paderborn 2014, S. 93–106. Weitere Informationen: http://www.uni-marburg.de/fb06/fnz/personal/niggemann Jochen Oltmer, Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur Geschichte von Migration und Migrationspolitik vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, zuletzt u.a.: (Hg. zus. mit Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer und Leo Lucassen), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010 (engl. Ausgabe ›The Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe: From the Seventeenth Century to the Present‹, Cambridge: Cambridge University Press 2011, 2. Ausg. 2013); Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86), München 2010 (2. Aufl. 2013); (Hg. zus. mit Axel Kreienbrink und Carlos Sanz Diaz, Das ›Gastarbeiter‹-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 104), München 2012; (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹ (Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹. Studien zu Konstruktion, gesellschaftli-

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cher Wirkungsmacht und Erinnerung, Bd. 2), Paderborn 2012; Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012 (Sonderausg. Dresden 2012, Bonn 2013). Weitere Informationen: http://www.imis.uni-osnabrueck.de/oltmer_jochen/zur_person/profil.html Jannis Panagiotidis, PhD, geb. 1981, ist Juniorprofessor für Migration und Integration der Russlanddeutschen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Promotion 2012 am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz mit einer Vergleichsstudie ko-ethnischer Einwanderungsregime in Deutschland und Israel. Publikationen zu diesem Themenfeld, u.a.: Kein fairer Tausch. Zur Bedeutung der Reform der Aussiedlerpolitik im Kontext des Asylkompromisses, in: Stefan Luft/Peter Schimany (Hg.), 20 Jahre Asylkompromiss. Bilanz und Perspektiven, Bielefeld 2014, S. 105–126; Germanizing Germans: Coethnic Immigration and Name Change in West Germany, 1953–93, in: Journal of Contemporary History (online first, 2015); A Policy for the Future: German-Jewish Remigrants, Their Children, and the Politics of Israeli Nation-Building, in: Leo Baeck Institute Year Book (advance access, 2015); What is the German’s Fatherland? The GDR and the Resettlement of Ethnic Germans from Socialist Countries (1949–1989), in: East European Politics & Societies and Cultures, 29. 2015, S. 120–146. Weitere Informationen: https://www.imis.uni-osnabrueck.de/panagiotidis_jannis/zur_ person/profil_und_kontakt.html Uwe Plaß ist Doktorand am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Patrice G. Poutrus, Dr. phil., Lise-Meitner-Fellow des FWF am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Autor von Beiträgen zur Geschichte von Migration und Asyl im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges und zur Migration und Xenophobie in der DDR. Zuletzt: Spannungen und Dynamiken. Asylgewährung in der Bundesrepublik Deutschland von den frühen 1950er bis zur Mitte der 1970er Jahre, in: Gernot Heiss/Maria Mesner (Hg.), Asyl. Das lange 20. Jahrhundert, Wien 2012, S. 126–145; Asylum in Postwar Germany: Refugee Admission Policies and Their Practical Implementation in the Federal Republic and the GDR Between the Late 1940s and the Mid-1970s, in: Journal of Contemporary History, 49. 2014, H. 1, S. 115– 133; Öffentlichkeit und Asylpolitik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges, in: Henrik Bispinck/Katharina Hochmuth (Hg.), Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung, Berlin 2014, S. 92–114; Rechtsradikale im antifaschistischen Staat?, in: Museumsverband des Landes Brandenburg e.V. (Hg.), Entnazifizierte Zone? Zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen, Bielefeld 2015, S. 209–219. Weitere

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Informationen: http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/poutrus-patrice/ sowie https://univie.academia.edu/PatriceGPoutrus Christoph Rass, Dr. rer. pol., geb. 1969, ist Professor für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung an der Universität Osnabrück und Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Zu seinen Arbeitsgebieten zählen die Historische Migrationsforschung sowie die Sozial- und Kulturgeschichte von Krieg und Militär. Ausgewählte Veröffentlichungen: Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa 1919–1974 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 19), Paderborn 2010; Temporary Labour Migration and State-Run Recruitment of Foreign Workers in Europe, 1919–1975: A New Migration Regime?, in: International Review of Social History, 57. 2012, S. 191–224; (zus. mit Lars Amenda), Fremdarbeiter, Ostarbeiter, Gastarbeiter. Semantiken der Ungleichheit und ihre Praxis im »Ausländereinsatz«, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 28. 2012, S. 90– 116; Staatsverträge und »Gastarbeiter« im Migrationsregime des »Dritten Reiches«. Motive, Intentionen und Kontinuitäten, in: Jochen Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, Paderborn 2012, S. 159–184; Unfreie Arbeit und globale Mobilität vom 19. ins 21. Jahrhundert, in: Joachim Rückert (Hg.), Arbeit und Recht seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global, Köln 2014, S. 229–257; (Hg. zus. mit Melanie Ulz), Migration und Film (IMISBeiträge, H. 46), Osnabrück 2015; (Hg.), Militärische Migration vom Altertum bis zur Gegenwart (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 30), Paderborn [2016]. Ausführliche Informationen: www.christoph-rass.de. Christiane Reinecke, Dr. phil., geb. 1978, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig. Zu ihren Veröffentlichungen aus dem Bereich der europäischvergleichenden Migrations-, Stadt- und Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zählen u.a.: Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010; (Hg. zus. mit Agnes Arndt und Joachim C. Häberlen), Vergleichen, Verflechten, Verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011; (Hg. zus. mit Thomas Mergel), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012; (zus. mit The Population Knowledge Network), Twentieth Century Population Thinking. A Critical Reader of Primary Sources, London [2015]. Detlef Schmiechen-Ackermann, Dr. phil. habil., geb. 1955, ist Direktor des Instituts für Didaktik der Demokratie und apl. Professor am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zum Nationalsozialismus, zur Geschichte der DDR und zur vergleichenden Diktatur-

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forschung sowie zu weiteren Aspekten der Politik-, Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt u.a.: Diktaturen im Vergleich (Reihe ›Kontroversen um die Geschichte‹, Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 3. Aufl. Darmstadt 2010; Die nationalsozialistische Herrschaft im »völkischen Kernland« des »Dritten Reiches«. Politik und Gesellschaft in den NS-Gauen Osthannover, Südhannover-Braunschweig und Weser-Ems 1933–1945, in: Gerd Steinwascher u.a. (Hg.), Geschichte Niedersachsens, Fünfter Band: Von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung, Hannover 2010, S. 199–452; (Hg. zus. mit Thomas Schwark u.a.), Grenzziehungen – Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945–1990, Darmstadt 2011; Milieus, Political Culture and Regional Traditions in Lower Saxony in Comparative Perspective, in: Claus-Christian W. Szejnmann/Maiken Umbach (Hg.), Heimat, Region, and Empire. Spatial Identities under National Socialism, Houndmills 2012, S. 43–56; (Hg.), ›Volksgemeinschaft‹: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ›Dritten Reich‹?, Paderborn 2012; Diktaturenvergleich, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 09.05.2014; (Hg. zus. mit Hans Otte und Wolfgang Brandes), Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945, Göttingen 2014; Social Control and the Making of Volksgemeinschaft, in: Bernhard Gotto/Martina Steber (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, S. 240–253; (zus. mit Susanne Döscher-Gebauer und Hans-Dieter Schmid), Linkssozialistischer Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur in Hannover, Hannover 2015. Weitere Informationen: http://www.hist.uni-hannover.de/detlef_schmiechen_ackermann.html Alexander Schunka, Dr. phil. habil., geb. 1972, ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher sowie Verfasser zahlreicher Aufsätze zur frühneuzeitlichen Migrations- und Mobilitätsgeschichte sowie zur Religions- und Kulturgeschichte Europas in der Vormoderne, u.a.: Gäste, die bleiben, Hamburg 2006; (Hg. zus. mit Eckart Olshausen), Migrationserfahrungen – Migrationsstrukturen, Stuttgart 2010; (Hg. zus. mit Markus Friedrich), Orientbegegnungen deutscher Protestanten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2012; (Hg. zus. mit Jason Coy und Jared Poley), Migrations in the German Lands, New York [2016]; Monographie zum Thema ›Von der Irenik zur Anglophilie. Großbritannien in der Kultur deutscher Protestanten 1688–1740‹ in Druckvorbereitung. Weitere Informationen: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/arbeitsbereiche/ab_schunka/mitarbeiter /leitung/schunka.html Mark Spoerer, Dr. phil., geb. 1963, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Regensburg. Publiziert zur deutschen und europäischen Wirtschafts-, Unternehmens- und Sozialgeschichte des 19. und

Die Autorinnen und Autoren | 1049

20. Jahrhunderts, z.B.: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart 2001; Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb, Berlin 2004; (zus. mit Jochen Streb), Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, München 2013. Weitere Informationen: http://www-wisoge.ur.de/mitarbeiter/mark-spoerer/ Jan Philipp Sternberg, Dr. phil., geb. 1974, ist Korrespondent im Hauptstadtbüro der Mediengruppe Madsack. Promotion 2010 am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück zur deutschen Auswanderungsgeschichte nach 1945, erschienen als: Auswanderungsland Bundesrepublik. Denkmuster und Debatten in Politik und Medien 1945–2010 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 26), Paderborn 2012. Jens Thiel, Dr. phil., geb. 1966, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen zur Geschichte wissenschaftlicher Institutionen, zur politischen Kulturgeschichte sowie zur Geschichte von Zwangsarbeit, Zwangsmigration und Gewalt im 20. Jahrhundert, u.a. »Menschenbassin Belgien«. Deportation, Zwangsarbeit und Anwerbung im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; (Hg. zus. mit Matthias Berg und Peter Th. Walther), Feder und Schwert. Militär und Wissenschaft – Wissenschaftler und Krieg, Stuttgart 2009; Polnische und belgische Zwangsarbeiter in Deutschland im Ersten Weltkrieg, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010, S. 864–867; (Hg. zus. mit Christoph Roolf), Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Texte und Quellen in Auswahl, Stuttgart/ Leipzig 2013; (Hg. zus. mit Christoph Jahr), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013; (zus. mit Christian Westerhoff), Forced Labour, in: Ute Daniel u.a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, 2014-10-08, URL: http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article /Forced_Labour; DOI: 10.15463/ie1418.10380 (Last modified: 10.05.2014), Berlin 2014. Frank Wolff, Dr. phil., geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien / Neueste Geschichte) und im akademischen Jahr 2015/16 Max Kade Distinguished Visiting Professor in German Studies an der Notre Dame University, IN, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Migrationsforschung und Migrationsregime, jüdischer Geschichte und deutsch-deutschen Beziehungen mit besonderem Interesse an Praxisgeschichte, Verflechtungsgeschichte und Bezügen zwischen Geschichte und Soziologie. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitationsschrift unter dem Titel: Die Mauergesellschaft. Die Gesellschaftsgeschichte der deutschdeutschen Migration 1961–1989. Neuere Publikationen umfassen u.a.: Eastern

1050 | Die Autorinnen und Autoren

Europe Abroad. Exploring Actor-Network in Transnational Movements, in: International Review of Social History, 57. 2012, H. 2, S. 229–255; The Home that Never Was: Rethinking Space and Memory in Late Nineteenth and Twentieth-Century Jewish History, in: Historical Social Research, 38. 2013, H. 3, S. 197–215; Global Walls and Global Movement: New Destinations in Jewish Migration, 1918–1939, in: East European Jewish Affairs, 44. 2014, H. 3, S. 187–204; Neue Welten in der Neuen Welt: Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes 1897–1947 (Industrielle Welt: Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 86), Köln/Weimar/Wien 2014. Weitere Informationen: http://www.imis.uni-osnabrueck.de/en/wolff_frank/zur_person/profil.html

Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte Aachen 137, 183, 239, 338, 549 Afrika 113, 114, 127, 319, 625f., 685, 865, 890, 935, 982 Albanien 673, 1005 Algerien 880f., 984, 987f. Altengrabow 475 Altlandsberg 184, 206 Altmark 198 Altona 137 Amerika 48, 58, 98f., 100, 112, 147, 237, 301, 343, 348, 459, 686, 781, 789, 868, 971, 1011, Nordamerika 14, 99, 112, 127, 151– 153, 156, 298, 325, 460, 744, 759, Mittelamerika 305, Südamerika/Lateinamerika 347, 485, 492, 744, 865, 982 Amersfoort 664 Amsterdam 114, 585, 1018, 1034 Angola 984, 989 Anhalt 199 Anhalt-Dessau 264, 278 Anhalt-Köthen 278 Ankara 592, 827, 953, 963 Ansbach 889f. Arabische Länder 849, 881, 941, 982 Argentinien 348, 499, 744, 753 Arguin 113 Armenien 462, 904, 1003, 1005 Aserbaidschan 1003, 1005 Asien 16, 626, 826, 865, 982, Ostasien 981, Südostasien 1006, Zentralasien 493, 974, Westasien 980 Auerstedt 252, 280 Augsburg 49, 55, 59, 127, 130–133, 144, 153, 156, 164, 166 Auschwitz 587, 616, 622–624, 652, 683f. Australien 150, 343, 347, 485, 741–744, 746f., 753, 757, 759–763, 765f., 769, 953 Bad Karlshafen 212 Baden 224, 229f., 258, 289, 291, 294, 307, 322, 324, 330, 335, 465, 667, 916, Baden-

Württemberg 818, 820, 824, 836–838, 909, 954, Württemberg-Baden 727f. Baden-Baden 248 Baden-Durlach 199, 213 Baiersdorf 211 Balkanregion/-staaten 459, 681, 1005, 1016f. Baltikum/Baltische Staaten 45, 402, 412, 416, 674–702, 715, 974, 976 Banat 201 Bärenthal 145f., 162 Batschka 201 Bayern 73, 93, 202, 227, 229f., 239, 248–250, 258, 264, 267, 276, 285, 289, 297f., 314, 319, 322, 324, 331, 368, 378f., 408, 410, 442, 450, 457, 619, 727–729, 731, 736, 784, 786, 805, 818, 834, 836, 837f., 850, 862, 876, 880, 884f., 887–889, 923, 940, 946 Bayreuth 234 Belgien 236, 241, 334, 338, 353, 371, 389, 399, 401f., 405–411, 420, 442, 455, 464, 556, 582, 587, 626, 648f., 653, 664–667, 670, 753, 876, 960, 969, 1028 Belgrad 525f., 835, 905f., 910, 922 Belzec 616 Benelux-Staaten 239, 343, 664, 668, 964 Berchtesgaden 145, 155, 162, 191 Berg 248, 258 Berlin 8, 128, 152, 161, 164, 168, 180–191, 208, 213f., 226, 229, 240, 264, 267, 271, 288, 305, 328, 332, 351, 365, 377f., 422, 460, 472, 486, 496, 546, 558, 581, 591, 613f., 619, 620, 625, 661, 697, 715, 721, 745, 749, 776–782, 787f., 792–799, 806, 870, 948, 953, 969, 972f., 981, 1006, 1024f. Bern 198 Bernburg an der Saale 630f. Bessarabien 674 Białystok 623, 658 Billigheim 184

|| erstellt von Stefanie Hamm, Kristina Jäger und Svenja Kück

1052 | Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte

Blagorodovac 912 Böhmen 15, 95, 105, 118, 122, 125f., 128, 130, 133, 139–141, 144, 147, 157, 161, 163–165, 168, 184, 191, 195, 200, 204, 211, 214, 615f., 623, 655, 901 Bonn 591, 756, 758, 762, 766, 773, 823, 875 Bosnien 101 Bosnien und Herzegowina 1005, 1008, 1011 Brandenburg 110, 113, 146, 148f., 178–180, 181f., 184, 186, 190, 194, 195, 204, 206, 213, 216, 255, 378, 452, 474, 511f., 709, 722 Brandenburg an der Havel 630 Brandenburg-Ansbach 149, 186f., 193, 196, 198 Brandenburg-Bayreuth 186f., 193, 199, 206, 209, 211 Brasilien 348, 499, 744 Bratislava/Preßburg 528 Braunschweig 229, 278, 327, 368 Braunschweig-Lüneburg 101, 186, 192, 195, 249 Breda 862 Bremen 137, 236, 262, 291, 310f., 313, 321f., 327, 337, 349, 351, 353, 355, 379f., 743, 754, 756f. Bremerhaven 348, 743 Breslau 147, 377, 521, 613 Brest-Litowsk 423 Brieg 147 Britische Kanalinseln 644 Brno/Brünn 528 Brüssel 239, 587, 667, 936, 959, 1033f. Buchenwald 633, 636 Budapest 585, 684 Büdingen 192 Bukowina 709 Bulgarien 15, 464, 652f., 671, 673, 685, 868, 1003f., 1008, 1011, 1014f. Burgund 699 Casalattico 15 Caserta 15 Celle 101, 433 Chatham-Inseln 305 Chełmno 616, 623 Chemnitz 269 Chile 766, 870f., 879, 886 China 8, 361, 401, 459, 867, 989

Chorin 179 Ciechanów 919 Coburg 206 Cottbus 452, 986 Dachau 633 Dalmatien 102 Dänemark 3, 98, 113, 166, 204, 211, 305, 338, 388, 463, 582, 588, 655, 663, 757, 923, 1038 Danzig 168, 455, 658, 701 Danzig-Westpreußen 707, 713, 919 Darmstadt 330 Defereggental 155, 162, 189 Den Haag 164, 649, 1018 Dobrudscha 701 Dorotheenstadt 213 Dortmund 840 Dresden 161, 168, 214, 240, 285, 327, 619, 869, 986 Dublin 1028, 1035 Dürrnberg 155, 160, 189 Düsseldorf 338, 389 Działdowo 919 Eichenhain 706 Eisenach 286 Elsass, Elsass-Lothringen 289, 319, 329, 337– 339, 463–468, 472, 667 Emden 113, 136f., 142, 166, 183 Emsland 9, 203, 393 Erlangen 195, 208, 211f., 214, 591 Essen 466f. Estland 428, 432, 509, 677, 705, 710 Eupen-Malmedy 463 Eydtkuhnen 452 Fehrbellin 179 Finnland 96, 432, 459, 509, 653, 674, 923 Fontainebleau 118, 149 Franeker 166 Franken 187, 249, 861, 887 Frankenthal 137, 167, 183 Frankfurt am Main 49, 136f., 161, 166f., 174, 183, 187, 194, 210, 230, 235, 250, 285, 307, 309, 319, 322, 337, 591, 594, 613, 884, 915, 948 Frankfurt/Oder 152, 472, 474, 479, 494, 986

Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte | 1053

Frankreich 15, 19, 49, 78f., 84f., 92, 97–99, 101, 103, 105, 122, 127, 137, 149, 151, 154, 164, 166, 168, 173f., 181, 183–186, 188, 193–195, 200, 206, 208, 211, 216, 224f., 230, 236f., 239, 241, 247, 262, 266, 319, 324, 334, 336–338, 353, 371, 390, 392, 420f., 423, 442, 455, 459f., 462f., 467, 556, 582–584, 586, 588, 623–626, 653, 664–670, 672, 674, 685, 721, 744, 749f., 753, 825, 855, 869, 881, 931, 937, 939, 943, 946f., 953f., 963f., 969, 1037f., Nordfrankreich 239, 389, 402, 405, 410f., Ostfrankreich 224 Freiburg i.Br. 465f. Freudenstadt 211 Friaul 671 Friedland (Niedersachsen) 903 Friedrichsfeld 186 Friedrichstadt (an der Eider) 192, 210, 213 Friesland 198 Frosinone 15 Galizien 346, 352, 364, 376, 379f., 485f., 657, 701, 915, Ostgalizien 658, 676 Genf 134f., 161, 166, 460, 658, 669, 686, 758, 764, 859, 862, 873, 877, 883, 1006 Georgia 156, 164, 191 Georgien 1003, 1005 Ghana 114 Gießen 786 Glatz 147 Glogau 147 Glückstadt 137, 211 Görlitz 724, 977 Görz 671 Gotha 285, 330 Göttingen 191, 610 Gramzow 179 Graubünden 154 Greetsiel 113 Griechenland 200, 421, 672f., 685, 693, 815, 817, 820, 822f., 827, 830, 832f., 844, 851, 866–870, 904, 947f., 953, 1014 Groningen 665 Großbritannien/England 3, 19, 22, 49, 98– 100, 105, 136, 151f., 154, 162–167, 185, 187, 191, 204, 224–226, 230, 232f., 235–239, 252, 262, 266, 305, 334, 343, 420f., 423, 432, 441f., 455, 583f., 588, 591, 593f., 624,

673, 685f., 734, 742, 744, 855, 876, 969, 1014, 1038 Großzimmern 304 Grüneberg (›Neuholland‹) 206 Grüssau 147 Guineaküste 113 Gumbinnen 200 Hadamar 630 Halle 114, 127, 152, 156, 162, 164, 195, 208 Hambach 442 Hamburg 8, 49, 113, 137, 161, 187, 261f., 291, 310f., 321f., 325, 327, 337, 348–351, 353, 355, 558, 613, 755, 800, 824, 874 Hameln 182, 191 Hammerstein 474, 499 Hanau 210 Hannover 162, 191, 199, 203, 229, 234, 258, 278, 291f., 298–304, 311–313, 322, 425, 429, 433f., 603 Hannoversch Münden 191 Harbin 459 Hartheim 630f. Hassenberg 206 Havelland 179 Heidelberg 591, 594 Helmstedt 114 Helsinki 799, 802, 804 Herborn 166 Hessen 99f., 154, 190, 234, 240, 249, 278, 294, 301, 319, 328, 727f., 820, 946 Hessen-Darmstadt 188, 199, 229f., 234, 243, 258, 321–324, 330, 337, 368 Hessen-Homburg 240, 322 Hessen-Kassel 98f., 183, 187, 190, 192–194, 199, 206f., 209 Hollywood 585 Holstein 199, 211, 240, 321 Hoyerswerda 725 Hultschiner Ländchen 463 Iggelbach 184 Indien 19, 685, 1015 Insterburg 200 Irland 15, 152, 1014 Isère 15 Israel 159, 742, 744, 904, 914, 917, 922, 941, 971, 1007, 1023f. Istanbul 592, 824f.

1054 | Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte

Istrien 671 Italien 15f., 49, 92, 104f., 168, 173, 224, 336, 347f., 356, 358, 389, 401f., 459, 509f., 553, 556, 587, 652, 667, 671–673, 679–683, 698, 743f., 746, 752f., 815–821, 823, 827, 831f., 836, 848f., 851, 923, 936f., 947, 952, 963, 1014 Jalta 733 Japan 16, 732 Jauer 147 Jena 252, 280, 810 Johanngeorgenstadt 141, 211 Jugoslawien 41, 459, 463, 509f., 524–528, 533, 555f., 644, 671–673, 682, 815, 822, 828–830, 832–835, 849f., 867, 882f., 887, 895, 897, 904–906, 909–913, 915, 922f., 929, 947, 953, 1003, 1005, 1011, 1016 Jülich 248, 549 Jungferninseln 113 Kalifornien 305 Kanada 112, 343, 347, 485, 492, 499, 741– 747, 753, 757, 760, 770, 953, 1038f. Karibik 113 Karl-Marx-Stadt 987 Karlsruhe 213f. 619 Kärnten 157, 196, 671, 899 Karpatho-Ukraine 656, 682 Kasachstan 917, 1001 Kassel 99f. 182, 207f., 212 Katalonien 869 Kaukasus-Staaten/-Region 493, 1003, 1005 Kaunas 615 Kehl 465 Kiel 594, 875 Kleve 137, 863 Koblenz 756 Köln 134, 137, 213, 239, 564, 613, 756, 763, 845, 944 Königsberg 377, 593 Konstanz 330 Köpenick 328 Korea 746f. 757, 785, 794, 826 Korosten 706 Kosovo 1005, 1015 Krain 899 Krakau 613, 658, 661 Krefeld 948

Krim 699 Kroatien 102, 525, 652, 671f., 882, 911f., 1008, 1011 Kuba 984, 988 Kurland 389 Kurmark 192, 204, 248, 254, 280 Laibach 671 Lamsdorf 478 Lappland 96 Lauenburg 520 Lauenstein 191 Lausanne 462 Lausitz 147 Lefortowo 112 Leiden 166 Leipzig 161, 166, 195, 613, 982, 987 Lemberg 675 Lettland 428, 498, 509, 677, 705, 1008 Lichtenburg 633 Lichtenhorst 434 Liebenwalde 179, 206 Linz 630 Lippe, Lippe-Detmold 16, 229f., 321, 325 Lissa 139 Lissabon 825 Litauen 389, 411, 428, 432, 498, 509, 658 Locarno 518 Lockstedt 479 Łódź 411f., 615, 623, 662, 701, 708 London 8, 127, 136, 152f., 156, 161, 163f., 166–168, 585, 749, 784, 940 Los Angeles 588 Lothringen 667 Lübeck 227, 325, 331, 337, 379 Lublin 613, 616, 661, 706 Ludwigsburg 213 Ludwigshafen 337 Luxemburg 321, 442 Madagaskar 613 Magdeburg 110, 179, 182, 188, 195, 208, 215, 592 Mähren 139, 142, 153, 615, 623, 655, 699, 901 Mailand 262 Mainz 61, 78f., 83, 178, 214, 230 Malta 1012 Mannheim 180f., 188, 195, 210, 337, 613, 915f., 948,

Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte | 1055

Marburg 241, 591 Marienwerder 287 Marokko 826 Mauretanien 113 Mauthausen 684 Mazedonien 1005, 1008 Mecklenburg 177, 258, 368 Mecklenburg-Schwerin 201 Mecklenburg-Vorpommern 723 Meiningen 262 Memel 200, 899 Mexiko 305f., 969 Michigan 751 Minden 234, 241 Minsk 615 Mölln (Schleswig-Holstein) 499 Mongolei 989 Montbéliard (Sochaux) 668 Montenegro 672, 1006 Morea (Peloponnes) 98 Mörlheim 184 Mosambik 984, 989, 991, 995 Moskau 112, 496–499, 585, 749, 750, 870, 917, 968f., 974 Mülheim am Rhein 213 München 214f., 229f., 233, 272, 591, 613, 620, 762, 875, 884, 903, 948 Münster 98, 142, 203, 466f., 591, 630 Namibia 865 Nantes 149 Narva 432 Nassau 229f., 322 Nassau-Saarbrücken 248 Nassau-Siegen 199 Neapel 827 Neubärenthal 146 Neuchâtel 109 Neu-Isenburg 212 Neumark 179, 248, 255, 280 Neuss 944 Neustadt an der Aisch 211 Neustadt an der Haardt 138 Neuwied 143, 192, 196, 213f. New South Wales 760 New York 152, 346, 460, 588, 940 Nicaragua 305 Niederdonau 684

Niederlande 3, 9, 19, 22, 99, 101, 105, 114, 117f., 121f., 136–138, 142, 163f., 168, 174, 179, 183, 185, 187f., 192, 194, 198, 203f., 206, 208, 210f., 214, 229, 334, 336, 338f., 353, 358, 371, 388, 404, 442, 455, 509f., 532, 556, 582, 588, 623, 647, 653, 664– 667, 670, 734, 743f., 752f., 761, 820, 822, 862f., 876, 937, 939f., 942, 952, 969, 1037f. Niederösterreich 185 Niedersachsen 306, 729, 818 Nigeria 115 Nordrhein-Westfalen 728f., 818, 820, 824, 840, 862f., 946, 951, 1016 Northeim 191 Norwegen 388, 432, 461, 644, 663, 671, 969 Nowawes 191 Nürnberg 36, 137, 139, 155, 161, 163, 167, 187, 603f., 606, 613, 620, 821, 828, 833, 859, 860, 883, 903, 948 Oberkrain 671 Oberlausitz 140f., 148, 155, 157, 191 Oberneustadt (Kassel) 212–214 Oberschlesien 141, 148, 463, 478, 520, 658, 919–921 Oderbruch 204 Offenbach 337, 915f., 948 Oldenburg 205, 264, 265 Opava/Troppau 528 Orange 164 Oranienburg 198 Osmanisches Reich 22, 101, 108, 113f., 116, 127, 140, 157, 196 Osnabrück 9, 144, 146, 295, 302, 304 Österreich, Österreich-Ungarn 3, 84, 86, 95, 117, 127f., 133, 137–141, 147, 157, 165, 200, 204, 206, 211, 223, 225, 227, 230, 235, 239, 240, 248, 280, 287, 291, 321–323, 336, 346, 348–353, 358, 374, 376, 380, 388, 400–402, 436, 442, 450, 457, 459, 463, 486–489, 509, 524, 530–533, 567, 579, 582–584, 591, 598, 602, 613, 615– 617, 623f., 647f., 650, 684, 691, 697, 707, 722, 732, 742f., 747, 748, 822, 836, 861, 875f., 878, 923, 1038 Ostfriesland 9, 113, 166, 203, 205

1056 | Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte

Ostpreußen 190, 200, 206, 255, 362, 393, 409, 411, 433, 452, 469, 489, 565, 658, 910, 919, 974, 976 Paderborn 331 Pakistan 19 Palästina 593, 742, 865, 941 Papenburg 203 Paraguay 499 Paris 8, 165, 206, 224–226, 232, 440, 460, 582, 585, 588, 608, 855, 959, 964 Pas-de-Calais 665 Pfalz 105, 111, 119, 137f., 151–153, 156, 162– 164, 166, 177, 180, 182–184, 186, 178, 188, 192, 195, 199, 204, 214–216, 248, 294 Pfalz-Lautern 138 Pfalz-Neuburg 248 Pfalz-Sulzbach 248 Pforzheim 146 Philippinen 826 Picardie 184 Piding (Oberbayern) 903 Piemont 154, 200, Piemont-Savoyen 154 Pinzgau 189 Pirna(-Sonnenstein) 128, 630f. Polen 31, 34, 41, 105, 136, 139, 147f., 166, 168, 192, 200, 204, 331, 356, 358, 360– 364, 367–369, 374f., 376f., 379–381, 383, 388f., 397, 400–402, 405, 412, 416, 428, 433f., 438, 440, 450, 454, 457, 459, 467f., 470, 473, 476, 479f., 485, 487, 490, 500, 509f., 513, 517f., 520–524, 527–530, 533, 537, 553, 556, 610f., 622, 631, 644, 647– 651, 654–663, 670, 674, 676f., 679, 686– 689, 699–703, 706f., 713–715, 722, 724, 734, 815, 838, 895, 897, 899, 903, 905, 907, 910, 914, 918–921, 923, 925, 928, 968, 971, 974, 977–979, 984, 986, 993, 1000f., 1004, 1008–1011, 1014–1016 Polesien 658 Polnisch-Litauen 105 Pommerellen 469 Pommern 199, 204, 255, 280, 516, 520 Pongau 189 Portugal 19, 22, 105, 180, 211, 653, 744, 815, 824f., 832, 851, 947, 963 Posen 250, 361f., 463, 485, 487, 701 Posen-Westpreußen 474

Potsdam 109, 149, 191, 194, 198, 208, 213f., 581, 722, 749, 910, 974 Prag 455, 582f., 588, 616, 810, 869, 887, 905 Prenzlau 208, 499 Pretin 633 Preußen 3, 8, 84–86, 95, 99, 106, 109, 111, 117, 146, 150, 154, 156, 179, 189–200, 203f., 207, 215, 227–242, 247–258, 262f., 267, 269–272, 274, 278–285, 287f., 291f., 300, 305, 310, 313, 319–327, 330, 333– 339, 343–345, 348, 350–369, 371, 374– 395, 397f., 400f., 403f., 407–410, 420, 422, 425, 429, 442, 446, 450–453, 456f., 463, 472, 480, 484–487, 489, 498, 500, 512, 514f., 518f., 527, 532f., 542, 551, 963 Preußisch-Litauen 127, 153, 156, 199f. Prignitz 179 Prora 548 Quarnero 671 Radebeul 866–868 Ragnit 200 Regensburg 121, 146, 161f., 166, 189 Reims 721 Remscheid 948 Reutlingen 262 Rheinland 262, 270, 281, 283, 320f, 338f., 402, 466, 626, 839 Riga 432, 615 Rixdorf 191 Rom 585, 697, 715 Röntgental 806 Rostock 811 Rotterdam 151, 167, 665 Ruhleben 351, 354 Ruhrgebiet 31, 336, 433f., 478, 565, 626, 675 Rumänien 41, 349, 421, 457, 463, 652f., 674, 682f., 685, 702, 715, 869, 895, 904, 914– 916, 926, 1000–1004, 1011f., 1014 Ruppiner Land 179, 198, 199 Russland 58, 97, 112, 155, 158, 240, 305, 336, 346–352, 358, 363f., 368, 374–380, 389f., 393, 400, 403, 410, 412, 419–424, 427, 429–438, 442f., 455, 458–462, 484–489, 491–496, 500, 509, 651, 679, 687, 701, 784, 853, 874, 918, 972, 974, 981, 1001– 1003, 1011f., 1015–1017

Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte | 1057

Saarbrücken 964 Saarland 558, 582f., 617, 779f. Saarpfalz 667 Sachsen 128, 139–141, 147f., 155, 158, 163, 183, 191, 195, 199, 211, 214, 258f., 262, 278, 285, 325, 368, 408, 422, 472f., 630, 709, 722f., 866f., 987 Sachsen-Anhalt 475 Sachsenhausen 633, 636 Salem 330 Salò 680 Saloniki 823, 827 Salzburg 117f., 121, 123f., 127, 144f., 153, 155– 158, 161f., 164, 189–191, 195, 197, 200, 202, 207, 230 Salzgitter 561 Salzwedel 327 Saratov 492 Savoyen 188 Schleiden 549 Schleiz 869 Schlesien 146–148, 150, 191, 200, 212, 255, 361f., 402, 489, 529, 928 Schleswig 204, 337f. Schleswig-Holstein 192, 203f., 234, 267f., 337, 479, 728f., 818, 940 Schneidemühl 474 Schönau (Pfalz) 137, 166, 183 Schottland 96, 136, 167, 171 Schwaben 145, 202 Schweden 96, 103–105, 109, 111, 165, 190, 199, 388, 446, 575, 583f., 653, 876, 969 Schweidnitz 147 Schweiz 95f., 134, 146, 154, 164, 179, 194, 198f., 204, 207f., 214, 216, 229, 236f., 343, 388, 509f., 575, 582, 588, 653, 685, 876, 937, 939f., 942, 945f., 953, 961, 969 Schwerin 184, 206 Senegal 625 Serbien 101, 421, 525, 644, 671f., 683, 911, 1005, 1008 Shanghai 459 Shitomir 706f. Sibirien 493, 917, 974 Sichelburg 102 Siebenbürgen 127, 139, 157f., 196, 682 Skandinavien 163, 404, 575 Slowakei/Slowakische Republik 148, 168, 652, 657, 681–683, 1008, 1012

Slowenien 525f., 671, 1008 Sobibor 616 Sofia 685 Sokolovac 911 Sowjetunion/UdSSR 41, 432, 434, 438, 449, 454, 459, 461, 492–496, 495, 497–499, 553, 583f., 588, 643f., 651, 653–656, 658, 661f., 666, 673–679, 686, 697, 700, 702, 706, 732f., 784–786, 790, 792, 807, 865, 867, 870, 874f., 880, 895, 904f., 914, 917f., 925f., 928f., 968f., 971–976, 979– 1003, 1006f., 1015f., 1029 Spanien 22, 98, 103, 180, 232, 347, 446, 583, 644, 653, 685, 744, 815, 817, 820, 822f., 832f., 851, 869f., 947f., 952, 963, 1014 Springe 191 St. Germain 165 St. Petersburg 232, 487 Stalingrad 705 Steiermark 156f., 196, 671 Stendal 210 Stettin 432 Stralsund 518 Straßburg 134f., 161, 183, 1034 Strasshof 684 Stuttgart 619, 748, 948 Südafrika 744, 756 Sudauen 658 Sudetenland 584, 655, 749, 861, 899, 906f., 910, 970 Südtirol 553, 697–703, 715 Tangermünde 179 Terezin 616 Teschen 141, 148 Texas 306 Thüringen 229, 258, 992 Tilsit 200, 351 Tirol 150, 153, 189, 202, 699 Tondern 463 Treblinka 616 Trier 134 Triest 671 Tschechoslowakei/ČSSR/ČSR/Tschechien 168, 358, 450, 454f., 463, 509f., 524, 528– 530, 533, 555, 582–584, 588, 647f., 655f., 691, 715, 722, 861f., 879, 885, 887, 895, 899, 905, 910, 914, 988, 1003f., 1008f., 1012

1058 | Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte

Tschenstochau 661 Tschetschenien 1005 Tübingen 591 Tunesien 826 Türkei 98, 113–116, 201, 215, 459, 592, 693, 815, 817, 824–827, 830, 832, 837, 840, 844, 849–851, 868, 891, 944, 947, 949, 952f., 956f., 962f., 965, 1015 Uckermark 179, 199 Uelzen 786 Ukraine 400, 454f., 491, 493, 509, 606, 657f., 662, 674–679, 683, 687, 701, 706, 899, 974, 976, 1012, 1015 Ungarn 48, 58, 71, 139, 144, 148, 196, 201, 206, 446, 450, 454, 463, 485, 509, 524, 528, 533, 644, 652, 655f., 671, 681–684, 722, 783, 874f., 879, 887, 895, 911f., 914, 924, 928, 971, 984, 986f., 1003f., 1008, 1012 Untersteiermark 671, 899 USA/Vereinigte Staaten von Amerika 225f., 234, 292–295, 304f., 309, 311, 334, 342, 346f., 349f., 352–354, 373, 382f., 420f., 441, 444, 454f., 460, 484f., 492, 541, 575, 584–586, 588, 591, 593f., 597f., 624, 638, 685f., 741–748, 750–753, 757f., 760, 768– 770, 775, 784, 823, 876, 881, 945, 969, 971, 981, 992, 1007 Valka 859 Vatikan 96, 981 Venedig 99, 103 Venetien 356, 358 Venezuela 744 Versailles 34f., 319, 419, 463f., 469, 473, 500f. Vichy 667–669 Vietnam 984f., 989–993, 995 Vojvodina 526 Walachei 101 Wallonien 137, 163, 166, 183, 210, 666, 674 Warschau 346, 389, 402, 405, 411f., 523, 648, 661, 879, 905 Wartheland 647, 658, 662, 706f., 919 Washington, D.C. 751, 757 Weimar 754 Weißrussland 389, 657f., 677–679, 1012

Wesel 137, 183, 267 Westfalen 9, 130, 258, 262, 272, 281, 283, 306, 402 Westindien 114 Westpreußen 203, 255, 361f., 463, 485, 658 Wied 192, 213 Wien 8, 108, 114, 185, 214f., 226, 250, 388, 440, 594–596, 613, 650, 684, 691, 855 Wilhelmsdorf 206 Wilna 658 Wittenberg 114, 166 Wolfsburg 561 Wolga 488, 492, 494, 496 Wolhynien 485f., 488, 658, 701 Württemberg 83, 100, 146, 154, 188, 190, 199, 211, 213, 249, 258, 264, 289, 291, 294, 297, 309, 322, 324, 368, 399, 408, 630, Württemberg-Baden 727f., BadenWürttemberg 818, 820, 824, 836–838, 909, 954 Würzburg 178, 249 Zagreb 905f., 910, 912 Zamość 707 Zawisna 520 Zehdenick 179 Zillertal 150, 153 Zirndorf 859, 883-885, 887, 889 Zürich 198 Zypern 1012